—IIX weltliteratur

Alexander Baumgartner

Lit. 3339-97

Barbard College Zibrarv

BOUGHT WITH INCOME

FROM THE BEQUEST OF

HENRY LILLIE PIERCE,

OF BOSTON.

Under a vote of the President and Fellows, October 24, 1898.

.

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Geſchichte

der

Weltliteratur.

Von

Alexander Baumgartner S. J.

IV.

Die lateinische und griechiſche Literatur der chriftlichen Dölfer.

Sreiburg im Breisgau. BHerderfhe Derlagshandlung. 1905. Sweigniederlafjungen in Wien, Straßburg, München und St Louis, Mo.

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Die lateiniſche und griechiſche Kiteratur der chriftlichen Dölker.

Don

Alerander Baumgartner S. J.

Dritte und vierte, verbefferte Auflage.

Freiburg im Breisgau. Herderfhe Derlagshandlung.

1905. Zweigniederlafjungen in Wien, Straßburg, Münden und St Konis, Mo.

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Alle Rechte vorbehalten.

Buchbruderei ber Derder ſchen Verlagshandiung in Freiburg.

Inhalt.

Erſtes Buch. Die althriftlihe Literatur des Abendlandes.

Erfied Kapitel: Grundlagen und Anfänge der alichriſtlichen griechiſchen Literatur.

Der Eintritt Ehrifti in die Weltgeſchichte; feine Stellung zur antiken Bilbung und Literatur 3 4. Raſche Verbreitung des Chriftentums; bie erften Ehriften im Gegenſatz zu dem herrſchenden Anihauungen und Sitten 5 6. Ideeller Gehalt und praktifche Tragweite ber neuen Offenbarung 7 8. Die Evangelien und Apoftel« briefe 9. Die apoftolifhen Bäter 10—12. Die erften Apologeten des Chriften- tums gegen Heibentum, Judentum unb Härefie 12—15. Alten der Märtyrer. Die Katechetenſchule von Alexandrien 15. Klemens von Alerandrien unb feine Werle 16. Seine Auffaffung des Hellenismus und der antifen Philojophie 17 18, Sein Hymnus an Ehriftus "den Hirten 18—20. DOrigened als Dogmatifer und Shhrifterflärer. Seine Schüler 20-22. Methobius von Olympos. Ein Seitenftüd zu Platons „Gaſtmahl“ 22—25. Das Brautlied der Jungfräulichkeit 26—29.

Zweites Kapitel: Die griechiſchen Kirchenväter. Athanafius, Baſilius und Gregor von Ayfla.

Der Nrianismus und deſſen Ausbreitung 29 30. Athanafius, ber große Borfämpfer für die Gottheit Ehrifti 380. Die Schule von Antiohien 31. Der Kirhenhiftorifer Eufebius Pamphili 32—34. Die Katecheſen bes hl. Eyrillus von Jeruſalem. Die zwei Apollinarius 34. Das Möndhstum in Ägypten, geichildert vom hl. Athanafius 35 36. Der Hl. Bafilius, Begründer des griechiſchen Mönchs- tums 36. Seine Stellungnahme zu den klafſiſchen Studien 87 88. Sein poe- tiſches Naturgefühl, von Aler. v. Humboldt anerfannt 38 39. Poetifhe Begabung und theologifche Werte des hl. Gregor von Nyfia 39 40.

Drittes Kapitel: Gregorius von Raziany. Johannes Ehryſoſtomus.

Lebensjhicdfale des hl. Gregorius von Nazianz. Seine Briefe 40 41. Die Fabel von den Schwalben und den Schwänen 41 42. Seine Gründe zur Be- Ihäftigung mit ber Poefie. Gruppen und Charakter feiner Gedichte 42 43. Der Hymnus an Chriftus 44. Ehe und Jungfräulichkeit (aus dem Gedichte von ber Jungfräulichkeit) 45-48. Der Abjhieb von Konftantinopel 48 49. Neue Aufs gaben ber Berebjamfeit. Johannes Chryſoſtomus 49—51. Seine Naturauffaffung in voller Harmonie mit feiner Auffaffung des Dienfchenlebens und der geoffenbarten Wahrheit 51 52.

vi Inhalt.

Biertes Kapitel: Syneſius.

Die heibnifche Philofophie in Berührung mit dem Ehriftentum. Synefius und Dypatia 52. Literariihe Eſſays im Stil der früheren Sophiften 53. Lobſchrift auf den Rhetor Dion. Angriffe auf ein einfeitig asfetifches Leben; Verteidigung ber wiſſenſchaftlichen Studien 54-56. Wahl zum Bifhof und bifhöfliche Tätig- feit. Die Briefe bes Syneſius 57. Die zehn Hymnen 58. Ein Morgenlieb 59. Hymnus auf den Triumph Ehrifti 61 62. Reuegebet 68. Die litera- riſche Entwidlung durch neue theologische Kämpfe zurüdgedrängt 63. Die Irrlehren des Neftorius und Eutyches 64. Die Historia TLausiaca 65. Die Kirchen- biftorifer: Sofrates, Sozomenus und Theoboret 66.

Fünftes Kapitel: Rachklänge antiker Poeſie. Verſuche chriſtlicher Epit.

Fortleben des Heidentums unter den erſten chriſtlichen Kaiſern. Schonung ber antiken Kunſt 66—68. Bereinigung ber kykliſchen Dichtungen durch Quintus Smyr⸗ näus 68 69. Nonnos 69. Analyſe der „Dionyſiaka“ 70—73. Charakteriſtil der Dichtung. Eine Art von gänzlichem Ausverkauf. Der Hexameter des Nonnos 73—75. Die Umſchreibung bes Johannesevangeliums 76 77. Nachfolger bes Nonnos. Muſaios. „Hero und Leander“ 77 78. Die Philofophentodhter Athenais als Kaiferin Eudolia 79. Paraphrafe zum Oktateuch. „Eyprian und Juſtina“ 79-—83.

Sechſtes Kapitel: Die Anfänge der hriftlich-Tateinifchen Literatur.

Vorwiegen bes Griehiihen bis zum 4. Jahrhundert. Die „Itala* 84. Minucius Felir, ein Hriftlicder Eiceronianer 85— 87. Geftaltung einer jelbftänbigen Batinität. Tertullian 87 88. Allgemeine Charakteriſtik Tertulliang 88 89. Stellung zu Literatur und Theater 89—91. Die apologetiihen Schriften, Proben daraus 92—95. Der hl. Eyprian 95. Armobius, Lactantius 96,

Siebtes ſtapitel: Die großen lateinischen Kirchenichrer des 4. und 5. Jahrhunderts.

Die arianiſchen Wirren in Stalien und Gallien. Hilarius von Poitiers als Vermittler zwiſchen griechiſcher und lateinischer Theologie 97—100. Der hi. Am: brofius von Mailand 100. Seine Schriften 101 102. Der hl. Auguftinus 103. Die „Belenntnifie” 104 105. „Bon der Stadt Gottes“, die Geihichtstheologie bes Ehriftentums, Inhalt und Gruppierung des Werkes 106 107. ECharakteriftif. Schilderung der ewigen Seligleit. Sprade und Kunſt bes hl. Auguftin 107—110. Leben und Wirkſamkeit des Hl. Hieronymus 110. Seine Briefe. Seine geſchicht- fihen und literaturgeſchichtlichen Leiftungen 111. Geine Bibelüberjeßung und feine biblifchen Kommentare 112 113. Internationaler Charakter der Kriftlichen Literatur. Die Lleineren Kirchenfchriftiteler 114. Leo 1. der Große. Römiſch— chriſtliche Beredſamkeit 114. Petrus und Paulus. Auffaffung des Papfttums 115—117.

Achtes Kapitel: Epiſche und didaktiiche Verfuche.

Späte Entwidlung ber epiſchen Dichtung. Verſchiedenheit bes hriftlichen Lebens vom antifen 117 118. Der fpanifche Priefter Juvencus und feine poetifche Be: arbeitung der Evangelien. Hohe Auffafjung von der Würde ber Hriftlichen Poefie 118-—120. Eyprian und Victorin 120. Das Gedicht „vom Kreuze“ oder „vom Bebensbaum* 121 122. „Vom Phönir* 122. Commodians chriſtliche Eitten- fprüde 122. PBergil-Eentonen. Proba. Der Hl. Damafus 124 125.

Inhalt. VII

Neuntes Kapitel: Liturgiſche Hyumnendichtung. Der hl. Ambrofius.

Palmen, Hymnen und geiftliche Lieder ſchon in ben Apoftelbriefen erwähnt 125. Die Cantica der Bibel. Ältefte Liturgie 126. Bericht der hf. Silvia über den Gottesdienjt in ber Grabestirde zu Jeruſalem 127. Die firdlichen Gebetsitunden (Horen) und der Chordienſt 128. Hymnen des hl. Hilarius don Poitiers. Der hl. Ambrofius ala Hymnendichter 129. Auguftin und Ambrofius über die kirchliche Humnik 130. „Das Lied vom Hahnenſchrei“ 131. „Das Lieb bom Morgenrot“ 132. Andere Hymnen. Metrik und Sprade. Geſamtcharakteriſtik bon Erzbiſchof Trend 133 134. Ursprung bes Tedeum 134 N.

Zehntes Kapitel: Aufonius und Paulinus von Nola,

Weltliher Humanismus und geiftliche Poeſie. Die Schulen in Gallien 135. Der Rhetor Aufonius zu Borbeaur und feine Familie 186 137. Seine „Opuscula”. Geographifche Verſe 138. Des Dichters Freundeskreis. Die Profefforen von Bor— beaur. Des Dichters Tageslauf 139, Orthodorschriftliches Morgengebet 140—142. Spielereien 142 143. Mosella, das ältefte Mojellied 144. Der Konful Pau— Iinus 145. Seine Bebensihidiale 146. Paulinus an Aufonius 147—149. Der letzte Freundesgruß 149. Paulinus ala Priefter und Biſchof. Seine Gedichte auf ben hl. Felix 150. Frühlingsſchilderung 151. Vermiſchte Gedichte. Der Abjhieds« gruß an den Miffionsbiihof Nicetas 152. Metrik und Sprade bei Paulinus 153.

Glites Kapitel: Prudentius.

Selbfibiographie und bdichterifches Programm in Verſen 154 155. Hohe Stellung und entichieden hriftliher Standpunft des Dichters 156. Das „Tages- liederbuch“ 157 158. Ehriftus die Zentralfonne feiner Dichtung 159—161. Der Kampf gegen die Irrlehre. Didaktiſche Richtung 162. Die „Apotheofis“ 163. Die „Hamartigenie” 164. Die „Piyhomadie” 165. Der Kampf gegen das Heibentum 166. Der Altar der Biltoria und die Relatio des Symmachus 167 168. Die zwei Bücher „gegen Symmachus“ 169. Der heibnifche Olymp und Theodofius, fein Befieger 170. Apoftrophe an die Senatsminberheit und an Symmahus 171. Das zweite Bud. Das wandelbare Fatum und ber Genius Roms 172 173. Die providentielle Sendung und wahre Größe Roms 174. Weitere Einwürfe des Symmadhus widerlegt 175 176. Die „Siegeöfränze* 177 178. Das Peter- und Paulöfeft zu Rom 179 180. Das „Dittohäum“ 181. Bahnbrechende Bebeutung des Prudentius 182.

Zwölftes Kapitel: Das letzte Auffladern der heidniſchen Literatur.

Großartige Nefultate der erften vier Jahrhunderte. Fehlen einer chriftlid- weltlichen Literatur 183. Symmadhus und bie heibnifhe Senatsminorität. Die Briefe und Reden des Symmadhus 184—186. Der Augur Bettius Prätertatus, Heidniſche Philofophen, Redner und Grammatifer 186. Der Geihichtichreiber Am— mianus Marcellinus 187. Der Dichter Elaubius Elaudianus 187. Seine Werke 188. Charatteriftif. Meifterjhaft ber Form, antik-heidniſche Auffaffung 189 190. ARutilius Namatianus. Gebichte gegen ChHriftentum und Möndstum 190-192.

Dreizehntes Kapitel: Die Inteinifche Dichtung unter den Iekten weſtrömiſchen ſtaiſern.

Berfall und Sturz bes weftrömifchen Reiches 192. Zeitjchilderung und Selbftbiographie des Paulinus von Pella 198. Die „Genugtuung“ und das

VIII Inhalt.

„Gotteslob“ des Dracontius. Kleinere Dichter 194. Das „Oſtergedicht“ des Se— dulius 195. Der Weihnachtshymnus des Sedulius 196. Der Spanier Flavius Merobaudes. Der Gallier Sibonius Apollinaris als Hofdichter ber Iekten Kaijer 197. Der Dichter ald Biſchof von Glermont-Ferrand, fein perjönlicher Charakter 198. Der geiftlihe Dichter Avitus, Bifhof von Vienne 199 200. Martianus Gapella. Die Hochzeit der Philologia und des Merkur. Grundlinien ber mittel alterlihen Schule: Trivium und Ouadrivium 201 202. Die Mythologien bes Grammatifers Fulgentius. Die Götter treten als allegorifche Fabelgeftalten in ben Dienft der KHriftlihen Schule 203.

Bierzehntes ſtapitel: Die Kriftlich-lateinifche Literatur im oftgotifchen Reiche.

Das Reich Theoborichs des Großen 204. Ennodius, erft Rhetor, dann Biſchof von Pavia 204. Sein Briefwehiel. Die literarifch gebildeten Kreife zu Rom 205. Seine päbdagogifhen und humaniſtiſchen Anfhauungen 206. Hymnen und Ge- legenheitögebidhte 206 207. Der Senator Bosthius 208. Vielſeitige Bildung des— felben 209 210. Das „Troftbühlein” 211-213. Das Lied auf die ewige Liebe 214. Erhabene Anrufung Gottes 214. Die Lehre vom göttlihen Wiffen 215. MWeitreihender Einfluß des Werkes 216. Die Dichterin Elpis und der Hymnus auf die Apoftelfürften 217. Priscian, Lurorius, Helpidius, Arator 218. Eaffio« dorus am Hofe Theodorichs und feiner Nachfolger 219. Politifhe und hiſtoriſche Werte 220. In der Einfamkeit von Bivarium. Organifation ber Studien 221. Troſt in den Pſalmen 222 223. Beglüdender Einfluß der chriſtlichen Lebensanſchauung 224. Caſſiodor als Erhalter der antiken und chriſtlichen Literaturſchätze 224 225.

Zweites Bud). Die lafeinifhe Literatur des Mittelalters.

Erſtes Kapitel: Die Erhaltung des Lateins als lebendiger Sprache ber Ktirche, bes Rechts und der Wiſſenſchaft.

Das Chaos der Völkerwanderung. Die Schilderungen Salviand 229. Der Sittenverfall im alten Römerreihe 230 231. Römer und Germanen. Schwierige Aufgabe der Kirche 232. Ungünftiger Einfluß der römiſchen Entartung und bes Arianismus auf die Germanen 233. Verheerung ber alten Kulturländer 234. Rettung ber lateinifh-Hriftlichen Bildung durch die Mönde. Benedikt von Nurfia und Gregor I. der Große 285. Verbindung der Völkerſtämme dur die Einheit ber Kirchenſprache 236. Das Opus Dei, die heilige Mefje und bie kirchliche Liturgie; kulturhiftorifche Bedeutung berjelben 237—239. Erhaltung der lateinischen Sprache in Predigt und Wiſſenſchaft, in den Rechtsbüchern und in ber Verwaltung 239. Gediht des Marcus von Monte Eaffino auf den HI. Benedikt 240. Hymnen und Proſaſchriften bes hl. Gregorius des Großen 240 241.

Zweites Stapitel: Lateiniiche Sihriftiteller in Nordafrifa und im weitgotifchen Spanien.

Fulgentius von Ruſpe. Gorippus. Verecundus. Fulgentius Ferrandus 242. Die Könige Sifebut, Chintila, Reccesvinth und Wamba 243. Gelehrte Bijchöfe in Spanien 243 244. Der hl. Eugenius II. von Zoledo ald Dichter 245. Iſidor von Sevilla als chriſtlicher Encyklopädift 246—248. Harte Verurteilung bes Theaters 248. Inſchriften für eine Bibliothef 249 250. Martinus Du— mienfis in Portugal 250 251.

Inhalt. Ix

Drittes ſtapitel: Literarifches Leben in Gallien. Gregor von Tours. Benantius Fortunatus.

Verwilberung im Reiche der Merowinger 251—253. Tours und Poitiers als Kulturftätten. Das Grab bes Hl. Martin 258. Fortſchritte der kirchlichen Organifation. Gregor von Tours 254 255. Seine „Geihidhte der Franken“ 255. Seine religiöjen Schriften 256. PVenantius Fortunat und feine Wallfahrt nad) Tours 257. Die hl. Radegund und ihr Kloſter 258. Profafchriften des Venantius 259. Die Kreuzeshymnen Vexilla regis und Pange lingua 260—263. Die Elegie „Bom Untergang Thüringens‘ 263 264. Andere Dichtungen. Gejamt- charakteriſtik 265—-268,

Biertes Kapitel: Die Flucht der Inteinifchen Bildung nah den britifchen Inſeln.

Bekehrung Irlands durch ben hl. Patrid. Sein Schüler Secundinus 268. Das Klofter Bangor in Ulſter. Columba und bie Gründung bes Klofters Jona in den Hebriben. Seine Lebensgeihichte von Abt Adamnan 269. Adamnan redigiert Arculphs Reifeberiht aus Paläftina. Der Engländer Egbert in Echternach und Utrecht. Gildas „der Weije* 270. Strafrebe bed Gildas (De excidio Britanniae) 271 272. Belehrung der Angeljahjen dur den hl. Auguftin. Der griehiihe Mönd Theodor, Erzbiſchof von Eanterbury 273. Der hl. Aldhelm von Malmesbury. Seine Proſaſchriften 274. Seine Rätjel 275. „Bom Lobe ber Jungfrauen“ und andere Gedichte 276. Das Klofter Wearmouth und deſſen Bücherſchätze (Biblia Amiatina) 277. Beba ber Ehrwürbige und feine Kirchengefhichte 278 279. Lateinifche Gedichte Bedas. St Euthbert und die diebiſchen Vögel 280. Die vier Jahreszeiten 281. Bedas Bericht über Kädmon 282 283.

Fünftes Kapitel: Die Pioniere der Hriftlich-Inteinifchen Bildung in Deutſchland.

Die bl. Eolumbanus und Gallus 284. Columban über das irdiſche Leben 285. Briefe und ihm zugejhriebene Gedichte 286. Aus einer Predigt bes bl. Gallus in Konftanz 287. Winfried-Bonifatius, der Apoftel der Deutjchen 288. Seine Rätfel 289. Briefe und Mleinere Gedichte. Lioba, Eadburga und andere gebildete Frauen im Dienfte des hriftlichen Apoftolats 290 291.

Sechſtes Kapitel: Die literariſche Tafelrunde Karls des Großen.

Gründung bes Kriftlihen Kaifertums durch Karl den Großen. Seine Be- ftrebungen für geiftige Bildung 292 298. Alluin und die Domjhule zu Vorf. Sein päbagogijches Wirken in Frantreih 294 295. Seine Briefe und Dichtungen 296—298. Das Gedicht vom Ktuckuck 298-300. Angilberts Gedichte 300. Karl ber Große und Leo III. in Baberborn 301. Theobulf 302 303. Paulinus bon Aquileja, Joſeph Scottus und Nafo. Fardulf und Bernowin. Peter von Pija und Paulus Diafonus 304. Einhard 305.

Siebtes Kapitel: Die Literatur an den lofterfhnlen: Fulda, Reichenau, St Gallen.

Mangel an literarifhem Intereffe bei den Laien; weitere Pflege der geiftigen Bildung dureh ben Klerus 306 307. Gelehrte Äbte in Fulda. Sturmi. Hrabanus Maurus, primus praeceptor Germaniae. Walafrid Strabo in Reichenau. Die Vifionen des Wettin 308. Das Gediht vom Kloftergarten. Schilderung der Me— Ione 309 310. Andere zeitgenöffiiche Dichter: Ermoldus Nigellus, Wandalbert von Prüm, Sebulius Scottus 311. Florus. Andrabus 312. Des Agius Elegie auf

X Inhalt.

Hathumod 313. Theologiſche Schriftjteller 318. Der Humanift Servatius Lupus. Bertharius zu Monte Gaffino und Eulogius von Corduba 814. Das Klofter St Gallen und feine Bibliothef. Notker ber Stammler, Zutilo, Ratpert 815 316. Notlers Sequenzen 317. Andere Sequenzendichter von St Gallen 318. Die fünf Etfeharde 319 320.

Achtes Kapitel: Das Walthariuslied.

Seine Entftehung 320. Analyfe 321. Die Flucht Waltharis und Hilt gunds 322. Weitere Abenteuer 323. Die Nachtwache 324 325. Der Schluß 326 327. Wert ber Dichtung 327.

Neuntes Kapitel: Der Ruodlieb.

Die Handſchrift von Tegernſee 328. Analyfe. Die zwölf weifen Räte 329 330. Ruobliebs Brautfahrt und Hochzeit 331. Beurteilung bes Romans 332.

Sehntes Kapitel: Das lateiniſche Tierepos.

Die Echasis captivi 332—335. Der Isengrimus 836. Der Reinhardus Vulpes bes flandrifhen Dtagifters Nivardbus 337—339.

Elftes Kapitel: Hroswitha von Gandersheim.

Neuer Auffhwung der Bildung unter den Ottonen 339. Die Äbtiffin Ger- berga und ihre Schülerin Hroswitha 340. Epiſches: Marienleben 341 342, Heiligenlegenden 343. Die hl. Agnes 344. Andere Legenden 345. Die fehs Dramen Hroswithas 346. Komiſche Scene aus „Dulcitius“ 347 348. Scene aus „Abraham“ 349—351. Vorzüge und Mängel ber Stüde 552. Ge- dit auf Otto I. 353,

Zwölftes Kapitel: Chroniften und Geſchichtſchreiber.

Aufblühen ber Volksliteraturen; das Lateiniſche bleibt die Sprache der Wiflen- Ihaft 353. Ungeheurer Umfang der lateinifhen Geihichtsliteratur. Leben der Heiligen. Die Hagiographen Liudger, Altfrid, Hufbald, Ansgar, Adalhard, Wandal⸗ bert 354. Annalen und Chroniken 355. Heinrih von Auxerre. Liudprand. MWidulind. Thietmar. Hermann der Lahme 356. Adam von Bremen. Anaftafius ber Bibliothefar. Orbdericus Bitalis. Flodoard von Reims 357. Lambert von Hersfeld. Sigebert von Gemblour. Otto von Freifing 358. Wilhelm von Tyrus 359. Rahevin. Gotfried von Biterbo 360. Mifhung von Sage und Ge- Ihichte. Die goldene Legende. Thomas von Chantimpre. Gäfarius von Heifter- bad. Saro Grammaticus 361. Naiver Wunderglaube. Gerechtere Beurteilung der alten Legendenſchreiber 362. Der Mönch von St Gallen und die Gesta Caroli Magni 8368.

Dreizehntes Kapitel: Epiſche Verſuche und hiſtoriſche Zeitgedichte.

Bevorzugte Stelle ber Heiligenlegende in der mittelalterlichen Epik. Prolog zu Flodoards Legende 364 365. Überficht feiner Begendenfammlung 866. Andere Legendendichter 367. Die Chriftophslegende bes Walter von Speier 368. Hiſtoriſche Zeitgedichte 369. Wipos Tetralogus. Das Epos vom Sachſenkriege 870. Andere Gedichte aus ber Zeit Heinrichs IV. 871. Gunther von Päris. Der Solymarius. Der Ligurinus. Proben daraus 372 373. Die Alerandreis

Inhalt. xI

bes Walter von Ehätillon 374—376. Gedichte über Mohammed. Antiocheis, Philippis 376 377. Die Aurora bes Peter (de) Riga. Carolinus. Margarita Biblica, Magifter Yuftinus von Lippftadt 377 378.

Bierzehutes Kapitel: Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts.

Ständige Fortdauer humaniftifher Studien 378 379. Marbods didaktiſche Gedichte 379 380. Hildebert von Tours. überſicht feiner Werte 380 381. Zwei Elegien: Das heibnifhe Rom 3831 382. Das Kriftlihe Rom 383. „Das Horojlop“ (Liber mathematicus) 384—388. Über den Einfluß hellenifher Bil« bung auf das alte Rom 388. Berbindung ber philoſophiſchen Bildung mit ber humaniftifhen. Johannes von Salisbury und fein Polycratius 389 390. Sein Entheticus 891. Manus be Inſulis. Das allegoriich-philofophifche Lehrgedicht Anticlaudianus 392—395. Peter von Blois. Der Archithrenius des Johann von Hantville 395. Heinrih von Settimello und Heinrid von Mailand 396. Die Briefe des Peter von Blois. Die humaniftiihen Studien als VBorftufe der philo- fophiichen 897. Die Poetik bes Geoffrey Vinjauf 398. Das, Labyrinth“ des Eber- hard von Bethune 399 400. Verſchiedene Schätzung der antiken Klaffifer 401. Einfluß des Plautus und Terenz. Bitalis von Blois und Matthäus von Vendöme 402, Wilhelm von Blois’ Alda 403. Die Gefhichte von Paulin und Polla 404 405,

Fünfzehntes Kapitel: Satirifche Dichtung. Die Goliarden.

Schattenſeiten des Mittelalters in fatirifhher Beleuchtung 405. Literarische Bildung in England. Neben ernften Leiftungen viel Satire und Humor 406. Nigel Wireferd Brunellus 407 408. Walter Diap 409 410. Die Goliarben. Bettellied 411. Unweſen der Baganten. Der „Golias" Abälarb 412. Die „Metamorphofis* und ihr fatirifher Schluß 413—416. Die zwei Sammlungen ber Goliardengebichte 416. Wirres Durkeinander. „Bon Phyllis und Flora” 417. Die „Beiht des Golias“ mit den Bemerkungen des Giraldus Cambrenſis 418 419. Meum est propositum 419. Satiren gegen Papft, Kurie und Klerus 420. Allgemeine Satire auf alle Stände 421. Bernharb von Geft. Ein Wein- lied bei Salimbene 422. Zeilweife günftiger Einfluß der Goliardenpoefie 423,

Sechzehntes Kapitel: Die geiftlichen Schaufpiele.

Anhaltende VBerfemung des Theaterd und Mangel einer bramatiihen Poefie 424. Erjaß dafür im religiöjen und jozialen Leben 425. Entftehen ber geiftlichen Schaufpiele im Anſchluß an die Liturgie. Erfter Anja zu den Djfterfpielen 426. Englifche, franzöſiſche und deutſche Ofteripiele 426—428. Krippenfpiel von Rouen 429. Das entwideltere Weihnadtsjpiel von Benedikibeuren 430 431. Das franzöfiiche Efels- oder Narrenfeft 431. Stimmen gegen die Spiele 432. Plan bes DOfterfpiels von Benediktbeuren 433. Das Ofterfpiel vom Antichriſt 434—437. Die Mojterienfpiele des Hilarius. Das Katharinenfpiel zu Dunftaple in England 437 438,

Siebzehntes Kapitel: Religidje Lyrik und Hymmenpoefte.

Riefiges Anwachſen der religiöfen Lyrik 438 489. Hiſtoriſche Überfit. Drei Sauptperioden 440. AZufammenhang mit der übrigen Bildung 441. Der hl. Petrus Damiani 441. „Die Glorie des Paradiejes* 442 448. Hermannus

xII Inhalt.

Gontractus. Petrus Venerabilis. Marbod. Hildebert von Tours (Lavardbin) 444. Aus Hildeberts Lied auf bie heilige Dreifaltigkeit 444 445. Abälards Hymnarium 445 446. Der hl. Bernhard von Clairvaux 446. Adam von St Biltor 448. Dfterlied 449. Sequenz auf Mariä Himmelfahrt 449—451. Ungleicher Wert der Hymnen. Hohe Bedeutung der Hymnik an fi und in Verbindung mit der Liturgie (Mefie und Stundengebet) 451 452. Sequenzen (Tropen), eigentlihe Hymmen, Reim— offizien 452 453. Julian von Speier und die früheften Reimoffizien ber Franzis« faner 454. Andere Neimofficien. Spätere Überfünftelung und Spielereien 455.

Adtzehntes Kapitel: Die Scholaftifer und Myftiter.

Die Entwidlung ber chriſtlichen Philofophie 456. Ausbildung der Scholaftit 457. Ihre Hauptvertreter 458. Die fholaftiiche Methode 458. Die lateiniſche Schulſprache 459. Die Summa bes hl. Thomas von Aquin 460. Die Scholaftit fein Hemmnis der übrigen Bildung. Der Aquinate als liturgiſcher Dichter 461 bis 463. Das Stabat mater und Dies irae 463 464. Der hl. Bonaventura. Das „Nachtigallenlied" 464—467. Myſtiſche Schriftftellerinnen: Birgitta, Mechtild und Hildegard. Die finnige Künftlerin Herradb von Landsperg 467 468.

Neunzehntes Kapitel: Ein mittelalterlicher Encyklopädiſt.

Die mathematischen und naturwifjenihaftlien Studien im Mittelalter 469. Vincentius von Beauvais. dee und Anlage des Speculum triplex 470. Das Speculum naturale 471. Speculum doctrinale 472. Speculum historiale 473. Die von Bincenz benußte Literatur. Fruchtbare Grundlage einer weiteren Literaturentwidlung 474,

Zwanzigftes Kapitel: Anfänge der jog. Nenaifiance in Italien,

Harmoniſcher Ausgleich der Scholaftit und des Humanismus bei Dante. Dante als Humanift 475 476. Die Schrift De monarchia. Der Ghibellinismus als Rückkehr zum antiken Staatögebanten und ala Wurzel eines antifichliden Humanis- mus 476 477. Bunte Entwicklung bed Humanismus in der nächſten Zeit. Dantes Zeitgenofien 478. Franz Petrarca 479. Seine Dichterfrönung 480. Als gemeine Charakteriftif feiner Periönlichleit und feiner Schriften. Briefe und Streit- ihriften 481. Das Epos „Afrifa*. Prinzipiell Kriftlihe Auffaffung der huma— niftiihen Stubien 482 483. Luigi de’ Marfigli und die erften Humanijten in Florenz 484. Boccaccio und feine lateiniihen Schriften. Seine Kenntnis ber Alten. Anregung zum Homerftubium 485 486.

Einundzwanzigfted Kapitel: Die italienifhen und deutſchen Humaniften bes ausgehenden Mittelalters,

Die Sholaftif nad ihrer Hochblüte im 13. Jahrhundert 486 487. Hebung der humaniſtiſchen Stubien ein Bedürfnis der Zeit. Anfänge der Florentiner Afa- bemie 488. Die Päpfte und bie italienifhen Fürften treten an die Spitze ber Renaiffancebewegung 489. Niccoli, Manetti, Traverfari und andere italienifhe Humaniften 490. Der Humanismus auf dem päpftlihen Thron. Nikolaus V. und Pius II. Die Humaniften im übrigen Italien 491 492. Bedenkliche Elemente unter den Vertretern des Humanismus 493. Verhalten der Päpite gegen diejelben. Poggio. Beccabelli 494. Balla 495. Erllärte Revolutionäre und Freigeiſter. Literarifche Leiftungen der Humaniften. Filelfo 496. Maffeo Begiv. Janus Pan nonius 497. Lateinifche Tragödien, Komödien und Elegien 497 498. Der

Inhalt. xım

Humanismus in Paris, Nikolaus de EClamengis. Johann Gerfon 498—500. Die deutfhen Humaniften 500. Nikolaus von Eues. Gerhard Groot und bie nieberdeutijhe Schule 501. Thomas von Kempen. Dionyfius der Sartäufer. Humaniften in Öfterreih 502. In Süddeutſchland, Ungarn und Polen 503 504.

Drittes Bud). Die byzantiniſche Literatur.

Erſtes Kapitel: Die byzantiniſche Profaliteratur,

Allmähliche Entfremdung der griechiſchen von ber lateiniſchen Welt 507 508. Hoher Stand ber geiftigen Bildung von Byzanz. Berwertung der Patriftil. Neue theologifhe Kämpfe 509. Theologen. Marimos Confeſſor. Johannes von Da— mastus 510. Asketiſche und hagiographiſche Literatur. Johannes Klimakos 511. Theodoros Studita. Johannes Moſchos 512. Legenden. Symeon Metaphraftes 513. Barlaam und Joſaphat 513—516. Photius als Literaturfritifer 516 517. Die Geſchichtſchreiber 518 519.

Zweites Kapitel: Die byzantiniſche Hymnil.

Nahwirkungen der alten poetifhen und Tünftleriichen Traditionen. Übergang zur chriftlihen Poefie 519 520. Die neuen rhythmiſchen Formen. Allgemeiner Eharakter der Hymnenpoefie 521. Kontalia und Kanones. Akroſtichen. Romanos, ber größte Hymnendichter 522. Sein Weihnadhtshymnus. Aufbau feiner Hymnen, „Die Berleugnung Petri” 523. Drei Hymnen auf den ägyptifchen Joſeph. „Mariä Lichtmeß“ 524. Schema bes Hymnus „Der jüngfte Tag* 525. Probe aus dem— ſelben 526—532. Der Hymnus „Atathiftos” 532—534. Andere Hymnendichter. Johannes von Damaskus. Kosmas ber Melode 534 535.

Drittes Kapitel: Die nichtliturgiſche Dichtung der Biyantiner.

Die poetifhen Formen. Neigung zu Künftelei 535. Palladas. Chriftodoros. Agathias 536. Feſtgedicht des Paulus Silentiarius auf die Agia Sophia 536 537. Georg Pifibes 538. „Über den Feldzug bes Kaifers Herallios* 539 540. Das Heraömeron 541. Kloſterverſe des HI. Theodor Stubita 541 542, Die Dichterin Kaſia 543. Johannes Mauropus 544. Die Anthologien des Konftantinos Kephalas und des Maximos Planubes 544 545.

Vierte Kapitel: Dad Drama „Der leidende Chriſtus“.

Troftlofes Schidjal der dramatiſchen Poefie. Erft fpät taucht ein einziges Drama auf 546. „Der leidbende Ehriftus". Prolog. Auffafjung des Stoffes als „Marienklage“ 547. Analyje des Stüdes 548 549. Ergreifender Monolog nad ber Kreuzabnahme 550. Der dritte Teil ein freundliches Ofterfpiel. Verfchiedene Beurteilungen 551.

Fünftes ſtapitel: Epit und SHeindichtung der ſpäteren Byyantiner.

„Die Eroberung von Kreta” des Mönches Theodoſios. Apoſtrophe an Homer 552. Der Ejel in ber Wurfmaihine Theodor Prodromos 553. Niletas Eugenianos. Michael Hapudleir. Manuel Philes 554.

xıv Inhalt.

Sechſtes Kapitel: Literatur in ber Vulgärſprache.

Allmähliche Geftaltung der Vulgärſprache. Theodor Prodromos 555. Andere Dichter. Anonyme Dichtungen. Die Rhodiſchen Liebeslieder. Die Ilias des Kon— ftantin Harmoniakos 556. Baſilios Digenis Alritas. Hiſtoriſche Zeitgebichte, Romantifhe Sagendidtungen 557. Der Phyfiologus. Das Obftbud. Andere Boltsbüher 558.

Siebies Kapitel: Die griechiſchen Humaniſten im Abendland,

Annäherung der Griehen und Lateiner in den Unionöverhandblungen. Ver— triebene Griechen in Stalien 558. Leontios Pilatos. Manuel Chryfoloras. Gemiftos Plethon. Streit zwifchen Platonifern und Ariftotelifern. Georgios von ZTrapezunt. Michael Apoftolios. Andronitos Kalliftos 559. Kardinal Beffarion ald Vermittler 560. Langfame Verbreitung ber griehifchen Literatur 561 562. Yohannes Argyropulos. Konftantinos Laskaris. Demetrios Moſchos 563. Markos Mufuros und Janos Laskaris 564. Förderung ber griehifchen Studien in Rom 565. Das griehiiche Kollegium bdafelbft. Nikolaus Alemanni und Leo Allatius 566. Die „Hellas“ des Leo Alfatius 566—568.

Viertes Bud). Die lateinifhe Literatur der Menzeif.

Erftes Kapitel: Die deutfchen Humaniften und die Glaubendtrennung.

Spaltung der europäischen Bölkerfamilie. Der Humanismus an fi unabhängig von der Trennung 571. Die bedeutendften Humaniften bleiben bei der alten Kirche. Johannes Reudhlin. Konrad Geltes 572. Charitas Pirfheimer und ihr Bruber Wilibald 573. Heynlin a Lapide. Glareanus. Die Donaugejelihaft 574. Johann Spießmaier. Joachim von Watt. Johann von Dalberg. Trithemius 575. Yohann Butzbach. Ortwin Gratius. Hermann von dem Buſch 576. Mutian Rufus. Eoban Hefius. Erotus Rubeanus. Euricius Eordus 577. Ulrih von Hutten 578. Der Reuchlinſche Streit und „Die Briefe der Dunkelmänner* 579 580. Defiberius Erasmus 581—584. Der Humanismus in England 584. Die Gräciften in Oxford und London 585. Thomas Morus und jeine Utopia 586 587. John Fiſher 588. Elegie des Erasmus auf Morus und Filher 589—591.

Zweites Kapitel: Weiterblühen der neulateinifhen Literatur in Jtalien.

Das Rom der Renaifjance 591. Blüte ber italienischen Literatur neben ber lateinifhen 592. Jakob Sabolet und Peter Bembo 593. Hieronymus Bida und feine Dichtungen 594 595. Seine Auffafiung der Poefie 596. Seine Ehriftiade 597. Jacopo Sannazaro 598. Sein Epos De partu Virginis 599. Die römiſche Akademie 600. Corycius. Ruccellai und Triffino 601. Aldo Manuzio und Andrea Navagero. Andere Epiler 602,

Dritted Kapitel: Weiterleben des Humanismus anherhalb Italiens.

Hohannes Dantiscus 602. Nikolaus Copernicus und jein „Siebengeftirn“ 608 604. Nikolaus Dlay. Knobelsdorf in Paris 605. Die humaniftiihen

Anhalt. xV

Studien in Frankreich. Wilhelm Bubeus 605. Germain de Brie. Friedliche Er- weiterung der humaniſtiſchen Studien 606. Die erften Jejuiten als Schüler am Kollegium Sainte-Barbe. Peter du Ehaftel 607. Jacques Touffain. Henry Eftienne. Zurnebe und Dluret. Georg Buhanan 608. Der Humanismus in den Niederlanden. Johannes Secundbus 609. Juſtus Lipfins 610. Die Brüder bes gemeinjamen Lebens. Entwidlung bes Schuldramas. Wimpheling. Reudlin 611. Makropedius 612. Schonaeus. Andere mieberländiihe Schuldramatifer 613 614.

Viertes Kapitel: Der Humanismus im Dienite der neuen Lehre.

Luthers Stärke in feinen deutſchen Schriften; ber volle Bruch mit ber lateiniſchen Bildung jedoch durch die Verhältniffe aufgehalten 614. Melanchthons Berdienfte alö Praeceptor Germaniae 615. Durdfreuzung feiner Beftrebungen durch die Wirren der Zeit 616. Ungünftige Lage der neugläubigen Poeten und Magiſtri. Sabinus. Micyllus. GCamerarius. Andere Poeten. Georg Fabricius 617. Zaub- mann 618. Paul Meliffus. Petrus Secundus Lotihius 619. Johann Sturm und die proteftantifhe Schulbühne 620 621. Das Schuldrama wird hauptſächlich polemifches Kampfesmittel. Chriftophorus Stymmelius 622. Sirt Birf. Naogeorgus Nikodemus Friichlin 623 624. In England tritt der Humanismus gegen die nationale Poefie zurüd 625. John Owen und Franz Bacon 626. Aufblühen der Haffiichen Studien in den Niederlanden. Dufa. Scaliger. Heinfius. Seriverius. Boffius 627. Grotius als Dichter 628. Lateiniſche Mariendichtungen bes Iutherifchen Biſchofs Brynjölfe Speinsion in Island 629.

Fünftes Kapitel: Das lateiniſche Schuldrama der Jeſuiten.

Pflege des Schuldramas als eines untergeordneten päpagogiſchen Hilfsmittels 630. Nichtsdeſtoweniger reihe Entwidlung 631. Verſchiedene Beurteilung 632, Hervorragende Schuldbramatiter 633 634. Pädagogiſcher Wert. Einſchränkung ber Dichter durch den pädagogiſchen Zwed. Vorliebe des Zeitgeſchmacks für die Alle gorie 635 636. Wahl guter Stoffe. Techniſche Ausbildung bes Bühnenwejens 637 638. Aufführungen in Wien und Graz 639. Nußen bes Schultheaters für die damalige Literatur überhaupt 640. Die Schulbühnen von La Fleche und Louis le Grand zu Paris 640 641. Karl Porree, Voltaires Lehrer, der letzte bedeutende Schuldramatifer in Paris 642 643.

Sechſtes Kapitel: Urban VIII, Sarbiewsti und Balde.

Günftiger Einfluß des Humanismus auf die romanischen Literaturen 644. Allmählices Zurücktreten ber lateinischen Dichtung. Anregender Einfluß ber befferen lateiniihen Schulpoefie 644 645. Wert der Tatholifchen Überlieferung überhaupt für Kunft und Literatur 646 647. Rom als Mittelpunft geiftiger Kultur im 17. Jahrhundert. Urban VIII. 648. €. Sarbiewsti 649. Die Revifion ber Brevier-Hymnen 650. Jakob Balde und jein Liederbuh 651—653. Das Lied ber Liebe 654 655. Abendlied 656. Mahnung an die Deutichen 657 658. Marienliedber. Der Schwanengefang 659. Die Übrigen Werfe Baldes 660—663.

Siebtes Kapitel: Andere Neulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts.

A. Widl 664. 3. Biflel. Johann Kreihing. Niederländiice Elegiler 665. Der Humorift U. Gazet 666. Franzöfiſche Neulateiner 667. Italieniſche Neu—

XVI Inhalt.

lateiner 668. Engländer. Lateinifhe Dichter in Brafilien und Mexilo 669, Michael Denis 670. Kardinal Polignac 671. Opitz. Fleming. Leibniz. Kafpar von Barth 672. Gottfried v. Herder über bie neulateiniiche Dichtung 673 674.

Achtes Kapitel: Die Inteinifche Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XII.

Bruch ber neueren Wiſſenſchaft mit ber lateinifhen Sprade 674 675. Statiftifches über den Rüdgang ber lateinischen Verskunſt 676. Nur mehr ſchwache Pflege berfelben, auch in ben Tatholifchen Ländern. Der Preis Hoeufft. Peter Eſſeiva 677. „Die Eifenbahn“ 678 679. „Die Emanzipierten“ 680 681. Leo XIII. als lateiniſcher Dichter. Poetiihe Selbftbiographie 682 683. Oben und Epi- gramme. „An Gallus‘. „Die Photographie” 684. Die Fortſchritte und Leiftungen ber modernen Philologie 685. Verfchiedene Zeitftrömungen in Bezug auf den chriſtlichen Humanismus 685 686. Garantien für bdeffen Fortdauer in maß» vollem Umfang und zum Vorteil der mobernen Bildung. Poetiſche Prophezeiung des Papites 687 —689.

0.2

Erſtes Bud.

Die althriflihe Literatur des Abendlandes.

Baumgariner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 1

Erites Kapitel.

Grundlagen und Anfänge der altchriſtlichen griechiſchen Literatur.

oc bevor die römische Literatur unter Auguſtus zur vollen Hochblüte gelangt war, hatte fih das größte Ereignis der Weltgeſchichte vollzogen. Die wunderbare Weihnadht war erjchienen, nad der die Menjchheit noch heute ihre Jahre zählt. Das ewige Wort des Baters, ihm gleih an Weſen, Macht und Herrlichkeit, Hatte im Schoße der Jungfrau fi) mit der menfch- lihen Natur zu unauflöslihem Bunde vereinigt, um die gefallene Menſch— heit vom Joche der Sünde zu erlöfen, ihre Schuld durch flellvertretende Genugtuung zu fühnen, ihr in feinem fterblichen Leben den Weg des Heiles zu zeigen und ihr im einer Diesjeitd® und Jenſeits umjpannenden Heils— ordnung das höchſte übermatürliche Ziel wieder zu eröffnen. Eine der Volks— zählungen, melde Auguftus zur Aufftellung der Zenfusliften im ganzen römiſchen Weltreih vornehmen ließ, führte Maria die Jungfrau und ihren jungfräulichen Gemahl, den hl. Joſeph, nad Bethlehem. Sie fanden in der überfüllten Stadt feine Herberge; in einem armen Stalle ward ber Welterlöſer geboren.

In tiefem Dunkel floffen die erften dreißig Jahre feines Lebens dahin; jeine öffentliche Lehrtätigkeit beſchränkte fih auf die engen Grenzen bon Paläſtina. Erſt als Gefangener, des Aufruhrs angeklagt, erjchien er zum eriten- und letztenmal dor dem Stellvertreter des römiſchen Weltbeherrichers. Im Namen des fiegreichen Heidentums verurteilte der römiſche Statthalter auf die verleumderifche Anklage der Synagoge den unjdhuldigen, von ihr verjtoßenen Meſſias zum Sreuzestode und verkündete in der dreiſprachigen Inſchrift der gefamten Welt die Urſache feiner Hinrihtung. Drei Tage jpäter ward feine Auferftehung von einer ganzen Schar von Zeugen verbürgt, zwei Monate jpäter beteten ſchon Zaufende aus den verjchiedenften Völkern den Auferftandenen als ihren Gott und Erlöjer an; dreißig Jahre jpäter war die Kunde feiner Lehre Schon in alle Hauptländer des römischen Reiches gedrungen, und Petrus, da3 Haupt des von ihm berufenen Apoſtelkollegiums

und der bon ihm gegründeten Kirche, ftarb unter Nero in Rom jelbit, 1*

4 Erites Kapitel,

in den Gärten des Vatikans, den Martertod, mit ihm der Bölferapoftel, der die Lehre Chriſti durch ganz Kleinafien gepredigt und im alten Athen wie am Fuße des Kapitol3 verfündigt Hatte. Das Ehriftentum war bereits eine Meltmadt.

Die neue Lehre ſchien der geſamten damaligen Wiſſenſchaft und Literatur gleihgültig, wenn nicht ablehnend und feindlich gegenüberzuftehen. Sie beihäftigte ſich zunächſt nur mit religiöfen, fittlihen und jozialen Aufgaben. Die einzigen Schriften, deren ihr göttliher Stifter erwähnt, find die in- fpirierten Bücher des Alten Bundes. Er beruft fi auf fie, um jeine meffianifhe Sendung nachzuweiſen und feine Lehre, die des Neuen Bundes, daran zu fnüpfen. Er jelbft hat feine Schriften hinterlaffen noch zur Auf: zeihnung feiner Lehren ausdrüdlichen Befehl erteilt. Seine ganze Tätigkeit jpielt fih in den Beifpielen der hödhften Tugend, mündlicher Belehrung und wunderbaren Erweiſen göttliher Kraft und Gnade ab. Sie ift ein tat- ſächlicher Proteft gegen jene naturaliftiihe Anjchauung, welche in erfter Linie von wiſſenſchaftlicher und äfthetiicher Bildung das Heil der Menjchheit er- wartet. Der Hl. Paulus hat diefem Gegenja aud Haren und deutlichen Ausdruck gegeben, indem er den Korinthern fagte: „Denn da in der Weis: heit Gottes die Welt dur die Weisheit Gott nicht erlannt hat, jo hat es

Gott gefallen, durch die Torheit der Predigt zu erretten die Glaubenden, da aud die Juden Zeichen begehren, und die Griechen Weisheit juchen, wir aber Chriſtum predigen den Gefreuzigten, den Juden denn als ein Ärgernis, den Heiden aber als eine Torheit, ihnen jelber aber, den Berufenen, Juden jowohl als Griechen, Chriftum als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.” 1

In diefen Worten ift ſowohl der faljchen, verknöcherten Auffaffung des Alten Bundes von feiten der Juden als aud dem grenzenlojen Wiſſensſtolze der helleniſchen PHilojophie ein ewiger Krieg erklärt, keineswegs aber die providentielle Führung abgebrochen, durch welche Gott im Alten Bunde den Neuen angekündigt, vorbereitet und grumndgelegt hatte, ebenjowenig das natürlih Wahre, Gute und Schöne abgelehnt und verurteilt, daS die antife Welt im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hatte. Die Bildung der antiten Welt beſaß jedoch durchaus nicht jene Harmonie, Schönheit und Bolltommenheit, welde ihr don vielen fälſchlich zugeihrieben worden ift?; fie hatte vielmehr die wichtigſten Grundlagen der gottgewollten Ordnung verfehrt und umgeftürzt, den Menſchen an Stelle Gottes, das Geihöpf an Stelle des Schöpfers gejebt, die höchſten Ziele der Menjchheit aus den

1 Kor 1, 21—24.

® Zu weit geht in der Wertihäßung bes Altertums au E Norden, Die antife Kunftprofa II, Leipzig 1898, 452—460. Die Kriftlihe Weltanfhauung hat weber bie individuelle Freiheit noch die „Heiterkeit“ noch das nationale Element in der Siteratur no die „Formſchönheit“ aufgehoben, jondern nur heilfam beſchränkt.

Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiſchen Literatur. 5

Augen verloren und fih völlig unfähig erwiefen, den Menjchengeift aus dem ungeheuerlihen Wirrwarr des Polytheismus, der Gottlofigkeit und Sitten: fofigkeit auf den richtigen Pfad zurüdzulenfen. Unter dem Einfluß der Sünde war gerade der verlodende Kultus des Schönen zu einem Pfuhl des Verderbens, die jheinbar kraftvollſte Rechtsentwidlung zu einem Duell der Iyrannei und graufamfter Ausſaugung für die Mehrheit der Menfchen ges worden. Aus der falſchen Überfultur war eine neue Barbarei emporgewachien, gegen welche alle Herrjcher und Staatsmänner, Philoſophen und Dichter ih ohnmächtig erwiejen. Ein Brucd mit der vorhandenen Zivilifation war unvermeidlich geworden; aber derjelbe jollte nicht gewaltjam vor ſich gehen. Demut, Armut, Leiden follten der Lehre vom Kreuz die Welt erobern und jene Erneuerung der Völker herbeiführen, auf welcher alle jpätere Zivili- jation beruht.

Wie der MWelterlöfer feinen Namen in die Zenjusliften des erften römiſchen Kaiſers eintragen ließ, jo hat er auch mit Bezug auf feine Nachfolger die Weifung gegeben: „Gebet dem Gäjar, was des Cäſars it!" Jeder Gedanfe an eine politiihe Ummälzung lag ihm ferne. Seine Lehre trug er offen vor aller Welt vor. Die Stimmführer feines Volkes, Priefter und Pharifäer, wie römische Genturionen und Beamte konnten ihn bören. Er trug dafür Sorge, dab jelbft der Hohepriefter, der römiſche Profurator,, die höchſten Autoritäten Paläftinas von ihm und feinem Wirken Kenntnis nehmen konnten und mußten; aud die Kunde feiner Auferftehung ift noch am erften Oftertag zu den Ohren derſelben gelangt. Schon der Kaiferhof Neros wurde mit der neuen Religion befannt; Ylavius Joſephus machte die Zeitgenoffen Veipafians auf Chriſtus und deffen Apoftel Jakobus aufmerlfam!; die Kaijerfamilie der Flavier zählte Belenner des CHriftentums in ihrem eigenen Scope. An Bublizität hat es aljo dem Auftreten des Erlöſers und feiner Schüler nicht gefehlt, und es ift völlig irreführend, wenn man ihn heute als bloßen Wanderprediger und Tröſter der Enterbten, Berftoßenen, Unglüdlihen und Siechen, feine Lehre als bloße „Stlavenmoral* darftellt.

Hat er aud die meiften feiner Apoftel und Jünger aus dem eigent- lien Volke, den niedrigeren Ständen erforen, jo hat er doch auch Hochgebilvete Männer, wie Nikodemus und Joſeph von Nrimathäa, unter feinen früheſten Schülern gezählt. Paulus und Lukas beſaßen die helleniſche Bildung ihrer Zeit in hohem Grade. Schon in der Npoftelzeit drang das Chriftentum nit bloß in die niederen Volksſchichten, jondern aud) in die höchſten Lebens: freije ein. Es iſt einerjeit3 völlige Bürgſchaft vorhanden, daß die Lehre

IK. Aneller, Flavius Joſephus über Jeſus Chriftus (Stimmen aus Maria-Qaah LIII [1897] 1—19 161—174).

6 Erftes Kapitel.

Chriſti nicht aus zeitgenöffiihen Anregungen hervorgewachſen, ſondern wirklich göttlichen Urſprungs ift; anderfeits aber ift durch die Überlieferung ebenfogut bezeugt, daß die erften Chriftengemeinden durchaus nicht ein bon der zeit: genöffiihen Bildung völlig abgetrenntes a en Kon: ventikelweſen darftellten,

Der polytheiftiiche Staatsgottesdienft griff allerdings jo tief in alle Kreife des öffentlichen Lebens ein, daß die Chriften genötigt waren, ſich fait böllig von dieſem zurüdzuziehen, um nicht in der einen oder andern Form die Schuld des Göbendienftes auf fih zu laden. Noch ſchlimmer ftand es mit den öffentlihen Schaufpielen und Bergnügungen; fie wurden vielfach durch die Schamlofefte Unzucht oder unmenſchliche Graufamteit entehrt. Das Naturgejeß, das am Chriftentum endlich wieder einen wirkfjamen Anwalt gefunden hatte, zwang feine Belenner jhon, all jenen Schauftellungen fern zu bleiben. Bon den philofophiihen Schulen untergruben die meiften und verbreitetften, wie jene des Epifur, alle und jede Religion; die Chriften mußten fi) notwendig davon abgeftoßen . fühlen, während ihnen die Lehre der Stoa oder der Akademie mit ihren zum Zeil idvealeren Strebungen nichts bieten konnte, was die Lehre Chrifti nicht viel einfacher, Harer und unendlich vollfommener darbot. So wurden die Chriften notwendig mehr und mehr in die Stille des Privatlebens zurüdgedrängt. Das Geheimnis, das ihre Sonderftellung umgab, veranlaßte die Heiden, ihnen ähnlihe Greuel anzu— dichten, wie fie, wenn auch nicht in fo ungeheuerlicher Weiſe, bei den Anz hängern verjchiedener orientaliiher Geheimfulte wirklich vorkamen. Der Widerftand gegen den hergebradhten Götzendienſt wie gegen die in Kunſt, Literatur und Vollsleben herrſchende Umfittlichfeit wurde als feindjeliger Vorwurf empfunden. Als Feinde des Menſchengeſchlechts, der Götter und Gäfaren wurden die Chriften verfolgt und durch die Verfolgung noch mehr in die Verborgenheit zurüdgedrängt. Die Verfolgung führte ihnen jedoch auch ftet3 neuen Zuwachs zu, erhielt fie in beftändiger Fühlung mit dem zeitgenöffijchen Leben, und die Lehre Chriſti drang in immer meitere Kreiſe der heidniſchen Gejellichaft ein.

Beſaßen die Chriften auch feine eigenen Tempel und glänzende Ver— jammlungsftätten, jo gewährten doch die Feier der heiligen Myſterien, gemeinjame Gebete und Gejänge, die Ausjpendung der Saframente, die Predigt der Kriftlihen Lehre, Werke der Liebe und Barmherzigkeit und das Martyrium dem Leben der erften Chriftengemeinden einen ehrwürdigen, feierlichen, firhliden Charakter; duch die Wanderungen der Glaubensboten und den regen brieflichen Verkehr gewann es das Gepräge einer alle Völker umfjpannenden Univerjalität; durch den Martertod des Apoftelfürften ward Nom der bleibende Sit der hierarchiſchen Einheit, melde Abendland und Morgenland verband.

Grundlagen und Anfänge der altriftlichen griechiichen Literatur. 7

Während die antite Poeſie, übertäubt vom raufchenden Gelärm der Zirkusfpiele, kaum mehr einen bedeutenden Vertreter fand, der antike Mythos in froftigen Schulfünfteleien erftarrte, ſchlug das lebendige Reis der chriſt— ihen Wahrheit mächtige und tiefe Wurzeln in dem heidniſchen Rom, breitete feine Zweige über alle Provinzen aus und legte den Grund zu jener groß: artigen Ziviliſation, durch welche die griehiiche wie die lateinifhe Literatur zu einer neuen fruchtreihen Entwidiung gelangen follte. An die Stelle des Mythos mit feinen vielfah findiihen und unwürdigen Fabeleien trat als Prinzip einer neuen Poefte die göttlich geoffenbarte Wahrheit jelbft, verkörpert in der gottmenjhlihen Perfon des Erlöjers, des Kindes von Bethlehem, des BVerflärten auf Tabor, des Siegerd auf Golgatha, des Gefreuzigten und des ewigen Weltenrichterd, dejlen Geftalt hoch Hinausragt über alle menſchliche Geſchichte in die Tage der Ewigfeit, des höchften Prieſters und Propheten, des erhabenfien Gefeßgebers und bes liebenswürdigſten Menſchenfreundes, des Gründers und Königs jenes erhabenen Weltreiches, das Erde und Himmel umfpannt und die Menfhheit durch das Leiden und Kreuz diefeg Erden— dajeins zur ewigen Glüdjeligkeit emporführt.

Ehriftus ift der Schlußftein der vorausgegangenen Jahrtaufende. In ihm erfüllen fih die Prophezeiungen, durch melde Gott feit dem all im PVaradieje da3 gejuntene Menfchengejchleht gehoben und getröftet; in ihm erfüllen fi alle Verheißungen und Vorbilder, durch welche Gott im Alten Bunde den Plan der künftigen Erlöfung immer deutlicher vorgezeichnet; in ihm erfült fih das Sehnen der Völker nad Befreiung bon dem immer drüdender laftenden Jod der Sünde und des Heidentums, das dunkle Ringen und Streben der großen Denker nad Erfenntnis des ewig Wahren, der Traum der Dichter vom Wiederfehren des goldenen Zeitalter, der Auf: ihrei der von ftolzen Gewaltherren niedergetretenen und gequälten Maffen, das Gebet der Frommen, die von Geſchlecht zu Geſchlecht jehnfüchtig nad) dem Meſſias riefen. Seinem Helden der antiten Welt ift Jahrhunderte, ZJahrtaufende zuvor eine ſolche Huldigung dargebraht worden. Mit ihm beginnt eine neue Zeit, die Fülle der Zeiten.

Durch die Menſchwerdung verband ſich die göttlihe Natur. in der Perjon des ewigen Wortes wahrhaft und für immer mit der menfchlichen, trat faßbar, fihtbar, menſchlich in die menjchlihe Gedichte ein, übernahm die Sühnung aller menſchlichen Sünde und Bergehungen, die Belehrung und Führung des Menjchengejchledhts, die Erziefung und Vorbereitung des— jelben zur ewigen Vereinigung mit Gott. Das Schönfte und Tieffte, was der alte Mythos aljo ahnend und jehnend über die Verbindung von Gott und Menſch gedichtet hatte, ward zu voller Wahrheit und Wirklichkeit, aber in viel erhabenerer Weife, als die polytheiftifchen Religionen es erträumten. Alles Unwürdige, Häßliche, Schmähliche fiel Hier weg. Die Gottheit ftieg

8 Erſtes Kapitel.

zu den Menſchen auf die Erde nieder, nicht um in Menſchengeſtalt ſchranken— fofem Sinnengenufje zu buldigen, alle Berirrungen menſchlicher Leidenſchaft und Sünde jelbjt zu begehen, die Gottheit bis zum Tier und unter das Tier zu erniedrigen, und den Menjchen dann nad allen Richtungen feiner Lafter- Haftigfeit zu vergöttern und an die Stelle der Gottheit zu jeßen. Gott ftieg vielmehr zu den Menjchen herab, um fie, im Lichte feiner unendlichen Reinheit und Zauterkeit, über die gräßliche Entweihung und Entwürdigung aufzuklären, in welche das Menjchengefhleht durch die Sünde gefunfen war, als un— Ihuldiges Opferlamm ihre Schuld auf fid) zu nehmen und zu büßen und ihnen im Rampfe gegen das Böfe, in Leiden und Kreuz den Weg zu zeigen, auf weldem fie die Gelüfte der Tierheit wie den jelbfivergätternden Stolz ihres Geiftes überwinden könnten, um des göttlichen Lebens teilhaftig zu werden.

Zerftörte au das Dogma von der Erbjünde und von der Erlöfung unnachſichtlich die Jdole, in welchen die heidnifche Vielgötterei die Lafter und Zorheiten der Menſchen mit dem Schimmer der Göttlichkeit umkleidet hatte, bernichtete es aud den Heibnifchen Traum, volle Schönheit und Harmonie, volles Genügen, Seligfeit und Götterwonne im irdischen Dafein zu genießen, jo Schloß die große Lehre von der Menſchwerdung dafür eine neue, un: erihöpfliche Welt wahrer, höchſter Schönheit auf. Nichts wahrhaft Schönes ward ihr dadurch entfremdet, alle menſchlichen Beziehungen und BVerhältniffe vielmehr auf eine höhere Stufe, in die Anteilnahme am göttlichen Leben, emporgerüdt, die natürlichen Jdeale zu übernatürlihen erhoben und verflärt. Der Einzelne wurde zum Kind Gottes geadelt, die gefamte Menjchheit durch das große Gebot der Bruderliebe vereint, die Ehe zu ihrer urfprünglichen Einheit und Reinheit zurüdgeführt, Jungfräufichkeit und opfermutige Welt: entjagung nad Chriſti Beifpiel als jhirmende Engel dem Anfturm der niedrigen Leidenjchaften gegenübergeftellt, himmliſche Barmherzigkeit zum Aus: glei des irdiſchen Güterbefibes berufen, der Heroiämus des Kreuzes zum Ziel der edelften Herzen gemacht. Bon unberedhenbarer Tragweite war es namentlih, daß das Chriftentum das Problem des Leidens, mweldes den größten Denkern des Altertums ein umlösbares Rätſel geblieben war, in der wunderbariten Weiſe löfte, Sünde, Tod und Hölle im Kreuz des Erlöfers überwand und aus den Diffonanzen der phyfiichen und moraliſchen Ordnung die dolle Harmonie des göttlichen Weltplans geftaltete.

Ihren erften und zugleih unvergänglid ſchönſten Ausdruck Hat die chriſtliche Lehre, unter göttlicher Eingebung und Obhut jelbft, in den Heiligen Schriften des Neuen Bundes gefunden!, Eine genaue Angabe der Abfaffungszeit it von feiner derjelben vorhanden; doch geben innere und

ı Eine furze Charakteriftit berjelben wurde ſchon früher gegeben. Vgl. Bb I* 143— 158,

Grundlagen und Anfänge der althrifilihen griechiſchen Literatur, 9

äußere Anhaltspunkte hinreichende Sicherheit, dab die ganze Sammlung in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts vollendet ward.

Mutmaßlich jhon zwiihen den Jahren 40—50 ſchrieb Matthäus fein Hebräifches Evangelium für die Judenchriſten in Paläſtina; zwiſchen 52 und 62 verfaßte Markus, unter Leitung des hl. Petrus, jein Evangelium in Rom. In die Jahre 59—63 dürfte etwa das Evangelium fallen, das der hl. Lukas in Verbindung mit den Hl. Paulus fchrieb, ob zu Cäſarea oder Rom, ift ungewiß. An dasjelbe reiht fih als Fort— jegung die Apoftelgejhichte, welche mit der Gefangenschaft des Hi. Paulus zu Rom (62—64) abihliegtt. Bon den Briefen des hl. Paulus ftammen die zwei erjien „an die Theffalonicenjer” jowie derjenige an die Galater aus dem Jahre 53 oder 54, die zwei Briefe an die Korinther aus dem Jahre 58, der Brief an die Römer aus dem Jahre 59, die Briefe an die Philipper, Koloffer, Ephefier, Hebräer und an Philemon aus der Zeit der römischen Gefangenschaft, die zwei Briefe an Timotheus und derjenige an Titus aus den lebten Lebensjahren des Apoftels (65—67)2. Um die gleihe Zeit (64 und 67) fhrieb der Hi. Petrus feine zwei Briefe von Rom aus3. Der bl. Johannes dagegen fcheint, nad den Zeugniflen der Väter und älteften Kirchenſchriftſteller, ſen Evangelium, jeine drei Briefe und jeine Apokalypſe erft im letzten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts niedergejchrieben zu Haben, unter der Regierung des ſtaiſers Domitiant oder des Kaiſers Nerva.

Sind auch alle diefe Daten nur als annähernd zu betrachten, jo war doh etwa ein Jahrhundert nad der augufteiichen Blütezeit der römischen Literatur, fünf Jahrhunderte nad der Hochblüte der helleniſchen Literatur unter Perilles bereits das Fundament jener neuen Bildung gelegt, melde, die alten nationalen Grenzen des Orients und Occidents überjchreitend, Die gefamte Welt zu einem geiftigen Reich verbinden und auf deren breiter Grundlage das Griechiſche und das Lateinische als liturgiſch-heilige Sprachen jelbft einen neuen Literaturfrühling erleben und dem bunten Flor der abend» ländijchen Literaturen als Ausgangspunkt dienen jollten®. Nocd ehe Plutarch

! R. Cornely, Introductio spec. in libr. Nov. Test.?, Parisiis 1897, 79 117 168 f.

» Ebd. 376 |. s Ebd. 634. * Ebd. 259 f 664 698 f.

5 Aus ber unabfehbaren Literatur find zunächſt hervorzuheben die wichtigften Sammlungen ber Werke ber Kirchenväter und Kirchenfchriftftellee von: Marguerin de la Bigne, Bibliotheca SS. Patrum, 9 Bde 2%, Paris. 1575—1579; erweitert al$ Maxima Bibliotheca veterum Patrum etc., 27 Bde 2°, Lugd. 1677. Andr. Gallandi, Biblioth. veter. PP. etce., 14 ®be 2%, Venetiis 17651782, Migne, Patrologiae cursus completus. Series lat. I et II, 221 Bbe 4°, Paris. 1844— 1864; Series graec., 162 Bde 4°, ebd. 1857— 1866. Corpus scrip- torum eccl. latinorum (herausgeg. von ber faiferlihen Akademie der Wiſſenſchaften

10 Erftes Kapitel,

in feinen Biographien den Heldenruhm von Rom und Hellas zufammenfaßte, zeichneten die Evangeliften jenes wunderbare Lebensbild, das für alle folgenden Jahrhunderte die Menjchheit erleuchtete; noch ehe Petronius, Martial und Juvenal die Schande des faiferlihen Rom cyniſch zu Markte trugen, konnte Paulus bezeugen, daß der Glaube chriſtlich gewordener Römer bereits welt: fundig geworden feil, und während verbitterte Stoifer fih an den Greuel- tragödien des Senefa unterhielten, ermutigten fi in demſelben Rom drift: lihe Heldenjeelen an der Paſſionsgeſchichte des Erlöjers, um frohen Muts dem ſchrecklichſten Tode entgegenzugehen.

Neben den heiligen Schriften, deren göttlihen Urjprung das kirchliche Lehramt auf Grund lebendiger Überlieferung verbürgte und welde neben diejer Überlieferung die unverfiegbare Quelle des Glaubens blieben, entftanden ihon vom 1. Jahrhundert an andere, melde teils die kirchliche Autorität

in Wien), Vindobonae 1866 ff. Die griechiſchen chriſtlichen Schriftftelfer ber erſten drei Jahrhunderte, herausgeg. von der Kirchenväter-Kommiſſion ber fünigl. preuß. Akademie der Wiſſenſchaften. I. Hippolytus GBGonwetſch-Achelis), IL III. VI XL Origenes (Koöetſchau, Kloftermann, Preuſchen), Leipzig 1897—1903, VII. IX. X, Eujebius (Heitel, Shwark und Mommſen), 1901—1903. Monumenta Ger- maniae historica. Auctores antiquissimi, Berol. 1877 ff. Dann die patrologifchen Werte von: R. Ceillier O. 8. B., Histoire generale des auteurs sacrés et ec- elösiastiques, 23 Bbe, Paris 1729—1763 (Neuaufl. in 16 Bon, Paris 1858—1869). 3.4. Möhler, Patrologie; herausgeg. von F. XR. Reithmahyr, Bd I, Regens- burg 1840. I. Fessler, Institutiones Patrologiae, 2 ®be, Oeniponte 1850 bis 1851; denuo edid. B. Jungmann 1890—1892. %. Alzog, Grunbriß ber Patrologie, Freiburg i. B. 1866; 4. Aufl. ebd. 1888. J. Nirſchl, Lehrbuch ber Patrologie und Patriftit, 3 Bbe, Mainz 1881—1885. D. Barbenhewer, Patrologie, Freiburg i. 8.1894; 2. Aufl. 1901; Derf., Geſchichte der altfirhlichen gileratur, Freiburg i. ®., I 1902, II 1908. P, Batiffol, Anciennes litteratures chrötiennes. La litt. Greeque, Paris 1897. U. Harnad, Geſchichte der alt— chriſtlichen Literatur, 1. u. 2. ZI, Leipzig 1893 1897. G. Krüger, Geſchichte der altchriftlihen Literatur in den erften drei Jahrhunderten, Freiburg i. B. 1897. A. Ehrhard, Die althriftliche Literatur und ihre Erforfung jeit 1880, rei« burg i. ®. 1894. W. Smith and H. Wace, A Dictionary of Christian Bio- graphy, Literature, Sects and Doctrines, 4 ®be, London 1877—1887. Bon andern Werken: 3. Chr. F. Bähr, Geſchichte der römischen Literatur, Karlsruhe 1836—1840 (4. Bd, 1. Abteilung: Die riftlihen Dichter und Geſchichtſchreiber Roms, 2. Aufl. 1872). W. ©. Teuffel, Gejhicdhte der römifchen Literatur, Leipzig 1870; 5. Aufl. von Shwabe, 18%. M. Schanz, Geſchichte der rö- miſchen Literatur III, Münden 1896, 204—410; IV, 1 (1905). Abd, Ebert, Allgemeine Geſchichte ber Literatur des Dtittelalters im Abendlande, 3 Bde, Beipzig 1874; 2. Aufl. 1889. W. Chrift, Geſchichte der griechiſchen Literatur?, München 1898, 879-926. 6. Gröber, Ülberfiht über die lateiniſche Literatur von der Mitte des 6. Jahrhunderts bis 1350 (Grundriß der Romaniſchen Philologie II, Straßburg 1898, 97—427). ı Rom 1, 8.

Grundlagen und Anfänge der altriftlichen griechiſchen Literatur. 11

teils einzelne Lehrer zu Urhebern hatten, fi mit der Regelung des kirch— lihen Lebens, der Liturgie und Disziplin, des Unterricht? der Katechumenen und Gläubigen befakten und als offiziell kirchliche Schriften eines nicht ges ringen Anjehens genofjen, die jog. „apoftolijhen Väter“. Dahin gehören die fog. „Didache“ oder Zmwölf-Apoftel-Lehre, der jog. „Barna: basbrief”, der Brief des Hl. Klemens von Rom, eines der erſten Päpſte, an die Korinther, die ergreifenden Briefe des heiligen Märtyrer: biſchosfs Ignatius don Antiohien, der unter Trajan im Amphitheater zu Rom den wilden Tieren vorgeworfen wurde, und des hl. Bolytarp, Biihof3 von Smyma, eines Schüler des hi. Johannes, der unter Anz toninus Pius im Jahre 155 zu Smyrna den Feuertod erlitt, die nur in Fragmenten erhaltenen Aufzeihnungen des Papias, Biſchofs von Hiera- polis, der noch den hl. Johannes kannte und mit Polyfarp in Verbindung ftand, der „Brief an Diognet” und der jog. „Hirt des Hermas“, eine myſtiſche Erbauungsjchrift, welche fünf Viſionen, zwölf Gebote und zehn Gleihniffe umfaßt. Iſt aud feine diefer Schriften auf künftlerifche Zwede gerichtet, jo bringen doch 3. B. die Briefe des Hl. Ignatius die Gefinnung der Märtyrer zu rührend ſchönem Ausdrud, die Vifionen und Gleihniffe des Hermas bieten allegoriſche Momente, welche für die fpätere Poefie und Kunft bedeutung&voll geworden find, Klemens von Rom fchlägt in feinem Schreiben an die Korinther (befonder8 in den erft 1875 ver— öffentlichten Kapiteln) jhon den Ton an, den wir in den jpäteren Papſt— briefen zu finden gewohnt find?, und die übrigen atmen einen Geift der Andacht, der Frömmigkeit und Heiligkeit, der fie den Schriften der Apoftel naherüdt.

„Die apoftolifhen Väter“, fagt be Preſſenſe, „find feine großen Schriftfteller, aber große Charaftere.“ „Ahr Stil”, fügt Lightfoot bei, „ift nadjläffig; es fehlt an Gruppierung bes Stoffes und an Syftemalifierung der Lehre. Sie ftellen einerjeits einen ſcharfen Gegenfaß zu ber Tiefe und zu der Maren Auffaffung dar, mit welder

ı F,X. Funk, Patres apostolici?, 2 Bde, Tübingae 1901. Die übrige Spezialliteratur bei Barbenhewer, Patrologie? 15 ff; Geld. d. altkirchl. Lit. I 66 fi. A. Harnack aa. 8.139 ff.

2 Zu einer jolden Stelle bemertt Harnad (Clementis Romani ad Corinthios quae dieuntur epistulae, Lips. 1876, c. 63): Ecce quanta auctoritate hie Roma locuta sit... . Haec vox gravis neque opinata; ecclesia Romana nequaquam a Corinthiis advocata iurisdietionem quandam sibi arrogat. Der anglikaniſche Biſchof Dr Lightfoot aber jagt: It is the more instructive to observe the urgent and almost imperious tone which the Romans adopt in addressing their Corinthian brethren during the closing years of the first century... . It may perhaps seem strange to describe this noble remonstrance as the first step towards papal domination, and yet undoubtedly this is the case (The Apostolic Fathers, Part I. S. Clement of Rome I, London 1890, 69 70).

12 Erites Kapitel.

bie verſchiedenen apoftoliihen Schriftfteller ung das Evangelium nad) verjchiedenen Seiten vorlegen; anderjeits entbehren fie bes wiſſenſchaftlichen Geiftes, welcher bie Väter des 4. und 5. Jahrhunderts auszeichnet und welcher fie befähigte, die Glaubens: lehre als ein Bollwerk gegen willfürliche Spekulation zu formulieren... . Es herrſcht in ihnen aber ein weitherziges fittliches Mitgefühl, ein ernftes Bewußtfein perfönlicher Berantwortlichkeit, ein Eifer chriſtlicher Andacht, weldhe von dem Einfluß bes Evan geliums auf jelbftverftändblich jehr verſchiedene Charaktere das edelfte Zeugnis geben und welde ihren Schriften immer eine Hochachtung fihern werben, die mit ihren literarifchen Verdienſten durhaus nicht im Verhältnis fteht. Die Liebenswürbigteit und Seiterfeit des Klemens, deſſen Geift ganz verloren ift in die Betrachtung ber Harmonie von Natur und Gnade; ber fyeuereifer des Ignatius, in welchem bas über- wöältigende Verlangen nad) dem Martertod jede menfchliche Leidenfchaft erſtickt hat; die unerfchütterte Feſtigkeit des Polykarp, deſſen langes Beben ganz darin aufgeht, den ben Heiligen einmal mitgeteilten Glauben aufrecht zu halten, bas find Lektionen, welche nie veralten, nie ihren Wert verlieren können,” !

Im 2, Jahrhundert zählte das Chriftentum jchon eine Menge Anhänger, welche, den höheren Lebenskreiſen angehörig, mit der ganzen zeitgenöffiichen höheren Bildung ausgerüftet waren, Juriften, Rhetoren, Philofophen, Es bot fi ihnen eine doppelte Tätigkeit dar. Die Verfolgung, melde das Heidentum noch immer gegen die Ehriften führte, rief fie auf den Kampf: plag, um die Unschuld und das gute Recht ihrer Glaubensbrüder zu ver: teidigen; die Härefien, melde in ftel$ neuen Formen den inneren Beftand deö Glaubens bedrohten, machten es nötig, die faljchen Lehren, Einwendungen und Vorwürfe der Jrrgläubigen abzuwehren. An der Spike der Apo- logeten? ftehen die griechiſchen Philojophen Ariftides und Quadratus,

' ‚The apostolic fathers‘, it has been justly said, ‚are not great writers, but great characters‘ (De Pressense6, Trois premiers siöcles II 384). Their style is loose; there is a want of arrangement in their topics and an absence of system in their teaching. On the one hand they present a marked contrast to the depth and clearness of conception with which the several Apostolic writers place before us different aspects of the Gospel. On the other they lack the scientific spirit which distinguished the fathers of the 4% and 5% centuries and enabled them to formulate the doctrine of the faith as a bulwark against lawless speculation.... There is a breadth of moral sympathy, an earnest sense of personal responsability, a fervour of Christian devotion, which are the noblest testimony to the influence of the Gospel on characters obviously very diverse and will always command for their writings a respect wholly disproportionate to their literary merits. 'The gentleness .and serenity of Clement, whose whole spirit is absorbed in contemplating the harmonies of nature and grace; the fiery zesl of Ignatius, in whom the over-mastering desire of martyrdom has crushed all human passion; the unbroken constancy of Polycarp, whose protracted life is spent in maintaining the faith once delivered to the saints these are lessons which can never become antiquated or lose their value (Lightfoot, The Apostolic Fathers, Part, I. 8. Clement of Rome I, London 189%, 7).

2 Gefamtausgaben von Prudentius Maranus O.S.B. (Paris 1742, Venet. 1747) und 3. €. Th. v. Otto (Corpus apologetarum christianorum saec. 2,

Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiſchen Literatur. 13

welche unter der Regierung Hadrians (117—138) zu Athen die erften Schub: Ihriften zu Gunften des Chriftentums veröffentlichten. Ihnen gefellte ſich unter Antoninus Pius und Marc Aurel Juftinus, der Sohn des Pris— cus, ein befehrter Heide aus Paläftina, der, von mächtigem Wiſſensdrang getrieben, weder bei den Stoifern noch bei den Peripatetitern noch bei den Pothagoreern Befriedigung fand, endlih durd die Erjheinung eines ehr- würdigen Greifes für das Chriftentum gewonnen wurde und nunmehr ala hriftliher PHilofoph in aller Welt umherwanderte, um das Ehriftentum ala „die einzig zuverläffige und brauchbare Philofophie” zu verbreiten, -jeinen Hauptfiß aber in Rom aufſchlug und hier, auf Anklage des Cynikers Gres- cens (zwifhen 163—167) gefangen genommen, den Martertod durd das Schwert erlitt. Seine zwei Apologien find an die Kaiſer ſelbſt gerichtet und verbinden mit der Verteidigung der chriftlichen Lehre eine ſcharfe Kritik des Heidentums und feiner Göttermythen; in dem „Dialog mit dem Juden Trypho“ mies er ebenjo jchlagend die Einwürfe der Juden gegen das Chriſtentum zurüd.

Juſtins Sprache ift einfadh, mitunter faft einfach naiv, aber getragen von dem Bewußtſein, im ſichern Beſitz der Wahrheit zu fein, und verffärt von der Überzeugung, daß ber Kraft bes Evangeliums niemand wiberftehen kann, ber es auf ſich wirfen läßt und bie Titel feiner Glaubwürbdigfeit unterfudht. Seine erſte Apologie beſchließt er ohne allen rhetorifhen Prunt mit den einfahen Worten: „Und wenn nun Dies euch der Wahrheit und Vernunft gemäß zu fein ſcheint, jo achtet es hoch; ſcheinen es euch Poflen, fo veradhtet es als Poſſen, aber verhänget doch nicht, glei als wären es Feinde, über ſchuldloſe Menſchen den Tod. Wir jagen euch aber, daß ihr Gottes Gericht nit entfliehen werdet, wenn ihr in Ungerechtigkeit verharret; wir aber werben ausrufen: Was Gottes Wille ift, gefchehe.” ! Die ganze Furdtlofigfeit der Katafomben- zeit und das unüberwindliche Vertrauen auf die fiegende Kraft bes Chriftentums jpricht fih in den Worten aus: „Und daß niemand uns, die wir an Jeſus auf dem ganzen Erbfreis glauben, in Schreden verfeßen und zu feigen Menſchenknechten erniedrigen fönne, liegt offen zu Tage. Denn obwohl wir mit dem Schwert enthauptet, ans Kreuz geihlagen, wilden Tieren vorgeworfen, den Banden, dem Feuer und allen andern Dlartern preisgegeben werben, jo laffen wir do, wie es allbefannt ift, vom Belenntnis niht ab. Im Gegenteil, je mehr und mehr berartiges über und fommt, um jo mehr andere werben gläubig und gottesfürdhtig im Namen Jeſu. Wie wenn vom Weinftod einer bie überflüffigen Ranten wegjchneibet, dies zur Folge hat, dab andere herrlich blühende und fruchttragende Reben hervorſproſſen, jo geht es auch mit und. Denn ber von Gott und unferem Erlöfer gepflanzte Weinftod ift fein Bolt." ?

9 Bde, Ienae 1847—1872). Bl. A. Harnad, Die Überlieferung der griechifchen Apologeten bed 2. Jahrhunderts in der alten Kirche ufw. (Terte und Unter— fugungen I 1—2), Leipzig 1882. G. Schmitt, Die Apologie der erften drei Jahrhunderte, Mainz 1890.

ı IT Apol. c. 68 (Migne, Patr. gr. VI 432).

® Dialog. $ 110 (Migne a. a. ©. VI 7350e).

14 Erites Kapitel.

Mährend Juftinus die Dichter und Denker von Hellas mit fichtlicher Hochachtung behandelte, ſchenkte Tatian, fein Schüler, in feiner Apologie an die Griechen (zoöc "Eiinvag) den Lichtfeiten und Verdienſten der grie— chiſchen Bildung feine Berückſichtigung, jchrieb diejelben vielmehr barbarijchen Einflüffen zu und ftellte dann die innere Hohlheit und fittliche Verderbtheit des zeitgenöffiichen Griechentums in ſchonungsloſeſter Schrofffeit an ben Pranger, wie fie es tatſächlich auch volllommen verdiente. Im übrigen ift jeine Schutzſchrift jehr gewandt und inhaltsreich, voll Kraft und Wärme. Bon großer Bedeutjamfeit wurde auch feine Evangelienharmonie (Diateffaron), welde der hl. Ephräm fommentierte und welde in ſyriſcher, armeniſcher und arabijcher Überſetzung, nicht aber im Urtert, erhalten iſt. Leider ift er ſelbſt ſpäter ala Gnoftiter von der Kirche abgefallen. Wieder milder gegen die platoniſche Philofophie ſpricht ſich die ſprachlich jehr vollendete Apologie des Athenagoras aus, an die Kaiſer Marc Aurel und Commodus ges richtet, von großer Bertrautheit mit der griechiſchen Poefie zeugend und jehr maß» und würdevoll gehalten. Eine mehr jubjeltive Färbung trägt die Apologie des Theophilus von Antiohien, wie fie denn auch in drei Büchern nit an die Obrigkeit, jondern an einen Privatmann Auto— plus gerichtet ift. Gewandt und witzig, wenn aud ohne methodijche Tiefe, dedte Hermias in feiner „Verfpottung der heidniſchen Philoſophen“ (diunavpnög av Ew prloaupwv) die zahllofen Widerfprüche der Heidnifchen Philofophie auf, um die Geifter auf die harmoniſche Weltanfhauung des Chriſtentums Hinzumeifen!, Sein Spott verſetzt uns mitunter lebendig in die neueſte Gegenwart:

„Bald bin ih unſterblich und frohlode, bald werde ich fterblih und jammere; dann werde ich in Atome aufgelöft, werde Wafler, werbe Luft, werde Feuer; gleich

darauf bin ich feine Luft und fein feuer mehr, man macht mid zum Tiere, man macht mich zum Fiſche; ich habe alfo zur Abwechſlung die Delphine zu Brüdern.” ®

So ward aus den Reihen der Neubefehrten heraus das Heidentum und das Judentum in den mannigfahften Formen angegriffen, das Chriſtentum alljeitig verteidigt, begründet und befannt gemadt. Won vielen diefer tapfern Verteidiger, wie Arifto (der hauptjählich gegen die Juden jchrieb), Mil: tiades, Melito, Apollinarius, ift aber faum etwas erhalten. Ähn— lich ift es mit zahlveihen Schriften, in welchen die Irrlehrer jener erften Zeit, die Montaniften, Marcion und die übrigen Gnoftifer, ihre jchlagfertige Widerlegung fanden. Erhalten find nur die bedeutjame Streitfchrift des

ı Die Zeit jeines Lebens ift ungewiß, früheftens jchrieb er gegen Ende bes 4. Jahrhunderts,

2 Ataaypnög tüv Ew gprlossgwv c. 2. Überfegt von J. Seit! (Viblioth. der Kirhenväter, Kempten 1878).

Grundlagen und Anfänge der altchriftlihen griechiſchen Literatur. 15

heiligen Biſchosfs Jrenäus von yon „Entlarvung und Widerlegung der tathhlich fo genannten Gnofis“ und die viel umftrittenen „Philofophumena“, welche mwahrjheinlih den hl. Hippolytus zum Berfaffer haben. Sie genügen indes, um uns ein Bild der regen Geiftestätigfeit zu geben, melde das Chriſtentum im Kampfe mit der Irrlehre am Ende des 2. Jahr: hunderts und am Beginne des folgenden entfaltete. Denn Jrenäus lebte und ſchrieb um diefe Zeit!, und Hippolytus ward im Jahre 235 mit dem heiligen Papfte Bontian nad Sardinien verbannt.

Die Hriftlihe Geſchichtſchreibung, in der Apoftelgeihichte jo glücklich begonnen, fand ihre Fortſetzung zunächft in den Alten der Märtyrer, deren ältefte, jene des Polyfarp, aus dem Jahre 155 ftammen. Mutmaß— fih wurden aud andere Aufzeihnungen gemadt, find aber während der beftändigen Berfolgungen verloren gegangen ?,

Wo das Chriftentum Eingang fand, entftanden naturgemäß Kleinere und größere Schulen, an melden feine Lehren den Satechumenen mitgeteilt und näher erklärt wurden. Mehr als ein Jahrhundert ging indes vorüber, ehe in ſolcher Weije eine theologische Schule in höherem Stile erwuchs. Das geihah zuerft in Alerandrien, das jeit den Ptolemäern nicht nur für den Welthandel, jondern auch für Wiſſenſchaft und Literatur das große Stell dichein des Orients und Occidents geworden war. Hier, wo die altgriechiiche Bildung in ſchulmäßigem Encyklopädismus ihren legten Abſchluß gefunden hatte, international und fosmopolitifc geworden war, griechiſche Spekulation in das bis dahin abgejdloffene religiöfe Leben der Juden hineingetragen, durch die Überjegung der GSeptuaginta die Weisheit des Alten Bundes in den Wiſſensſchatz der heidniſchen Bölfer herübergenommen hatte, follte auch das Chriſtentum feinen eriten Einzug in die Gelehrtenwelt halten und jeine erfte ſchulmäßige theologische Faſſung befommen,

Pantänus, eim befehrter Stoiter, machte diefe Katechetenſchule von Alerandrien, gegen das Ende des 2. Jahrhunderts, zuerſt be rühmt. Bei ihm ließ fih um das Jahr 180 Titus Ylavius Klemens nieder, ein Grieche, wahrſcheinlich aus Athen ſelbſt gebürtig, den jein Wiſſens— durft erſt duch Griechenland und Unteritalien, dann durch Syrien und Paläftina, ſchließlich nach Ägypten führte, wo er im Unterricht des Pantänus volle Befriedigung und Ruhe fand. Er ward Priefter und wirkte als ſolcher in Ulerandrien, bis ihn (202) die Verfolgung unter Septimius Severus nötigte, don neuem den Wanderftab zu ergreifen und nad) Stleinafien zu flüchten, wo er, wahrjheinlih zu Antiohien, um das Jahr 215 ftarb.

! Daß er ald Märtyrer geftorben, beruht auf einer Überlieferung, die erft im 5. Jahrhundert urkundlich bezeugt ift. ? Acta martyrum selecta, berauögeg. von O. v. Gebhardt, Berlin 1902.

16 Erſtes Kapitel.

Die Frucht feines eingehenden Studiums der dhriftlichen Lehre ſowie einer ausgebreiteten Profangelehrjamteit entfaltete er nit nur in jeinen mündlichen Lehrvorträgen, fondern aud in einem grokartig angelegten drei— teiligen Wert, das den Reichtum der riftlihen Jdeen zum erftenmal in umfaffender Weife zur Darftellung bradte!. Der erfte Teil, eine „Er: mahnungsrede“ (Adyog zporperrixig) an die Griechen, ſchloß ſich als Apologie in Form und Inhalt an die Werke der vorausgegangenen Apo— logeten an, indem fie einesteil$ nachdrücklich die heidniſchen Religionen bes fämpfte, andernteil3 ebenjo wirkſam die riftlihe Religion anempfahl, aber mit einer fo gründliden und vieljeitigen Kenntnis des Heidentums, wie fie feinem früheren Apologeten zu Gebote geitanden hatte, und mit fteter Rüd- fiht auf die Chriſten, welde im Gewirre jener libergangszeit das Heidentum noch nicht völlig abgeftreift hatten. Im zweiten Zeil, dem „Bädagogen“, übernimmt Chriftus, der „Logos“, die Aufgabe, den dem Heidentum ent= riffenen Leſer erft im allgemeinen, dann, nad den verſchiedenſten Einzel- rihtungen hin, für das neue Leben in Wahrheit und Gnade zu erziehen. Im dritten Zeil, den „bunten Deden“ (Irpwuareig, Stromata), wird endlich die Gnofis, d. h. die wiſſenſchaftliche, theoretiſche Erkenntnis des Chriſtentums angebahnt, aber nit im Rahmen eines ftreng gegliederten Lehrgebäudes, wie es jpäter der hl. Thomas in feiner Summa errichtete, jondern in der zwanglofen Folge buntgeftidter „Teppiche“, in melden ſich, wie in Wiefen und Gärten, Blüten und Früchte, Gefträudhe und Bäume bunt aneinander reihen, um einer oberflählihen Ausnügung zuborzulommen und nur der Mühe des ernftlih Suchenden und tiefer Dringenden den Bollgenuß zu gewähren ?.

Klemens’ Schriften, befonders die „Stromata”, enthalten zahlreiche Angaben über die ältere griechiſche Literatur, die jonft nirgends erhalten find®, Bon großem ntereffe ift auch jein Verfuh, das Wertvollfte der

! Hauptausgabe von %. Potter (2 Bde 2%, Orford 1715; abgebrudt bei Migne, Patr. gr. VIIE IX). Bol. 9. Schürmann, Die helfenijhe Bildung und ihr Verhältnis zur chriſtlichen nach der Darftellung des Klemens von Aerandrien, Münfter 1859. E.Freppel, Clement d’Alexandrie, Paris 1865. Ch. Bigg, The Christian Platonists of Alexandria, Oxford 1886. A. Scheck, De fontibus Clementis Alexandrini, Aug. Vindel. 1889, P. Wendland, Quaestiones Mu- sonianae, Berol. 1886. Th. Zahn, Forſchungen zur Geſchichte bes neuteftament- lien Kanons ꝛc. III Supplementum opp. C. A., Erlangen 1884. Clement of Alexandria Miscellanies Book VII, The Greek text with introduction ete. By the late F. J. A. Hort and J. B. Mayor, London 1902. Weitere Literatur bei Bardenhemwer, Patrologie? 114—120; Geld. d. altkirchl. Lit. II 15—66,

® Trefflihe Analyie der drei Werke von Bilhof Fehler, Art. „Clemens Alerandr.* in Wetzer und Weltes Kirenleriton III? 510—516.

Strom. 1, 21; 5, 14; 6, 2.

Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiſchen Literatur. 17

griehifhen Bildung aus morgenländifchen Quellen, beſonders aus jüdiſchen Einflüffen abzuleiten. Geht er Hierin auch manchmal zu weit, jo ſchränken die bon ihm angeführten Tatſachen dod eine einjeitige Bevorzugung des Hellenismus heilfam ein, erweitern das Kulturhild des Altertums in bedeut: ſamer Weiſe (3. B. in Bezug auf Indien und Ägypten) und bezeichnen die providentielle Stellung des Volles Gottes in der Erziehung des Menjchen: geſchlechts. Diejen erhabenen Gedanken göttlicher Pädagogik in der Menjchen- geihichte hat vor ihm feiner in jo großartigen Zügen entwidelt.

Den Hellenismus mit all jeinen Borzügen und Schwächen hat Klemens wie wenig andere durchſchaut!. Er fennt jeine ganze Sagenwelt und Mytho— logie, jeine Dichter und Künftler, feine Gejhichtichreiber und Redner. Seine Abhandlungen find mit häufigen Eitaten aus Homer, Pindar, Euripides, Menander, Platon und andern Dichtern und Schriftſtellern durchwoben. Er hat für das Schöne das innigfte, wärmfte Gefühl, aber er verfennt auch den jugendlichen Leichtſinn nicht, der das hochbegabte Dichter: und Künftler- volt auf feiner ganzen Entwidlung begleitete. Mit Platon im „Timäus“ ruft er ihnen zu: „DO Solon, Eolon, ihr Griechen bleibt ewig Finder, es ift fein Greis unter euh!”? In breiten Schilderungen von erjchredender realiftiicher Wahrheit zeichnet er die furdhtbare Entfittlihung, in welche der götzendieneriſche Kultus des Schönen ausgemündet?, den unzweifelhaften Anteil, welchen die entartete Kunft daran genommen“. Er fteht nit an, die helleniſche Mythologie, ſoweit fie alle Leidenſchaften und Yafter des Menſchen vergötterte, für nichtswürdiger und jhändlicher zu erklären als den ägyhptiſchen Tierfult®. Doch er läßt ſich dadurd weder an der Kunſt jelbft beirren noch an dem Schönheitäfinn, der die griechiſche Kunſt befeelte. „Der Kunft ſoll ihr Yob werden ; aber fie foll nicht den Menſchen täufchen, als ob fie die Wahrheit wäre!" Den Schönheitäfinn der Hellenen aber

ı Gegen die abjhäßige Kritil, die U. v. Wilamowi-Möllenborff (Eurip. Herafles I 171) über ihn ergehen läht (abgedrudt bei W, Chriſt, Ge ſchichte der griehifhhen Literatur 396 A. 5) ſpricht das einftimmige Urteil der Kirchen» väter, bie ihn fjämtlih als einen ebenjo gründlichen wie vielfeitigen Gelehrten an— erkennen (f. Migne, Patr. gr. VIII 33—59). Eyrillus von Alerandrien fagt von ihm: „Stlemens, ein hochberühmter und gelehrter Dann, hat, wie wohl feiner vor ihm, die Tiefen der griehifhen Wiſſenſchaft durchforſcht“ (Contra Iulian. 1. VII (Migne a. a. ©. LXXVI 853).

® Strom. 1, 15 (Migne a. a. ©. VIII 772).

> Paedag. 3, 2—5 (Migne a. a. ©. VII 569—604).

* Cohort. ad gent. c. 4 (Migne a. a. ©. VIII 133—164).

> Cohort. c. 3 (Migne a. a. O. VIII 120 f). Nachdem er hier einige der ſcheußlichſten Kulte erwähnt, jagt er: „Bon folder Art find ihre Götter, und von folder Art aud fie felbft, die mit ben Göttern ihr Spiel treiben, vielmehr aber ihr Spiel mit fi ſelbſt treiben und ſich babei jelbft mit Schmach überhäufen.“

® Cohort. ec. 4 (Migne a. a. ©. VIII 156).

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 2

18 Erftes Kapitel.

juht er von dem unfläten, ewig jeine Geftalt wecjelnden Proteus der finnliben Yeidenfhaften auf Gott, den ewigen Duell aller Schönheit, zu lenten, in welden Wahrheit und Schönheit eins find, und in welchem allein auch der Menſch zur inneren Harmonie gelangen fann, zur vollen Schönheit der Seele hienieden, zur verklärten Schönheit des Leibes in einer beſſeren Welt!.

Als Anknüpfungspunkt, um die Griechen für die chriſtliche Welt— anſchauung und ihre Ideale zu gewinnen, dient ihm hauptſächlich die grie— chiſche Philoſophie. „Nach einigen“, ſagt er, „iſt die griechiſche Philoſophie gelegentlich und dunkel zur Erkenntnis der Wahrheit, aber nie der ganzen, gelangt; wie andere wollen, hat fie ihre Anregung vom Teufel. Einige meinen, gewille vom Himmel herabgelommene ‚Mächte‘ hätten die gejamte Philofophie injpiriert. Wenn nun auch die griechiſche Philojophie die ganze Größe der Wahrheit nicht erfaßt, wenn fie feine Kraft gewährt, die gött: lichen Gebote zu erfüllen, jo bereitet fie doc der königlichen Lehre den Pfad, indem fie einigermaßen zur Bejonnenheit führt, den Charakter formt und denjenigen, der an eine Vorjehung glaubt, geeignet macht, die Wahrheit aufzunehmen.“ ? Ya, in feinen Augen ift die griechiſche Philojophie den Hellenen gewiſſermaßen von Gott felbit zugeteilt „als ein häusliches Teſta— ment, als Leiter, um zur Kriftlihen Philofophie zu gelangen“. Auch zu Homer und Hefiod und zu den übrigen alten Dichtern ift ein jolder Strahl von Gotteserfenntnis gedrungen®.

Mit dem univerjellen Blick eines großen Gelehrten verbindet Klemens nicht jelten auch die Anmut, Anjhaulichkeit und Empfindung einer echten Diehternatur, und mit feinem ſchlichten und doch jo erhabenen „Lobgejang auf Chriſtus den Erlöfer“ fteht er, ein neuer Pindar, an der Spite der chriſtlich-helleniſchen Dichter 5.

Unbänbiger Rofie Gebiß, Unirrenden Gefieders Fittich,

Unwanfendes Steuer Unmünbiger, Königliher Lämmer Hirt!

Veriammle bu nun Deine Kinder um dich, Daß fie preifen vereint,

! Paedag. 3, 3: lepi roö zailoug tod dAndwoo,

2 Strom. 1, 16 (Migne, Patr. gr. VIII 796).

> Hon di zai zamorım Äöyw ndvra dävayzata xal Ävarsiä ro Aw Veider Arsıv elg huäg Adyovres, obx äv ändpromer" ryv Ö& griooopiar, zal närkor "Eiinorr olo dıadhamy olxsiay abrois dıdüoda:, broßadpav obaay is xara Aptotor grio- ooriag (Strom. 6, 8 [Migne a. a. O. IX 288]).

* Strom. 5, 4 (Migne a. a. DO. IX 44).

s Paedag. 3, 11 (Migne a. a. O. VIII 681—684).

Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiichen Literatur, 19

Daß fie fingen mit füh- Unfhuldigem Mund Did, Ehriftus, Lehrer der Kinder.

Fürft Heiliger Schar, Allwaltendes Wort Bom Bater der Höh'n, Du, der Weisheit Born, Im Leiden ein fyels, Der Unfterblichkeit Herr, Und des Menſchengeſchlechté Heiland, Jeſus, Hirt, Vater zugleich, Du Steuer und Zaum, Shwungfitti der hoch— Aufihwebenden Schar. Du Fiſcher im Meer Des Lebensgewühls, Der aus Wogen der Schuld Mit der Angel des Worts Seine heilige Brut Aus tobender Flut

Zum lieblichen Leben emporzieht.

Geh voran benn, o Hirt, Deiner geiftigen Schar, Geh, Heil’ger, voran,

D du Fürft unfhuldiger Kinder!

Fußpfad Ehrifti, Du himmliſcher Weg, Unfterbliches Wort, Unermeßlicher Geift, Unſchaubares Licht, Des Erbarmens Quell Und der Tugenden Born; Du Heiliger Hauch In dem Leben, das Gott durch Rechttun preift.

O himmliſche Milch, Süßquellend empor Aus der ſeligen und Jungfräulichen Bruſt deiner Weisheit, Herr!

Unmündige wir, Vom zärtlichen Mund Zum Neben belehrt, An ber geiftigen Bruft Mit befruchtendem Hauch Des Lebens erfült, 2%

20 Erftes Kapitel.

Unſchuld'gen Geſang, Untadliges Lob Unferem Herrn Chriſtus, Und ber Heiligen Lohn Nach der Lehre des Heils Laßt uns fingen zumal Dem erhabenen Sohn, Wir ber Friedenschor Aus Chriſti Geſchlecht, Eine heilige Schar,

Laßt ums preiſen den Gott bed Friedens vereint!!

Gar nicht poetiſch angelegt, aber weit hervorragender durch die aus— gebreitetſte Gelehrſamleit war der Schüler und Nachfolger des Klemens, Origenes, 185 zu Alexandrien geboren, mit achtzehn Jahren ſchon Lehrer an der dortigen Katechetenſchule, nah der Entfernung des Klemens deffen Nachfolger, fpäter ebenfalls aus Ägypten vertrieben, 218 in Antiochien, jeit 231 ftändig in Gäfaren, von mo aus er 240 Athen, 244 Arabien beſuchte, in mannigfache Glaubensftreitigfeiten verwidelt, aber dabei als Forſcher unausgeſetzt tätig, jo daß er wegen feines Fleißes der „Mann von ehernen Eingeweiden“ (NuAxevrepog) genannt, wegen jeiner enchklopädiſtiſchen Gelehrfamkeit mit dem Römer Varro verglichen wurde. Seinen Beinamen „Adamantios“ bezieht Hieronymus auf feinen Fleiß, Photius auf die un: widerleglihe Wucht feiner Beweisführung. Er ftarb 253 in Tyrus, nachdem er in der Verfolgung unter Decius ſchweren Kerker und Folterqualen erlitten hatte?. Der Schar riftliher Apologeten reihte er ſich ein durch feine acht Bände gegen das fog. „Wahre Wort“ (Adndng Aurog) des Philofophen Geljus, eine Streitjehrift, die etwa 178 erſchienen war und wie faum eine andere die beliebteften, böswilligften und blendendften Einmwürfe gegen das Ehriftentum vereinigte, Einmwürfe, die auch jpäter immer und immer wieder auftauchten. Über zahlreiche dogmatifche Traktate, praktiſch-asketiſche Schriften, Homilien und Briefe, die ſchon für ſich eine Heine Bibliothef ausmachen, ragt die Riefenarbeit feiner Herapla empor, der erfte Verſuch einer alt: teftamentlihen Zertkritit, worin dem Tert der Septuaginta zunächſt der hebräifche Text in hebräifchen Lettern, dann derſelbe in griechiſcher Tran: ſtription, die Überfeßungen des Aquila, des Symmachus und des Theodotion

s Überfet von C. Fortlage, Geſänge chriſtlicher Vorzeit, Berlin 1844, 38 40.

® Verzeichnis ſeiner Werke bei Pitra, Spicilegium Solesmense III, Paris. 1855, 313— 8317; 4. Harnad, Geſchichte der althriftlichen Literatur I 334— 336. €. Kloftermann, Die Schriften des Origenes in Hieronymus’ Brief an Paula (Situngsberichte der königl. preuß. Akademie der Wiſſenſchaften, Berlin 1897, 855—870).

Grundlagen und Anfänge der althriftlihen griechiſchen Literatur. 2

gegenübergeftellt wurden!. Bei einigen Büchern erweitert fi das Werk jogar zur Oktapla, weil nod zwei griechiſche überſetzungen hinzukommen. Zu faſt ſämtlichen Büchern des Alten und Neuen Teſtamentes hat Origenes Kommentare, zum Teil ſogar mehrfache, gejchrieben ?,

Auh auf dem Gebiete der Dogmatit ging Origenes über Siemens hinaus, indem er in feinem Werke Wept dozav eine zufammenhängende, methodijche Gliederung der gefamten Glaubenslehre unternahm. Trotz jeines immenſen Wiffens 3 und feiner vielfadh zu Tage tretenden Bejcheidenheit ver: mwidelte er ſich dabei jedodh in Irrtümer, welche jeine kirchliche Verurteilung bon jeiten zweier Synoden zu Alerandrien (231) und des Papſtes Pontian (231 oder 232) herbeiführten und in weiteren Streitigkeiten den kirchlichen Frieden noch bis über das folgende Jahrhundert ftörten. „In feinem Leben“, jo urteilt der Neuplatonifer Porphyrios von ihm, „war er ein Ghrift und ein Feind der Gejebe, in feinen Anjhauungen über die Dinge der Welt und das göttliche Weſen aber war er ein Hellene.“ Das ift indes zuviel gejagt. Wurde der reihe Schab jeines Wiſſens auch durch den Einfluß Heidnijcher Philoſophie zum Teil getrübt, jo blieb er zum größeren Teil eine unerjchöpf: liche Fundgrube für die weitere Entwidlung der kirchlichen Wiſſenſchaft“. Gregor von Nazianz und Bafilius bildeten fih an feinen Schriften, aus weichen fie gemeinjam die „Philokalia“ zufammenftellten. Athanafius, Hilarius und Ambrofius haben ebenjo vieles aus ihm geihöpft.

Origenes verlörpert das gejamte Willen feiner Zeit. Logik, Phyſik und Ethik treten bei ihm als Vorbereitungswiſſenſchaften in den Dienft der Theologie. Die Theologie jelbft beherricht er nah allen ihren Richtungen Hin, oder befjer gejagt, er hat fie nad allen Richtungen Hin begründet: bibliſche Textkritik, eigentliche Schrifterflärung, Apologetit, Widerlegung der Härefien, pofitive Theologie, chriſtliche Metaphyſik, Askeſe. In all diejen Zweigen find jeine Leiftungen bewundernswert. „Er ift“, wie Bigg mit Recht jagt, „der erfie große (hriftliche) Gelehrte, der erfte große geiftliche

ı Elf Pfalmen der Herapla hat 6. Mercati in einem Palimpfeft der Am— brofiana entbect, aber nod nicht veröffentliht. Vgl. G. Mercati, Un Palimpsesto Ambrosiano dei Salmi Esapli, Torino 1896. gl. A. Durand, Notes d’archeo- logie bibligue (Etudes LXVIII, Paris 1896, 693).

? Gefamtausgabe ber Mauriner Charles und Bincent dela Rue (4 Bde 2°, Paris 17835— 1759); abgedrudt von Er. Oberthür (15 Bde 8%, Würzburg 1780 bis 179), E. Lommatzſch (25 Bde 8%, Berlin 1831—1848), Migne (Patr. gr. XI—XVI, Paris. 1857—1860).

® Über die Vielfeitigfeit diefes Wiſſens vgl. Origenes’ Werfe 1. und 2. Bd, berausgeg. von Paul Koetſchau, Leipzig 1899, I xxıv ff. Bgl. Civilta Catt. ser. 17, VI (1899) 75.

* E. Freppel, Origöne, 2 Bde, Paris 1868, ? 1875. J. Denis, De la philosophie d’Origäne, Paris 1884.

22 Erſtes Kapitel.

Schriftſteller, der erſte große Schrifterklärer, der. erſte große Dogmatifer“. Er eröffnet auch die lange Reihe der großen chriſtlichen Kanzelredner !.

Als Lehrer an der Katechetenſchule zu Alerandrien folgten ihm Hera: las und der hl. Dionyfius d. Gr., beide nachher Biſchöfe dafelbft, und namentlich der letztere bewährte fi in den vermworrenften Zeiten ala eine unmwandelbare Stübe echter Rechtgläubigkeit. Ein anderer Schüler des Origenes, Gregor, 210 zu Neocäjaren geboren und jpäter der Wundertäter zubenannt, wirkte als Biſchof von 240—270 in feiner Baterftadt und hat feinem Lehrmeifter in einer Lobrede ein glänzendes Denk— mal gejebt.

Unter den Männern, welche die Jrrtümer des Origenes befämpften, ragt durch feine literarifche wie theologische Bedeutung der HI. Methodiug, Biſchof von Olympus in Lykien, hervor. Er ſchrieb mehrere Bücher gegen Porphyrius, „Das Gaftmahl“, ein Seitenftüd zu jenem des Platon, ein treffliches Wert „Über die Auferftehung” gegen Origenes, eine Schrift „Über den freien Willen“ (nept od aurefovaton), Kommentare zur Geneſis und zum SHohenliede und mehrere andere Schriften, die nad) dem Zeugnis des hl. Hieronymus viel gelefen wurden?. iiber fein Leben ift nahezu nichts befannt, als daf er während der diokletianischen Verfolgung um das Jahr 311 die Krone der Märtyrer erlangte.

Während Drigenes fih feine Mühe gab, die Haffiihe Formſchönheit Platons nahzuahmen, dagegen fih von deſſen irrigen Anſchauungen über die Präeriften; der Seele, deren Sündenfall vor der leiblihen Geburt, deren Verbannung in den Leib als in einen Kerfer und von der ſchließlichen Ver— nichtung des Leibes beftriden ließ und diefelben jogar zu weiteren Hypotheſen ausbaute, welche ſich mit der Kriftlichen Lehre von der Auferftehung nicht vereinigen ließen, eignete ſich Methodius in jeltenem Grade die Sprache, den Stil und die Formgewandtheit des großen griechiſchen Philofophen an, ließ fih aber als echter, Kriftliher Humanift von deſſen faljchen Borftellungen und Spekulationen nicht betören, fondern hielt in Bezug auf alle jene Fragen die kirchliche Überlieferung feſt. Die Schrift „Über die Auf: erſtehung“, nur im größeren griechiſchen Bruchflüden und ſlaviſchen liber-

! P, Batiffol, Anciennes litteratures chretiennes 167.

2 S, Hieron., De viris illustr. ec. 83.

3 Seine Werke gefammelt bei Gallandi, Bibl. vet. Patrum Ill 663—832; abgedrudt bei Migne, Patr. gr. XVII 9—408. Neue Ausgabe von A. Jahn, S. Methodii Opera et S. Methodius Platonizans, Halis 1865. Die in flavifher Überfegung erhaltenen Werke bei ©. N. Bonwetih, Methodius von Olympus I, Erlangen und Leipzig 1891. ®. Fritſchel, Methodius von Olympus und feine Philofophie, (Differt.) Leipzig 1879. A. Pankow, Methodius, Biſchof von Olympus („Der Katholik“ LVII, Mainz 1887, 1—28 113—142 225—250 ; auch jeparat, ebd. 1888),

Grundlagen und Anfänge der altchriftlichen griehijchen Literatur. 93 fegungen erhalten, ift in der Form eines platoniihen Dialogs abgefaft, in welchem Aurentius und Methodius die kirchliche Lehre mit ebenfo Iharffinniger Dialektit als feiner Sprachgewandtheit gegen die Origeniften Aglaophon und Proklus verteidigen!. Noch mehr zur Höhe Platons erhebt fih Methodius in jeinem „Gaflmahl“ (Fuursawv % zept dyvsiag)?, worin ftatt des irdiſchen Eros die reine Jungfräulichkeit als Ausdrud und Wirkung der lauterften, erhabenften Gottesliebe gefeiert wird. Schon der Gedanke, den mit jo viel Unlauterfeit behafteten Idealen Platons das chriſtliche Ideal in feiner ganzen Reinheit und Lieblichkeit gegenüberzuftellen, befundet einen erhabenen, zugleich dichteriſch und philofophifh angelegten Geiſt. Methodius ift nicht bloß platonizans, er ift ein mit Platon metteifernder Denter.

„Was denn mun glauben wir”, läßt Platon die Diotima fagen, „wenn es jemand zu teil würde, das Urſchöne felbit zu fehen, lauter, rein und unvermiſcht, nicht angefüllt mit menſchlichem Fleifhe und Farben und vielem andern fterblichen Zande, fondern wenn er das göttlide Schöne jelbft in feiner Einartigfeit erbliden könnte, glaubt du alfo, daß dieſes Leben eines Menſchen ein nichtswürdiges jein werde, welcher dorthin blickt und jenes dann num erfhaut und mit ihm zufammen ift? Ober erwägft bu nicht, daß dort allein es ihm zu teil werben wird, indem er das Schöne fhaut, womit es ſchaubar tft, dann nicht Schattenbilder der Vortrefflih- feit zu erzeugen, weil er ja fein Schatienbild ergreift, fondern eine wahre Vortrefflich- feit, weil er ja das Wahre ergreift? Hat er aber wahre Bortrefflichkeit erzeugt und aufgenährt, jo ift jein Anteil, daß er gottgeliebt, und wenn je irgend ein anderer Menſch, auch er unsterblich wird.” ? Das find die höchſten Vorftellungen über „Schön- heit” und „Liebe, zu denen fich Platon in feinem „Gaſtmahl“ erſchwungen hat.

Die frommen Ahnungen Diotimas über Gotteserfenntnis, Gottesliebe und Bereinigung mit Gott werden bei Methodius nicht, wie in Platons „Gaſtmahl“, von den mythologiſchen Phantafiegebilden eines Phädros, von der ſchmutzigen Sophiftif eines Paufanias, von dem naturphilofophiichen Geſchwätz eines Eryrimachos, von den zotenhaften Witzen eines Ariftophanes, von der. prumfhaften Äſthetik eines Agathon und ſchließlich von den wüſten Orgien eines Altibiades übertäubt. Der ganze dumpfe Wuft Heidnijcher Erotif ift von dannen gewichen. Reine, heitere Paradieſesluft umfächelt uns. Was Diotima dunkel geahnt, ift zur vollen, frohen Wirklichkeit geworden *.

! Bei Bonwetid a. a. D. I 70-283.

® Migne a. a. D. XVII 27—220. Bol. Nirſchl, Patrologie und Patriftif I, Mainz 1881, 347—349.

» Plato, Symposion 29,

* In literarifcher Formvollendung hat Methodius fein Vorbild Platon nicht erreicht ; doch zu weit geht wohl Batiffol (Anciennes litteratures chretiennes 40), wenn er jagt: Ce dialogue, d’un art mediocre, a été beaucoup lu et tr&s surfait. Als einer der früheften Anſätze zu einem hriftlichen Humanismus verdient er hohe Anerkennung.

24 Erftes Kapitel.

As Schauplag ift ein Garten im fernen Often angegeben. Er gehört der „Tugend“ (dosry), der Tochter der „Weisheitäliebe” (Drinaogia). Der Weg dahin ift rau, jehwierig, ſteil emporfleigend. Aber die edeln Jungfrauen Gregorion und Theopatra, Procilla und Tyfiana lafjen fi) die Mühe nicht verdrießen. Oben fommt ihnen in ruhigem, würdevollem Schritt eine erhabene Frau mit huldreihem Antli entgegen: Arete. Ihr Gewand ftrahlt wie der Schnee. Wahrhaft göttlich, unbeſchreiblich ift ihre Schönheit. Ehrfurdtgebietende Majeität ift durch ſanfte Heiterkeit gemildert. Alles ift wahr, ungeſchminkt, ungefünftelt. Mit vieler Huld tritt fie zu jeder der Jungfrauen heran, jhaut fie an wie eine Mutter nach langer Trennung, umfängt und füßt fi. „O meine Töchter!” jpricht fie, „wie habe ich mich gejehnt, euch in den Garten der Unfterblichfeit einzuführen! Endlich ſeid ihr gefonımen, nachdem ihr unterwegs jo vielen Schreden vor mannigfaltigem Gewürm überftanden. Denn ich jah euch von meiner Warte aus oft dom Wege ablenfen und fürdtete, ihr möchtet umkehren und in die Abgründe hinunterflürzen. Aber Dank jei dem Bräutigam, Kinder, dem ich euch ver: lobt, der unſern Gebeten volle Erfüllung gewährt Hat!" Nun kommen fie an das Gehege. Die Türe ift no offen. Drinnen finden fie jhon Thekla, Agatha und Marcella zum Mahl bereit. Nun ladet Arete ein, ſich zu jehen. Es find der Jungfrauen im ganzen zehn.

„Der Ort war wunderbar ſchön und erfüllt mit himmliſcher Ruhe. Die Luft, von den reinften Yichtftrahlen durchflutet, ergo& ſich weich in fanfter Harmonie. In der Mitte jprudelte ein Quell ruhig mild wie Öl den ſüßeſten Tranf. Helles, reines Waſſer, ihm entftrömend, bildete Brunnen. Diefe, zu Flüſſen anjchwellend, tränkten das ganze Land und fpendeten reihlihes Nah. Denn mannigfaltige Bäume waren dort, überfüllt mit friſchem Obſt, und fröhlid vereinigten fi die herabhängenden Früchte zu einem Bilde von Pracht, umd immer blühende Yluren waren dort, beftreut mit wohlriehenden und buntfarbigen Blumen, von denen ein milder Haud) jüßen Wohlduft dahintrug. In der Nähe war das Lamm, ein erhabener Baum; darunter ſetzten wir uns zur Ruhe, da er weit jeine Zweige aus: breitete und Schatten bot.“

Da Halten nun die zehn Jungfrauen ihr Gaftmahl. Dann fordert Arete fie auf, es folle eine jegliche zum Lobe der Jungfräulichteit eine Rede halten. Marcella als die ältefte erhält zuerft das Wort und feiert die Jung: fräulichfeit al die Blüte und edeljte Frucht der Kirche, als eine früher un- befannte himmlische Blume, die erſt Chriſtus auf diefe Welt hernieder gebracht und die wieder empor zum Himmel führe, als jchönfte Krone der Seligen. Da Marcella aber im Lobe der engelgleihen Tugend zu weit zu gehen ſcheint, lenklt Theophila, die zweite Rednerin, maßvoll und finnig zum Lobe der Ehe über, die Gott im Paradiefe jelbjt eingejegt, fort und fort mit

Grundlagen und Anfänge ber althriftlihen griechiſchen Literatur. 25

feiner Schöpfermadt, feinem Segen und jeiner Gnade begleite. Wenn darum auch die Jungfräulichleit in Gottes Augen höher ftehe, jo löſche darum des Mondes Größe und Schönheit das Licht der Sterne nit aus, Auch Thalia ſetzt das Lob der Ehe fort, die al3 Abbild der Bereinigung Chriſti mit feiner Kirche zur erhabenften Würde gelangt ift und, von Chriſtus ſelbſt geheiligt und geweiht, der Kirche unaufhörlich neue Gottes- finder jchentt, von denen die einen wieder zur Ehe, die andern zur Jung: fräulichteit berufen find, jo dab Ehe und Jungfräulichkeit in voller Mürde und Heiligteit nebeneinander zu Recht beftehen. Hohe Vorzüge jchliebt indes die Jungfräulichkeit in fih, und dabei verweilen die übrigen fieben Reden. Der eine ftrahlende Lichtglanz teilt jih darin gleihjam im die Farben des Spektrums und vereint fih dann wieder zu nod leuchten: derer Helle.

Theopatra hebt hervor, daß die Jungfräulichkeit gewiffermaßen in den paradiejiihen Stand der Unverſehrtheit zurüdverfeße und mit heilbringender Macht die Seele dem ewigen Leben entgegenführe. Thaluſa weift nad, wie fie die edelfte Gabe und das jchönfte Weihegeſchenk jei, das der fterblihe Menih Gott darbringen könne. Agatha erblidt in der jung: fräulih reinen Seele das jhönfte und ungetrübte Bild göttliher Reinheit und Heiligfeit und erklärt danach im ergreifender myſtiſcher Weiſe die Parabel von den fünf Eugen und den fünf törihten Jungfrauen. Procilla läßt den himmliſchen Bräutigam jelbft in den Worten des Hohenliedes jeine Braut begrüßen und fnüpft daran eine Schilderung der Herrlichkeit, die fie im Himmel jhmücden wird. Thekla feiert in bezaubernder Innigkeit die Früchte, welche die jungfräuliche Reinheit ſchon hienieden zeitigt und jo das irdiſche Leben dem ewigen ähnlich macht, verbunden mit einem erhabenen Triumphe der fittlichen Freiheit, welder die Gnade zur Seite fteht. An der Freier des Laubhüttenfeites und andern myſtiſch gedeuteten Schriftterten beſchreibt Tyſiana dieſen glüdjeligen Triumph. Domnina aber führt dieſe myſtiſche Beſchreibung weiter und fordert die übrigen Jungfrauen begeiſtert auf, allen irdiſchen Lodungen und Reizen zu entjagen und ji in unver: brüdlicher Treue dem ewigen Bräutigam zu weihen. Der Preis als Rednerin wird von allen Thella zuerkannt. Sie ftimmt darum zum Schluß das herrliche Brautlied an, das den Parthenien der altgriehiihen Lyriker nach— gebildet zu fein jheint!, an Schwung jedenfall3 nicht hinter ihnen zurüd-

! Parthenii titulum Methodii carmini indidimus, quod a virginibus cantabatur et eius auctor, quem veterum scriptorum splendida exempla suis libris aemulari solitum esse satis constat, in hoc quoque poemate Alcmanis et Pindari pervulgata zapdesıa imitatus esse videtur. Nec non Theocriti et Catulli carminibus nuptia- libus, quibus puerorum puellarumque chori permixti maritos domum proseque- bantur, hoc carmen Methodii conferre iuvat. Quo enim pacto romanus poeta

26 . Erites Kapitel.

fteht, an reiner Schönheit fie überflügelt. Thekla fingt vor, die übrigen Jungfrauen antworten mit den beiden Kehrverſen:

Aus den Höhen fholl die Stimme, Jungfrau’n, welde Tote wedt. Auf! Dem Bräutigam entgegen, weißgeihmücdt, die Lampen ftredt, Eh’ das Tor im Morgengrauen fich verichließt und ihm verfterkt! Dir weih’ ih mih! Mit Heller Lampe Bier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Auf der Erde Glüd und Jammer, ird'ſcher Liebe flücht'gen Schein Gern verzichtend, wünſch' ich eins nur, Sel’ger, von den Armen bein Stets umfhlungen, in dein Schauen ewiglich entzückt zu fein.

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Ich begehr’ Fein bräutlich Lager und fein reihgefhmüdtes Haus, Zieh’ in fledenlofem Kleide gern aus biefer Welt hinaus, Darf nur, Herr, in beinen Zelten meine Seele ruhen aus, Dir weih’ ih mih! Mit Heller Lampe Zier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Tauſendfachen Sinnenzauber ſpann die Schlange um mein Herz; Kaum entging ich ihren Schlingen, wilder Gluten bittrem Schmerz, . Wilder Tiere grimmem Raden, dich erwartenb bimmelwärts. Dir weih' ih mih! Mit heller Lampe Zier Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir!

Aus dem Sinn flug ih die Heimat, di verlangend, ew'ges Wort, Eilt’ aus der Gefpielen Kreife, aus dem Arm der Liebſten fort Vater, Mutter, alles, alles bift du, Ehriftus, mir, mein Hort!

Dir weih' ih mih! Mit heller Lampe Bier

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Ehriftus, Lebensfürft, dich grüß' ich, Licht, das niemals untergeht. Nimm der Jungfrau'n Gruß entgegen, unſer freudiges Gebet: Schönſte Blume, Gnade, Liebe, ew'ge Weisheit, Majeftät.

Dir weih' ich mich! Mit heller Lampe Zier

Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen dir!

Lab ums durch die offne Türe, Kön'gin, ſchöngeſchmückte, ein,

Siegesreihe Braut voll Hoheit, laß und mit bei Chriſtus fein,

Daß wir ihm und dir als Kinder frohe Brautgefänge weihn. Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

virgines, dum pineas taedas manu quatientes novam nuptam flammeo indutam comitantur, notum illud

Hymen, o Hymenae, Hymen ades, o Hymenaee suceinentes facit, eodem modo christianae virgines, dum candida veste et lucidis facibus Christo sponso obviam eunt, exultantes, identidem exclamant:

Aypreiw eoı zal Aanrädas passpöpous zparodea

wungpie, Uravrdvm oot

(Christ-Paranikas, Anthologia Graeca, Lips. 1871, xvır).

Grundlagen und Anfänge ber althriftlichen griechiſchen Literatur.

Seufzend, jammernd jeßt die andern weinen vor geſchlofſ'nem Tor, Weil der Lampen Licht erlofchen, nicht bereitet Tags zuvor, Weil zu dem Gemad) der Gnade Zutritt ihre Schuld verlor.

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Denn vom heil’gen Pfade weichend, haben jene Ärmſten nicht

Sich verihafft das ÖL des Lebens; drum erlofchen ift ihr Licht,

Dunkel ftarren ihre Lampen, und ihr Herz vor Trauer bricht. Dir weih’ ih mich! Mit heller Lampe Zier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen bir!

Becher voll des jühen Nektars ftehn vor uns, greift zum Potal! Jungfrau'n, es ift Himmelslabung, bie im frohen Hodzeitsfaal Der Geliebte und bereitet, den Gelab’nen allzumal. Dir weih’ ih mi! Mit heller Lampe Zier Komm’ ih, 0 Bräutigam, entgegen dir!

Deinen Tod vorbildend, Abel rief, dem Himmel zugewandt: Sieh, o Heil’ger, mid erfählagen von des eig’'nen Bruders Hand Unbarmberzig! Zu dir fleh’ ih, nimm mid auf ins fel’ge Sand: Dir weih’ ih mih! Mit Heller Lampe Zier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Höchſten Siegespreis ber Keuſchen fih errang Joſeph, dein Sohn, Als das Weib, das Iuftentbrannte, warb um freveln Liebeslohn, Er nicht wanfend, ohne Mantel, zu bir rufend, floh davon: Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir!

Gott zum Opfer bradte Yephte jeine Tochter zum Altar,

Unberührt, gleich einem Lamme fie bereit zu allem war,

Sie, bein Vorbild Hier im Fleiſche, brachte willig ſelbſt ſich dar. Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Die mit wohlgezielten Liften ihres Volles Feind bezwang Dur der Schönheit Reiz, doch felber rein ſich der Gefahr entrang, Triumphierend mit dem Haupte, Jubith dir das Loblied ſang: Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Bier Komm’ id, o Bräutigam, entgegen dir!

Hingeriffen bis zum Wahnfinn von Sufannas Huldgeftalt,

Zodten fie zum fFrevellager die zwei Richter mit Gewalt;

Doch auf ihre Schmeichelreben nur ihr Ruf gen Himmel fallt: Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Fier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Lieber, lieber will ich fterben, als verraten ben Gemahl,

Als den Augenblid der Sünde bühen ohne Map und Zahl.

Nette mid aus ihren Händen, Herr, aus der Bebrängnis Qual! Dir weih’ ih mih! Mit heller Qampe Zier Komm’ id, o Bräutigam, entgegen dir!

Erites Kapitel,

Der mit heil’gem Quell der Taufe wuſch die Sünder für bein Reid, Ward gemordet von dem Frevler, weil er rein und engelgleich, Dein Vorläufer, zu bir rief er, Heil’ger, noch beim Todesſtreich: Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Deine und des Lebens Mutter, gnadenvoll, rein, mafellos, Schien der Jungfraufhaft verluftig, da du weilft in ihrem Schoß, Aber unverjehrt und heilig, pries auch fie ihr jel’ges Los:

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Fier

Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir!

Deinen Brauttag mitzufeiern, Sel’ger, find wir hier bereit,

Alle, König du der Engel, die du jelber dir geweiht,

Bringen dir die beften Gaben, huld'gen dir in weißem Kleid. Dir weih’ ih mich! Mit heller Lampe Bier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Dih mit Hymnen froh wir preifen, auserwählte Gottesbraut, Du jungfräulid reine Kirche, dir zum Dienfte anvertraut, Schimmerndweiße, Beildhenlodige, wei’ und edel, hold und traut! Dir weih' ih mih! Mit Heller Lampe Bier Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir!

Die Verwefung ift entflohen. Tränen, Krankheit find verſcheucht. Tod und Schmerzen find vertrieben. Schuld und Torheit ſcheu entweicht. Ehriftus jelbit ald Gott der Menichheit Gnade, Huld und Freude reicht. Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir!

Wieder ift erfüllt mit Menſchen das verlor'ne Paradies, Die der Neid des jhlauen Draden und die Sünde draus verwies; Ew’ges, fichres, jel’ges Leben Gottes Nat fie finden lieh.

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Bier

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen bir!

Nun das Neue Lied erhebend, jhwebt mit dir der Jungfrau'n Ehor, Hehre Königin, dich preifend, zu des Himmels Höh'n empor, Helle Fadeln in den Händen, um das Haar ben Lilienflor.

Dir weih' ih mih! Mit Heller Lampe Zier

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! Der du throneft in der Himmel reinem, mafellofem Licht, Anfangslos, ob allen Weſen führeft Szepter und Gericht, Nimm uns auf mit deinem Sohne, Vater, o verftoß uns nicht!

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier

Komm’ id, o Bräutigam, entgegen dir! !

ı Bei Migne, Patr. gr. XVIII 208—213. Christ-Paranikas, Antho-

logia 33—37. Deutſche Profaüberjegung (nicht ganz vollftändig ; es fehlen Strophe ? 89 16) von C. Fortlage, Gefänge Kriftliher Vorzeit 190—194. Unfere freiere Überjegung jucht mehr Sinn und Stimmung als die einzelnen Worte wieber- zugeben. Im Original beftehen die Strophen je aus drei längeren (meift vierzehn:

Zweites Kapitel. Die griechiſchen Kirchenväter. 29

Die herrlihe Schilderung des Paradiejes, die holdjelige Jungfrauen: ſchar, ihr zartes, gottbegeiftertes Lied erinnern unmwilltürlih an jene lieblichen Geftalten, wie fie mittelalterliche Meifter an jo manchem Portale hoher Dome angebradt oder Fra Angelico und Hubert van Eyd in Farben hingezaubert haben. Der innigfromme Gefihtsausdrud ift derfelbe. Aber ftatt der mittel- alterlihen Tracht tragen fie hier noch die wallenden, faltenreihen Gewänder der beften althelleniſchen Kunſt. So bietet diejes altchriſtliche Brautlied eine „Anbetung des Lammes“ dar, welches den Reiz antiler Formſchönheit jchon mit der ganzen Innigleit und Gefühlätiefe mittelalterliher Minne vereinigt. Noch vor Konftantin ward das „Neue Lied“ (To zawov nana) der Liebe angeftimmt, von dem die antife Welt faum eine dunkle Ahnung hatte umd das nun mädtig dur die Jahrhunderte weiterklingt.

Zweites Kapitel.

Die griehifhen Kirchenväter. Athanafius, YBaflius und Gregor von Ayffa.

Nahdem Alerandrien der erſte Hauptjig chriſtlicher Theologie geworden war, jollte es aud der Ausgangspunkt der gefährlichſten Härefie werden, welche bis dahin die Kirche bedroht hatte, aber hinwieder ihr aud den ſieg— reihften Borlämpfer der Wahrheit fchenten, dem die Überwindung jener Spaltung vorbehalten war. Am Anfang des 4. Jahrhunderts trat dajelbit der Priejter Arius mit der Lehre auf, das ewige Wort, der Yogos oder Sohn Gottes, jei nicht eine dem Vater ebenbürtige, göttlihe Perjon, jondern ein Geihöpf (zriana, roirua), vor der Weltzeit aus Nichts geſchaffen, um Gott bei der übrigen Weltihöpfung ala Werkzeug zu dienen; jündlos jei er nur durch den guten Gebraud feines an fich geihöpfliden und wandel- baren Willens, göttliher Herrlichkeit teilhaftig nur dur das Verdienft jeines heiligen, rein gejhöpflicen Lebens, dennoch ſei er nunmehr göttliher Ehren würdig. Der Urheber diejer Lehre war durchaus fein genialer Denter, jondern ein oberflädlicher, weichlicher, ehrgeiziger und verfhmigter Intrigant, die von Widerjprüdhen ftrogende Lehre ein Produkt geiftiger Oberflächlichteit, aber gerade in ihrer Oberflächlichkeit jehr geeignet, verſchwommenen Namen—

filbigen) Verſen und einem kürzeren Schlußvers, durchweg alle jambiſch; doc ift eine beftimmte Silbenzahl nicht ftreng eingehalten. Die vierundzwanzig Strophen find, nad) bem Borbild der alphabetifhen Pjalmen, in ihren Anfangsbuchftaben alroſtichiſch nad ben Alphabet geordnet, was fi etwas gefünftelt ausnimmt, aber Gehalt und Stim— mung tatſächlich kaum benachteiligt.

30 Zweites Kapitel.

riften und unklaren Köpfen entgegenzulommen, al3 eine Art Kompromiß zwijchen Seidentum und Ghriftentum. Chriſtus ward rationaliftiid zum menſchlichen Heros herabgedrüdt und als folder dann, wie die heidniſchen Heroen, göttlich verehrt; als platonijches Phantafiegebilde trat er zugleich zwiſchen Gott und Welt und geftaltete das Chriftentum aus einer göttlichen Religion in ein hellenifches Syftem um.

Obwohl in Alerandrien ſelbſt gleih im Beginn mit allen Mitteln der firhlihen Autorität befämpft, auf dem erſten allgemeinen Konzil zu Nicäa von der Geſamtkirche verurteilt, gelangte die Härefie durch angejehene, jchlaue, feine Mittel jcheuende Anhänger zu weitefter Verbreitung und bedrohte nahezu ein Jahrhundert lang, bei den germanijchen Völkern in Spanien und Italien noch länger!, den Beſitzſtand der Kirche, nachdem diefelbe kaum dur Kaiſer Konftantin der langen Verfolgung entriffen worden war. Jahrzehntelang trat die faiferliche Gewalt, von Konftantius an, ebenjo rückſichtslos und ges walttätig für den Irrtum ein wie früher für das Heidentum.

Wie Bardefanes und andere ſyriſche Gnoftifer begnügte ſich Arius nicht, feine Lehre in einem größeren Wert, „Thalia“ (Gaftmahl), niederzulegen, jondern brachte feine Lehre aud) in ſangbare Verſe für Wandersleute, Schiffer, Müller ufw., um fie jo leichter im Volke zu verbreiten. Es zeichnet fih auch Hierin der profane, heidnijche Geift, der dem Religiöfen feine wahre Ehrfurcht ſchenkt, jondern es unbedentlih auf die Gaffe wirft, um es als Gaffenhauer zu verbreiten. Die Vorfämpfer der orthodoren Lehre führten den Kampf mit ernfteren, würdigeren Waffen. Indem fie den Arianigmus Schritt für Schritt widerlegten, geftalteten fie zugleich jenen Zeil der Theo: logie, welcher fih auf die Menfhwerbung bezieht, in immer veicherer Vollendung aus und öffneten damit auch der philofophiihen Spekulation nteue Gebiete.

Die Entwidlung einer poetijhen Literatur ward dadurd allerdings wieder auf lange Zeit zurüdgedrängt. Das Ghriftentum mußte erft religiös, wiſſenſchaftlich und politiich die Welt durchdringen, ehe aus der Fülle eines neuen Geifteslebens die Blüte der Poeſie emporfpriegen fonnte. Dennod) entbehren auch diefe Zeiten des theologifhen Kampfes einer gewiſſen Poefie nicht, wenn ſich diefelbe auch nicht aus dem übrigen Geiftesleben abjonbert und in eigentlihen Kunſtwerken geltend mad.

Mie unter den Märtgrern der erften drei Jahrhunderte, jo begegnen uns bier wieder Geftalten, denen das Altertum nichts Ähnliches gegenüber- zuftellen hat, die von dem Zauber einer erhabenen Poeſie verklärt find. So vor allen der große Athanaſius, der in dem Kampfe gegen den Arianis- mis an der Spibe fand, deffen einzigen Lebensgedanken gemwiffermaßen die

In Spanien bis 590, bei den Sangobarden bis 653 ufw.

Die griehifchen Kirchenväter. Athanafius, Bafilius u. Gregor von Nyſſa. 31

Gottheit Chrifti bildete, der ſchon als jugendlicher Diakon dem feden Häretiler mutvoll entgegentrat, auf kleineren Synoden und auf dem Konzil zu Nicäa den Kampf wider ihn führte, und dann als Bifchof von Alerandrien nahezu fünfzig Jahre unter zahllofen Mühen, Gefahren und Leiden die Sade Chrifti gegen übermädtige Hofbiſchöfe und Statthalter, gegen ganze Synoden, gegen die Kaiſer und die gejamte Staatsgewalt unerjchroden verteidigte, als Ver: bannter in Trier wie als Flüchtling in Oberägypten, in der halbın Welt berumgetrieben, nie entmutigt zurüdwich, jelbft von der Mehrheit jeiner Amts: brüder im Stiche gelaffen, nicht erlahmte, Leben und Kraft, fein ganzes Dajein als Anwalt des großen riftologijhen Grunddogmas verzehrte. Er hat den Bänleljängereien des Arius feine Gedichte entgegengeftellt; aber jeine vielen dogmatiihen, apologetiihen und eregetiichen Schriften atmen eine Wärme und Begeifterung für jein hohes, erhabenes Ziel, welche ganze Scharen der Edeljten und Beſten mit ſich fortriß. Seine Sprade ift nad) dem Urteil Des Photius! Har, kurz und einfach, fein Geift ſcharf, jeine Beweis- führung gewaltig und Hinreißend, jeine Gedanfenfülle bewundernswert ; jeine philoſo phiſchen Ausführungen verraten den gereiften Meijter, jeine Bücher gegen die Heiden, über die Menjhwerdung und gegen die Arianer find ein groß« artiges Siegesdentmal über den Arianismus, und jpätere Lehrer, wie Gregorius von Razianz und Bafilius, haben viele ihrer ſchönſten Ideen aus ihm geſchöpft?.

Athanafius Hat nächſt Origenes am mädhtigften auf die folgenden Lehrer der Kirche eingewirkt, aber injofern noch weit jegensreidher, als fein Irrtum jeine philoſophiſchen Anjhauungen und jeine Schrifterklärung trübte, die Lehre in jih und mit feinem Leben im vollften Einklang jtand.

Wie zu Alexandrien, jo wuchs aud an dem Primatialfib von An: tiohien, wo die Anhänger des Erlöſers einft zuerft „Ehriften“ genannt worden waren, bereits um die Mitte des 3. Jahrhunderts eine blühende Katechetenſchule empor, welche in den riftologischen Kämpfen der folgenden Zeit eine hervorragende Rolle jpielte und fi um die Verbreitung und Ber: teidigung der Kriftlihen Wahrheit die höchſten DVerdienite erwarb. Nach dem Beifpiel ihres Lehrers Malchion, der 269 ruhmreich gegen Baul von Samofata in die Schranken trat, zogen die Priefter Dorotheus und Lucianus zur Berbefferung der Septuaginta den hebräifchen Text heran und verfaßten jo eine Bibelausgabe, welche fid) über ganz Sleinafien und

i Migne, Patr. gr. XXV ccıxxvzu.

2 Gejamtausgaben jeiner Werte: Heidelberg (ex offic. Commeliniana) 1600 bis 1601; 3. Lopin und ®. de Montfaucon (Mauriner, Paris 1698, abgedr. zu Pabua 1777); Migne (a. a. OÖ. XXV—XXVIN); Heitel, Shwarß. und Mommfen (Sammt. der Berliner Akad. VII IX X). Leipzig 1901—1903. Bgl. J. A. Möhler, Athanafius d. Gr. und die Kirche feiner Zeit, Mainz 1827, 2, Aufl. 1844.

32 Zweites Kapitel.

Griechenland verbreitete. Lucian ftarb 311 (312) zu Nikomedia als Mär- tyrer. Diodor, der 378 Biſchof von Tarjus wurde, führte die Schule einer noch größeren Blüte entgegen. Während die Nlerandriner vorwiegend unter dem Einfluß der platoniſchen Philofophie fanden und darum einer moftiich-allegorifhen Deutung der heiligen Schriften zumeigten, jchloffen ih die Meifter von Antiohien mehr an die müchternere Richtung der Ariftoteliter und der ftoifchen Efleftifer an und betonten darum den ein: fahen Wortfinn, die grammatiſch-logiſche und geſchichtliche Auslegung der heiligen Bücher. Die beiden Schulen ergänzten ſich gegenfeitig. Wohl find aus beiden Lehrer hervorgegangen, welche die Richtung derfelben ein- jeitig auf die Spiße trieben, wie Origenes unter den Wlerandrinern, mehr noch Theodor von Mopfueftia unter den Antiochenern, aber ungleich größer ift die Zahl derjenigen, melde ein richtiges Maß zu halten wußten, und anderer, welche die beiden Richtungen in glüdliher Harmonie vereinigten !.

Euſebius, der Schüler des Märtyrers Pamphilus (dem zu Ehren er ih Eufebius Pamphili nannte), zu Cäſarea in Paläftina um 265 geboren, jpäter Biſchof diefer Stadt bis zu feinem Tode 340, fteht als Charakter weit hinter Athanafius zurüd. Litt er auch ſelbſt noch während der legten Ghriftenverfolgung als Befenner, jo nahm er doch ſpäter als Biſchof, nament- lih in den Kämpfen wider Arius, eine ſchwankende, vermittelnde und un— fihere Haltung ein und hat dadurd, ala Günftling Kaifer Konſtantins, nicht wenig zur Förderung des Arianiamus beigetragen. Dagegen hat er ih durch feine geſchichtlichen Werke und die an geſchichtlichem Gehalt eben: falls ſehr reihen apologetiihen Schriften nicht geringe Verdienſte erworben ; er ift der Herodot der chriſtlichen Vorzeit, d. h. der Bahnbrecher der chriſt— lihen Kirchengeſchichte. Seine Kirchengeſchichte, melde bis auf die Allein: herrſchaft Konftantins d. Gr. reicht, ift die reichfte und wertvollfte Geſchichts— quelle für die erften drei chriftlihen Jahrhunderte. Die künftlerifche Voll: endung der großen griechiſchen Hiftoriter hat er nicht angeftrebt, fondern lediglih eine möglichſt jorgfältige Feftitellung der Tatſachen. Indem er jeine Belegftellen aus jet zum Zeil verlorenen Schriften meift wörtlich zitierte, ertwuchs eine Art Quellenmofait, die den Wert einer noch fo jhönen Durdarbeitung weit überfteigt. Die chriſtliche Geſchichtſchreibung wurde dadurch gleih von Anfang an auf die richtige Bahn gewieſen?. In feiner

! Hornung, Schola Antiochena de 8. Scripturae interpretatione quonam modo sit merita, Neostadii 1864. Kihn, Die Bedeutung der antiochenifchen Schule auf eregetifhem Gebiet, Weißenburg 1866; Theodor von Mopfueitia und Junilius Afrifanıs als Gregeten, Freiburg i. B. 1880. Ph. Hergenröther, Die antiohenifhe Schule und ihre Bedeutung auf eregetiichen Gebiet, München 1871.

® Bis heute ift dies ihre Signatur geblieben, bei Baronius, ben Maurinern, Bollandiften, wie bei Janſſen, Paftor ufw., ohne daß dabei eine mehr philo»

Die griehifchen Kirhenväter. Athanafius, Bafilius u. Gregor von Nyſſa. 33

allgemeinen ſynchroniſtiſchen Welthronit (von ihm felbit AMuvrodarr taropta genannt), die bis zum Jahre 325 geht (nur in einer armenischen Überfegung, einem ſyriſchen Auszug, in der lateinischen Bearbeitung des Hieronymus und einigen Originalbrudftüden erhalten), ftüßt ſich Eufebius hauptſächlich auf das gleichartige frühere Werk des Prieſters Sertus Julius Afrifanus aus NAlerandrien!, der hinwieder aus Alexander Polyhiſtor und andern Geſchichtswerken geſchöpft hat; die Haffiihen Geſchichtſchreiber der Griechen jelbft find darin nicht verwertet.

Der erſte Teil (Npovorpagpia) enthält eine ethnographiſche Chrono: logie, welche, mit der Geburt Kains beginnend, alle Völker und Reiche bis zum Jahre 325 umfaßt, der zweite Teil (Auvov ypovıxis) ſynchroniſtiſche Tabellen, welde, mit der Berufung Abrahams anhebend , die Namen der politifchen Herrfcher, der jüdischen Hohenpriefter, der chriſtlichen Biſchöfe und eine Überficht der wichtigſten Zeitereigniffe, nad Dekaden abgeteilt, enthalten. „Gerade diefe Zufammenfaffung des Entlegenften mit dem Nächſten verſchaffte der Arbeit des Eufebius eine unberehenbare Ausdehnung und Einwirkung auf die Nahmelt.“? Bon Hieronymus ins Lateinifche übertragen und mit Zufägen vermehrt, ins Syriſche, Armeniſche und Arabiſche überjegt, un- zähligemal bearbeitet und weitergeführt, bildete dieje Ehronif über ein Jahr: taufend für das Abendland und für das Morgenland den Grundftod alles biftorischen Wiſſens. Noch am Anfang des 16. Jahrhundert3 wurde fie bis auf die jüngfte Zeit ergänzt und von neuem gedrudt®.

Urſprung, Mittelpunft und Ziel der Weltbetradhtung bildet bei Eufebius Gott, der durch jeine Vorſehung alle Ereigniffe leitet und durch feine ewigen Ratihlüffe den Mißbrauch menschlicher Freiheit wunderbar auf das rechte Geleife zurücklenkt. Durch die Menjchwerdung Hat fi das ewige Wort jelbft der Menjchheit eingegliedert, durch jeine im Alten Bunde borgebildete und verbreitete Kirche führt Chriſtus die Menjchheit ihrer ewigen Be— ftimmung entgegen. ſophiſche Betrachtung und künſtleriſche Durchdringung des Attenmaterials ausgefchloffen worden wäre.

ı Bol. 9. Gelzer, Sertus Julius Afritanus und die byzantiniihe Chrono» graphie, 2 Bde, Leipzig 18851899.

? Rante, Weltgeſchichte I 2, 285; IV 2, 263.

> Gefamtauögabe nur bei Migne, Patr. gr. XIX-—XXIV, N. Schoene, Die Weltchronik des Eufebius in ihrer Bearbeitung durch Hieronymus, Berlin 1900. Fr. Overbed, Über die Anfänge der Kirchengeſchichtſchreibung, Bafel 1892, Shöne Charakteriftif des Eufebius bei Hipler, Die driftlihe Geſchichts— Auffaffung (Vereinsſchrift der Görres-Gejellihaft II, Köln 1884, 20—24). Das erfie Buch der „Ehronil* ift nur in armenifcher Überfegung erhalten, herausgeg. von Angelo Mai und J. Zohrab (Mailand 1818), U. Schvene und H. Peter- mann (Berlin 1875).

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 3

34 Zweites Kapitel.

„Die von ihr verfündete Wahrheit empfiehlt fih von felbft und leuchtet im Laufe der Zeiten in immer hellerem Glanze. Die Erfindungen der Widerfadher aber, von ber Wahrheit ſelbſt widerlegt, verſchwanden bald; denn indem eine Sefte nad der andern mit Neuerungen hervortrat, zerflofien jedesmal bie früheren und gingen, in vielfache und vielfürmige Geftaltung aufgelöft, bald auf dieſe bald auf jene Art zu Grunde Die hellleudhtende, ftets in allem fich gleichbleibende katholiſche und allein wahre Kirche dagegen nahm täglid an Wachstum und Größe zu und zeigte die Ehrwürdigkeit, die Echtheit und den Adel jowie die Vernünftigfeit und Reinheit ihrer göttlichen Lehre und Lebensweiſe vor dem ganzen Geſchlechte der Griechen und Barbaren in hellem Lichte.“ !

Einen eifrigen Vertreter fand die fatholifche Lehre an dem HI. Eyrillus, der von 350 (oder jhon 347) bis zu feinem Tode (386) den biſchöflichen Stuhl von Jerufalem innehatte, aber dur die Arianer dreimal davon vertrieben wurde. Seine „Katecheſen“, berühmt durch ihre klaren Zeugniffe über die Euchariftie, gehören zu den ſchönſten Dentmälern des hriftlichen Altertums,

Inzwiſchen mehrte fi im Orient dad Gewirr der Härefien. Die Arianer jpalteten fi in Arianer, Semiarianer, Macedonianer; aus dem libereifer, fie zu betämpfen, erwuchjen neue Irrlehren, wie die Lehre des Apollinarius ; daneben wucherte noch der Gnoftizismus in den verjchiedenften Formen weiter. Gleih Arius ſuchte aud Paul von Samofata jeine Jrrtümer durch Lieder zu verbreiten, indem er, wie Eujebius erzählt, die „Pſalmen“ abſchaffte, welhe man in den Kirchen „zur Ehre unjeres Herren Jeſu Chriſti“ fang, und jelbfiverfaßte Gejänge an deren Stelle jegte. Apollinarius der ältere, ein gelehrter Rhetor in Berytus und jpäter in Laodicea, wie jein gleihnamiger Sohn, der fih als Philofoph und Dichter einen Namen machte, bearbeitete unter Julian dem Apoftaten bibliſche Stoffe in metrifcher Form, um für die den Ghriften verbotenen Klaſſiker einen Erſatz zu bieten?; als der jüngere Apollinarius indes, zum Biſchof von Laodicea erhoben, die vernünftige Seele in Chriftus leugnete, nahmen auch feine früheren ver- dienftlihen Literaturbeftrebungen eine üble Wendung, und die Synode von Laodicea erließ gegen feine häretiichen Yieder (in ihrem 59. Kanon) die Verfügung, dab man in der Kirche feine von Privaten verfahten Palmen vorlefen dürfe. 3

Perſönliche Beſchränktheit und Verjchrobenheit, Ehrgeiz und Herrſch— jucht, lofaler Partikularismus und Eiferfudt, Mangel an Demut und Unter: würfigleit gegen die kirchliche Autorität, der alte, nicht überwundene heid-

ı Euseb,, Hist. ecel. IV 7 (Migne, Patr. gr. XX 5320).

? Apollinaris Interpretatio Psalmorum versibus heroicis, Paris. 1580, Heidelb. 1654. Fragm. Apollin. bei Gallandi, Bibl. vet. Patrum XII 706 f; Mai, Nov. coll. VII 1, 16 208.

» Hefele, Konziliengeihichte 1? 774. Sozomenos, Hist. ecel, V 18. Hergenröther-Kirſch I* 386.

Die griehifchen Kirchenväter. Athanafius, Bafilins u. Gregor von Nyſſa. 35

niihe Sauerteig des Rationalismus und der religiöfen Willkür, Einflüffe heidniſcher und jüdiſcher Selten, fittlihe Verderbtheit und weltliche Gefinnung ipielten bei diefem Gewirre unzweifelhaft eine Hauptrolle. Eine nicht zu unterfhägende Urſache dürfte aber in der Oberflächlichkeit, Verdrehtheit, Schwindelei und Disputierwut zu fuchen fein, womit die Sophiften und Rhetoren die ganze zeitgenöffiiche Bildung angeftedt hatten. Um Geld ward alles gejagt, deflamiert, bewiejen, verteidigt. Wenn etwas nur neu tönte: um die Wahrheit fümmerten fi) die wenigften. Das ganze Seftengetriebe fällt deshalb nicht dem Chriftentum zur Laft, fondern hauptſächlich dem tief: geſunkenen und entarteten Hellenismus. Seiner bediente fih hauptfächlich der Feind des Guten, um Unkraut unter die Saat Chrifti zu fireuen.

Bon meittragenditer Bedeutung war e3 für Bildung und Literatur, daß mitten in diefer Verwirrung der Geifter das Mönchs- und Ordens: feben fi) gerade in Agypten zur bleibenden kirchlichen Einrichtung geftaltete. Nicht überfättigte peifimiftiiche, ſchiffbrüchige Eriftenzen, welche ſchon mit allen Freuden und Genüffen diejer Welt abgehauft, wie die indijchen Büßer, zogen ſich hier in die Einſamkeit der Wüfte zurüd, fondern die Edelften und Beiten, in der Blüte der Jahre, noch ehe die Sittenverderbnis der Groß— ſtädte fie angefränfelt, Ehrgeiz und Habſucht die Schwungkraft ihres Geiftes untergraben hatte. Alles, was ſich hemmend zwiſchen Gott und ihre Seele eindrängen wollte, warfen fie von fih, um Gott in Gebet und demütiger Arbeit zu dienen, dad Wort Gottes ungeftört zu betrachten und in ſich auf: zunehmen, das Böſe durch heroifhe Entjagung in ſich niederzufämpfen und durch Übung der hödften Tugenden das Bild des Erlöfers in ſich aus— zuprägen. Die Heilige Schrift, welche in den religiöfen Wirren der Zeit nur zu oft in Gefahr fam, ein bloßer Spielball disputierfüchtiger Gelehrten zu werden, ward hier wieder zu einem Quell der innigften Andacht, Liebe und Erbauung, eine Geiftesnahrung, die den ganzen Menjchen belebte. Die Theologie ward hier dem Getümmel des Streites entzogen und auf ihr eigentliche Hauptobjett Gott hingelentt. Der größte Teil der Mönde febte als Gönobiten in großen Hlöfterlihen Genoſſenſchaften vereint, jo daß fie alle Segnungen des priefterlihen und kirchlichen Lebens genießen und aud die Tugenden des gejelligen Lebens reihlih üben konnten. Sie beteten für die Melt; fie gaben der Welt das Schaufpiel eines Lebens, das bie höchſten chriſtlichen Ideale verwirklichte, fie erzogen Männer, die mit dem vollen Geifte der Apoftel wieder in die Welt zurüdtraten und die ungetrübte Überlieferung der Kirche weiter verfündeten !,

. + Möhler, Gef, Schriften II 165 fi. Evelt, Das Möndtum in jeiner inneren Entwidlung und feiner kirchlichen Wirkfamteit bis auf ben hi. Benebitt, Paderborn 1863.

5*

36 Zweites Kapitel.

Athanafius, der ſelbſt in klöſterlicher Einſamkeit zum Geiftesriefen er- ftarkte, hat uns das frühefte Bild des Hl. Antonius, des Patriarchen der ägyptiihen Mönche, und feiner Klöſter hinterlaffen. Er jagt am Schluffe feines Berichtes:

„Zwiſchen den Bergen ftanden Klöfter, wie heilige Gezelte, angefüllt mit gött— lien Chören, melde Palmen fangen, die heiligen Schriften lafen, fih im Faſten und Gebete übten, frohlodten in ber Hoffnung auf die ewigen Güter, mit ihrer Hände Arbeit ſich verihafften, was fie als Almofen verſchenkten, und in Eintradht und Liebe aneinander hingen. Und wahrhaftig! Dort war es einem vergönnt, ein abgejonbertes Sand ber Frömmigkeit und Gerechtigkeit zu ſchauen. Da gab es keine Beleidiger unb feinen Beleidigten, ſondern nur eine Schar von Asketen, deren einziges Streben auf Vollkommenheit gerichtet war, fo daß ein fremder, der dieſe Klöfter und bie Ordnung darin fähe, ausrufen würde: ‚Wie ſchön find deine Wohnungen, o Jakob, und beine Hütten, o Israel! wie fhattige Haine und wie ein Garten am Geftabe bes Fluſſes, wie Zelte, die der Herr befeftigt hat, wie Zebern, die an Waſſerbächen jtehen.‘* !

Die Athanafius, jo Haben aud die übrigen großen Lehrer der grie- chiſchen Kirche wenigſtens zeitweilig die Schule des Mönchslebens, d. h. des Drdenzftandes, durchgemacht, und erft durch den inneren Geift, den fie hier Ihöpften, erlangte ihre übrige theologiſche und weltliche Bildung ihre Flare Richtung, ihre volle Harmonie und Wirkjamteit.

In vielen Stüden gemahnt an Athanafius der HI. Bafilius d. Gr., Biſchof von Neocäfarea in Kappadocien. Er entftammte einer reihen und vornehmen Familie diefer Stadt, um das Jahr 331. Seine fromme Groß— mutter Mafrina madte ihn früh mit den Geheimniffen des Glaubens be- fannt; der Vater, ein angejehener Rhetor, führte ihn in die allgemeine Bildung ein. Zu weiteren Studien beſuchte er Konftantinopel und Athen, im Verein mit jeinem gleichgefinnten Jugendfreunde Gregor von Nazianz. Beide machten in Literatur und Philoſophie die glänzendften Fortfchritte. Doch Bafilius fand darin nicht daS Genügen, das er erhofft. Nach vier- bis fünfjährigem Studium tehrte er nad) feiner Vaterftadt zurüd, empfing die heilige Taufe, bereifte Syrien und Ägypten, um das Möndsleben aus eigener Anſchauung kennen zu lernen, und ließ fih dann in der Nähe feiner Waterftadt als Einfiedler nieder. In der Nähe und Ferne entftanden um diefe Zeit Klöfter und Mönchsgenoſſenſchaften. Im Verein mit Gregor von Nazianz faßte er Lebensregeln für fie ab und ward fo der Patriarch des griechiſchen Möndtums. Im Jahre 364 ward er Priefter und ala folder die Stüße feines Biſchofs Eufebius, nad deffen Tod (370) ſelbſt Metropolit von Cäſarea, nächſt Athanafius der gewaltigfte und erfolgreichfte

'S. Athan., Vita S. Antonii n. 44 (Migne, Patr. gr. XXVI 908).

Die griechiſchen Kirchenväter. Aihanafius, Bafilius u. Gregor von Ryſſa. 87

Verteidiger des katholiſchen Glaubens gegen die Arianer, bis ihn 379 der Tod aus diefem Leben abrief!.

Seine zahlreihen Schriften gehören wie jene des hl. Athanaſius vor- zugsweiſe der Theologie an. Dod befunden fie, namentlich jeine 365 Briefe, die feinfte klaſſiſche Bildung, künſtleriſchen Geſchmack und bei jcharfem, prak— tiihem Verſtand und großer Gelehrfamteit auch ein tiefpoetiiches Gemüt. Unter feinen vierundzwanzig Homilien ift eine auch don pädagogiſchem und literariſchem Gefihtspunft aus bemerkenswert und deshalb au jehr berühmt geworden: „An die Jünglinge, wie fie aus heidnifchen Schriften Nutzen ſchöpfen können.““ Es ift das erfte, Kar formulierte Programm eines hriftlihen Humanismus gegenüber dem Studium der antiten Literatur, und bei den Vorurteilen, welche gegen Mönde und Möndtum noch immer im Schwange find, verdient herborgehoben zu werden, dab e& der Begründer des griechiſchen Möndtums, einer der Patriarhen des kirchlichen Ordens: lebens ift, der zuerft in ebenjo freifinniger als auch maßvoller und praktiſch vernünftiger Weife jih für das Beibehalten der Haffiihen antiken Literatur als Bildungsmittel für die ftudierende Jugend erklärt hat. Ausgehend von der übernatürlihen Beltimmung des Menfchen und der notwendigen Unter: ordnung des zeitlichen Lebens und feiner Intereſſen unter die ewigen, ſpricht er zwar mit aller Wärme eines großen Asketen umd Heiligen die unumftöß- fihe Wahrheit aus, daß das religiöfe Wiffen alles rein natürliche und profane ebenjo überragt wie die Seele den Yeib. Ebenjo unummwunden erklärt er fih aber aud dahin, daß der jugendliche Geift den hohen Aufgaben der chriſtlichen Philoſophie und Theologie noch nit gewadfen ift und darum ertt an Poeſie, Rhetorik und Geſchichte entwidelt und vorgeihult werden jol. Als Beifpiele dafür werden Mofes und Daniel vorgeführt. Die fitt- liche Bildung muß aber dabei ftet3 als Ziel im Auge behalten und alles ausgejchloffen werden, was Geift und Herz davon ablenken könnte.

„Was nun zunädhft die Dichter betrifft (um damit anzufangen), fo find dieſe in ihren Werfen gar verjhiedenartig beichaffen, und man muß nit allen der Reihe nah gleihe Aufmerkſamkeit ſchenken. Wenn fie uns die Taten und Reben guter Männer vorführen, da muß man diefe lieben und ihnen naceifern und nad Mög:

lichleit ebenſo zu werben traten. Wenn fie aber auf lafterhafte Menſchen fommen, muß man beren Nahahmung fliehen und fi die Ohren verftopfen, wie es der Sage

! Gejamtausgabe ber Werke: Bafel 1532, Venedig 1535, Baſel 1551, Paris 1618 1638; von Combefis 0. Pr. (Paris 1679), 3. Garnier und Pr. Daran (Mauriner, 3 Bde 2%, Paris 1721—1725), Migne (a. a. ©. XXIX— XXX). W. Klose, Bafilius d. Gr., Stralfund 1835. Fr. Böhringer, Die Kirdhe Chriſti und ihre Zeugen VIL®, Stuttgart 1875. E. Fialon, Etude historique et litteraire sur St Basile, Paris 1869.

® Ipös robs veoug ünwg Ay 2E Eiinvzüv npzioivro Aöyws ſMigné a. a. O. XXXI 563—590).

38 Zweites Kapitel.

zufolge Odyffeus beim Gefange der Sirenen getan. Denn die Gewöhnung an ſchlechte Neben ift ber Weg zu derartigen Taten. Deshalb muß die Seele mit aller Wach— famteit behütet werden, damit wir nicht über dem Genufie ber Worte unvermerkt Schlechtes in uns aufnehmen, wie jene, bie mit dem Honig Gift einichlürfen. Wir bürfen beshalb bie Dichter nit loben, wenn fie läftern unb fpotten, Verliebte und Zrunfene darjtellen, noch wenn fie die Seligfeit nad) reichlich beſetzten Tiſchen und zuchtlofen Liedern bemeſſen. Am wenigften Beachtung aber müflen wir den Dichtern ſchenken, wenn fie von ben Göttern handeln und wenn fie von ihrer Vielheit und von ihrem Widerſpruch untereinander berichten. Denn bei ihnen erhebt ſich ber Bruder gegen den Bruder und der Bater gegen die Söhne, und dieſe hinwieder führen unverföhnlichen Krieg mit den Eltern. Die Ehebrüche und Liebesgeſchichten und öffent- lichen Beilager der Götter, befonders des Zeus, des Oberften und Hödjften, wie fie ihn nennen, Dinge, über die man erröten müßte, wenn auch nur von Tieren bie Rede wäre, die wollen wir ben Leuten vom Theater überlafjen.” !

Daß Bafilius das tiefe Naturgefühl eines Dichters beſaß und es aud wahrhaft dichteriſch auszuſprechen wußte, ift Alerander v. Humboldt nicht entgangen, als er Umſchau über die Auffaffung des Naturſchönen in ver- ſchiedenen Zeiten und Yiteraturen hielt ?,

„IH beginne“, jagt er, „mit einem Briefe Baftlius’ des Großen, für den ih lange jhon eine bejondere Vorliebe Hege. Aus Cäſarea in Kappadocien gebürtig, hatte Bafilius, nicht viel über dreißig Jahre alt, dem heitern Leben zu Athen ent- jagt, auch ſchon bie chriſtlichen Einfiedeleien in Eölefyrien und Oberägypten befucht, als er fih nad Art der vorchriſtlichen Eſſener? und Therapeuten in eine Wildnis am armeniihen Fluſſe Iris zurüdzog. Dort war fein zweiter Bruder Naufratius nad fünfjährigem jtrengen Anadoretenleben beim Fiſchen ertrunken. ‚Ich glaube endlich‘, ichreibt er an Gregorius von Nazianz*, ‚das Ende meiner Wanderungen zu finden. Die Hoffnung, mid mit dir zu vereinigen, ich jollte jagen, meine jühen Träume (denn mit Recht hat man Hoffnungen Träume der wachenden Menſchen genannt), find unerfüllt geblieben. Gott hat mich einen Ort finden laflen, wie er uns beiden oft in der Einbildung vorgeſchwebt. Was diefe uns in weiter ferne gezeigt, febe ich jet vor mir. Ein hoher Berg, mit dichter Waldung bededt, ift gegen Norden von friſchen, immerfließenden Waſſern befeuchtet. Am Fuße bes Berges behnt ſich eine weite Ebene hin, fruchtbar durch die Dämpfe, die fie beneken. Der umgebende Wald, in welchem ſich vielartige Bäume zufammendrängen, ſchließt? mich ab wie in eine ſeſte Burg. Die Einöde ift von zwei tiefen Talſchluchten begrenzt. Auf der einen Seite bildet der Fluß, wo er vom Berge ſchäumend herabftürzt, ein ſchwer zu über:

ı Migne, Patr. gr. XXXI 568 f.

2A. v. Humboldt, Kosmos II, Stuttgart 1847, 27—30. Bol. Ville- main, Mölanges historiques et litteraires III 320—325.

> Bon ben Efjenern jagt Plinius (5, 15): Mira gens, socia palmarum.

* Ep. 19 (14) (Migne a. a. O. XXXII 276 277).

5 „Ichließt fie jo ab, dab die Inſel der Kalypfo gering dagegen erſcheint, bie do wegen ihrer Schönheit Homer mehr als alles bewundert. Es fehlt ihr nicht viel zu einer Inſel, da fie von allen Seiten mit Bollwerken verfchanzt ift“. So heit es hier wörtlih. Humboldt hat die ganze Stelle ziemlich frei behandelt, aber bie Haupt» züge ber malerifhen Schilderung doch gut wiedergegeben.

Die griehiichen Kirchenväter. Athanafius, Bafilius u. Gregor von Nyfe 39

ſchreitendes Hindernis; auf der andern verfchlieht ein breiter Bergrüden den Eingang. Deine Hütte ift auf dem Gipfel jo gelegen, daß ich die weite Ebene überfchaue wie den ganzen Lauf bes Jris, welder jhöner und waflerreider ift als ber Strymon bei Amphipolis. Der Fluß meiner Einöde, reißender als irgend einer, ben ich kenne, bricht fi) an ber vorfpringenden Felswand und wälzt fi) Ihäumend in den Abgrund, dem Bergwanberer ein anmutiger, wundervoller Anblid, den Eingebornen nutzbar zu reichlichem Fiſchfang. Sol ich dir beſchreiben die befruchtenden Dämpfe, welche aus der (feuchten) Erde; die fühlen Lüfte, welche aus dem (bewegten) Waſſerſpiegel auffteigen ? Soll ih reden von bem lieblichen Geiang der Vögel und der Fülle blühendber Kräuter? Was mid vor allem reizt, ift die ftille Ruhe der Gegend. Sie wird bisweilen nur von Jägern beſucht; denn meine Wildnis nährt Hirſche und Herden wilder Ziegen, nicht eure Bären und eure Wölfe. Wie möchte ich einen andern Ort mit diefem vertaufhen! Alkmäon, nahdem er die Echinaden gefunden, wollte nicht weiter umherirren.‘ Es ſprechen fi in dieſer einfahen Schilderung ber Land» Ihaft und bes Waldlebens Gefühle aus, welche fih mit denen der mobernen Zeit inniger verfchmelzen als alles, was uns aus dem griechiſchen und römischen Altertum überlommen if. Von der einfamen Berghütte, in die Bafilius ſich zurüdgezogen, fentt fich ber Blid auf das fenchte Laubdach des tief liegenden Walbes. Der Ruhefik, nad dem er und jein Freund Gregorius von Nazianz fo lange ſich geiehnt, ift endlich gefunden. Die dichteriſch-mythiſche Anfpielung am Ende bes Briefes erklingt wie eine Stimme, die aus einer andern, früheren Welt in die KHriftliche hinüberſchallt.

„Auch des Bafilius Homilien ! über bas Herasmeron zeugen von feinem Natur« gefühl. Er beichreibt die Milde der ewig heitern Nächte in Kleinafien, wo, wie er ſich ausdrüdt, die Sterne, ‚die ewigen Blüten bes Himmels‘, ben Geift des Menſchen bom Sichtbaren zum Unfihtbaren erheben. Wenn er in der Gage (sie!) von ber Weltihöpfung die ‚Schönheit bes Meeres‘ preifen will, jo beichreibt er den Anblid ber grenzenlojen Fläche in ihren verjchiedenen, wedhjelnden Zuftänden: ‚wie fie, vom Hauch der Lüfte fanft bewegt, vielfarbig, bald weißes bald blaues bald rötliches Licht zurüdtwirft; wie fie die Küfte liebkoſt in ihren friedlichen Spielen‘. Diefelbe jentimental- ihwermütige, der Natur zugewandte Stimmung finden wir bei Gregorius von Nyſſa, dem Bruder des großen Bafilius. ‚Wenn ich‘, ruft er aus, ‚jeden Felſenrücken, jeden Zalgrund, jede Ebene mit neuentiprofjenem Grafe bededt jehe, dann den mannig- faltigen Shmud der Bäume und zu meinen Fühen die Bilien, doppelt von ber Natur ausgeftattet mit Wohlgerud und mit Farbenreiz; wenn ich in der Ferne jehe das Meer, zu dem bin die wandelnde MWolte führt: jo wird mein Gemüt von Schwermut ergriffen, die nit ohne Wonne ift. Verihwinden dann im Herbſt die Früchte, fallen die Blätter, jtarren die Alte des Baumes ihres Schmudes beraubt, jo verſenken wir uns (bei dem ewig und regelmäßig wiederfehrenden Wechſel) in den Gleichklang der Wunberfräfte der Natur. Wer dieſe mit dem finnigen Auge ber Seele durch— ihaut, fühlt der Menſchen Kleinheit bei ber Größe des Weltalls.‘“ ®

Gregor war bedeutend jünger als jein Bruder Bafilius, jo daß diejer ſtark auf feine Heranbildung einwirken fonnte. Er ward früh Xeltor, ver: tauſchte die kirchliche Stellung mit der weltlichen eines Rhetors, zog fi aber ſchließlich doch von der Welt zurüd und ward 371 Biſchof von Nyſſa.

ı In Hexaim. 6, 1; 4, 6. * Aus verſchiedenen Stellen zufammengetragen: S. Greg. Nyss., Opp., Paris, 1615, I 49 539 210 780; II 860 619 324.

40 Drittes Kapitel.

Als ſolcher wohnte er 381 dem zweiten allgemeinen Konzil in Konftantinopel bei, wo er als tüchtiger Theologe eine Hervorragende Rolle jpielte. Er zeichnete fi durch Hohe jpekulative Begabung aus; in der Verwaltung des kirchlichen Hirtenamtes fand er aber weit hinter jeinem entſchloſſenen, tat= kräftigen Bruder zurüd.

Seine Hauptwerfe find: „Die große Katecheje“, eine Begründung der wichtigſten hriftlihen Lehren gegen Heiden, Juden und Häretiter; die zwölf (oder dreizehn) Bücher „Gegen Eunomius“, eine der vorzüglichſten Streit: ihriften gegen den Nrianismus, und zwei Schriften gegen Apollinarius bon Laodicea. Bald nah dem Tode jeines Bruders Baſilius bejuchte er gegen Ende 379 feine Schweiter Makrina, melde er und Bafilius immer wie eine zweite Mutter betrachtet Hatten und welche nun auf einem ber Familie gehörigen Landgut am Fluſſe Iris mit andern Frauen ein gott: geweihtes Leben führte. Sie war ſchon dem Sterben nahe, ala er bei ihr eintraf, und jehnte fih nah dem Himmel. Das lebte Geſpräch der beiden Geſchwiſter drehte fih deshalb nur um das Wiederjehen in der befjeren Welt. Seinen Inhalt legte Gregorius jpäter in einem ſchönen Dialoge nieder: „Über die Seele und die Auferftehung“ (Ieot duzig xat dvaerd- oewc). Bon feinen Briefen find noch jehsundzwanzig erhalten; zwei der- jelben wurden dadurch berühmt, daB fie zu den früheſten Beſprechungen des „Wallfahrens“ gehören. In dem einen jchildert er feinen Schweftern Euftathia und Ambrofia den Befuh, den er auf einer Reife nach Arabien an ben heiligen Stätten in Jerufalem machte, den weihevollen Eindrud ihrer ehr: würdigen Erinnerungen, aber auch die traurige Lage des Gelobten Landes ; in dem andern tadelt er die Mißſtände, die er bei diefer Wallfahrt wahr: genommen, und jpricht ſich ziemlich ſcharf über die Gefahren folder Pilger: fahrten aus. Seine zahlreihen Reden find etwas überladen. In Redeform behandelte er auch das Leben feiner Schweiter Makrina und dasjenige des hl. Gregor des Wundertäters.

Drittes Kapitel. Gregorius von Nazianz. Johannes Ehryfoflomus.

Zu den beiden Brüdern gejellte fih als innigfter Geiftesperwandter ein dritter Happadocier, Gregorius von Nazianz, der Freund und Studien- genofje des Bafilius. Er war etwas älter, etwa 330 auf dem Landgut Arianz bei Nazianz geboren. Üüber jeine Kindheit wachte jeine fromme, heiligmäßige Mutter Nonna. Dann folgten lange Studienjahre an den berühmteften Schulen, zu Cäſarea in Kappadocien, zu Gäjarea in Baläftina, zu Alex—

Gregorius von Nazianz. Johannes Chryjoftomus. 41

andrien und Athen. Hier aufs innigjte mit Bafilius befreundet, folgte er diefem in die Einſamkeit von Pontus. Auch bei ihm jollte indes das Mönchsleben nur die geiftige Vorſchule des großartigften kirchlichen Wirlens jein. Er ward 361 Priefter, das Jahr darauf Biihof von Safina und dann Gehilfe feines Vaters, der die Würde eines Biſchofs zu Nazianz be- fleidet und den er den Neben der Hypſiſtarier entriffen hatte. Im Jahre 379 beriefen ihn die Katholiten zu Konftantinopel in die Reihshauptitadt, um die dortigen kirchlichen Wirren beizulegen, im Mai 381 ward er von dem zweiten allgemeinen Konzil jelbft auf den Patriarhenftuhl von Sonftantinopel be- rufen, fand jedoch heftige Gegner und mußte jhon nah Monatsfriſt auf die faum erlangte Würde verzihten. Er zog fih nad) Nazianz, dann 383 in die Einſamkeit von Arianz zurüd und lebte hier ungeteift den Übungen der Frömmigkeit und wiſſenſchaftlichen Studien bis zu feinem Tode (um 390). Als jpefulativer Denter fieht er hinter feinem Namenspetter von Nyſſa zurüd, beherrichte aber die bereits ausgebildete Kirchenlehre in umfalfendftem Maße und brachte fie al3 Hinreißender Redner jo gewaltig zur Geltung, daß ihm ihon vom driftlihen Altertum der Ehrenname des „Theologen“ zu teil ward. In der flillen Muße, die er aber troß feiner glänzenden Redner: gabe immer und immer wieder aufjuchte, und welche in feinen lebten Lebens: jahren nicht mehr gejtört ward, entfaltete er feine große literarifche Begabung nit nur in einer reihen Brieffammlung (bei den Maurinern 243 Nummern), jondern trat auh der erfle der großen Kirchenväter als eigentlidher Dichter auf.

Schon in den Briefen findet fi) vieles, was den eigentlihen Dichter verrät. Nicht etwa bloß häufige Reminiszenzen aus Homer, Pindar, Theognis und andern Dihtern, jondern die lebhafteften, oft abrupten Wendungen, die treffendften Bilder und Figuren, die natürlihften Äußerungen der jeweiligen Stimmung, wahrhaft lyriſche Gefühlsausbrüche und dann wieder die feinften epigrammatiſchen Sentenzen. Den Seleufios, der ihm das Höfterlihe Still- jchweigen als bäurifche Roheit (@yporzia) gedeutet hatte, fertigt er in einer wigigen Fabel von den Schwalben und Schwänen ab!:

„Die Schwalben verjpotteten einmal die Schwäne, weil fie nicht mit den Men— fhen verkehren und öffentlid mufizieren wollten, jondern nur in den Wiefen und an ben fylüffen wohnten und die Einjamfeit Tiebten und nur wenig fängen, und was fie ſängen, für ſich fängen, ala ob fie fich der Mufit jhämten. Uns aber, jagten fie, gehören die Städte unb die Menſchen und die Gemächer, und wir ſchwätzen bei den Menſchen und ſetzen ihnen unfere Angelegenheiten auseinander, all die alten Geſchichten aus Attifa, von Pandion und von Athen und vom Tereus und von Thracien, von ber Auswanderung, der Berwandtichaft, der Beleidigung, von dem Ausſchneiden der Zunge, von den Buchſtaben und bejonders vom Itys und wie wir aus Menſchen in Vögel

! Ep. 114 (Migne, Patr. gr. XXXVII 209 f.)

42 Drittes Kapitel.

verwandelt wurden!. Die Schwäne würbigten fie faun einer Antwort, weil ihnen ihre Gefhwäßigfeit zumider war; wie fie ſich aber dazu herbeiließen, fagten fie: O ihr (Schwäter)! Um unfertwillen fommt wohl einer aud in die Einfamfeit, um unfere Muſik zu hören, wenn wir dem Zephyr unfer Gefieder überlafien, damit er fühe Melodien darauf haude. Wenn wir deshalb aud) nicht viel und nicht für viele fingen, jo ift dod das am jhönften bei uns, dab wir im Liede philofophifch Mab halten und die Mufit nicht mit tobendem Gelärm vermiſchen. Ihr aber werdet den Menſchen, in deren Käufern ihr euch eingeniftet, zum Überdruß, und fie wenden fih von eurem Gefang ab. Und das mit vollem Recht. Denn obwohl euch die Zunge ausgejchnitten, könnt ihr nicht ſchweigen, ſondern klagt über eure Sprad)- lofigfeit und euern Jammer, und feid geſchwätziger als irgend einer der wohlzüngigen und gefangreihen Vögel. Verftehe, was ich fage, jagt Pindar, und wenn du findeft, daß mein Schweigen beffer ift als beine Nebfeligfeit, jo höre auf, mein Stillſchweigen zu bejpötteln. Sonft jage ih dir ein ebenſo wahres als Fluges Spridwort: ‚Die Schwäne werden fingen, wenn die Dohlen jchweigen.‘“

Gregorius gibt in einem feiner Gedichte vier Gründe an, weshalb er fi von der ungebundenen Redeform der gebundenen zugewandt habe: erftlich um feine literariſche „Maßloſigkeit“ (d. 5. ungezügelte Schreibjeligfeit und Breite) dur das Metrum Heilfam einzuſchränken; zweitens, um der Jugend, die num einmal an Spiel und Poefie Luft hat?, eine poetifche Unterhaltung zu bieten, die alle fittliche Gefahr ausjchlöffe; drittens, um den Ungläubigen zu zeigen, daß fie nicht das Monopol der Literatur befigen, jondern dab die Katholifen, wenn fie auch den Schwerpunft der Kunft in die religiöfen Ideale ſetzen, doch auch den Schmud der Rede mit kräftiger Anmut zu handhaben wiſſen; viertens endlih, um ſich in der Krankheit zu tröften und aufzuheitern und glei dem Schwane, nicht mit einem Klagegejang, jondern mit einem frohen Auszugshymnus von hinnen zu jcheiden 3.

Zum vierten fand ich, von der Krankheit viel geplagt, Drin Linderung, glei einem alten Schwan,

Im Flügelrauſchen mit mir jelbft zu ſprechen,

Kein Klaggefang, ein Lied von froher Ausfahrt.

Gregor: Gedichte jind überaus zahlreih und zum Teil don bedeutendem Umfang. Die Herausgeber feiner Werke haben fie in zwei Hauptgruppen geteilt: theologiſche und geſchichtliche; die theologischen ſchieden fie wieder in dogmatiſche und moraliſche, die geſchichtlichen in ſolche, welde von dem Dichter ſelbſt, und jolde, melde von andern handeln. Daran reihen fi) noch 129 Epitaphien und 94 Epigramme ®.

ı Die „alten Geſchichten“ ſehr jhön erzählt bei Ovid, Metamorphofen VI 420—720.

. El zati zo zaldog mu dv Vzwpia,

“Yniv iv obv rolg aopoig draifaner. > Carm. lib. 2, sect. 1, 39, n. 33 f (Migne, Patr. gr. XXXVII 1331 f).

“Bei Migne a.a. O. XXXVII 397—1604; XXXVIH 9—136; Kommentar des Kosmas Hierofolymitanus zu denfelben ebd. XXXVII 339—630; Kommentar

Gregorius von Nazianz. Johannes Chryfoftomus. 43

Die dogmatiihen (38 an der Zahl) handeln von den einzelnen drei göttlihen Perfonen, von der Welt, von der Vorjehung, von den Engeln, von der Seele, von den zwei Teftamenten und der Ankunft Chriſti und von der Menſchwerdung. An dieſe längeren Dichtungen ſchließen fich Memorialverje über die Bücher der Heiligen Schrift, die Patriarchen, die Genealogie und die Wunder Chriſti ufw., und endlid verjchiedene Hymnen und Gebetälieder.

Die moraliihen (40) beihäftigen jih mit den verſchiedenen chriſtlichen Tugenden, bejonders der Jungfräulichkeit, der Armut und Geduld.

Die jelbfibiographiihen (99) find lyriſche Stimmungsbilder der ver: ihiedenften Art; einige geftalten fi} zu längeren poetiſchen Tagebüchern aus.

Die übrigen Hiftoriihen (8) beziehen ſich auf einige wenige Freunde, die auch in der Korreſpondenz des Heiligen vertreten find.

Die Stärke Gregors befteht im der Tyeinheit und Fülle der Sprade, der Leichtigkeit der Form, der Genauigkeit des theologiſch-dogmatiſchen Aus: druds bei inniger Wärme des Gefühle. Herameter, Diftihon, jambifche Trimeter, kurze anakreontiſche Verſe beherricht er mit fpielender Leichtigfeit ; dagegen hat er weder die künftlihen Formen der altgriechiſchen Lyrik gepflegt noch die freiere Rhythmik, im welcher ſich fpäter die liturgiſche Poefie ent: widelte. Seine ganze Poefie trägt einen durchaus perjönliden, fubjektiven Charakter.

Seine Spradgewalt zeigt jih am glänzendften darin, daß er die feinften jpefulativen Begriffsbeftimmungen fo natürlih in die Formen der altklaſſiſchen Sprade zu gießen weiß, ald wäre dieje gleihjam als natür— liches Behifel der chriſtlichen Theologie entitanden. Seine deutſchen oder lateiniijhen Herameter können zugleih die Würde und Majeftät und den Wohllaut der Verſe wiedergeben, in melden er 5. B. die drei göttlichen Perſonen harakterifiert. Wer Hefiod oder Dante bewundert, der wird ihm noch mehr Bewunderung zollen müffen, da er von den Tiefen der Gottheit Dinge weiß, von denen der heidniſche Dichter feine Ahnung Hatte, fie aber mit einer Freiheit und Beftimmtheit behandelt, welde jene des großen. Ylorentinerd noch weit übertrifft. Erquidend und erhebend ift es ſchon, anftatt der dunkeln Rätjel der antiken Tragiker und der leichtfertigen Spielereien helleniſcher Mythologie, einmal das Lob des wahren, dreieinigen Gottes in der Sprache Homers zu vernehmen, tie in dem jhönen Hymnus „An Ehriftus“ : |

des Nicetas David ebd. XXXVII 681-842. Auswahl von Gedichten bei W. Christ et M. Paranikas, Anthologia graeca carminum christianorum, Lipsiae 1871, 23-832. Überfegungsproben bei Fortlage, Gejänge hriftlicher Vorzeit 13 23 279 280 297 341.

44

Drittes Kapitel.

Dich unſterblichen Monarchen

Laß mich fingen, laß mich preiſen,

Dich den König, dich den Herrſcher, Durch den Lied und Hymnen tönen, Durch den jaudhzt der Chor der Engel, Durch den fließt der Strom ber Zeiten, Durch den ftrahlt der Glanz ber Sonne, Durch den freift ber Lauf des Mondes, Durd) den glänzt die Pracht der Sterne, Durch den göttliches Erkennen

Ward zu teil dem hehren Menſchen,

Zu vernünft'gem Sein erkoren.

Denn du ſchufeſt alle Dinge,

Sekend Ziel und Orbnung jedem, Lenfend fie mit weiſer Vorſicht. Ausgeiproden, ward zur Tat bein Wort, dein Wort ift ber Sohn Gottes, Eins mit dir, desſelben Wefens, Gleihen Ruhmes mit bem Bater, Der das ganze All geordnet,

Um zu herrſchen als jein König, Während Gott der Geijt, der Heil’ge, Aller Wejen Kreis umfpannend,

Alle jorglich lenkt und leitet.

Did, lebend'ge Dreiheit, lieb’ ich, Einen, einzigen Monarden, Wanbellojes, ew'ges Wejen,

Bon Natur ganz unausſprechlich, Geift, der Weisheit unerreihbar, Nimmer ruh'nde Kraft der Himmel, Ohne Anfang, ohne Grenzen, Undurchdringlich hoher Lichtglanz, Der doch alles überichauet,

Dem verborgen feine Tiefe

Bon der Erde bis zum Abgrund.

Vater, jhenfe mir Erbarmen, Daß ich dir in allem dienend Immerdar Anbetung zolle. Waſche ab von mir bie Sünben, Zäutere mir dad Gewifien

Ganz von jedem böjen Sinnen, Auf daß ih die Gottheit preife, Hebend aufwärts reine Hände, Daß ih Ehriftus benebeie,

Und fniebeugend zu ihm flebe, Daß er mid zum Knecht erfüre, Menn du einftens naht als König.

Gregorius von Nazianz. Johannes Ehryioftomus. 45

Vater, jchenfe mir Erbarnen, Laß mid Hilfe, Gnade finden, Daß dir Ruhm und Dank ertöne Bis in Zeiten ohne Ende!

Sn der Begrenzung der einzelnen Stoffe iſt freilich die theologiſche Schablone nit abgeftreift, und jo nehmen ſich dieje „dogmatiſchen“ Gedichte allerdings auf den erſten Blid aus wie verfifizierte theologiſche Traktate. Das ift auch bei den „moralifhen“ der Fall, und da hier noch eine gewiffe orien- talifche Breite und Weitjhweifigfeit hinzutommt, die längften in Herametern oder jambiſchen Trimetern verfaßt find, jo mag andauernde Leſung derjelben leicht ermüden. Dennoch pulfiert in denfelben eine wahre und mächtige Begeifterung, und wer fi auf feinen Standpunft zu erſchwingen vermag, dag die KHriftlihe Jungfräulichkeit ein unendlih höheres deal ift als alle heidniſche Erotif, der wird in feinem langen Gedichte „Von der Yung: fräulichkeit” (e3 zählt 732 Herameter) viel Schönes finden, zumal er darin auch der ehelihen Liebe im Sinne des Chriftentums ganz und voll gerecht wird. Gerade die Stelle, wo er beide einander gegenüberftellt, mag als charakteriſtiſche Probe dienen:

Wie wenn der Dialer zu dem Engelbild,

Das, Schuldbeladne tröftend, licht und mild, Uns lächeln fol aus dunfler Kerferwand,

Den Plan entwirft mit funftgeübter Hand:

Er zieht erft Striche, zeichnet grau in grau

Den Schattenriß zum leichten Gliederbau,

Bis dieſer endlich fi dem Wuſt entwinbet

Und der Geftaltung Müh’ in Huld verihwinbet:

So nad dem erften Spruch vom Weibesſamen, An deſſen wunder Ferſe fih der Wurm Verbluten jollte; jo ald no im Sturm

Der Herr erihien und vom erfehnten Namen In Stein gefhrieben dunkle Rätſel lamen: Da war nicht mehr, da war noch nicht geehrt Die reine Magdſchaft; wenige vernahmen

Bon ihrer Spur, bis fi ihr Bild verflärt.

Bis Gottes Sohn in einer Jungfrau Schoß Die, unberührt von aller Knechtſchaft Los,

Nicht aus des Mannes Willen Mutter ward Gemwohnt und fi ben Kleinen offenbart.

In Ave wandelt ba fih Evas Leib,

Dem Machtgebote weicht der Hölle Neid, Empörten Sinnen ift die Kraft genommen,

In ftarrer Schrift bes Geiftes Licht entglommen.

Nun ftrahlet unverweltter Jugend Hulb Gelöft und löſend von den eiteln Schatten,

Drittes Kapitel.

Womit die Welt fih täufcht ob arger Schuld, So hoch erhoben ob dem Los ber Gatten, Wie fih der Geift über das Fleiſch erhebt, Der Sterne Chor die Erbe überjchwebt,

Wie Gott und der Beftand in feiner Minne Mehr gilt, als, was er fhuf, daß es zerrinne.

Und um bie Königin drängt fi ein Chor Bon Himmelsbräuten, bie zu Gott empor

Dem Lamm anbetend folgen, ihm vermählet Unter bem Kreuz, das neu bie Welt bejeelet. Sie find geftorben allem, was vergeht,

Und leben ihm nur, der, im Lichte thronend, In ihnen fpiegelnd zeigt, was fortbejteht:

Sie jelbft in Gott und Gott in ihnen wohnend,.

Herbei nun ihr, die ihr von Gattenliebe Bezaubert, ftolz im Jod, mit trunfnem Blid An goldner Kette folgt dem Herzensdiebe,

Für Ebdelftein’ ein edleres Geihid

Zum Opfer bringt dem Reiz unedler Triebe,

In Samt gehüllt das ſchwellende Genid:

So rühmt uns denn des Eh’bunds Herrlicfeiten, Dann joll die freie Reine mit euch ftreiten.

„So hört uns alle denn, die ihr das Leben Der Macht verdankt, die Eins in Zweien ſchuf; Hör’ jeder, dem Berftand und Sinn gegeben Für der Natur geheimnisvollen Ruf!

Heißt ung nicht übermütig wiberftreben

Der Merdeluft, Die des Geſchlechts Beruf!

Dem Schöpferwort ift diefer Bund entjprungen, Als Adams Seit’ die Männin fi entrungen.

„Und wer erfand wohl Kunft und Wiſſenſchaft?

Wer ſchloß die Tiefen auf der Forſcherkraft

Zum reihen Schoß ber Erde, zu bem Meer

Und zu der weiten Himmel fichtem Heer?

Wer gründet Städte, füllt den Markt, den Saal, Spannt Segel, treibt zur Schlaht und lodt zum Mahl? Wer Ientt den Pflug, wer lenkt der Menſchen Herde, Der nicht Gejeß und Recht entliehn vom Herde?

„Unb höher hebet fi} ber Liebe Ruhm

In des Gemütes ftillem Heiligtum,

Da fühlet ſich gedoppelt jede Kraft,

Ya Freundeshand befreit aus Feindeshaft, Des Raumes Barın gelöft für Aug’ und Ohr Und doch in ſichrer Hut der Sinne Tor; Mitleid verfüht und mildert alle Veiden, Mitfreude mäßigt und erhöht die Freuden.

Gregorius von Nazianz. Johannes Chryjoftomus. 47

„Und höher hebt fi) noch der Liebe Ruhm, Wie fie ung eint in Gottes Heiligtum.

Wer ſich allein lebt, heget fein Verlangen Nach immer neuer Hilfe; wenig danft

Dem Geber er; indes das Herz im Bangen Um Kind und Gatte brünftig aufwärts ranft, Und in der Zwei und Dreien Mitte weilet, Der dem Gebete Kraft und Lohn erteilet.

„Was ift das Leben ohne Liebesluft ?

Gefühllos, träge, kalt, ja rauh und wild,

Co jchleiht und fhweift der Sonberling; fein Schild Dedt heißer Jugend, matten Alters Bruft;

Des Dafeins jelber wird fi faum bewußt,

Wem nicht entgegenladt fein Spiegelbild.

Wie wär’ möglich, fich bes Lebens freuen

Und freunblos doc des Lebens Wurzel ſcheuen?

„Do ift vielleicht des Selbentumes bar

Die Eh’? Sie liebt und ſucht nicht die Gefahr, Do zeugt fie Helden. Wilder Riejen Leib Gebar die Erd’ allein; das keuſche Weib

Erzieht in Ehren hoher Männer Mut.

Bom Weibe ftammt, was groß ifl und was gut: So Moſes, Samuel, David, die Propheten,

Die Starken all’ in Kämpfen, Lehren, Beten.

„Wie ehrte Ealomon ber Mutter Thron!

Bar nidt Elias eines Weibes Sohn?

Wuchs nicht im mütterlihen Schuß Johannes? Woher die Zwölf? und bes gewalt'gen Mannes Bon Zarios Flammenjhwert? und woher wir, Und die ihr euch des Urſprungs ſchämet, ihr? Wollt einfam ihr, den Eltern ungleich, fterben,

So nennt doch danfbar euch der Eltern Erben!”

Genug! So komme nun bie ſcheue Maid, Um fieggewohnt zu jchlichten dieſen Streit! Barfuh, in dunklem, ärmlihem Gewand,

Den Blick gejenkt, die Wangen fonnverbrannt, Nur leicht gerötet jet von heil’ger Scham So tritt fie, ftummberedt, ein wunderjam Gebild von Kraft und Schwäche, zarter Sitte Und Mut, bedächtig ernft in unfre Mitte,

„Des Himmels Kind, im ew’gen Heiligtume

Dem Engelchor gejellt und do zum Ruhme

Der Erdbewohner noch im Fleiſche weilend

Und armer Pilger Leib in Hulden teilend:

Dein Knecht bin ich, dir weih’ ich Herz und Hand!" Sie hört’s und ſpricht mir freundlich zugewandt:

48 Drittes Kapitel.

„Wozu mich ftören aus bem ftillen Trieben, Den mein Gemahl, der Friedensfürſt, beichieben ?

„Ihm bien’ ich fern der Welt und ihrer Pradt, Ihm weine, büße, fing’ ih Tag und Nacht. Im Wortgefechte mag ein Kind mich meiftern, Für Markt und Bühne fi der Tor begeiftern! Eind’s Ehren, was bie eitle Menge ſchenkt?

It Net, was fih nad jedem Hauche ſchwenkt? Mir gilt nur eins: in ew’ger Wahrheit Sonne Gott liebend nahn zu ew’ger Sllarheit Wonne.“ !

Wer möchte nicht nach all den verfänglichen Liedern hellenifher und römischer Erotik diefe neuen Attorde willlommen heißen, welde die Würde treuer Gattenliebe Schöner verherrlien, als fie ein antifer Dichter befungen bat, zugleih aber jene reinfte Minne feiern, welche das Herz mit nichts Geſchöpflichem teilt, fondern einzig und allein dem Quell aller Liebe, Gott ſelbſt, ſich hingibt? Und diefer erſte Frühling chriſtlichen Minnefangs nur ein paar Jahrzehnte nahdem Julian den Kult des alten Olymps berftellen wollte! Ein Mitjhüler Julians felbft Hat dieſes Loblied der wahren Minne angeftimmt.

Auch die biographiichen Gedichte des großen Kirchenfürſten, Theologen und Möndes haben manches Feſſelnde, wenn man fi in jeine Zeit verhältniffe zurüdverfegt. Als ihn Parteiränte im Jahre 381 nötigten, auf den Patriarchenſtuhl von Konftantinopel und den Vorſitz des zweiten all: gemeinen Konzils zu verzichten, widmete er den Bilhöfen und der Stadt das folgende Abſchiedsgedicht:

O ihr Prieſter, die ihr unblutige Opfer nur darbringt, Die ihr den einigen Gott in der Dreifaltigkeit ehrt! O ihr Geſetze, ihr Kaiſer, ber lauterſten Frömmigkeit Lichter! Du auch, des glorreichen Manns, Konftantins, herrliche Stadt! Romas Erbin, jo glanzvoll die Städte der Welt überftrahlend, Wie fternflimmernd der Dom Gottes die Erb’ überftrahlt! Höret, o hört mich, ihr Edlen: was hat nur der Neib mir bereitet? Warum vertrieb er mid, fern von der geheiligten Schar

ı Hapdeving Erarog (In laudem virginitatis) ®. 189— 367 (Migne, Patr. gr. XXXVII 537—550), frei in Stangen bearbeitet von (Kardinal) 3. 9. Newman, Die Kirche der Väter (deutih von J. Kayjer, Köln 1859) 108—111. Einzelne Stellen find verfürzt, anbere erweitert und paraphrafiert; mit Recht jagt indes New- man: „Ih muß aber den Leſer au hier vor der Meinung warnen, meine Über ſetzungsverſuche könnten ihm eine richtige Vorftellung von Gregors Dichtungen geben. Sollte man mir aber einwenden, daß ich dann dem Dichter unrecht tue, jo antworte ih, dab ich das Original in meinen Verfen wenigftens ebenfo treu wiedergebe, als wenn ich eine genaue Überfegung desjelben in Proſa machen wollte.“

Gregorius von Nazianz. Johannes Chryioftomus. 49

Gläubiger Söhne, nachdem ih fo lange gefämpit und bes Himmels Lehren erleuchtet, dem Fels lautere Quellen entlodt? Soll ih zum Lohne nun Schreden und bittered Drangfal erbulden, Weil aus der Irr' ih das Volk führt’ auf die Wege des Heils? Soll fih ein andrer nım weiden an dem, was ich ſchuldlos verloren, Stürmiſch befteigen ben Thron, der ihm mit nichten gebührt, Den ich allein nad Gottes und feiner erforenen Diener Willen befaß? O zur Qual find mir die Ainechte bes Herren, Die, in unfeligem Hader einanber befämpfend, an mir num Feindlihe Unbill verübt; Chriftus, dir fei es geklagt! Denn nicht kämpft' ich vermeflen ben Kampf einer einzelnen Rotte, Auch nichts Irdiſches ging fiber den Heiland mir je. Nein, als Verbreden nun gilt’s, daß ich nicht, wie andere wohl, abfiel, Nicht wie der Nahen mid hing an das befraditete Schiff. Darob ward ich verhaßt leichtfertigen Seelen, die ſchmählich Jetzt auf den heiligen Thron feßten die Freunde der Zeit. Aber dies bede Hinfort der Vergeſſenheit Schoß. Ach entweidhe Froh aus dem Haber der Welt jeht in bes Friedens Aſyl. Wilfig entjag’ ich dem Hof und ber Stadt und ber Priefter Gemeinſchaft, Allen zumal, wie ih felbft mir es vor Jahren eriehnt, Als der Allmädtige mich jo in nächtigen Träumen berufen Wie in bes wogenden Meers furdtbar erbraufendem Sturm. Darum nun jubelt mein Herz, vor den Neidern geborgen, und freudig Werf' ih nah ftürmiiher Fahrt Anker im jhimmernden Port. Jetzt erſt erheb’ ich den Geift in lauterm, beſchaulichem Sinnen, Bringe mein Schweigen, wie einft Worte, ald Opfer dem Seren. Alfo lauten die Worte Gregord des Nazianzeners: Für feinen Heiland und Herrn tat er auf alles Berzicht '.

Se weniger im ganzen die herrjchende Zeitrihtung mit ihrer ftarf rhetoriſchen Färbung, ihren theologiihen Kämpfen und Streitigkeiten, ihrer materiellen Überfultue die Poeſie begünftigte, defto mehr Gelegenheit zur Entwidlung bot fie der religiöjen Beredfamfeit, und diefe hat an all den bereit3 erwähnten Kirchenlehrern ziemlich hervorragende Vertreter gefunden, bejonders an Gregorius dem Theologen. Noch größeren Ruhm auf dieſem Gebiet erwarb ſich aber einer feiner Nachfolger auf dem Patriardhenftuhl von Konftantinopel: Johannes, wegen jeiner Beredjamfeit der „Goldmund“ (Chrysostomus) zubenannt. Soweit fih die politifche oder panegyriiche Rede der Antifen mit der hrifllihen Rede vergleichen läßt, fteht derjelbe faum hinter einem Demofthenes oder Iſokrates zurüd. Die Erklärung religiöfer Myſterien, die Deutung mehr oder weniger dunkler Schriftterte, die An: wendung der höchften übernatürlihen Grundſätze auf die Fragen des Alltags: lebens ftellen aber dem Redner ſchon eine ganz andere Aufgabe, ala fie der

ı Ipös tobs tus Awvoravrıwourilsws tspdag zal abrhy Tyv zoiw (Carm. lib. 2, sect. 1, 10; Migne, Patr. gr. XXXVII 1027). überſetzt von Abd. Elliſſen, Verſuch einer Polyglotte I, Leipzig 1846, 178 ff.

Baumgartwer, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 4

50 Drittes Kapitel.

politiiche oder fonftige profane Redner je zu löſen hat, und vollends die Anforderung, das von irdiſchen Gelüften und Neigungen befangene Menſchen— herz durch die ganze Stufenleiter der Gefühle aus jeiner Indolenz oder aus jeinem MWiderfireben aufzurütteln und den Willen zum Höchſten und Idealſten zu entflammen, läßt ſich faum mit der Anwaltſchaft einer politiichen oder gerichtlihen Frage vergleihen. Der geiftlihe Redner muß fat beftändig die bedeutjamften philofophiihen Fragen ftreifen und fie mit praftiihen Zielen in Verbindung ſetzen, die nüchternſten Wahrheiten rationell begründen und Hinwieder mit dem höchſten Zauber der Poeſie und einer von allen Schladen geläuterten Leidenſchaft bejeelen. Das Bibelwort jelbft, jeine mächtigſte Waffe, macht den Kriftlihen Redner vielfah zum Propheten und Dichter, ohne daß fih die Dichtung dabei zum jelbftändigen Kunſtwerk entfalten fann.

In diefem Sinne gehört auh Johannes Ehryſoſtomus einiger: maßen der Literatur an, der wortgewaltigite Prediger der griehiichen Kanzel. Seine Werke (griehiih und lateinisch) füllen in der Ausgabe Montfaucons dreizehn große Foliobände.

Von Geburt an war er eigentlih Syrer, von reicher und angejehener Familie (344) in Antiodhien geboren. In feiner Ausbildung wirkten diejelben drei Elemente zujanımen wie bei Baſilius dem Großen: erftlih eine tief: religiöfe Erziehung durch jeine Fromme Mutter Anthuſa, wodurch die hriftlihe Wahrheit die tiefften Wurzeln in jeiner Seele ſchlug; dann eine vorzüglihe profane Schulung in Literatur und Philojophie durch den Rhetor Libanius, den Verteidiger des finfenden Heidentums, und den Philoſophen Andragathius; endlih die Schule ernfter und ftrenger Mönchsaskeſe in jehsjähriger völliger Abgeihiedenheit (375— 381), nahden er ſchon zuvor längere Zeit im Elternhaufe das Leben eines Einfiedlers geführt Hatte. So wurden die religiöfen Ideen des Chriftentums die eigentlihe Seele jeines Lebens, die klaſſiſche Bildung, melde fein Lehrer Libanius bewundert, zum lebendigen Mittel und zur fruchtreichen Ausftattung feines apoftolifchen Berufes. Denn troß langen Widerftrebens und zeitweiliger Flucht, zu deren Rechtfertigung er die herrlichen jehs Bücher vom Prieſtertum! jchrieb, ließ er ſich 381 zum Priefter weihen und unterftüßte feinen Biſchof Flavian Haupt- jählih dur jein Wirken als Kanzelredner. Aus den jechzehn Jahren diejes Wirken? ftammen die meiften und berühmteften feiner geiftlihen Reden, die fih in der Form der Homilie fait jämtlih der Heiligen Schrift anſchließen und nahezu alle Bücher des Alten und Neuen Teftamentes erklären. Im Gegenjag zu andern Vätern, die mit Vorliebe den myſtiſchen Sinn ber Schrift behandeln, geht er meift vom nädjftliegenden, buchſtäblichen Literalfinn

ı Nicht ſechs „Reden“, wie Chriſt meint (Geichichte der griechiſchen Lite: ratur? 905).

Gregorins von Nazianz. Johannes Chryſoſtomus. 51

aus und knüpft daran feine oft in den erhabenjten Schwung ausflingenden Be: trahtungen und Ausführungen. Am meiften Bewunderung fanden die Homilien über die Pſalmen und über den Römerbrief. „Namentlih“, jagt Iſidor von Peluſium, „in der Erklärung des Briefes an die Römer ift des gelehrten Johannes Weisheit in Schägen aufgehäuft. Ich meine nämlich (und niemand glaube, ich redete jemand zu Gefallen), wenn der göttlihe Paulus fich jelbft in attiiher Sprade hätte erklären wollen, jo würde er nicht anders erklärt haben, als jener berühmte Meifter es getan. So jehr zeichnet ſich jeine Erklärung ſowohl durd den Inhalt als die jchöne Form und den treffenden Ausdrud aus,“

Sein Ruf drang in weite Ferne. Er wurde 397 auf den Patriarhenftuhl nad Konftantinopel berufen und bewährte feinen Ruf durch die Macht feines Wortes wie duch fein oberhirtliches Wirken. Sein glühender Eifer, die Mipftände zu heben, welche unter dem Klerus der Hauptitadt malteten, erwedte ihm indes bittere Gegnerihaft, und jeine Feinde wußten auch den Hof gegen ihn zu flimmen. Schon 403 ward er durd) eine vom Hofe berufene Bifchofsverfammlung (die fog. Eichenſynode) jeiner Würde entjebt, mit Rückſicht auf feine Beliebtheit beim Volke zwar bald wieder zurüdberufen, aber auf Beranlaffung der Kaiſerin Eudoria, die feinen Freimut nicht zu ertragen vermochte, am Karjamstag 404 bewafinet aus jeiner Kathedrale vertrieben, dann aus der Stadt verbannt. Sein übrige: Leben war das Martyrium eines vielgequälten Verbannten. Von Antiohia ward er auf fatlerlihe Ordre nah Pityus an das Oftufer des Schwarzen Meeres geſchleppt, erlag aber jeinen Mühſalen jhon zu Gomana in Pontus am 14. Sep: tember 407.

Auch an Chryſoſtomus betont Humboldt! das tiefe, liebevolle Natur: gefühl, das mit einer religiöjen Auffaffung der Natur als Verherrlihung Gottes Hand in Hand geht. Er führt dafür eine Außerung an, welche ſich in den Homilien häufig wiederfindet:

„Sieht du ſchimmernde Gebäude, will dich der Anblid der Säulengänge ver- führen, jo betrachte fchnell das Himmelögewölbe und bie freien Felder, im melden die Herden am Ufer ber Seen weiden. Wer verachtet nicht alle Schöpfungen ber Kunft, wenn er in ber Stille bes Herzens früh die aufgehende Sonne bewundert, in— dem fie ihr goldenes (frofosgelbes) Licht über den Erdfreis gieht; wenn er, an einer

Duelle im tiefen Grafe oder unter dem dunfeln Schatten dihtbelaubter Bäume ruhend, fein Auge weidet an der weiten, bämmernb hinſchwindenden fFerne ?” ?

Der Gegenjag zwiſchen Natur und Kunſt ift aber nicht, wie Humboldt andeutet, als Treindjeligkeit gegen die Kunſt überhaupt aufzufaffen, jondern nur als folhe gegen den Mißbrauch der Kunst durch heidniſche Üppigkeit,

Kosmos II 30. ®?S. Ioan. Chrys, Opp., Paris. 1838, IX 687; II 821 851; 1 79. 4”

52 Biertes Kapitel. Synefius.

Luxus und Entartung, wie er als Hindernis dem Ghriftentum entgegenjtand und von deſſen Verkfündern notwendig befämpft werden mußte. Im übrigen zeigt. der gewaltige Redner für den Menſchen, fein Streben und Ringen, jein Sinnen und Tradten, für alle Stände und Verhältniſſe, für das Erhabene und Große wie für das Kleine und Unſcheinbare ein ebenſo ver— fändnisvolles, liebendes Herz wie für die Natur. Er ſchaut und ſchildert alles mit der friichen Lebendigkeit und Beweglichleit des Hellenen ; aber zum höchften, hinreißendſten Pathos erhebt ſich feine Rede erft, wo die größten Lebensfragen in Betracht fommen, welche die Tragifer nit zu löjen ber- mochten, welche aber das Kreuz des Welterlöferd bald im milden Lichte von Bethlehem, bald im Blitesglanz des MWeltgerichtes oder im en des Paradiejes erleuchtet.

Viertes Napitel,

Spnefius.

Nachdem das Chriftentum fi ſchon jeit mehr als einem Jahrhundert in Alerandrien eingebürgert hatte, theologiihe Fragen und Kämpfe im Vordergrund des Intereſſes fanden, blühten dafelbft auch noch die viel- feitigen Profanftudien der helleniftiihen Zeit weiter und mit ihnen aud die frühere heidniſche Philoſophie. Der merkwürdigfte Repräjentant des UÜber— gangs diefer reife zum Chriftentum ift der PhHilofoph und Dichter Synefius!. Er murde —— den Jahren 370 und 375 zu Cyrene in der Pentapolis

ı Gefamtausgabe feiner Schriften von Dionyfius Petapvius, Paris 1612 1631 1633 1640, abgedrudt bei Migne, Patr. gr. LAVI, Paris. 1859 1864. Unvollftändige Gejamtausgabe von J. G. Krabinger, Landshut 1850. Die zehn Hymnen, herausgeg. von: 3. F. Boiſſonade (Poetarum graec. sylloge XV, Paris. 1825, 97—160), W. Chrift und M. Paranifas (Anthol. graec. carm. christ., Lips. 1871, ıx—xır 8—23), J. Flach, Tübingen 1375. Die Briefe bei R. Hercher, Epistolographi graeci, Paris. 1873, 638—739. Die Rede über das Königtum, deutfjh von J. G. Krabinger, Münden 1825; Das Lob der Kahlköpfigkeit, von bemf., Stuttgart 1834; Die Ägyptifhen Erzählungen, von demſ., Sulzbach 1835. Fr. &. Kraus, Studien über Synefiod von Kyrene (Theol. Quartalſchrift XLVII, Tübingen 1865, 381—448 537—600; XLVII [1866] 85—129). R. Volkmann, Synefius von Cyrene, Berlin 1869. H. Druon, Oeuvres de Synesius, précédées d’une &tude biographique et litteraire, Paris 1878. €. Gaifer, Des Synefius von Cyrene ägyptiſche Erzählungen, Wolfen: büttel 1886. D. Seed, Studien zu Synefios, im „Philologus* LII, Göttingen 1893, 442—483. A. Gardner, Synesius of Cyrene, philosopher and bishop, London 1886. ©. M. Dreves, Der Sänger der Kyrenaifa, in Stimmen aus Maria-Laach Lil (1897) 545—562 (mit Überjeßungsproben aus Hymnus I II V VIIXX).

Synefius, 53

geboren als Sohn einer Adelöfamilie, welhe ihren Stammbaum bis in die helleniſche Heldenſage, auf den Heratliden Eurpfthenes, hinaufdichtete. Zu Aerandrien führte ihn Hypatia, die gelehrte Tochter des Mathematiters Theon, in die neuplatoniſche Philofophie ein, für die er ſich lebhaft begeifterte und die er mit einem hoben, myſtiſchen Idealismus erfaßte. Hypatia aber verehrte er als Freundin zugleih, Schwefter und Mutter. Nicht minder pflegte er auch Poetik und Rhetorik, Mathematit, Phyſik und Aftronomie. Er muß früh zum glänzenden Redner herangereift fein. Denn die ſchwer bedrängten und ausgejogenen Städte der Pentapolid jandten ihn 397 nad Konftantinopel, um vom Kaifer Arcadius Schuß, Hilfe und Beiftand zu erflehen. Als Zeugnis des hohen Freimuts und der Tüchtigkeit, mit welcher er ſich jeines Auftrags entledigte, ift feine Rede, die er 399 vor dem Kaiſer hielt, noch erhalten!,. Einen der vornehmften Staatsbeamten, Päonius, gewann er durch das Geſchenk eines jilbernen Aftrolabiums, an dem Hypatia jelbjt gearbeitet hatte; die Begleitihrift, welche die vieljeitigften Kenntniſſe vorausfegt, ift ebenfalls no) vorhanden?. Allerlei Berhältnifie am Kaiferhof jhilderte er verfappt unter dem Mythos des Oſiris und Typhon mit dem Titel: „Ngyptifhe Erzählungen, oder über die Vorjehung.” 3 Erjt nad drei Jahren fehrte er in die Heimat zurüd, mit günftigen Ergebniffen für jeine Landsleute, deren Vertrauen und Achtung er in höchſtem Grade gewann. Ein Aufenthalt in Athen ließ ihm ſehr unbefriedigt, Dagegen nahm er feine Studien nohmal3 an der Seite Hypatiad in Alerandrien auf (402—404) und jeßte diejelben dann auf feinem Landſitz in Cyrene fort. Eine hriftliche Gattin, von welcher ex mehrere Kinder hatte, jcheint religiöfen Einfluß auf ihn gewonnen zu haben. Doc blieb er in heidniſchen Anfchauungen be- fangen und jchrieb ganz in der Art der früheren Alerandriner ein Gedicht „Über die Jagd“ * und ein „Lob der Kahlköpfigkeit“, Gegenftüd zu der Lobrede, welche Dio Chryjoftomus „auf die Haare“ gehalten Hatte, aud) eine ziemlih dunkle, jchwerverftändliche Abhandlung „Über die Träume“, welche fi) aber gegen den Schluß Hin nicht undeutlih als einen Angriff gegen die von der alttlaffiihen Poeſie und Tradition abgefallene, völlig jubjektiviftiiche Bielfchreiberei der Sophiften verrät. Alle diefe Schriften find noch von heidniſchem Geiſt getränft, doc nicht von jenem offiziellen Staats:

ı IIzpt Banssias (Migne, Patr. gr. LXVI 1053—1108). Mit großer Energie fordert er darin ben jugendlichen, verweichlichten Herrſcher auf, ſich aufzuraffen und die Barbaren, weldhe beftändig bie Sicherheit des Reiches bedrohten, von deſſen Grenzen zurückzudrängen.

2 rip roö dwpou derpolaßiov (Migne a. a. O. LXVI 1577—1588).

3 Alyixreor Ädyor # mept zpovolas (Migne a. a. O. LXVI 1209-1281).

* Kurnyarızd. Valazpas Eyrapıov. Ilspi dvursios. Die letztere Schrift trägt am meiften neuplatonifches Gepräge.

54 DViertes Kapitel.

gögendienft, den Kaiſer Julian wieder hatte zur Herrihaft bringen wollen, ſondern von jener theoſophiſchen Weisheit, welche die Schriften der Neu: platoniter beherrjchte und manche Ideen aus dem Alten und Neuen Teftament aufgenommen und ſynkretiſtiſch mit willfürlichen Spelulationen verihmolzen hatte. In feinen Schriften ift feine Spur von jener ernften Kenntnis der Heiligen Schriften, welche feit Klemens und Origenes den Wifjenstern der griechischen Kirchenlehrer ausmadte. Da ift feine Rede von Chriſtus und Er: löfung. Bon Gott wird nur gejproden, wie es bei den Neuplatonifern üblic) war. Statt der Apoftel und Propheten wurden tieder Homer und Pindar zitiert, ftatt bibliſcher Erzählung altgriehiihe Mythen und Anekdoten. Es begreift ſich, daß eine joldye geradezu heidniſche Renaiffance, Hundertundfünfzig Jahre nah dem Tode de3 Drigines, dreißig nad jenem des großen Atha- nafius, im chriſtlichen Alerandrien lauten Widerſpruch Herborrief.

Auh unter den Neuplatonifern waltete damals ſchon eine moftifch- philoſophiſche Richtung vor, welche die eigentlich helleniſche Bildung nicht begünftigte, vielmehr durch Enthaltfamteit, Lebensftrenge, asketiſche Übungen, Pieudompftif und Theurgie das Ghriftentum zurüdzudrängen ſuchte. Da fih unter die ägyptiichen Mönde, deren man damals viele Tauſende zählte, manche Unberufene einjhlihen, war aud das Ordensleben von der Blüte, die es unter Pahomius entfaltet hatte, bereit3 herabgejunten und mannig— fahen Mißbräuchen und Übertreibungen anheimgefallen.

Syneſius fleidete jeine Entgegnung in eine Lobſchrift auf den Rhetor Dio Chryſoſtomus. ALS feinen Widerpart ftellt er aber ſehr deutlih das Möndstum hin. „Ich Habe”, jagt er, „barbariſche Menſchen beiderlei Gejhlehts aus den vornehmften Familien kennen gelernt, welche ſich zur religiöfen Beihauung bekannten und fi darum von aller bürgerlichen Ge: meinshaft und Verwaltung unter den Menjchen trennten, indem fie glühend verlangten, fi von der Natur loszumaden; fie hatten feierliche Gelänge und heilige Zeichen und gewiffe Annäherungsmittel an das Göttliche. Das alfes jchneidet fie ab von der Hinwendung zur Materie, und fie leben ab— gejondert voneinander, um nichts Angenehmes zu jehen oder zu hören.

„Und fie efien fein Brot, noch trinken fie funfelnde Weine.“ !

Indem er num die Sade jo hinftellt, al& wollten die hriftlihen Asketen fih jchon hienieden völlig von der Natur losmachen und ein rein geiftiges, in Gott verfuntenes Leben führen, wigelt er in launiger Weife darüber, daß fie das doch nicht zuftande brädten, die wenigften ſich an der geiftigen Schönheit erjättigten, und ſelbſt diefe ſchließlich nicht unausgejeßt mit gött- lichen Dingen fi befaffen könnten und deshalb, um den Müßiggang zu

I Im H repi vis za kauröv draywyäs ec. (Migne, Patr. gr. LXVI 11297).

Synefius, 55

meiden, zu Korb: und Mattenfledhten ihre Zuflucht nähmen, ſich daran er- bolten und erluftigten und ſich jogar daran erfreuten, die ſchönſten Körbe und Matten zu liefern. Er gibt num zu, daß die Barbaren, d. h. die Nicht- Griechen, mehr Feſtigleit und Standhaftigfeit beſitzen als die Griechen, welche, mit feineren Eitten und janfterem Charakter ausgeftattet, leichter in etiwas nadhlaffen. Aber auf eben jenes Bedürfnis der Erholung und Abipannung, das die leiblihe Natur jelbft den Mönchen auferlegt, gründet er feine For— derung einer höheren literariichen und profanen Bildung,

„Ich wünſchte vecht fehr“, fagte er, „es läge in unferer Natur, beftändig geiftiger Beihauung obzuliegen. Da das aber erwiejenermahen unmöglich ift, jo möchte ich mi bald mit ben beften Dingen beichäftigen, bald zur Natur herabfteigend mir einige Erheiterung verſchaffen und das Leben mit Frohmut würzen. Denn ich weiß, daß ich ein Menſch bin und kein Gott, jo daß ich für jedes Vergnügen fühllos wäre, noch ein Zier, dab ich die Freuden bes Leibes fuchte. Wir müfjen alfo etwas in der Mitte Suchen. Was kann das fein, als die Erholung an wiflenfhaftlicher Bil— dung und durch willenfchaftliche Bildung? Welche Freude ift reiner? Welche Leiden- ſchaft Teidenfchaftlofer, welche immaterieller, welche matellojer? Bon diefer Seite hin- wieber ziehe ich den Hellenen dem Barbaren vor und halte ihn für weiſer, weil er, wo man ſich einmal herablaffen muß, gleich in der Nachbarſchaft innehält; denn er hält in der Wiffenihaft inne. Die Wiſſenſchaft aber ift ein Ererzitium des Ver— ftandes: fie geht von einem Begriff zum andern über, von demjenigen, von dem fie ausgegangen. Was fteht aber dem Geifte näher als ber Begriff, und welches Fahr: zeug ift ihm paflender? Denn wo immer der Begriff, da ift auch der Geift; wo nicht, Doc irgend ein Erkennen untergeordneter Art, Denn aud hier werden einige untergeordnete Tätigkeiten bes Geiftes Beihauung und beſchauliche Erfenntniffe (Theorie und Theoremata) genannt, wie Rhetorik, Poetif, Phyſik und Dtathematik. Alles dieſes vervollkommnet jenes (geiftige) Auge, heilt die Triefäugigfeit, und indem es den Geift an das finnlih Wahrnehmbare gewöhnt, regt es ihn an, jo daß er fi an höhere Beihauung heranwagt und nicht mehr leicht blinzelt, auch wenn er in bie Sonne haut. So übt der Grieche, auch wo er fich erluftigt, feine Geiftesfraft und zieht aus dem Spiele Gewinn für feinen Hauptzwed. Denn eine Rebe oder ein Ge- dicht beurteilen oder verfaflen, wäre das dem Geiſte fremb? Und den Ausdrud ver- beffern und bdrechieln und den Hauptſatz herausfinden und eine Dispofition anlegen oder die Anordnung eines andern herausfennen, wie wären das Lappalien und Spielereien? Diejenigen aber, welde den andern Weg wandeln, welder als ber ‚diamantene‘ gilt (und es foll zugegeben werden, daß einige tatjählih jo zum Biel gelangen), fcheinen mir eigentlich gar feinen Weg zu gehen. Denn wie künnte das ein Weg fein, auf dem fich kein ftufenmäßiger Fortſchritt, nichts Erftes und nichts Zweites und gar feine Ordnung zeigt ?* !

Das Hört fih ganz jhön an und entjpridht ungefähr der Stellung, welche Baſilius dem Studium der heidnifchen Klaſſiker in feiner erwähnten Rede anweiſt. Bei Synefius orbnet fi) jedoch die formelle Bildung nicht der chriſtlichen Wiſſenſchaft, fondern nur der neuplatoniſchen Philoſophie

AMigne a. a. O. LXVI 1133.

56 Viertes Kapitel,

unter, Der PhHilofopgin Hypatia, welcher er die Schrift vor deren Ber: öffentlihung zur Einſicht zufandte, jchrieb er in dem Begleitbrief:

„I Habe biefes Jahr zwei Bücher verfaht, eines durch Gott, das andere durch die Läfterungen ber Menſchen angeregt. Denn einige von den Leuten, bie in weißen, und andere, die in Ihwarzbraunen Gewanben einhergehen, behaupten, ich fündige gegen die Philofophie, weil ih im Ausdbrud Schönheit und Rhythmus fuche und den Homer erwähne und die rhetorifchen Figuren; als ob ein Philofoph ein Wortfeind fein und fi nur mit göttlihen Dingen beſchäftigen ſollte. Sie find freilih Beſchauer des Intelligibeln; mir aber wird es ſchon als Unrecht angerechnet, wenn ich mir von meiner Lebenszeit au nur etwas Muße nehme, die Sprade zu läutern und ben Geist aufzubeitern. Zu der Behauptung aber, ich fei nur zu Kindereien tauglich, wurden fie dadurch angetrieben, daß mein Gedicht von der Jagd, id weiß nicht wie, über mein Haus hinausgedrungen ift und ganz befonders einige junge Beute eifrig beihäftigt hat, denen Hellenentum und Anmut am Herzen Tiegt; dasjelbe beſitzt auch einige Torgfältig nach ber Poetif gearbeitete Züge, welche die alte Hand verraten, wie wir von den Statuen zu jagen pflegen. Doch einige unter jenen, bei welchen die Unwiſſenheit noch den Vortritt vor der Dreiftigfeit hat, find vor allen allzeit am meiften bereit, über Gott zu reden. Wenn du ihnen begegneft, wirft du alsbald Syllogismen über Dinge hören, die in feinen Syllogismus gehören, und Leute, bie es nicht be- gehren, überſchwemmen fie mit Neben, weil ihnen, wie mir fcheint, Vorteil daraus erwählt. Denn aus biejen Leuten gehen die Lehrer des Volles hervor, was ebenjo- viel bedeutet als das Füllhorn Amaltheas, von dem jene Gebrauch madhen zu müſſen glauben. Du erfennft, denke ich, leicht dieſes Geflecht, welches edleres Streben verleumbdet.* !

Es jpriht aus diefen Worten ſchon einige Gereiztheit und bittere Eatire. Doch Handelt es ſich dabei ficher nit um den Gegenſatz heidniſcher und chriſtlicher Bildung, jondern vielmehr um denjenigen helleniiher Schön— geifterei und einer mehr asfetiich-theologiihen Richtung, welche ſowohl die Philoſophie Platons als auch Poefie und Rhetorik geringſchätzig behandelte. Eine jolhe Richtung, oder wenigftens einzelne, die einer ſolchen Huldigten, hat e3 außerhalb und innerhalb der Kirche faft immer gegeben; fie ift durdaus nicht als Postulat kirchlicher Gefinnung zu betradhten, wie das Beijpiel der großen Kirchenlehrer zeig. Es ift recht wohl möglid, daß die MWiderfadher des Synefius nicht$ weniger ald „Diamantene”“ in der Art eines Origenes waren.

Jrreligiös war Syneſius durchaus nicht. Er ſpricht oft und mit ge ziemender Ehrfurdt von Gott und der göttlihen Weltregierung. Eine der ihönften Stellen in der Rede „Über das Königtum“ ift diejenige, wo er dem Kaiſer das göttliche Walten als Vorbild der irdiſchen Herricher Hinftellt. Während feiner Gejandtihaft befuchte er alle Kirchen Konftantinopels, um jein Anliegen Gott anzuempfehlen. Seine Ehe ließ er von dem Patriardhen Theophilus einjegnen.

! Epist. 155 (Migne, Patr. gr. LXVI 15583).

Syneſius. 57

Bei dem Volle von Cyrene genoß er das höchſte Anſehen. Als deshalb 409 der Bilhofsfig von Ptolemais, zugleih Metropolitanfig für die Pentapolis, verwaift war, wurde er dom Klerus und Bolt zum Biſchof verlangt. Wie er in einem Briefe an feinen Bruder Euoptius ſchreibt, wünjchte er um jeden Preis die Würde abzulehnen und wie bisher ihlihter Laie zu bleiben. Vielleiht um dies zu erwirfen, ließ er dem Batriarhen durch jeinen Bruder Forderungen jtellen, die nad bisheriger firhliher Praris mit der Übernahme der Würde unvereinbar waren. Er verlangte mit feiner Gattin auch fürder zufammenzuleben und ließ Theophilus daran erinnern, daß er jelbit fie ihm angetraut. Ferner begehrte er, bei feinen bisherigen philoſophiſchen Anſchauungen zu verharren, 3. B. daß die Seele Ihon lange vor dem Körper beitehe, daß die fichtbare Welt nicht zu Grunde gehen könne, dab die Auferftehung der Leiber nur allegoriich zu faffen jei. Nach Photius war dies von ihm wirklich erntlid gemeint. Da er aber ein ehrliher und tüchtiger Mann war, jo zweifelte Theophilus nicht, jeine philojophiihen Bedenten und Zweifel würden bald dem Lichte der Wahrheit weihen, und erteilte ihm die bilchöflihe Weihel. In der Tat fand er ſich nicht getäuſcht. Synefius umfing vollftändig den kirchlichen Glauben und erwies ſich al3 einen ganz trefflichen Oberhirten. Doch dauerte jein Wirken nicht lange. Schon nad vier Jahren (413) hören alle Nach— rihten über ihn auf, und man nimmt darum an, dab er um dieje Zeit geftorben. Den jehredlihen Tod der „gottgeliebten” Hypatia, die 415 in einem Boltsauflauf gefteinigt und in Stüde zerriffen wurbe, erlebte er nicht mehr.

Aus der kurzen Zeit, da er erflärter Chriſt und Biſchof war, ift nicht viel von ihm erhalten, zwei Homilien in jehr fragmentariihem Zuftand, zwei ihöne Reden, eine über den Einfall der Barbaren in die Bentapolis (411) und eine zum Lobe des kaiferlihen Präfekten Anyfius, und endlich eine Anzahl Briefe, welche feine firhliche Gefinnung, feine demütige Unterordnung unter den Patriarchen Theophilus, Hohe Verehrung für den Hl. Johannes Chryſoſtomus, die Hingebendfte Hirtenforgfalt für die ihm andertrauten Seelen inmitten der ſchrecklichſten Kriegsunruhen und Prüfungen aller Art befunden.

Den merfwürdigften Teil feines literariichen Nadjlaffes bilden überhaupt feine Briefe (155 an der Zahl), das einzige größere Denkmal, das von den damaligen Verhältniffen der Pentapolis Hunde gibt, zugleih das wichtigfte Atenftüd über jein Leben, ein jprechendes Bild jeines lebhaften, reichen,

! Die wahrjheinlihfte Erklärung über jeine jhließlihe Erhebung zum Biſchof gibt J. A. Kleffner, Art. „Synefius" in Wetzer und Weltes Kirchenlexikon XI*®, Freiburg 1899, 1108—1117.

8 Vierted Kapitel.

feingebildeten, allerdings mehr künſtleriſch und myſtiſch als ftreng philoſophiſch und theologiſch angelegten Geiſtes. Er war ein echter Hellene, und wie chriſtliche Einflüffe die guten Seiten des Hellenismus feineswegs unterdrüdten, . Jondern hoben und veredelten, zeigt ſich vielfach in feinen übrigen Schriften; am meiften tritt dies aber in den zehn Hymnen hervor, die er ala ein zu: ſammengehöriges Ganzes hinterlaſſen hat!.

Dieſelben find in doriihem Dialekt abgefaßt, aber nicht in doriihen Rhythmen, ſondern in anafreontiihen Bersmaßen (1 2), anapäftiidhen Monometern (3 4 10), ioniſchen Trimetern (7), logaödiſchen Berjen (7 8 9). Über ihren veligiöfen Gehalt wie ihren äfthetifchen Wert gehen die Anfichten weit auseinander. Die Urſache dieſer Verſchiedenheit liegt zumeist darin, dab fih in den zehn Hymnen neuplatonifche und dhriftliche An— Ihauungen in verfchiedenem Grade miſchen. So war e3 möglich, daß einige fie jämtlih für hriftlih, andere fie faſt ausnahmslos für platoniſch, wieder andere zum Zeil für Hriftlih, zum Zeil für platonifch erklärten. Eine haarſcharfe Gruppierung ift ſchon deshalb nicht möglich, weil äußere Anhalts: punfte fehlen; nad inneren Momenten fönnen dagegen wohl die bier erften Hymnen als vorwiegend neuplatonifch, die übrigen als ausgeſprochen chriſtlich bezeihnet werden, jo dak die ganze Sammlung einigermaßen die ftufenmweije Entwidlung des Dichters zum Ausdrud bringt. Als Maßſtab des Fort: Ihritts fann die Trinitätsidee gelten, welche im erften Hymnus nur in leichtem Umriß auftaudht, im zweiten ſchon mit den dhriftlichen Namen der drei göttlihen Perſonen auftritt, im dritten und vierten den Einzeldharakter der: jelben weiter eniwidelt, wenn auch nit in völliger Übereinftimmung mit der Kirchenlehre, da der Unterihied der drei Perjonen allzujehr als etwas bloß Gedachtes erjcheint und der Sohn vom Vater nad der Auffafjung des Dichters durd den Heiligen Geift gezeugt wird. Der fünfte befingt Ihon Chriſtus als den Menſchgewordenen, den „Sohn der Jungfrau“, und wenn auch der jechite in das Geheimnis der ewigen Zeugung zurüdtehrt, jo findet fi doch nichts mehr, was fi mit den Ausdrüden chriſtlicher Dog: matik nicht vereinen ließe; im fiebenten feiert der Dichter ſehr anziehend dad Geheimnis der Epiphanie, im achten legt er dem Sohne der Jungfrau alle feine Anliegen in rührendem Bittgebete zu Füßen; im neunten jehildert er großartig die Höllenfahrt und die Himmelfahrt des göttlichen Siegers; im zehnten endlich jchlägt der fonft jo hochfliegende Platoniker die innigiten Töne hriftliher Reue und Bußfertigfeit an und fleht den Erlöſer demütig

! Migne, Patr. gr. LXVI 1588—1616.— Christ-Paranikas, Anthologia 3—23; vgl. ©. ıx—xır. Bier Hymnen deutfh bei Fortlage, Gefänge ber hriftlihen Vorzeit. I. Hymne ©. 20, U. 316, V. 41, IX. 151. Hymnus 1I V VI X X betih von G M. Dreves (Stimmen aus Maria-Laach LII 552 bis 562).

Synefius. 59

an, ſich ihm einft in der ewigen Glorie zu zeigen. So führt der Kranz der Dichtungen, von Anakreon ausgehend, empor zu Platon, hinüber zu Plotin, dann empor zum hl: Johannes, zu der erhabenen Lehre der Kirche und endlich in die demütige Thebaie.

Schon die neuplatonish gefärbten Hymnen befißen eine eigenartige Schönheit und Grofartigfeit; fie machen es recht fühlbar, wie die Jdeen Platon mande edlere Geifter dem Chriftentum näher bringen, aber auch phantaftifche Gemüter in Gefahr bringen fonnten, in die Iuftigen Wolten: pfade mwillfürliher Einbildung zu entjchweben. Der zweite Hymnus ift ein Morgenlied, gleihfam ein Morgenlied der Schöpfung.

Wieder Licht uns, wieder Frührot, Wieder blinkt ber Glanz bes Tages Nach der Naht unfteten Dunfel; Wieder finge mir, o Seele,

Singe Bott im Mtorgenliede,

Der bem Tage jeine Strahlen, Der der Naht gab ihre Sterne; Die im Reih'n die Welt umfreifen. Es bebedte ſchon der Äther

Des erregten Stoffes Rüden,

Über Feuerflocken ſchreitend,

Wo den niedrigſten der Kreiſe

Der erlauchte Mond durchſchneidet. Ob der achten Windung aber

Der geſtirnten Himmelsringe

Mt ein Strom, ein flernelofer, Der, in feinem Schoß bewegend Die entgegenläuf’gen Sphären,

Um den großen Geift fidh drehet, &o ber höhern Welten Höhen

Mit der Flügel Grau bedadet. Und darüber jel’ges Schweigen Die unteil'ge Teilung birget

Des Berftandes und Gebanfens, Nur ein Quell, nur eine Wurzel, Doch ein dreifach Licht entftrömt ihr: Mo des Vaters Tiefe, dorten

Auch der Sohn ift, der erhabne, Der dem Baterherz entfeimte, Deſſen Weisheit ſchuf die Welten, Dort erglängt des heil’gen Geiftes Süßes Licht, das fie umſchlinget. Nur ein Quell, nur eine Wurzel Ale Schätze barg des Segens

Und ber Knoſpe Weſensfülle,

Bon des Lebens Trieben ichwellend, Und das Licht, das wunderbare,

60

Viertes Kapitel.

Das der ſel'gen Gottheit leuchtet. Diefem Quell der Herrider Reigen, Der unfterbliden, entjtrömte,

Die den Ruhm bes ew’gen Vaters, Die bes Erftgebornen Schönheit In erhabnen Liedern feiern.

In ber güt’gen Zeuger Nähe

Iſt der Engel ew’ge Jugend,

Die ben Urquell teils der Schönheit In dem ew'gen Geift erkennen,

Zu den Sphären teils fi wenden Und der Welten Bau beherrſchen, Die erhabne Ordnung wahrend Bis hinab zum tiefften Stoffe,

Mo die Weltenjeele kauert

Und das Heer gebiert der Teufel, Der verfchlagnen, ruheloſen,

Von woher der Held, ber Geift, ſich Auf die Erbe einft ergofien,

Um in wechlelreichen Formen

Ihre Teile zu beleben.

Ya, nad deinem Rate alles

Sich vollzieht, du bift die Wurzel Des, was ift und was geweien,

Was da jein wird und was möglid.

Du bift Vater, du bift Mutter,

Du bift Mann und Weib vereinigt, Du bift Stimme, du bift Schweigen, Die Natur du ber Natur biit,

Du, 0 Herr, die Zeit der Zeiten, Wenn wir aljo mögen Iallen.

Sei gegrüßt, der Welten Wurzel, Sei gegrüßt, der Weſen Mitte, Ewig Eins der ew’gen Zahlen, Diejer wejenlojen Herricher!

Ewig Heil dir, ewig Heil bir, Denn bei dir, o Gott, das Heil ift. Zu dem Reigen meines Liedes

Mir dein Ohr in Gnaden neige, Lab ber Weisheit Licht mir leuchten, Gieß herab mir Heil und Segen. Gieh herab mir Huld und Gnabe, Gib ein Leben mir bes Friedens, Von mir ab die Armut treibe

Wie die Erdenpeit des Reichtums; Don den Gliedern wehre Krankheit Wie der Luft unlautre Flammen, Auch den Bram, den Herzverzehrer, Bon der Seele ferne halte,

Wohl am jhwungvolliten ift die antife Form, auch Züge der alten Mothologie, dem Kriftlihen Stoff in dem neunten Hymnus angegliedert, in welchem Synefius, der frühere Gegner der Auferftehungslehre, den glor: reihen Triumph des Gottesjohnes über Tod und Hölle ſowie jeinen Einzug

Synefius.

Daß nicht irdifches Verhängnis Meines Geiftes Schwingen lähme, Sondern leicht den Fittich Tüftend, Um den Sohn, den wunderbaren, Er in fel’gem Schauen reife‘.

in den Himmel befingt.

ı jlberfegt von G. M. Dreves (Stimmen aus Maria-Laach LII 552-554).

Geliebter, erhabener,

O feliger Sohn der Maid

Don Solyma, dir ich fing’,

Der die Friehende Schlange du, Die ränfeerfinnenbde,

Aus dem Garten bes Waters triebft. Du ftiegeft zur Erd’ herab,

Did geſellend den Sterblichen, Du ftiegeft zur Unterwelt,

Wo der Seelen unzählig Bolt In Gefangenihaft hielt der Tod. Da erſchauderte Hades bang

Vor bir, der uraltrige,

Und ber Hund von der Schwelle wid, Der Völlerverſchlinger.

Nachdem du vom Leid erlöft

Die Chöre der Seelen bort,

Du führteft den reinen Zug Robfingend dem Bater zu.

Da, Herr, da du aufwärts fuhrft Durd den Raum, den unendlichen, Erbebte der Geifter Heer,

Es ftaunte ber ew'ge Chor

Der lichten Geſtirne,

Und lächelnd der Äther rief, Der Bater der Harmonie,

Die Töne der Leier wach,

Der fiebenbefaiteten,

Ein feierndes Siegeslied.

Da lächelte Phosphoros,

Der Herold des Tages, da

Der goldene Heſperos,

Der Stern Kytheräns;

Da ſchmückte mit hellerem Glanz Der Mond, ber gehörnte, fi

62 Biertes Kapitel.

Und führte ben Reigen,

Der jilbernen Schafe Hirt.

Und die Sonne, fie breitete hr goldenes Haar vor bir Zum Teppich ber Füße aus; Sie erfannte den Gottesjohn, Den Geijt, der die Welt erfanı, Den Quell ihres Lichtes.

Du aber den Fittih ſchwangſt Und über das Himmeläzelt, Das blaue, du ſchwebteſt,

Und du flogft zu den Streifen auf, Den reinen, den geiftigen,

Wo bie Quelle des Guten

Im ſchweigenden Himmel flieht; Dort flutet nicht ruhelos

Der wirbelnde Strom der Zeit, Fortſchwemmend den Erdenjohn, Dort herrſchet nit rüdfichtslos Der gärenden Stoffe Wucht; Dort waltet und altert nie

Seit alters die Ewigkeit,

Die Mädchen und Ahn zugleid, In der ewigen, feligen Erhabenen Gottesitabdt !.

Den Hymnus des Klemens von Alerandrien und die Gedichte des hi. Me- thodius und des hl. Gregor von Nazianz ſcheint Synefius nicht gekannt zu haben, da er im fiebenten Hymnus ſich jelbjt als den erften Pfadfinder hriftlich-hellenifcher Lyrik bezeichnet:

Ilpüros vinov zbpönav Der erite ich fand den Braud, er! ooi, ndxap, üuspore, Dir, jeliger, unfterblicher,

rore zudıne mapdesonv, O ebelfter Sproß ber Maib, Inooö Foiuunis, Dir, Jeſu von Solyma, veorayia üppoyaks Zu fingen zum Lautenſchlag, zpefat zıdapag wiroug. Neufügend der Weifen Bau ®,

Iſt nun Syneſius auch nicht der erfte Bahnbrecher chriſtlicher Lyrif, jo Hat er dod in feinen Gedichten auf Chriftus aus dem überreihen Stoffe vielfah das Erhabenfte herausgegriffen und es nad Art und Weile alt= hellenijcher Lyrik begeiftert und ſchwungvoll zum Ausdrud gebradt. Doc befteht zwiichen der Kürze der Verfe und der Länge der Gedichte ein gewiſſes Mißverhältnis; die leichten Versmaße, die etwas Spielerifches an ſich haben, pafjen nicht recht zu der Würde des Gehalts, und der Mangel einer ftrophiichen

ı jiberjegt von G. M. Dreves (Stimmen aus Maria-Laach LII 560 561).

® Ebd. 559.

Synefius. 63

Gliederung wie die vorherrſchende jubjektive Färbung der Hymnen machte fie von vornherein ungeeignet, in die Liturgie aufgenommen zu werben. Aber als einfahe religiöje Poeſie ftehen fie auf einer jehr Hohen Stufe; in Feinheit und Glätte der Form werden fie faum von einem Sänger jener erſten Jahrhunderte erreicht. Tief ergreifend klingt der Schwanen- gelang des vielgeprüften Dichter-Biſchofs in ein kindliches Neuegebet an Chriſtus aus:

MHıweo, Apter:, uvit Beoio inbıuedovros, olxsrew os, zip üdızooio rads ypadavrog* xaf not Urasooy iu zadeuv znpırpapewv,

Ta por &uoun duga punapü- dus d2 Weodar, oürep Inaoo, Kadeav alykar

Chriſte, gedenke, Einziggeborner

Gott des Allherrſchers, Deines in Schuld ge— borenen Knechtes,

Der dies geſungen. Löſe in Huld mein Herz von der Sünde Banden, die meine Seele befleckend

Mit mir geboren. Gib, daß dein Licht ich, Jeſu, Erretter, Schaue, das heil'ge,

% * ® cäv, &:da gaveis

Bor deinem Antlik

ueidw dodas, Singend mein Lied dir, ratove buyän, Arzt meiner Seele, raiost yolws, Arzt du des Leibes,

Dir mit dem Bater Und mit dem Geifte!

zarpi al neydiw zveönari DW dyvo.

Nah Synefius wich die antife metriſche Dihtungsform mehr und mehr bor der neuen, welche nur Silbenzahl und Wortaccent beadhtete. In ſolchen accentuierten Berjen ijt die Maſſe von griechiſchen Kirchenliedern abgefaßt, welche von Ende des 4. Jahrhunderts an entftanden und deren Berfaffer noch zum großen Teil unbekannt find. Als Hymnendichter des 5. Jahr: hunderts werden genannt: Anthimus, Timokles, Marcian, Johannes Monachus, Seta und Aurentius. Bis auf Romanus (im 8. Jahrhundert) ift feiner zu Hervorragender Berühmtheit gelangt.

Die literariſch-humaniſtiſche und philofophiihe Bildung, für welde Spnefius fo begeiftert eingetreten, wurde ſowohl in riftlichen als heidniſchen Kreiſen des oftrömijchen Reiches weiter gepflegt. Doch religiöfe Fragen und Kämpfe nahmen im 5. wie im 4. Jahrhundert alle hervorragenden Geifter in Anſpruch und drängten alle übrigen Beftrebungen zurüd. Die Theologie erregte ein Intereſſe, wie heutzutage vielleicht faum die Natur: wiffenihaften. Schon unter Konftantin machten ji die Hofdamen mit Theologie zu jhaffen. Kaifer Juftinian jegte eine Ehre darein, Glaubens:

64 Biertes Kapitel.

defrete zu verfaffen und diejelben von den Gegnern angenommen zu jehen. Jeder Gebildete wollte über dieje Dinge mitreden, und bereit3 Gregor von Nyſſa erzählt:

„Die geftern und vorgeftern noch im ehrjamen Handwerk fi abmühten, werden mit einem Schlag Lehrer ber Theologie, wenn fie auch vielleicht nichts find als Stlaven, die eben der Peitjche entlaufen find. Überall in der Stadt wimmelt es von jolden, in den Durdgängen, Kreuzwegen, Märkten, Straßen, unter ben Stleiberverfäufern, Geldwedjlern, Viktualienhändlern. Willft du Geld wechſeln, fo philofophiert er über ‚Gezeugt‘ und ‚Ingezeugt‘. Fragſt du nad bem Preis des Brotes, jo antwortet er: ‚Der Vater ift größer, und ber Sohn ihm unterworfen.‘ Sagft bu: ‚id möchte mir ein Bad bejtellen‘, jo ift er ber Anfidt, der Sohn jei aus nichts geichaffen.“ !

Welch ein Gewirr von phantaftiihen und rationaliftiichen Jrrtümern das Chriftentum während der erften Jahrhunderte zu erftiden drohte, zeigt am beiten das „Heilmitteltäft—hen” (Huvdpıov zara raosamv av atptaswv) des hl. Epiphanius, Biſchofs von Konftantia (Salamis) auf Cypern (367 bis 403), worin (meift nad Juftinus, Jrenäus und Hippolyt) achtzig ver- ſchiedene Jrrlehren, darunter allerdings zwanzig vorchriſtliche heidniſche und jüdiſche Sekten, aufgeführt und widerlegt werden. Noch um das Jahr 433 pochten die Heiden fo ftarf auf die um 362 und 363 gejchriebenen Bücher Juliana des Apoftaten gegen das Chriftentum, daß der HI. Eyrillus, feit 412 Patriarch von Nlerandrien, fid) veranlaft ſah, ein breit angelegtes Werk „für die Heilige Religion der Chriften gegen die Bücher des gottlojen Julian“ zu jhreiben. Die Angriffe des Neuplatoniters Porphyrius befämpften Apollinarius der Jüngere von Yaodicea (in 30 Büchern), Eujebius Pamphili (ebenfalls in 30 Büchern) und Methodius von Olympus. Den Neuplatoniker Proklus miderlegte (um 470) der Kriftlihe Rhetor Pro- fopius von Gaza. Eine umfaffende Kritif und Widerlegung des gejamten Heidentumsd (in 12 Büchern) lieferte (etwa um 427) Theodoret, jeit 423 Biſchof von Cyrus in Syrien?. Ein ähnliches allgemein apologetijches Werk gegen die Heiden, das aber bejonders die Einwürfe des Porphyrius berüdfihtigt, trägt den Namen des Makarius Magnes (von Magnefia).

Während das Heidentum, unfähig, die großen jittlichen ſozialen Fragen der Zeit zu löſen, ſich in hohlen, jophiftiichen Deklamationen wie in ohn— mächtigen Todeszudungen gegen das Ghriftentum aufbäunte, richtete der Arianismus, auch nachdem er die politische Oberherrſchaft verloren hatte, duch die Intrigen und Quertreibereien feiner Anhänger noch immer viel Unheil an. Auch gegen diefe Gegner erhob der HI. Cyrillus von Alerandrien,

! Gregor. Nyss., Oratio de deitate Filii (Migne, Patr. gr. XL 557%).

2 Eilnviröv Veparzurun rafnndrev % shayyeimäs Alndeias EE Elnwuig eriomogins äriyvwars: „Heilung der heidnifchen Krankheiten oder Erkenntnis ber evangelifhen Wahrheit aus ber heidniſchen Philofophie.”

Syneſius. 65

ein durch theologiſche Gelehrſamkeit ausgezeichneter Mann, in zwei bedeutenden Werten ſeine Stimme!. Ungleich größere Schwierigkeiten aber erwuchſen der Kirche bald aus den neuen Irrlehren des Neftorius und Eutyches, welche, obihon auf den allgemeinen Konzilien zu Ephejus (431) und zu Ghal- cedon (451) feierlich verurteilt, noch bis in das folgende Jahrhundert bin die lebhafteften Kämpfe erregten und einen großen Teil des Orients für alle Folgezeit von der kirchlichen Einheit losriffen. Als der Herborragendfte Anwalt der Kirche auch in diefen Kämpfen tritt der eben erwähnte hl. Cyrillus her: vor. Ihm zur Seite ftehen der hl. Proflus, Biſchof von Eyzicus, Memnon von Epheſus, Dalmatius von Konftantinopel, Theodotus von Ancyra u. a. Cyrillus jelbft Tegte mehr Gewicht auf Stlarheit des Ausdruds und Schärfe der Beweisführung ald auf Schönheit der Darftellung und hat darum für die Literatur feine jo hervorragende Bedeutjamfeit wie die großen Kappadocier und der hl. Chryſoſtomus.

Die Werke des Didymus des Blinden, der über ein halbes Jahrhundert der alerandrinifhen Katechetenſchule vorſtand (geft. um 395), des Diodor von Tarſus, des Theodor von Mopfueflia, des Iſidor von Peluſium, des Heſychius von Jerufalem, des hi. Nilus und des Markus Eremita, ſoweit fie erhalten find, gehören faſt ausschließlich der theologischen Literatur im engften Sinne an. Dagegen haben die Schriften des jog. Dionyſius Areo- pagita der mittelalterlihen Myſtik reihen Stoff und mächtige Anregung geliefert?. Noch weiterhin wirkten die erbauliden Erzählungen, welche der vielgereifte Galater Palladius, Biſchof von Helenopolis, jammelte und welche unter dem Titel Historia Lausiaca (Avdyuwar eis To Aayaraxiv) früh ins Lateinifhe übertragen wurden. Die origeniftifhen Irrtümer, zu denen er hinneigte, machen fi darin nicht bemerkbar, und jo hat ſchon Gaffiodor fie lebhaft den Mönchen empfohlen, und gleid den übrigen „Leben der Väter“ find fie vereinzelt oder in Sammlungen in verjchiedenfter Form und Yafjung in die mittelalterlihen Vollsliteraturen übergegangen.

ı Hl Alßios züv Wneoaupüv zepl ris dyiag zai önooualou zpendog (in 35 Thefen: Jiyo) und Ilspi äyias re xai ünoouelon rpeidog {in fieben Geipräden).

? Die Belor uvor, bie Dionyſius Areopagita (De cael. hierarchia VII 4) als von ihm verfaßt angibt, find verloren. Über die Dionyfiusfrage, die ſelbſt— verllänblih außerhalb unjeres Rahmens liegt, vergleiche die verdienſtvollen Inter: fuhungen von J. Stiglmayr S. J., Der Neuplatonifer Proflos als Vorlage bes fog. Dion. Areop. (Hiftor. Jahrbuch der Görres-Gefellihaft 1895, 253 M); Das Auftommen der Pjeudo-Dionyfifhen Schriften und ihr Eindringen in die Kriftliche Literatur bis zum Lateranfonzil 649 (Programm, Feldkirch 1895); Die „Ehren rettung* des Dion. Areop. (Diftor.:polit. Blätter CXXI [1898] 650—661; CXXU [1898] 27—49); Der Bater der Myftif (ebd. CXXV [1900] 541—550 613—627). 9. Rod, Pjeubo-Dionyfius Areop. in jeinen Beziehungen zum Neuplatonismus und Myſterienweſen, Mainz 1900.

» Die lateiniſche Bearbeitung bei Migne, Patr. lat. LXXIII 1065—1234. Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl, >

66 Fünftes Kapitel.

Ebenjo allgemeines literarifches Intereffe beanſprucht die kirchliche Ge- ſchichtſchreibung, welche, im Anſchluß an Eufebius, jih um dieſe Zeit reich- fiher zu entwideln begann. Verloren find die „Chriftlihe Geſchichte“ des Philippus Sidetes, die Kirchengeſchichten des apollinariftiichen Biſchofs Timo: theus von Berptus und des Priefters Heſychius von Jeruſalem ſowie die Konziliengefhichte des Sabinus von Heraklea in Thracien, eines Mace— donianerd. In einem Auszug des Photius und in Fragmenten ift teilweije nod die Kirchengeſchichte des Philoftorgius, eines Eunomianerd, erhalten. Vollſtändig vorhanden find dagegen noch die drei Kirchengeſchichten des Sofrates, des Sozomenus und des Theodor. Sokrates, Sadmalter (oroiaszızis) in Konftantinopel, Führt die Kirchengeſchichte des Euſebius meiter und behandelt in fieben Büchern die Zeit von der Abdankung des Diofletian bis zum Jahre 439, ſchlicht und einfah, zugleih mit großer Umfiht und gutem Urteil. Die Kirchengeſchichte des Hermias Sozomenus Salaminius, ebenfalls eines Sahmwalters, hebt mit dem Jahre 324 an und reiht bis zum Jahre 425. Sie fußt durchweg auf Sofrates, geht aber häufig auf deſſen Quellen zurüd und verwertet diefelben zu einer aus— führliheren Darftellung. Theodoret von Cyrus ſchließt ſich gleich Sokrates unmittelbar an Eufebius an und gibt die gefamte Geſchichte vom Beginn des Arianismus bis zu jenem der neftorianiichen Kämpfe (323—428), wie es jcheint, unabhängig von Sokrates und Sozomenus, mit bejonderer Be— rüdfihtigung des Patriarhats3 von Antiohien, in einfahen, klarem und anziehendem Stil. In einem eigenen Werke (Priodeoz taropia 7 darmrım rosreta) zeichnete er nicht minder ſchön und anziehend das Leben von dreißig der berühmteften Einfiedler des Morgenlandes, darunter des Jakob von Nifibis und des Säulenfteher Simon Stylites, zum Teil auf eigene Kenntnis, zum Teil auf die Berichte von Augenzeugen geftüßt, ein erhabenes Gegenbild zu den vielen unerquidlihen Streitigleiten jener Zeit, ein ehrwürdiges Zeugnis für das auf reinfter Gottesliebe beruhende Gnadenleben, das unſcheinbar, aber wirffam der riftlihen Zivilifation die Pfade ebnete.

Sünftes Kapitel. Raͤchklänge antiker Voeſte. Verſuche chriſtlicher Epik.

Kaiſer Konſtantin J. trat gegenüber dem Heidentum mit viel Nachſicht und Milde auf. Es ſteht nicht einmal feſt, ob er ein allgemeines Verbot gegen alle heidniſchen Opfer erlaſſen hat. Durchgeführt wurde ein ſolches Verbot jedenfalls nicht. Nur gegen heidniſche Tempel, welche der öffentlichen Unzucht und den ſchreiendſten Betrügereien dienten, wurden ſtrenge Maßregeln

Nachklänge antiker Poeſie. Verſuche chriſtlicher Epik. 67

ergriffen, die Privatopfer eingeſchränkt, den kaiſerlichen Statthaltern die offizielle Teilnahme an den Opfern wahrſcheinlich unterſagt. Nach dem zeit weiligen Übereifer des SKonftantius jchritt erſt Theodofius I. (379—395) frenger gegen das Heidentum ein, entzog denjenigen, die zum Heidentum abfielen, das Erb- und Teſtierrecht, ftellte jeden ſolchen Abfall unter Strafe, unterfagte die Augurien und Harujpicien, verfügte 386 die Schliegung der Tempel in Afien und Ägypten, verbot 391 den Tempelbeſuch, belegte 392 jede Art von Göbendienft mit den Strafen eined Majeftätäverbredheng und mahnte nad feinem Siege über Eugenius 394 den Senat in Rom jelbit, dem Ihmählichen Gößendienft für immer zu entjagen.

Obgleih das Ghriftentum von da an als Staatsreligion galt, wid das Heidentum vielerort3 nur langſam vor demjelben zurüd. Die vielfachen Bedrängniffe des Reiches durch die Einbrüche der Barbaren verftatteten nicht, die faijerlichen Gejege mit Strenge durchzuführen. Die nie endenden Religions- ftreitigkeiten unter den Ghriften ſowie der ärgerlihe Wandel vieler unter ihnen waren nicht dazu angetan, den Heiden da Auge für die göttliche Wahrheit des Evangeliums zu öffnen. Schroffe Gewalttaten, wie die Ser: flörung des Serapeums zu Alerandrien durch Zheophilus (391) und die Ermordung der Philofophin Hypatia (415) erbitterten die Heiden mehr, als daß fie diejelben Hätten gewinnen können. Durd die herrlihften Pracht: bauten, Denkmäler und Kunftwerfe, durch die beliebteften nationalen und lofalen Erinnerungen hing das Heidentum mit dem gejamten Volksleben zufammen. Die höhere literariihe und milfenihaftlihe Bildung leitete fich aus heidniſchen Schriftftellern und Überlieferungen her und wurde großenteils noch durch heidnifche Lehrer und Schulen vermittelt. Die neuplatonijche Philojophie zog viele Elemente aus dem Chriftentum an ſich, äffte jelbjt die hriftliche Asteje und Myſtik nad und gab jo dem Heidentum einen ernfleren, fittlicheren Anſtrich. Die antike Literatur und Philojophie enthielt des Wahren und Schönen fo viel, daß ein vollftändiger Bruch mit ihr unmöglid war, die Lehrer der Kirche ſelbſt fich vielmehr daran bildeten und fie in den Dienft der hriftlihen Wahrheit zogen. Die Meifterwerfe der antiken Kunft aber übten auf die Kriftlihen Kaiſer einen ſolchen Zauber aus, daß fie fi meift damit begnügten, die Tempel in Kriftliche Bafiliten umzuwandeln, die übrigen Kunſtwerle aber dem göbendieneriichen Gebraud zu entziehen und zur Zierde des neuen Rom am Bosporus zu verwenden. Nicht fanatifcher Übereifer oder Kunſthaß hat die gefeierten Kunſtdenkmäler des alten Hellas zerftört, fie find durd) Feuersbrünſte, Vollsaufftände und ähnliche Kataftrophen zu Grunde gegangen, an welden die Kirche nicht die mindefte Schuld trägt. Juftinian I., der endlich 529 die Schulen des längft überlebten Neuplatonigmus ſchließen ließ, hat jelbft eine religiög-fünftleriihe Prachtliebe entfaltet wie wenige Kaijer vor ihm,

5%

68 Fünftes Kapitel,

Hätte das Heidentum noch innere Lebenskraft genug bejefjen, jo hätte es in dem halben Jahrtaufend von Auguftus bis Juftinian noch Zeit genug gehabt, eine neue Blüteperiode helleniſcher Poeſie aufleben zu laffen. Noch im Jahre 393 thronte die Zeusftatue des Phidias in dem berühmten Tempel zu Olympia; erft im folgenden Jahre hörten die olympiiden Spiele auf. Als der Neuplatoniter Proklos im Jahre 429 nad Athen kam, befand ſich die aus Gold und Elfenbein geftaltete Athene Parthenos noch im Parthenon zu Athen; erſt während feiner langen Lehrtätigkeit dajelbft wurde fie von den Chriften daraus entfernt. Denn jein Biograph Marinos erzählt:

„Wie fehr Proflos diefer Göttin der Weisheit wert gewejen ift, hat fie felbft damals fund getan, als ihr Bild, welches fich bisher im Parthenon befunden hatte, von benen, bie alles Heilige aus den Angeln heben, hinweggeführt wurde. Denn dem Philofophen erihien im Zraum eine erhabene Frauengeftalt, die ihn auf- forderte, jchnell ein Haus zu rüften, weil, jo fagte fie, bie Herrin Athene bei dir bleiben will.“ !

Es war indes nicht innere Lebenskraft, jondern nur das mechanische Beharrungsvermögen alter Überlieferung und die Gunft äußerer Umftände, welche den Todestampf des antilen Hellenigmus jo lange Hinauszogen. Weder unter Hadrian und Marc Aurel noch unter Julian ift den Griechen ein Dichter eritanden, der ſich über die flahen Niederungen der damaligen Sophiftenihulen erhoben hätte. Erſt nah Julian ſchwirren wieder einige Poetennamen herum, denen die Forſchung bis jetzt nicht einmal ein ficheres Lebensdatum zu geben vermodt hat. Kaum läßt jih noch auf dieje jpäten Nachklänge altllaffiiher Kunft der Vers der Anthologie anwenden:

Auöpzvos yap önwg Ykdg dorw Ere Sinket gen Weften auch fie, ftrahlet die Sonne ung noch?.

Wann Quintus Smyrnäus gelebt, ift nicht zu ermitteln. Das einzige, mas fi aus feinem Epos „Nah Homer“ (Ta ne#’ Vunpov) er: gibt, ift, daß er in früher Jugend als armer Hirt bei einem Tempel der Artemis in der Nähe von Smyrna die Schafe hütete und zu dichten begann, noch ehe ihm der Bart fproßte, und daß ferner feine Herameter noch nicht jene daktyliſche Eigenart befigen, welche der Dichter Nonnos aufbrachte und welche nad ihm allgemein in Mode famen. Die einzige Handſchrift feines Werkes wurde 1450 von Kardinal Befjarion in einem Klofter in Kalabrien entdedt, wovon er den Beinamen „Salaber“ erhielt d. Das Werk faßt kurz

ı Marinus, Vita Procli c. 30,

2 Anthol. XII 178.

> Herausgeg. von Aldus, Venedig 1504; Rhodomannus, Hannover 1604; Tyhjen, Straßburg 1807; Lehrs, Paris 1840; Köhly, Leipzig 1853. Bol. Sainte-Beuve, Etudes sur Virgile suivies d’une &tude sur Quintus Smyrnaeus, Paris 1857; Neuaufl. 1891.

Nachklänge antiker Poeſie. Verſuche Kriftlicher Epik. 69

in 14 Büchern die kykliſchen Dichtungen zuſammen, welche ſich an die Ilias reihen, von dem Tode Hektors bis zur Rückkehr der griechiſchen Helden. Pentheſilea, die Amazone, kommt den entmutigten Troern zu Hilfe; dann folgen die Heldentaten des Memnon, der Tod des Achilleus und des Ajax, die Kämpfe des Neoptolemos, um den Zod jeined Waters zu rächen, die Ankunft des Philoktet, der Bau und Einzug des hölzernen Pferdes, der jhrediihe Untergang des Laokoon, die Einnahme Trojas, die Hinopferung Polyrenas am Grabhügel des Adilleus, die Einihiffung der Griechen, der Schiffbruch des Ajax Dileus auf der Rüdkehr der Flotte. Der Dichter folgt den Spuren Homers und denjenigen Vergils zugleih. Die ſchlichte, ein- fahe Erzählung wird durch ſchöne Gleichniſſe gehoben, geht allen verfäng: lichen und anftöhigen Zügen aus dem Weg, als wäre fie in usum Delphini abgefaßt, entbehrt aber der frammen Einheit und Spannung. Die Sprade weit in manden feinen Zügen von der alten epiſchen Diktion ab. Nicht weniger rätjelhaftes Dunkel umgibt die Geftalt des Dichters Nonnos, unter deffen Namen zwei Werte erhalten find. Das eine, ein großes Epos: „Der Zug des Dionyſos“ (Jovvaraxd), feiert in 48 Büchern den fabelhaften Zug des Bakchos nad) Indien, eine phantaftische Verbindung der alten Dionyſosſage mit jüngeren Mythen, welche ſich an die Indienfahrt Alerander3 d. Gr. fnüpften. Das andere ift eine poetiſche Umſchreibung (neraßo)r) des Johannesevangeliums in Herametern. Ein Epigramm der Anthologie (IX, 198) erwähnt Nonnos nur al3 Verfaffer der „Dionyfiala“ ! und bezeichnet als feine Heimat die Stadt Panopolis in Ngypten. Ob er derjelbe ift, dem Syneſios (in Brief 43) eine Empfehlung ausftellt, ift zweifelhaft. Sonit fehlen alle äußeren Zeugniffe über fein Leben. Nur aus Beziehungen feiner Dichtung zu früheren und fpäteren Dichtern erwächſt einige Wahriceinlichkeit, dab er gegen Ende des 4. Jahrhunderts gelebt hat?. In Bezug auf Metrit und Grammatik weichen die beiden Dichtungen ftarf voneinander ab: in dem Epos ijt die Strenge der metriihen Form bis zur Eintönigleit feftgehalten, während die Paraphraje ſowohl metrijche al3 grammatijche Unebenheiten aufweift. Da zudem eine jüngere Handſchrift der Paraphraje einen „Ammonius, Philoſoph und Rhetor“ als Verfaſſer bezeichnet, fo Hat man die zwei Gedichte in neuerer Zeit zwei verjchiedenen Verfaſſern zuteilen wollen. Da indes Stil und Wortſchatz eine gewiſſe Berwandtihaft der zwei Gedichte befunden, jo iſt wohl die ältere Annahme vorzuziehen, daß derjelbe Nonnos beide verfaßt hat, die „Dionyfiafa“ ver-

4 Nöswos &ya* Ilavög nv dun mürs, Ev Papin 2 Eygel pwohssti yoväs Yunoa Iryadvrmn. 2 Agathias (get. vor 582) bezeichnet Nonnos im Gegenſatz zu den älteren tlafſiſchen Dichtern als einen ber seor (zomrai). Man kann ihn aljo aud etwa in die erfte Hälfte bes 5. Jahrhunderts jehen.

70 Fünftes Kapitel,

mutlih nod als Heide, indem ein Chriſt kaum den Abenteuern des Dionyjos eine jo ausdauernde Begeijterung gewidmet haben würde, die Paraphraje aber in borgerüdterem Alter, nachdem er inzwiſchen Chriſt geworden !.

Die „Dionyſiaka“ umfaffen 27000 Herameter, faft fo viel als Alias und Odyſſee zufammen. Es ift mahezu unmöglich, eine Überficht über dieſes Riejenepos zu geben. Eine kurze Inhaltsangabe der einzelnen Gejänge kann noch am eheften dazu dienen.

I. Vorgeſchichte und erftes Erfheinen bes Dionyfos. 1. Ans rufung. Zeus entführt Europa in ber Geftalt eines Stieres. Typhoeus ftiehlt Zeus ben Blitz. Liſt des Kadmos. 2. Wirren auf Erden und im Himmel. Kampf zwiſchen Zeus und Typhoeus, der mit dem Tode des Typhoeus endet. Zeus verkündet ſtadmos fein künftiges Schidjal. 3. ſtadmos verläßt Kilikien und kommt nad Samothrafe. Palaft des Emathion. Kadmos erzählt ber Königin Eleftra feine Abkunft. Ratſchläge der Elektra. 4. Harmonia weift die Hand bes Kadmos ab, wirb aber dur Aphrodite in ber Geftalt der Pifinos für ihn gewonnen und folgt ihm auf feinen Wanderungen. Kampf bes Kadmos gegen ben Draden von Dirfe und gegen die Bewohner von Nonien. 5. Die Erbauung von Theben. Hochzeit bes Kabmos mit Harmonia. Hochzeitögefchente der Götter. Die vier Söhne des Kabmos und ihre Verehelihung. Ariftäos. Aktäon und feine Rücktehr aus Indien. Zeus verliebt fih in Perfephone. 6. Beunruhigung der Demeter, ihr Beſuch bei dem Seher Aftraivos. Sie verbirgt ihre Tochter, welcher Zeus aber in Geftalt einer Schlange naht. Geburt des Zagreus, bes erften Dionyfos. Sein Tod. Race des Zeus dur Feuer und Flut. 7. Klagen bes Kronos. Zeus tröftet ihn durch die Berheigung eines neuen Dionyfos. Die heimliche Verbindung des Zeus mit Semele. 8, Eiferſucht der Here; in der Geftalt der Amme Semeles fordert fie biefe auf, eine Erſcheinung des Zeus in feiner vollen Dtajeftät zu fordern. Der Blitz verzehrt fie; fie wird aber fhliehlih do in den Himmel entrüdt.

I. Jugendgeſchichte des Dionyfos und Urjprung bes Wein ftods. 9. Geburt des zweiten, eigentlichen Dionyfos. Seine Aufnahme bei den Töchtern des Lamos. no, die Frau bes Athamas, feine Amme, übergibt ihn der Sorge der Myſtis. Sie jelbft verfällt der Raferei und entflieht. 10. Wut des Athamas. Rückkehr und abermalige Flucht der Ino. Sie ftürzt fi mit Melitertes ins Meer. Die Jugendjahre des Dionyfos. Seine Übungen und Spiele mit dem Satyr Ampelos. 11. Kampf im Waffer. Tod des Ampelos. Trauer bes Dionyfos. Eros tröftet ihn mit der Gefhicdhte des Karpos und Kalamos. 12. Ampelos wird

! Ausgaben ber Paraphrafe von Aldus, Venedig 1501; Sylburg (1596); N. Abram (1638); Heinfius (Aristarchus sacer), Leiden 1627; Biblioth. Patrum XIV, Paris, 1644; $r. Paſſow, Leipzig 1834; Migne, Patr. gr. XLII, Paris. 1858; de Marcellus (1861); 9. Scheindler, Leipzig 1881. Aus gaben der Dionyfiafa von G. Faltenburg, Antwerpen 1596; Gräfe, Leipzig 1819—1836; Köchly, Leipzig 1857/58. Bol. A. Koechly, De Evangelii Ioannaei paraphrasi a Nonno facta, Turici 1860 (abgedrudt in deſſen Opuscula philologiea I, Lips. 1881, 421 ff). G. Kintel, Die Überlieferung der Para» phraje des Evangeliums Johannis von Nonnos, Züri 1870. H. Tiedke, Quaest. Nonnianarum specimen, Berol. 1870. Idem, Nonniana, Berol. 1883. Wild, Die Vergleiche bei Nonnus, Regensburg 1886.

Nachklänge antiter Poeſie. Verſuche hriftliher Epik. 71

in eine Rebe verwandelt. Freude des Dionyſos. Andere Sage über ben Urfprung ber Traube. Trunkenheit der Satyrn.

II. Rüftungen und Aufbruch nad Indien. 13. Aufzählung des irdiichen Heeres des Dionyjos: bie Böotier, Phokier, Euböer, Athener; die Bewohner von Ägina, Kreta, Arkadien, Sizilien, Libyen, Eypern, Lydien, Phrygien und Samothrafe. 14. Aufzählung des himmlifchen Heeres des Dionyfos: die Kabiren, Zeldinen, Korpbanten, Kentauren, Kyflopen, Nigipanen, Silenen, Satyrn, Baldhanten, Baffariden. Schlacht am Aitakidifhen See. Sein Wafler in Wein verwandelt. 15. Die Inder betrinten fi umb werden zu Gefangenen gemadht. Ihr Führer Aftrais zieht fi vor Dionyjos zurüd. Die Nymphe Nikäa und der Hirt Hymnos. Tod des Hymnos und Trauer feiner Herden. 16. Rache bes Eros. Liebesgefchichte bed Dionyfos mit Niläa. Geburt bes Teletos. Gründung ber Stadt Nikäa. 17. Dionyfos verläßt Mäonien. Gaftfreundidaft des Hirten Brongos. Kampf in den Bergen. Dionyfos langt fiegreih am Orontes an. Orontes ber Inder bringt fh jelbft um. Blemys, der Fürft des äthiopifchen Arabiens, unterwirft ſich. 18. König Staphylos und fein Sohn Botrys. Palaft und glänzende Gaftlichleit des Staphylos. Er ftirbt in Abwejenheit bes Dionyfos. Rückkehr des Dionyfjos. Trauer: feierlihfeiten. 19. Dionyſos tröftet die Königin Methea und ihren Sohn Botrys. Er führt Spiele zu Ehren bes Staphylos ein. Dichterifher Wettſtreit zwischen Onagrios und Eredtheus. Pantomimifcher Wettfampf zwiichen Maron und Silenos. Der letztere in einen Fluß verwandelt.

IV. Der weitere Zug nad Indien. Abenteuer unterwegs. 20. Dionyſos, von der Zwietracht aufgeftahelt, zieht nad Indien. Methea und Botrys begleiten ihn. Am Libanon vorbei gelangt er nad Nyja, ber Refidenz des Lykurgos. Diejer verfolgt ihn und zerfireut die Bakchanten. Der Gott flieht in das Rote Meer. 21. Ambrofia befämpft Lykurgos. Diejer wird von den Ammen bes Dionyſos gefangen. Seine Wut. Seine Befreiung. Zeus nimmt ihm das Augenlicht. Dionyfos verläßt das Meer. Sein Geſandter ehrt von König Deriades zurüd. Die Inder legen fi in den Hinterhalt. 22. Dionyfos zieht voran. Der ihm gelegte Hinterhalt wirb vereitelt. Glorie des Gottes; Heldentaten des Onagrios, Eretheus und Kalos. 23. Der Feind ins Waſſer getrieben. Das Heer will den Hydaspes überjchreiten. Zorn des Flußgottes. Drohungen des Dionyjos. Die Wafler in Brand geftedt. Der Ozean ruft Thetis zu Hilfe. 24. Hydaspes ruft um Gnade und wird in Wein verwandelt. Milde des Dionyfos. Trauer des Feindes. Klage einer indiſchen Witwe. Feſtmahl bes Heeres. Eiferſucht der Aphrodite auf Athene.

V. Die Kämpfe des Dionyfos in Indien. 25. Anrufung des Homer und Pindar. Bergleih des Dionyfos mit Perjeus, Minos und Herafles. Attis überbringt ihm im Auftrage Rheas die göttlichen Waffen. Morya und Tylos. 26. Athene reizt, in der Geftalt des Orontes, König Deriades zum Kampfe auf. Aufzählung der indifhen Truppen. Stammbaum bes Königs Deriades. 27. Auf: ftellung der zwei Deere. Reben ber beiden Führer Deriades und Dionyfos. Zeus jendet feinem Sohne Apollon, Athene und Hephaiftos zu Hilfe. Die Götter jcheiden fih in zwei Parteien. 28. Beginn der Schlacht. Der indiſche Held Korymbaſes. Der Elefant des Deriades wird getötet. Mut ber Athener. Heldentaten ber Kyflopen. 29. Fortjegung des Kampfes. Hymenaios nah großen Waffentaten verwundet und bon Dionyjos geheilt. Die Inder werben zwiſchen die Stadt und den Fluß Hydaspes gedrängt. Traum des Ares: er geht aus der Schlacht, um Aphrodite zu bewachen. 30. Morrheus greift den Eurymedon an, ber von feinem Vater Hephai—

12 Fünftes Kapitel,

ftos verteidigt wird. Der Flußgott Hydaspes beſchirmt Morrheus, der auf bie Bakchanten einftärmt. Tod bes Tektaphos. Here ermutigt den Deriades. Dionyfos weicht zurücd, wird aber von Athene in den Kampf zurüdgeführt. 31. Here ver- ſchafft ſich durch Perfephone die Hilfe der Megära, dur Iſis aber den Gürtel der Aphrodite, um Zeus zu betrügen. 32. Zeus durch Here in Schlaf gelullt, während der Kampf immer hifiger, Dionyfos durch Megära in Raferei getrieben wird. Die Inder dringen fiegreih vor; alle griechiſchen Heerführer weichen, mit Ausnahme des Aakos. 33, Die Chariten Hagen weinend bei Aphrodite; dieſe ſchickt dem Dio- nyjos den Eros zu Hilfe. Diefer entflammt den Inder Morrheus mit Liebe zu Challomedia, die ſich entjeßt, aber von Thetis beruhigt wird. 34. Morrheus in heftiger Aufregung. Bei dem wieder begonnenen Kampf nimmt er viele Bakchanten gefangen und übergibt fie dem Deriades zur Beftrafung. Während er fi dann mit Chaltomedia aus dem Gefecht zurüdzieht, werden die Baflariden hart an die Stabt gedrängt und daſelbſt eingeihlofien. 35. Niederlage der Baldhanten. Chalfomedia und Morrheus. Hermes befreit die Baffariden. Zeus erwacht und befiehlt Here, den Dionyjos von feiner Raſerei zu befreien. Diejer kann denn ins Treffen zurüd- fehren und entflammt die Seinen zum Kampf. 36. Kampf ber Götter, von Hermes beſchwichtigt. Gefecht zwifchen den Indern und ben Satyrn. Deriades von Dionyjos angegriffen. VBerwandlungen bes Gottes. Die Rhadamanen rüften Schiffe zum See- frieg. Waffenſtillſtand.

Vl. Der Seelampf in Indien. 37. Beftattung der Gefallenen. Der Scheiterhaufen des Opheltes. Spiele an jeinem Grab. Fauft: und Ringkampf. Wettlauf. Diskuswerfen. Bogenſchießen. Sceinfampf. 38. Wieberbeginn bes Kampfes. Sonnenfinfternis. Hermes erzählt Dionyjos die Geihichte Phastons. 39. Flottenfhau des Dionyjos und des Deriades. Die Reben beider an ihre Truppen. Aatos betet zu Zeus, Erechtheus zu Boreas. Schiffskampf. Morrheus verwundet. Brander des Kabiren Eurymedon. Brand der Flotte. Deriades flieht. 40. Athene täuſcht den Deriades, der in den Fluten des Hydaspes ertrinft. Die Klagen ber Fürſtinnen. Ende bes indifchen Krieges. Dionyſos entläßt fein Heer und fommt nad Tyrus. Beihreibung der Stadt. Erfindung der Schiffahrt. Tyrus und feine Brunnen,

VO. Die Rüdfahrt. Dionyjos in Tyrus und Beros. 4l. Be ichreibung von Beroe. Die Nymphe Beros, Tochter der Aphrodite und bes Adonis. Ihre Mutter forſcht über ihr künftiges Geihid nah und fordert Eros auf, Pofeidon und Dionyſos für fie zu entfachen. 42. Dionyjos verkleidet ſich erſt als Jäger, dann als Gärtner, um ihr jeine Liebe zu erflären. Auch Pofeidon verliebt ſich in Beros. Aphrodite fürchtet ihre Eiferfuht und fordert die beiden Freier auf, ben Befit der Braut durch einen Wettlampf zu entjcheiden. 43. Die Heere der zwei Götter ziehen gegeneinander und werden von ihren Führern angefeuert. Der Kampf bricht log, aber Zeus macht ihm bald ein Ende, Beros wirb dem Pojeidon zugeteilt, Dionyjos durch Eros getröftet.

VII Dionyjos in Griedhenland. Seine Apotheoſe. 44. Dionyios in Theben. Aufruhr unter den Thebanern. Der Traum Agaves. Pentheus waffnet feine Untertanen. Dionyfos ruft Selene an und bejudt Autonoe in ber Geftalt eines Stieres. 45. Agaves Rajerei. Teirefias und Kadmos nehmen die Verehrung des Dionyjos an. Pentheus befämpft fie. Die Tyrrhenier. Der Rieje Alpos. Ge- waltmaßregeln des Pentheus. Wunderzeihen in Theben. 46. Auf den Rat des Dionyſos verkleidet fih Pentheus als Weib, um die Vkyfterienjeier zu überwachen, und wirb von den Baldantinnen in Stüde zerrifien. Trauer der Agave, der Autonoe

Nachklänge antifer Poefie. Verſuche chriſtlicher Epit. 73

und des Kadmos. Dionyjos zieht nah Athen. 47. Dionyfos in Attila. Ylarios und Erigone. Ariadne auf Naros. Kampf des Dionyjos gegen Perfeus in Argolis. Tod der Ariadne. Der Wahrjager Melampos ftiftet Frieden. 48. Gäa reizt ihre Söhne zum Kampf gegen Dionyjos. Die Gigantomadhie endet mit dem Siege bes Dionyfos. Abentener des Gottes mit Pallene und Aura. Der dritte Dionyios, Apotheofe des Dionyfos !.

Eine eigentliche künſtleriſche Einheit, d. 5. eine Einheit der Handlung, befitt die Dichtung offenbar nicht; es ift nur die Verjönlichkeit des Dionyſos, welche die einzelnen Abenteuer loſe zuſammenhält. Doch ballen fi die breiten Stoffmafjen in acht größere Teile, die für ſich ziemlich) gut gegliedert find. Auch in Bezug auf diefe aber find die folgenden Bemerkungen des franzöfijchen Überjegers, de3 Grafen de Marcellus, nit ganz aus der Luft gegriffen:

„Nein, bei Nonnos find nicht, wie man gejagt, mehrere Gedichte in ein einziges zufammengebrängt; er hat eine fefte Methode, einen wohlerwogenen Plan, ben er ohne Berworrenheit entworfen, ohne Unordnung befolgt hat. . . Bevor er den wohl» tätigen Gott vorführen konnte, mußte er erft zeigen, aus weldem Chaos jeine Macht die Welt herauszog. Daher glei am Anfang der Kampf des Guten mit dem Böjen oder des Zeus mit Typhoeus; dann folgen die Verſuche des Kadmos und der Har- monia, welche den Kultus und die Künfte Phöniziens und Ägyptens in den Schoß von Griechenland verpflanzen. Nach Zagreus, der in der Verſchwörung der Titanen, dem zweiten Anjturm des böfen Prinzips, untergeht, ericheint endlich ber große Dionyfos, Dionyjos ber Thebaner, dad vom Blitz erzeugte zivilifatorifche Genie. Er entihlüpft der Wohnung des Athamas, dem Neide ber Here und wählt auf an der Seite Rheas, der allgemeinen Mutter. Dann bändigt der Gott Die Ungeheuer, welche die Welt quälen, gewöhnt feinen Leib an die Vorübungen des Kampfes und Ihafft den Wein, feine friedlihe Waffe der Eroberung. Bald jammelt er aus allen Zeilen der Welt und aus ben Reihen der himmlischen Gefhlehter ein ungeheures Heer; er ftellt ih an feine Spike, um Indien zu unterwerfen, auf demjelben Weg, den Alerander eingeihlagen. Darauf folgen bie Tage am Aſtakidiſchen See und in den Engpäflen bes Libanon, welche für Dionyjos die Schladten am Ifſus und Granifus bedeuten; langjam folgt man der Verbreitung bes Weinftods in dieſem pomphaften Wanbderbud aus bem inneren Golf von Nilomedien bis an die Ufer des Hydaspes quer durch feindliche Hinterhalte, wie dur gaftliche Hütten und Paläfte. In Indien entfaltet fi der Kampf mit all feinen Peripetien, Wechjelfällen, Siegen, Niederlagen, Überrafhungen und friegerifhen Künften. Endlich triumphiert Dionyfos und begründet feinen Kult und jein Reich bei den Völkern des indiſchen Orients. Alsdann kehrt er an die Hüften des Meittelmeers zurück, wo er fein anderes Heer mehr mit fi führt als fein gewöhnlices Gefolge. Er beſucht unterwegs Tyrus, das Vaterland feines Ahnen Kadmos, bereichert mit jeinen Gaben das glänzende Berytos und bie Täler des Libanon; dann zieht er dur Eilicien und Lydien, trägt feinen wohltätigen Einfluß weiter nad Europa, jteigt von den Bergen Thraciens und Dlaceboniens herab nad TIheben, wo er einjt geboren wurde, und wo feine gött- liche Macht fi in der Beitrafung eines ungläubigen Königs offenbart; gleich darauf weiht er Athen in jeine Diyjterien ein und tröftet zu Naros eine trauernde Geliebte;

! gl. Migne, Patr. gr. XLIII 1227—1232,

74 Fünftes Kapitel.

benn er verfteht die Kunſt, Tränen zu trodnen und Schmerzen zu lindern. Sodann befämpft er jeine unverſöhnliche Feindin Here im Herzen von Argos ſelbſt, dem irdiihen Mittelpunkt der Macht der Götterfönigin, bändigt bie Rieſen von Thracien, d. h. die unfrudtbaren Gebirge, unterwirft Pallene, db. h. den ber Kultur wiber- ftrebenden Boden. Nah Phrygien zurücgefehrt, dem Reiche feiner Amme Kybele, bon wo er ausgezogen, bezwingt und mildert er bajelbjt die giftigen Ausdbünftungen ber Luft und verläßt endlich die Erbe, um unter den Scharen ber Unfterblichen feinen Thron zu befteigen. Diefes Gejamtbild entbehrt fiherlih nicht der Großartigfeit, nicht des Zufammenhangs.“ !

Mit Rüdfiht auf die meite Ausbreitung des Dionyſoskultes, feine fulturelle Bedeutung, feinen Zuſammenhang mit den berühmteften Mofterien, mit der dithyrambiſchen Poejie und mit dem Urjprung des helleniſchen Dramas gewinnt dieſer poetiihe Baldhuszug noch ein größeres nterefle. Doch war dem Dichter und feiner Zeit der altklaffiiche Geihmad zu ehr abhanden gefommen, als daß er im Auge gehabt hätte, dem reihen Stoff eine feite, abgerundete Einheit zu geben. Es war ihm weit mehr darum zu tun, gleih Ovid die bunte Fülle antiker Mothen in einen gemeinjamen Rahmen zu bringen und mehr den Zauber der Mannigfaltigteit wirken zu laffen. Das jagt er jelbft in der Anrufung der Mufen:

Afare nor vapdnza, rıwafarz zönßala, Moboa:, zat zaldyın Ödre Bupaov dsıdönevov Jıovsaou*

alla yopod YJavoyra, Papw rapa yslrovı viow, armearz nor Nowrja rolurporor, bppa pavsiy, rormilov eldog Eywv, ürı romilov Duvov dpdeow.

Neichet den Narther mir, o Diufen, und jchlaget die Cymbeln,

Gebt in die Hand mir ben Thyrſos, den herrlichen, bes Dionyſos, Laſſet, gejellt eurem Chor, auf der Inſel nahe bei Pharos

Zanzend den Proteus mich mit feinen Verwandlungen ſchauen, Bunt von Geftalt und Geſicht; denn ein buntes Lied will ih fingen.

So läßt Nonnos denn der Phantafie ganz ungebunden die Zügel ſchießen, ſchweift bei jeder Gelegenheit zu epiſodiſchen Sagen ab, malt die einzelnen Scenen jo breit wie möglid) aus, häuft Gegenjäte oder ähnliche Züge, bildet lange Stellen des Homer in übertriebener Weije oder an un— geeignetem Plate nad, jpielt willfürlih mit dem Wunderbaren und über: bietet jeine Haffiihen und alerandriniihen Vorbilder und oft fi jelbit im übermaf der maleriſchen Schilderung, des Ausdruds und der Sprade. Es it, als ob auf dem indiſchen Schauplag auch indiiche Maßlofigfeit und Phantaftif in die helleniihe Sage und Dichtung hereingebrodhen wären. Der junge Gott Dionyjos tanzt ſchon wie ein Viſhnu im Mutterleibe, der Berg Kithairon vergießt Tränen, und der Berg Atlas dreht den Himmel im

ı112—16. Be Migne, Patr. gr. XLII 746 747.

Nachllänge antiker Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif. 75

Kreife herum. Durch diefe Buntheit und Üppigleit ift die Dichtung mehr zu einem folofjalen fünftlihen Schauftüd ala zu einem von tieferem reli- giöfen und nationalen Gehalt befeelten Epos geworden. Sie madt fat den Eindrud, als hätte hier die antife Mythologie mit ihrem ganzen Vor: rat don Homer und Hefiod bis zu den Alerandrinern gänzlihen Ausverkauf balten wollen.

Bei alledem erweiſt fih Nonnos als einen Dichter, der ebenſowohl die Titanenſchlacht des Hefiod oder die Kämpfe der homeriſchen Helden mit einer gewiſſen Selbftändigfeit nadhzubilden weiß als die zarte und liebliche Klein— malerei der Bukolifer und die jentimentalen Versromane der alerandriniichen Erotifer. Er befigt Feuer und Kraft wie Anmut und Leichtigleit. Die dichteriſche Sprache beherricht er im feltener Fülle und hat fie mit treffenden Neubildungen vermehrt. Auch dem Herameter hat er gewiffermaßen ein neues Kolorit gegeben, indem er ihn ftreng daktyliſch hielt, d. h. nie mehr al3 einen Spondeus in demfelben Versglied (Kolon) duldete und die Haupt: cäfur ftatt nad der Arfis des dritten Fußes, erſt nad dem Trochäus des- jelben eintreten ließ (weibliche oder trochäiſche Cäſur). Auch anderweitig unterwarf er den Bau des Herameters firengeren Regeln. So darf 3. B. nie ein auslautender Bofal mit dem anlautenden des folgenden Wortes zufammen- ſtoßen, ein furzer Vokal nicht durd die bloße Kraft der Arſis und Cäſur gelängt werden, die Schlußfilbe eines Verſes für gewöhnlich nicht kurz jein. Elifionen ſucht er jorgfältig zu meiden. Durch diefe Einſchränkungen, welche auf dem feinften Gefühle für Wohllaut beruhen, haben die Verſe des Nonnos eine jeltene Weichheit und einen melodischen Fluß erlangt, melde ſich für die bufolifden und romantischen Epifoden feiner Dichtung vorzüglich eignen, wenn aud ihre Gleihförmigfeit auf die Dauer eine gewilfe Eintönigkeit herbeiführt.

Überaus merkwürdig wäre es, wenn derjelbe Nonnos, der letzte große hellenifche Epiter, der noch einmal das Füllhorn des alten Mythos in den einſchmeichelnden Verſen der „Dionyfiata“ ergoß, der zum Abſchied noch einmal den bakchantiſchen Siegeszug des vielbefungenen Dionyjos in aller Pradtentfaltung helleniicher Sprache jchilderte, wirklich die religiöje Nichtig: feit des Paganismus eingefehen, ſich als betagter Mann oder ſchon Greis zum GChriftentum befehrt und mit der ganzen Fülle feiner Spradgewandt: heit das Evangelium des Hl. Johannes in die poetifchen Formen des alten Hellas gekleidet hätte, um den jchönheitsdurftigen SHellenen den menſch— gewordenen Logos, fein Leben und feine Lehre, feinen Opfertod und feine glorreihe Auferftehung näher zu bringen. Volle Gewißheit haben wir hierüber nicht; doc ſpricht eine nicht geringe Wahrfcheinlichkeit dafür. Zum wenigſten ift den „Dionyſiaka“ des Nonnos bald die feinen Namen tragende Baraphraje des Johannesevangeliums gefolgt, welche in Versbau, Sprade

76 Flinftes Kapitel.

und Ausdrud die innigfte Verwandtſchaft mit Nonnos verrät; die erfte chriſtliche Epik in griehiiher Sprache fußt alſo in formeller Hinfiht un— mittelbar auf ihm.

Meraßoin zo zara "lodvvuyv Ayloy edayyektov: „Umſchreibung des heiligen Evangeliums nad Johannes” lautet der Titel. Das Gedicht flieht fh eng an den Evangeliften an, Vers für Vers wird beibehalten und in griehiihe Herameter umgegojjen.

Ayposog dv, üxiynros, & dphyrw .loyos äpzn, leogung Isverüpos üpndızos, Nlöog duntwp,

hai Joyog abrogiror @soö, güs, dx Pdeos Ps. llarpos In» duspıorog, drpsuor aivdpovos Eden“ Kai Hzüg bnyevedlog En» Adyos. Obros ar’ dpyüs devdwm auvelaure Gew reyvijnove xöonou Ilpsoförspos xöoonoro, Kal Iriero zdyra di abroö, Amvoa zai nyelovra* zal dpyorivou diya Misov 0ud8, Zpu rörsp Eoxe.

Zwed der Paraphrafe ift nicht, den Sinn des Evangeliums dem Ver: ſtändnis näher zu bringen, jchwierige Gedanken und Verbindungen zu er= läutern. Sie ift mehr eine Umfchreibung der Worte als der Gedanlen. Oft begnügt fih Nonnos einfah, den Tert metriſch zu geftalten und dur ſchmückende Beimörter und Appofitionen leicht zu erweitern. So lautet 3. 8. Io 15, 1 2: „Ih bin für die erneuerte Welt der Weinftod des Lebens, mein Vater aber ift der Winzer. Die jhönlaubige Rante, welche nicht vermochte, Trauben Hervorzubringen, wird er abſchneiden. Diejenige aber, welche geziert ift mit dunfelfarbiger Frucht, die weiß mein Vater, der lebenjpendende Adersmann, zu reinigen bon dem zu früh hervorgejproßten Laub, damit jie mehr Frucht bringe.“ Anderswo wird nur der einfache Ausdrud des Evangeliums in dichteriihe Sprache umgeſetzt; z. B. „ſtatt am dritten Tage“ (2, 1) jagt der Dichter: „ALS die dritte bräutliche Morgenröte die Felszacken mit Purpur bemalte.” Manchmal werden nahe liegende Gedanten in die Erzählung eingefügt; jo ſchlägt (1, 50) Nathanael vor feiner Antwort fih dor Verwunderung vor die Stim; 12, 31 ſchwingen die Juden die abgejhnittenen Palmzweige dem Heiland entgegen; da man dem Herrn am Kreuze Ejfig reicht (19, 29), fügt der Dichter bei: „und da3 aljo war die Vergeltung für den honigjühen Schnee des himmlijchen Brotes“ (Manna); an 18, 28 knüpft fih ein Ausruf über die Schein: heiligfeit der Juden. Mitunter bietet ein einzelnes Wort des Evangeliums Anlaß zu einer breiteren Amplifilation: jo wird zu 18, 1 der Bad Cedron, V. 3 der Zug der Häfcher, V. 19 das Äußere des Kaiphas während feiner Antwort genauer bejchrieben. Der einzige Bers 11, 44 wird in vollen 22 SHerametern ausgeführt, welche die Auferftehung des Lazarus in groß:

Nachklänge antiter Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif. 77

artigfter, ergreifendfter Weile zur Darftellung bringen. An andern Stellen find dagegen Beräteile! oder ganze Verſe? weggelaffen.

Trotz der ftrengen Regeln, mit welchen Nonnos die Freiheit des Hera- meters einjchränfte, fließen feine Verſe überaus leiht und wohlklingend dahin, und fo Hat der Dichter der Paraphraje das nicht geringe Verdienſt, die Gedanken des erhabenften der vier Evangeliften mit der reichten Pracht einer Dichterſprache umfleidet zu haben, welche zu jener Zeit unzweifelhaft das Entzüden der gebildeten Kreife war. Sie verrät nicht nur den aus- gezeichnetften Verskünſtler jener Zeit, jondern einen Dichter, der jeine Sprach— gewandtheit und jein Formtalent in tiefer Ehrfurdt und Frömmigleit dem heiligen Terte unterordnete und fie jo in den Dienſt des „Königs“ ftellte, wie er gewöhnlich den Heiland nennt. Dur dieſen treuen Anſchluß an den evangeliihen Tert, die maß- und gejhmadvolle Erweiterung desjelben, die herrliche Sprade und die melodiihe Schönheit des Verſes ragt dieſe ältefte griehiiche Evangeliendihtung weit über die ihr folgenden lateinijchen, auch über mande der jpäteren Meſſiaden hervor.

Die Verstechnik wie die Epif des Nonnos fand zahlreihe Nachahmer und machte gewiſſermaßen Schule. Bon Tryphiodoros, ebenfalld einem Ägypter, führt Suidas vier Dichtungen an®, von welchen fi indes nur da3 unbedeutende Epyllion „Die Eroberung von Troja” erhalten hat. Von Kolluthos aus Lyfopolis in der ägyptiſchen Thebais ift ebenfalld nur ein Epyllion „Der Raub Helenas“ (in 400 Berjen) vorhanden; feine übrigen Werte* find verloren. Hohen Ruf al Epiker genoß Kyros, gleih Nonnos aus PBanopolis, im Jahre 441 Konful, jpäter Biſchof von Kotyaion, jo daß man ihn jogar als einen Sohn Kalliopes und Mild- bruder Homers feierte; doch fennt man von ihm nur ein paar Verſe in der Anthologie. Claudian, wahrſcheinlich identiſch mit dem lateiniſchen Dichter Claudius Glaudianus, ſchrieb die Stadtgejhichte (Ta rdrpıa) von Tarjos, Anazarba, Berytos und Nilda in Berjen; erhalten find von ihm nur einige Epigramme (in der Anthologie) und fiebzig Shöngebaute und wirk— ih erhabene Berje einer Gigantomadie. Ein ſchönes Gedicht auf Ehriftus (Anthologie XIII 615) läßt annehmen, daß er fpäter Chrift geworden,

Bekannter als dieſe Dichter wurde Mufaios, über deſſen Lebenszeit die Vermutungen früher um 1000 Jahre auseinandergingen. Stil und

1So fehlt 1, 30: öre npwrög ou Av; 14, 26: 5 rind ö marıp iv rw öyöpari nov; dgl. 1, 12; 11, 33 ꝛc.

24, 41 42; 6, 41—55; 8, 38 haben alle Eodices eine Vüde.

Hapadwvıazd, IMov ülwuas, Ta zara Irzodaznzcav, Odsoesıa Asıroypdunaros.

* Kalvdwuaxa, Ilspawxd, ’Eyrönıa.

® Herauögeg. von A. Ludwich, Leipzig 1897; Th. Birt (Monum. Germ. Auctores antiquissimi X), Berlin 1892, 415—422,

78 Fünftes Kapitel.

Metrum machen es indes ziemlich fiher, dab er der Schule des Nonnos beizuzählen, andere Momente deuten darauf hin, daR er gleich diefem zum Ehriftentum übergetreten if. Seinen Ruhm dankt er dem Epyllion „Hero und Leander”, das in jeinen 340 Berjen zwar nicht die dolle Strenge der alttlajfiichen Form beſitzt, aber eine bezaubernde Anmut der Daritellung und Sprade entfaltet!. Nicht mit Unrecht Hat man es „die letzte Roſe im dahinwellenden Garten der griehiichen Poeſie“ genannt. Das Schönfte daran, die Sage, hat er freilich nicht jelbft erfunden, aber fie echt dichteriſch zu geftalten verftanden. Der ergreifende Schluß lautet:

Nacht war's, wenn fich zumeift dumpfbraufende Wetterorfane, Schauriges Wintergeftürm herſchleudernde Wetterorfane,

Zu dem Geftade des Meeres in tummelnden Scharen heranziehn. Aber Leandros, im hoffenden Wahn ber gewohnten Vermählung, Trieb daher auf dem Rüden ber lautaufbrüllenden Meerflut.

Schon an die Wog’ antürmet die Woge fi, Brandungen jehäumen, Ather vermengt mit dem Grund fich, es wacht ringsum das Getös auf Wildanfämpfender Stürm’, auf Zephyros braufet nun Euros,

Und es entbeut auch Notos dem Boreas furdtbare Drohung,

Und es ertoft ohn’ Ende die wildherdonnernde Salzflut.

Aber aus ftrudelnden Wirbeln erhob der duldende Yüngling

Oft fein brünftiges Flehn zur Göttin der Flut, Aphrodite,

Oftmals aud zu ihm jelber, dem Dieerobwalter Pojeidon,

Ließ auch den Boreas nicht ungemahnet der attıihen Jungfrau. Aber es half ihm feiner, denn nicht wehrt Eros den Dloiren. Rings num gepeiticht von ber ſchwellenden Flut unbezwinglihem Andrang, Trieb er daher. Schon löfte der Füß' anftrebende Kraft ſich,

Unb es erihlafften die Sehnen der nie ausruhenden Arme,

Ihm in den Mund von ſelber ergoß fi ein reihliher Meerichwall, Und unerquidlihen Trunk des brandenden Salzes verſchluchkt' er. Jetzt auch löſchte die trügende Lampe ein feindlicher Winbdftoß, Löſchete Leben und Liebe dem jammervollen Leandros.

Schlaflos ſpähet indes, und bes immer noch weilenden Yünglings Harret die Braut, durchſchauert von oft aufftöhnender Bangıtis. Eos bämmert empor, und es jah nicht den Bräutigam Hero. Rings nun ſchweifet ihr Blick auf des Meers unermeßlichem Rüden, Ob auf der Flut fie gewahre des irrenden Lagergenofien, Welchem die Lampe verloih, und jobald fie zu Füßen des Turmes An dem Gezade der Klippen zerichmettert ben toten Gemahl ſchaut, Da, von der Bruft wegreißend den künſtlich gewobenen Leibrod, Schwingt fie mit Macht fih, vornübergebeugt, von ber ragenden Turmhöh'. Über des Gatten entfeelter Geftalt erblaßte auch Hero, Und bie Liebe vereint fie auch noch in dem legten Verberben ?.

! Ausgaben von Fr. Paſſow, Leipzig 1810; Dilthey, Bonn 1874. Schwabe, De Musaeo Nonni imitatore, Tubing. 1876. ® Iberfeßt von Fr. Paſſow.

Nachklänge antiker Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif. 79

Auch eine Dichterin Hat diefe Übergangszeit aufzuweiſen. Es iſt Athenais, die um ihrer Schönheit wie um ihrer Geiftesbildung Hoch» gefeierte Tochter des Philojophen Leontios!, Mutmaßlich um den Anfang des 5. Jahrhunderts geboren und im Heidentum auferzogen, nad) des Vaters Tod von habgierigen Brüdern um ihr Exrbteil bedroht, juchte fie Hilfe und Schuß bei der jugendlihen Kaijerin Pulderia, melde damald das Steuer des oftrömischen Reiches führte, und fand bei ihr nicht nur den gewünjchten Schuß, jondern ward von ihr zur Gemahlin ihres Bruders, des Kaiſers Theodofius II., auserjehen. Nachdem fie die nötige Vorbereitung erhalten, empfing fie die heilige Taufe, wobei Pulcheria ſelbſt ihre Patin ward und Athenais ihren bisherigen Namen mit dem fürftlihen Eudokia vertaufchte. Als Alia Eudokia wurde fie am 7. Juni 421 durd den Patriardhen Attikus dem Kaiſer angetraut; ſechzehn Jahre jpäter ward ihre Tochter Eudoria mit dem weſtrömiſchen Saifer Valentian ILL. ebenfalls in Kon— ftantinopel vermähft. Die Trennung von ihrem geliebten Finde trübte indes bon da an ihr Familienglüd. Auf den Rat der Hl. Melania der Jüngeren ſuchte fie 438 Troſt in der Wallfahrt nad Jerufalem, wo fie ein volles Jahr vermweilte. Nach ihrer Rückkehr flörten mwahrjdeinlih un— begründete Eiferfuht des Theodofius und Palaftintrigen das bisherige gute Einvernehmen der faiferlihen Gatten. Eudokia fiel bei Theodoſius in vollftändige Ungnade und ſah ſich genötigt, zwiihen den Jahren 441—444 vom Hofe fich zurüdzuziefen. Sie wählte zu ihrem Aufenthalt abermals Jerufalem, wo fie, mit allem äußeren Prunk einer Kaiferin umgeben, den Reit ihrer Tage verliebte. Während der monophyfitiihen Wirren dajelbft ließ fie fich zeitweilig von den Führern der neuen Härejie umgarnen, unter: warf jih aber 456 den Defreten des Konzil® von Chalcedon und ftarb (etwa um 460) im Schoß der fatholiichen Kirche. Ihren Reichtum ver: wandte fie in freigebigfter Weiſe auf Werke der Frömmigkeit und Wohl: tätigfeit. Sie ließ die Mauern der Stadt wiederherftellen, ftiftete Klöfter und Hojpize und erbaute in der Nähe der Stadt eine herrliche Kirche zu Ehren des hi. Stephanus. Seit Helena hatte niemand jo viel für die Stadt getan. Ihre Mupeftunden wandte die feingebildete Kaiferin der Poeſie zu.

Nah dem Vorbild des Nonnos verfaßte Eudokia poetiiche Paraphrafen in Herametern zum Oftoteuh (d. 5. zu den fünf Büchern Mojes, den Büchern Jofua, Richter und Ruth) jowie zu den Propheten Zacharias und Daniel. Diejelben find nicht erhalten. Photius, der fie noch gelejen, erklärt fie für bewundernswürdig, nicht nur weil eine Frau, und zwar eine im faiferlihen Glanze jchwelgende, diejelben verfaßt, jondern aud an

ı 5. Gregorovius, Athenals. Gefchichte einer byzantiniſchen Kaiſerin?, Leipzig 1882. Wiegand, Euboria, Worms 1870.

80 Fünftes Kapitel.

fih, als eine ganz hervorragende Leiſtung im epiſchen Metrum. Als einzige Schwäche derjelben in künſtleriſcher Hinficht bezeichnet er den Umftand, daß die Dichterin, auf poetijche Freiheit völlig verzichtend, fi zu eng an den bibliſchen Text anſchließt, faum etwas verkürzt oder verlängert, nod weniger den jugendliden Leſer durch jelbftändige Erfindungen und Digreſ— fionen zu ergößen wagt. Wie er bemerft, rechneten ihr dies andere zum Lobe an,

In ähnlicher Weiſe bearbeitete Eudofia in drei Büchern die Legende des Magier Eyprian und der Märtyrin Juftina, melde als Borläuferin der Theophiluslegende und Fauſtſage wie durch Calderons „Wundertätigen Magier“ Hohe Bedeutung für die ganze Weltliteratur erlangt hat. Diejelbe lag ihr in der Projafaffung der jog. Confessio Cypriani vor: fie veritieg fih auch hier nicht zu einer völlig jelbftändigen Behandlung, jondern be- gnügte ſich, diefelbe in Herameter umzugießen. Von diejer Dichtung ift noch ein größerer Torſo vorhanden, aber Anfang und Schluß fehlen. Von dem Ganzen liegt aber noch ein ziemlich reichhaltiger Auszug des Photius vor?,

Danad) begann das erfte Bud mit der Geſchichte der heiligen Märtyrin Suftina, welde, zum Chriftentum befehrt, auch ihre Eltern für dasjelbe gewinnt. Ein Jüngling, von ihrer Schönheit bezaubert, verſucht umjonft, ihre Liebe zu gewinnen, und wendet ſich nun an den in allen magijchen Künften erfahrenen Cyprian. Diefer bietet alle diabolifhen Mittel auf, um die keuſche Maid ins Wanken zu bringen, aber umfonft. Das Sreuzes: zeichen vereitelt allen Teufelsfpuf. Cyprian bricht deshalb mit den Dämonen, wirft alle feine magiſchen Bücher ins Feuer, läßt fih im Ghriftentum unterrichten, empfängt die heilige Taufe und die niederen Weihen, wirft Wunder, treibt Teufel aus und wird jchlieflih auf den erzbiſchöflichen Stuhl erhoben.

Die Confessio und nad ihr aud das Gedicht der Eudokia ift nicht gut angelegt. Denn das zweite Buch wiederholt einen guten Zeil des be: reits Erzählten. Nur wird Cyprian hier redend eingeführt und entwirft an feinen eigenen Lebensihidjalen ein eingehendes Bild von dem gejamten Gößenaberglauben und dem Dämonismus der antifen Welt.

! Photius, Bibliotheca, cod. 133 (Migne, Patr. gr. CI 535—538).

? Die Fragmente der Eudofia herausgeg. von A. Ludwich, Leipzig 1897. Der Auszug bes Photius (Cod. 184) bei Migne a. a. O. CII 537—542. Bol. Th. Zahn, Eyprian von Antiohien und die deutſche Fauſtſage, Erlangen 1882.

» Dies beruht auf einer Verwechſſung des Märtyrer Cyprian von Antiochien mit dem bl. Eyprian von Karthago, welche ſich Schon in einer Lobrede des hl. Gregor von Nazianz auf den lehteren findet und dann in die Schriften des Prubdentius und anderer überging.

Nachklänge antiter Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif,

Bekenner Chriſti, die ihr treu und warm Im Herzen hegt den vielgeprief'nen Heiland, Seht meiner Tränen friſchen Strom, und dann Bernehmt, aus welhem Quell mein Kummer ftammt. Und ihr, die noch der finſtre Wahn umftridt Der Götzeubilder, merkt auf das, was id) Bon ihrem Lug und Trug erzählen werde. Denn nimmer hat ein Menſch gelebt, der fo Wie ich dem falichen Göttern war ergeben Und der Dämonen Art jo gründlich kannte.

Ja, Eyprianus bin ich, den als Kind Die Eltern dem Apollo bargebradt. Es war bes zarten Säuglings Wiegenlieb Gelärm der Orgien, wenn man das Feſt Des graufen Drachen feiert’. Siebenjährig Ward ich geweiht bem Sonnengotte Mithras. Ich wohnt’ in der erhab’nen Stadt Athen Und ward ihr Bürger au. Denn jo gefiel’s Den Eltern. Als ih zehn der Jahre zählte, Hab’ ich Demeters Fadeln angezündet Und mich verientt in Koras ZTotenflage. Ich hegt' der Pallas Schlange auf der Burg Als Zempelfnabe.

Dann zum Waldgebirg Olympos jtieg ih auf, wo Toren fid Den lichten Wohnfik jel’ger Götter denken. Die Horen fah ih und den Schwarm der Winde, Der Tage Chor, die phantafiebeflügelt Mit Gaufelbildern durch das Beben ziehn. Ih jah Gewühl von Geiftern fampfentbrannt, Und Hinterhalte voller Lift; von Spott Und Laden beritend bie, und jene ganz Bon Schred erftarrt. Die Reihen ſah ih all’ Der Göttinnen und Götter. Denn wohl vierzig Und nod mehr Tage hab’ ih dort vermweilt. 65 war mein Dahl, wern Helios niederſank, Der bichtbelaubten Wipfel Frucht. Wie Als wären fie aus hoher Königsburg Entfandt, durchziehn die Luft die Geifterboten, Um dann zur Welt hinabzufteigen, wo Die Menſchheit fie mit taufend Übeln plagen.

Ich zählte fünfzehn Jahr’ und kannte ſchon Die Wirkenskraft der Götter und der Geifter, Denn mich belehrten fieben Oberpriefter. Der Eltern Wille war, daß ich gewänne Von allem Wiffenihaft, was ift auf Erden, Im Reich der Lüfte und im tiefen Meer. Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. m. 4. Aufl.

82 Fünftes Kapitel.

Ich hab’ durchforſcht, was in ber Menſchenbruſt Verderben brütet, was im Kraute gärt,

Im Saft ber Blumen, was um müde Leiber

Als Siechtum ſchleicht, und was die bunte Schlange, Der Fürft der Welt, voll arger Lift erfinnt,

Um Gottes ew’gen Ratſchluß zu beftreiten.

Ans ſchöne Land von Argos zog ih Hin, Das roffenährende. Das Feſt der Eos, Der weißgewand’gen Gattin des Tithonos, Beging man grad, und dort ward ich ihr Priefter. Ich lernte fennen, was geſchwiſterlich Die Luft und dieſes Poled Rund durchzieht, Mas Waller maht der Aderflut verwandt, Und was die Himmel trübt als Regenihaner !.

Weiter geht die Wanderung dann nad) Elis und Sparta, nad Phrygien, Agypten, Chaldäa und Perfien, um allen Zauberjput diefer Völker zu er gründen. Alle böjen Geifter, den Teufel jelbit lernt Gyprian fennen. Die Schilderung ift von hoher poetiiher Schönheit.

Ih jah den Dämon jelbft von Angeficht, Nachdem ih ihn mit Opfern mir gewonnen ; Ich ſprach zu ihm, und er erwibert! mir

Dit Schmeihelworten, Deine Jugendſchöne Und mein Geſchick zu feinen Werten rühmend, Verhieß er mir die Herrſchaft dieſer Welt Und gab mir Madt, den Geiftern zu gebieten. Er grüßte mid mit meinem Namen, alg

Ich ſchied, und ftaunend ſahn es feine Großen. Sein Antlik gleicht ber Blume reinen Goldes; Er trägt ein Diadem von Funkelſteinen

Und flammenbes Gewand. Die Erde bebt, Wenn er fih rührt. In dichten Reih'n umftehn Speerträger feinen Thron, den Blick gejentt. So bünft er fi ein Gott, jo äfft er nad Des Emw’gen Werke, den er frech beftreitet. Dod machtlos jhafft er nicht’ge Schemen nur; Denn ber Dämonen Wejenheit ift Schein.

Diefer lügnerifhe und trügeriihe Charakter des Dämoniſchen wird noch des meiteren gejchildet. Dann fommt Gyprian endlih auf das eigentliche Abenteuer der Legende.

Ich z0g vom Land ber Perfer fort und kam Nah Antiohia, der großen Stadt

ı jiberfeßt von Gregorovius, Athenais 267 ff.

Nachklänge antifer Poefie. Verſuche hriftlicher Epif. 83

Der Syrer; bier verübt’ ih Wunders viel

Bon Zauberei und hölliſcher Magie.

Ein Yüngling ſucht' mic auf, Aglaidas,

Bon Lieb’ entbrannt, und mit ihm viel Gefährten. Ein Mädchen war's, Yuftina ift ihr Name,

Für das er glüht’, und meine Knie umſchlingend Beihwor er mid, in feine Arme fie

Durch Zauberfunft zu ziehn. Und da zuerft Ward mir de Dämons Ohnmacht offenbar. Denn fo viel Geifterfharen er beherrſcht,

So viel entjandt er wider jene Jungfrau,

Und alle kehrten fie beſchämt zurüd.

Auch mid, Aglaidas’ Beförd’rer, machte Juftinas fromme Glaubensfraft zu Schanden; Sie zeigte mir, wie eitel meine Kunft.

Manch ihlummerloje Naht durhwadt’ ih da Und quälte mi mit Zauberei ab.

Zehn Wochen lang beftürmt’ der Fürſt ber Geifter Das Herz der Jungfrau. Eros hatte, ah! Nicht den Aglaidas allein verwundet,

Auch mich ergriff der Liebe Najerei.

Vergebli) wendet Cyprian andere diaboliihe Kunſtſtücke an; vergeblich bringt er durch Unglüdsfälle die Eltern Juftinas an den Bettelftab; vergeblich ſucht er das ganze Volt mit einer Peft heim. Grbittert wirft er endlich dem Dämon feine Ohnmacht vor; diefer droht ihn zu erwürgen, aber auch Cyprian ſcheucht ihm jetzt mit dem Zeichen des Kreuzes fort und wendet ſich um Hilfe an die chriftlihe Gemeinde.

Hier briht das Fragment der Eudofia ab. Nah dem Auszug des PHotius wird noch weiter erzählt, wie Cyprian von dem milden Priefter Eufebius aufgenommen wird, der Zauberei entjagt und ſich befehrt, auch Aglaidas jeine Güter an die Armen verteilt und Chriſt wird.

Das dritte Buch behandelte das Martyrium Cyprians und Juſtinas.

Es verdient fiher Beachtung, dab eine jo feingebildete Griedhin wie Eudokia, welche den zeitgenöjfischen Hellenismus von Grund aus fannte, die Götter und Mofterien Griechenlands fo unbedenklich in dieſes düftere Nacht: gemälde des heidnifhen Zauberglaubens hineingezogen und gewiljermaßen das Heidentum jelbft ebenjo unnachſichtlich enilarvt hat als einer der chrift- fihen Apologeten. Aber ungleich ſchöner und rührender ijt die Huldigung, welche die einftige Verehrerin Athenes und Aphrodites, die Kaiſerin von Byzanz und die Kaiferinmutter von Rom, in dieſer frommen Legenden- dihtung der Macht des Kreuzes, der fiegreihen Jungfräulichleit und dem chriſtlichen Martyrium darbringt.

6*

84 Sechſtes Kapitel.

Schjtes Kapitel, Die Anfänge der chriſtlich-lateiniſchen Literatur.

Mie der hl. Paulus in griehijcher Sprade an die Römer jchrieb, der hl. Markus in derjelben Sprade fein zunächſt für die Römer beftimmtes Evangelium verfaßte, der hl. Polykarp auf griehiih in Rom predigte, die erften römischen Päpfte, wie der hl. Klemens, und die älteften römijchen Kirchenſchriftſteller griechiſch ſchrieben, jo iſt das Griechiſche bis an die Wende des dritten zum vierten Jahrhundert die liturgiſche und kirchliche Sprache Roms geblieben. Deutlich weiſen dies die Inſchriften der Papſtgräber aus!,. Der hl. Hieronymus kannte nur zwei chriſtliche Schriftſteller, die vor Tertullian lateiniſch ſchrieben. In vielen Zeilen Italiens aber, in Gallien, Spanien und Afrifa mußte das Evangelium gleih von den älteften Zeiten an aud in lateinischer Sprache gepredigt werden. Die beftändige Anwendung des Bibelwortes bei der hriftlihen Predigt heiſchte auch bald eine Überſetzung der beiden Teftamente, und fo entitand ſchon früh im zweiten Jahrhundert die ſog. „Itala“, das älteſte chriftlihe Denkmal in lateiniſcher Sprade?. Genau läßt ji die Zeil und Weife ihrer Abfaſſung nicht beftimmen, aber Tertullian fand fie gegen Ende des Jahrhunderts ſchon in allgemeinem Gebrauh. Durch mannigfahe Eigentümlichfeiten der Volksſprache, Gräzismen und Hebraismen weicht die Sprache diefer Über: ſetzung ſtark vom klaſſiſchen Latein ab.

Als unmittelbares Gotteswort, Quelle der Offenbarung, Grundlage der gejamten neuen Weltanfhauung drängte die Bibel für die nächſten Jahrhunderte wie im Orient jo auch im Occident alle übrigen Studien

! L’uso eostante della lingua greca in quegli epitaffi (dei romani pontefici) & prova manifesta, che greco fu il linguaggio ecclesiastico della chiesa romana nel secolo terzo. ... Circa la fine del secolo terzo, o volgendo il quarto, la greca lingua ecelesiastica cedette in Roma il luogo alla latina (G.B. De Rossi, Roma Sotterranea II, Roma 1867, 236 f). Über andere griechiſche Inſchriften in Rom vgl. G. B. De Rossi, Inscriptiones christianae II, Roma 1888, xxvı f; Batiffol, Anciennes litteratures chret. 114.

® R. Cornely, Introductio generalis I, Paris. 1885, 358 f; ed. 2, Paris. 1894, 876 f. Verzeichnis ber Handichriften und ber neueren Arbeiten von Rönſch, Ziegler, Ranfe, Wölfflin, Berger, Wordsworth, Belsheim in Nov. Testamentum graece, ed. Tischendorf. Ed. VIII. 3b II. Prolegomena seripsit ©. R. Gregory (9483—971). Ältere Literatur über die „Itala“ bei Sabatier, Bibliorum 8. Latinae versiones antiquae, 3 Bde, Remis 1739—1749; Bianchini, Evangeliarium quadruplex, Romae 1749 (abgedbrudt bet Migne, Patr. lat. XII 9f). Über die Bezeichnung „Itala“ vol. Wölfflin (Sikungsberichte der fönigl. bayr. Akademie ber Wiſſenſch., PhHilof.-hiftor. Klafie II, Münden 1893, 256) und F. €. Burfitt (The Old Latin and the Itala, Cambridge 1897).

Die Anfänge der KHriftlichelateiniihen Literatur. 85

und Literaturintereffen zurüd. Das ganze Denken, Leben, Fühlen und Spreden mußte fih erſt umgeftalten, ehe fib auf diejer Grundlage eine neue Literatur entwideln konnte. ine jolhe hat darum erjt gegen Ende des zweiten Jahrhunderts aufzublühen begonnen, und zwar in Nordafrika, wo, wie alle Umſtände andeuten, die ältefte lateiniſche Bibelüberjegung ent: Handen ift!, Die erfte und dringendſte Aufgabe, weldhe an die chriftlichen Schriftfteller Herantrat, war es, ihre verfolgte Religion gegen die Verleum: dungen und ungerechten Anjhuldigungen der Heiden zu verteidigen.

In wahrhaft klaſſiſcher Form entledigte fi diefer Aufgabe Marcus Minucius Felir, nah dem Zeugnis des hl. Hieronymus und des Lactantius ein ausgezeichneter Advokat in Rom, der erft in jpäteren Jahren „aus tiefer infternis zu dem Lichte der Weisheit und Wahrheit” empor: drang. Zu jeinen Freunden zählte er Octavius Januarius, der, gleich ihm Sadhmalter, noch vor ihm zum Chriftentum übertrat, aber gewöhnlich in Afrika lebte, und Cäcilius Natalis, der, noch Heide, aus Cirta in Numidien (Ronftantine) gebürtig war, aber in Rom lebte. Dieſe zwei Freunde und fich jelbft wählte er zu Perfonen eines Dialogs, den er mutmaßlih ſchon in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts jchrieb, der für die ges bildeten Heiden jener Zeit berechnet ift und durch Schönheit und Form— vollendung den Leiftungen der beften damaligen Profanſchriftſteller gleich— tommt. Der Dialog führt den Titel „Octavius“ 2,

Die drei Freunde machen einen Ausflug bei Oftia, der folgendermaßen geihildert wird:

„Die Herbftferien waren angebrocdhen und hatten uns Raſt von den gerichtlichen Sorgen verschafft. Denn um dieſe Zeit trat nad den heißen Sommertagen bereits ein angenehm gemäßigtes Herbfimetter ein. So fpazierten wir denn ſchon in aller

Frühe am Meeresftrand,, ein janft fähelnder Wind erquickte die Glieder, der weiche Sand gab ſehr angenehm jedem Schritte nad ba erblidte Eäcilius eine Statue

ı Überrefte der „Itala“ haben fih in den beweglichen Teilen der Meſſe (In— troitus, Grabuale, Offertorium, Kommunion) jowie in Antiphonen und Reiponforien bis heute im der firhlihen Liturgie erhalten, während bie Epifteln und Evangelien nad und nad ber Vulgata entnommen wurden. In die Vulgata ſelbſt ift die Über- ſezung ber Pſalmen und der beuterofanonischen Bücher aus ber „Itala“ herüber« genommen. Ältere Sammlung der Fragmente von Sabatier. Die Funde haben ſich inzwiſchen jehr vermehrt, und die Münchener Akademie bereitet eine neue Aus« gabe vor.

® Ausgaben von F. Balduin, Heidelberg 1560; C. be Muralt, Züri 1836; Lübkert, Leipzig 1836; Migne, Patr. lat. III 239 #; F. Debler, Leipzig 1847; A. Holden, Cambridge 1858; E. Halm (Wien 1867; Corpus seript, ecel. lat. II); 9. Hurter, Innsbrud 1871; 3.3. Corneliſſen, Leiden 1882; 5. Leonard, Namur 1888; €. Bährens, Leipzig 1886. Überjegungen von J. G. Rußwurm, Hamburg 1824; Lübkert, Leipzig 1836; A. Bieringer, Kempten 1871; B. Dombart, Erlangen 1875, ?1881; 9. Hagen, Bern 1890.

86 Sechſtes Kapitel.

des Serapis und warf ihr nad Sitte des abergläubiichen Volkes ein Kußhändchen zu. Da jagte Octavius: ‚Das ift nicht Schön und vet, Bruder Marcus, dab bu einen Mann, der im häuslichen wie Öffentlichen Leben dir fo nahe fteht, im dieſer Blindheit des ungebilbeten Volkes verharren, ja ihn bei hellem Tage an Steinen anftoßen läſſeſt, allerdings behauenen und gefalbten und befränzten; bu weißt doch, dab die Schmach dieſes Irrtums nicht weniger dich als ihn trifft.‘ Unter diefer Rebe hatten wir ſchon die Hälfte der Stadt durdfchritten und befanden ung am offenen Strand. Dort riejelten fanfte Wellen über den äußerſten Sand dahin, wie um ihn zum Wege zu glätten. Und wie das Meer auch bei rubigem Wetter immer ruhelos ift, jo wogte es, zwar nicht in ſchäumender Brandung, and Land daher, aber doch in anjehnlichen, gefräufelten Wellen.

„Da ftreiften wir herum und ergößten uns fehr, indem wir hart an ber Grenze des Meeres einherfchritten, das abwechſelnd heranwogend unjere Füße umſpielte und dann wieder zurückweichend, feine Fluten im fich ſelbſt verſchlang. Langjam und ruhig gingen wir am Saume bes janft gejchweiften Geftades umher und fürzten uns den Weg mit Gejhichten.“

Cäcilius redet aber nit mehr mit, jondern geht ſchweigend und Ihmollend neben den andern her. Darüber befragt, gefteht er, daß er fi dur die Äußerung des Octavius ſehr gekränkt fühle. Er ſchlägt eine ein: läßlihe Disputation vor und wählt Marcus zum Schiedsrichter zwiſchen ſich und Octavius. Sie ſetzen ih nun am Meeresftrande, Marcus in der Mitte,

Cäcilius eröffnet feinen Angriff mit der Erklärung, dab er als Skep— tifer an der fihern Erfenntnis des Wahren wie an einer göttlihen Welt: regierung berzweifle (das war damals die Philofophie der meiften jog. „Ge: bildeten“, wie jo oft in fpäteren Zeiten), daß man aber um jo mehr an dem Glauben der Bäter fefthalten müfje, denen Rom feine Größe dante; dagegen frevelten aber die Chriften durch ihre aller Vernunft und Sitt: lichkeit jpottenden Lehren: Verehrung eines Ejelstopfes, thyeftiiche Mahlzeiten, ruchlojefte Blutjhande und Atheismus. Denn der aufgeflärte Steptifer glaubt an allen Unfinn, den man verleumderiſcherweiſe gegen die Chriften ausgeftreut. In faft doppelt jo langer Rede übt Octavius zuerft eine ver: nichtende Kritik an der heidniſchen Vielgötterei und widerlegt dann, Schritt für Schritt, die faljchen Anktlagen wider die Chriften. Mit Freuden erklärt fih Gäcilius für befiegt. „Darauf gingen wir froh und heiter von dannen: Gäcilius, meil er zum Glauben gelangt; Octavius freute ſich, weil er geftegt ; id, meil jener.glaubte und diejer gefiegt.“

Als Borbild Hatte ſich Minucius Felix die Schrift des Cicero De natura Deorum gewählt, worin der römiſche Populärphilofoph der chriſt— lichen Weltanfhauung ftellenweije näher fommt als die meilten Weifen des heidnischen Aitertums!. In Schönheit der Anlage, Abrundung der Form

» Über Anflänge an Vergil und andere Klaſſiker vgl. H. Boenig, Minueii Felicis Octavius, Edit. Teubner, Leipzig 1908.

Die Anfänge der Kriftlich-lateinischen Literatur. 87

und Reinheit der Sprache ift das Vorbild jo ziemlich erreicht, jo dak manche diefe Apologie für die ſchönſte des chriſtlichen Altertums halten. Sie befigt alle Anmut eines klaſſiſchen Meifterwert3 und dazu die shriftliche Idealität und Wahrheit. Es war hier in trefflicher Weile der Weg gewieſen, auf welchem chriſtliche Philoſophie und Theologie fih mit der altklaſſiſchen Form organiſch verbinden und eine Haffiihschriftlihe Literatur anbahnen fonnten.

Allein Männer von der Hohen Bildung und dem feinen künſtleriſchen Geihmad des Minucius Felix waren felbft unter den Heiden des damaligen Rom jo dünn gefät, daß man ihn faft als eine Ausnahme betrachten kann. Es läßt ſich auch nicht leugnen, daß ein enger Anſchluß an den Eiceronianismus in der eigentlihen Theologie, in der Behandlung der heiligen Schriften auf faft unüberfteiglihe Schwierigkeiten geftoßen wäre, und daß er bei ftrengerer oder weniger firenger Durhführung faft notwendig eine gewiſſe Steifheit, Eintönigkeit und Manieriertheit hätte herbeiführen müffen, wie bei den ſpäteren Humaniften. Die römische Welt ſchloß indes längft zu bunte Elemente ein, um ciceronianishe Sprade und Stil in ihrer Reinheit zu pflegen. Die meiften Schriftiteller ftanden unter dem Einfluß auch anderer Autoren, der griehiichen Literatur und des Verkehrs mit Semiten und Germanen. Die meiften nahmen viel von der freieren Volksſprache in fih auf und achteten nur darauf, ſich ihren Lejern möglichſt verftändlih zu maden!. Stiliften und Grammatifer mögen dies bedauern, der eigentlichen Geiftesbildung hat es eher gefrommt als geichadet.

' Ipsa latinitas quotidie mutatur et regione et tempore, jagt ber hl. Hieronymus (Ad Gal. prol. 2). Konflikte mit der Grammatif waren darum faft unausweihlid. Melius est, ut grammaticos offlendamus, quam legentibus scrupulum aliquem in veritatis explanatione ponamus (Rufinus in der über— fegung von: Origenes, In Cant. cant.; Migne, Patr. lat. XIII 151). Am refoluteiten fündigte der hl. Auguſtin den Grammatifern den Gehorjam auf: Quid ad nos, quid grammatici velint? Melius in barbarismo nostro vos intel- legitis quam in nostra disertitudine vos deserti eritis (In Psalm. 36 serm. 3, n. 6; Migne a. a. ©. XXXVI 386). Melius est, reprehendant nos grammatici, quam non intellegant populi (In Psalm. 138, n. 20; Migne a. a. ©. XXXVI 1796). Salvator. Hoc est enim latine Iesus., Nec quaerant grammatici, quam sit Jatinum, sed christiani, quam verum. „Salus“ enim latinum nomen est, „sal- vare“ et „salvator* non fuerunt haec latina, antequam veniret salvator: quando ad latinos venit, et haec latina fecit (Sermo 299, n. 6; Migne a. a. O. XXXVIII 1371). Plerumque loquendi consuetudo vulgaris utilior est significandis rebus, quam integritas literata. Mallem quippe cum barbarismo dici: non est abscon- ditum a te ossum meum, quam ut ideo esset minus apertum, quia magis latinum est (De civ. Dei III 3, 7). Bgl. 8. Sittl, Die Iofalen Verfchiedenheiten der lateiniſchen Sprache, Erlangen 1882. G. Kofmanne, Gefhichte des Kirchen— lateins, Breslau 1879.

88 Sechſtes Kapitel.

Der frühefte, ſprachgewaltigſte Schriftjteller diefer Art, ein eigentliches Kraftgenie, ift Quintus Septimius Florend Tertullianus, als Sohn eines römischen Genturio in prokonſulariſchem Dienft 160 zu Karthago geboren. Beide Eltern waren Heiden. Er erhielt die höhere Bildung, die zum Staats: dienst befähigte, und eignete fi) das Griechiſche jo volllommen an, daß er ganze Schriften in diefer Sprache verfaffen konnte. Wahrieinlid die Standhaftig- feit der hriftlihen Märtyrer und ihre Gewalt über die Dämonen bewogen ihn, Chrift zu werden. Juriſtiſch und jonft vieljeitig gebildet, ein angejehener Mann, erhielt er aud die Würde des Presbyterats umd trat unter den Kaijern Severus und Garacalla (193— 217) mit dem fyeuereifer eines Neu: befehrten, der Gewandtheit eines Sachwalters und der Kraft eines mächtigen Agitators für den Glauben ein. Sein unbejonnener libereifer verftridte ihn jedod in die Irrtümer der Montaniften, und er befämpfte in der legten Zeit ſeines Lebens den fatholiihen Glauben faſt ebenjo heftig wie zubor das Heidentum, Nach Hieronymus ftarb er erit in hohem Greifenalter, aljo gegen die Mitte des dritten Jahrhunderts. Seine zahlreihen Schriften zer: fallen in drei Gruppen: 1. apologetifche; 2. moralifch-paränetiiche; 3. dog— matijch=polemiide!. Sie gehören aljo alle dein theologijchen Gebiete an; das literariiche jtreifen fie nur infofern, als in einigen die Stellung der Chriften zur Literatur berührt wird, und infofern Tertullian der lateiniihen Sprache und Diktion neue Bahnen eröffnet hat.

„Diefer vir ardens (wie ihn der hl. Hieronymus ? nennt) hat in einer Flammen ſprache geredet. Ein Fanatismus ohnegleihen tobte in ihm, eine ihn jelbft und andere verzehrende Glut. Maßlos wie jein Haß gegen die Heiden und heterodoren Ehriften, zügellos wie jeine Phantafie ift feine Sprade. Von keinem ift bie lateinifche Sprade auf einen fo hohen Grad ber Leidenihaftlichkeit gehoben wie von ihm; das Pathos, das Zacitus mit vornehm verhaltener Jndignation zurüddämmt, wird bei ihm zu einer alles Widerftrebende mit fi wirbeinden Sturmflut; er hat die hoheits- volle Ruhe des Tacituö mit der turbulenten Leidenjchaftlichfeit und dem pamphletis ftiihen Ton des Juvenal fowie mit der affektierten Dunkelheit des Perftus verbunden (die beiden erften hat er nachweislich gern gelefen). Es gibt feinen Jateinifchen Shriftfteller, bei dem die Sprache in jo eminentem Sinn ber unmittelbare Ausdrud deö inneren Empfindens gewejen wäre. Er ift ohne (Frage der ſchwierigſte Autor in

Gefamtausgaben von B. Nhenanus, Bajel 1521; 3. Pamelius, Ant« werpen 1579; NR. Rigaltius, Paris. 1634; J. S. Semler, Halle 17691776; 5. Oberthür (nad Semler), Würzburg 1780; Qeopold, Leipzig 1839—1841; Migne (a. a. O. J, Il, Paris 1844); Fr. Oehhler, Leipzig 1853 1854; A. Reiffer- ſcheid-Wiſſowa (1. XI, Wien 1890; Corp. script. ocel. lat. XX). Über: fegungen jämtliher Schriften von Fr. A. v. Besnard, Augsburg 1837 1838; 9. Kellner, Köln 1882; ausgewählte Schriften von 9. Kellner, Kempten 1870 1871. P, Monceaux, Histoire littöraire de l’Afrique chretienne. Bb I: Tertullien et les origines, Paris 1902.

® Epist. 84, 2.

Die Anfänge der chriſtlich-lateiniſchen Literatur. 89

lateiniſcher Sprade; leiner ftellt jo rüdfihtsloje Anforderungen an ben Leſer: er deutet meift nur an, verläßt einen Gedanken plöglid, um ohne anfnüpfende Partifeln zu einem andern überzufpringen, alles ein Ausflug überjprudeluder Leidenihaftlic- feit und haftiger Genialität des Denkens. Er hat mehr als irgend ein antiker Shriftfieller das höchſte Geſetz antiker Kunitanfhauung, die Unterordnung des Indi— viduellen unter das Traditionelle, verlegt: zweifellos mit vollem Bewußtfein und mit Abficht; denn was fein Geiftesverwandter im Often, Gregor von Nazianz, ein- mal jagt: ‚r@ dpyaia mapjider ldoö yeyovs ra rdvra zamwa‘!, das war aud feine fundamentale Überzeugung. Mit einer geradezu beifpiellofen Willfür meiftert er die Sprade, um fie in die Feſſeln feines herrifhen Denkens zu zwängen; er ift fo recht eigentlich der Typus des chriſtlichen Sprachſchöpfers geweien; aus den gewalttätigen Neuprägungen atmet der Geift eines Mannes, ber von dem Glauben durdhdrungen war, daß das Ehriitentum als eine neue Größe in die Welt gelommen jei und da— her neue Faktoren für feine Ausdrudsweije beanſpruchen dürfe. Die verhältnismäßig große Biegſamkeit und Geſchmeidigkeit, bie der lateinischen Spradhe in jehr alter Zeit eigen geweien war, und bie fie durch die Beftrebungen der Puriften und Analogiften in fletigem Fortſchreiten verloren hatte, ift ihr tatſächlich durch das Chriſtentum wieder gegeben worden, freilich in einer Art und in einem Umfang, die ihrer gravitas widerfpracdhen.” ?

An diefem ebenjo lebendigen als treffenden Porträt ift nur dies richtig: zuftellen, dab das, was hier „Fanatismus“ genannt wird, in den meilten Fällen eine glühende, wohlbegründete Begeifterung für die hriftliche Religion, der Abſcheu Tertullians aber nicht gegen die Heiden, jondern gegen das Heidentum, deſſen innere Lügenhaftigfeit, Unfittlichleit und blutige Berfolgungs: wut gerichtet ift. Häufig läßt fi) indes Tertullian als Apologet von diejem Feuereifer zu weit fortreißen. Er fennt in der Polemik feine Mäßigung. Kein Vergleich ift ihm zu niedrig und niedrig genug, wo e& gilt, die Häretifer ihres Anſehens zu berauben und lächerlich zu machen.

Die Stellung der Ehriften zur Literatur und zur heidnifchen Bildung überhaupt berührt Tertullian hauptfählih in feinen zwei Schriften „Von den Schaujpielen“ (De spectaculis) und „Vom Gößendienft“ (De idolo- latria). Beide find an die Chriften gerichtet und bezweden, diejelben voll: Händig von dem Beſuch der heidniſchen Schaufpiele wie von allen Beziehungen zum heidniſchen Polytheismus abzufhreden. ZTertullian geht dabei jchroff, unnahfihtlih, mit unbeugjamer Strenge voran. Ohne langes Tyederlejen

ı Mit dem Alten iſt's vorüber. Siehe, alles it neu geworben !“

2 €. Norden, Die antife Kunſtproſa II, Leipzig 1898, 606 607.

Den Marcion nennt er eine Ratte, die das Evangelium zernagt (mus Pontieus, qui evangelia corrosit. Adv. Marcion, I 1). Der Gajaner, den er in der Schrift „Über die Taufe” befämpft, ift ihm „eine giftgeihwollene Natter” (De bapt. c. 1). In der „Scorpiace“ werden bie Häretifer mit Skorpionen verglichen (e. 1). Das Pleroma der Balentinianer mit feinen dreißig onen vergleicht er mit dem Mutterihwein und deſſen dreißig Jungen, welche Aneas bei Vergil als ein günftiges Omen begrüßt (Adv. Marcion. I 5).

90 Sechſtes Kapitel.

wirft er Tragödie und Komödie mit dem Zirkusrennen, den Gladiatoren— fämpfen, Tierhegen und all den übrigen öffentlihen Vergnügen zufammen, die jämtlih dur alten Braud der Verehrung der alten Götter geweiht, den niedrigften Neigungen und Zrieben des Menſchen Huldigten. Wie aus jeinen Ausführungen Klar genug hervorgeht, war das Theater aus feiner einftigen fittlihen Höhe völlig herabgeſunken in den Pfuhl der niedrigften finnlichen Augenmeide, deren gemeinfames Gepräge Wolluft, Graufamfeit und Gögendienft war. Aus ihren geheimen Schlupfwinkeln kroch die Unzucht hier mit triumphierender Schamlofigfeit and offene Tagesliht und verpeftete das ganze öffentliche Leben mit ihrem Gift und ihrer Schande.

Similiter impudicitiam omnem amoliri iubemur. Hoc igitur modo etiam a theatro separamur, quod est privatum consistorium impudicitiae, ubi nihil pro- batur, quam quod alibi non probatur. Ita summa gratia eius de spureitia plurimum concinnata est, quam Atellanus gesticulator, quam mimus etiam per mulieres repraesentat, sexum pudoris exterminans, ut facilius domi quam in scena erubescant; quam denique pantomimus a pueritia patitur in corpore, ut artifex esse possit. Ipsa etiam prostibula publicae libidinis hostiae in scena proferuntur, plus miserae in praesentia feminarum, quibus solis latebant, perque omnis aetatis, omnis dignitatis ora transducuntur: locus, stipes, elogium, etiam quibus opus non est, praedicatur., Taceo de reliquis, ea, quae in tenebris et in speluncis suis delitescere decebat, ne diem contaminarent. Erubescat senatus, erubescant ordines omnes. Ipsae illae pudoris sui interemptrices, de gestibus suis ad lucem et populum expavescentes, semel anno erubescant. Quod si nobis omnis impudieitia execranda est, cur liceat audire quae loqui non licet? Cum etiam scurrilitatem et omne vanum verbum iudieatum a Deo sciamus, cur aeque liceat videre, quae facere flagitium est? Cur quae ore prolata communicant hominem, ea per oculos et aures admissa non videantur hominem communicare: cum spiritui appareant aures et oculi, nec possit mundas praestari, cuius ap- paritores inquinantur? Habes igitur et theatri interdietionem de interdictione impudiecitiae !.

An dieſe vernichtende Charakteriftif des Theaters reiht ſich der allgemeine Satz: „Wenn wir die Lehre der weltlichen Literatur veradhten, weil fie vor Gott als Torheit gilt, ift und genugjam vorgezeichnet, was wir bon jenen Arten der Schaufpiele zu Halten Haben, melde in der Profanliteratur in die komische und tragiihe Gattung unterjdhieden werden. Wenn num die Tragödien jowohl als die Komödien den Trieb zu Verbreden und zur Wol- luft fteigern, graufamen und ausgelafjenen, ruchloſen und lodern Charakters find, jo ift die Vorftellung ſowohl gräßlicher als gemeiner Handlungen um nichts beſſer. Was als Tat verwerflich ift, ift auch in der Rede nicht zuzulaffen.“

Noch viel ſchärfer und allgemeiner verurteilt Tertullian die ganze heidniſche Bildung in der Schrift: „Über den Gößendienft“, der mit dem Kraftſpruch

' Tert., De spectaculis c. 17 (Migne, Patr. lat. I 649 f).

Die Anfänge der Kriftlich-lateinifchen Literatur. 91

beginnt: „Principale crimen generis humani, summus saeculi reatus, tota causa iudicii idololatria Das Hauptverbreden des Menſchen— geſchlechts, die ſchwerſte Schuld der Welt, der Gefamtgrund der Berwerfung: das ift der Göbendienft.” Der Götzendienſt ſchließt alle übrigen Sünden in fih ein; der Gößendiener ift Mörder, Ehebrecher, Schänder feiner jelbit und Betrüger zugleid. Da nun die ganze antike Kunft mit der Mythologie zujammenhängt, jo erfolgt eine ebenjo rückſichtsloſe Verurteilung der gefamten antifen Mtalerei, Plaftil, Kleinkünſte überhaupt. In der ganzen regen Kunft: tätigfeit feiner Zeit fieht er nur die Wirkung der niedrigften Gelüfte „Die Künfte haben fo viel Quelladern, als es Begierden der Menſchen gibt. Tot sunt artium venae, quot hominum concupiscentiae.* Wie den Gößendienft, verdammt er aud) die Sinnenluft und den Ehrgeiz, der die ihönen Künſte bejhäftigt: „Denn verbreiteter als aller Göbenaberglaube iſt Wolluft und Ehrgeiz Frequentior omni superstitione luxuria et ambitio.“

Er jchredt nicht davor zurüd, felbit den gewöhnlichen Schulunterricht des Zujammenhanges mit dem Gößendienft zu zeihen und deshalb als un— erlaubt zu verpönen. Chriften dürfen das Amt eines Scullehrers oder Literaturprofefford nicht auf fi nehmen, weil fie die Jugend in der heid- niihen Mythologie und der ganz davon durdtränkten Literatur unterrichten und die heidnifchen Fyefte mitmachen müßten, wenn fie die an denfelben üb- lichen Feſtgaben erhalten wollten. Hier hält Tertullian aber denn doch inne; auch er läßt einem hriftlihen Humanismus die Türe offen. Er hat nichts dagegen, dab die Jugend, nachdem fie gründlih im Chriftentum unter: richtet und gefeftigt it, auch mit den hHeidniihen Mythen und Dichtungen betannt gemadt werde. Sie ift dann gefhüßt, fie jchlürft nicht aus Un: wiflenheit das Gift ein.

Bei aller Neigung zu übertriebener Strenge, zum Maklojen und Formloſen hat Zertullian doch viel des Anziehenden und Erhebenden. Er befigt im allgemeinen einen jcharfen, praftiihen Blid, die Dialeltik eines tüchtigen Yuriften. Dabei ift er eine Feuerſeele, die alles mit Glut und Leben erfaßt, umd die man nit nah dem Mafe eines jchulmeifterlichen Spiekbürgers meflen darf. Bellagt auch Lactantius, daß fein Stil häufig ihtwer, vernadhläffigt, dunkel jei, jo bemerkt do Johann Cave dazu: „Der Stil des Tertullian hat eine ihm eigene Majeftät und großartige Beredjamteit, reihlih mit Wit und Geiſtesſchärfe gewürzt, die zugleich den Verſtand des Lejers übt und fein Gemüt angenehm erheitert.“ In origineller Kraft des Gedantens und des Wortes fommen ihm wenige gleih. „ryaft jedes Wort it ein Sprud, und jeder Sprud ein Triumph Quot paene verba, tot sententiae sunt, quot sensus, tot vietoriae“, jagt von ihm Vincenz bon Lerin.

92 Schftes Kapitel.

Tertullians beſte Schrift ift feine „Verteidigungsrede ! für die Chriften“, ein wahres Meifterwert wegen der ſchlagenden Dialektik der Beweisführung, der kunſtvollen Abwedilung von Abwehr und Angriff, indem jede Anklage doppelt und dreifah auf die Heiden zurüdgeichleudert wird, wegen der Miihung von jharf jatiriihen Stellen mit andern, in welchen ein wirklich erhabener Ton angejdhlagen wird.

„Euer Haß gegen die Chriften iſt ungerecht“, lautet der Sab, den Ter: tullian aufftellt. „Nicht weil ihr Haffenswertes an uns findet, Habt ihr ung, jondern umgekehrt, weil ihr einmal haſſen wollt, deshalb dichtet ihr uns Haffenswertes an.” Und num geht er nad) einigen einleitenden Bemerkungen alle die einzelnen Beihuldigungen gegen die Chriſten durch, zeigt, wie alles erfunden und widerſpruchsvoll ift, nichts zuſammenhängt, wenn man e3 näher unterſucht. So die Anflagen auf Kindermord und Blutihande, die ſich mertwürdig ausnehmen im Munde von Liebhabern der Gladiatorenjpiele und gewiffer anderer Dinge. Und mas foll erft im Munde der Heiden bie Anklage auf Irreligiofität! „Wie treibt ihr es denn mit euern Göttern!“

„Ih will mich nicht Über euer Verfahren beim Opfern verbreiten, wie ihr nämlich alles, was abgeradert, hinfällig oder räudig ift, als Opfer ſchlachtet, wie ihr von dem fetten und gefunden Vieh nur das abjchneidet, was entbehrlich iſt, bie Köpfe und Klauen, die ihr zu Haufe wohl auch euern Kindern oder den Hunden beftimmt haben würdet, dab ihr vom Zehnten des Herkules nicht einmal ben britten Zeil auf feinen Altar legt, jondern ih will vielmehr eure Weisheit loben, womit ihr von dem, was fonft doch verloren ift, etwas reitet; aber wenn ich mich zu euerer Literatur wende, wodurd ihr euch zur Wiſſenſchaft und zu ben höheren Berufsarten heranbildet, wie viele Narrheiten finde ih dba! Die Götter jollen wegen ber Tro- janer und Achiver, wie Glabiatorenpaare fämpfend, aneinanbergeraten, Venus von einem menſchlichen Pfeile verwundet fein, weil fie ihren Sohn Äneas, der von Dio: medes beinahe getötet worden wäre, biejem entreißen wollte, Mars jei, breizehn Monate lang gefeffelt, beinahe umgelommen, Juppiter nur dur Hilfe eines gewiffen Ungeheuers? davor gerettet worden, daß ihm die übrigen HSimmelsbewohner dasjelbe Schidjal bereiteten; dann beweine er den Unfall des Sarpedon und fröhne mit feiner Schweiter der ſchnöden Luft, wobei er an jeine früheren Freundinnen denkt, die er nicht jo Heftig geliebt habe. Welcher Dichter hat fih nicht nad) dem Vorgange jeines Meifters? als Beihimpfer der Götter gezeigt? Der eine läßt den Apollon dem König Admet zum Biehweiden in Schuldhaft gegeben werden, der andere ben Neptun ſich dem Laomedon zu Frondienften beim Bauen verbingen. Unter den Lyrikern gibt es einen Pindar, meine ih, der da fingt, Astulap fei um feiner Habſucht willen, weil er die Heilfunde zum Schaden ausübte, burch den Blik gezüdtigt worden. Das war nieberträdtig von Juppiter, wenn er es nämlich ift, dem der Blitz gehört, hart war es gegen jeinen Entel und neidiſch gegen den Heilkünſtler. Dergleichen hätte, wenn es wahr, nicht mitgeteilt, wenn es falſch ift, bei jo religiöfen Leuten nicht eine

ı Sb ber Titel Apologeticus oder Apologeticam und ob er in leßterem Fall als Genit. plur, für droloyyruww zu deuten, iſt fraglid. * Briareus,. ® Homer.

Die Anfänge der Kriftlichelateinifchen Literatur. 93

mal erſonnen werben ſollen. Die Tragiker und Komiler üben auch keine Schonung, fondern nehmen gewöhnlich die Sorgen oder Berirrungen in der Familie irgend eines Gottes zur Einleitung. Von ben Philofophen ſchweige ih und begnüge mich mit Sofrates, der zum Hohn auf die Götter bei der Eiche, beim Bod und beim Hunde zu jhwören pflegte. Freilich ift Sokrates deöwegen verurteilt worden, weil er ben Götterglanben untergrub. Ja, feit langem, db. h. immer ift die Wahr: heit verhaßt gewejen. Jedoch, da bie Athener fpäter aus Reue über das Urteil fo- gar die Verleumber bes Sofrates beftraften und fein Bild aus Gold verfertigt im Tempel aufftellten, jo hat ihm der Widerruf der Berdammung feinen guten Auf zurüdgegeben. Aud Diogenes verfpottet, ich weiß nicht was, am Herkules, und der römiſche Cyniker Varro führt dreihundert Joves, die richtiger Juppiters heißen müßten, ohne Köpfe auf,“ !

Wie der Haß die Chriftenfeinde dazu verführt, den Ehriften völlig Falſches anzudichten und aufzubürden, fo verleitet er jie au, mit argwöhnischem Auge ihr Tun zu belauern und ihnen das Unjchuldigfte zum Tadel auszulegen. Wenn die Chriſten einmal ein bejcheidenes Mahl zu Gunften der Armen halten, jo jehreit man über Verſchwendung. Aber werdet man auch gegenüber jonftigen Gaftereien denjelben Mapitab an?

„Wenn fo viele Tribus, KHurien und Dekurien rülpfen, fo wirb bie ganze Atmofphäre weinfäuerlih; wenn die Salier einen Schmaus halten, jo wäre eine Staatsanleihe nötig; den Aufwand der Herkuleszehnten und Opferihmäufe müſſen Regiftratoren zuſammenrechnen; für die Apaturien, Baldhanalien und attiſchen Myſterien wird eine förmliche Truppenaushebung unter den Köchen angefagt; wenn für das Serapismahl gekocht wird, fo fteigt ein Qualm auf, daß die Feuerwehr in Alarm fommt, Nur gegen bie Gaftmahle ber Ehriften hat man Bedenken!”

Ebenſo hat man in anderer Beziehung doppeltes Maß und Gewicht. Berfünden die Chriften die Auferftehung des Fleifches, fo findet man dies läherlih ; dagegen jhenft man dem Pythagoras Glauben, wenn er die Menihen vom Maultier abftammen läßt oder die Seelenwanderung lehrt, jo daß manch einer fih von Fleiſchſpeiſen enthält, um nicht unverjehens einmal „einen Urgroßvater im Rindfleifch zu verjpeien“ 3. Diejelben Dinge nennt man Einbildungen, wenn wir fie vortragen, hohe Wiſſenſchaft aber, wenn ein Philoſoph oder Dichter fie ausjpriht. Nachdem man uns aber als bloße Toren hingeftellt hat, jo übt man Gericht über uns nicht durch Spott, fondern durd Schwert und Feuer, Kreuz und wilde Tieret.

Einen erhabenen Ton weiß Zertullian anzujhlagen, wenn er pojfitid die hriftliche Lehre darlegt:

„Gegenitand unjerer Verehrung ift der eine Gott, welder ben ganzen unend«

lihen Bau, den wir ſehen, famt dem ganzen Zubehör der Elemente, Körper und Geiſter dur das Wort, womit er befahl, und die Weisheit, womit er ordnete, und

! Apologet. c. 14 (überjegt von H. Kellner). ® Apologet. c. 39. s Ebd. c. 48. Ebd. c. 49.

94 Schftes Kapitel.

die Macht, womit ex es vermochte, aus dem Nichts hervorzog, zur Zierbe feiner Herr- lichkeit, weshalb auch die Griechen der Welt ben Namen Kosmos (Schmud, Ordnung) beigelegt haben. Er ift unfihtbar, obwohl er gefehen wird, unbegreiflih, obwohl er mittels feiner Gnade fich zeigt, und unerfaßlid, obwohl des Dienihen Sinn von ihm eine Anihauung hat. Deshalb ift er der wahre und fo groß. Was aber auf gewöhnliche Weiſe gejehen, betaftet und wahrgenommen werben fann, ift geringer als die Augen, bie fi darauf richten, die Hänbe, die es berühren, und die Sinne, bie es finden, Was dagegen unendlich ift, das ift nur fich jelbft befannt. So kommt es, daß man eine Vorftellung von Gott hat, während er eben doch nicht begriffen werden kann. Deshalb ftellt ihn gerade jeine geiwaltige Größe den Menſchen dar als etwas Belanntes und Unbelanntes. Darin beruht gerade das Hauptvergehen derer, die denjenigen nicht erkennen wollen, den fie nicht zu ignorieren vermögen.“ !

Wahrhaft großartig zeihnet er aud die Religion des Chriften, der feinen Gott ehrt „nicht durch das Opfer eines ausrangierten, lebensmüden Ochſen“, fondern dur fein Gebet „aus keuſchem Yeib und unſchuldigem Herzen“, oder wenn er, die Hände in Kreuzesform zum Gebet ausbreitend, den Martertod erduldet.

„Mögen wir durch eijerne Krallen zerfurdt, am Kreuze erhöht werben, mag das Feuer an und emporzüngeln, mögen Schwerter uns den Hals durchhauen, Die wilden Tiere uns anfallen, durch feine Haltung ſchon ift der betende Ehrift zu jeder Todesqual bereit. Auf! ihr wadern Präfides, preffet die Seele aus dem Leib, während fie zu Gott für den Kaifer betet! Wo die Wahrheit Gottes und ber Gehorjam gegen ihn zu finden ift, da muß natürlich auch das Verbrechen fteden.” ®

Einigermaßen getrübt wird die herrliche Rede nur durch einen gewiſſen Zug von Unverjöhnlichkeit, der fie durchklingt, die bittere Überzeugung: „Ihr werdet auf umfere Widerlegung nichts zu jagen finden, ihr werdet die Un— gerechtigfeit eures Hafjes empfinden, aber troß alles Redens auf nichts hören, jondern unbefehrbar weiter Hafen. Alſo nur voran!“

„Quält uns, foltert uns, verurteilt uns, zertretet ung: eure Bosheit ift nur der Beweis für unfere Unſchuld. Darum läßt Gott ung biejes leiden. Da ihr neulich eine Chriſtin nicht den Löwen, jondern ben Lüftlingen vorwarft, habt ihr eingeftanden, dab eine Verlegung der Schambaftigkeit bei ung für ſchrecklicher gilt als jede Strafe und jelbjt der Tod. Und doch fommt ihr mit eurer ausgefuchteften Graufamfeit nicht ans Ziel; fie wirkt eher als Lodipeife für unjere Sekte. Wir werden um fo zahlreiher, je mehr ihr uns hinmäht. Das Blut der Chriſten ift frudtbarer Samen.“

Cruciate, torquete, damnate, atterite nos; probatio est enim innocentiae nostrae inquitas vestra. Ideo nos haec pati Deus patitur. Nam et proximo, ad lenonem damnando Christianam potius quam ad leonem, confessi estis labem pudieitiae apud nos atrociorem omni poena et omni morte reputari. Nec quicquam tamen proficit exquisitior quaeque crudelitas vestra; illecebra est magis sectae. Plures effieimur, quoties metimur a vobis; semen est sanguis Christianorum.

! Apologet. c. 17. ? Ebd. c. 30.

Die Anfänge der riftlicgelateinifhen Literatur. 95

Viel Schönes enthalten auch die andern apologetiihen Schriften Ter— tulliang, die zwei Bücher „An die Heiden“, die Heine Schrift an den Pro- fonjul Scapula, und vor allem „Bom Zeugnis der Seele“, worin das natürliche Zeugnis der Seele für die Wahrheit des Chriftentums noch ein: läpliher ausgeführt wird als im „Apologeticum“. An der Spike feiner dogmatiihen Schriften fteht das berühmte Werk „Über die Prozekeinreden der Häretifer”, dann die Bücher „Von der Taufe“, „Gegen Hermogenes“, „Gegen die Balentinianer“, „Gegen Marcion”, „Von der Seele“ ujm. Unter den praktiſch-asketiſchen Schriften find viel gefeiert: „An die Märtyrer”, „Dom Gebete”, „Bon der Geduld“, „Von der Buße“ uſw.

Auch der Autorität jeiner rehtgläubigen Schriften mußte es natürlich Ihaden, daß er jpäter zu den Montaniften abfiel; doch wirkten diejelben dennoch mächtig meiter und haben der Verbreitung des Glaubens die größten Dienfte geleiftet. Der berühmtefte Schüler diejer Schriften, wenn auch fein perſönlicher Schüler Tertullians, war Thascius Cäcilius Cyprianus (um den Anfang des dritten Jahrhunderts geboren), ein angejehener Rhetor zu Kartdago, um 246 für das Chriftentum gewonnen, jhon 248 oder 249 zum Biihof von Karthago erhoben, in der Verfolgung de3 Valerian 257 enthauptet, der erfte afrifanische Biſchof, der mit der Märtyrerfrone ge: Ihmüdt wurde. Mehrere feiner Schriften fußen auf jenen des Zertullian!, Wegen der Ketzertaufe geriet er in Kontroverje mit dem Papfte Stephan, do blieb Eyprian der kirchlichen Gemeinschaft treu. Seine Schrift De unitate Eccelesiae ift die ältefte Hajfiihe Schrift, welche die frühere Überlieferung über Wefen. und Charakter der Kirche Har und energiſch zufammenfaßt. Cyprian bejaß vor allem ein ausgezeichnetes Verwaltungs— und Organifationstalent, und feine Schriften hatten darum vorab kirchen— rechtliche Bedeutung. Sein Stil ift ruhig, Har, leicht umd gefällig; ge Ihmadvolfe Bergleihe und Allegorien, forgfältig durchgeführt, verraten den feingebildeten Rhetor, warme Innigkeit den gottbegeifterten Glaubens— helden?. Sein hohes ſtiliſtiſches DVerdienft erkennt man erſt dann in

i Ausgaben von Eraſsmus, Bajel 1520; W. Morelius, Paris 1564; % Pamelius, Antwerpen 1568; N. Rigaltius, Paris 1648; Fell und Pearjon, Oxford 1682; Baluzius und Maranus, Paris 1726; Golbhorn, Leipzig 1888; Migne (nad Baluzius), Patr. lat. IV, Paris 1844; ®. Hartel, Wien 1868—1871 (Corp. script. ecel. lat. III); 9. v. Soden, Die cyprianiiche Brieffammlung (Zerte und Unterfuhungen von Gebhardt und Harnad X, Heft 3), Leipzig 1904. Überfekungen ausgewählter Schriften von Krabinger, Augsburg 1848; U. Uhl, Kempten 1869-1879. G. Mercati, Di alcuni nuovi sussidi per la critica del testo di S. Cipriano, Roma 1899.

® Nur in der Heinen Schrift Ad Donatum fiel bereits dem Hl. Auguftin ein gewiffer rhetorifher Schwulft auf, welhen Cyprian nod aus ber heidniſchen Schule mitgebracht hatte, der aber in feinen ſpäteren Schriften einem maßvollen Schmude

96 Sechſtes Kapitel.

jeiner ganzen Bedeutung, wenn man in feiner Brieffammlung die im Yulgärlatein abgefakten Briefe anderer an ihn (Ep. 21 22) mit den feinigen vergleicht.

Aus einem heftigen Gegner der GChriften ward Arnobius, Lehrer der Rhetorik zu Sicca (Numidien), gegen Ende des dritten Jahrhunderts dur ein Traumgefiht in einen Anhänger derjelben umgewandelt und be fämpfte nun in ſechs Büchern „Gegen die Heiden“ feinen früheren Wahn: glauben!,. Die erften drei Bücher find hauptſächlich gegen die abergläubijche Vorftellung gerichtet, das Chriftentum habe alles Elend der Gegenwart herbeigeführt, indem die Götter darüber zürnten; die andern drei Bücher wenden fi unmittelbar gegen die heidniſche PVielgötterei jelbit.

Ein Schüler des Arnobius, Lucius Cäcilius Firmianus Yactantius, wurde aus Afrila, wahricheinlich feinem Heimatlande, von Kaiſer Diocletian al3 Lehrer der lateiniſchen Rhetorit nad Nikomedien berufen, lernte dajelbft das GEhriftentum kennen und trat noch vor der diocletianiihen Verfolgung (303) dazu über, lebte dann in großer Armut zu Nilodemien, ward fpäter als Greis zum Lehrer des Cäſars Grijpus in Gallien beſtimmt und ftarb vermutlih in Trier. Die Arbeiten feiner heidniichen Periode, darunter eine Beihreibung feiner Reiſe nad) Nikomedien in lateinischen Herametern, find verihollen. Bon feinen Werfen, die er als Chrift fchrieb, find feine „Sieben Bücher chriſtlicher Unterweiſungen“ (Divinarum Institutionum libri VI) das bedeutendfte?. In den erften drei Büchern widerlegt er das Heidentum, die folgenden Bücher „Von der wahren Weisheit und Religion“, „Bon der Gerechtigkeit”, „Bon dem wahren Kultus“, „Vom feligen Leben“ (De vera sapientia et religione; De iustitia; De vero cultu; De vita beata),

wid. In populo autem gravi, de quodictum est Deo, In populo gravi laudabo te (Ps 34, 18), necilla suavitas delectabilis est, qua non quidem iniqua dicuntur, sed exigua et fragilia bona spumeo verborum ambitu ornantar, quali nec magna atque stabilia decenter et graviter ornarentur. Est tale aliquid in epistula be- atissimi Cypriani, quod ideo puto vel accidisse vel consulto factum esse, ut sciretur a posteris, quam linguam doctrinae christianae sanitas ab ista redundantia revocaverit et ad eloquentiam graviorem modestioremque restrinxerit, qualis in eius consequentibus litteris secure amatur, religiose appetitur, sed difficillime impletur (8. Aug., De doctr. christ. IV 31. Migne, Patr. lat. XXXIV 102 f). Bol. E. Norden, Die antike Kunftprofa II 620 621.

! Ed, Princeps von Fauftus Sabäus, Rom 1543. Neuere Ausgaben von Migne, Patr. lat. V, Paris. 1844; Hildebrand, Halle 1844; Fr. Oehler, Leipzig 1846; U. Reifferiheid, Wien 1875 (Corp. script. ecel. lat. IV). Deutihe Ausgaben von Fr. U. v. Besnard, Landshut 1842; %. Alleler, Trier 1858,

® Ed. Princeps, Subiaco 1465. Neuere Gefamtausgaben von D. F. Fritzſche, Leipzig 1842—1844; Migne, Patr. lat. VI—VII, Paris. 1844; ©. Brandt und D. Laubmann, Wien 1890 1893 (Corp. seript. eccl. lat. XIX XXVI).

Siebtes Kapitel. Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. u. 5. Jahrh. 97

entwideln pofitiv die chriftlihe Weltanfhauung in foftematiihem Aufbau, doch mehr nad der ethiihen als dogmatiichen Seite Hin, in durchaus eigen: artiger Fafjung und einer Schönheit des Ausdruds, welche die feine Bildung des einftigen Rhetors bezeugt, beſonders innige Vertrautheit mit den Werken des Gicero, den er fih zum Vorbild nahm. Lange Zeit wurde ihm aud die merkwürdige Schrift De mortibus persecutorum, der erite Anja einer lateiniſchen Kirchengeſchichte, zugefchrieben ; doch wird feine Autorſchaft aus inneren Gründen (Berjchiedenheit des Temperament, der Stimmung und Sprade) angeftritten, von andern dagegen verteidigt !.

Siebte3 Kapitel,

Die großen lateinifhen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahr- hunderts.

Einen größeren und freieren Aufſchwung konnte die chriſtliche Literatur erſt gewinnen, als mit dem Siege Konſtantins an der Milviſchen Brücke der Sieg des Chriftentums über das Heidentum aud für die abendländijche Welt entichieden war. Auch diefe Weiterentwidlung der Hriftlihen Literatur gehört nun zwar größtenteil3 dem engeren Kreis der Patriftit oder der Theologie an. Da aber die gejamte chriftlihe Bildung der Folgezeit zu nit geringem Zeil auf diefem ehrwürdigen Untergrunde beruht, jo müffen wir auch kurz der großen Kichenväter gedenken, welche im jchönften Sinne auch Väter der chriſtlich-abendländiſchen Bildung find.

Durch die Kaiſer, in etwa jhon durh Konftantin, weit mehr aber durch die Parteinahme feines Sohnes Konftantius für die Lehre des Arius, wurde auch das Abendland in die theologiihen Wirren hineingeriffen, melde für mehrere Jahrhunderte das geiftige Leben des Orients zerflüfteten, und ebenfalla von der Gefahr bedroht, ftatt der reinen und unverfäljchten chriſt— fihen Lehre gnoſtiſche und rationaliftiihe Willfürdogmen zur Grundlage des teligiöfen und fittlichen Lebens zu erhalten. In Italien übten die arianiſchen Hofbiihöfe der Kaifer durch Lift und Gewalt den hartnädigiten Terrorismus gegen die Anhänger des Nicänums aus. In Gallien wollte Saturnin, der Metropolit von Arles, alle unter das Joch des Arianigmus beugen.

Der erfte und fiegreiche Pionier, der bier für die gefährdete Trinitäts- und Menjchwerbungslehre, die eigentliche Baſis des Chriftentums, in langem

! Segen die Autorſchaft bes Lactantins ift der neuefte Herausgeber, Brandt (im Wiener Corpus); für diefelbe Belfer (Tübinger Theol. Quartalſchriſft UXXIV [1892] 246 ff 439 ff; LXXX [1898] 547 ff) und Pichon (Laetance, Paris 1901), welchem Kloftermann (Zarnde, Gentralblatt 1904, 707) Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Auf.

98 Siebtes Kapitel.

Kampf in die Schranten trat, der Athanafius des Abendlandes, war His larius von Poitiers, zwiiden 310—320 von heidniihen Eltern ge— boren, dur ernftes philoſophiſches Studium dem Glauben entgegengeführt, dann deſſen begeifterter Belenner und Berfechter, jchon geraume Zeit vor 395 Biſchof feiner Vaterſtadt. Auf die Angebereien der Nrianer hin ver— bannte ihn Kaiſer Konftantius nah Phrygien. Das war aber eine wahr— haft providentielle Verbannung. Denn mit dem Griehijchen völlig vertraut, hatte er im Drient Gelegenheit und Muße, fid mit den Werfen der griehiihen DBäter genau befannt zu machen und deren Lehrgehalt in einem eigenen Werke zu verwerten. So entitand jeine bedeutendfte Schrift, ur: ſprünglich „Vom Glauben“ (De fide) oder „Vom Glauben gegen bie Arianer“ (De fide adversus Arianos) betitelt, jpäter befannter unter dem Namen „Von der Dreifaltigfeit“ (De Trinitate), Er wirkte im Orient jo mädtig für die wahre Lehre, dab die Arianer jelbft darauf drangen, daß er wieder nah Gallien zurüdgejchidt werden möchte. Dies gejchah. Durch Klugheit und Milde föhnte er viele Biſchöfe, die unter weltlichen Einfluß abgefallen waren, wieder mit der Kirche aus. Auf einem National: fonzil zu Paris (361) traten fait jämtlihe Biihöfe Galliend wieder der nicäniihen Lehre bei, und Saturninus wurde feines Amtes entjeßt. Auch in Italien bahnte er die völlige Überwindung des Arianismus an. Er führte den Vorſitz auf einem Konzil zu Mailand (364), vor melden ſich der Biſchof diefer Stadt, Aurentius, über feine Lehre verantworten mußte, und wenn e3 diefem aud gelang, den Kaiſer Valentinian mit eiteln Vor— jpiegelungen zu täufchen, jo war diejer Erfolg doch von furzer Dauer, d. 5. bis zum Tode des Auxentius. Hilarius erlebte diefe Wendung aber nicht mehr. Er jtarb bereit3 366, bald nad jeiner Rückkehr, in Poitiers 1.

In jeinem Wert De fide jammelte Hilarius gewilfermaßen die reife Frucht der tiefen Unterfuhungen, welche die griechiſchen Kirchenväter bis dahin über die großen Grundgeheimnifje des Chriftentums angeftellt hatten, durhdrang und verband fie in tiefgehender, eigenartiger Weile und ſchuf jo die vollendetite theologische Schrift, welche aus den langen Kämpfen des Arianismus hervorgegangen ift und ihre wichtigiten Ergebniffe der Nachwelt überliefert. Sie bezeichnet die VBerbindungslinie der griechiſch-orientaliſchen mit der abendländiihen Theologie. Seine Sprade ift fernig, Fraftvoll, urwüchſig; fein Stil ift nit immer ganz frei von Dunfelheit, mit dem ſchwierigen Stoffe ringend, über den bisher in lateiniſcher Zunge noch

! Gejamtausgaben von Eradmus, Bajel 1523; 2. Miräus, Paris 1544; M. Lipfius, Bajel 1550; P. Eouftant, Mauriner, Paris 1693; Sceipio Maffei, Venedig 1749/50; Migne, Patr. lat. IX X, Paris 1844/45. Aus gewählte Schriften, deutih von 9. Fiſch, Kempten 1878.

Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts, 99

nicht geſchrieben worden war, meift von einer edeln Feierlichkeit getragen, die dem erhabenen Gegenftand entipricht, durchweg von hoher, nahezu klaſſiſcher Vollendung !.

Auch feine Kommentare zum Matthänsevangelium und zu den Pjalmen haben bahnbredend gewirkt: der erftere, noch aus früherer Zeit, verfolgt hauptfählih den typiſchen Sinn; der zweite, aus jpäteren Jahren, zieht auch den nädften Wortfinn und deshalb den griehifhen Text zu Rate. Seine Gelegenheitsihriften find nicht bloß für die Theologie, jondern aud für die Zeitgeihichte von hohem Wert. Nachdem er z. B. in einer Schrift an den Kaiſer Konftantius vergeblih geſucht hatte, ſich in offener und redlicher Weiſe gegen die boshaften Verdächtigungen des Metropoliten Sa= turnin zu verteidigen, zeichnet er im einer Klageſchrift wider den Kaiſer, die jedoch erſt nad deſſen Tod ericheinen fonnte, mit hinreißender Bered- ſamkeit das ganze Lug: und Trugſyſtem, auf das der Saifer und die Arianer ihre Politif bauten. Die alten Verfolgungen fcheinen ihm dagegen weniger gefährlich.

„Jetzt aber fämpfen wir gegen einen Berfolger, der betrügt, einen Feind, ber jchmeichelt, gegen Konftantius, den Antichriften; der geißelt nicht den Rüden, jondern flreihelt den Bauch; er proftribiert nicht zum Beben, jondern bereichert zum Tode; er wirft nicht in den Kerker zur Freiheit, jondern er ladet mit Ehren in feinen Palaft ein zur Knechtſchaft; er peinigt nicht die Bruft, fjondern nimmt das Herz gefangen; ſchlägt nit das Haupt ab mit dem Schwerte, jondern tötet die Seele mit dem Golde; nicht droht er öffentlich mit Verbannung, fondern zündet (privatim) im ftillen das Höllenfeuer an. Er kämpft nit, um nicht befiegt zu werben, fonbern er ſchmeichelt, um zu herrſchen. Chriftus befennt er, um ihn zu leugnen; Einigkeit erjirebt er, damit fein Friede fei; er unterbrüdt bie Irrlehren, damit es Teine Ehriften gebe; die Priefter ehrt er, damit fie nicht Biſchöfe feien; der Kirche errichtet er Bauten, um ben Glauben zu Grunde zu richten. Dich trägt er in Worten, dich im Munde herum und tut allerwegen alles, damit du, o Gott, nicht ald Water ges glaubt werdeſt.“

Schwerlich ift eine heimtüdifhe, anſcheinend konziliatoriſche Kirchen— politit weltlicher Herrſcher je jo einſchneidend nad allen ihren Widerſprüchen harafterifiert worden.

Tapfere Bundesgenofjen fand der Hl. Hilarius an dem Biſchof Hofius von Corduba, der wahrſcheinlich bei dem erſten allgemeinen Konzil als päpftliher Stellvertreter den Vorfig führte und nod 354 als achtund—

ı ch trage kein Bedenken zu behaupten, dab er neben Boöthius der form- gewandtefte Schriftfteller der jpätlateinifchen Periode geweſen ift.... Wo bie Rebe ruhig fließt, da bildet er meifterhafte Perioden: man leſe dafür im Anfang des Wertes ‚De fide‘ den ſalluſtiſchen Ideengang in langen ciceronianifchen Perioden und frage fi, ob irgend jemand damals Gleiches geleiftet hat“ (E. Norden, Die

antife Kunftprofa II 588—585). 7*

100 Siebtes Kapitel.

neunzigjähriger Greis das nicänifche Belenntnis im einem griechiſchen Brief an Kaiſer SKonftantius verteidigte, dann an dem feurigen Biſchof Lucifer von Galaris (Cagliari auf Sardinien), der feine derben Briefe an den arianischen Kaifer in gewöhnlicher Vulgärſprache fchrieb und fi in dem legten (360) freudig anbot, für das Bekenntnis der Gottheit Chrifti den Martertod zu leiden, an dem Biſchof Gregor von Gliberis (Elvire bei Granada), dem Diakon Hilarius von Rom, dem heidniſchen Rhetor Marius Victorinus in Nom, der ald Greis zum Chriftentum übertrat und dann in drei Schriften den Arianismus befämpfte, an den Biſchöfen Eujebius von Bercelli und Zeno von Berona, die beide als Heilige verehrt werben.

Der gewaltigfte Kämpe jedoch, der den Arianismus in feinem lebten Hauptbollwerte, in Mailand, niederfhlug, war der Hl. Ambrojius. Derjelbe wurde wahrjeinlid um 340 zu Trier geboren, wo jein Vater, von Hoher, römischer Familie und Chrift, das Amt eines praefectus prae- torio Galliarum befleidete. Als er ftarb, fiedelte die Mutter mit ihren drei Kindern nah Rom über. Ambrofius wurde für die höhere Beamten: laufbahn ausgebildet und erlangte jhon früh, um 374, die Würde eines Konfulars für Ämilien und Ligurien. Als er in feinem Site, Mailand, anlangte, war eben der arianiſche Biſchof Aurentius geftorben. Katholiken und Arianer ftritten aufs Heftigfte, um einen Mann ihres Belenntniffes auf den erledigten Bifhofsftuhl zu bringen. Als Ambrofius in der Kirche erihien, um Frieden zu fliften, wurde er, obwohl noch nicht einmal getauft, wunderbarerweije jelbit zum Biſchof verlangt und wirflid gewählt.

Der Tag, an dem er, erft eine Woche nah Empfang der heiligen Taufe, zum Biſchof Eonfekriert wurde, wird Heute noch (7. Dezember) ala jein Feſt gefeiert.

Als Biſchof entfaltete Ambroſius eine Weisheit, Kraft und Milde, welde ihn für alle Folgezeit zum Herrlihften Vorbild des katholiſchen Epiffopat3 gemadt haben. Sein Vermögen teilte er beim Amtsantritt an die Armen aus und war fürder ihr liebevolliter Anwalt. Seinem Worte lauſchte nicht nur das gläubige Volk, fondern aud die begabteften Geifter und die Mächtigen der Erde. Kaifer Gratian verehrte ihn wie einen Vater, Papſt Damafus übertrug ihm die Führung der wihtigften Angelegenheiten. Furchtlos und unbeugjam wie ein echter alter Römer troßte er allen Ber: ſuchen, welche die ränfevolle Kaiferin Juftina, die Mutter und VBormünderin Valentinians II., madte, um den Arianismus wieder zur Reichsreligion zu erheben. Ebenſo mutvoll ging er im ihrem Auftrag als Gefandter zu Marimus, dem Mörder Gratians, um für die ntereffen Valentinians II. einzutreten. Er ſetzte es durch, daß Balentinian den Heiden fein Gehör ihenfte, melde den Altar der Victoria wieder in der Halle des Senats aufrichten wollten, nachdem ihn Gratian hatte wegräumen laffen. Er er—

Die großen lateinischen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 101

langte auch bei Kaifer Theodofius volle Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche don der Staatögewalt. Auf jeine Bitte nahm Theodofius das Strafeditt gegen die Chriften von Kalliniton zurüd, auf jeine Forderung fügte fi) der gewaltige Monarch nad dem Blutbad von Theſſalonich 390 der über ihn verhängten Kirchenbuße. Er farb 397, von der ganzen hriftlihen Welt verehrt und betrauert!.

Auch die Schriften des großen Mailänder Biſchofs tragen das Gepräge römischer Kraft und Weisheit im jhönften Sinne, verflärt duch die Liebe des Chriſtentums?. Mit den griehichen Kirchenſchriftſtellern, wie Origenes, Bafilius, Athanafius uſw., war er wohl vertraut; aber er verfolgte ihre hohen umd erhabenen Spetulationen nicht weiter, ſondern vermwertete fie mit großer Selbftändigkeit vorwiegend zu praktiihen Zwecken. Ein großer Zeil jeiner Bibelerlärungen wie feiner dogmatiihen Schriften ift aus Predigten und Reden erwachien, z. B. feine ſechs Bücher über das Heraemeron, in welden er vielfach den hl. Bafilius benutzt hat und wie dieſer ein liebevolles Natur: gefühl an den Tag legt. Daß weder er noch die andern Väter jchon den Schwerpuntt menſchlicher Forſchung in Fragen der Kosmologie, Kosmographie und Phyſik legten, kann ihnen, bei dem damaligen Stand der Wiſſenſchaft, nicht zum Vorwurf gemacht werden. &3 mar für die menſchliche Bildung damals unendlich wichtiger, dab die Welt aus dem Jrrwahn des Poly: theismus und der phantaftiihen Härefien herausgeriffen wurde, als daß man ſich bei Erklärung der Genefis mit naturwiſſenſchaftlichen Problemen beihäftigt hätte.

Auf ausdrüdliden Wunfh des Kaiſers ſchrieb Ambrofius ſowohl die fünf Bücher „Bom Glauben, an Kaijer Gratian“, gegen den Arianismus gerichtet, al3 die drei Bücher „Vom Heiligen Geifte, an Kaiſer Gratian“, welche die göttliche Natur des Heiligen Geiftes verteidigen.

Zu den eigentlichen Perlen feiner Werke gehören die moraliſch-asketiſchen Abhandlungen „Bon den Yungfrauen”, „Bon den Witwen“, „Bon der Jungfräulichkeit“. Die Klage, daß er alle Welt ins Klofter bringen wolle, ift unbegründet, wenn er auch nad dem Ausdrud des hl. Hieronymus das Thema „Bon der Jungfräulicleit” einigermaßen erihöpft hat.

! Paulinus, Vita S. Ambros, bei Tillemont, Memoires X 78—306. G. Hermant, Vie de S. Ambroise, Paris 1678. A. Baunard, Vie de 8. Ambroise, Paris 1871; deutſch von Bittl, Freiburg 1873.

? Gejamtausgaben von Erasmus (jehr fehlerhaft), Baſel 1527; I. Gillot, Paris 1569; Kardinal Montalto, Nom 1579-1587; I. du Friſche und N. le Nourry, Mauriner, Paris 1686—1690; danach abgebrudt bei Migne, Patr. lat. XIV—XVI, Paris 1845; P. A. Ballerini, Mailand 1875—1883, C. Schenkl (Corpus script. ecel. lat. XXXII), Wien 1896/97; 9. Schenkl (ebd. XXXI), Leipzig und Prag 1902. Ausgewählte Schriften überſetzt von 5. 8%. Schulte, Kempten 1871—1877.

102 Siebtes Kapitel,

In feiner Schrift De officiis ministrorum, welde der Schrift Giceros De officiis nadhgebildet ift, wendet er fih zwar zunächſt nur an die Diener der Kirche; doch zeichnet fie keineswegs bloß die höhere chriftliche Voll— fommenheit, weldhe die Kirche von ihren Dienern fordert, fondern verbreitet fih in jeher praktiſcher Weiſe über das weitere Gebiet der chriftlichen Pflichten, die allen Chriften gemeinfam find und vorab das joziale Gemeinmwohl be: treffen. Gerade die Parallele zu dem Werke Ciceros zeigt auf Schritt und Tritt, wie hoch die hriftliche Sittenlehre über derjenigen der Stoifer, durch— ſchnittlich der edelften und beften Heiden, fteht, und die häufige Berufung auf Beifpiele des Alten Teftamentes zieht auch die ältere Offenbarung höchſt fruchtreih in die Sittenlehre des Neuen hinein. Prachtvoll find die Leichen- reden auf jeinen Bruder Satyrus wie auf die Kaifer VBalentinian und Theodofius den Großen. Sie find, wie feine (91) Briefe, zugleih auch wertvolle Geſchichtsquellen.

Zahlreihe Anklänge an griechiſche und römiſche Klaſſiker, bejonders Bergil, unerihöpfliche Zitate aus dem verichiedenften Büchern der Heiligen Schrift, häufige Verwendung der griehijchen Schriftiteller bezeugen den weiten Umfang feiner tiefen und gründlihen Bildung. Seine Sprade ift gemefjen und würdevoll; wo ihn jeine raftlofe praftiiche Tätigkeit nicht hemmte, die letzte Teile anzulegen, ift fie auch voll treffender Kürze und origineller Kraft. Seine redneriiche Begabung ift häufig mit einer nicht geringen poetijchen verwandt.

Die meittragende Tätigkeit des großen Kirchenfürſten und Kirchen: lehrer fand ihre Ergänzung und großartige Erweiterung durch die Be- fehrung eines afrikaniſchen Gelehrten und Rhetors, dem der Stadtpräfeft Symmachus zu Rom, der Hartnädigfte Verfechter des alten Heidentums dajelbit, im Jahre 384 einen Lehrftuhl der Ahetorif in Mailand verſchafft hatte. Die Predigt des hl. Ambrofius machte auf den jungen Profeſſor den tiefften Eindrud. Nah langem inneren Kampfe wurde er durch wunderbare Erleuchtung für die Wahrheit des Chriftentums gewonnen und empfing aus den Händen des heiligen Biſchofs in der Naht vom 24. zum 25. April 387 die Heilige Taufe. Es war Aurelius Auguftinus, einer der gewaltigiten Geifter, die je gelebt haben, der chriſtliche Platon, der Vorläufer des hl. Thomas von Aquin, der glänzendfte Verteidiger der firhliden Lehre in den nädhften vierzig Jahren und einer ihrer größten Ver: treter für alle Folgezeit !.

' Possidius, Vita 8. Augustini, bei Hurter, Opuscula selecta VIII. Acta Sanct. (Bolland.) Aug. VI 213 f. Berti, Comment. de rebus gestis S. Augustini, Venet. 1756. Poujoulat, Histoire de $. Augustin, Paris 1843, beutfjh von Hurter, Schaffhaufen 1845. Bindemann, Der bi. Auguftinus, Berlin 1844— 1369. Kloth, Der heilige Kirchenlehrer Auguftinus, Aachen 1840. 6. vo. Hertling, Auguftin, Mainz 1901.

Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 103

Der Sohn eines vornehmen Heiden zu Tagaſte (in Numidien), der erft furz dor jeinem Tode fih zum Chriſtentum befehrte, und einer Chriftin, ward er 354 in der ziemlich umbedeutenden Stadt geboren, fam aber früh an die Schule von Madaura und 371 an die Hochſchule von Karthago. Durch die Fromme Mutter Monika ward ſchon in zarten Jahren der Heim des Glaubens in fein Herz geienft. Ihre Tränen und Gebete begleiteten ihn, während Sinnenluft und Wiflensftolz ihn auf gefährliche Abwege Hin: riſſen. Als Lehrer der Rhetorit in Tagaſte und Karthago Hatte er alle nur wünſchbaren Erfolge; aber die Sekte der Manichäer, der er fih an- geihlofien, gewährte feinem hochideal angelegten Geifte feine Befriedigung. Auch nachdem er die innere Haltlofigkeit des Jrrtums durchſchaut, vermochte er indes die Vorurteile gegen den kirchlichen Glauben ebenjowenig wie die Bande der Sinnenluft abzuftreifen. Weder in Rom, wo er fi kurze Zeit aufhielt, no in Mailand gelangte er zu innerem Frieden, bis er endlid dem Rufe der Gnade folgte und die Taufe empfing. Einige Monate jpäter fehrte er mit feiner num überglüdlihen Mutter nah Afrika zurüd. Ihre Lebensaufgabe war aber erfüllt. Sie ftarb ſchon unterwegs in Oftia. In Tagafte führte er drei Jahre lang mit einigen freunden ein Hlöfterlich zurüdgezogenes Leben, das erft 391 durch eine Reife nah Hippo Regius unterbrodhen ward, Das Volt dafelbft verlangte ihn zum Priefter, und fo ward er zumächit Priefter, dann Hilfsbifchof des greifen Oberhirten Valerius und 394 oder 395 deſſen Nachfolger.

Bis zu feinem Tode am 28. Auguft 430, aljo 35 Jahre oder darüber, mwaltete Auguftin mit hingebendfter Treue des Hirtenamtes in Hippo. Auch als Biſchof lebte er nad Flöfterlicher Art mit feinen Prieftern zuſammen. Öfter predigte er fünf Tage lang hintereinander und mitunter zweimal am Tage. Die Armen und Notleidenden fanden an ihm einen unerſchöpflichen Helfer und Freund. Weit über feine Diözefe hinaus, über das chriftliche Afrifa und bald über die gejamte Kirche erftredte ſich feine Wirkſamkeit als theologiſcher Lehrer und Schriftfteller. Ähnlich wie Athanafius hat au er bis zum lebten Atemzug unermüdlich gegen Härefie und Schisma ge- fritten. Sein erfier großer Widerpart war der Manihäismus, dem er jelbft zeitweilig gehuldigt und den er zuerſt fiegreich in ſich jelbit überwunden, ehe er ihn mit ebenjoviel Liebe und Geduld als Kraft und Nahdrud in andern befämpfte. Dann führte er den Kampf wider die Donatiften, die zeitweilig die Übermacht im riftlihen Nordafrifa erlangten und die Katholiken mit größter Hartnädigteit befehdeten. Die mühevollfte, dornenvollfte, aber auch ruhmreichſte Aufgabe bereitete ihm jedoch die Lehre des Pelagius, eine natura- Iftiiche Deutung der Gnadenlehre, welche ihn veranlaßte, diejen ſchwierigen, teilweife dunfeln Zeil der Dogmatif pofitiv wie polemiſch nad allen Seiten aufzuhellen und zu verteidigen. Bei mehreren Synoden und Konzilien wurden

104 Siebtes Kapitel.

Sätze von ihm als treffendfter Ausdrud der kirchlichen Lehre zu feierlichen Entſcheidungen erhoben oder benutzt. Er ward die größte patriſtiſche Auto: rität auf diefem Gebiete, und jchon der Hi. Hieronymus rief ihm als Greis die freudigen Worte zu: „Heil dir! Dich feiert der Erdfreis! Die Katholiken berehren und bewundern dich al3 den Wiederbegründer des alten Glaubens!“

Unterdeffen waren bereits die Wogen der Böllerwanderung und mit ihr grenzenlofes Unheil über das fintende Römerreich hereingebrodhen. Alarich hatte 410 Rom vermwüfte. Seine Nachfolger zogen nah Gallien, nad Spanien und gründeten dort unabhängige Reihe. König Genjerih, von dem aufrühreriichen Statthalter Bonifatius eingeladen, führte Bandalen und Ulanen von Spanien nad) Afrita hinüber, Seine Horden verwandelten die blühende Kornkammer Jtaliens in eine troftlofe Wüftenei. Bonifatius ſah fich genötigt, felbft wider fie zu Felde zu ziehen und ſchließlich vor ihmen hinter den Wällen Hippos Schuß zu ſuchen. Während fie ihn Hier belagerten, ward Auguftinus duch ein Fieber aufs Krankenlager Hingeftredt. Innig flehte er zu Gott, er möchte die von Feinden umzingelte Stadt befreien oder, wenn ihm anders jchiene, feine Diener flärken, um feinen Ratſchluß zu ertragen oder ihn jelbft aus diefer Welt zu ſich nehmen. Dieſes letzte Gebet ward am 28. Auguft 430 erhört. Der große Lehrer ſchloß an diejem Tage, 76 Jahre alt, feine irdiihe Laufbahn.

Auguftinus ift der fruchtbarfte der lateinischen Väter und Kirchen— fhriftiteller. Seine Werte füllen in der großen Mauriner-Ausgabe elf Folio— bände!, Es ift weder möglih noch auch nötig, fie alle Hier aufzuzählen, da fie faft ganz dem eigentlichen theologifchen Gebiete angehören. Zwei derjelben ragen indes auch bebeutjam in die Weltliteratur Hinein: feine „Belenntniffe“ und fein großes Werft „Von der Stadt Gottes“.

Die „Belenntniffe*, um das Jahr 400 geſchrieben, geben ein tief ergreifendes Bild feines Entwidlungsganges von früher Kindheit bis in die erite Zeit feines Epiſtopats. Sie find eine der berühmteiten Selbjtbiographien,

ı Gejamtausgaben von Y. Amerbad, Baiel 1506; Erasmus, Bajel 1528.29; von den theologi Lovanienses, Antwerpen 1577; ben Dlaurinern Th. Blampin, P. Eouftant ufw., Paris 1679—1700; letztere häufig abgedrudt, au bei Migne, Pair. lat. XXXII—XLVII, Paris 1845—1849. Von ber neuen Geiamtausgabe ber faiferl. Akademie der Wiflenfhaften zu Wien find erſchienen: Eregetifhe Schriften von F. Weihrih, Wien 1887 (Corpus XI) und J. Zycha (XXVII, ebd. 1894); Schriften gegen die Manihäer von J. Zycha (XXV, ebb. 1892); Confessiones von P. Anöll (XXXIII, ebd. 1896); Epistulae von A. Golb- bader (XXXIV, ebd. 1895 1898); Dogmatiſche und moraliihe Schriften von J. Zycha (XLI, ebd. 1899); Dogmatiihe von J. Zycha (XLII, ebd. 1902); De eivitate Dei von E. Hoffmann (XL, ebd. 1899 1900). Analyie der fämtlidhen Werte bei R. Ceillier, Auteurs sacres IX, Paris 1861. Raufher-Wolfs gruber, Auguftinus, Paderborn 1898.

Die großen lateinifhen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 105

über alle andern hervorragend durch die tieffte Religiofität, verbunden mit der ſchlichteſten Offenherzigfeit und Lebenswahrheit. Aus dem inneren Drang eines tiefbewegten Herzens find fie in Form eines Gebets und einer Beicht zugleih an Gott jelbft gerichtet, deffen Werk und Führung der heilige Biſchof in jeinem eigenen Lebensgang erjhaut. In allen natürlichen Begebniffen geht jein Blick den übernatürlihen Zielen und Einflüffen nad, die ihn aus den Abgründen innerlihen Zerfall und Unheils in gewaltigem Ringen zum Hrieden und zur Liebe Gottes geführt. Gottes Gnade hat ihn aus dem Irrſal heidniſcher Anſchauungen, manihäifher Phantafien, platonijcher Träumereien herausgerifjen, ihn aus den unwürdigen Banden befreit, welche die Sinnenluft um feine Seele geihlagen, ihm die Schäge der Wahr: heit und Weisheit aufgetan, welche er bis dahin in den heiligen Schriften und Überlieferungen des Chriftentums in umjeliger Verblendung mißkannt. So geitaltet fih die Schrift ungeſucht zu einem Loblied auf die göttliche Gnade, deren Walten und Wirken der große Theologe dann weiter in jeinen übrigen Schriften entwidelt.

Sie geht von dem jchlichten, aber ebenjo erhabenen Grundgedanten aus: „Du haft und, o Herr, für dich geihaffen, und unjer Herz ift un: ruhig, bis e& ruhet in dir!” Zu den fchönften Stellen gehören wohl jene, wo Auguftin die Belehrung des Rhetors PVictorinus, die Sinnesänderung der Faiferlihen Höflinge zu Zrier, feine eigene Belehrung, die letzte Unter: redung mit feiner Mutter in Oftia, den Tod der treuen Monika und jeine Trauer um fie erzählt:

„Und von da führte ih mir allmählich wieder, wie vorher, deine Magd ins Gedächtnis zurüd, ihren frommen Umgang mit dir unb ihren heilig freundlichen und bienftwilligen mit uns, deſſen ich jo plößlich beraubt worden war; und num wandelte es mid an, zu weinen vor deinem Angefichte über und für fie, über und für mid). Und id ließ den Tränen, die ich zurüdgehalten hatte, ihren Lauf, daß fie ftrömten, folange fie wollten. ch bettete mein Herz darauf und fand Ruhe in ihnen. Deine Ohren vernahmen es, nicht bie eines Menſchen, ber mein Jammermweinen gering: ſchätzig ausgelegt hätte. Jetzt aber, o Herr, befenne ich dies in biefer Schrift. Mag es lejen, wer es will, und deuten, wie er will! Und wenn er es fündhaft findet, daß ich meine Mutter bei weiten feine Stunde lang beweint habe, jo verlade er wenigftens nicht meine Dlutter, bie num meinen Augen gejtorben war, bie aber fo viele Jahre Über mich geweint hatte, auf baß ich deinen Augen lebte; vielmehr möge

er jelbft, wenn er reich an Liebe ift, für meine Sünden zu dir weinen, dem Bater alfer Brüder deines Gefalbten,“ '

Aus dem ftillen Bereich des innigften Gemütslebens, feeliiher Kämpfe und eine wunderbaren Gnadenfieges tritt Auguftin in feinem andern Werte, „Bon der Stadt Gottes”, auf die Hodhmarte jeiner Zeit und ſchildert in gigantiiden Zügen das Walten der Gnade in der gefamten Welt: und

! Confess. 1. IX, c. 13.

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Böltergeihichte, ausihauend von dem gewaltigen Wendepunft der Bölter: wanderung in Vergangenheit und Zulunft in den entſchwundenen Glanz der griechiſch-römiſchen Kulturwelt, der fintenden Stadt diejer Welt, wie in die wachjende Herrlichkeit des aufblühenden Chriftentums, der Stadt Gottes, ihre Kämpfe und ihren glorreihen Triumph am Ende der Zeiten.

Dieſes Werk ift des öftern als erfter Verſuch einer Geſchichtsphiloſophie bezeichnet worden; es ift aber weit mehr eine Geſchichtstheologie, da Auguftin feiner gefamten Pragmatif die übernatürliche Heildordnung zu Grunde legt.

Den Anlaß zu dem Werke boten die furchtbaren Heimſuchungen, welde im Gefolge der Völkerwanderung über das römiſche Reich hereinbraden, beſonders die Plünderung Roms durch Mlarih im Jahre 410. Die noch zahfreihen, zum Zeil vornehmen Heiden erklärten dies als eine verdiente Nahe der alten Götter, als Strafe für den Abfall von ihrem Dienft; andere ergoffen fih in unfrudhtbaren, verzweifelten Klagen; ſchwache und ſchwankende Chriften wurden in ihrem Glauben an die Vorfehung erjchüttert ; in diefem trüben Gewirr griff Auguftinus zum Wort, um die wantenden Gemüter aufzurihten, ihnen den göttlihen Plan der Ereigniffe zu erklären und das Gottesgeridht, das die heidniſche Welt traf, aus feinen wirklichen Urſachen zu beleuchten. Er war ſchon neunundfünfzig Jahre alt, ala er das Werk begann; dreizehn Jahre Hat er daran gearbeitet; es ward in einzelnen Zeilen veröffentliht und hat darum nicht volle Abrundung ge wonnen; aber um jo mehr ijt es das geiftige Teftament und Hauptwerk des greifen Kirchenvaters geworden. Es enthält die Summe feines Wiffens und feiner Erfahrung.

Den Plan des Ganzen entwidelt Auguftinus gelegentlid) an verjchiedenen Stellen des Werkes jelbft ſowie gedrängt und überfichtlich in feinen „Retraf: tationen“ 1. Es follte eine Antwort an diejenigen fein, welche nad der Eroberung Roms durd die Goten alles Unglüd dem Chriftentum zujchrieben und „bitterer als je den wahren Gott zu läftern begannen“. Die erften Bücher (I—V) find gegen diejenigen gerichtet, welche das Glüd des Staates vom Polytheismus abhängig maden und alle Übel aus dem Verlaſſen des: jelben ableiten; die folgenden (VI—X) wenden ſich gegen jene, welche zwar jene Übel als unvermeidlihe auffaffen, die immer vorgefommen find und immer borlommen werden, aber den Polytheismus, aus eigentlich religiöſen Gründen, mit Rüdjiht auf das fünftige Leben für nüglih halten. „Um ih) dann nicht dem Tadel auszufegen, er habe nur die Gegner widerlegt,

Interea Roma Gothorum irruptione ... . eversa est; cuius eversionem deorum falsorum multorumque cultores ..... in christianam religionem referre conantes solito acerbius ... deum verum blasphemare coeperunt, Unde ego... libros de civitate Dei scribere institui .. . (Retract. II 43, 1. Migne, Patr. lat, XXXI 647).

Die großen lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 107

aber nicht feine eigenen Anſichten auseinandergejebt“, fügte er noch zwölf Bücher Hinzu, melde pofitiv die chriftliche Weltanfhauung entwideln. Von diefen behandeln die erften vier (XTHI—XV) den Urfprung der zwei Reiche, nämlich der „Stadt Gottes“ und der „Stadt diejer Welt”, die folgenden (XVI— XIX) deren Entwidlung, die legten endlich das beiden zulommende Ende. Den Titel erhielt das Ganze nah dem vorzügliceren Zeil, der „Stadt Gottes”.

Die „Stadt“ oder das „Reich“ Gottes bilden die gottergebenen Engel und Menichen; die „Stadt diefer Welt“ beginnt mit dem Sündenfall der Engel und Menſchen. Nur für die Dauer der Zeit (in hoc saeculo) find beide Reihe „miteinander verflodhten und vermiſcht“ (perplexae in- vicemque permixtae), indem die Bürger des einen, die Frommen, als Pilger unter den Bürgern des andern, den Gottlofen, ihrem Ziele entgegen: wandeln. Bon ihren erften beiden Repräfentanten, Abel und Kain, an verfolgt Auguftinus die zwei Reihe durch die gefamte Geſchichte des Heiden- tums und Judentums bis auf Ghriftus, den Mittler, dann an der Hand der Propheten und Apoftel in ihrem weiteren künftigen Entwidlungsgang bis zum Weltende und Weltgericht, wo die „Stadt diefer Welt“ ihren Ab: ihluß in den ewigen Strafen der Verdammten, die „Stadt Gottes“ aber ihre glorreiche Vollendung in der Herrlichleit des Himmels findet. So gibt dag Merk ein Gejamtbild der Menjchheit und ihrer Gejdichte von dem hehren Standpuntt des ewigen, unmwandelbaren Gottes jelbit.

Die Darftellung und jchneidende Kritik des Heidentums beruht auf einer umfaflenden Kenntnis der antiten Welt. Diejelbe ift zum großen Teil aus Cicero und Barro geihöpft, dann aus Platon, Salluft, Plinius dem teren, Solinus. Von den Dichtern wird Vergil häufig angeführt, dann auch Horaz, Perſius, Lucanus, Terentius, Claudianus u. a. Die Hauptautorität für die pofitiv=theologiishen Ausführungen bilden natürlich die heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes, meift nad der „Itala“ zitiert, feltener nach der Überfegung des Hl. Hieronymus. Als Quelle für Nahrichten aus dem Orient dient hauptfählih die Ehronif des Eujebius in der Bearbeitung des Hl. Hieronymus. Die Literatur des Neuplatonismus und der zeitgenöffiichen Härefien beherrſcht Auguftinus wie faum ein anderer.

Obwohl der hiſtoriſch-theologiſche Grundcharakter des grandiofen Wertes einheitlich nad dem bezeichneten Plane fejtgehalten und durchgeführt ift, Hat Auguftinus in dasjelbe doch nahezu alle wichtigeren Fragen der Philoſophie und Theologie eingegliedert, jo daß es zu einer unerſchöpflichen Vorrats- fammer de3 vieljeitigften Wiffens geworden ift und einigermaßen den Sammel- und Zentralpunkt für feine übrigen jchriftftelleriichen Arbeiten bildet. Seine Auffaffung des klaſſiſchen Altertums wie jene der Weltgeſchichte überhaupt it in ihren Grundzügen für das ganze Mittelalter maßgebend geblieben

108 Siebtes Kapitel.

und bezeichnet die feſten Umriffe, über welche eine tiefere Geſchichtsauffaſſung nit Hinausschreiten fan, ohne wieder in heidniſche Irrtümer zurüdzufallen oder von dem tiefſten Gefihtspunfte, dem religiöfen, abzujehen.

| Wie in feinem andern Werk, entfaltet Auguftinus Hier nicht nur die Fülle feines ftaunenswerten Willens, jondern auch feinen jharfen, tief: dringenden Berftand, feine Iebhafte, künſtleriſche Phantaſie, ein warmes, lebendiges Herz, das ſich zur mädtigften Begeifterung erihwingen kann, die ſtiliſtiſche Gemandtheit eines römischen Rhetors, das Schönheitsgefühl eines Platoniter3, die Gefühlstiefe und Erhabenheit eines chriftlihen Predigers. Eine Abnahme oder eine Erſchlaffung ift in dem meitfchichtigen Werk nicht zu bemerken. Die leßten Bücher gehören vielmehr zu den jchönften Teilen des Ganzen, und faum ein Ungläubiger wird fi dem Zauber entziehen, mit welchem zum Schluß das verflärte Bild der Stadt Gottes am Ende der Zeiten gejchildert wird.

„Wie groß wird jene Seligfeit fein, wo es fein übel gibt, fein Gut verborgen bleibt, wo man fi in voller Muße dem Lobe Gottes wibmet, der alles in allem fein wird! Denn was anderes man tun joll, wo feine Trägheit zum Aufhören veranlaßt, feine Not Bedrängnis ſchafft, das weiß ich nit. Es muntert mid auch das heilige Lied auf, worin ich leſe oder höre: ‚Selig, bie in deinem Haus wohnen, o Herr, von Ewigkeit zu Ewigkeit werben fie dich loben.‘ Affe Glieder und Organe bes un— verweslichen Leibes, die wir nun für die Bebürfniffe des Lebens zu verfchiebenem Dienjt verteilt jehen, werden dann, weil jedes Bebürfnis aufhört, nur volle, gewiffe, fihere, ewige Seligleit bleibt, im Lobe Gottes gewinnen. Alle jene verborgenen Harmonien körperlicher Symmetrie, von denen ich früher geſprochen, bie innen und außen an alle Zeile bes Leibes verteilt find, werben nicht länger verborgen bleiben, fondern mit den übrigen Herrlikeiten und Wunbern, bie dort zu ſchauen find, durch bie Wonne der Schönheit den vernünftigen Geift zum Lobe des großen Künftlers begeiftern. Wie fid) die Körper dort bewegen werben, wage ich nicht vermefjentlich zu beftimmen, weil ich es nicht zu erdenfen vermag. Doc Bewegung und Zuftand wie ber äußere Anblid wird voll Würde jein; Unwürdiges wird es nidht geben. Sicherlih, wo der Geift fein will, ba wird auch alsbald der Leib fein, und ber Geift wird nichts verlangen, was nicht ber Würde des Geiftes wie bes Leibes entſpricht. Wahrer Ruhm wird bort fein, wo niemand durch Irrtum des Lobenden oder auf Schmeicheleien Hin gelobt wird. Wahre Ehre, die feinem Würdigen verfagt, feinem Unwürdigen gejpendet wird, ja fein Unwürdiger erftreben kann, weil nur Würdige dort geduldet werden. Wahrer Frieden, wo keiner irgend etwas Widriges, weder dur ſich noch durch andere, leidet. Der Lohn der Tugend wirb berjenige fein, ber jelbft die Tugenb verliehen und ihr verheißen hat, ihr Lohn zu fein, über den hinaus ed etwas Größeres und Befferes nicht geben fann. Denn was anders hat er durch den Propheten gejagt: Ich werde ihr Gott fein, und fie werben mein Bolt jein? Was heit das anders als: Ich werde es fein, wodurch fie gefättigt werden; ich werde alles fein, was die Menſchen nur irgendwie vernünftigerweije begehren können: Leben und Heil und Nahrung und Reichtum und Ruhm und Ehre und Friede und alle Güter zugleih? Denn in diefem Sinn wird auch mit Recht verftanden, was der Apoftel jagt: ‚daß Gott alles in allem ei‘. Er ift das Endziel unferer Wünſche, der.ohne Ende geihaut, ohne Überdruß geliebt, ohne Ermattung gepriefen werden

Die großen lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 109

wird. Diefe Beihäftigung, diefe Gefinnung, biefe Tätigkeit wird fürwahr, wie das ewige Leben jelbft, allen gemeinſam fein.

Ibi vacabimus, et videbimus; videbimus, et amabimus; amabimus, et laudabimus. Ecce quod erit in fine sine fine. Nam quis alius noster est finis, nisi pervenire ad regnum, cuius nullus est finis?

So ftrahlen, vom himmlischen Licht umfloffen, die leuchtenden innen der ewigen Stadt Gottes in das trübe Gewirre der Völkerwanderung, in die viel verfhlungenen Pfade der Welt: und Menjchengeichichte hinein. Dante hat fie kaum ſchöner beſchrieben. Weder die forſchende Geiftesarbeit des Ariftoteles noch der kühne Flug Platons ift in diefe lichten Höhen emporgebrungen, aus melden allein ewige Poeſie in die Welt dringt.

In Bezug auf Sprade, Stil und rhetoriſche Kunſt ift Auguſtinus denjelben Grundfägen gefolgt, welche ſich ſchon in der Tätigkeit des hl. Paulus ausprägen und melde bei den großen griechiſchen Kirchenvätern genaueren Ausdrud gefunden hatten. Entſprechend der chriſtlichen Gnadenlehre konnte er die übernatürlihe Wirkſamkleit der Predigt nicht von natürlicher oder künſtlicher Beredſamleit erwarten. Doc die Gnade zerftört die Natur nicht und verfümmert fie nicht; fie erhebt fie nur, veredelt die natürlichen Fähigkeiten und ftellt fie in den Dienft höherer Kräfte und Ziele. So hat auh Auguftinus die reihe philoſophiſche und literariihe Bildung, die er beſaß, nad feiner Belehrung allerdings nicht mehr als das Höchſte umd Erhabenfte, was dem Menſchen zu teil werden mag, überjhäßt; aber er hat fie keineswegs verachtet und geringgefhätt, jondern eifrig weitergepflegt und für jeine hohen chriftlihen und kirchlichen Aufgaben verwertet.

„Auguftin it auch als Stilift die gewaltige, Vergangenheit und Nach— welt überragende Perjönlichkeit.“! Im feinen an die ganze gebildete Welt gerichteten großen Werten hat er fich eines klaſſiſchen Stils und, ſoweit es damals noch möglid war, aud einer klaſſiſchen Sprache beflifien. In feinen für das Volk beftimmten Predigten aber hat er den Stil angewandt, der Ohr und Herz feiner Zuhörer padte, weil er nicht gelehrt altertimelnd war, jondern duch lange, ununterbrodene Entwidlung feine Unverwüftlichteit bewiejen Hatte?. Vieles, was uns heute nicht mehr zujagt oder was ſich im Deutſchen gar nicht wiedergeben läßt: fein Sabparallelismus, die reim- artigen, gleichllingenden Sagichlüffe 3, feine Antithefen und Wortfpiele, feffelten

1E. Norden, Die antike Kunftproja II 621.

2 Erhalten find 363 Predigten an das Boll. Rechnet man dazu feine Er: Härungen zu ben Pjalmen, zur Genefis, zum SJohannesevangelium ufw., die aus Predigten hervorgegangen, fo kommt bie Zahl der Predigten auf nahezu taufend. gl. G. Longhaye, Saint Augustin predicatenr (Etudes XLIIT, Paris 1888,

161—176 377—413). > Homoioteleuton.

110 Siebtes Kapitel.

und gewannen feinen Zuhörerkreis und madten es ihm möglid, denſelben in wahrhaft vollstümliher Weiſe über die erhabenften Glaubensgeheimniffe und die verfänglichften Einwürfe der zeitgenöffifchen Irrlehrer aufzuklären. Er hat es nicht verjhmäht, eine Abwehr gegen die Donatiften in die Form eines abecedariſchen Pialmes zu Heiden, um fie den Gläubigen recht ins Gedächtnis einzuprägen!, Das ift das einzige, was er im poetifcher Form geihrieben hat. Um jo reicher weht aber der Geift erhabenfter Poefie in jeinen großen Werfen.

Zehn Jahre vor Auguftinus farb an der Geburtäftätte des MWelterlöjers, zu Bethlehem, ein anderer Geiftesriefe, der für die Entwidlung der riftlichen Bildung don faum geringerem Einfluß war. Es war der Dalmatiner Sophronius Eujebius Hieronymus, zu Stridon, an der Grenze von Pannonien, um 331, nad andern erjt 340 oder jpäter geboren. Die Eltern waren Ghriften, und er wurde ganz in driftlihem Geift erzogen. In Rom, wohin er als zwanzigjähriger Jüngling zur Fortjeßung feiner Studien gejhidt wurde, blieb er nicht ganz umberührt von dem Einfluß der no halbheidniſchen, fittenlojen Großftadt; jeine Frömmigkeit leitete ihn jedoch wieder auf den richtigen Weg, und er empfing vom Papſt Liberius die heilige Taufe. Weitere Studien führten ihn nad Trier, wo er zuerft ih aud der Theologie zumwandte, dann nad Aquileja. Bon hier aus bereifte er mit einigen ?reunden Ihracien, Bithynien, Pontus, Galatien, Kappadocien und Gilicien. Nad einer ſchweren Krankheit, die er zu Antiochien (374) glüdlih überftand, zog er fih für fünf Jahre in die Wüfte von Chalcis, die „ſyriſche Thebais“, zurüd, Tebte hier anfänglid als Einfiedler nur dem Gebet und den ftrengften Bukübungen, wandte ji aber aud) wieder den Studien zu und ließ fih bon einem befehrten Juden im Hebräiichen unterrichten. In Antiochien empfing er die Priejtermweihe, ftellte aber die Bedingung, daß er Mönd) bleiben dürfe. Um das Jahr 379 jiedelte er nah Konftantinopel über, um die Vorträge des Hl. Gregor von Nazianz anzuhören und ſich mit andern griechiſchen Kirchenſchriftſtellern, namentlich Eujebius und Drigenes, näher vertraut zu machen. Im Jahre 382 wurde er zu einer Synode nad) Rom berufen und ward hier für drei Jahre der vertrauliche Berater des Papftes Damafus, ward von diefem mit Her: ftellung eines forgfältig vevidierten Textes der Evangelien und Pjalmen betraut, verſchaffte dem Höfterlich-astetiihen Leben Eingang in Rom und gewann für dasjelbe mehrere Frauen aus den höchſten Senatorenfamilien. Nah dem Tode des Papftes (384) folgte er dem Zuge feiner Andacht zu den Heiligen Stätten der Erlöfung und ließ ſich im Bethlehem nieder, wo

! Psalmus contra Donatistas (Psalmus abecedarius) vom Jahre 393, bei Migne, Patr. lat. XLIII 23—32.

Die groben lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 111

er ein Mönchskloſter mit Bibliothek und Klofterfhule, die Hl. Paula und ihre Tochter ein Nonnenklofter gründeten. Hier lebte er die übrige Zeit feines Lebens (noch 35 Jahre) ausfchlieglih dem Studium und der jchrift: ſtelleriſchen Tätigkeit, überjeßte das Alte Teftament aus dem hebräijchen Ürtert, im Briefwechſel mit den herborragendften Vorkämpfern der Kirche und in regiter Beteiligung an den theologischen Fragen und Kämpfen feiner Zeit. Seine weder durch Askeſe noch Studien völlig gebrochene Leiden— ihaftlichfeit verwidelte ihn zeitweilig in gelehrte Fehden mit jeinem Jugend: freund Rufinus, mit dem hi. Auguftin und andern bedeutenden Lehrern. Un der Seite Auguftins befämpfte er indes dann auch mannhaft den Pelagianismus, deſſen Anhänger in PBaläftina ſich in tätlicher Weife rächten, indem fie fein Slofter in Brand fledten und ihm während feiner letzten Jahre harte Bedrängnis verurfahten. Am 30. September 420 ftarb der bis ins höchſte Alter geiſtesfriſche, unermüdliche Greis, der große Bibel: überjeber und Bibelerklärer des hriftlihen Altertums !.

Gehört aud er, gleich den übrigen Kirchenvätern, mehr der Patriftif und der Geſchichte der Theologie an, jo reicht feine umfangreiche literariſche Tätigkeit doch auch in das Gebiet der allgemeinen Literaturgejchichte hinüber ?.

Wie er unter den lateinischen Kirchenvätern der gewandtefte Sprachen— fenner, der beleſenſte Polyhiſtor und der gründlichfte Bibelkritifer war, jo bejaß er au unter allen die umfangreichfte profane Belefenheit und die tüchtigſte und vieljeitigfte Haffifche Bildung. Das beredtefte Zeugnis hierfür bilden jeine Briefe, von denen noch gegen hundertzwanzig erhalten find. In den verſchiedenſten Tonarten gehalten, bald belehrend oder erzählend, bald mahnend und tröftend, bald hadernd und kämpfend, bald hochasketiſch und myſtiſch, bald aus den mannigfaltigften Elementen gemiſcht, treffen fie immer, auch ftiliftiich und ſprachlich, die richtige Hlangfarbe und den rechten Ton. Ungeſucht verfügt er über alle Kunftmittel, welche die alte Rhetorik zur Belebung der Darftellung an die Hand gab. Cicero und Quintilian, Vergil und Horaz, Salluft und Suetonius, Terentius, Lucanus und Perfius find ihm ebenjo geläufig wie die Bücher der Heiligen Schrift, und er liebt

! Martianay, La vie de S. Jeröme, Paris 1706. Stilting in Acta Sanct. (Bolland.), 30. Sept. VIII 418—688. F. Z. Collombet, Histoire de S. Jeröme, Paris-Lyon 1844, beutjch bearbeitet von Lauchert und Knoll, Rott: weil 1846— 1848. O. Zödler, Hieronymus. Sein Leben und Wirken, Gotha 1865. A. Thierry, Saint J&röme, la soeietö chretienne ä Rome etc., Paris 1867 (d"* ed. 1876).

2 Gejamtausgaben von Erasmus, Bajel 1516—1520; Marianus Vic- torius, Rom 1565—1572; Martianay und Pouget, Mauriner, Paris 1693 bis 1706; D. Ballarji, Verona 1734 ff und Venedig 1766 ff; Migne (nad Ballarfi) a. a. DO. XXII-XXX. Ausgewählte Schriften überfegt von P. Lei— pelt, Kempten 1872—1874.

112 Siebtes Kapitel.

es, feine eigenen geiftreihen Gedanken mit Zitaten aus den Klaffifern zu verbrämen, nicht wie ein Lehrling, der mühjam ſolchen künftlihen Redeſchmuck zufammenftoppelt, fondern wie ein belefener Mann, dem die alte Literatur ganz geläufig ift, und der aus dem Bollen jhöpft. Gleich Tertullian hat auch er eine durchaus originelle Lebendigkeit, die Wort und Ausdrud jelb- ftändig zu modeln weiß, aber zugleihb aud ein großes Feingefühl für Schönheit, Abrundung und fiiliftifche Eleganz. Ob er grollend feine Leiden: ichaftlichkeit in ftürmifcher Kraft dahinbraufen läßt, oder ob jeine tiefe, männlihe Andacht die ungeftimen Wogen dämpft und mäßigt, immer hat jeine Sprade das Gepräge eines feingefchulten Humaniften. Chriftlicher Gehalt und altklaſſiſche Form Haben fich bei ihm in ungezwungenſter Weile vermählt. Seine Briefe haben deshalb große pädagogiihe Dienfte geleiftet und fönnen fie noch leiften.

Inden Hieronymus die Zeittafeln des Euſebius lateiniſch bearbeitete und meiterführte, hat er fih auch um die Geſchichtſchreibung verdient gemacht, und wenn auch jeine Schrift De viris illustribus raſch und ohne genauere Durcharbeitung nad griechiſchen Borlagen zufammengeftellt ift, jo ift der unermüdliche Polyhiftor mit diefer Schrift doch immerhin an bie Spitze der chriſtlich lateinischen Literaturhiftorifer getreten und hat für meitere Forihung die Pfade geebnet. Sachlich wertvoll und ftiliftiih überaus ſchön und originell durchgearbeitet find jeine Biographien des hi. Paulus des Ein- fiedlers, des gefangenen Mönches Malhus und des HI. Hilarion, die fi) als würdige Fortſetzung Hriftlicher Hagiographie an die alten Märtyreralten reihen.

Den tiefften Einfluß auf die Bildung des Mittelalterd und die ganze Folgezeit hat Hieronymus durch fein eigemtliches Lebenswerk, feine Bibel: überjeßung, gewonnen, welche die offizielle lateiniſche Bibelüberſetzung der Kirche im Abendlande geworden und bis auf den heutigen Tag geblieben ft. Sie umfaßt dad gejamte Alte Tchtament mit Ausnahme des Buches Baruch, des erften und zweiten Buches der Maflabäer, des Buches Sirach und des Buches der Weisheit. Das Neue Teftament hat er nicht neu über: ſetzt. Won feiner Überſetzung ift auch diejenige der Palmen nicht in die Yulgata übergegangen, weil die von ihm bereits früher emendierte Überjegung der Itala (das jog. Psalterium Gallicanum) im ganzen Abendlande ſich ihon zu ſehr feftgejegt hatte und nicht mehr verdrängen ließ. Trotz mancher Mängel im einzelnen übertrifft feine Überſetzung weit alle vorausgegangenen und entjpridt in hohem Grade jeinem Streben, das Beitmöglichite zu leiften, was eine Überjegung leiften kann. Seit dem fiebten Jahrhundert ziemlich) allgemein eingeführt, ward fie eine Hauptquelle des mittelalterlichen Lateins und insbeſondere der lateiniſchen Kirchenſprache.

Wie Hieronymus ſeine Aufgabe als Bibelüberſetzer und Schrifterklärer auffaßte, tritt in vielen ſeiner Werke und Briefe klar zu Tage. Belehrend

Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 113

ift in dieſer Hinficht bejonders ein jchöner Brief an den hl. Baulinus von Nola, in welchem er kurz die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift harafterifiert. Inſtändig mahnt er ihn von einem autodidaftiihen Studium derfelben ab. Er verweilt auf die profanen Wifjfenihaften: Grammatik, Rhetorit, Philo: fophie, Geometrie, Muſik, Aftronomie, Aftrologie und Medizin, die alle von hohem Nuten find, die aber theoretiſch, methodiih und praktiſch (To dörua, mv nzdodov, Tyv Enrerptav) ftudiert fein wollen. Selbfi bei den Hand- werfen ift Anleitung nötig.

„Bauern, Dlaurer, Zimmerleute, Metallarbeiter, Schreiner, Wollmeber, Gerber und bie fFabrifanten des Hausrats und ber gewöhnlichften Geſchirre fünnen ohne Lehrer nicht werden, was fie wollen. Quod medicorum est, promittunt medici, tractant fabrilia fabri. Nur die Aunft des Schriftftudbiums mahen fih alle an. Sceribimus indoeti doctique poemata passim. An dieje wagen ſich alle: alte Schwah- weiber, verrüdte Greije, geihwäßige Sophiften, alle reihen fie in Stüde, alle lehren fie, bevor fie etwas gelernt haben. Andere philofophieren mit hoch emporgezogenen Augenbrauen, großartige Worte abwägenb, mit Dämchen über die heiligen Schriften; andere lernen, o Schande! von ben Weibern, was fie ben Männern bozieren, ja in ihrer Kedheit tragen fie andern vor, was fie jelbft nicht wiffen. Ich ſchweige von jenen, Die gleich mir, von den Profanwiffenichaften zum Stubium der heiligen Schriften übergegangen find, und wenn fie nun in gut abgefaßter Rede bas Ohr ber Leute gewonnen haben, alles, was fie jagen, für göttliches Gefek halten, fi gar nicht würdigen zu erfahren, was die Propheten, was die Apoftel gedacht, ſondern nad ihren Ideen fi unzutreffendbe Zeugniffe zurechtmachen, glei als ob es granbios wäre und nicht die allerfchleitefte Lehrmethode, den Sinn zu fälſchen und die ihnen entgegenftehende Schrift auf ihre Deutung berüberzuziehen, gerade als hätten wir noch feine Homercentonen und Vergilcentonen gelefen und als könnte man nicht aud den Bergil ohne Ehriftus zum Chriſten maden, weil er geſchrieben hat:

Iam redit et virgo, redeunt Saturnia regna. Iam nova progenies caelo demittitur alto ..

Das find Kindereien, und bem Treiben ber Marktſchreier ähnlich ift es, das lehren, was bu nit weißt; ja, um es etwas jchärfer zu jagen, nidht einmal willen, was du nit weißt.”

Ein Schriftftudium dagegen, das, von Gebet begleitet, von Demut und teligiöfer Lernbegierde bejeelt, auf der redlihen und jorgfältigen Erforſchung der Kirchlichen Überlieferung fußt, erſcheint ihm als der höchfte geiftige Genuß, den es auf Erden geben kann.

„Sch bitte dich, Liebfter Bruder, in diejen Dingen leben, fie betrachten, nichts anberes wiſſen, nichts anderes verlangen, ſcheint dir das nicht ſchon hier auf Erben eine Wohnftätte des himmliſchen Reiches zu fein? Stoße dich ja nicht in dem heiligen Schriften an der Einfachheit oder gleihjam Niedrigfeit der Ausdrüde, die von dem Mangel ber Überfeßer berrühren oder auch abfichtlich gewählt find, da fie leichter eine volfsmäßige Predigt bilden, und in demfelben Sa ber Ungelehrte wie ber Gelehrte feine Rechnung findet. Nicht bin ich jo anmakend und ihwahfinnig, daß ih verfprechen möchte, das alles zu wiſſen und die Früchte der Bäume jhon bier

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 8

114 Siebtes Kapitel.

auf Erben zu pflüden, bie ihre Wurzeln im Himmel haben; aber ih geftehe, ich wünſche es zu wiffen; ich ziehe mich dem Untätigen vor. Lehrer will ih nicht fein, aber zum Gefährten verpflichte ih mich. Dem Bittenden wird gegeben, dem Klopfen- den geöffnet, der Suchende findet. Wir wollen hier auf Erden das lernen, befien Kenntnis uns im Himmel fortdauert.”

Deutlich tritt Schon in den Geftalten der großen Klirchenlehrer der inter: nationale, wahrhaft katholische Charakter der Kirche hervor. Es waren nicht irdiſche Herrſchergelüſte, nicht Überlieferungen altrömiſcher Größe, welche das neue Gottesreih aufbauten. Hilarius, von Abftammung Gallier, gehört jeiner theologiihen Bildung nad teilmeije der griechiſchen Schule an. Am— brojius war Römer, verlebte aber den: beiten Teil feines Lebens in Nord: italien. Auguftinus war Afrikaner. Das Leben des Hieronymus teilt ſich zwiſchen Dalmatien, Rom und Paläftina.. So ift es aud mit den übrigen Kleineren Schriftitellern, die fih an jene großen Leuchten der Kirche reihen. Sulpicius Seberus, der das Leben des Hl. Martin und die Geſchichte der Kirche in Haffiicher Form nach dem Vorbild des Salluft und Tacitus ſchrieb, war wieder ein Gallir; Tyrannius NRufinus, der Jugendfreund des Hl. Hieronymus, ein gewandter überſetzer griedifcher Kirchenliteratur, ftammte aus Aquileja, lebte in Rom, Yerufalem, wieder in Rom und Aquileja und ftarb endlih in Sizilien. Bon den Freunden und Schülern des Hl. Auguftin war Marius Mercator, der Belämpfer der Pelagianer und Neftorianer, ein Afrifaner, Paulus Orojius, der Be lämpfer der Priscillianiften und Kirhenhiftorifer, ein Sohn der pyrenäifchen Halbinjel (aus Braga in Portugal). Johannes Eajjianus, aus Süd: gallien gebürtig, machte die Schule des chriſtlichen Ordenslebens in Bethlehem und Ägypten durch und befuchte Konftantinopel und Rom, ehe er dasjelbe als Abt in Marjeille begründete. Honoratus und Hilarius von Arles, Euderius von Lyon und Vincenz von Lerin find Gallier. Am Schluß der ehrwürdigen Reihe ftehen wieder Jtaliener, der beredte Petrus Chryſologus, Bilhof von Ravenna, Marimus, Bilhof von Turin, und der heilige Papſt Yeo I. der Große.

Bereit3 unter den vorhergehenden Päpften Göleftin I. und Sixtus IH. (422— 440) römiſcher Diakon und ein einflußreiher Mann, jaß Leo L einundzwanzig Jahre (440—461) auf dem Stuhle des hi. Petrus, einer der größten Päpfte aller Zeiten. Er wehrte Attila von Rom ab, ermirfte bon Genjerih, daß er mwenigftens das Leben der Römer jchonte. Er hat durch feine unermüdliche Tätigkeit die monophyfitiiche Irrlehre überwunden, die unberechtigten Forderungen der Patriarden von Konftantinopel zurüd- gedrängt und dem päpftlihen Primat zu jeiner angeftammten religiöjen Bedeutung auch jenen mächtigen äußeren Einfluß gewonnen, durch melden er, beim völligen Zuſammenbruch de3 alten Römerreichs, in den furdhtbaren

Die großen lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 115

Kataftrophen der Zeit, zum Hort und Felfengrund der chriſtlichen Kultur und Bildung ward, bis über die Wogen der ungeheuern Völkerbewegungen in Karl dem Großen endlih das römische Kaifertum deutiher Nation empor: tauchte und Bapfttum und Kaiſertum vereint das chriftlihe Europa des Mittelalters geftalteten!. Eine Sammlung von jehsundneunzig Predigten und eine zweite von bundertunddreiundvierzig Briefen geben teilweife noch ein lebendiges Bild von der Lehrtätigkeit des großen Papſtes?. Die Predigten find auffallend kurz und knapp, frei von allem überflüffigen MWortballaft, von wunderbarer Klarheit, Kraft und harmonijcher Abrundung. Haft jeder Sat birgt Stoff zu eimer ganzen Abhandlung. Die jhwierigiten dogma— tiihen Probleme find mit feinfter Präzifion und durchſichtigſter Klarheit gleihjam in epigrammatiihe Form gebracht, aber nie jpelulativ für fich, fondern immer in Beziehung zu fittlihen Folgerungen, praftiichen Aufgaben, in padenden Antithefen, prächtigem Bilderſchmuck, feierlih mwürdevollem Aus- drud, volltlingenden Sätzen und Perioden. Griechiſche Feinheit und römiſche Energie, die Zartheit eines Moftifers und die Würde eines MWeltherrichers vereinigen ſich in diejer königlid-majeftätiichen Rhetorik, die gleichſam jelbft den Schmud der dreifahen Krone trägt.

Wahrhaft grandios zeichnet Leo z. B. in feiner Predigt auf das Feſt der heiligen Apoftel Petrus und Paulus die providentielle Stellung Roms; die Kraft, Würde und Schönheit feiner Sprade fann freilich feine andere Sprade wiedergeben.

„Der gütige, gerechte und allmädhtige Gott, der feine Barmherzigkeit nie den Menihen verjagt und alle Sterblichen ftets durch Üüberreihe Wohltaten zu führen fucht, nahm der freiwilligen Blindheit und Verfommenheit der Irrenden dur einen Ratſchluß feiner innigften Erbarmung fih an, ba er fein ihm weſensgleiches, ewiges Wort jandte. Diefes Wort ift Fleiſch geworben und Hat feine göttlihe Natur fo mit der menschlichen vereint, daß feine tiefite Erniedrigung unfere glänzendſte Er— höhung ward. Damit aber der Strom dieſer unausſprechlichen Gnabe fi über bie ganze Welt ergöfje, bereitete die göttliche Borjehung das römische Weltreih vor, deifen Grenzen jo weit fid) ausdehnten, daß dieſes eine Neich alle Völker zu Grenz« nahbarn hatte. Denn dem göttlichen Plane des großen Wertes war es angemeffen, daß viele Reiche zu einem Staate fi) vereinigten und fo die für alle beftimmte Predigt ohne Säumen Zutritt hätte zu allen Völkern, welche bie Herrichaft einer Stabt verband.

9. Grijar, Geſchichte Roms und der Päpfte im Mittelalter I, Freiburg 1399, 308 ff.

2 Ausgaben von P. Quesnel, Paris 1675; P. und 9. Ballerini, Venedig 1753— 1757; leßtere abgedrudt bei Migne, Patr. lat. LIV—LVI. Die Predigten (deutih) von M. Wilden, Kempten 1876; die Briefe von ©. Wenzlomäty, ebd. 18578. Bol. A. Arendt, Leo d. Gr. und feine Zeit, Mainz 1835. E. Berthel, Papft Leo I. Leben und Lehren, Jena 1848, 5. und P. Böh— ringer, Die Bäter bes Papfttums: Leo I. und Gregor J., Stuttgart 1879. C. Bertani, Vita di S. Leone Magno, Monza 1880/81.

8*

116 Siebtes Kapitel.

„Allein diefe Stadt erfannte den Urheber ihrer Größe nicht, huldigte, zur Ber herrſcherin faft aller Vöoller geworben, ben Irrtümern aller Bölfer und erblicte darin den Höhepunkt aller Religion, feine Verirrung zu verfhmähen. Doc je tiefer fie in ben Banden Satans verftridt war, um jo wunderbarer war ihre Befreiung dur Ehriftus. Denn da die zwölf Apoftel vom Heiligen Geifte die Spradengabe empfangen hatten und die Welt unter fich verteilten, um ihr das Evangelium zu verkünden, fiel dem HI. Petrus, dem Fürften ber Apoftel, die Hauptſtadt des römischen Neiches zu, damit das Licht der Wahrheit, das zum Heile aller Völker geoffenbart war, um jo mädhtiger fih vom Haupte aus durch den ganzen Leib ber Welt ergöſſe. Welche Nation aber war damals in biefer Stadt nicht vertreten? Ober weldem Volke wäre lange verborgen geblieben, was Rom gelernt Hatte? Hier galt es alfo, die Träumereien falſcher Weltweisheit zu zerftören, hier den Kult der Dämonen zu ftürzen, bier das grauenvolle Opferwejen zu vernichten, bei dem ber gewifjenhaftefte Aberglaube alles zufammengehäuft hatte, was je der Irrtum erjfonnen.

„In dieſe Stadt alfo, o Heiliger Apoftel Petrus, fürdteft du dich micht zu fommen, und indes der Gefährte deiner ruhmvollen Taten, der heilige Apoftel Paulus, noch mit der Sorge für die Gründung anderer Kirchen beihäftigt ift, wagft bu dich in diefen Wald wutſchnaubender Tiere und in dieſen Ozean rafender Tiefen, ungleich beherzter, ala da bu einft auf dem Meere wanbelteft. Du fürdteft nicht Rom, Die Herrin der Welt, bu, ber bu im Haufe bes Kaiphas vor ber Magd eines Priefters gezittert hatteft. War benn die Macht eines Claudius, die Graufamfeit eines Nero minder jhredlih als ber Richterfprud bes Pilatus, die Wut ber Juden? Es ob«- fiegte alſo die Gewalt der Liebe über die Furt; bu glaubteft, die nicht mehr fürdten zu follen, welche du mit deiner Liebe umfaſſen wollteft. Gewiß hatteft bu bamals ſchon diefe Gefühle furdtlofer Liebe Dir zu eigen gemacht, als das Belenntnis deiner Liebe zum Herrn durch das Geheimnis der breimaligen Frage befiegelt wurde. An diefe Stimmung beines Herzens wurde auch fein anderes Anfinnen geftellt, als daß du die Schafe desjenigen, welden bu Tiebteft, mit eben jener Speife ftärfteft, welche dich ſelbſt geftärkt Hatte. Und deine Zuverfiht wurde noch erhöht durch fo viele Wunberzeihen, jo viele Gnadengaben, jo viele Bewährungen deiner Tugend.

„Schon hatteft du die Völker, welde aus der Beſchneidung den Glauben ans genommen hatten, unterrichtet; ſchon hatteft du die Kirche von Antiochien gegründet, wo zuerft die Würde des glorreidhen chriſtlichen Namens erglänzte; ſchon hatteft du in Pontus, in Galatien, Kappabocien, Aſien und Bithynien bie Geſetze bes Evan- geliums verkündet: da trägft bu, wohlbefannt mit dem Erfolge deiner Mühen und mit bem Zielpunfte beines Lebens, das Banner des Kreuzes Chrifti nad jenem Boll: werte Rom, wohin dir, göttliher Anordnung gemäß, der Glanz deiner Gewalt und der Ruhm deines Leidens vorauszogen.“ !

In tiefer Demut aber führt der wortgewaltige Hohepriefter alle feine amtlihe Macht und Ehre, feine Hirtentätigfeit und feine Lehre auf Petrus und durch ihn auf das unfidhtbare Haupt feiner Kirche, Chriftus ſelbſt, zurüd, deffen Verherrlihung feine ſchönſten Reden gewidmet find. So fpridt er 3. B. am Jahrestag der Papftwahl:

t ÜÜberfept von Schleiniger-Rade, Mufter des Predigers®, Freiburg 1895, 388—3%.

Achtes Kapitel. Epifche und didaktifche Verſuche. 117

His itaque modis, dilectissimi, rationabili obsequio celebratur hodierna festivitas, ut in persona humilitatis meae ille intellegatur, ille honoretur, in quo et omnium pastorum sollicitudo eum commendatarum sibi ovium custodia per- severat, et cuius dignitas etiam in indigno herede non deficit. Unde venerabilium quoque fratrum et consacerdotum meorum desiderata mihi et honoranda prae- sentia hinc sacratior est atque devotior, si pietatem huius officii, in quo adesse dignati sunt, ei prineipaliter deferunt, quem non solum huius sedis praesulem, sed et omnium episcoporum noverunt esse primatem. Cum ergo cohortationes nostras auribus vestrae sanctitatis adhibemus, ipsum vobis, cuius vice fungimur, loqui eredite: quia et illius vos affeetu monemus, et non aliud vobis, quam quod doeuit, praedicamus: obsecrantes ut suceineti lumbos mentis vestrae castam et sobriam vitam in timore Dei ducatis, nee concupiscentiis carnis mens princi- patus sui oblita, eonsentiat. Brevia et caduca sunt terrenarum gaudia volupta- tum, quae ad aeternitatem vocatos, a semitis vitae conantur avertere. Fidelis ergo et religiosus animus ea, quae sunt caelestia, concupiscat, et divinarum promissionum avidus, in amorem se incorruptibilis boni et in spem verae lueis attollat.

Achtes Kapitel, Epiſche und didaktifhe Berfude.

Die religiöjen, fittlihen und fozialen Aufgaben des Chriftentums ftellten an feine erften Belenner Anforderungen, welche vorläufig alle Kunſtbedürfniſſe, alle poetiihen Beftrebungen vollftändig zurüddrängen mußten. Es gab un: endlich Wichtigeres zu tun als Berje zu machen. Non loquimur magna, sed vivimus. Dieſer Sa würde nicht wörtlich von drei Schriftſtellern diejer älteften Zeit wiederholt worden fein, wenn er nicht diejer Zeit jelbit aus dem Herzen geſprochen wäre!.

Moderne Menſchen, melde gewohnt jind, die Kunſt fait ebenfo hoch zu ftellen al& die Religion, oder welchen das Chriftentum nahezu gleihgültig geworden ift, mag dies jonderbar, kaum verſtändlich, kulturfeindlich, rüd- ihrittlih erjcheinen. Sie mögen auf den Gedanken verfallen, die Poefie wäre abfihtlih, gewaltjam unterbrüdt worden. Das ift aber gar nicht der Hal. Der Hauptgrund, daß eine hriftli-lateinische Poeſie jo lange auf ih warten ließ, liegt lediglich darin, daß die Poefie für die ewigen Ziele des Menſchen lange nicht jene Wichtigkeit oder gar Notwendigkeit befitt, welche ihr eine naturaliftiiche Weltanfhauung beimefjen mag. Die Menſch— heit mußte vor allem die verborbene und verrottete Überfultur abftreifen, welche fie an den Rand des Verderbens gebracht hatte und woran gerade

Tertullian., Apologeticum e. 88. Minucius Felix, Octav. 38, 6. Cyprian., De bono patientiae c. 3 (ed. Hartel 398).

118 Achtes Kapitel,

die Poefie den verhängnisvollften Anteil hatte. Die Belehrung erheifchte eine Faſten- und Abſtinenzkur. Diefe wurde aber nit nur durd das Walten der Gnade erleichtert, fondern auch dur die Aufgaben, melde Glaube, Kriftlihe Liebe und Heldenmut den Chriſten ftellte, und durd den reihen Erſatz, welden ihnen das Ghriftentum für die profane Dichtung in den Schriften des Neuen und Alten Teftamentes bot. Gelehrten wie Un— gelehrten erſchloß Fich bier eine Welt voll erhabener Schönheit, von welcher das klaſſiſche Altertum feine Ahnung gehabt hatte und melde die Neu: befehrten zur glühendften Begeifterung mit fich fortriß. Da ift nicht eine Spur von Heimweh nad) den „Göttern Griehenlands“. Die erften chriſt— lichen Jahrhunderte fanden im Chriftentum ganze und volle Befriedigung für Geift und Herz.

Dazu trug wohl in nicht geringem Grade aud die Tyeier der heiligen Geheimnifje bei, welche ſchon in den Mpoftelzeiten nicht bloß mit Predigt und Lehrvorträgen, fondern aud mit Gebeten, Hymnen, Palmen, geiftlichen Ge- jängen, d. 9. einer mannigfaltig gegliederten Liturgie, verbunden war. In der gewaltigen Geiftesarbeit aber, welche die Kirchenlehrer und Väter der eriten vier Jahrhunderte geleiftet haben und welche man gettoft mit den Leiftungen der größten Denker des Altertums vergleichen darf, fand feines- wegs bloß der Berftand feine Rechnung; wie in den heiligen Schriften felbft, floß hier auch der Phantafie, dem Gemüt und dem Willen reihliche Nahrung zu. Dogma und Moral, philofophiiche Spekulation und poetiihe Auffaſſungs— weile treten faum je völlig abgetrennt auf. Die chriftliche Lehre zieht den ganzen Menſchen in ihren lebendigen Anziehungskreis. Im Lichte des Neuen Bundes geftaltet ſich der Alte zur großartigften poetiihen Typil. Der Ge: danke an Gott, an Chriftus verflärt Menjchenleben und Natur. Predigten, Abhandlungen, Reden und Briefe der Väter find durdtränft von diejer reli- giöfen Poeſie.

So ift in den erften drei Jahrhunderten faum von Dichtern die Rede, und bon dem wenigen ift faum eine dürftige Nachricht erhalten.

Der frühefte fiher und klar beglaubigte chriſtliche Epiler ift erft der ſpaniſche Prieſter C. Vettius Aquilinus Juvencus, von dem aber ander: weitig nichts befannt ift, als daß er vom jehr vornehmen Geſchlechte war und unter Konftantin d. Gr. dichtete, Mit entjchiedenem Dichtertalent be: gabt, Klajfifch gebildet, nit nur mit Vergil, Lucan und Statius vertraut, jondern auch mit den ardaiftiihen Wendungen des älteren Latein, hat er es zuerjt eingejehen, daß der Epik in den heiligen Evangelien ein neuer Stoff geboten jei, der an Bedeutung die Sagenmwelt des Homer und Bergil weit überrage und feinem Sänger deshalb eine weit erhabenere Unsterblichkeit zu fihern geeignet fei, und fo hat er, vorzüglich nad Matthäus, aber auch mit Zuziehung der andern drei Evangeliften, die erſte Chriſtiade in bier

Epiſche und didaltiſche Verſuche. 119

Büchern entworfen!, oder wie der hl. Hieronymus ſich ausdrückt, „er hat es gewagt, die Majeftät der Evangelien den metriſchen Geſetzen zu unterwerfen“. Im Prolog fündet Juvencus feine Abficht folgendermaßen an:

Nichts Unfterbliches Hält der Bau der Welten umfangen,

Weder das goldene Rom noch die Reiche ber Menſchen, der Erbfreis, Weber Land noch Meer noch die flammenden Sterne des Himmels. Denn vom Schöpfer beftimmt ift der unvermeidlihe Zeitpunkt, Wo bie zündende Glut hinrafft vernichtend den Meltbau.

Doch erhabene Tat und der Ruhm vortrefiliher Tugend

Bleibt auf lange hinaus zahllofen Menſchen geborgen,

Deren Lob und Preis die Dichter häufen zum Liebe,

Jene feiert der Sang, von Smyrnas Quellen entftrömenbd,

Diefe das Tiebliche Lied Maros, an des Mincios Ufern,

Nicht geringerer Ruhm umfreifet aber den Sänger:

Ewigen ift er gleich, folang die Jahrhunderte fliegen

Und der jhwindelnde Pol ummälzet Bänder und Deere

Rings im ätheriſchen Raum nad) unverrüdtem Geſetze.

Wenn die Dichtungen ſchon jo Sangen Ruhm fich verdienen, Welche die Heldenwelt mit menſchlichen Lügen verknüpfen,

Wird und ewiges Lob der fidhere Glaube gewähren,

Spenden unfterblide Zier, unfterblien Lohn uns erteilen.

Denn es gilt mein Lied bes Erlöfers Leben und Taten, Göttlichem Gnadengeſchenk an bie Menjchheit, Iedig des Irrtums. Nicht zu fürchten fteht, der Weltbrand werbe verzehren

Diejes Werk; ja vielleicht wird e8 mich entreihen dem fyeuer, Wenn auf flammenden Wolfen herab wird fteigen der Richter, Ehriftus wunderbar, ber Ruhm bes erhabenen Vaters.

Freudig ans Werk! Der Heilige Geift bejeele die Dichtung, Läut’re des Sängers Herz mit den reinen Fluten des ſüßen Horbanftroms, auf daß wir Ehriftum würdig befingen ?.

Wie Ihon Hieronymus bemerkt, hat Juvencus „die vier Evangelien (nad) der „Itala*) fait wörtlih (pene ad verbum) in Herameter überjegt“. Er Hat es nicht gewagt, eigene Erfindungen einzuſchieben oder ſich freiere Umjchreibungen zu erlauben; eher hat er den Tert gelegentlih noch fnapper gedrängt oder gefürzt, wie 5. B. in der Wiedergabe des Magnifikat:

Magnificas laudes animus gratesque celebrat

Immensi Domino mundi, Vix gaudia tanta Spiritus iste capit, quod me dignatus in altum

Evangeliorum libri IV, herausgeg. von F. Arevalo, Rom 1792; danad) von Migne, Patr. lat. XIX 53—346; €. Marold, Leipzig 1886, 3. Huemer (Corpus script. ecel. lat. XXIV), Wien 1891. Bgl. U. Ebert, Literatur bes Prittelalters I?, Leipzig 1889, 114— 121. M. Manitius, Gefhichte der chriftlich- lateiniſchen Poefie, Stuttgart 1891, 55—61.

2 Uberſetzt vom Verfaſſer.

120 Achtes Kapitel.

Erigere ex humili celsam, cunctisque beatam Gentibus, et seclis voluit Deus aequus haberi. Sustulit ecce thronunı saevis, fregitque superbos, Largifluis humiles opibus ditavit egentes.

Eine eigentliche poetiihe Neufhöpfung konnte jo nicht entftehen. Aber die Verje fließen leicht und gefällig, geben jehr genau Inhalt und Färbung des bibliſchen Berichtes wieder, und jo hat ſich der Dichter ſchon bei Papft Gelafius das Lob verdient: Item Iuvenci nihilominus laboriosum opus non spernimus, sed miramur. Das fleißige Werk verdient durchaus feine Geringihätung, fondern Bewunderung. In einer Zeit, wo nod die Apo- frpphen, großenteil3 im Dienfte der verſchiedenen Sekten entftanden, die Rein— heit des Glaubens bedrohten, war eine jolche Behandlung der bibliihen Epik von höchſtem Verdienſt.

In ähnlicher Weiſe bearbeitete zu Anfang des 5. Jahrhunderts ein gewiſſer Presbyter Cyprian aus Oberitalien, wie es ſcheint, die geſchicht— lichen Bücher des Alten Teſtaments; es ſind von dieſer Dichtung indes nur Fragmente vorhanden, die früher dem Juvencus zugeſchrieben wurden, Das Werk verrät Fleiß und Ernft, wenn aud die Erzählung trodener, die Poefie mangelhafter ift alS bei Juvencus!. Freier ift der altteftamentlidhe Stoff in zwei Epyllien behandelt, die vermutlih von dem gleichen Verfaffer herrühren, und von welchen das eine (De Sodoma) den Untergang Sodomas, das andere (De Iona) die Rettung Ninives erzählt. Beide Erzählungen find in gewähltem Ausdruck und gutem Bersbau durchgeführt, die zweite jedod nur zum Zeil erhalten?, Auch die jog. Coena Cypriani, ein heiteres, für den Vortrag bei Gaftmählern beftimmtes Gedicht, ift wahriheinlid von demjelben Presbyter verfaßt, aber, wie die zwei Epyllien, wohl ſchon zu Ende des 4. Jahrhunderts,

Eine noch viel freiere Behandlung weiſt das Gedicht eines gemiffen Rhetors Victorinus auf, welches das Martyrium der fieben makkabäiſchen Brüder zum Vorwurf hat. Die biblifhe Erzählung ift hauptſächlich dahin ab: geändert, dab der Tyrann Antiohus fi zuerft an die Mutter wendet und dieje zu bewegen jucht, ihre Söhne vom Glauben abjpenftig zu maden. Anftatt

Unvollftändig bei Arevalo, Juvencus und Migne, Patr. lat. XIX 345 bi8 380; Ergänzungen bei Pitra, Spicilegium Solesmense I, Paris. 1852, 151— 258, und Analecta sacra et classica I, Paris. 1888, 181—209. Vollſtändige Ausgabe von R. Peiper, Cypriani Galli poetae Heptateuchos (Corpus script. ecel. lat. XXIII, Vindobonae 1891),

2 9. Brewer 8. J., Über ben Heptateuhdichter Cyprian und die Coena Cy- priani, in Zeitf&hrift für fathol. Theol. XXVIII, Innsbrud 1904, 92—115. Die Gedichte bei Peiper a. a. O. (Corpus XXIII 212— 226), ber Eyprian für einen Gallier hält.

Epiſche und didaktiſche Verſuche. 121

deſſen bleibt aber die Mutter nicht bloß in ihren eigenen Folterqualen ſtand— haft, ſondern hält an jeden einzelnen der ſieben Söhne eine beſondere Rede, um ihn zur mutigen Ertragung des Martyriums anzueifern. Dadurch erhält die Darſtellung an ſich mehr dramatiſches Leben; allein die Reden find etwas zu lang ausgefallen, und da die Sprade zwar rein, aber etwas ſchwer— fällig ift, jo geht durch die Breite der Reden der friſche Eindrud wieder verloren. Reicher an Handlung und Abwechſlung ift ein anderes Gedicht, das demjelben Victorinus zugejchrieben wird, De Iesu Christo deo et homine, da3 in 137 Hexametern das ganze Leben Chrifti umfaßt. Ein drittes Gediht, das bon einigen ebenfalls dem Victorinus, von andern einem Eyprian zugeteilt wird, De Pascha oder De ligno vitae oder De eruce, befingt (in 69 Herametern) in tieffinnig allegoriicher Weiſe die Aus— breitung des Chriftentums !.

Sieh, es Liegt ein Ort in der Mitte des fihtbaren Erdrunds, Welchen nach Lanbesiprade die Juden Golgatha nennen:

Hier hat, wie ich erinn’re, ein Stamm unfruchtbaren Eihbaums, Abgehaun und gepflanzt, heilfame Früchte getragen,

Doch nit bot er fie dar den Gärtnern, die ihn gepflanzet, Nein, auswärtige Menſchen gewannen bie feligen Früchte. Diefe Gattung Gewächs fleigt auf aus einfahem Stamme, Breitet jodann feine Zweige in zwei gradftrebenden Armen, Gleich wie bie ſchwere Stang’ am gebläheten Segel ſich ftredet, Oder das Jod quer fteht mit gefpanneten Stieren am Pfluge. Wen es da trug ala Frucht, aus urfprünglihem Samen gereifet, Nahm, da er abfiel, auf in dem dunkeln Schobe die Erbe. Aber im dritten Lichte, für Erb’ und Himmel ein Staunen, Sproßt er wieber empor, ein Zweig voll Früchten des Lebens. Zweimal zwanzig Tage hindurch erfräftigte der ſich,

Wuchs zum unenblihen Raum und berührte mit oberftem Wipfel Himmlifhen Ort, und verbarg das heilige Haupt in der Höhe, Während er zweimal ſechs der Zweig’ unermefjener Schwere Bon ſich firedte und weit hinbreitete über das Erdrund,

Dap fie den Völkern allen Genuß und ewiges Leben

Böten und Iehrten die Art, wie man einen jeligen Tod ftirbt. Auh nun bald, da fünfzig der Tage waren erfüllet,

Sandte vom höchſten Gipfel des Himmels göttlichen Nektars Einen Regen den Zweigen das Hauchen himmlifcher Lüfte, Und vom fühen Tau quoll überall buſchiges Laubwerf.

Unter dem unermeßlichen Schatten ber ſchirmenden Zweige Bar ein Quell ganz lauter und ohne trübende Störung, Shlammlos, von durhfihtiger Welle, und fprießende Kräuter Goffen fröhliche Farben umher aus blühenden Kelchen.

Um ihn fand unzählige Schar, und es ftrömten die Völker, Viannigfaltig an Art und Geſchlecht, an Alter und Ehren,

——

» Alle drei Gedichte bei Peiper a. a. ©. (Corpus XXIII 231-274).

122

Achtes Kapitel.

Unvermählt' und Vermählte, bei Witwen blühende Frauen, Säuglinge, Anaben und Männer, die Jungen zugleih mit den Alten. Hier, wo fie ſahn von unzähligen Früdten die Zweige gebogen Hängen herab, bier freuten fie fi, mit begierigen Hänben

Nah’ zu berühren bie Früchte, noch feucht vom himmlischen Nektar. Aber fie konnten nicht mit begierigen Händen fie pflüden,

Eh’ den befubelnden, jhmußigen Staub fie bes früheren Weges Abzuwaſchen, den Leib in ber heiligen Quelle gebabet.

Lange fodann ringsum im weichen Gras ſich ergehen,

Nehmen die Frücht' abhangend vom hohen Baum in Empfang fie. Doch wenn einige nur von den Zweigen bie fallenden Hülfen

Und bie fühen Blätter, im reichlihem Nektar gebabet,

Eſſen, jo wählt die Luft, die wahren Früchte zu toften.

Wenn aber jelbft im Mund den himmliſchen Saft fie gefoftet, Mandeln bie Seelen fie um, und verlieren die Triebe ber Selbſtſucht, Dak mit mildem Gefühl der Menſch erfennet den Menſchen.

Viele fahen wir aud vom neuen Geſchmacke den Magen

So empört und erregt dur den Honig das Gift ihrer Galle, Daß fie verftöreten Geiſtes verſchmähten die heilfame Labung, Oder auch nicht ertrugen die gierig genommene Speije,

Und ausfpie'n bie zu lange und übel gefhlürfeten Säfte.

Viele haben jedoch mit erneuertem Geifte geftärtet

Das kranke Gemüt, und was fie nicht glaubten zu können,

Gut ertragen und dann die Frucht ihrer Mühen empfangen.

Diel’ au, welde gewagt in den heiligen Quell fi zu tauchen, Wichen plößlid wieder zurüd und ftürzeten rüdlings,

Wälzen fi nun im alten Schmuß und dem Staube des Weges, Aber viele empfangen mit ganzer Seele die Früchte,

Ziehen fie tief ins Inn're und tragen fie fromm in bem Buſen.

Alle, welde vermögen zur heiligen Quelle zu ſchreiten,

Diefe führet der fiebente Tag zur erwünfceten Welle,

Ihnen benetzend mit flüffigem Naß die ermatteten Glieder.

So erft legen fie ab des Geiftes Schlamm und die Flecken

Ihres früheren Lebens und führen, vom Tode gereinigt,

Ihre geabelten Seelen zurüd, für den Himmel bereitet.

Bon da geht zu ben Zweigen der Weg und den Früchten bes Heiles, Und zum Himmel von hier durch die Zweige bes ftrebenden Baumes. Dies ift das Holz bes Lebens für alle Gläubigen. Amen !,

Einen wirklich poetiſchen Anhauch Hat das Gediht „Vom Phönir“, das die ältere Überlieferung dem Lactantius zuſchrieb, die Kritik dann ab- ſprach, die neuere Kritik wieder zufpricht ?.

t jÜberfeht von C. Fortlage, Gefänge ber Hriftlichen Vorzeit 115—118,

? Herauögeg. von A. Martini (Lactantii Carmen de Phoenice, Lüneburg 1825); Rieje (De ave Phoenice in Claudii Claudiani carmina II [ed. Jeep] 211 ff). Bal. die Aufjäge von Riefe und Dechent im Rhein. Mufeum XXXI

(1876) 446 ff und XXXV (1880) 29 fi.

In fünfundachtzig gutgebauten

Epiſche und didaktiſche Verſuche. 123

und wohlklingenden Diſtichen erzählt es in ſehr anmuliger, geſchmackvoller Weiſe die orientaliſche Sage von dem berühmten Vogelkönig, der auf einem Berge in der Nähe des Sonnentors wohnt, alle tauſend Jahre einmal in die Arabiſche Wüſte herniederſchwebt, ſich aus den duftenden Hölzern und Pflanzen ein Neſt errichtet und in deſſen Flammen ſtirbt, um in neuer Pracht aus der Aſche hervorzugehen. Im Ausdruck iſt mehrfach die antike Mythologie beibehalten, für einen chriſtlichen Dichter ſpricht die Deutung der Sage auf die Auferftehung, deren Symbol der Phönir aud in der chriſt— lien Kunft wurde, die Baradiejesheimat des Vogels, das deutliche Lob der Jungfräulichfeit und die dem Heidentum fremde Anjhauung, daß im Tode höchſte Wonne und ein ewig ſeliges Leben beginne, At fortunatae sortis filique voluerem, Cui de se nasci praestitit ipse Deus! Femina sit, vel mas, seu neutrum, seu sit utrumque, Felix, quae Veneris foedera nulla colit. Mors illi Venus est; sola est in morte voluptas: Ut possit nasci, haec appetit ante mori. Ipsa sibi proles, suus est pater et suus heres, Nutrix ipsa sui, semper alumna sibi. Ipsa quidem, sed non eadem, quae est ipsa, nec ipsa est, Aeternam vitam mortis adepto bono'!,

Als der ältefte Epiter hat lange Commodianus gegolten; es ift nunmehr aber ziemlich fiher, daß er erft der Mitte des 5. Jahrhunderts angehört?. Man weiß übrigens nicht genau, wann er geboren, wann er geftorben if. Wahrſcheinlich verfaßte er feine Dichtungen um 458—466 in Südgallien, war weder Biihof noch Priefter, wie man früher annahm, ſondern ein einfacher Aslet. Er ſelbſt nennt fi in dem legten feiner Akroſticha: Commodianus mendicus Christi, „Bettler Chriſti'. Er muß ein guter, frommer Mann gemwejen fein. In feinen achtzig Akroftiha, deren Titel man erhält, wenn man die Anfangsbuchſtaben der Verſe vorn vertikal herunterlieft, gibt er fich viele Mühe, die alten Götter und das Heidentum, auch das Juden- tum zu befämpfen und dann, indem er fih Catos Sprüde zum Vorbild nimmt, allen einzelnen Ständen der Chriften gute Lebensregeln und Räte zu erteilen; aber ſchließlich ift er doch ein Schlecht unterrichteter Theolog und ein noch viel unfähigerer Dichter. Er hält Vater und Sohn für diejelbe gött- lihe Perjon, die je nah ihren verſchiedenen Beziehungen bald Vater bald Sohn heißt. Er ift auch Chiliaft, d. h. er erwartet in allernächfter Zeit

' Migne, Patr. lat. VII 277—284.

? Der fihere Nachweis hierfür wird in Ausficht geftellt von 9. Brewer 8. J.,

Abfafjungszeit der Dichtungen bes Commodianus von Gaza (Zeitihrift für kathol. Theol. XXIN, Innsbrud 1899, 759—763).

124 Achtes Kapitel,

den Antihrift und das taufendjährige Reid. Seine Sprüche aber find nichts mehr als reine Proja, und feine Herameter holpern unbeholfen daher, ohne Beobahtung der Quantitätzgejege, ohne Rhythmus und Wohllaut 1. Nicht viel beſſer ift fein zur Belehrung der Juden und Heiden verfaktes Carmen apologeticum (in 1060 &$erametern). Statt eines Antihrifts läßt er hier ſogar zwei auftreten, und das Gedicht läuft ganz in politiſch— möftiiche Prophezeiung aus. Papſt Gelafius hat darum Commodians Ge: dichte den „Apokryphen“ beigezählt und damit jeine wunderlichen Schwarz- jehereien unſchädlich gemacht.

In Form und Sprache ſchloſſen ſich die meiſten epiſchen Verſuche an Vergil an, der wegen feiner fittlihen Reinheit von den alten Dichtern am meiften Achtung verdiente und am wenigften Gefahr bot. Es kann darum nicht befremden, daß auch eigentlihe Vergil:Gentonen entftanden, d. h. Gedichte, welche in ihrem Ausdrud ganz oder faft ganz aus Vergil: „Lappen“ zufammengeflidt waren. Diejelben werden gewöhnlich jehr verächtlich be— Handelt, do find fie als Vorübungen und Vorarbeiten einer erſt werdenden Literatur keineswegs zu veriverfen, da die antike Dichterſprache nicht über Nacht zum tauglihen Werkzeug einer ganz neuen Weltanfhauung umgemodelt werden konnte. Stellenweiſe lejen fie fih gar nicht übel, wenn man bon ihrem Urfprung etwas zu abftrahieren weiß und nur an das denkt, was fie jet ausdrüden mollen und follen. Der anjehnlichfte Verſuch dieſer Art, der in zwei Teilen (694 Herametern) Schöpfung und Sintflut und dann die Hauptereigniffe des Lebens Chrifti behandelt, trägt den Namen einer vornehmen Römerin, Broba, deren Großvater Probus und Vater Petronius Probianus Konjuln waren und deren Sohn Olybrius (379) ebenfall3 Konſul wurde. Sie foll jhon vor ihrer Belehrung ein Epos verfaßt haben, das aber verloren ift?.

Der aufblühenden chriftlihen Poefie gereichte es fiher zum Vorteil, dat man fi in den vornehmften Streifen Roms dafür zu interejlieren be: gann. Noch bedeutjamer mußte es fein, daß in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts auch ein Papft in die Reihen der Dichter trat, und zwar einer der Hervorragenditen Päpfte diejes Jahrhunderts. Es war der hl. Damajus, der von 366—384 auf Petri Stuhl ſaß und auf ent: iheidenden Synoden zu Rom (369 und 374) die Lehre der Macedonianer verwarf. Er Hat den Hi. Hieronymus zur Abfaffung der Bulgata heran: gezogen und duch umfaſſende Bautätigkeit im alten Rom ein neues, chriſt—

! Derauögeg. von E. Lubwig (Commodiani carmina, Lips. 1877/78) und 3. Dombart (Corpus script. ecel. lat. XV, Vindobonae 1887).

? Herausgeg. von C. Schenfl (Poetae christiani minores I, Vindobonae 1888; Corpus XVI; bafelbft noch brei andere Centones Vergiliani). Über andere Gentonen vgl. Manitius, Geſch. db. riftl.-Iat. Poefie 127—130.

Neuntes Kapitel. Liturgifhe Hymnendichtung. Der bl. Ambroſius. 125

lies begründet. Er Hat es fi nicht nehmen laſſen, die von ihm verehrten Grabftätten der Märtyrer und die von ihm gebauten Heiligtümer felbft mit Inſchriften zu verſehen!. Manche jener Grabſchriften (tituli) und Infchriften, von dem Kalligraphen Yurius Dionyfius Philocalus in Stein gemeihelt, find noch erhalten, andere find noch dur Kopien befannt. Sie find meiften® jehr kurz. Sein längftes erhaltenes Gedicht, auf den Martertod des heiligen Apofteld Paulus, zählt nur jehsundzwanzig Berje. Umfangreichere Ditungen über die „Jungfräulichkeit“ und über bibliſche Stoffe find ver: loren. Zwei Hymnen, auf den Hl. Andreas und auf die hi. Agnes, in alten Sammlungen ihm zugefhrieben, werden von den Kritikern in Zweifel gezogen. So läßt fich über fein poetiiches Verdienſt nichts Entjcheidendes jagen. Mag die Sprache feiner Epitaphien manden ungelent oder gar projaifh erjcheinen, fie befift monumentale Einfachheit, Kraft und Würde, und es Tann faum ein Zweifel fein, dab der große Papft, der mächtige Hörderer des Bibelftubiums, auch der dhriftlichen Poeſie durch feine eigene Betätigung die fruchtreichften Impulfe gegeben hat. Die Dichtungen des Prudentius weiſen deutlih auf ihn zurüd,

Neuntes Kapitel. Fiturgifde Hymnendihtung. Der Hl. Ambrofius.

„Seid voll des Heiligen Geiftes, redend miteinander in Pjalmen und Hymnen und geiftlihen Liedern, fingend und jubelnd in euern Herzen dem Herrn!“ So mahnt der Hi. Paulus die Ephelier und genau in denfelben Worten die Koloffer?. Die einzelnen Ausdrüde „Pjalmen“, „Hymnen“ und „Geiftliche Lieder” haben verſchiedene Erklärung gefunden. Theodoret glaubte darin ſchon die Hauptbeftandteile des jpäteren liturgiichen Gebetes unterfhieden zu finden. Unzweifelhaft empfiehlt der Apoftel im allgemeinen die Pflege religiöfer Poefie und kirchlichen Geſanges. Als wohl ebenfo ficher dürfen wir annehmen, daß die erften Chriften Pjalmengebet und Pjalmen- gejang (in gemeinſamem wie in abwechſelndem Vortrag) aus der Synagoge herübergenommen haben. Unter den „Hymnen“ laſſen fi ſehr wohl die berrlihen Gantica des Alten und Neuen Teftamentes verftehen, welche noch

! Ausgabe feiner Schriften von A. M. Merendba, Rom 1754, abgebrudt bei Migne, Patr. lat. XIII 109442; bie Epigramme bei J. B. De Roifi (In- scriptiones christianae urbis Romae I, Romae 1857—1861; II 1888), M. Ihm (Damasi Epigrammata, Lips. 1895). gl. H. Grisar, Analecta Romana ], Romae 1899, 118; Derf,, Geih. Roms und ber Päpfte I 257 fi.

2 Eph 5, 18 f. Kol 3, 16.

126 Neuntes Kapitel.

heute einen bevorzugten Zeil des liturgifchen Gebetes bilden: das Ganticum Moſis (2 Mof Kap. 15), das Abſchiedslied Mofis (5 Mof K. 32), das Danklied der Anna (1 Kön 8.2), der Gefang Habakuks (Hab K. 3), das Gebet des Iſaias (If K. 12), ein anderes Lied des Iſaias (K. 26), das Klagelied des Königs Ezehias (IJ 38, 10—20), das Dantklied des Jonas (Ion 8. 2), der Hymnus der drei Jünglinge im Feuerofen (Dan K. 3), das Benedictus des Zacharias (Luk 1, 68—79), das Magnificat der feligiten Jungfrau (Zut 1, 46—55) und das Danklied des greifen Simeon Nunc dimittis (Luk 2, 29—32).

Diefe Cantica maden für ſich jhon, noch mehr aber in Berbindung mit den Palmen, das jchönfte und ehrmürdigfte Liederbud der Welt aus, Sie Hangen darum, nad dem Wunjche des Apoftels, fort durch die Jahr: hunderte bis auf den heutigen Tag. Sie follten aber feineswegs vereinzelt bleiben, jondern zum Grundftod einer religiöfen Lyrik werden, an der ſich alle folgenden Jahrhunderte beteiligten. Unter den „geiftlihen Liedern”, bon welchen der Hl. Paulus redet, fünnen wir am füglichſten die neueren Gejänge verstehen, welche fromme Männer im Schoße der Kriftlihen Gemeinde zu dem altehrwürdigen Schab der göttlih infpirierten Poefie fügten und von welchen die Kirche im Laufe der Zeit mande ihrer Liturgie einverleibte!. Die Älteften derjelben modten in der Form den bibliihen Pjalmen und Gantica nachgebildet fein, wie die herrlihe uralte Dorologie, die ih im Gloria der heiligen Meſſe erhalten hat. Später indefjen bildeten ſich zuerft bei den Syrern, dann bei den Griechen, Armeniern und Lateinern eigene, neue Liederformen heraus, welche ſich deutlich von den Pjalmen und Gantica unterſchieden und bei den Griehen und Lateinern, zum Unterfhiede von den übrigen Bejtandteilen der Liturgie, Hymnen genannt wurden. Die Pflege diejer Art Poefie hängt wejentlich mit der Ausbildung des kirchlichen Stunden: gebete3 zufammen, dieſes Hinwieder mit der Entwidlung des Mönchs- und Ordenslebens im Orient. Nach Sokrates reiht der Wechlelgefang der Pjalmodie in die Zeit des Hl. Ignatius von Antiohien zurüd, nad Theodoret ift er erft dur Diodor und Flavian unter Kaiſer Konftantius in Flor gelommen, was Theodor von Mopjueftia dahin erklärt, dab bie

ı Spuren bon liturgifhen Hymnen finden fi im Neuen ZTejtament, 3. B. 1 Zim 3, 6: Ds dpavspadn dv aapri Edixamidn dv mveuuarı üedn dy- r&lors ujw. Undere mehr oder weniger wahrſcheinliche Epuren verfolgt Harnad, Geſchichte der altchriftlichen Literatur I 795, fowie in Zerte und Unterſuchungen XII, Zeipzig 1894, 1 ff. Über ein „Tauflied“, das ſich inhaltlich mit der „Di« dache“ berührt, vgl. A. Harnad, Zu den Amherſt-Papyri (Situngsber. d. k. Preuß. Akad. d. Wiſſenſch., Berlin 1900, 986 987). Er ſetzt die Abfafjungszeit zwiſchen 250 und 330. Bon den Kriftlihen Agapen erzählt Tertullian (Apol. c. 39): Ut quisque de Scripturis sacris vel de proprio ingenio potest, provocatur in medium, Deo canere,

Liturgiſche Hymnendichtung. Der hl. Ambrofius, 127

beiden Männer nur den Wechjelgefang, wie er längft bei den Syrern im Gebrauche war, zu dem Griechen verpflanzten. ine nähere Unterfuhung muß den liturgiſchen und hymnologiſchen Forſchern überlaffen bleiben. Wir fönnen hier nur einige Hauptmomente ftreifen 1,

Die älteften Nachrichten über das kirchliche Stundengebet, wie dasjelbe um die Jahre 380 bis 390 in der prädtigen, von Konftantin erbauten heiligen Grabeskirche zu Jeruſalem gehalten wurde, enthält der Wallfahrts- bericht, welden die hl. Silvia von Aquitanien wahrſcheinlich Schwefter des Rufinus, Reichsminiſters unter den Kaiſern Theodofius dem Großen und Arkadius an ihre frommen Mitſchweſtern in Gallien jandte?.

! Die bisherigen Forſchungsergebniſſe nebft Literaturangaben am beften zu— jammengeftellt von S. Bäumer, Geſchichte bes Brevierd. Verſuch einer quellen- mäßigen Darftellung bes altkirchlichen und des römiſchen Offtciums, Freiburg 1895. Bgl. Hergenröther-Kirſch, Kirchengeſchichte It, Freiburg i. B. 1903, 472 478.

? Ut autem sciret affectio vestra, quae operatio singulis diebus cotidie in locis sanctis habeatur, certas vos facere debui, sciens, quia libenter haberetis haec cognoscere. Nam singulis diebus, ante pullorum cantum, aperiuntur omnia hostia Anastasis, et descendent omnes monazontes et parthenae, ut hic dicunt; et non solum hii, sed et laici, praeter viri aut mulieres, qui tamen volunt maturius vigilare. Et ex ea hora usque in lucem dieuntur ymni, et psalmi responduntur; similiter et antiphonae: et cata singulos ymnos fit oratio. Nam presbyteri bini vel terni, similiter et diacones, singulis diebus vices habent simul cum monazontes, qui cata singulos ymnos vel antiphonas orationes dieunt. Iam autem ubi ceperit lucescere, tunc incipiunt matutinos ymnos dicere. Ecce et supervenit episcopus cum clero, et statim ingreditur intro spelunca, et de intro cancellos primum dicet orationem pro omnibus; commemorat etiam ipse nomina, quorum vult, sic benedicet cathecuminos. Item dicet orationem et benedicet fideles; et post hoc, exeunte episcopo de intro cancellos, omnes ad manum ei accedunt; et ille eos uno et uno benedicet exiens iam, ac sic fit missa, iam luce. Item hora sexta denuo descendunt omnes similiter ad Anastasim.... Ita ergo et hora noha fit, sicuti et ad sexta. Hora autem decima, quod appellant hic licinicon, nam nos dieimus lucernare, similiter se omnis multitudo colliget ad Anastasim, incenduntur omnes candelae et cerei, et fit Jumen infinitum. Lumen autem de foris non affertur, sed de spelunca interiori eieitur, ubi noetu ac die semper lucerna lucet, id est de intro cancellos: dicuntur etiam psalmi lucernales, sed et antiphonae diutius. Ecce et commonetur episcopus, et descendet et sedet susum, nec non etiam et presbyteri sedent locis suis: dieuntur ymni vel anti- phonae. Et ad (finem) ubi perdicti fuerint iuxta consuetudinem, levat se epi- scopus, et stat ante cancellum, id est ante speluncam: et unus ex diaconibus facit commemorationem singulorum, sieut solet esse consuetudo. Et diacono dicente singulorum nomina, semper pisinni plurimi stant, respondentes semper: Kyrie eleyson, quod dieimus nos: Miserere Domine, quorum voces infinitae sunt (J.F.Gamurrini, $. Silviae Aquitanae Peregrinatio ad loca sancta, ed. altera, Romae 1888, 45 f; Itinera Hierosolymitana saeculi IV--VIII recensuit P. Geyer, Vindobonae 1898: Corpus script. eec). lat. XXXIX 71).

128 Neuntes Kapitel.

„Jeden Tag”, To erzählt fie, „vor dem Hahnenſchrei werben alle Türen ber Auferftehungsfirhe (Anastasis) geöffnet, und es fteigen alle Mönde und Nonnen hinunter (Monazonten und Parthenae, wie fie hier genannt werden), und nicht nur fie, fondern auch bie Laien, Männer und Frauen, welche bie Frühwache mitmachen wollen. Unb von bdiefer Stunde bis zum hellen Tag werben Hymnen gebetet und Pialmen wechjelweife rezitiert unb ebenſo Antiphonen: und nach ben einzelnen Hymnen kommt ein Gebet. Denn je zwei ober brei Priefter unb ebenfo Diafonen wechſeln an ben einzelnen Tagen mit den Mönden ab, welche nad) den einzelnen Hymnen oder Antiphonen Die Gebete jprehen. Sobald es aber hell zu werben be— ginnt, fangen fie an, die Morgenhymnen zu beten. Siehe, und dann fommt ber Biſchof mit dem Klerus und tritt alsbald in bie Höhle und verrichtet zuerft inner- halb der Gitter das Gebet für alle; dann fommemoriert er auch jelbft die Namen derer, die er will, jo fegnet er die Katechumenen. Ebenfo ſpricht er das Gebet und fegnet die Gläubigen. Und danach, wenn der Biſchof aus bem vergitterten Raum hervortritt, treten alle an feine Hanb heran, und er fegnet fie, einen nach dem anbern, . indem er hinausgeht, und jo endigt bie Diefje (Verabſchiedung) ſchon bei hellem Tag. Item um bie ſechſte Stunde fteigen gleihermaken alle zum Grabesraum hinab. ... Gerade jo wie zur jechiten Stunde wirb e8 wieder um bie neunte ge: halten. Um bie zehnte Stunde aber (die fie hier Licinifon nennen, denn wir jagen Lucernare) verfammelt fi die ganze Menge beim Grabesheiligtum; es werben alle Leuchter und Kerzen angezündet, und es wird ein unabjehbares Lit. Das Licht wird aber nicht von außen herbeigebradht, ſondern aus ber inneren Grotte hervor— gereicht, wo bei Nacht und Tag immer die Ampel brennt, d. 5. zwiſchen ben Gittern: es werden nun aud die Pfalmen beim Lichtanzünden (psalmi lucernales) gebetet und noch längere Antiphonen. Siehe, und dann wird der Bifchof gemahnt und fteigt herab und fit oben (in der oberen Kirche), und auch die Priefter an ihren Plätzen: werben die Hymnen und Antiphonen gebetet. Und wenn fie nad dem Gebraud) zu Enbe gebracht find, erhebt fich ber Biſchof und ftellt fi vor bas Gitter, d. h. vor die Grotte, und einer ber Diakonen macht die Kommemoration für alle, wie es Sitte zu fein pflegt. Und während ber Diafon die Namen ber Einzelnen ſpricht, ſtehen zahlreihe Kinder da und antworten immer: Kyrie eleyfon, was bei uns heißt: Er- barme di, Herr, und ihres Aufes ift fein Ende."

Der ganze Chordienft, wie er fih zu Jerufalem feit den Zeilen der Apoftel entwidelt Hatte die Liturgie trug den Namen des Hl. Jakobus —, beſitzt ſchon alle Grundzüge der fpäteren Ausbildung. Nur der Lektionen wird keine ausdrüdlihe Erwähnung getan. Sonft beftehen alle Horen aus Palmen, Antiphonen und Hymnen und werden mit Berfifel und Oration abgeichloffen. Der Chordienft vor dem Hahnenſchrei entjpricht offenbar ber Matutin mit den Qaudes, der zweite am Morgen mit der daran ſich ſchließenden Meſſe der jeigen Prim und Terz, der dritte (hora sexta) der Sert, der vierte (hora nona) der jeßigen Non, der fünfte (hora decima) „beim Anzünden der Lichter“ der Veiper und der fih daran fließende nächtliche Dienft dem Com— pletorium. Was Silvia mit der Meffe meint, die auch beim Wbendgottes- dienst erwähnt wird, ift zweifelhaft, da fie diejelbe nicht von der am Morgen unterſcheidet; jedenfalls ift das Wort nicht im heutigen Sinne zu verftehen.

Daß das liturgifhe Stundengebet aus den Klöftern des Orients ſchon

Liturgiſche Hymnendichtung. Der bi. Ambrofius. 129

längſt aud nad Rom gedrungen und dajelbft im Brauch war, zeigen die Briefe des Hi. Hieronymus an Laeta und an Demetriad, Die bornehme Patrizierin Laeta mahnt er, ihrer Tochter nicht eine feine, geledte, modijche Zofe zu halten, jondern eine ernfte, treue, alte Magd, die fie „durch ihr Beiſpiel gewöhne, nachts zum Gebet und Pfalmengefang aufzuftehen; in der Frühe die Hymnen zu fingen, zur dritten, jechften und neunten Stunde als Kämpferin in den Reihen zu ftehen und beim eben angezündeten Lämpchen das Abendopfer darzubringen“ 1,

Als den erjten Hymnendichter des Abendlandes nennen Hieronymus und Iſidor von Sevilla den Hl. Hilarius von Poitiers, welcher während feiner Verbannung im Orient ſyriſche und griechiſche Hymnenpoefie kennen fernte und, davon angeregt, ſelbſt ein Hymnenbuch verfahte?. Der dreizehnte Kanon des vierten Konzils von Toledo (663) bezeugt, dab Lieder daraus noch im fiebenten Jahrhundert beim Gottesdienft gefungen wurden. Drei längere Fragmente find erſt in neuerer Zeit von Gamurrini entdedt und 1887 herausgegeben mworden?. Zwei davon find abecedariſch angelegt und weifen jhon dadurh auf morgenländiihe Einwirkung Hin. Der jchöne Pfingſthymnus Beata nobis gaudia, fowie der Hymmus Lucis largitor splendide, welche ihm früher zugejchrieben wurden, werden ihm von der neueren Kritik abgeftritten, obwohl nicht gerade mit durchſchlagenden Gründen, Das zweite Fragment, ein Lied auf die Taufe einer Frau, ſchildert in den vorderen Strophen den Sieg Ghrifti über den Tod in einer Weije, die ſtark an die Dichtungen des Hl. Ephräm erinnert. Der gelegentliche Charakter des Gedichts wie die Länge der beiden andern ſcheinen eher dafür zu jprechen, dag Hilarius fie nicht gerade zum liturgifchen Gebraud) verfaßte. Als eigent- liher Vater des liturgiſchen Hymnengeſangs galt denn auch ſchon im chriſt— lihen Altertum nicht er, jondern der Hl. Ambrojiust.

ı Epist. CVII. n.9 (Migne, Patr. lat. XXII 875). An Demetrias jchreibt er: Praeter psalmorum et orationis ordinem, quod tibi hora Tertia, Sexta, Nona, ad Vesperam, Media nocte et Mane semper est exercendum, statue quot horis Sanctam Scripturam ediscere debeas (Epist. CXXX, n. 15; Migne a. a. ©. XXI 1119).

® Hieron., De script. eccl. c. 100 (Migne a. a. DO. XXIII 701); In Epist, ad Galat. 2 (Migne a. a. DO. XXVI 355). Isid., De ofl. ececl. lib. 1, e. 6.

»S. Hilarii Tractatus de mysteriis et hymni etc. Quae inedita ex codice Arretino deprompsit loh. Franeise. Gamurrini, Romae 1887. ®ie brei Hymnen abgedrudt und erläutert bei G. M. Dreves, Das Hymnenbud bes hl. Hi— lorius, in Zeitjchrift für kath. Theologie XII, Innsbruck 1888, 358—369. Vgl. ebb. XVI (1892) 315 316. Schlojjer, Die Kirche in ihren Liedern 12, Freiburg 1863, 34. Paulin. Mediol., Vita S. Ambrosü n. 18 (Migne a. a. ©. XIV 31).

G. M. Dreves, Aurelius Ambrofius, „der Vater des Kirchengejanges”. Eine hymnologiſche Studie, freiburg i. ®. 1898. Biraghi, Inni sinceri e <carmi di S. Ambrogio, Milano 1862.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 9

130 Neuntes Kapitel.

Wie der ſtaatsmänniſch veranlagte Biſchof von Mailand zum liturgifchen Dichter wurde, darüber haben wir Nachricht von ihm jelber, wie auch von dem hi. Auguftinus, der damals in Mailand weilte. Es war in der Kar— woche des Jahres 385, als die arianishe Kaiferin-Mutter Juftina im Namen ihres Sohnes Balentinian IL. die Katholiken zwingen wollte, den Arianern eine neugebaute herrlihe Bafilifa herauszugeben. Aber Ambrofius zog in der Frühe des Dienstags mit dem treuen Volle in die Bafilika und ließ fi darin zwei Tage und Nächte belagern. Um nicht aus der kirchlichen Ge— meinſchaft ausgejhloffen zu werden, traten die katholiſchen Soldaten zum Bolfe über, und die arianishen Germanen waren nicht zahlreidh genug, um die Einſchließung fortzufegen. So wurde der faiferliche Befehl zurüd- genommen, und die Katholiken konnten im Frieden die übrigen Feittage feiern. Während der zwei Tage und Nächte jener Gefangenihaft verfiel Ambrofius auf den Gedanken, die langen, angftvollen Stunden damit zu kürzen, daß er bon zwei Ghören abwechſelnd Pjalmen und mehrere von ihm verfaßte Hymnen fingen ließ.

„Es wachte“, erzählt der hl. Auguftin im feinen „Belenntniffen“, „das fromme Volt in der Kirche, bereit, mit feinem Biſchof, deinem Diener, zu fterben. Dort lebte meine Mutter, beine Magd, in Sorgen und Wachen immer voran, ganz dem Gebete, Ih, von ber Wärme beines Geiftes noch nicht erglüht, ward doch durch das Staunen und die Erregung ber Stadt aufgerüttelt. Damals wurde die Einrichtung getroffen, dab Hymnen und Pjalmen nad der Sitte ber orientalifchen Länder gefungen werben follten, Damit das Bolf nicht burch die traurige Stimmung niedergebeugt werde; und

biefe Einrihtung wurbe bis heute beibehalten, indem viele, ja faft alle Herden der Deinen dur den übrigen Erbfreis hin fie nahahmten.“ !

Es ift faum anzunehmen, daß der hl. Ambrofius jeine erften Hymnen in jener plößlihen Bedrängnis impropifierte. Er muß eine Anzahl derjelben Ihon verfaßt und mit Sängern eingeübt haben. Aber fie waren dem Ver: ftändnis und Geihmad des Volfes angepaßt und konnten fo tröftend und erhebend auf dasjelbe einwirken. Da die Arianer ihn aber des Zauber: anflagten, erwiderte er ihmen in einer während jener Tage gehaltenen Predigt:

„Sie jagen au, das Volk ſei durch die Zaubereien meiner Hymnen betrogen. Auch das leugne ich gar nidt. Es liegt ein großer, übermächtiger Zauber darin. Denn was ift mächtiger als das Belenntnis der Dreifaltigkeit, die täglih durd den Mund des ganzen Volkes gefeiert wird ? Um die Wette bemühen fie fih, den Glauben zu befennen, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geift in Verſen zu preifen. So find alle zu Lehrern geworden, die faum hätten Schüler jein können.” *

Bier Hymnen, deren jichere Beglaubigung durch den Hl. Auguftin auch die zweifelfüchtigfte Kritik verftummen macht, entfalten ganz den Zauber, der

! Confessiones IX 7 (Migne, Patr. lat. XXXII 770). ? Sermo contra Auxentium n. 84 (Migne a. a. ©. XVI 1017 1018).

Liturgifhe Hymnendichtung. Der hl. Ambrofius. 131

in jenen Worten bezeichnet ift. Sie bejiten reihen dogmatiſchen Gehalt in fnapper, lichtvoller, echt vollstümliher Form, faßlich und leicht jangbar, nicht zart oder fühlih, aber voll kräftigen, männlichen Gefühle. „Seine Hymnen gleihen den Schriftzügen einer altchriſtlichen Injchrift auf marmorner Tafel; mit nur wenigen furzen Verſen verftehen fie tiefe und dauernde Eindrüde zu erzielen. Da ift ſcheinbar fein Feuer zu bemerken, und doch brennt es verborgen im Innern; da jprühen keine Flammen, und doch fühlt man die Glut nüchterner, ernfter, überirdischer Begeifterung. Mehr als die Anmutungen zärtliher Frömmigkeit fommen in ihnen die Kraft des Kreuzes, der Mut des Glaubens, der Sieg ded Evangeliums über die Welt zum Ausdruck.“ 1

Als einer der jhönften Hymnen gilt der Morgendymnus Aeterne rerum conditor, für die erfte Morgenwache beim Hahnenjchrei beftimmt und daher au wohl das „Lied vom Hahnenſchrei“ zubenannt.

Aeterne rerum conditor, Noctem diemque qui regis Et temporum das tempora, Ut alleves fastidium;

Praeco diei iam sonat, Noctis profundae pervigil, Nocturna lux viantibus, A nocte noctem segregans,

Hoe execitatus Lucifer Solvit polum caligine, Hoc omnis erronum chorus Vias nocendi deserit.

Hoc nauta vires colligit, Pontique mitescunt freta, Hoc ipse petra ecclesiae Canente culpam diluit.

Surgamus ergo strenue, Gallus iacentes excitat, Et somnolentos inerepat, Gallus negantes arguit.

Gallo canente spes redit, Aegris salus refunditur, Muecro latronis conditur, Lapsis fides revertitur,

lesu, labantes respice

Et nos videndo corrige, Si respieis, lapsus cadunt Fletaque culpa solvitur.

! Biraghi, Inni sinceri 8.

O em’ger Schöpfer aller Welt, Der Tag und Nacht regieret, der Jedweder Zeit gibt ihre Zeit, Daß er dem Überdruffe wehr'.

Der Herold ſchon des Tages ruft, Des nächt'gen Dunkels treue Wacht, Des jpäten Wandrers freundlich Licht, Abſcheidend von der Nacht die Nadıt.

Sein Ruf erwedt den Mlorgenftern, Die Finfternis vom Himmel weicht, Sein Ruf verfheudht die dunkle Schar, Die auf dem Pfad bes Böſen ſchleicht,

Sein Ruf des Schiffers Kraft belebt, Es mildert fi) der Brandung Wut,

Sein Ruf macht, dab der Kirche Fels Abwäſcht die Schuld mit Zährenflut,

Drum raſch vom Lager euch erhebt, Der Hahnenihrei vom Schlummer wedt, Schilt, die no jchlafestrunten find, Der Hahnenfhrei Verleugner jchredt.

Der Hahnenihrei der Hoffnung wintt, Den Kranken Lind'rung er gewährt. Scheu birgt der Räuber feinen Dolch, Und ber Gefall’nen Glaube fehrt.

Sieh, Herr, uns, wenn wir wanfen, an, Straf uns mit einem Blid der Huld, Ein Blick, und alle Sünde weidt,

Und Zähren fühnen jede Schuld,

9*

132 Neuntes Kapitel.

Du, Licht, in unfere Herzen leucht', Vertreib daraus bes Geiftes Nacht, Dich preife unfer erfter Laut,

Dir fei dies Morgenlob gebradt !,

Tu, lux, refulge sensibus Mentisque somnum discute, Te nostra vox primum sonet, Et ora solvamus tibi.

Den größeren Teil des Hymnus bilden jo anschauliche, kurze Bilder aus Natur und Menjchenfeben, daß man meinen könnte, ein profanes Morgenlied zu hören, riefen uns nicht die Eingangsfirophen in die erhabene Sphäre des Göttlihen empor und wäre nicht die köſtliche Morgenſchilderung fo innig mit der Erinnerung an den Fall und die Belehrung Petri ver: toben, daß fie fih gar nicht davon lostrennen läßt. Der Hahn, der erjehnte Verkünder des Tages, wird durch jenen evangeliichen Borgang zum Symbole Chriſti, des Verfünders und Bewirkers des geiftigen Tages, und der gemütliche Morgengruß wird zum innigften Morgengebet um Gnade, Licht und Heil. Das natürlih Schöne ift getragen und durchtränkt von den Ideen des über: natürlichen Lebens.

Bon ähnliher Schönheit ift das Lied für die zweite Gebetäftunde (in aurora), nur dab hier das Morgenrot ſelbſt als Symbol des Heilandes erſcheint:

Splendor paternae gloriae, De luce lucem proferens, Lux lucis et fons luminis, Diem dies illuminans,

Verusque sol, illabere Micans nitore perpeti lubarque Sancti Spiritus Infunde nostris sensibus,

Votis vocemus et patrem, Patrem perennis gloriae, Pater potentis gratiae

Culpam releget lubricam;

Informet actus strenuos, Dentem retundat invidi, Casus secundet asperos, Donet gerendi gratiam ;

Mentem gubernet ac regat Casto, fideli corpore, Fides calore ferveat, Fraudis venena nesciat.

O Abglanz von bes Waters Pradt, Der und vom Lichte Licht gebradt, O Licht vom Lichte, Lichtesquell,

Tag, der den Tag uns madet hell,

Du wahre Sonne, deren Licht

In Ewigkeit fih mindert nicht, Gieh deines Heil’gen Geiftes Strahl In unfre Herzen allzumal,

Laßt und zum Bater gleicherweif, Zum Vater flehn, dem ew’ger Preis, Zum Vater, deſſen Macht und Huld Halt’ Schande fern von uns und Schuld;

Uns führe auf der Tugend Bahn, Und ftumpfe ab des Neides Zahn, Uns fteh’ in ſchweren Stunden bei, Zu heil’gem Werfe Gnade Icih';

Er lenke unfern Sinn allzeit, Verleih’ dem Leibe Züdhtigkeit,

Fady’ in uns an bes Glaubens Glut, Nehm’ uns vor aller Lift in Hut,

ı Überfept von G. M. Dreves, Des hl. Ambrofius Lied vom Hahnenfchrei

(Stimmen aus Maria-Laach LI [1896] 86-97).

Liturgiſche Hymnendichtung. Der hi. Ambrofius, 138

Christusque nobis sit cibus, Daß unsre Speife Ehriftus fei, Potusque noster sit fides, Der Glaube Tranf und Arzenei, Laeti bibamus sobriam Daß uns erfül’ mit Fröhlichkeit Ebrietatem Spiritus. Des Geiftes Heil’ge Trunkenheit. Laetus dies hic transeat, Der Tag vergeh’ ohn' Sorg und Not, Pudor sit ut dilaculum, Die Scham fei wie das Morgenrot, Fides velut meridies, Der Glaube wie bes Mittags Licht, Crepusculum mens neseiat. Doch Abend werd's im Herzen nidt. Aurora cursus provehit, Das Morgenrot fteigt höher ſchon, Aurora totus prodeat, Ganz Morgenrot, geh’ auf, o Sohn, In Patre totus Filius Im Vater ganz der Sohn und ganz Et totus in Verbo Pater. Im Sohn bes Vaters ew’ger Glanz !.

Außer dem Morgenliede (Aeterne rerum conditor) verbürgt das Zeugnis des Hl. Auguftin nod die Öymnen Deus creator omnium, Jam surgit hora tertia und das Weihnachtslied Intende, qui regis Israel. Biraghi und nah ihm G. M. Dreves haben übrigens nachgewieſen, daß bon den einundvierzig früher dem hl. Ambrofius zugejchriebenen Hymnen ihm außer jenen vier noch jechzehn andere zugeſprochen werden müffen oder zum wenigften können, weil fie durchaus das Gepräge feines Stiles tragen und au äußere Umftände auf feine Autorſchaft hinweiſen?. Was die äußere Technik betrifft, find feine Hymnen ſämtlich in jambiſchen Dimetern gefchrieben, in vierzeilige Strophen gegliedert und beftehen gewöhnlich aus acht ſolchen Strophen (32 Berjen), jo daß fie zwiſchen allzu großer Länge und Kürze ein praftifches, volksmäßiges Mittelmaß innehalten. „Was von der größten Bedeutung“, bemerkt Ebert, „das Metrum ift mit aller Sorgfalt beobachtet, die Cuantität genau gewahrt, der Hiatus durchaus vermieden, felbit der Spondeus nur an erfter und dritter Stelle zugelaffen.“ Einige Freiheiten hat fi der Dichter indes doch erlaubt, und es braudt ein Hymnus ihm nicht gleih rundweg abgeiprochen zu werden, wenn jene Strenge der Form nicht überall eingehalten ift. Die Zartheit, Lieblichleit und Fülle jpäterer Homnendichter Hat Ambrofius nicht.

ı fberfegt von G. M. Dreves, Des HI. Ambrofius Lied vom Morgenrot (Stimmen aus Maria⸗Laach LII [1897] 241— 258).

2 Nur dier Hymnen nehmen als echt an Ebert (Gefchichte der hriftl.-Int, Literatur I? 142); Huemer (Unterfuhungen über den jambiiden Dimeter, Wien 1876); 3. Rayfer (Beiträge zur Geſchichte und Erklärung der älteften Kirdhen« hymnen?, Paderborn 1881—1886); Ihm (Studia Ambrosiana, in Fledeifens Jahrbuch für Hajfifhe Philologie XVII, Leipzig 1890, 1—124); M. Manitius (Geihichte ber lateiniſchen Poefie 139). Die Dlauriner nahmen zwölf Hymnen als echt an. Für die Echtheit einer größeren Zahl außer Biraghi und Dreves auch S. Bäumer (Gefhichte des Breviers 184 U. 2). Bal. A. Steier, Unter fuchungen über die Echtheit der Hymnen des Ambrofius (Jahrbuch für klaſſ. Philol., Supplementbd, Leipzig 1903, 549—662).

134 Neuntes Kapitel.

„Man hat das Gefühl“, fagt der anglifanishe Erzbiſchof Trend !, „als begegne man in ihnen einer gewiffen Kälte, mit welcher der Dichter mehr über jeinem Gegenftande ſchwebt, ftatt mit ihm zu verſchmelzen. Auch das Fehlen des NReimes, für welchen ein ſchlechter Erſatz in dem ftändigen Miederfehren eines Metrums liegt, das gewiß nicht zu den reidheren Formen der lateinifhen Lyrik zählt und bei dem für angenehme Brechung oder wechſelnden Schluß der Zeilen jo gut wie nicht gejorgt if, das Fehlen des Neimes, ſage ich, vermehrt noch unfere Mikftimmung, fo dat Ohr und Herz fich gleicherweile unbefriedigt fühlen möchten. Allmähli indes lernt man die Größe diefes ſchmuckloſen Metrums fühlen und die tiefe Weisheit des Dichter bewundern, der, wenn auch vielleicht mehr inftinktiv als bewußt, dasjelbe gewählt hat. Allmählih gewinnt man das richtige Berftändnis für das unbegrenzte Vertrauen in die erhabene Größe ſeines Vorwurfs, welches den Dichter mit Zurüdweifung jedes andern das einfachſte und durchſichtigſte Gewand des Gedanken: wählen läßt. Es ift, als hätte ihm, indem er dem lebendigen Gott einen Altar errichtet, das Gebot des Leviticus vorgeſchwebt, ihn zu errichten aus unbehauenen Steinen, die niemals die Schärfe des Meißels berührt hat. Die großen Geheimniffe des Glaubens find in feinen Augen auch in dem ſchmucloſeſten Ausdrud jo mächtig, die tiefften Gefühle der Seele zu weden, daß jeder Verſuch, fie auszuftaffieren, fie in bewegliche Morte zu Heiden, ihm als ein höchſt überflüffiges Bemühen erjcheinen muß. Die Glut der Leidenihaften ift da, aber verborgen und wie zugededt, ein euer, das im Innern und nad) innen brennt, die Flamme einer männliden, ruhig⸗ernſten Begeifterung. Aud dürfen wir nicht überjehen, wie ſehr dieje Lieder der Zeit und den Umftänden ihres Entftehens angepaßt find, einen wie bezeichnenden Ausdrud der Glaube, der im Kampfe lag mit der Welt und im Begriffe war, zu fiegen über deren Mächte, in Hymnen fand mie diefe, Hymnen, in denen nichts Weichliches, in denen vielleicht wenig Zartes zu finden, aber ftatt deilen feljenhafte Stärle, der alte römiſche Stoizigmus, umgewandelt und verflärt zu jenem edleren, hriftlihen Heldentum, das die Welt herausforderte und die Welt befiegte.“ ®

ı Richard Chenevix Trench (Archbishop of Dublin), Sacred Latin Poetry *, London 1874, 87 f. Bl. 6.M. Dreves, Aurelius Ambrofius, „ber Vater des Kirchengeſanges“ 3 4.

2 Das Tedeum, das nach mittelalterliher Überlieferung im Wechfelgefang der beiden Heiligen, Ambrofius und Auguftinus, zu ftande fam, wirb in vielen Handihriften einem Biſchof Nicetas zugejchrieben. Es ſcheint etwa in den Jahren 400 -—430 entftanden zu fein. G. Morin fieht in Nicetas den Biſchof Nicetas von Nemefiana in Dacien (im heutigen Serbien), denſelben, an welchen der hl. Paulin von Nola fein fiebzehntes Gedicht richtete (Revue Bönedictine 1890, 151; 1894, 49 f 837 f; 1895, 886 f; 1898, 99 f). Aus einem Briefe des Biihofs Cyprian von Zoulon an den Biihof Marimus von Genf (um 525) erhellt, daß das Tedeum in

Zehntes Kapitel. Aufonius und Paulinus von Nola. 135

Zehntes Kapitel. Aufonius und Yaulinus von Nola.

Die Selbftändigkeit, mit welcher der hl. Ambrofius fih den Feſſeln des heidniſchen Klaffizismus entrang und der riftlichen Lyrik neue Bahnen eröffnete, erwedt um jo mehr Bewunderung, wenn wir auf die Verhältniffe zurüdbliden, in welchen fih damals die allgemeine Bildung nod bewegte, auf die Zähigfeit, mit welder nod ausgedehnte Kreife an heidniſchen An— ihauungen und liberlieferungen feithielten, auf die politischen Wirren, welche den früheren Mittelpunften teilweije ihren Einfluß entzogen hatten, auf die geiftige Gärung, aus der fi die chriftlich-lateinifche Literatur herausarbeiten mußte. Am auffallendften zeichnen fich die Hauptgegenjäbe in zwei Dichtern, die beide jhon dem Ghriftentum angehörten, der eine aber als Dichter in einem weltlichen, halbheidniihen Humanismus befangen blieb, während der andere zu einem der Bahnbrecher des mittelalterlihen Möndtums und ber religiöfen Legendenpoejie geworden iſt. Der eine ift Aufonius, der andere Paulinus von Nola.

Mährend noch zu Giceros Zeit Rom jelbft und Athen die Hauptfiße der Bildung waren, Marjeille nur als eine Inſel voll griechiſcher Kultur in einem Ozean von Barbarei galt, erftanden in der Saijerzeit, ſchon von Auguftus an, zahlreihe Schulen in Afrita, Spanien und bejonders Gallien. Rhetorik und Rechtskunde wurden an denjelben wie in Rom vorgetragen, und junge Beamtenjöhne wie Söhne reiher Eingeborener konnten fich daſelbſt vollftändig für die juriftiich-militärische Beamtenlaufbahn vorbereiten. Unter den galliihen Schulen genofjen Bordeaur (Burdigala), Autun (Augusto- dunum) und Trier (Treviris) bejondern Rufes. Wie Konftantius Chlorus, fo ließ fih auch fein Sohn Konftantin d. Gr. die Förderung diefer Schulen ſehr angelegen fein. Die Ärzte, Grammatifer und Rhetoren wurden von den Munizipalbeamtungen frei erklärt, ihnen dagegen die mit Privilegien verbundenen Ehrenämter zugänglich gemadt. Sie wurden durch befondere Berfügungen gegen willkürliche Belangungen bei Gericht wie gegen perjönliche Bedrüdung und Beleidigung geſichert. Auh waren fie vom Kriegsdienſt, von Einquartierung und andern Laften befreit, damit fie um jo ungehinderter fi ganz dem Unterricht widmen könnten, Kaiſer Gratian ftellte fie jogar den höchſten Zivil- und Militärbeamten gleich und ließ ihnen anſehnliche Spenden

Toulon damals ſchon täglich gebetet wurde (cod. 202, fol. 113 im Ardiv bes Metropolitantapitel3 von Köln. Monum. Germ. Hist. Epistulae III 434—4386). 2gl. Art. „Te Deum* (von Y. Wordsmworth) bei J. Julian, Dictionary of Hymnology, London 1892, 1119—1134 1547, R.E. Thompson, The origin and structure of the The Deum (The Andover Review XIV [1890] 52—63).

136 Zehntes Kapitel.

an Korn, Wein und Öl zulommen. Wie fi Diokletian den Rhetor Cactantius von Afrika her nad Nikomedien verjchrieb, jo ließen jpätere Kaiſer Lehrer der Beredfamteit aus dem Drient, aus Rom und Spanien nah Gallien fommen 1,

Diefe Rhetoren verfahen bis zu einem gewiflen Grade aud das Amt offizieller Publiziften, welche bei feierlichen Anläffen die großen Lobreden auf die Kaiſer hielten, die dann in zahlreihen Abjchriften im ganzen Reiche verbreitet wurden. So waren Eumenius don Autun und Nazariuß die Lobredner des großen Konftantin, Claudius Mamertinus derjenige Julians, Drepanius Pacatus verherrlichte Theodofius I., Aurelius Symmachus die Kaifer Valentinian I. und Gratian.

Zu Dielen faiferlihen Lobrednern, wohlbeftallten und privilegierten Rhetorikprofefforen gehört au Decimus Magnus Aujonius, 309 oder 310 in Bordeaur geboren. Sein Vater Julius Aufonius war Arzt, ein praktiſcher und genügjamer Mann, der das hohe Alter von achtundachtzig Jahren erreichte?. Noch zu feinen Lebzeiten widmete ihm der Sohn die Berfe:

Cura dei, placidae functus quod honore senectae undecies binas vixit olympiades,

omnia quae voluit qui prospera vidit, eidem optavit quidquid eontigit ut voluit:

non quia fatorum nimia indulgentia, sed quod tam moderata illi vota fuere viro.

Gott ließ friedlich den Greis zweimal elf Olympiaden Schauen, im Alter noch ftets reihlih mit Ehren gefrönt.

Was er nur immer begehrte, das ſah er glüdlich gelingen, Und fo, wie er erjehnt, ſah er fein Wünfchen erfüllt:

Nicht dab allzu geneigt das Schidjal ihm ſchmeichelte, fondern Meife hat ber Dann all feine Wünfche beſchränkt?.

Die Mutter Aemilia Aeonia ftammte aus einer vornehmen Aeduer— Familie. Ihr Bruder Aemilius Magnus Arborius war ein jehr angejehener Rhetor an der Schule von Touloufe. Ihm wurde der Neffe zu weiterer Ausbildung übergeben, nahdem er einige Zeit in Bordeaux ftudiert hatte, wo ihn Macrinus im Lateiniihen, Romulus, Corinthus und Meneftheus im Griedifchen unterrichteten. In der leteren Sprache brachte er es indes nicht weit. Auch für die lateinische Rhetorik begeifterte er ſich erft recht unter der Leitung feines Onkels in Toulouſe. Seinem Einfluß ift es zuzuſchreiben, daß er ſich deffen Beruf, nicht den des Vaters, zur Lebenslaufbahn erfor.

!A. Thierry, La litterature profane en Gaule au IV* siöcle. Les grandes ecoles. Ausone et Rutilius (Revue des Deux Mondes CV [1873] 793—814).

® D. Magni Ausonii Opuscula recensuit C. Schenkl, Berol. 1883 (Monum. Germ. Hist. Auct, Antiquissimi V 2), Prooemium vıı

s Ebd. 41 42.

Aufonius und Paulinus von Nola. 137

Er blieb dieſer Wahl treu, als Arborius 330 in das neugegründete Kon: ftantinopel berufen wurde, und jeßte feine humaniſtiſchen Studien in Bordeaur fort. Nach Vollendung derjelben erhielt er daſelbſt zuerit einen Lehrftuhl der Grammatik, dann der Nhetorit und war nebenher aud ala Sachwalter tätig. Er vermählte ſich mit Attufia Lucana Sabina, der Toter einer vornehmen Bürgerfamilie, die ihm drei Kinder jchenkte, dann aber ſchon ſehr früh ftarb.

Dreißig Jahre lebte und wirkte Aufonius als Rhetorikprofeffor in feiner Baterftadt, ohne fih durch eine größere literariſche Schöpfung bemerkbar zu machen, doch als Lehrer ſehr geſchätzt und angejehen; da wurde er bon Kaifer Valentinian I. etwa um das Jahr 365 an den Hof nad Trier berufen, um die wiflenfchaftliche Erziehung des 353 geborenen Cäſars Gratian zu übernehmen. Am Kaiferhofe ward er mit dem römischen Stadt: präfeften Aurelius Symmadhus, dem begeifterten Verteidiger des alten Heiden- tums, umd andern hervorragenden Perjönlichleiten bekannt. Er ſcheint auch in der erflen Zeit feines Trierer Aufenthalts an einem Feldzug wider die Alemannen teilgenommen zu haben, in welchem ihm ein kleines Schwaben mädchen, Biffula, als Beute zu teil ward. Der jedhzigjährige verwitwete Profefjor Hat das artige Puttdhen, das noch einer Amme bedurfte (matre carens, nutrieis egens) in einigen Gedichtchen bejungen, die, mit ihrer doppelten pedantiihen Vorrede, mehr komiſch als poetiſch wirken !,

Delicium, blanditiae, ludus, amor, voluptas, barbara, sed quae Latias vincis alumna pupas,

Bissula, nomen tenerae rusticulum puellae, horridulum non solitis, sed domino venustum.

Die Gunft des Kaiſers wie des Prinzen erwarb fih Aufonius indes in ungewöhnlihem Grade. Seine ganze Familie wurde mit Ehren und Mürden überjhütte. Sein Sohn Heiperius wurde zum Profonjul von Afrita, dann zum Praefectus praetorio für Ytalien, Jlyrien und Afrila ernannt, fein Schwiegerjohn Thalaſſius zum Prokonſul von Afrika, fein greifer Dater zum Präfelten von Jllyrien, fein Neffe Arborius zum Praefectus urbi, fein Schüler Baulinus zum Konſul. Ihm felbft wurde 378 die Präfektur von Gallien und 379 die Konſulwürde zu teil. Als fein kaiſerlicher Schüler

ıM. Earriere (Die Kunft im Zufammenbang der Kulturentwidlung II® 632) hat ſich dennoch jehr daran entzädt: „Ein alemanniſches Mädchen warb ihm zur Sklavin geſchenkt, ſchwang fih aber zur Gebieterin feines Herzens auf; er zieht die Schönheit und den Viebreiz der deutſchen Frauenwelt, das blonde Haar, das blaue Auge, den Römerinnen vor und befingt die Rofen und Lilien, die auf Biffulas Antlig blühen.“ „Auh Bifjula war Putte (pupa)*, jagt dagegen Th. Birt (Deutfhe Rundfhau LXXIV [1893] 377), „jene Bifjula, der die moderne Romans literatur zu einer furzen Auferftehung hat verhelfen wollen.”

138 Zehntes Kapitel.

Gratian 383 ermordet wurde, war er noch in Trier, folgte indes bald feinem Sohne Hejperiu nah Bordeaur und brachte den Reſt feines Lebens in vergnügter Muße teild in diefer Stadt, teild in den Landhäufern zu, bie er ſich infolge der früheren kaiſerlichen Gunft an den Ufern der Garonne hatte erwerben können. Er beihäftigte ji mit Studien und Poeſie, forrefpondierte mit alten Fremden und ergößte fih an den Freuden des Landlebens. Sein Todesjahr ift nicht genau bekannt; dody gehen die Andeutungen feiner Briefe nicht über das Jahr 393 hinaus, Er ſcheint aljo über 83 Jahre alt geworden zu fein.

Eine wirklich bedeutende Dichtung größeren Umfangs hat Aufonius nicht binterlaffen. Seine Werklein (Opuseula) jegen ſich aus lauter gelegentlichen Kleinigkeiten zuſammen, bon denen die meiften erft während und nad feinem Trierer Aufenthalt entftanden find !,

Seine geographiihe Weltanfhauung hat er in einem Kranze fleiner Gedichte niedergelegt, in melden er die Hauptjtädte des damaligen Römer: reih8 nad ihrer Bedeutjamfeit aufzählt und kurz charafterifiert. Die erften fünf find: Rom, Stonftantinopel, Karthago, Antiohien und Alerandrien. Dann folgt Trier mit den Verſen:

Gallien heifchet mein Lob ſchon längft, das waffengemwalt’ge, Und ber Trierer Stadt, die thront nicht ferne des Rheines. Sicher ruhet fie dort gleihwie im Schoße bes Friedens,

Der die Kräfte des Reiches ernähret und leidet und waffnet. MWeithin dehnt fi der SHranz der Mauern über die Hügel; Breiten, ruhigen Stroms zieht dran die Mojel vorüber

Und bringt Waren herbei aus allen Ländern der Erde?.

Auf die galliiche Mojelftadt folgen dann Mailand, Capua, Aquileja, Vienne, Sevilla, Athen, Catania, Syrafus, Touloufe, Narbonne und endlich Bordeaur, des Dichterd Vaterſtadt. Diefe erhält eine etwas weitere Be— ſchreibung, aber mit der jchlieglichen Verfiherung, dat Rom dod) alle heimischen Städte übertreffe, daß er Bordeaur liebe, Rom verehre, dort Bürger, in beiden Konjul jei, dort feine Wiege, hier feinen kuruliſchen Sefjel ftehen habe:

! Ausgaben von B. Girardini (ed. princeps), Venedig 1472; T. Pul« mann, Antwerpen 1568; 3. Scaliger, Leiden 1575; €. Vinetus, Borbeaur 1580; 3. Zollius, Amfterdam 1669; J. B. Souday, Paris 1780; Ed. Bi- pontina (1785); Migne, Patr. lat. XIX 823-958; €. Schenfl (Monum. Germ. Hist. Auct. Antiquissimi V 2), Berlin 1883; R. Peiper, Leipzig 1886. Biographifhes: G. Heyne, Censura ingenii et morum Ausonii, Gotting. 1805. J. C. Demogeot, Etudes historiques et litt6raires sur Ausone, Bordeaux 1838. Bacmeifter, Wemanniihe Wanderungen I, Stuttgart 1867. P.G.Deydon, Un poöte Bordelais: Ausone, Bordeaux 1868. G. Raufmann in $. Raumers Hiftor. Taſchenbuch 1869.

® Ed. Schenkl.a. a. O. M.

Aufonius und Paulinus von Nola, 139

Diligo Burdigalam, Romam colo, eivis in hac sum, Consul in ambabus, cunae hie, ibi sella ceurulis ’,

Ein zweiter Kranz von Gedichten (Epicedion in patrem, De here- diolo, Liber protreptieus in nepotem, Genethliacum ad Ausonium nepotem und Parentalia) macht uns mit der gejamten Familie, Verwandt: haft und Gevatterfhaft des galliihen Rhetors bekannt. Die Parentalia allein umfaſſen zweiunddreigig Nummern und widmen aud den Großmüttern, Zanten, Großtanten und Enfelinnen je ein aus altklajfiihen Erinnerungen gedrechjeltes Kompliment ?.

Ein dritter Kranz von fiebenundzwanzig Gedichten feiert die Profefforen von Bordeaur, bei welchen der Dichter feinen Unterricht genoffen oder mit welden er ſonſt in Verbindung ftand. Es finden fi darunter mehrere der angejehenften Rhetoren und Literaten jener Zeit, wie Tiberius Victor Minervius, der zeitweilig au in Rom und Sonftantinopel wirkte, Latinus Alcimus Alethius, der Lehrer Kaifer Julians, des Dichters Oheim Arborius, der in Touloufe und Spanien und zulegt in Konſtantinopel tätig war, Attius Paternus, deffen Wirken in Rom der hl. Hieronymus lobend erwähnt, Attius Tiro Delphidius, den Ammian ala hervor: ragenden Redner bezeihnet, Alethio Minervius. Von den griedijchen Profefforen Romulus, Korinthus, Pyrrhus, Meneftheus meldet er, daß fie jehr fleißig gewejen, aber mit geringer Frucht; daß er ed aber jelbit im Griechiſchen nicht weit gebracht, jchreibt er feiner eigenen Ungeſchicklichkeit und Nachläffigleit zu. Eine eigentliche Charakteriftif der verſchiedenen Perſönlich— feiten gibt Aufonius nicht; die Erinnerungsverje halten fih in allgemeinen Zügen des Lobes und der Bewunderung. Der Kranz Ichließt fih um den Poeten, der nad feinem Ableben aud ein Pläbchen in der Reihe der be rühmten Profefjoren erhoffte und wohl nicht das lehte®,

Auch Fi ſelbſt Hat Aufonius mit einem vierten Eyflus von Gedichten bedacht, der aber nit ganz erhalten zu fein ſcheint“‘. Er führt den Titel: Ephemeris id est totius diei negotium, aljo etwa „Mein Tagewerk“. Das erfte Gedichtchen jchildert fein Erwachen. Er erwadt nicht, wie fein großer Zeitgenoffe Ambrofius, ſchon beim Hahnenſchrei, jondern erft, da ihon der volle Tag durch die Yenfter bricht und die Schwalbe im Nefte raſchelt. Er ißt und trinkt zu viel, drum ſchläft er wie ein Siebenichläfer in den Morgen hinein, taub und blind, faft wie der verzauberte Endymion. Er ſchilt ſich indes ſelbſt dafür und rüttelt fih mit einer ſapphiſchen Strophe aus dem Schlummer. In einigen Jamben wird dann das „Aufftehen“ und die „Zoilette” bejchrieben.

ı Ebd. 103. ® Ebd. 32-55. s Ebd. 55—71. Ebd. 3—9.

140 i Zehntes Kapitel.

Auf, Burfche, reich die Schuhe mir No bring’ ih Honigkuchen dar. Und gib das linnene Gewand, Das Grasbah mit dem Kleinen Herb Und was zur Kleidung nötig ift, Sei überlaffen eitlem Wahn.

Wie du's zum Ausgehn hältft bereit. Ich bete zu dem einen Gott

Her mit dem frifhen Brunnenquell, Und zu bes höchſten Gottes Sohn, Daß ih waſch' Händ' und Augen Har, Mit ihm von gleicher Majeſtät, Und öffne mir das Heiligtum, Dem Heil’gen Geifte zugejellt, Das keiner äußern Bier bedarf, Und nun beginn ih mein Gebet, Denn fromme Worte, reines Flehn, Und zitternd mein Gedanke fühlt Das ift der reichſte Gottesdienſt. Ter Gottheit hohe Gegenwart Ih zünde feinen Weihraud an, Wie? Glauben, Hoffen zitterten ?

63 folgt nun das „Morgengebet”, das in Herametern abgefakt ift, da& wir aber, der Genauigkeit halber, in Profa wiedergeben müſſen.

Allmädhtiger, mir nur durch geiftige Erziehung befannt,

Bon ben Böfen unerfannt und feinem ber Frommen unbelannt,

Obne Anfang und ohne Ende, älter als die Zeit,

Die war ober fein wird, deſſen Form und @eftalt

Kein Geift erfaflen, feine Zunge ausſprechen kann,

Welchen zu fchauen und deſſen Gebot gegenwärtig zu hören

Und zu beffen väterlicher Seite zu ſitzen allein das Recht hat

Der Schöpfer ber Dinge, die Urſache der zu fchaffenden Dinge,

Das Wort Gottes felbft, Gott das Wort, der Vorläufer

Der Welt, die er ſchaffen follte, gezeugt in jener

Zeit, da es noch feine Zeit gab, gezeugt, ehedenn

Das Licht und der ftrahlende Morgenitern den Himmel erleuchtete: Ohne den nichts geſchehn, Durch ben alles gemacht,

Deflen Thron im Himmel, deſſen Herrihaft die Erde unterworfen

Und das Dieer und das unbezwingbare Chaos ber dunfeln Nacht:

Der nimmer raftende, alles beivegende, das Starre belebende

Gott von dem ungezeugten Erzeuger, der, durch den Trug

Des jtolzen Volkes beleidigt, die Heiden zur Herrſchaft rief,

Um von ber befieren Nachkommenſchaft des adoptierten Stammes verehrt zu werben, Den die Väter ſchauen durften, und in deſſen Anblid

Es ihnen gewährt war, den Water zu ſchaun; der unfere Sünden

Trug, und die Schmad des harten Todes leidend,

Uns lehrte, daß der Pfad des ewigen Bebens wieder betretbar geworden, Und daß nicht die Seele allein zurüdfehrt, fondern mit dem ganzen Leib In die himmlischen Lande eingeht und das leere Geheimnis

Des Grabes offen der öden Erbe zurüdläßt.

Sohn des höchſten Vaters und Heiland unjrer Welt, Dem alle väterlihen Gewalten der Erzeuger übergeben, Nichts aus Neid zurücdbehaltend, und voll der Gaben, Öffne unfern Bitten den Weg und trag fie zu des Vaters Ohren!

Gib, o Vater, unbefieglihe Kraft gegen alle Sünden Und wende ab von uns das ſchädliche Gift der böſen Schlange. Es ſei genug, daß bie Schlange die Stammfrau Eva verdarb

Aufonius und Paulinus von Nola. 141

Und ihr ben getäufchten Adam zugefellte; wir, die fpäten Sprößlinge Seiner Enkel, dur wahrhafte Propheten einft vorausgeiagt,

Mögen die Schlingen meiden, welche die tobbringende Schlange flicht. Öffne den Weg, der mich aus ben Banden des Franken Beibes

In die Höhe führt, wo die Milchſtraße bes reinen Himmels

Sid über die wandelbaren Wollen des windigen Mondes erhebt,

Do die frommen Vorfahren hingingen und wohin einft unverjehrt Auf vierfpännigem Wagen entrafft über die Lüfte

Elias drang und vor ihm mit dem wirflien Leibe Enod.

Gib mir, o Pater, den erhofften Hauch des ewigen Lichtes, Wenn ich nicht auf fteinerne Götter ſchwöre, und zu einem Altar Des hehren Opfers auffchauend, tadellofe Opferfpenden Des Lebens bringe; wenn ich dic) anerfenne als Vater Des eingebornen Herrn und Gottes und beiden vereint Den Geiſt, der über des Meeres Wogen jchwebte. Schente mir, o Bater, Berzeihung und Täutere bie gefreuzigte Bruft, Wenn ich dich nicht in Fibern ber Tiere noch in vergofjenem Blute Suche, noch im Geheimen der Eingeweibe nad Göttlichem forſche, Wenn ih, dem Irrtum zugänglich, dev Sünbe mich enthalte, Und wenn ic) mehr wünfche, ala mir's getraue, gut und rein erfunden zu werben. Nimm die geftändige Seele gnädig auf, wenn id) die gebrechlichen Glieder Verwüniche, und wenn ich ftill bereue, und wenn tiefe Furcht Die Sinne quält, und wenn die wunbe Seele die Qualen Der Hölle vorausfühlt und des Jenſeits Peinen leidet. Gib, Pater, dab unſere Wünfche fi auf diejes unfer Gebet erfüllen; Daß ich nichts fürchte noch begehre; dab ich das für genug halte, Was genug ift; dab ich nichts Schändliches wolle, noch mir felbit Urfade der Scham fei; dab ich feinem tue, was ich zu gleicher Zeit Mir nicht getan wünichte; daß ich durch feine wahren Frevel verlegt No durch zweifelhafte befledt werde. Wenig voneinander abzuftehen Scheint der vermutfiche und der wirflide Schuldige. Böfes zu tun Sei mir feine Macht und Gutes zu tun ruhige Vollmacht. Genügfam jei ih in Speiſe und Kleidung; lieb jei ih den Freunden Und immer Vater ohne diejes Namens Schädigung. Nicht an der Seele mög’ id; leiden, nit am Leibe; alle Glieder Mögen ruhig ihres Amtes walten, noch gejtörter Gebrauch In irgendwelden Zeilen etivas Verlorenes miſſen lafien. Möge ich des Friedens geniehen, fiher wandeln, Wunder ber Erbe Keine erwarten. Und wenn des Tages letzte Stunde kommt, Möge bas Leben guten Gewifjens ben Tod weder fürdten noch wünſchen. Wenn id) durch deine Huld rein von Berborgenem erfunden werde, Werde ich alles verachten, da die einzige Wonne fein wird, Dein Urteil zu erhoffen. Wenn ber Tag jeine Friſt Verſchiebt und verzögert, treibe fort von mir die grimmige Schlange, Die mit Schmeichleriichen Täufhungen mir nadjitellt. Diefe frommen, aber ob trauriger Schuld jhüchternen Bitten Empfiehl, o Sohn, verſöhnlich bei dem ewigen Vater, Heiland, Gott und Herr, Geift, Glorie, Wort,

142 Zehntes Kapitel.

Sohn, Wahrer vom Wahren, Licht vom Licht,

Ewig mit dem Bater dauernd, in alle Zeiten herrſchend, Den die harmoniſchen Lieder des Sängers David feiern: Und im Wechjelgefang durhraufcht die Lüfte das Amen.

Mieder im leichteren jambiihen Tempo wendet fih der Dichter den weltlihen Tagesgeſchäften zu.

Zu Gott ift nun genug gefleht Obwohl der Sünder nie genug

Zu Gott fi) betend wenden mag.

Gib mir das Kleid zum Ausgehn, Burſch! Ih muß die Freunde grüßen gehn

Und Abſchied nehmen wechſelweis.

In ſiebenfüßigen Jamben beſchreibt der Dichter dann eine Einladung zum Schmaus, in Diftichen die nötigen Beftellungen beim Koch. In Hera: metern folgt endlih die Schilderung der Naht und der Träume, die den Dichter beläftigen. Dazwiſchen find wohl längere Lüden anzunehmen, da weder das weitere gejellige Leben noch die Studien und Arbeiten des Dichters bejchrieben find.

Das Gebet läht feinen Zweifel übrig, daß Aufonius wirklich Chrift, und zwar rechtgläubiger Katholit, nicht etwa Arianer oder Semiarianer war; denn die Gottheit Chriſti ift wiederholt und mit voller Klarheit betont. Dagegen maden es mande Stellen, wie auch die einleitenden Jamben, wahrſcheinlich, daß der Dichter in feiner Jugend noch das Heidentum mit: machte oder durch jeine Erziehung und den Verkehr mit Heiden noch ftarf davon beeinflußt wurde. Die übrigen Stüde zeichnen den behaglichen Welt: mann, dod ohne Heidniiches Kolorit. In den phantaſtiſchen Träumen tritt dazu eine lebhafte und finnlihe Poetennatur zu Tage. Der Theaterpomp, die Gladiatorenjpiele und die unfaubern Dinge, von denen er träumt, erinnern an den fittlihen Verfall, der noch als Folge des nur halb überwundenen Heidentums die römische Welt beherrfchte. Wenn er fi aber beim Erwachen freut, daß dies alles nur Traum, ift das indes doch ein Zeichen, daß in ihm eine beffere Gefinnung jene Einflüffe überwand, wenn aud vielleicht nicht ohne Kampf und Schwanfen.

Auch in der von Schmeicheleien überfließenden Rede, womit Aufonius als fiebzigjähriger Greis feinem Taiferlihen Zögling Gratian für die Ehre des Konſulats dankte, befannte er fich ziemlich deutlich als Chriſt. Dagegen bewegt fih ein Gedicht auf den Antritt feines Konſulats in altheidnifchen Formen:

lane, veni: novus anne, veni: renovate, veni, Sol, Consulis Ausonii Latiam visure curulem.

Aufonius und Paulinus von Nola. 143

Das Ehablonenhafte, das die biographiihen Gedichte des galliichen Rhetors beherrſcht, zeigt ſich nicht weniger in feinen anderweitigen Verſuchen. Da begegnen uns die fieben Weifen von Griechenland in fteifen Monologen, worin ihre befannten Sprüche zu zweihundertundreigig Verſen breit geſchlagen werden, Memorialverje über die römischen Kaifer zufammen und dann Doppel: diftichen über die einzelnen von Gäjar bis auf Antonius Elagabalus, Epi— taphien auf die Haupthelden der Ilias, aſtronomiſch-aſtrologiſche Verſe auf die fieben Wochentage, die Monate, die Solftitien, die römischen Feſtſpiele und Feſte. Im Griphus ternarii numeri ſuchte er im Himmel und auf Erden alle Dinge auf, in melden fi irgendwie die Dreizahl finden läßt, und widmete die wunderlihe Zujammenfteflung feinem Freunde, dem römischen Stadtpräfelten Symmachus. Im Technopaegnion lieferte er Herameter, die ji von rechts nad linls wie von links nad) rechts leſen loffen; daran reihen fi) Gedächtnisverfe (Herameter) über die Glieder des Leibes, die Götter, die Speijen, die griehiich-römifche Geichichte, die Buch— ftaben des Alphabets und grammatiihe Fragen, die ſämtlich auf ein ein- filbige8 Wort ausgehen, die barodite Spielerei, die man ſich denken fann!, Bielleicht hat ihn, außer der hergebrachten Verehrung für Catull und Martial, diefe mwunderlihe Neigung zum Baroden mitverführt, aus lauter ganz an- fändigen Phrafen Bergils ein Hochzeitägedidht (Cento nuptialis) zujammen: zuftoppeln, das an Obfcönität mit den ſchmutzigſten Stüden jener beiden Dichter metteifert. Auch im feinen Epigrammen findet ſich dieſe abjurde Künftelei mit dem fraffeften Schmuß beifammen.

Nicht nur das längfte, fondern auch das bedeutendfte und anjprechendfte Werk des Aufonius ift das Gedicht, daß er wohl in der erſten Zeit feines . Trierer Aufenthalts auf die Mofel verfaßt bat Mosella —, daß erfte Mojellied?. Er hebt mit einer kurzen Skizze feiner Fahrt an. Un der „nebligen” Nahe gefiel es ihm nicht. Bei Berntaftel wurde es ſchon etwas beffer. Bei Neumagen ging ihm vollends das Herz auf.

Bieblich erinnerte mich an die Pracht der jtrahlenden Heimat, An Borbdeaur, was rings dem forjchenden Blide fi) darbot: Hoch am Uferrand bie Giebel der ragenden Billen,

Grün von Rebenlaub die Hügel und murmelnd vorüber Rauſchend der freundblihe Strom, die hurtig fließende Mofel.

ı „Unausftehlih find bie eigentlichen ludicra, wie ba8 Technopaegnium, ber Gryphus ternarii numeri, der Brief an Theon über die dreißig Auftern, die Briefe an Arius Paulus in maccaronifchen Berjen u. a.” (FJ. Marr, Art. Aufonius bei Pauly: Wijjomwa, Real-Encyflopädie II 2566).

2 Herausgeg. von E. Boeding, in Rhein. Jahrb. VII 1845; 9. be la Ville de Mirmont (La Moselle d’Ausone, Bordeaux 1889; De Ausonii Mo- sella, Paris 1892); €. Hojius, Marburg 1894; €. Schenkl (a. a. ©. 81—97).

144 Zehntes Kapitel.

Sei mir gegrüßt, o Strom, an Land und Bewohnern jo herrlich, Welchem Hof und Palaft des Kaifers die Belgier danlen, Strom, am Hügelrand mit buftenden Reben beitanben,

Strom, vom reizenden Grün ber herrlichſten Wieſen umfjäumet, Schiffbar wie das Meer, flußgleich hinwälzend bie Fluten, Hurtig, und hell wie ein See mit klar durchſichtigem Spiegel, Bächen aud fommft du gleich mit deinen fprubelnden Wellen, Und bein fühles Nah ift friſchen Quellen vergleichbar,

Alles vereinft du in dir, was Quellen, Bäche und Flüffe, Seen und jelbft das Meer, in Flut und Ebbe fi wandelnd. Freundlich rinnft du dahin, haft nicht mit braufenden Winden, Nicht vom fämpfenden Stoß verborgener Klippen zu leiden Nicht zwingt feichterer Grund, den rajchen Lauf zu beeilen, No drängt trennendes Land fich zwiſchen ben fließenden Spiegel Und bedroht deinen Namen, indem eine Juſel den Fluß teilt.

Ein tiefes Naturgefühl und gute Beobadhtung vereint fih in ber Schilderung des Abends:

O wel ein köſtliches Bild, wern bie dunkelnden Hügel ſich fpiegeln Unten im bläulichen Fluß, bie Tiefe des Betts fih belaubet

Und ber ganze Strom fih ſchmückt mit Rebengeländen !

O wel farbige Pradt, wenn Heſper verlängert die Schatten

Und in ein grünes Geländ’ verwandelt die lieblihe Moſel! Shwimmend kräuſeln ih dann die Hügel, es zittert des Weinlaubs Spiegelbild, und es fchwillt der Trauben Laft in den Wogen.

Und es zählet getäufcht ber Schiffer die grünenden Stöde,

Der auf ber Fläche dahinſchwebt in dem winzigen Nadhen,

Mitten wo ſich das Bild der Hügel vereint mit dem Strome,

Und wo bie Grenze bes Stromes zerfließt in die fpielenden Schatten.

Die Beichreibung ift oft zu künſtlich und holt zu breit aus, um überall zu feſſeln. Bald werden in langer Reihe die Fiſche der Moſel aufgezählt und einzelne gejdhildert, wo ſchon Symmachus die Bemerfung madte: „Ich war doch oft bei dir zu Tiih, und obwohl ich das meiſte andere bewunderte, was damals im Prätorium aufgetragen wurde, habe ich doch diefe Art Filhe nie wahrgenommen. Wann find dir dieſe Fiſche in deinem Bud geboren worden, die fih auf den Schüffeln nidt fanden?“ 1

ı Er gratuliert ihm jedod zu dem glänzenden Erfolg des Gedichtes (volitat tuns Mosella per manus sinusque multorum divinis a te versibus consecratus) ; nur darüber beflagt er fih, dab er ihm das Gedicht nicht zugefandt. Dem Witze über die Fiſche aber fügt er alsbald bei: locari me putas atque agere nugas ? ita dii me probabilem praestent, ut ego hoc tuum carmen libris Maronis adiungo, (Symmachi epistulae lib. 1, ep. 14 a. 370-371. Q. Aurel. Symmachi quae supersunt, ed. OÖ. Seeck, Berol. 1833. Monum. Germ. Hist. Auct. Antiquissimi VIilp.9 10).

Aufonius und Paulinus von Nola, 145

Nah klaſſiſchen Reminiscenzen wird darauf das Flußtal weiter ge: zeichnet und mit griechiſchen, thracischen und aquitanischen Landſchaften ver- glihen. Dann wird von den Faunen, Satyrn und Najaden erzählt, wie fie die Schulpoefie in allen Flüffen, Seen und Meeren wiederfand, von dem Leben und Treiben der Schiffer, vom Fiſchfang, aber wieder mit gelehrten Verbrämungen und PVergleihen, die fih bis nah Afien und Ägypten ver- fteigen. Schließlich kommt der Dichter auch wieder auf fih zurüd, feine Abftammung, feine Studien, feine Würden und fein Konſulat. Die weitere Schilderung von Land und Leuten, Städten und Burgen verfpricht er zwar, hat aber das Verſprochene nicht eingelöft. Und jo läßt fih aus feinem Mofelgediht fein deutliches Bild von dem damaligen Trier und feiner Kaiſerpfalz gewinnen.

Bon den „Epifteln“ des Aufonius ift nur ein Heiner Zeil erhalten, ein paar Yamilienbriefe an feinen Vater und an feinen Sohn Hejperius, einige an den Dichter Theon, fieben an den Rhetor Axius Paulus, einen jeiner intimeren Freunde, andere an den Dichter Tetradius, an den Prae- fectus praetorio Probus und an Symmadhus, AI dieſe Briefe zeugen von großer Belefenheit in den alten klaſſiſchen Schriftftellern, von einem feinen Formgefühl für Ausdrud und Metrif, von einem gewiffen poetijchen Gefühl; aber viel Poefie enthalten fie nit. Am meiften Intereffe haben noch die fieben Epifteln an feinen Schüler Paulinus, aber wieder nicht wegen ihres Inhalts, jondern mehr wegen des Gegenjaßes, in welchem Paulinus zu ihm fteht.

Meropius Pontius Anicius Baulinus war zu Bordeaux im Jahre 353 geboren, mithin ſechs Jahre älter als der Cäſar Gratian, dreiundbierzig Jahre jünger als Auſonius. Seine Yyamilie gehörte nad) dem Zeugnis des hl. Ambrofius zu den bornehmften von ganz Aquitanien; Baronius ver: mutet fogar, daß fie von der römiſchen Familie der Anicier abzuleiten jei. Aujonius ftand wohl jchon in den Fünfzigern und mar längſt der gefeiertfie Rhetor zu Bordeaur, als ihm der gemwedte Knabe zur Erziehung übergeben wurde. Er wandte ihm die Liebe und Sorge eines Vaters zu und behielt ihn im treueften Andenken, als die Berufung zum Prinzenerzieher ihn (um 365) nad Trier führte. Paulinus fchreibt ihm feine ganze Bildung und feine raſche Beförderung zu, und das wäre nicht möglid, wenn fie nicht auch fürder in lebhaften geiftigen Verkehr geblieben wären. Sicher ift, daß er jhon ein Jahr vor Aujonius, 378, im Alter von erſt fünfund- zwanzig Jahren, mit der Würde eines Konſuls bekleidet wurde, und zwar auf Betreiben des Aufonius, dur die Gunft des jungen Kaiſers, deſſen Vater Balentinian I. 375 das Zeitliche gejegnet hatte.

Paulino Ausonius. Metrum sic suasit, ut esses

Tu prior, et nomen praegrederere meum, Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl, 10

146 Zehntes Kapitel.

Quamquam et Fastorum titulo prior, et tus Romae Praecessit nostrum sella curulis ebur.

Daß Paulinus wirklicher Konſul war und die Gerichtsbarkeit eines ſolchen bejaß, geht klar aus einem feiner Gedichte an den hl. Felix von Nola hervor:

Te duce, fascigerum gessi primaevus honorem Teque meam moderante manum, servante salutem, Purus ab humanae caedis discrimine mansi.

Nah Ablauf jeines Konjulatsjahres kehrte er in die Heimat zurüd und ging von da nad Spanien, wo er an der Chriftin Therafia eine mit allen Tugenden geihmüdte Gattin fand. Er jelbit verſchob noch den Empfang der heiligen Taufe und empfing diejelbe erft im Jahre 389 von dem Biſchof Delphinus in Bordeaur. Inzwiſchen ſcheint er feine literariſchen Studien fortgejeßt und gelegentlich auch etwas gedichtet zu haben. Er brachte unter andern Senecad drei Bücher „Bon den Hönigen” in Berfe und wurde dafür von Auſonius höchlich belobt. Indefjen führte der Tod eines Bruders Schwere Wirrfale über ihn herein. Wie er in einem Gedichte an den Hl. Felix erzählt, wurde er fälſchlich als Brudermörder angeklagt und in einen Prozeß vermwidelt, der ihm zuleßt jelbft mit dem Tode bedrohte, und er jchreibt e8 nur der Fürbitte des Heiligen zu, daß fein väterliches Erb: gut aus den Klauen des Fiskus, fein Leben aus der drohenden Gefahr errettet wurde. Dieje Erfahrungen aber wie die Mahnungen feiner frommen Gattin führten ihn zu einer erniten Einkehr in fi jelbft, und nad dem Empfang der heiligen Taufe reifte in ihm der Gedanke, fi gänzlich von der Welt zurüdzuziehen. Im Jahre 390 begab er fi vorläufig mit feiner Frau nah Spanien, wo er ebenfalld begütert war, und lebte hier, wie es ſcheint, die nächſten vier Jahre bereits in einer Art religiöfer Zurüd- gezogendeit!.

I Gefamtausgaben feiner Werle von Fronton du Duc und Heribert Rosweyde, Antwerpen 1622; PB. F. Ehifflet, Dijon 1662; J. B. Le Brun des Marettes, Paris 1685; 2.4. Muratori, Verona 1736; letztere abgedruckt bei Migne, Patr. lat. LXI; ©. v. Hartel (Pars I, Epistulae. Corpus script. eccl. lat. XXIX), Wien 1894. Nachträge zu den Älteren Ausgaben von J. A. Min» garelli (Anecdot. Fasciculus, Romae 1756); A. Mai (Ss. Episcoporum Nicetae et Paulini Scripta, Romae 1827); DO. Barbenhewer im „Satholif* 1877, I 498— 510). Biographifhes: A. Bufe, Paulin, Biſchof von Nola, und jeine Zeit, Regensburg 1856, G. Fahre, Etude sur Paulin de Nole, Strasbourg 1862. F. Lagrange, Histoire de 8. Paulin de Nole®, Paris 1882 (beutich, Mainz 1882). M. Lafon, Paulin de Nole, Montauban 1885. G. Boissier, La fin da paganisme II, Paris 1891, 57—121. ®. Reinelt, Studien über die Briefe bes hl. Paulinus von Nola, Breslau 1904,

Anfonius und Paulinus von Nola. 147

Sein greijer Lehrer Aufonius, nunmehr ein Achtziger, aber noch immer ein behäbiges, vergnügtes Weltkind, fchrieb um dieje Zeit viermal an ihn; doch einer feiner Briefe ging verloren, die drei andern langten erft veripätet zujammen an und trafen Paulinus in einer ganz andern Geiftesverfafjung, als fie der eitle, lebensluftige Rhetor früher an jeinem Schüler gewohnt war. Paulinus antwortete ihm:

Viermal kehrte zurüd geplagten Schnittern ber Sommer, Diermal fhimmernd in Reif ftarrte der Winter von Forft, Seit fein Wort, kein Laut aus deinem Mund mid) erfreute, Keine Zeile von dir jpendete Freundesbericht, Bis zuletzt dein Brief voll glüdverheißender Botichaft Hat das entbehrte Geſchenk mir um fo reicher gebradt. Denn drei Briefe zugleich entfalteten bunt ihre Blüte, Unb ein jeder der drei war ein melodifher Sang. Süßes hatte gemiſcht und Bittres mit allerlei Klagen, Tadel und ängſtliche Furcht forgliche Liebe und Huld. Aber die Güte des Baterd ging mehr mir zu Derzen als alle Strenge des Richters; was herb, ward durch das Süße mir mild. Doch davon fpäter, nicht jetzt; ich werd’ im heroifchen Versmaß Mich verteidigen nod feierlich, wie ſich's gebührt. Leichter indeflen voraus laff’ ich hinhüpfen die Jamben, Daß fie in rihtigem Takt führen das Wechjelgeipräd. Am elegiihen Maß nod lab mich herzlich dich grüßen, Wie ſchon oft zum Beginn: alsdann ſei deffen genug !

Wie? Bater! Soll den abgedanften Mufen id Bon neuem weihen meinen Dienft?

Nicht den Eamönen, nicht Apoll ſchlägt mehr das Herz, Das einmal Ehriftus fi geweiht.

Einft haben gleihen Eifers, doch nicht glei an Kraft, Wir eind gemeinjam angeftrebt, Phöbus in Delphis heil’ger Grotte aufgewedt, Der Mufen Gottheit anerkannt, Der Rebekunft Gejchente, die uns Gott verliehn, Bon Hainen, Bergen uns erfleht. Jetzt treibt die Seele höh're Kraft, ein größ'rer Gott, Und forbert andern Braud von uns, Die Gaben, die er und geſchenkt, heifcht er zurück, Auf daß dem Vater leben wir. Verboten ift uns eitle Muße, eitle Tat Und leerer Fabeln eitler Sang, Auf daß wir fein Geſetz erfüllen ganz und treu Und ichauen feiner Wahrheit Licht, Das ſchlauer Philoſophenwitz, Rhetorenkunſt Und Dichterphantafie ummwölft. Sie füllen nur mit eitlem Tand und Trug das Herz, Sie bilden nur die Zunge aus; 10*

148

Zehntes Kapitel.

Sie bringen nichts, was wahres Heil verleiht, Noch was die Wahrheit uns enthüllt.

Wie follten fie befigen, was da wahr und gut, Die nit der Fülle Kern erfaßt,

Des Wahren, Guten Born und Urquell: Gott, Den feiner außer Ehriftus ſchaut!

Er ift der Wahrheit Licht, des Lebens Weg, Des Vaters Geift, Arm, Kraft, Gewalt,

Des Rechtes Sonne, ber Gottheit Blüte, des Guten Quell, Der Weltenihöpfer, Goties Sohn,

Der Sterbliden Leben und des Todes Untergang, Der Meeifter, der uns Tugend lehrt;

Er, unfer Gott und unfertwillen Menſch zugleid, Er zog fid) aus und zog und an,

Und zwifchen Gott und Menſch, gefellend beiden ſich, Schloß er den ew’gen Freundſchaftsbund.

Wenn er einmal in unſer Innerſtes Läht flammend ftrahlen feinen Glanz,

Nimmt er des matten Leibs Gebredhen fort von uns, Gibt neue Jugendkraft dem Geiit,

Erſchöpfet, was an feufcher Freude jemals nur Uns hat erhoben und entzüdt.

Drum fordert er mit vollem Herrſcherrecht aud ganz Das Herz von uns und Mund und Zeit.

Ihm gelte Denten, Glauben, Lejen und Beritehn, Ihm Furcht und Liebe: jo will er’s.

Den eiteln Drang, der auf des Erbenlebens Bahn Uns voller Mühſal treibt voran,

Deriheudt der Glaube an die jel’ge Ewigfeit, Der nicht als weltlih und gering

Der Erde Güter wegwirft, als veradht’ er fie, Vielmehr in Ehrifti Gotteshand

Sie als viel teurer für den Himmel übergibt,

°« Der reiten Lohn dafür verheißt,

Der das Berihmähte nimmt als Dinterlage auf Und mit den größten Zinfen mehrt,

Er trügt uns nit. Was ihm als Schuldner anvertraut,

Gibt reichlich er gemehrt zurüd;

Freigebig wie nur Gott erftattet er das Gold, Das du verfhmäht, mit Wucherzins.

O Hage nicht, ich ſei jetzt fäumig und verkehrt, Sei nimmer treu der Frömmigkeit;

Wie kann's ben Ehriften fehlen je an Frömmigkeit ? Denn gegenjeitig ſchließt ſich's ein:

Fromm fein heißt Kriftlich jein, und unfromm jein Der Herrſchaft Ehrifti fih entziehn.

Da dieſer Lehr’ ich huldige, wie könnt’ ih nun Unfromm fein, Bater, gegen did,

Aufonius und Paulinus von Nola, 149

Dem ih das Heiligite an Namen, Pfliht und Recht Verdanke ja nad Gottes Rat?

Dir dank’ ih Bildung, Würde und Gelehrfamteit, Des Ruhms, des Amts, der Zunge Schmud,

Von bir begünftigt, aufgezogen und belehrt, Mein Gönner, Mteifter, Vater, bir!

Doch daß fo lange fern ich weile, Flageft bu Und zürnft mir mit der Liebe Groll.

Run, ſei ed nützlich, nötig oder frei beliebt, An jedem Fall ift Hein die Schuld.

Verzeih dem Liebenden, ſuch' ich das, was mir frommt, Und freu’ dich, leb' ich, wie mir's paßt! !

Nun geht der Brief, wie früher angelündigt, ins heroiſche Versmaß über und widerlegt in 228 Herametern mehr die einzelnen Vorwürfe, welche Auſonius gegen die neue Lebensweile des Freundes und feine Trennung von ihm und der Heimat geltend gemadt hatte. Auf die liebenswürdigfte Weiſe juht Paulinus in dem greifen Lehrer diefelben religiöfen Anichauungen zu ermweden, die ihn jelbit nunmehr bejeelen. Er mweift ihn von den Mufen und Den Träumereien der antiken Poefie auf Gott, feine Macht, Schönheit und Herrlichkeit, auf das künftige Leben, auf das ernfte Gericht, da unfer harrt, auf die Notwendigkeit, jih auf die Ankunft Chriſti vorzubereiten. Er hätte den ehrwürdigen Greis, der dem Grabe jhon jo nahe ftand, nicht ihöner und freundlider zu einem wahrhaft hriftlihen Lebensende in die richtige Stimmung verjegen können, als es hier gejchieht.

ALS Aufonius fih damit nicht zufrieden gab, ſondern den Freund jelbft zurüdforderte und mit neuen, fat etwas bittern Vorwürfen beftürmte, kam Paulinus auf die früheren religiöfen Ausführungen nicht mehr zurüd, ver- fiherte ihn aber um jo inniger feiner unwandelbaren Dankbarkeit, Liebe und Treue, die ihm nicht nur duch fein übrige Pilgerleben hienieden, jondern weit über das Grab hinaus begleiten werden.

Ach werde dich dur alle Zeit, die Sterblichen Bergönnt und zugemeffen ift,

So lang bes ird' ſchen Leibes Hülle mid umfängt, In jedem Erdteil wiederjehn,

Nicht weit von diefem Erbteil, noch dem Auge fern, In meinen Fibern halt’ ich dich,

Im Herzen Schau’ ich di, umfang’ did; treuen Sinns, Mir gegenwärtig überall.

Und wenn ich, aus des Leibes Kerler einft befreit, Don dieſer Erde bin entichwebt,

Auf welden Stern mid unfer Vater auch verſetzt, Bewahr’ ich dich in meinem Geift,

ı Poema X (Migne, Patr. lat. LXI 453—461), überſetzt vom Berfafler.

150 Zehntes Kapitel.

Und mag ber Tod mich löfen auch von meinem Leib, Bon beiner Liebe nimmermehr.

Denn, ba bie Seele, die von himmliſchem Geſchlecht, Der Glieder Sinten überlebt,

Muß ihre Neigung und Empfindung fie zugleich Sefthalten mit dem Lebenshaud);

Mie fie nicht fterben Tann, jo auch vergeflen nicht, Lebendig ſtets und eingedenk!.

Diejes lebte Gediht fammt aus dem Jahre 393. Es war der Ab- ſchiedsgruß des Schülers an feinen Lehrer, den er bienieden nicht mehr jehen jollte. Auſonius farb vermutlih in einem der nächſten Jahre. Noch in demjelben Jahre aber empfing PBaulinus, nad langem Widerftreben, durch den Biſchof Yampius zu Barcelona die heilige Priefterweihe. Es war indes jeines Bleiben: in Spanien nidt. Schon in feinen Knabenjahren war er einmal nad Nola in Gampanien gelommen. Nach Ablauf feines Konjulats bejuchte er die Stadt wieder; wie Muratori annimmt, zeitweilig als Kon— jular mit der Verwaltung Gampaniens betraut. Die Wunder, die fich damals am Grabe des hl. Felir ereigneten, erregten feine Aufmerkſamkeit und wedten in ihm eine bejondere Andacht zu diejem Heiligen, den er fortan als jeinen beſondern Schußheiligen verehrte. Er ließ einen prächtigen Weg zu der Kirche anlegen, wo defjen Gebeine ruhten, und neben derjelben ein ftattliches Haus für Pilger und Kranke errihten. Nachdem er aber Priefter geworden, beſchloß er, fih mit Therafia für immer an jener ehrwürdigen Stätte niederzulaffen. Er verkaufte alle jeine Güter in Gallien und Spanien, verteilte alle jeine Habe an die Armen, zog 394 nah Nola und führte daſelbſt ein zurüdgezogenes, Höfterliches Leben. In Gallien mit Sulpicius Severus, dem Lebensbejchreiber des Hl. Martinus, in Mailand mit dem hl. Ambrofius befannt geworden, trat er von Nola aus aud mit den HE. Auguſtin und Hieronymus und andern hervorragenden Männern der Kiche in Verkehr. Er nahm das früher vernachläſſigte Studium des Griechiſchen wieder auf, um die Werfe des Hl. Klemens ins Lateinische zu überjegen. Er verlegte fih auch mit größtem Eifer auf das Studium der Heiligen Schrift. Als 409 der Biſchofsſtuhl zu Nola durh Tod erledigt war, wurde er zum Biſchof diejer Kirche erhoben und verwaltete dieſes Amt in ſegensreichſter Weife, hervorleuchtend bejonders durch Liebe und Barm— berzigfeit, biß zu jeinem Tode im Jahre 431.

Der Poeſie ift Paulinus aud als Priefter nicht abtrünnig geworben. Bis zu feiner Erhebung zum Biſchof verfaßte er alljährlihd auf das Feſt des hl. Felix ein meift längeres Gedicht, worin er zunächſt Leben, Taten und Wunder feines Schußheiligen befang, dann aber auch weiter ausholte

! Poema XI (Migne, Patr. lat. LXI 462).

Aufonius und Paulinus von Nola. 151

und die mannigfaltigiten religiöfen und poetifhen Motive mit bereinzog. Seine Dihtung gewann damit einen ebenjo konkreten und lokalen als Frucht: baren Stübpunft, und zwar durhaus nicht zufällig. Wie er jelbft in einem diejer Gedichte jehr ſchön ausführte, verkörperte fih in den Gräbern der Märtyrer und Heiligen zumeijt der großartige Sieg, mweldyen die Lehre des Kreuzes über die Mächte des Abgrunds davongetragen. Wie dad Blut Eyprians dem Kriftlihen Karthago feine Blüte verliehen und den öden Sand Libyens befructet, jo ward das campaniihe Nola, früher ein Sik des ſchändlichſten Venus- und Bachusdienftes, duch das Wirken des Hl. Felix von der finjtern Macht der Dämonen befreit. Die epiiden Zeile diejer Feſtgedichte find jehr lebendig und anſchaulich, die lyriſchen voll echter, un— gefünftelter Begeifterung. Auch Hier begegnen wir wieder jenem innigen Naturgefühl, das Humboldt an den griechiſchen Kirdhenvätern auffiel und das die Antike in diefem Grade nicht kannte.

Lieber fchenfet der Lenz den Vögeln; ber Frühling gewähret, Mir, o Felix, dein yet, in deſſen Lichte der Winter

Selber in Wonne erblüht zur Freude der Menſchen, und mag auch Eifig fegen ber Sturm die hartgefrorenen fyelber,

Unb mit blendendem Weiß der Reif die Erbe bebeden, Frühling blühet und doch beim Jubel bes fröhlichen Feſtes. Freier atmet die Bruft, der Winter weicht und die Sorge, Wolken ber Trauer entfliehn vom frohaufjaudzenden Herzen. Wie die Schwalbe erfennt und der Storch bie willfommenen Tage Und der Taube verwandt, die Turteltaube, nicht minder Stieglig, der Heine Gejell, ber Iuftig zwitſchert im Dornſtrauch, AL die Sänger, die ftumm durdirren die kahlen Gebüfdhe,

Bald zufammen fi Iaut erfreuen des kommenden Lenzes,

Mit erneutem Gefang und neu fi färbenden Flügeln:

So erkenne auch ich den Tag, der jährlich erneuert

Heilige Feſte mit Recht zu Ehren des herrlichen Felix.

Mir auch ergrünet aufs neu’ im beginnenden Jahre der Frühling Und erwedet bie Luft zu neuem Lied und Gelübbde,

Dir, o Felir, zum Ruhm. Erfülle Gott mit Begeift’rung

Mich und Löfche den Durft, ben heiken, mit himmliſchem Waſſer, Deſſen ein Tröpflein Shen mir wirb zum herrlichen Strome. is zum Verwundern denn, wenn du mit winzigem Tropfen Taues die Seele erfüllt, da du, zum Menſchen geworben,

Haft durch ewige Saat mit Menfchen bevöltert den Erbfreis, Und ein Tropfen Blut dir genügt, die Welt zu erlöfen ?

Quelle des Wortes, Gott, gewähre mir treffende Worte

Und verleihe mir, Herr, daß ich, wie der Vogel des Frühlings, Welcher im grünenden Laub verftedt, in vielerlei Weiſen

Läßt erklingen den Sang hinaus in Wälder und Auen,

Nimmer finge mein Lied, ift auch die Sprache biejelbe,

Allzeit in gleihem Ton, wie jehr aud wechſle die Sadıe.

Seine Farbe ift eins, doch vielerlei klingen die Töne;

152 Zehntes Kapitel.

Triller ſchmettert er jekt, dann jpigt er wie Pfeile die Noten, Schmelzend wie Liebesgefang beginnt er wieder zu Flagen,

Bis mit plötzlichem Schluß abbrechend die rührende Weije

Er das erftaunte Ohr erfchredt dur gänzliches Schweigen.

Deine Gnabe, o Herr, ich flehe, durchſtröme mich allzeit,

Daß mir, dem Vögelchen gleich, es gelinge zu wechjeln die Weiſe; Daß der nämlide Mund die längft verfprochenen Lieder

Singe auf manderlei Art und nicht den Hörer ermübe. !

In drei ſchwungvollen Pſalmenparaphraſen eröffnet Paulinus diefe Art der Dichtung, melde von da ab die ausgedehntefte Pflege fand. In dem Hoczeitägediht auf Julianus und Ja ftellte er dem unwürdigen Cento nuptialis des Aufonius eine Dichtung gegenüber, welche die Würde und Weihe der hriftlihen Ehe in den zarteften Akkorden verherrliht. Das Ab— ſchiedsgedicht an den Dacierbifchof Nicetas bejingt in gewandten ſapphiſchen Strophen das Kriftlihe Miffionswerf.

Scheiben willft bu ſchon und entrinnft uns eilig, Die doch nur der Raum von dir kann entfernen, Deren Herzen doch bir in ewiger Liebe

Bleiben vereinigt.

Leiſe gleiteft du auf dem ftillen Meere,

An dem Schiffe prangt bes Erlöferd Name,

An dem Maft das Kreuz: nimmer fann dir fchaben Woge noch Sturmwinb.

Fröhlich fingen ftatt ber gewohnten Lieder

Heil'ge Hymnen jegt der Matrofen Scharen,

Und mit frommem Klang fie zum Meere loden Günftige Lüfte.

Allen tönt voran des Nicetas Stimme

Hell wie Tubaflang; benn er fingt von Ehriftus,

Und das ew’ge Lieb der Davidſchen Pfalmen Raufht durch die Fluten.

„Amen !” klingt es laut, es erbebt ber Walfiſch.

Laufhend auf den Sang bes erhabnen Priefters,

Drängen fi herbei, im Gewimmel fpielend, Schnelle Delphine.

Kämpfend du durchklimmſt nun der Heimat Berge Über Fels und Kluft und verwanbelft fiegreich Öden Wald in Flur, und zum Gotteögarten Starrende Seelen. ! Natale VII (Migne, Patr. lat. LXI 608 609), überfegt bei Qagrange (deutſch) 406 407.

Aufonius und Paulinus von Nola. 153

Vater nennen bi, die im Norden wohnen,

Sanft bei deinem Wort wirb ber wilde Schthe,

Sich verleugnend beugt er den troß’gen Naden Himmliſcher Lehre.

Und bie Goten, fieh! und die Dafer fommen,

MWeit vom innern Land und vom reichen Ufer

Andre, dicht gehüllt in die zott'gen Felle Stattliher Herden.

Mahrli wird der Wolf ba zum zahmen Rinde Und zum Stier gefellt fich der Löwe friedlich, Und ein Knabe darf in ber Vipern Höhle Mulig ſich wagen.

Wo der Erdkreis ſtumm, lehrſt du die Barbaren

Singen Chriſti Lob mit des Römers Liebe,

Lehreſt Keuſchheit fie und in ungeſtörtem Frieden ſie leben.

Der Goldgräber Liſt übertrifft dein Eifer,

Machſt fie ſelbſt zu Gold; ihrem Beispiel folgend,

Gräbft mit Gotteswort du aus ihren Seelen Funfelndes Golderz !.

Ein Lehrgedicht an Jovius widerlegt beredt die faljchen Vorftellungen vom heidniihen Schickſal. Das Troftgediht an die Eltern des verftorbenen Knaben Gelfus bekennt in erhabenem Schwung den Glauben an die Auferftehung.

An Vertrautheit mit den Klaflitern, beſonders Vergil und Horaz, fommt Paulinus feinem Lehrer Aufonius zum wenigften gleih, an Gewandtheit in Sprache und Ausdrud erreiht er ihn meift, an eigentlichen poetifchen Geiſt und Schönheitsgefühl übertrifft er ihn bei weitem. Er hat die antiken Beräformen (Herameter, Diftihon, Epoden, japphiihe Strophe) wirklich ges wandt und lebendig mit dem meuen chriftlihen Stoff durddrungen und bejeelt. Bon der Breite und Weitſchweifigkeit, welche die ganze rhetorifche Bildung jener Zeit beherrjchte, vermochte freilih aud er ſich nicht loszu— machen. Die meiften feiner Gedichte entbehren darum der vollen künſtleriſchen Einheit und Abrundung. Aber fie find reih an den jchönften Ideen und Gefühlen, und mit Recht jagt Bufe:

„Zum erftenmal hatten Heidentum und riftliher Glaube, der Geift der Welt mit dem Geifte Chrijti in den bevorzugtejten Männern der Zeit auf dem Felde der Poeſie fi gemeffen. Und wenn aud, was Kunſt und Gefeiltheit der Sprache angeht, der Rhetor Aufonius den Vorzug verdienen

! Poema XVII: Ad Nicetam redeuntem in Daciam (Migne a. a, ©. LXI 485 f), überjeßt vom Verfaſſer.

154 Elftes Kapitel.

mag, fo gibt doch die Wahrheit und Größe der Gedanken, die dem Chriflen- tum eigentümliche Zartheit und der Reichtum der Empfindungen, endlich der milde und weiche Fluß der Darftellung, der in den dazwiſchen geftreuten Sentenzen feine Straft erhält, unleugbar dem Paulin die Palme des Sieges.“

Elftes Kapitel. »rudentins.

Wie der biihöflihe Sänger von Nola, jo gehörte auch Aurelius Prudentius Clemens unftreitig der bedeutendfte lateiniſch-chriſtliche Dichter der erften vier Jahrhunderte zeitweilig den höchſten Lebenskreiſen des damaligen römischen Reiches an. Er ftammte jedod nit aus Gallien, fondern wie Kaiſer Theodofius aus Spanien. Ob er mit den Päpften jener Zeit, mit Ambrofius, Auguftinus, Hieronymus, Paulinus und andern Führern des kirchlichen Lebens in näherer Beziehung geftanden, ift zweifel: haft; er wird in den Briefen und jonftigen Schriften diefer Männer nirgends eingehender erwähnt. Aud Gennadius, der im folgenden Jahrhundert jchrieb, teilt nichts Näheres über feine Perfönlichleit mit, jondern zählt nur furz feine Schriften auf. So beichränten fi die ſpärlichen Nachrichten, welche über jein Leben vorhanden find, auf einige verftreute Angaben und Winte jeiner Gedichte, bejonders auf den Prolog, weldhen er der Sammlung der: jelben vorangeftellt, und welcher mit einigem Recht als „Selbftbelenntniffe des Dichters“ bezeichnet werden könnte.

Diefer Prolog befteht aus kurzen Strophen, die je aus einem glylonischen, einem asklepiadiſchen und einem größeren asklepiadifchen Verſe beftehen. In Jamben übertragen lautet er etwa alio:

Schon fünzig Jahre, mein’ ich, zählt mein Leben, Und nod) ein fiebtes dreht’ fi raſchen Laufs, Daß ih der Sonne flücht'gen Glanz genieße.

Es naht das Ziel, und Gott fickt Thon die Tage, Die hart am Greifenalter ftehn. Was hab’ ih Gutes In all der Tangen, Tangen Zeit getan?

Die Kindheit weinte unter harten Schlägen. Bald lehrte dann, vom Böſen mich beftridt, Die Toga lügen, und nit ohne Schuld,

Darauf befudelte wollüft'ge Neigung Und freder Ubermut (o Schmah und Schande!) Die Jugenbdzeit mit ihrem trüben Schmupß.

Prubentius, 15

ar

Streit regte ftürmifch meine Seele auf, Und eigenfinn’ger Durft nad Siegesruhm Ward harten Schidfalsihlägen unterworfen,

Zweimal führt’ in berühmten Städten id Den Zügel der Geſetze als ihr Herrſcher, Den Guten Recht verihaffend, Frevler ftrafend.

Zu höherm Grad im Dienfte feiner Waffen Erhob mid dann bes milden Herrihers Hulb Unb ließ mid) ftehn in feiner nächſten Nähe.

Indem das Leben fo vorüberflog, Ward unvermerft dem Greije weiß das Haar, Und mahnt mid an ben alten Konſul Salia.

Mie viele Winter mir bereits entflohn, Mie oft bie Rofen drauf im Garten blühten, Sagt mir an feinem Tag das ſchneeige Haupt.

Was wird mir all das nad bes Leibes Hingang Wohl frommen, jei es Gutes oder Böjes, Wenn, was ih war, mein Sterben hat vernichtet ?

Feſt fteht das Eine: Was du immer bift, Die Welt, der du gedient, ift dir verloren, Gott haft du nicht gefucht, und ihm gehörft du.

So mög’ bie fünd’ge Seele doch zuletzt Die Torheit laffen; kann fie mit Verdienſt Gott nit lobpreifen, mit der Stimme doch!

Bei Tag und Naht ertönen ſoll ihr Lied, Kampf führen wider Trug und Härefie, Eifrig erforfchen die Fatholifche Lehre,

Der Heibenvölfer Opfer niebertreten Und jhmähen deine hohlen Götzen, Rom, Den Märtyrern fingen, bie Apoftel preifen.

Und während ich dies fchreibe ober jage, Mög’ ich, befreit von dieſes Leibes Feſſeln, Dahin entſchweben freud- und glanzerfüllt, Wohin des Liedes letzter Klang mich trug! !

Die feften biographiichen Daten, welche uns das Gedicht gibt, find fümmerlih. Der Dichter wurde unter dem Konſulat des Salia, alfo 348, geboren, elf Jahre nad) dem Tode Konftantins des Großen. Seine Kindes: und Knabenjahre fielen in die Zeit des arianijchen Kaiſers Stonftantius

ı Prooemium (Migne, Patr. lat. LIX 767— 776), überjegt vom Verfaſſer.

156 Elftes Kapitel,

und des apoftafierten Julian. Als der Ehrift Jovian den Thron beſtieg, war Prudentius fünfzehn Jahre alt. Unter den Kaifern Valentinian I. und Gratian vollendete er feine rhetoriihen Studien, zu melden er ungewöhn— fies Talent und ebenjo großen Fleiß mitgebradht haben muß, da jeine jpäteren Dichtungen eine ausgebreitete Kenntnis der klaſſiſchen Literatur und eine bewunderungswürdige Gemwandtheit in allen Formen der Hafliichen Poeſie borausfeßen. Als Rhetor und Rechtsanwalt auch praktiſch vorgebildet, betrat er dann die römiſche Beamtenlaufbahn, erlangte die Statthalterfchaft zweier Ipanischen Provinzen und ftieg endlih, wahrſcheinlich erft unter Kaiſer Theo- dofius, zur Würde eine$ Praefectus praetorio empor, die ihn an die Nähe des Kaiſers fefjelte. Sein jpäteres Gedicht gegen Symmachus madht es wahrſcheinlich, daß er mit dem jungen Kaiſer Honorius und deſſen Feld— herren Stiliho nah Rom kam und mit den religiöfen Berhältniffen und Überlieferungen der Welthauptftadt perfönlich aufs genaueite befannt wurde.

Im Jahre 405, bereit 57 Jahre alt, verfaßte der unzweifelhaft reich begüterte und hochangeſehene Kronbeamte das eben mitgeteilte Gedicht, in welhem er mit tiefer Enttäufhung und heiligem Schmerz auf die Eitel- feit feines bisherigen Weltlebens zurüdblidt und den Entſchluß ausſpricht, den Reit feines Lebens einzig dem Lobe Gottes und den religiöjen Intereffen zu widmen!. Ob feine Anklage über die fittlihen Verirrungen jeiner Jugend im ftrengften Sinne oder nur als Ausdrud tiefer Demut eines nad dem Höhften ringenden und darum aud die Hleinften Jugendſünden ftreng rihtenden Herzens zu fallen ift, läßt ſich nicht mit voller Sicherheit ent- Iheiden. Die Belenntniffe des Hl. Auguftin laffen das erftere nicht als un— möglich erjcheinen. Es mar eine wirre Zeit, in welcher da3 Chriftentum no allüberall mit dem Heidentum und der Härefie zu ringen Hatte, die Verderbnis des Heidentums ſich noch in erichredendem Maße geltend madhte und viele Chriften in Sünde und Lafter mit hineinzog. Anderſeits aber ſpiegelt fi in feinen Werken eine fo flare Auffaffung der gefamten chriftlichen Dogmatik im Gegenjaß zum SHeidentum wie zu den damals vorherrichenden

i H.Middeldorpf, De Prudentio et theologia Prudentiana, Vratisl. 1823 1827.— F. Delavigne, De lyrica ap. Prud. poesi, Toulouse 1848. J. B. Brys, De vita et scriptis Prud., Lovan. 1855. EI. Brodhaus, U. Prudentius ET. in feiner Bedeutung für die Kirche feiner Zeit (Anhang: Überfegung der Apotheofis), Leipzig 1872. X. Rösler, Der katholifhe Dichter AU. Prudentius El., Frei- burg i. B. 1886. A. Puech, Prudence. Etude sur la po6sie latine chretienne au IV"* siöcle, Paris 1888. A. Zaniol, A. Prudenzio Cl. poeta eristiane, Venezia 1889, G. Boissier, Etudes d’histoire religieuse. Le poöte Prudence, in Revue des Deux Mondes XCI (1889) 357—390; La fin du paganisme II, Paris 1891. Weitere Literaturangaben in ber Ausgabe von Drefjel, bei Ehe valier (Repertoire), Gams (Kirdengeihichte von Spanien II 337—8358), Ebert, Manitius.

Prubdentius, 157

Irrlehren, eine ſolche Begeifterung für den Glauben, ein jo warmes Um— faffen der praftiichen chriftlichen Lebensideale, eine jolde Vertrautheit mit denn hriftlichen Gebetsleben und der chriftlihen Nölefe, daß es fchwer fällt zu glauben, Prudentius ſei nicht ſchon von Jugend auf im fatho: lichen Glauben aufgewachſen und Habe nicht im mejentlihen nad diejem Glauben gelebt.

Als durhaus unhaltbar aber muß die Anficht jener abgemwiejen werden, welche meinen, er habe erſt nad jenem erſten Rüdblid im Jahre 405 begonnen, fich der religiöfen Dichtung zu widmen. Viele Stellen feiner Werte mweijen in eine frühere Zeit zurück. Der Prolog jelbft aber haralterifiert feine ſämtlichen Werfe, wenn auch furz, fo doch ganz deutlih und Klar, wie es faſt nur möglih war, wenn fie im weſentlichen ſchon abgeſchloſſen vor ihm lagen, ja fogar in der Reihenfolge, wie fie ungefähr entitanden find !,

Tag und Naht foll feine Seele unausgejegt Gott loben das ge— ihieht in feinem „Tagesliederbuch“ (Cathemerinon, zadnuepwov), einer Sammlung von Hymnen für die verfchiedenen Zeiten des kirchlichen Offiziums wie für beftimmte Tage und Feſte. Seine Seele foll die Härejien be: fümpfen und den katholiſchen Glauben auseinanderjegen das verwirklicht fih in jeinem polemiſch-dogmatiſchen Lehrgedihte, der „Apotheofis“, worin er die Gottheit Chriſti verteidigt und erklärt, der „Hamartigenie”, worin er die Lehre vom Sündenfall gegen verjchiedene Irrtümer abgrenzt und dieje zurückweiſt, und der „Pſychomachie“, welche den fittlichen Kampf des Menſchen hienieden in allegorischer Weile zur Darftellung bringt. Er will dann das Heidentum und die faljchen Götter Roms befämpfen, und dies geſchieht in feinen zwei Büchern gegen Symmadhus. Er will endlid die „Märtyrer befingen und die Apoftel preifen“, und das leiftet er in feinen herrlichen „Siegeskränzen“ (Peristephanon, zept orepdvav), einer Reihe von Lob: gejängen auf die Apoftel und die Blutzeugen der erften Jahrhunderte?.

Einzeln jheint er fie ſchon früher veröffentlicht zu haben. Vgl. C. Wey- man, Prudentius und Sulpitius Severus, in Hiftorifhes Jahrbuch XV, Münden 1894, 370—872.

? Die Schriften des Prudentius wurden im Mittelalter viel gelefen; daher find von benjelben zahlreihe Handichriften erhalten (die bedeutendfte in Paris, aus dem 6. Jahrhundert, Cod. Puteanus 8084). Sie wurben ebenfalls ſchon fehr früh ge- druckt (Deventer 1472 1492, dann zu Venedig, Bafel, Lyon, Paris ufw.) Neuere Ausgaben von F. Arevalo, Rom 1788—1789; abgebrudt bei Migne, Patr. lat. LIX LX; von Th. Obbarius, Tübingen 1845; A. Drefjel, Leipzig 1860. Überjegung der Tageslieder, Seelentämpfe und Siegesfränge von P. Silbert, Wien 1820; der Apotheofis von El. Brodhaus, Leipzig 1872; einiger Hymnen bei Schloſſer, Freiburg 1863 ufw. F. St. J. Thackeray, Translations from Prudentius, London 1890. J. Bergman, Fornkristna Hymner. Dikter af Prudentius. Svensk tolkning med historisk inledning, Göteborg 1895.

158 Elftes Kapitel.

Das „Tagesliederbuh“ des Prudentius enthält zwölf Hymnen, deren erſte ſechs den Haupttagzeiten im liturgifchen Sinn entipreden. Sie befien aber nicht die Inappe Abrundung der ambrojianiihen Hymnen, tragen auch ftellenweije ein mehr jubjeltives Gepräge, und wenn aud fein Zweifel darüber walten fann, daß fie im Anſchluß an das liturgifche Gebet der Kirche ent- ftanden find, jo ift es doch immerhin fraglih, ob Prudentius fie zu litur- giſchem Zwecke gedichtet hat, und ob und wieweit fie in der alten ſpaniſchen Liturgie Verwendung fanden. Sie beginnen mit einem „Lied beim Hahnen= ſchrei“, dann folgt ein „Morgenlied“, ein „Lied vor und nad) dem Eſſen“, ein „Lied beim Anzünden des Lichtes“ und endlich ein „Lied vor dem Schlafen- gehen“. Das „Lied beim Hahnenſchrei“ berührt fi im Versmaß (jambiſcher Dimeter) wie in feinem Hauptgedanten mit demjenigen des hl. Ambrofius, ift aber dreimal länger, führt die allegoriihe Deutung der Naht als Nacht der Sünde viel weiter aus und fpielt lebhaft auf die Belehrung des Dichters an, wie fie der Prolog jhildert. In ähnlicher Weile behandelt das „Morgen- lied" das Erſcheinen der Sonne ſymboliſch für das Erjcheinen Ehrijti und führt dieſes Motiv dann meiter aus. Die zwei Tiichgebete, von denen das erjte über 200 Berje zählt, find von ftrengem asketiſchem Bußgeifte ge: tragen. ine ergreifende weihevolle Stimmung durddringt die erhabenite Symbolit in dem herrlihen „Lied beim Anzünden des Lichtes“, das die ihönften Bilder und Anklänge der Karfamstags-Liturgie in fi vereinigt und deshalb von einigen al ein eigentlihes Karſamstags-Lied gedeutet worden if. Das „Lied vor dem Schlafengehen“ endlich enthält Strophen, weldhe dem Hymnus des jegigen römiſchen Gompletoriums entiprechen, läßt denjelben aber eine tiefpoetiihe Schilderung des Schlummerd jowie der Schredniffe der Naht vorausgehen, an melde fih dann die liturgijchen Bitten knüpfen.

Bon den zwei „taftenlievern” ift das erfte das längfte Gedicht der ganzen Hymnenjammlung; es zählt 220 jambiſche Trimeter. Die Anſchau— lihfeit, mit welder das Faſten des Elias, des Mojes, Johannes’ des Täufers, der Niniviten und des Erlöſers ſelbſt gezeichnet ift, gibt ihm einen kräftigen epiihen Zug wie der Mythos den pindarifchen Oden. Da & fih nicht ums Trinken, fondern ums Faften handelt, fo mögen das mande Äſthetiker nicht für poetiſch halten; allein die marfige Kraft, mit der z. B. Chriftus Hier als fiegreicher DBefreier des in Sklaverei ſchmachtenden Menſchen ges zeichnet ijt (Emancipator servientis plasmatis, regnantis ante vietor et cupidinis), entbehrt hoher poetiſcher Schönheit fiher nicht. Das zweite Faftenlied (in 20 fapphifchen Strophen) hat mehr eigentlich Iyrifches, ſub— jettiveg Gepräge.

An dieje acht Gejänge reiht fih noch ein „Lied zu jeder Stunde zu fingen“, ein chriftliches „Beerdigungslied“, ein Lied auf „Weihnachten“

Prubdentius, | 159

und eines auf „Epiphanie”. Aus den lehteren find vier Bruchftüde als Hymnen in das römische Freftoffizium übergegangen und zählen zu deſſen Ihönften Perlen. Es find die Hymnen Quicumque Christum quaeritis und? O sola magnarum urbium für Epiphanie, die Heinen Hymnen Salvete, flores martyrum und Audit tyrannus anxius am Feſte der Unſchuldigen Kinder. Es find Meifterftüde der zarteften Lyrik, die aber erft im Zufammenhang des ganzen Hymmus zur vollen Geltung fommen und die reiche Geftaltungsfraft des Dichter im ihrer ganzen Fülle zum Ausdrud bringen. Nicht minder anmutend ift das in Nnapäften abgefahte „Be: erdigungslied“. Als Probe des mächtigen Schwunges aber, der die Poefie des Prudentius durchdringt, möge hier das „Lied zu jeder Stunde zu fingen“ einen Platz finden. Es enthält den eigentlihen Zentrafgedanfen des Dichters und den Grundafford feiner Dichtung: feine Liebe zu Chriſtus.

Reich das Pleftrum mir, o Knabe, dab ich vor der Gläub’gen Schar, Daß ih Chriſti Wundertaten finge freudig, hell und Har, Dem allein gilt unfre Mufe, Lob und Lied und Dank fürwahr!

Ehriftus ift’s, von deſſen Kommen ſchon der Priefterfönig fang, Dem zu Zamburin und Harfe jüh fein Feierlied erflang, Das begeiftert in das Herz ihm goß bes Heil’gen Geiftes Drang.

Längft erfüllt und Tängft erwiefen flaunen wir die Wunder an, Zeugin ift die Welt; die Erde, was fie jah, nicht leugnen Tann, Daß Gott fi zu offenbaren, ung zu nahen liebenb fann.

Aus des Vaters Schoß geboren vor des Weltenalld Beginn, A und O ift er, der Dinge Urquell und ihr Schlußgewinn, Des VBergangenen, Gegenwärt’gen und der Zukunft Sein und Sinn.

„Werbe*, ſprach er und es wurden, „Sei*, und alsbald trat ins Sein Erde, Ozean und Himmel mit der Wefen langen Reih'n, Welche unter Mond und Sonne alle fich des Dafeins freun.

Glieder, bie bem Tod verfallen, fterblich menſchliche Geftalt Nahm er an, um zu gebieten dem Verderb ber Menſchheit Halt, Die gefallen durch die Sünde in des Höllenreihs Gewalt.

Selige Geburt des Sohnes, da durch Heiligen Beiftes Kraft Eine Jungfrau, zugleih Mutter, aller Welt das Heil verichafft, Als ihr Kind, Gott und Erlöjer, aller Lieb’ zu fi entrafft.

Singt, ihr ſel'gen Engelicharen, finget froh, ihr Himmelshöh’n! Wem ein Lied nur ift beihieden, fing’ in freudigem Getön, Ale Sprachen, alle Zungen, Hingt zufammen traut und ſchön!

Den in alterdgrauer Vorzeit pries des Sehers Liederton, Den Propheten uns verheigen und glaubwürd'ge Rollen ſchon, Er ftrahlt vor uns, lobt ihn alle, lobt und preift den Gottesjohn!

160 Elftes Kapitel.

Sieh, das Waffer in bem Becher wandelt duftend fih in Wein, Und gefüllt, jo mahnt der Diener, ſtehn die Amphoren von Stein; Staunend preift der Herr des Gaftmahls: Könnt’ ein Trunk noch würz'ger fein?

Waſcht, ipricht er, die kranken Glieber, die ber Ausſatz hat verheert, Fäulnis jammervoll zerfreffen. Es gejhieht, was er begehrt, Und mit frischer Haut umfleibet prangt der Körper unverjehrt.

Augen, die in ew’gem Dunkel ftarrten und in Todesnacht, Hat mit feines Mundes Nektar Staub er ſeuchtend Heil gebradit. Und fie hauen hochbeſeligt jet des Vichtes frohe Pradit.

Tadelnd ruft er an den Sturmwind, der mit wildentbrannter Wut Peitſcht den See und droht das Schifflein zu verjenken in die Flut, Und kaum hat er ausgefproden, friedlich fon die Woge ruht.

Ganz verborgen hat das Weib nur feines Kleides Saum berührt Und geftitit ift ſchon der Blutfluß, der zum Tod fie fait geführt, Freudig färbten fi die Wangen, und gerettet fie fi fpürt.

Allzufrüh entrafft der Jugend dur ben Tod ber Jüngling ſcheint, Deſſen Sarg die Mutter folgend, eine Witwe, ſchmerzlich weint. „Stehe auf!“ ſpricht er, und lebend Sohn und Mutter find vereint,

Lazarus bereits vier Tage in bed Grabes Dunkel ruht, Als dem Modernden fein Machtwort fpendet neue Vebensglut : Die Verwejung weit, und wieder riefelt dur den Leib das Blut.

Auf des Meeres Fluten wandelt er einher mit fiherm Tritt, Und die Wellen, fo beweglich, feiten ſich bei feinem Schritt, Keine wanlet, feine weichet, alle tragen freubig mit.

Der Beſeſſ'ne aus der Höhle, ſchwer bebrüdt von SKettenlaft, Bon der Raferei gepeinigt, eilt herbei in wilder Haft; Denn daß Chriftus ift erjhienen, hilfefuchend er erfaßt.

Aus dem Leib vertrieben, ſtürzet zahllos der Dämonen Brut Auf die Schar der ſchmutz'gen Tiere und treibt fie mit toller Wut, Si zugleich und fie verberbend, in des Sees tieffte Flut.

Mit fünf Broten, mit zwei Fiſchlein hat des Höchſten Wundermadht Tauſende, die dort fi) lagern, alle, alle fatt gemadit, Und zwölf große Körbe füllet noch der Überrefte Fracht.

O du unfer Brot und Speife, o bu ew’ge Süßigfeit, Wer bein Heil’ges Dahl genofjen, darbet nicht in Ewigkeit, Weil es Nahrung nicht des Leibes, nein, ber Seele hält bereit.

In des Ohrs verborgne Windung dringet Ehrifti mädtig Wort, Macht es jedem Ton empfängli, räumt der Taubheit Mauer fort, Jede Stimme, jedes Säufeln tönet freudig wieder bort.

Jedes Siechtum wird vertrieben, jebe Krankheit muB entfliehn, Zungen, bie noch nie geſprochen, wird ber Rede Schaf verliehn, Und, mit ihrem Bett beladen, durch die Stabt die Bahmen zieht.

Prudentius, 161

Selbft hinab bis in bie Hölle bringt er voll Erbarmen ein, Heil und Segen dort zu jpenden, fprengt der Tore mächt'gen Schrein, Daß die nie erichloff’nen Riegel flaffend fi vor ihm entziwein.

Und bie Tür’, die alle aufnimmt, feinen aber läßt mehr gehn, Muß ihr altes Recht befeitigt und befreit die Toten fehn; Ihr Geſetz ift aufgehoben, fürder gibt's ein Auferftehn!

Aber während Gott bes Todes Schlund mit feinem Licht erhellt, Während heller Tag erftrahlet in dem Schoß ber Unterwelt, Da erbleihen alle Sterne trauernd an des Himmels Zelt.

Und die Sonne floh, verbarg fi, nur ein trübes Dämmerlicht Blutig dunkel noch durchblitzet die zerriff'ne Wollenſchicht, In bes Chaos Naht verfintend, ſcheint's, der Weltenbau zerbridt.

Nun erhebe froh die Stimme, finge, Zunge, hochentzückt, Feire ben Triumph des Leidens und das Kreuzholz fiegbeglüdt, Feire laut das hehre Zeichen, das bie Stirn ber Sel’gen ſchmückt.

O ber neuen Todeswunde wunderbare Herrlichkeit! Hier fließt Wafler, das in Strömen alle Welt von Schuld befreit, Dort fließt Blut, das triumphierend hält den Siegesfranz bereit.

Als die Schlange fah das Opfer rein und ſchuldlos dargebradit, Hat ihr altes Gift verloren feine bittre Todesmacht, Ziſchend krümmt fie fi im Staube, überwunden, jchmerzentfadht.

Sag, was hat es bir gefruchtet, arge Schlange, daß voll Zug Du verdbarbft die erften Menſchen mit der Sünbe Heuceltrug ? Für die Schuld tat jeht ber Höchſte, Gott und Menſch zugleich, genug.

Kurze Macht nur hat bem Tode über fi) der Herr verliehn, Daß die Toten, die Begrabnen, deren Sünden nun verziehn, Seiner Herrihaft alten Banden fönnten ungeftört entfliehn,

Mit den Bätern viele Heilige gaben drum in Feſtlichkeit Ihrem Herrn am britten Tage, da er auferftand, Geleit, Kehrten aus bem Grabe wieder in das Land der Zeitlichkeit.

Sieh! Es ftehen ihre Glieder aus der bürren Aſche auf, Und den kalten Staub durchdringet Iebenswarm des Blutes Lauf, Knochen weben fih und Sehnen, und e8 fpannt die Haut fi drauf.

Dann, nachdem ber Tod bezwungen und bas Beben ift geftählt, Zu des Vaters Richterftuhle fteigt der Sieger auserwählt, Mo von jeines Leidens Glorie jeiner Wunden Schmud erzählt.

Der Lebend’gen und der Toten König, Richter, Heil fei bir, Der bu an des Waters Seite ihroneft in des Himmels Zier, Der bu einst zu richten fommeft alle mit dem Kreuzpanier.

Greife, Knaben, Heine Kinder jollen laut dich benebein,

Der Jungfraun und Mütter Scharen und die Mägdlein hold und rein

Did in keuſchen, ſüßen Liedern ewig preifen im Verein. Baumgarfner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 11

162 Elftes Kapitel.

Wafferfturz und Meeresbrandbung, Wald und Flur und Raum und Zeit, Sommer, Winter, Schnee und Regen, Naht und Tag und Nah und Weit, Alle Weſen follen jubeln bir in alle Ewigkeit! !

Als zweite Aufgabe feiner Dichtung bezeichnet Prudentius in feinem Prolog die Belämpfung der Härefien und die Erklärung des katholiſchen Glaubens:

Pugnet contra haereses, catholicam discutiat fidem.

Die beiden Momente find dabei nicht getrennt zu denken, jondern vereint. Prudentius wollte weder theologische Traktate noch polemiſche Wider: fegungen in Verſe bringen, fondern die großen religiöjen Fragen, melde während der legten Jahrhunderte die Geifter jo mächtig beihäftigt Hatten, in poetijcher Weife behandeln. Bon dem neueften Irrlehrer, Priscillian, defien Jrrtümer damals Spanien und Gallien aufs lebhaftefte beunruhigten, ift nirgends ausdrüdlih die Rede, wohl aber von den Jrrtümern der Sabellianer, Batripaffianer, Arianer, Gnoftiler und Manichäer, in deren Belämpfung ſich der Eirchliche Lehrbegriff zu immer vollerer Klarheit entwidelt hatte, und die darum auch dem Dichter Gelegenheit boten, die Fundamental: lehren des Ghriftentums von Gott, von Chriſtus, von der Erlöfung, von der Sünde und vom Sündenfall, vom Kampfe gegen das Böje zugleih klar und deutlich, lebendig, phantafievoll und poetifch zu geitalten ?,

Daß ih aber ein fo begabter Dichter mit ſolchem Eifer dem Lehr: gedichte zumandte, kann nicht befremden. Die Römer hatten dieje Art immer mit Vorliebe gepflegt. Lucilius, Lucrez, Horaz wieſen auf dieſen Weg. Wer es poetiſch findet, daß Lucrez das troftlofefte aller Syfteme, den nadten Materialismus und Atheismus, in Herameter gebradht Hat, wird es dem Hriftlihen Dichter nicht verdenfen, wenn er den Verſuch machte, die er— habenen Myfterien des Chriftentums in wahrhaft dichteriſcher Weife gegen phantaftifche Kebereinfälle zu verteidigen. Die jog. „geiunde Sinnlichkeit“,

* Cathemerinon IX. Hymnus omni hora (Migne, Patr. lat. LIX 862—875), überjegt vom Verfaſſer; im rhythmiſchen Versmaß bes Originals, aber mit Reimen, bie im Lateinifchen fehlen.

s Die Frage, inwieweit Prubdentius dabei dennoch Priscillian im Auge hatte, gehört in das theofogifhe Gebiet. Val. darüber S. Mertle, Prubentius und Priscilian, in Tübinger Theol. Quartalirift LXXVII (1894) 77—125; U. Rösler, Art. „Prudentius“, in Wetzer und Weltes Kirchenlexikon X? 580; Fessler- Jungmann, Institutiones Patrologiae Il, Oeniponte 1892, 441. „Daß Pru- dentius durch den Priscillianismus zu einigen feiner Dichtungen angeregt wurde und auf denſelben Rüdfiht nimmt”, gibt auch Merkle (a. a. O. 79 125) zu. Die von J. SchepE herausgegebenen Schriften Priscillians (Priscilliani quae supersunt, Vindobonae 1889) entlaften bie Priscillianer nicht von den anderweitig gegen fie er- hobenen Anflagen, da fie nachweislich ihre Hauptirrtümer als Geheimlehre behandelten.

Prudentius. 163

d. 5. die niedern Gelüfte der Menſchen, hat er dabei allerdings nicht für fi; aber jeine Gedanken bewegen ſich in einer Weltanfhauung, welche die höchſte Harmonie befißt, und den Herameter beherrjcht er nicht minder glüdlich als in feinen Tagesliedern die Strophengebilde des Horaz, ja jeine Verſe fließen oft entſchieden beſſer als jene des Lucrez.

Das erfte feiner dogmatiſchen Gedichte, die „Apotheofis“, ift den Ges heimniffen der allerheiligften Dreifaltigkeit und der Erlöſung gewidmet. Majeftätiich zeichnet der Prolog in wenigen Verſen, Dantes würdig, die Zrinitätslehre und flellt der ewigen, jeligen Dreieinigkeit in echt poetiſchem Kontraft da3 tolle Gewirr der menſchlichen Irrtümer gegenüber, die, von Hochmut geftadhelt, von Leidenschaften gepeitiht, wie Straßenräuber ſich an dem Emigen vergreifen und den wahren Glauben in dem Neb ihrer hadernden Meinungen erftiden. Boll Überzeugung und Begeifterung tritt der Dichter dann in die Schranken und verteidigt die gottmenſchliche Ge- alt Jeſu ChHrifti gegen die Wahngebilde der Patripajfianer, der Sabel- lianer, der Juden und der verfdhiedenen Sophiften, welche bald Gottheit, bald Menjchheit, bald beide zugleih Hinwegzukritteln, zu umbüftern und zu entwerten verfucht hatten. In der lebhaften Debatte erhebt fih das Bild des Gottmenfchen immer klarer, heller, liebenswürdiger vor und, wie es gleihfam im Kampfe der erften Jahrhunderte im Schoße der Kirche immer voller und ſchöner herborgetreten if. Das begeifterte Wort des Dichters reift ung am Schluß zu der glühenden Überzeugung hin, daß in der Bereinigung von Gottheit und Menjhheit unfere größten ntereffen liegen, daß es in Chriſti Tode unſere Erlöfung, in feiner Auferftehung unjer ewiges, feliges Leben gilt.

Christus nostra caro est, mihi solvitur et mihi surgit. Solvor morte mea, Christi virtute resurgo;

Cum moritur Christus, cum flebiliter tumulatur,

Me video: e tumulo cum iäm remeabilis adstat, Cerno Deum....

Pellite corde metum, mea membra, et credite vosmet Cum Christo reditura Deo; nam vos gerit ille,

Et secum revocat: morbos ridete minaces;

Inflietos casus contemnite; tetra sepulcra

Despicite; exsurgens quo Christus provocat, ite.

Chriſtus ift unjeren Bluts. Mir ftarb er, mir ift er erſtanden. Raffet der Tod mich dahin, durch Chrifti Allmacht erfteh’ ih; Leidet Chriftus ben Tod, wird er unter Tränen begraben, Sehe ih mid; wenn er, dem Grabe entronnen, vor mir ſteht, Schaue ih Gott... . Scheucht aus dem Herzen bie Furcht, meine Glieder! O glaubet: Chriſtus bringet zu Gott euch wieder. Er führt eud,

11*

164 Elites Kapitel.

Nufet mit ſich euch zurüd: O fpottet der drohenden Krankheit, Achtet die Schläge nicht des Schidfals, heget fein Grauen Vor den Schreden bes Grabs. Folgt froh dem Ruf des Erftand’nen! !

Das zweite dogmatiiche Gedicht des Prudentius, die „Damartigenie“ ? oder der „Uriprung der Sünde“, behandelt die Lehre vom Sündenfall oder bom Urfprung de3 Böſen in nit minder echt poetiicher Weile. Ein Aſthetiker, dem der chriftliche Katechismus, die bibliſche Geſchichte und die bibliihe Typik fremd geworden oder nie geläufig geweſen ift, wird freilich an diefer Widerlegung des manichäiſchen Dualismus wenig Schönes finden. Wer fih aber in diefer Welt zu Haufe fühlt, der wird ſchon den Meifter: griff des Prologs bewundern, in welchem Abeld Tod mit feiner typiſchen Bedeutung in den ergreifenditen, konkreten Zügen in den Vordergrund ge: rüdt ift, um der großen dogmatifdhen Frage zugleih den faßlichſten und tiefften Ausgangspunkt zu geben. Ein Aeſchylos und Sophofles hätten, wenn fie Ehriften gewejen wären, die Sache nicht poetiſcher anfaflen können. Mit zündender Satire? ift das angeblihe Prinzip des Böſen ald der „Gott Marcions“ geſchildert. In wahrhaft klaſſiſcher Form und Sprache beichreibt Prudentius jodann die Wirkung des Sündenfall® auf die fidhtbare, dem Menſchen bi dahin untergebene Schöpfung.

Da nun gejündigt der Menſch, ba fiel der herrliche Erbfreis, Zum Palaft ihm beftimmt, anheim dem raſchen Berfalle

Und nahm teil an dem Fluch, der feinen Herren getroffen. Schleichende Kletten und Lolch Täht zwifchen verborbenen Feldern Boshaft ſprießen der Grund in ſchlechtbefruchteter Scholle, Schändet die Weizenfaat mit leeren, erbärmlichen Halmen. Jetzo, da fie das Blut unſchuldiger Rinder gekoſtet,

Bernen bie grimmigen Leu'n aud Stiere, die jhon gezähmt find Und gewöhnt an den Pflug, unb ben Hirten jelber verzehren. Bon der Lämmer Geblöd gelodt an bie friedliche Hürde, Sinnet der Wolf bei Naht, das Gehege morbend zu brechen. Alle Tiere erfüllet der Hang nah räub’riihem Truge,

Und bösartiger Grimm ſchärft die entarteten Sinne.

Mag der Steinwall auch die blühenden Gärten umſchirmen, Dit die Hede umziehn von allen Seiten den Weinberg,

Der Heufchreden gefräßiger Schwarm zernaget die Keime

Ober die Traube zerfleifht der Schnabel gieriger Vögel. Pflanzen, die heilendes Gift zuvor gehegt in den Fibern, Mandeln in töblihen Trant jet ihre fchwellenden Säfte.

! Apotheosis ®. 1047—1051 1081—1085 (Migne, Patr. lat. LIX 1003 fi).

? Spezialandgabe (nah den Cod. Casin. 374 und Vatic. Reg. 2078) von %. Bergman, Upfala 1897. Vgl. Stimmen aus Maria-Laach LV (1898) 458.

2 G. Boiffier ftellt deshalb Prudentius dem Juvenal an die Seite, in Revue des Deux Mondes XCI (1889) 379.

Prudentius. 165

Siehe, ein ſchädlicher Duft wallt aus den zarten Gebüſchen, Während zuvor die Natur jelbft harmlos hegte den Schierling, Und die tauige Blüte, die dem Dleanber jo jchön fteht,

Spielenden Zidlein bot ein redlich nährendes Futter.

Selbit ber freundliche Bund der Elemente fich löſet;

Kämpfend in wildem Gewirr, fie rafen dahin und dorthin, Brechend jebes Geje und rüttelnb gewaltfam am Erbfreis. Regenihauer und Wind zerfnicden die fchattigen Haine;

Unter dem Wüten des, Sturms entwurzelt fallen die Wälder; Schäumend in tobender Haft ftürzt fich ber geſchwollene Waldſtrom, Damm durchbrechend und Wall, auf das troßende Ufer und drüber Und ergiehet die Flut weithin durch die Adergefilde '.

In feinfter künſtleriſcher Weile wird die Rebellion der Sinne ala Folge des Siündenfalld dargeftellt; in voller Klarheit tritt der Mißbrauch des freien Willens als die eigentliche Urfache der Sünde, als der Störenfried der ethiſchen und phyſiſchen Weltordnung hervor. Leider können wir nicht beim einzelnen verweilen. Der Dichter verſenkt fich bei der Betrachtung der Sünde zulet tief in feine eigene Sündhaftigfeit, und die Dihtung klingt darum in ernften, gedämpften Attorden der Demut und Reue aus. Mögen andere, die Schläfen mit dem Siegeskranz umſchlungen, in unermeßlichem Lichte ſtrahlen, er fleht, dab Barmherzigkeit ihm die Flammen der Strafe auf ein Mindeſtmaß befchränte.

Lux immensa alios et tempora vincta coronis Glorificet, me poena levis clementer adurat!

In feinem dritten dogmatiſchen Gedichte zeichnet Prudentius die Be deutung der menſchlichen Freiheit nad) einer andern Seite: im Kampfe des Guten und Böfen um die Menjchenjeele. Daher der Titel „Der Seelen: fampf“ (Psychomachia). Die Geftaltungsfraft des Dichters zeigt ſich dabei wieder von einer neuen Seite. Er faht die Seele nebft den Tugenden und Laftern als allegoriihe Figuren und führt den Kampf in völlig epijcher Form duch. Er, der Spanier, ift damit der Vorläufer des allegoriichen Autos geworden, das fpäter in Lopes und Galderons Schöpfungen ſich zur höchſten poetiſchen Vollendung geftalten ſollte. Dazwiſchen liegen freilich jo viele und jo froftige Nahahmungen, daß eine gemwiffe Abneigung gegen das allegoriiche Epos und Drama wohl verzeihlich erjcheinen mag?. Prudentius

ı Hamartigenia ®. 218—243 (Migne, Patr. lat. LIX 1027—1029). Über« feßt vom Berfaffer.

2 m Mittelalter war die „Piyhomadie* das beliebtefte unter ben Werfen bes Prudentins. Sie wurde mit Borliebe durh Miniaturen iluftriert, und foldhe illuſtrierte Handſchriften finden fi) beshalb noch im allen größeren Bibliothefen Europas. Die älteren Abbildungen find noch voll von eigentlich antifen Motiven

166 ° Elftes Kapitel.

jelbft Hat den allegoriihen Kampf friſch, lebendig und padend aufgefakt. Die einzelnen Perfonen find trefflich charakterifiert. So gleid eingangs der unbewaffnete, auf feine von Gott berliehene Kraft fußende Glaube, das in flolzer Eifenrüftung ftarrende Heidentum, die in lichtem Waffenſchmuck prangende Keufchheit, die in trübem Fackelqualm einherftürmende böfe Luft, der auf ftolgem Zelter fih brüftende Stolz, die mit dem ſchmeichelndſten Put ſich einſtehlende Wolluft.

Luxuria, extinetae iam dudum prodiga famae, Delibuta comas, oculis vaga, languida voce, Perdita deliciis: vitae cui causa voluptas, Elumbem mollire animum, petulanter amoenas Haurire illecebras, et fractos solvere sensus.

Das ift jo fein gezeichnet, wie Dvid zu zeichnen weiß, aber nit um zu betören, fondern um abzufchreden. Hier triumphiert nicht die Sünde, fondern die ewige Weisheit.

Atque ubi peccatum regnaverat, aures templi Atria constituens, texat spectamine morum ÖOrnamenta animae: quibus oblectata decoro Aeternum solio dives Sapientia regnet.

Der fruchtbare Nährboden, auf dem die Älteren und halb audgeftorbenen Härefien ji immer wieder von neuem berjüngten, war die weltliche, halb: heidniſche Gefinnung, welche ſich durch die fiete Berührung mit dem Heidentum bon den ältejten Zeiten an in den Kriftlichen Gemeinden geltend machte und ihon die Apoftel, befonders Paulus und Johannes, zur kräftigen Abwehr nötigte. Neben dem Weizen Chrifti tauchte aber nicht nur beftändig neues Unkraut auf, auch nad Konftantin dem Großen wucherte das Heidentum nod) ununterbrochen weiter und beherrichte gerade die höheren Stände, viele der alten Senatorenfamilien, einen großen Zeil der Beamtenmwelt, Rhetoren, Philoſophen und Dichter, Maler und Bildhauer, Schaufpieler und Spaß— madher mit feinen Anſchauungen und Erinnerungen, mit feinen Überlieferungen und Ideen. Ruhm und Wolluft blieb das Ziel der verfommenen höheren Ge- jellihaft, Brot und Spiele das Loſungswort der Plebs!. Wie die Flammen bei einer jchlecht gelöfchten Feuersglut, fladerte unter Julian das ganze

und ſcheinen, wie ber vatifanifche Vergil, auf die Zeit bes weſtrömiſchen Reiches zurüd: zugehen. Vgl. R. Stettiner, Die illuftrierten Prubentiushandiäriften, Berlin 1895, 155 ff.

! Ammian. Marcell., Hist. XIV c.56.— Allard, Rome au 4“* siecle d’aprös les po&ömes de Prudence, in Revue des quest. histor. XXXVI (1884) 5 f 14 f. 9. Grijar, Geſchichte Roms und der Päpfte im Mittelalter I (1898) 52—57. G. Kurth, Les origines de la civilisation moderne I?, Paris 1888, 22—38,

Prudentius. 167

heidniſche Unweſen noch einmal lichterloh auf und ſchien die ganze chriſtliche Saat dreier Jahrhunderte vernichten zu wollen. Nur langſam gelang es den folgenden Kaiſern, den offiziellen Götterkult endlich einzuſchränken und zu unterdrücken.

Als ſprechendſter Ausdruck dieſes offiziellen Götterkults galt das Weih— rauchopfer, das der römiſche Senat, die ehrwürdigſte Behörde des Reiches und die geſchichtliche Vertretung ſeiner Weltmacht, vor jeder Sitzung am Altare der Göttin Victoria darbrachte. Dieſes Opfer erhielt ſich von Auguſtus bis über die Zeit Konſtantins hinaus. Erſt Konſtantius ſchaffte es ab. Nahdem Julian Statue und Altar der Göttin wieder im Verfammlungs: faale des Senates hatte aufrichten lafien, wurde das gößendieneriihe Opfer von neuem dargebradt. Jovian und Balentinian I. ließen die heidniſche Sitte ruhig weiterbeftehen. Erit infolge der Geſetze, die Kaiſer Theodofius (in den Jahren 380 und 381) wider das Heidentum erließ, verordnete Gratian, daß der Victoria-Altar aus dem Sitzungsſaale des Senats entfernt werden und das Opfer aufhören follte. Aber ein Zeil des Senates pro— teftierte und jandte (382) eine Deputation, darunter den angejehenen Sym— mahus, von Rom nah Mailand zum Kaifer, um die bisherigen Staats- zuihüfje für den heidniſchen Kult und die bisherigen Vorrechte der heidnijchen Götzenprieſter zu verlangen. Nur der energijhen Dazwiſchenkunft des Papftes Damafus und des Biſchofs Ambrofius von Mailand gelang es, die Abficht des Senats zu durdfreuzen, und zwar jo wirkſam, daß der Kaiſer die Ge: ſandtſchaft nicht einmal vorließ!. Die heidniihe Senatspartei gab indes ihre Anhänglichkeit an die alten Götter auch jebt noch nicht auf. Nachdem Kaifer Gratian (383) ermordet, die Heiden Symmadhus und Prätertatug zu den höchſten Staatsämtern erhoben worden waren, jener zum Stadtpräfelten, diefer zum Praefectus praetorio, erneuerte fie im Sommer 384 Die früheren Forderungen durch eine Deputation an den Kaiſer. Die von Sym— madhus verfaßte Eingabe (Relatio Symmachi)? madte jo großen Eindrud im Rate des Kaiſers, daß jelbft die Chriften dem Verlangen des Senates zu willfahren rieten, Nur der hl. Ambrofius trat abermals jo entſchieden dagegen auf, dab der Kaiſer das Begehren abwied. Um aber aud den allzu nachgiebigen Chriſten am Hofe die Augen zu öffnen, verichaffte fich Ambrofius eine SAN: der Relatio und widerlegte fie jchlagend in zwei

1G. Rauſchen, Jahrbücher der Kriftlichen Kirche unter dem Kaiſer Theo» bofius db. Gr., freiburg 1897, 119 126,

® Q. Aurelii Symmachi quae supersunt, ed. O. Seeck, Berol. 1883. Monum. Germ. Hist, Auct. Antiquissimi VI, 1, 280—283. gl. De Symmachi Rela- tionibus xvı—_xxı; Rauſchen a. a. O. 184 185. Die Relatio auch abgebrudt in ben Werfen bes bl. Ambrofius (Epist. I 17; Migne, Patr. lat, XVI 966-971).

168 Elftes Kapitel.

Denkſchriften, melde im faiferlihen Konfiftorium zur Berlefung kamen, Symmadus ließ diefelben unbeantwortet; nachdem er jedoch 389 Konful gerorden, jandte der Senat 390 wiederum eine Abordnung an Kaiſer Theodofius in Mailand, und wiederum jcheiterte ihr Bemühen nur an der Veftigkeit des Hi. Ambroſius. Einer vierten Gejandtihaft an Balentinian ging es 392 nicht beſſer?.

Es war aber leichter, die geflügelte Victoria aus dem Sitzungsſaale des Senates zu verbannen, al3 die zähe Hartnädigfeit zu überwinden, mit welher Symmahus und feine Anhänger aud jet noch an den heibnijchen Überlieferungen hingen und ſich an den geringften Umftand anklammerten, der ihrer Sache no einen Schatten von Hoffnung zu bieten ſchien. Ja das Heidentum rüſtete fi jogar noch einmal zum offenen Berzweiflungsfampf gegen das Ghriftentum. Nachdem der fränkifche Heerführer Arbogaft 392 den Kaiſer Balentinian II. hatte ermorden laſſen, übergab er die Regierung von Weſtrom dem Emporlömmling Eugenius, einem früheren Ahetor, der zwar getauft war, aber, um fi als Kaifer zu behaupten, alle riftlichen Intereffen darangab und fi mit dem fanatischen Heiden Flavianus Nico— mahus, Präfeft des Prätoriums für Italien, Illyrien und Nordafrika, ver: band, um den oſtrömiſchen Kaiſer Theodofius zu befämpfen und das Heiden- tum neu aufleben zu laffen. Die längft eingezogenen Tempelgüter wurden den Heiden zurüderjtattet, die verjchloffenen Tempel wieder eröffnet, der heidniſche Opferdienft mit größtem Aufwand wieder aufgenommen. Flavianus ſelbſt leitete als Oberpriefter feierliche Aufzüge zu Ehren der Iſis und des Oſiris, ließ die Megalefien zu Ehren der Eybele unter den alten Orgien begehen, machte gleih Julian das Taurobolium mit, unterwarf die ganze Stadt einer dreimonatlichen Sühnefeier (Luftration), durch welche fie von der Entweihung durd das Ehriftentum gejäubert und wieder den alten Göttern geweiht werden jollte, und verhieß dem Eugenius, geftügt auf Augurien und Opfer, unfehlbaren Sieg. Auf feine Feldzeihen ſetzte Eugenius das Bild des „unbefiegten Herkules”, und in den zunädft von Theodoſius bedrohten Päffen der Juliſchen Alpen wurden Statuen des Iuppiter latialis auf: gerichtet, welche mit ihren goldenen Donnerleilen die chriſtlichen Scharen des Feindes vernichten jollten ®,

Diejer legte Sturmlauf des Heidentums war indes von noch fürzerer Dauer als jener Julians. Theodoſius bemächtigte fih mit unerwarteter Raſch—

8, Ambrosii Epist. I1l8 (Migne, Patr. lat. XVI 971—982); I 57 (ebd. XVI 1174—1178).

2Rauſchen, Jahrbücher der chriſtlichen Kirche unter dem Kaifer Theodo— fius d. Gr. 316 361.

» Grijar, Gefhichte Roms und der Päpfte im Mittelalter IL 4—6; Rauſchen a.a. O. 366—369 410-414.

Prudentius. 169

heit der Julifchen Alpenpäffe. Flavian wurde in den erften Gefechten getötet. Die goldenen Donnerkeile fielen den Siegern in die Hände. Bei Aquileja ward am 5. September 394 Gugenius mit feiner Hauptmacht geſchlagen und verlor zugleih Thron und Leben, Als Sieger zog Theodofius in Rom ein umd befreite die Chriften von der drohenden Gefahr, die über ihrem Haupte geſchwebt hatte. Die Häupter der heidnifchen Partei behandelte er mit größter Milde, verfammelte aber den Senat und forderte ihn auf, ſich demütig der hriftlihen Religion zu beugen. Die Mehrzahl der Senatoren nahm die Aufforderung mit Beifallsruf entgegen und anerkannte das Chriften- tum al3 Staatsreligion. Nur eine halsftarrige Minderheit verjagte die Zus fimmung. Ein anonymes Gediht von 122 Herametern aus diefer Zeit jelbjt zeichnet den Jubel, mit welchem die Ghriften den Sturz der heidniſchen Partei begrüßten, hat aber literariich wenig Wert !.

Solange der ebenjo kraftvolle als katholiſch gefinnte Theodofius lebte, ftanden die Hoffnungen der Heiden nunmehr jehr tief, faft ausſichtslos. Sobald er aber die Augen geihloffen (395) und das Rei für immer in ein weſtrömiſches und ein oftrömisches geteilt worden war, mwagten fidh die Heiden wieder neuen Mutes mit ihren alten Prätenfionen hervor und ſuchten dafür Stimmung zu machen. Bieles war ihnen günftig. Die alten Pradt: bauten, Tempel, Paläfte, Thermen, Zirfus, Säulen, Amphitheater, Triumph: bogen mit ihren zahllojen Bildfäulen und Bildwerken erinnerten noch auf Schritt und Tritt an die einftige Herrlichkeit des Heidnifchen Rom und ber: förperten jeine Überlieferungen in großartigfter, poetijcher Weile. Verſtockten, eigenfinnigen Heiden bot das Ghriftentum noch nichts Ebenbürtiges dar, was den früheren Glanz hätte überftrahlen können. Bei manden fanden darum die Slagen des Symmachus noch lebendigen Widerhall. Um das Jahr 400 wandten fi die Anhänger des Heidentums von neuem an die zwei Kaifer Arcadius und Honorius, um den Forderungen des Symmachus Geltung zu verſchaffen, Gegen fie nun erhob diesmal Prudentius jeine Stimme in dem umfangreihften und glängendften feiner Gedichte (den zwei Büchern gegen Symmahus), worin gewiffermaßen in großartigfter Weiſe der letzte Entiheidungstampf des Chriftentums mit dem Heidentum fich verlörpert. Es fällt in das Jahr 402 und war darauf berechnet, nicht

! Cod. lat. Paris 8084, veröffentliht von Delisle, in Bibliotheque de l’&cole des chartes III (ser. 6) 297, fommentiert von Ch. Morel, in Recherches sur un pocme latin du 4“ siöcle; Revue archeol. XVII, Paris 1868, 4515; XVII 44 f. Riese, Anthol. lat. I, n. 4, Lips. 1869. Bährens, Poetae lat. min. III, Lips. 1881, 286 f. Mommsen, Carmen codieis Par., im „Hermes“ IV (1870) 854 ff. Ebert, Geſchichte der Literatur des Mittelalters I? 312 313, Dobbelstein, De carmine christiano cod. Par. 8084 contra fautores pa- ganae superstitionis ultimos, Lovan. 1879.

170 Elftes Kapitel.

nur die beiden Kaiſer, vorab Honorius, ſondern aud die gejamte höhere Geſellſchaft Roms für die Sache des Chriftentums zu begeiftern. In— haltlih und formell feiert darin der alte Römergeift einen herrliden Triumph, aber nicht mehr jener bejchränfte Römergeift de Symmachus, der die überlebten Formen neu zu galvanifieren verfuchte, jondern der mweitfichtige, weltumfpannende Römergeift des Konftantin und des Theodofius, der die alte Herrlichkeit Roms dem Kreuze umterwarf und ihr damit eine neue, großartige Zukunft eröffnete.

Der Prolog des erften Buches erzählt (in 89 asklepiadeiſchen Verſen), wie der hl. Paulus auf Malta von einer Schlange gebiffen und wunderbar gerettet wurde. Einen jolhen Schlangenbiß auf das Chriftentum bedeutet der Angriff des Symmachus. Das Chriftentum wird daran nicht fterben; aber der Dichter bittet zu Chriftus, er möge dem giftigen Rhetor die Gnade der Belehrung zu teil werden lafjen und ihn vor den ewigen Flammen bewahren.

Im Beginn des erften Buches wird Kaifer Theodofius gemütlich, kurz und knapp al3 wohltätiger Arzt vorgeführt, der den langen Fyieberträumen des Heidentums ein Ende machte und den Glauben an einen Gott an deffen Stelle ſetzte. Die Weisheit diefer Regierungsmaßregel wird dann durd ein marfig ſatiriſches Bild des heidniſchen Olhmps begründet ein feflelndes Gegenftüd zu Hefiods Theogonie. Der aus jeinem Reich verjagte Bettel- fönig Saturn, der Weiberverführer Juppiter, der Erzdieb Merkur, der ſchänd— lihe Priapus, der liederliche Herkules, der verlotterte Bachus und das ganze übrige Göttergefindel wird nad) Gebühr feiner vermeintlihen Göttlichkeit entfleidet und nad feiner ganzen bverfommenen Menſchlichkeit bloßgeftellt. Die Ihärffte Satire trifft nicht mit Unrecht Venus und Andijes und die ganze übrige trojaniſch-latiniſche Sage, durch melde die helleniſche Mytho— logie und Sage mit den Uranfängen Roms in Verbindung gejegt worden war, um daran die Upotheofe der heidnifchen Gäjaren zu knüpfen. Auch die Götter der Unterwelt erhalten ala Ausgeburten der Hölle ihre bejonders ſcharfe Verurteilung. Das ftrenge, aber zugleid verjöhnende Schlußurteil über die geftürzte Götterwelt legt der Dichter dem Kaiſer Theodofius auf die Lippen, wie er als Sieger über den Gegenkaifer Eugenius 394 al3 Triumphator in Rom einzog und der Herrjchaft des Heidentums ein Ende made.

Da fah freudig der Fürft, der zwei Tyrannen bezwungen, Zriumphierenden Blids hin auf die herrlichen Mauern. Schwarzes, büftres Gewöll umhüllte noch dunkel bie Meltftadt, Finftre Naht umfchattete fie, und ſtürmiſche Nebel

Scheuchten deö Himmels Blau von den fieben kriegeriſchen Hügeln.

Mitleidbewegt feufzt er und fpridt: „Die Trauergewande Lege, o Mutter, von bir... .

Prubdentius, 171

Was zur Welt nur gehört, ift bir unterworfen, jo hat bir

Gott es verliehen. Auf jeinen Wink gebeutft du dem Erbfreis, Seheft den Fu vol Macht auf alle irdiſchen Dinge.

Nicht darfft deinen Blick als Herrin du heften zum Boden Sklaviſch und Majeftät bir erbetteln von ben Gefchöpfen,

Die bir untertan und denen bu weit überlegen.

Nimmer duld' ich es mehr, dab dem alten Tand du noch huldigſt, Die Scheufale verehrft der moderzerfreflenen Götter.“

In weiterer herrlicher Rede zeichnet der Kaiſer dann die Nichtigfeit der bon Menjchenhand verfertigten Jdole, erinnert Rom an den Sieg Konftantins und ſchildert den glorreihen Umſchwung, der fih daran knüpfte und der der Weltftabt eine weit erhabenere, dauernde Bedeutung verleiht:

Et dubitamus adhue, Romam tibi, Christe, dicatam In leges transisse tuas? omnique volentem

Cum populo, et summis cum civibus ardua magni lam super astra poli terrenum extendere regnum ?

Kann ein Zweifel no fein, daß Rom ſich dir hat ergeben, Chriftus, und deinem Geſetz? Und daß die Schar ber Quiriten, Adel und Volk vereint, will fünftig über die Sterne

In den Himmel hinein ausbreiten ihr irdifches Weltreich?

Nah des Dichters Darflelung find nit nur die Vollsmaſſen längft dem Ghriftentum gewonnen, jondern aud die „Sechshundert“, d. h. zahllofe der edelften Familien haben fi Ghrifto zugewandt; im Senat hält nur nod ein winziges Häufchen von Leuten, die ſelbſt am hellen Mittag die Sonne nit jehen, an dem heidniſchen Kindertande feſt. Es wäre Zeit, daß nah allem vernünftigen Braud die winzige Minorität endlich ſchwiege und ji dem ervrüdenden Beſchluß der Mehrheit fügte. Mit Recht erinnert der Dichter an die Milde und Nahfiht des Theodoſius, der die wider: haarigen Heiden und unter ihnen aud Symmachus bei ihren Würden und Amtern belafjen. Er lobt die Talente und die Beredfamfeit des Symmachus, die er jelbft über jene des Cicero ftellt!. Er will fi nicht mit ihm meſſen, jondern nur feine Angriffe wider das Chriftentum abwehren.

Cur mihi non fas sit, lateris sinuamine flexi Ludere ventosas iactu pereunte sagittas ?

! Yu der HI. Ambrofius anerkennt in feiner „Erwiderung“ bie Bereb: famfeit des Symmadus und warnt davor, fi) von berjelben beftriden zu Laffen: Relationis adsertioni respondeo, hoc unum petens, ut non verborum elegantiam sed vim rerum spectandam putes. Aurea enim, sicut divina scriptura docet, est lingua sapientium litteratorum, quae phaleratis dotata sermonibus et quodam splendentis eloquii velut coloris pretiosi corusco resultans capit animorum oculos specie formosa visuque perstringit (Epist. I 18, 2).

172 Elites Kapitel.

Wäre es mir nicht erlaubt, die Bruft leicht jeitwärts zu wenden Und zu vereiteln ben Wurf der nutzlos windigen Pfeile?

Im Prolog zum zweiten Buch erzählt Prudentius (in 66 glykoniſchen Verſen) das wunderbare Wandeln des Petrus auf dem See Genefareth und fnüpft daran die Bitte, daß Chriſtus aud ihm die Hand reiche.

Das zweite Buch geht dann auf die Hauptklagepuntte des Symmachus ein, aber durchaus nicht rhetoriſch-dialektiſch, ſondern echt poetiih, indem er in den Anklagen Anhaltspunkte juchte, um die heidniſchen Anſchauungen ſatiriſch abzuweiſen und anderjeits die Schönheit eines Kriftlihen Rom in die ganze und volle Beleuchtung zu jeßen.

Obwohl Spanier von Geburt, fühlt und ſpricht Prudentius, unter dem Einfluß des geihichtlihen und chriftlihen Gemeingeiftes, ganz wie ein echter Römer. Er identifiziert feine Intereffen völlig mit jenen des Reiches und widerlegt damit von vornherein dad Vorurteil der Heiden, das in den Chriften geborene und geſchworene Reichäfeinde erblidte. Auf die weinerlichen Borftellungen des Symmachus zu Gunften der Victoria und ihres Altars erwidert der hriftliche Dichter frifh und frank, daß die Göttin der „Victoria“ weiter nichts als ein Geſchöpf der Poefie, der Bildnerkunft und des Aber: glaubens jei, dat feine Victoria, fondern römische Arme und Schwerter, römiſche Tapferkeit und Heldenmut die zahllofen Siege der römischen Adler erfohten. Auf die Bitte des Symmachus, man jolle doch jedem jeine Götter lafjen, zumal das Weſen der Gottheit jo ſchwer zu erfaffen jei, jet er treffend die Grundlehren des hriftlichen Glaubens über Gott und Menſch, Schöpfung und Erlöfer auseinander, wodurd die heidnifchen Vorftellungen völlig hin— fällig werden. Wenn Symmachus aber auf den Braud der Vorzeit podht, weiſt Prudentius fchlagend nad, daß das Heidentum veraltet und abgebraudt fei, das Heidentum jelbft mit früherem Brauch gebrochen Habe, da dem Heidentum der Glaube an einen einzigen Gott vorhergegangen. Köſtlich widerlegt Prudentius dann die Forderung, man jolle Rom doc bei jeinem Genius und bei feinem Fatum belafjen !. °

Aber der Genius Roms, fag’ an, warn hat er begonnen

Sih auf die Stadt zu ergießen in ihrer anfänglichen Kleinheit ?

Iſt er entfirömt im ſchattigen Tal den Brüften ber Wölfin,

! Romam nunc putemus adsistere atque his vobiscum agere sermonibus: optimi principum, patres patriae, reveremini annos meos, in quos me pius ritus adduxit! Utar caerimoniis avitis, neque enim paenitet! Vivam meo more, quia libera sum! Hic cultus in leges meas orbem redegit, haec sacra Hanni- balem a moenibus, a Capitolio Senonas reppulerunt. Ad hoc ergo servata sum, ut longaeva reprehendar? Videro, quale sit, quod instituendum putatur; sera tamen et contumeliosa est emendatio senectutis. Ergo diis patriis, diis indigetibus pacem rogamus (Relatio Symmachi, bei Seeck, Q. Aurelii Symmachi quae supersunt 282),

Prubdentius, 173

Um das Zwillingspaar zu nähren, noch jelbft erft im Werben? Blog er ald Schattenbild geheimnisvoll mit ben Geiern

Dur bie Luft? Ward plötzlich er aus Wolfen geftaltet ?

Thront er in ſchwindelnden Höhn? MWeilt er im innerften Haufe? Zieht er bie Sitten heran, und grünbet er ftaatlihe Rechte? Mohnt er im Graben vielleicht bes Lagers, ruft er die Mannſchaft Auf ins Glied, bläft er das Horn, beftürmt er die Feinde?

Iſt das alles nicht zum Lachen jebem Gejceiten ?

Doch geſetzt, ed wäre ein folder Geift oder Schatten,

Der für all das bereit, von dem ber Staat die Gefchide

Schöpfte und würde befebt ganz bis in die innerften Fafern, Warum fehlt’ ihm an Nat, die Religion zu erfüllen?

Warum blicdt er empor nicht frei zu den Höhen bes Himmels? Warum, ſtlaviſch gefinnt, glaubt er, des Schidfals Beſchlüſſe Stünden ewig fett? Was ſchlägt er bas Werden in Banbe? Darf er nimmer verihmähn, was eint fein Willen umfangen, Beſſern, wo er geirrt, und feine Empfindungen wechſeln?

Sieben Jahrhunderte ſchon ging wohl er irrend und fuchend, Zweifelnd und taftenb umher, die richtige Staatsform zu finden, Welche gefiele zugleich und die Rechte billig verteilte, Königögewalt beftand in der werdenden Stadt ſchon zu redte. Aber der Älteſten Schar trug mit zum Zeile die Sorgen,

Greije fehn wir darauf am Steuerruder bes Rates,

Hohen, edelften Stammes; dann teilen plebejiihe Maſſen

Sid mit den Bätern gemiſcht nad billigem Maß die Gemwalten, Führend das Scepter vereint und entſcheidend im Krieg wie im Frieden. Konfuln vertreten die Macht des Adels, Tribunen dad Volksrecht. Plöglih wankt diefe Ordnung; man wählet jego Decemvirn Adligen Stamms an bie Spike des Staats; zwölf Fasces umgeben Diejes Kolleg, und es führt ein jeder von ihnen fein Beil nad. Wieder erkiefet der Staat zwei Konfuln drauf fih als Führer Und übergibt ihrer Hand die Verwaltung wie den Kalender. Blutigen Rufes zuleßt verwirren das Reid die Triumvirn.

Ob fih das Schickſal geirrt in diefen Stürmen, der Vollsgeiſt Ober der Genius Roms, Rom fand am Ende zurecht fich

Und umgab bas erhabene Haupt mit ber fürftlihen Krone:

Vater des Vaterlands und des Volks und Haupt bes Senates Ward der Hehre genannt und führer bes Heers und Diktator, Gütiger Genfor und Lehrer der Sitten jowie bes Beſitzes Schirmherr, Räder des Unrechts und freubiger Spender bes Guten. Wenn des Wechjels jo viel, jo viele Verſuche es brauchte,

Bis man endlich erreicht, was fi dem Urteil bewährte,

Und das Bolt voll Heiliger Scheu zu erhalten für gut fand,

Was nod) fteht es an, das göttliche Necht zu erkennen,

Das verborgen biäher, fi endlich dem Blicke enthüllte ?

Heil! Nicht zweifelt e8 mehr. Nom hat fih Ehriftus ergeben Und dient Gott allein, der früheren Kulte entledigt '.

! Contra Symm. II 392—441. Überjegt vom Berfafier.

174 Elftes Kapitel.

Kurz wird darauf die Lehre dom Fatum jelbft widerlegt, dann die Anſchauung, daß Rom durch die alten Götter fo groß geworden jei. Mit Recht erklärt es Prudentius für eine Beleidigung der römischen Bürger, der Venus Siege zuzufchreiben, welche der Heldenmut eines Fabricius, Eurius, Drufus und Gamillus erfohten. Mit Recht ſpottet er über die Ohnmacht der Götter, die Rom jo oft im Stich gelaſſen. Daran fnüpft fih wohl die ſchönſte Stelle des Gedichte, in welcher Prudentius in grandiojen Zügen die providentielle Stellung des alten Rom in der Weltgeſchichte entwidelt.

Doch ich feh’, was du willſt. Did) begeiftern die herrlichen Züge Römischen Heldenfinns, die Land und Meer ſich erobert

Bis an die Grenzen ber Welt. Drum fhilderft bu Jubel und Siege, Führft in unendlichen Reihn uns vor den Pomp der Triumphe, Welche mitten dur Rom hintrugen die Beute der Völker.

Soll ih dir jagen, o Römer, was dich jo hoch hat erhoben,

So mit Ruhm di umfirahlt, dab du führeft die Zügel des Weltalls? Die dur Sprade und Brauch geſchiedenen Völter und Reiche Wollte verbrüdern der Herr und einem gemeinfamen Scepter Unterwerfen, was Zucht und Sitte könnte vertragen;

Freundlich follte ein Joch, biefelben Lieblihen Zügel

Einen zum bleibenden Bunde ber Menſchen jämtlihe Herzen: Liebe der Religion. Denn feine Verbindung ift würdig

Ehrifti, wenn nicht ein Geift umfchlingt die vereinigten Völker. Eintracht nur kennt Gott, kann allein den gütigen Bater

Ehren, wie fi gebührt, denn ihn verföhnt nur ber vollfte

Friede bes Menſchengeſchlechts in Heiliger Ruh mit ber Erbe. Aufruhr ſcheucht ihn fort, der Grimm der Waffen erzürnt ihn, Friede gewinnt feine Huld, und fromme Stilfe bewahrt fie. Mütend rüftet zum Kampf, zum wirren, Bellona die Bölter,

Die der Ozean umfpannt an der Hüfte des Weſtens,

Die mit rofigem Licht zuerft Aurora beftrahlet,

Daß fie gewaffneten Arms einander tödlich zerfleifchten.

Um zu zügeln die Wut, ließ Gott die ringenden Bölfer

Beugen fih einem Geſetz von allen Enden ber Erbe,

Römer werden fie all’, die fern der Rhein und der Iſter,

Die mit Gold ber Zajo beipült, der gewaltige Ebro,

Die der hesperifche Strom beglücdt, die der Ganges ernähret,

Die fi) baden am Strande des Nils, des fiebengeteilten.

Ein Recht macht fie gleich, vereint mit demfelbigen Stamme Alle und wandelt um die Befiegten in freundliche Brüber. Allenthalben nunmehr Iebt fidy’s, als umſchlöſſen diejelben Mauern Bürger nur, aus einem Stamme geboren,

Einer Baterftadt, durch diejelben Laren geeinigt.

Länder in weitelter Fern’, getrennt durch gewaltige Meere,

Sind durch Bürgihaft verknüpft und treffen gemeinfam auf einem Forum fi vereint und treiben in dichter Verfammlung

Handel, Gewerbe und Kunft. Es wird das feftlihe Brautbett

Prudentius. 175

Nicht dem Fremden gewehrt durch Geſetz; aus verſchiedenen Völkern Wächſt durch Miſchung des Bluts ein neues, einziges Volk auf. Dies hat erreicht mit jo manchem Erfolg, mit ſo vielen Triumphen Glüdlih das römifche Reich. Als Chriſtus dann in die Welt trat, Sieh, da waren bie Pfabe bereit, längjt hatte die Herrihaft

Roms den Frieden der Welt begründet unter den Völlern!.

Rom iſt dabei nicht gealtert no ſchwächer geworden; vielmehr grüßt es jubelnd die Fürſten, durch die ihm die neue Jugendkraft zu teil geworden. Vorbei find die Zeiten, wo der Muttermörder Nero die Apoftel Hinjchlachtete, Decius im Blute der Chriften wütete. Diefe Blutſchuld ift geſühnt, und fiegreih wie ehedem verteidigt fih das riftlid gewordene Rom gegen die Anfälle der Barbaren. Noch ſoeben hat in der Schlaht von Pollentia nicht Juppiter, fondern der jugendliche Kaifer Honorius mit feinem treuen Feld— deren Stiliho die Goten daniedergeworfen:

Dux agminis imperiique Christipotens nobis invenis fuit, et comes eius Atque parens Stilico: Deus unus Christus utrique: Huius adoratis altaribus, et eruce fronti Inscripta, cecinere tubae; prima hasta dracones Praecurrit, quae Christi apicem sublimior effert.

Jubelnd ladet ihn deshalb das befreite Rom zum Triumph ein:

Scande triumphalem currum, spoliisque receptis Hue, Christo comitante, veni: date, vincula demam Captivis gregibus; manicas deponite, longo

Tritas servitio, matrum iuvenumque catervae. Dediscat servire senex, laris exul aviti,

Discat et ad patrium limen genitrice reversa Ingenuum se nosse puer: timor omnis abesto. Vieimus: exsultare libet!

Un moderne Seichtheit und Oberflädlichleit erinnert der Einwurf des Symmadus, die Wege zur Gottheit feien verſchieden, vereinigten fid aber Ihließlih zu einem Pfad, wie überhaupt alles Irdiſche den Menſchen ge: meinfam ſei?. In pradtvoller Schilderung zeichnet nun Prudentius Die Gemeinjamleit des Naturlebens und des Menjchenlebens im Bereiche der fihtbaren Schöpfung, aber auch die Verſchiedenheit der Völler und bie

! Contra Symm. II 577—621. Überjegt vom Verfafler.

2 Aequum est, quidquid omnes colunt, unum putari. Eadem spectamus astra, commune caelum est, idem nos mundus involvit: quid interest, qua quis- que prudentia verum requirat? uno itinere non potest. perveniri ad tam grande secretum. Sed haec otiosorum disputatio est (Relatio Symmachi, bei Seeck, Q. Aurelii Symmachi quae supersunt 282),

176 Elftes Kapitel,

weſentliche VBerfchiedenheit der Religionen, unter denen nur eine, die wahre, zum Heile führt, während außer ihr fich die Pfade fo vielfach jpalten, ala es Religionen und Götter gibt, und dazu noch den Abmweg des Atheismus und der epifureifhen Zufalläiehre. Der wahre Weg zu Gott ift anfänglich fteil und rauh, aber er wird ſchöner und lieblicher, je weiter man fommt, während die faljhen Wege fih immer mehr teilen und von ihm ablenken und fchlieklih ind Verderben führen.

At nobis, vitae Dominum quaerentibus, unum

Lux iter est, et clara dies, et gratia simplex.

Spe sequimur, gradimurque fide, fruimurque futuris, Ad quae non veniunt praesentia gaudia vitae

Nec currunt pariter capta et capienda voluptas.

Uns aber, deren einziges Ziel nur ber Herr ift bes Lebens,

Strahlet leuchtend der Pfad, taghell, in fahliher Gnabe.

Hoffnung und Glaube beflügeln den Schritt; wir genießen des Künft'gen Seht Schon, zu welhem gelangt kein Genuß bes irdifchen Lebens,

Steine Luft ſich erſchwingt, gefoftet ſchon oder zu koſten.

Im legten Abjchnitt der Dichtung weilt Prudentius den Vorwurf des Symmachus zurüd, Teuerung und Hungersnot jeien über das Rei ge- fommen, weil man den Beitalinnen ihren bisherigen Unterhalt entzogen habe. Er ftellt feit, daß ſolche auffällige Kataftrophen gar nicht vorgekommen feien, die Verſchiedenheit der jährlihen Ernte aber andere Urſache Habe. Eine treffende Parallele zwifchen den Veltalinnen und den driftlichen Jungfrauen beleuchtet auch Hier die fittliche Ülberlegenheit des Chriftentums. In er- greifendfter Weije fordert der Dichter am Schluß den Kaifer Honorius auf, den Greueln der Gladiatorenfämpfe ein Ende zu machen.

„Mit ſolch tiefem fittlihen Ernfte und einer jo glänzenden Beweis— führung“, jagt Manitiug, „ind nur wenige Apologeten verfahren ; wenigftens fteht Prudentius hier als apologetifher Dichter unerreiht da. Heute noch ift der Ernft feiner Auffaffung, der Reihtum in der dichterifchen Erfindung und die Kraft der Geftaltung zu bewundern.“ 1

Die zwei Bücher gegen Symmadus ftellen nit nur einen religiös: fittlihen, jondern aud einen literarifhen Triumph des Chriftentums über da3 Heidentum dar. Prudentius war für die Schönheit der antiken Poefie und Kunſt durchaus nicht blind; in ÜÜbereinftimmung mit den Gefeßen der Kaiſer? empfiehlt er jogar die Erhaltung der alten Statuen, ſobald fie nur, dem Gößendienft entzogen, als Meifterwerfe zum Schmude der Stadt

ı Mm. Manitius, Geihichte der chriftlich -Tateinifhen Poefie, Stuttgart

1891, 85. ? Bgl. Codex Theodosianus XVI 10 15.

Prubentius. 179

dienen?!, Aber als Religion ift die alte Mythologie in feinen Augen längſt gerichtet, umd er zeichnet ihren inneren Widerſpruch, ihre Unwürdigkeit und Lächerlichleit mit der ganzen Energie und Schärfe eines großen Gatirifers. Doh hält er ſich nicht negativ, etwa wie Juvenal; er wühlt nicht als ver: zweifelter Anfläger in der allgemeinen Zerjegung herum; er hat in den Ideen des Ghriftentums eine neue Welt gewonnen, die Natur, Menſchen— leben und Geſchichte wunderbar verflärt, dem alten Rom eine weit erhabenere Beltimmung gibt, feine alte Ehre rettet und das Große und Gute, das es geihaffen, in den Dienft der ChHriftenheit nimmt. Während Symmachus in jeiner Relatio nur erftorbene Reminiscenzen und Formeln nadlallt, erhalten die altllaffiihen Formen dur Prudentius neuen, lebensfähigen Gehalt, der für Jahrhunderte fruchtbar weiter wirkt.

„Die Märtyrer fingen, die Apoftel preifen”, ift die letzte Aufgabe, welche fih Prudentius in feinem Prolog ftellt. Er Hat das in dem Bude der „Siegesfränze“ (Peristephanon) getan, d. h. in einer Reihe von vierzehn meift längeren Gedichten, in welchen er verſchiedene römiſche, ſpaniſche und afrikanische Märtyrer, von den Apofteln aber die zwei Apoftelfürften befingt. Die bejungenen Märtyrer find: die zwei belehrten römischen Sol: daten Emeterius und Chelidonius aus Galagurris (Galahorra); der heilige Diakon Laurentius, Freund und Armenpfleger des heiligen Papftes Xyſtus IL. ; die heilige Jungfrau Eulalia von Merida; achtzehn ungenannte Märtyrer bon Saragofja; der HI. Vincentius; der heilige Biſchof Fructuofus von Zarraco mit jeinen Diafonen Augurius und Eulogius; der hl. Quirinus don Siscia (berühmt durch den Sieg des Kaiſers Theodofius über Marimus im Jahre 388): zwei umbefannte Märtyrer; der Hl. Gaffian von Imola oder Forum Gornelii, von feinen eigenen Schülern mit Griffeln zu Tode gequält; der Hl. Romanus, unter Kaifer Diocletian 303 zu Antiodhien ge- tötet, aber in Spanien hochverehrt; der HI. Hippolyt, nad ihm ein be- fehrter „Novatianer*, in Rom hochgefeiert; der heilige Biſchof Eyprian von Karthago und die heilige Jungfrau Agnes.

Behandlung und Form find überaus mannigfaltig. Das erfte Stüd auf bie zwei heiligen Krieger Emeterius unb Chelidonius ift in 120 katalektiſchen trochä— iſchen Zetrametern abgefaßt, dem bevorzugten alten Versmaß der römiſchen Solbaten- lieder. Das zweite, auf ben hl. Laurentius, ift im jambifhen Dimeter, dem ge- wöhnlichen Versmaß der „ambrofianiihgen‘ Hymnen, gedichtet, wächſt aber, im Gegenſatz zu deren prägnanter Kürze, bis auf 584 ſolcher Verſe an. Die Hl. Eulalia wird in 215 hyperkataleltiſchen daktyliſchen Trimetern befungen (die fi in 43 Strophen reihen), die achtzehn Märtyrer von Saragoffa in 50 ſapphiſchen Strophen, ber hl. Vin—⸗ centius wieder in jambifchen Dimetern (144 Strophen mit 576 Verſen), ber hl, Fruc— tuofus in 162 phaläcifhen Hendekaſyllaben (54 Strophen), der hl. Quirinus in Glykoneen (18 Strophen mit 90 Berjen), der hl. Eaifian in 58 Herametern, bie

! Contra Symm, I 501. Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. u. 4. Aufl. 12

178 Elftes Kapitel.

mit ebenfo vielen jambifhen Senaren abwedjeln. Am ausführlichften (in 1140 jam« bifhen Senaren) ift das Martyrium des hi. Romanus geſchildert, nahezu für fich eine eine Epopde. Das des hl. Hippolyt umfaßt 123 Diftihen. Der Hymnus auf bie zwei Apoftelfürften zählt 33 archilochiſche Strophen vierter Art, berjenige auf ben hl. Eyprian 106 größere archilochiſche Verſe, der auf die Hi. Agnes endlich 133 alkäiſche Henbefafyllaben.

Prudentius beherriht die verjchiedenen Vers- und Strophenformen mit derjelben Leichtigkeit wie Horaz, den man indes faum fein Vorbild nennen . fann, da nirgends eine eigentlihe Nahahmung zu Tage tritt. Der Dichter ift nit nur im Horaz, fondern aud in den andern alten Schriftitelern zu Haufe; fein Wort: und Formenſchatz reiht darum über jenen des Horaz hinaus; die Ideen find neu und bewegen jih in ganz andern Kreiſen; Prudentius verfügt über Geftalt und Form mit der Freiheit und Selb: ftändigfeit eines echten Dichters. Die lyriſche Grundform mit dem oft vor: wiegenden epiichen Charakter der Gedichte jowie deren großer Umfang erinnert unmwillfürlih an die Siegesgefänge des Pindar; doch find die Formen lange nicht jo fünftlih, nicht auf mufifaliihen Vortrag angelegt, in Sprade und Ausdrud einfacher, natürlicher, obwohl es an ſchwunghafter Begeifterung nit fehlt. Als Hauptfehler wird Prudentius vorgeworfen, daß er bie Qualen der Märtyrer zu realiftiih, oft in geradezu abftoßender Weiſe ihildere, jo daß eigentlih das Häßliche vorwiege. Dabei darf jedody nicht bergefjen werden, daß er für eine Leſerwelt dichtete, welche noch an die biutigften Spiele des Amphitheater gewöhnt war, ja daß er jelbft noch jeine Stimme gegen die Gladiatorenftämpfe erheben mußte!. Er brauchte alſo nicht mit fo zartbefaiteten Nerven zu rechnen wie Hymnendichter der Neuzeit. Die blutige Wirklichkeit jener Leiden und Qualen jelbft lag ihm großenteils noch ganz nahe und reichte teilweiſe noch in fein Jahrhundert hinein. Mit voller poetiiher Kraft ließ fih der Triumph der Märtyrer nicht jchildern, ohne die don ihnen erbuldeten Qualen in ihrer ganzen Schredlichkeit zu bezeichnen: ihre unbefiegbare Geduld bildet dabei aud in äfthetiicher Hinficht ein bverföhnendes Gegengewicht?. Der grenzenlojen Weichlichkeit der römischen

ı Mit Recht und in treffendfter Weije ftellte er au ber Verhimmelung bes heidniſchen Götzendienſtes die jhmußige, blutige und abftopende Wirklichfeit gegen- über. Dem Zaurobolium 3. B., das er (Hymnus X 1006—1056) überaus draftifch beſchreibt, unterwarfen fi noch zu feinen Lebzeiten einige der vornehmjten Römer und rühmten ſich deffen als ber höchſten Ehre.

® Mehr begründet ift der Vorwurf, dag Prudentius ähnlich wie Paulinus von Nola feinen Stoff zu breit ausfpinnt, und daß befonders jeine epifhen Gedichte der feinen Abrundung unb bes fünftleriihen Maßhaltens entbehren, das die antiken Klaffiter auszeichnet. Darin trägt indes das allgemeine Sinken des Geihmads bie Hauptfhuld. Von ben gleichzeitigen Dichtern nähert er fih noch am meiften den Alten.

Prubentius. 179

Srotifer gegenüber konnte eine ſolche Poefie nur Träftigend und ermannend wirten, wie das Beifpiel der chriſtlichen Glaubenshelden jelbft.

Den hohen Wert diefer „Siegesgejänge“ für die Geſchichte der Kirche und ihrer Lehre, der Märtyrer, der altriftlihen Liturgit und Kunft können wir hier nicht näher berühren. Die Anregung zu denjelben jcheint dem Dichter teil- teile die Spanische Liturgie gegeben zu Haben; andere aber find offenbar die Frucht einer Reife nah Rom und eines längeren Aufenthaltes daſelbſt. So erzählt er in dem (9.) Hymnus auf den hl. Caſſian, er jei in das von Cornelius Sulla gegründete und noch jetzt nad) ihm benannte Forum Eornelii gelangt, al3 er auf dem Wege nad) der Weltitadt Rom geweſen, und da habe er die herzlihfte Hoffnung auf Chriſti Beiftand geichöpft:

Sulla Forum statuit Cornelius: hoc Itali urbem Vocant ab ipso conditoris nomine,

Hic mihi, cum peterem te, rerum maxima Roma, Spes est oborta, prosperum Christum fore.

Da, am Grabe des hi. Gajfian, meinte er über die Wunden feiner Seele, jeine Mühen und Leiden. Dann erhob er den Blid und ſah ein Gemälde, das den Martertod des Heiligen darftellte. Er fragte den Kirchen: diener darüber aus und erfuhr von ihm eingehender die Gejchichte des Mar- tyriums. Das erfüllte ihn mit der innigften Verehrung zu dem Heiligen, und mit bollem Vertrauen rief er ihn in allen feinen Anliegen an, befonders um Hilfe bei jeinen Gefhäften in Rom. Und jein Vertrauen wurde reichlich belohnt. Alles ging herrlih von ftatten, und jo preift er nun dankbar den Heiligen, der ihm jo freundlich geholfen.

Auf unmittelbar römiſche Eindrüde weift der Hymnus auf die zwei Apoftelfürften die ältefte Schilderung des St Peter: und Paul-Feſtes und der zwei Bafilifen diejer Heiligen. Das merkwürdige Gedidht, etwa um das Sahr 402 oder 403 abgefaßt, lautet aljo:

Es herrjchet ungewohnte Freude. Sag mir, Freund, was gibt's? Ganz Rom ift rege, überall klingt Jubel.

Der Feittag kehrt heut wieder apoftoliihen Triumphs, Durh Petri und durch Pauli Blut geadelt.

Derjelbe Tag, wenn auch durch eines Jahres Friſt getrennt, Hat mit dem Lorbeer beider Haupt umwunden.

Die jumpf’ge Niederung, die noch ber Tiberftrom durchfließt, Kennt die zwei Tempel, ihrem Ruhm gewidmet,

Des Kreuzes Zeugin wie des Schwerts. Des Blutes Regen hat Zweimal getränft fie und denfelben Raſen.

Der erfte Richtſpruch traf den Petrus. Neros Mund befahl, Er jolle hoch am Kreuzesihandpfahl hängen.

Doch dieſer fürdtete durch jo erhabnen Todes Ruhm Des Meifters Ehr’ nadeifernd anzutaften

180 Elftes Kapitel.

Und bat, dab fie die Füße aufwärts hefteten, das Haupt Nah abwärts, unten an dem Marterpfahle.

So warb die Hand durchbohrt ihm unten, oben hoch der Fuß; Erniedrigt warb ber Leib, erhöht die Seele.

Er wuhte, daß bie Demut raſcher in den Himmel führt, Drum beugt’ er fterbend in ben Staub fein Antliß.

Wie dann ein Jahr auf feiner Bahn den Kreislauf hat erfüllt, Denjelben Zag bie Sonne wieber bradite,

Da ſchleudert Neros Wut auf Paulus’ Hals bas Bluturteil Und heifcht den Tod des großen Bölferlehrers.

Er hatte jelbft vorausgefagt, das Ende fteh’ ihm nah. Mir naht das Ende, ſprach er; auf, zu Chriſtus!

Und raſch wirb er zum Tod gerafft, geopfert mit dem Schwert: Den Seher täufhte weder Tag noch Stunde.

Der beiden überreſte beiden Ufern teilend aus, Fließt nun der Tiber zwiſchen heil'gen Gräbern.

Der rechte Strand umfängt Petrus in goldenem Palaſt, Am Strom, dem raufchenden, erglühn Oliven.

Denn an der Fellen Stirn entjprang ein Quell und weckte bort Ein ewig grünes Laubdach, Chrisma ſpendend.

Durh reihen Marmor rinnt er jet hinab und net den Tyels, Bis drunten er im grünen Beden jprudelt.

Denn in des Hügels Innerm ift der Ort, wo hellen Schalls Das Wafler ſich bewegt in fchneeiger Tiefe.

Bunt färben feinen Spiegel Malerei'n von oben her, Moos ftrahlt drin wieder, Gold in grünem Schimmer,

Und dunkel taucht des Purpurs Schatten in die blaue Flut, Die Dede fcheint im Waſſer fich zu regen.

Der Hirt nährt jelber mit der friihen Quelle ftrengem Na Die Schäflein, die nah Chriſti MWaflern dürften.

Am andern Uferrand, wo links die Wieſen ſäumt ber Fluß, Ragt an dem Weg nad Oſtio Pauli Grabmal.

Da funfelt Königspradt; ein guter Fürſt erichuf den Bau Und jpielt’ verſchwenderiſch mit feinem Reichtum.

Mit Gold bekleidet ſchimmert das Gebälf, daß goldnes Licht Wie Morgenfonnenftrahl ben Raum durchleuchtet.

Der Dede jhimmernd helles Zelt trägt je ein Doppelpaar Von Säulen, herrlich, in vier fangen Reihen.

Mit farb’gem Glafe find die jhmuden Bogen bunt geziert Und leuchten wie die Au’n in Srühlingsblumen.

Das find die zwei Geichenfe, die der höchſte Vater gab Der Weltftabt Rom voll Glauben zur Verehrung.

Sieh, wie das röm’sche Volk fich dit durch beide Straßen brängt, Die beiden Feſte nur ein Licht durdftrahlet.

Lab ung zu beiden eilen, raſch beflügelnd unfern Schritt Und uns der Lieder hier und dort erfreuen.

Erft ziehn wir über Hadrians Brüde weit hinaus den Weg, Dann gehn wir auf des Fluſſes linke Seite.

Prubentius. 181

Jenſeits des Tibers bringt der Priefter erft das Opfer bar, Dann kommt er hierher, doppelnd die Gebete.

Das lehrt dich Rom. Nun fei zufrieden. Wenn du heimgefehrt, Dann feire treulich jo den Doppelfefttag !.

Noch bleibt ein Kleineres Sammelwerk zu erwähnen, das im Prolog nicht bejonders hervorgehoben wird. „Das Dittohäum“?, eine Reihe von neunumdbierzig Gedichtchen von je vier Herametern, offenbar beftimmt, als Inſchriften zu den Malereien einer Bafilifa (mahrjheinlih in Saragoffa) zu dienen. Die erften vierundzwanzig find dem Alten, die andern dem Neuen Bunde entnommen, und fo umfaffen fie ziemlih die Hauptmomente beider Teflamente:

1. Adam und Eva. 2. Abel und Kain. 3. Die Are Noe. 4. Bei ber Eiche von Mambre. 5. Saras Grab. 6. Pharaos Traum. 7. Joſeph von den Brübern erfannt. 8. Der brennende Dornbufh. 9. Der Zug durchs Rote Meer. 10. Die Gejeßgebung auf Sinai. 11. Manna und Wadteln. 12. Die eherne Schlange. 13. Der bittere See in der Wüſte. 14. Der Hain Elim in der MWüfte. 15. Die zwölf Steine im Jordan. 16. Das Haus der Rahab. 17. Samfon und ber Löwe. 18. Samfon und die Füchſe. 19. David. 20. Das Reih Davibs. 21. Der ZTempelbau. 22. Die Söhne der Propheten. 23. Israels Gefangenſchaft. 24. Das Haus Ezechiels.

25. Gabriel bei Varia. 26. Bethlehem. 27. Die Gejchenfe der Magier. 28. Die Verkündigung der Engel an die Hirten. 29. Der Kindermord in Bethlehem. 30. Die Taufe Ehrifti. 31. Auf der Zinne bes Tempels. 32. Das Wunder von Kana. 33. Der Teich Siloe. 34. Der Tob des Johannes. 85. Ehriftus auf dem See. 36. Der Teufel fährt in die Schweine. 37. Die fünf Brote und zwei Fifche. 88. Die Eriwedung bes Lazarus. 39. Der Blutader. 40. Im Haufe des Kaiphas. 41. Die Geihelfäule. 42. Das Leiden Chriſti. 43. Ehriftus im Grab. 44. Die Himmelfahrt, 45. Das Leiden des hl. Stephanus. 46. Die jhöne Pforte (Heilung des Lahmen). 47. Die Bifion des Petrus. 48. Das Gefäß der Auserwählung. 49. Die Apokalypſe des Johannes.

Für die Kunſtgeſchichte find diefe Injchriften von nicht geringem Intereſſe. Die Bilder des Alten und Neuen Bundes jcheinen ſich meiſt typiſch zu ent— ſprechen, wenn ſich auch nicht für jeden einzelnen Fall Bild und Gegenbild genau fefiitellen läßt. Dieſe Verwendung der bibliihen Typik zu Bilder: cytlen, die Schon in die Katakombenmalerei hinaufreicht, ift für die hriftliche Kunft und Poefie überaus fruchtbar geworden. In vielen Sprüden des

' Peristephanon XII (Migne, Patr. lat. LX 556-569), überjegt vom Verfafler.

* Über Namen, Zwed und Verfaſſer des „Ditiohaion” ift viel geftritten worben ; der Zitel Jerroyatos wie die Autorſchaft des Prudentius und bie Beitimmung ber Berfe als Überjchriften für die Wandmalerei einer Kirche wird indes durch alte Zeugniffe wie durch andere gewichtige Gründe geftüßt. Bgl. S. Merkle, Prudentius’ Dittohäum, bei Ehſes, Feſtſchrift zum elihundertjährigen Jubiläum des Campo Santo in Rom, Freiburg i. B. 1897, 33—45.

182 Elftes Kapitel.

Dittohäums liegt die Pointe gerade in dem müftiihen Sinn, und wenn man dieſen mit in Rechnung zieht, wird man Prudentius aud) ala Epi- grammatiften jhägen lernen. Denn im übrigen find die Sprüche zwar epiſch gehalten, aber fie bieten jeweilen ein ſehr treffendes, prägnantes Bild und erlangen dur den typiſchen Sinn eine ſehr poetiihe Wendung, wenn fie aud die übrigen Werte an Bedeutung nicht erreichen.

Das Buch der „Siegeskränze“ ſchließt ein kurzer Epilog ab, den man wohl mit dem Prolog ald Rahmen der geſamten Werle betrachten darf. Der Dichter reiht fi darin unter die Schar der Gläubigen, die Gott ihre DOpfergaben darbringen. Ihm fiehen weder reihe Almojenjpenden nod hervorragende Heiligkeit zu Gebot. Aber er hat mwenigftens feine Verſe, feine raſchen Jamben und feine beweglihen Trochäen, feine ſchlichte Dichtung pedestre carmen —, und die weiht er Gott mit frommem, treuem Herzen. Das Gefäß braucht nicht gerade von Silber und Elfenbein zu fein, Gott nimmt aud mit einem Becher aus Eichen: oder Ulmenholz vorlieb. Der Dichter fühlt feine ganze Gebrechlichkeit und Niedrigkeit vor Gottes erhabenem Herriherpalaft. Aber er bringt, was er hat. Mag es noch ſo gering fein, nit umfonft hat er Chriſtus verherrlicht, unter deffen Scepter wir leben.

Quidquid illud aceidit, Iuvabit ore personasse Christum, Quo regnante vivimus.

So von Prolog und Epilog umſchloſſen, ftellt fi das gejamte Lieder: bud des Prudentius als ein jehr ſchön abgerundetes Ganze dar, das die Friſche und den Reiz jugendlicher, volfstümlicher Poefie mit den Intentionen eines wohl überlegenden und abmwägenden Kunftdichters verbindet. Mit der eigentlich kirchlichen Hyumnik den Wettkampf aufzunehmen, dürfte ſchwerlich feine Abjiht geweien fein. Weder die langen Tageslieder noch die noch umfangreicheren Siegeskränge find mit ihren teilweife fünftlihen Maßen darauf angelegt. Er jcheint vielmehr im Auge gehabt zu Haben, den Werfen der heidniſchen Klajfiter einigermaßen gleichwertige Kunſtwerke gegenüberzuftellen, und feine chriſtlichen Ideen und feine chriftliche Begeifterung in jene Kreiſe der jogenannten Gebildeten hineinzutragen, die aus der klaſſiſchen Poeſie noch immer einen Zeil ihrer Anſchauungen und ihrer Gefinnung jchöpften. Das hat er in hohem Grade erreiht!, Durch metriſche Fehler, häufige An:

1J. Burckhhardt (Die Zeit Konftantins des Großen?, Leipzig 1398, 295) beurteilt Prubentius zu ſtark nad dem Maßſtab der Alten, ohne die Schwierigkeit feiner völlig neuen Aufgabe ins Auge zu faſſen, und wirb ihm beshalb nicht völlig gerecht. Eingehender und treffender darakterifiert ihn €. Brodhbaus, N. Pru—⸗ bentius Clemens in feiner Bedeutung für die Kirche feiner Zeit, Leipzig 1872, 162 bis 174; abgebrudt bei F. &. Kraus, Charafterbilder aus der hriftlichen Kirchen⸗ geihichte, Trier 1879, 125—136.

Zwölftes Kapitel. Das letzte Auffladern der heidniſchen Literatur. 183

wendung des Reimes, der Allitteration und Affonanz, unklaffiiche Wendungen und Worte weicht er zwar oft vom Gepräge der altklaffiichen Form ab. Aber die Neuheit des Stoffes, mit dem er ringt, macht das begreiflid. Im weſentlichen hält er fi) doch auf Haffiiher Grundlage, mehr als alle feine dichtenden Zeitgenoffen. Die Geftaltungstraft, mit der er ſich Stoff und Ausdrud modelt, darf man wohl öfters mit derjenigen Dantes ver: gleihen. Mit dem reichen Kranz feiner Werke war ein Grundftod hriftlicher Poefie vorhanden, von dem viele Jahrhunderte zehrten. Sein Anjehen wurde erſt zurüdgedrängt, als die Begeifterung für die hriftlihen Ideale fich etwas abtühlte und die Verehrung des klaſſiſchen Heidentums wieder an Boden gewann. Die hriftliche Poefie wird ihn immer als einen ihrer früheften Bannerträger hochhalten.

Zwölftes Kapitel. Das lebte Auffladiern der Heidnifhen Literatur.

Nah allen Richtungen hin bietet das 4. Jahrhundert das Bild eines großartigen Geiftesfrühling dar. Selten find in jo kurzer Zeit jo glän- zende Erjcheinungen wie Athanafius, Bafilius, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyſſa, Yohannes Chrufoftomus, Synefins, Ephrem, Hilarius von Poitiers, Ambrofius, Auguftin, Hieronymus zufammengetroffen. Bibel: erflärung, jpefulative Theologie und Philofophie, hriftlihe Moral, Kirchen: geſchichte und allgemeine Geſchichte wuchſen durch die Geiftestätigfeit diefer Männer zu großartigen, jelbftändigen Wiffensgebieten an. Alle Arten des projaiihen Vortrags, von der jchlichteften Katechefe bis zur erhabenften Be— redjamkeit, wurden dabei auch Funftmäßig ausgebildet. Durch Juvencus ward das biblifhe Epos geihaffen, durch Paulinus don Nola die poetische Legende, durch Ambrofius die kirchliche Hymnenpoeſie; durch Prudentius wurde der gejamte Reichtum alttlaffiicher Formen für Lyrik, Epik und Didaktit zugleih chriſtianiſiert. Als Geſchichtsphiloſoph faßte Auguftinus Wiffen und Bildung der gefamten Zeit in fo großartiger Weife zuſammen, wie feiner vor ihm. Wie fein Werk über die letzten Ausläufer des Heiden: tums, jo ragte die wirkliche Stadt Gottes, die Kirche, jchon herrlich über die Bölfer empor.

Was noch am meiften mangelte, war die Chriftianifierung der welt: lihen Wiffenihaft und Literatur. Die größten Geifter zogen ſich meift aus dem Gemwühl der Welt zurüd und widmeten ſich ausjchließlih dem Dienfte der Kirche. Die Kriftlihen Laien am Hofe der Kaifer aber und in den höheren Kreifen Roms ftanden nod vielfach unter dem Einfluß altrömijcher

184 Zwölftes Kapitel.

Überlieferung und Sitte, in ftetem Verkehr mit Heiden und unter der nad): teiligen Einwirkung des religiös und ſittlich wie geiftig und künſtleriſch zer= fallenden Heidentums. Im Gemwirr kriegeriſcher und politiſcher Berwidlungen, weiter Reifen, glängender Feſte und Spiele, vornehmen Wohllebens oder ehr: geiziger Beftrebungen machten fie felten recht Ernſt mit der übung des Ghriftentums. In den langen Kämpfen mit dem Arianismus und andern Härefien hatte die Kirche nie freie Hand gehabt, die Schule im weiteſten Umfang zu organifieren umd ein völlig neues Geſchlecht heranzuziehen. So waren weltlide Bildung und Literatur noch großenteil® in den Händen bon Heiden geblieben, welche denn auch diefes Gebiet einigermaßen als ihre Domäne betradhteten und zum Vorteil des Heidentums auszunußen juchten. Ihr Einfluß wurde indes nit nur durch den entjcheidenden Sieg des Theodofius, die Bedrängniffe des Reiches von jeiten der Barbaren und die wadhjende Macht des Chriſtentums herabgeſtimmt, aud in ihren eigenen Reihen herrjchte mehr gejhäftige Rührigfeit, von der altklaſſiſchen Erbſchaft zu zehren, als friſche Kraft, ſelbſtändige Fruchtbarkeit und geiftige Bedeutung.

Bon Quintus Aurelius Symmadhus, der al& angejehener Optimat und Beamter durd feine vielen perjönlihen Beziehungen eine Art Sammelpunft für die heidniſche Partei zu Rom bildete, ift ein von jeinem Sohn herausgegebener Briefwechjel erhalten, welcher die ganze Lage und das Niveau der heidniſchen Bildung ziemlich anſchaulich zeihnet!. Er reicht von 375—402 und umfaßt (47 Relationes oder Amtsjchreiben eingerechnet) 1049 Nummern. Zu den von geiftigem Gehalt überftrömenden Briefen eines Auguftinus oder Hieronymus kann man jih faum einen jchrofferen Gegenjag denten. Die größere Maſſe diefer Epistulae find kurze, inhaltlich völlig unbedeutende Zettel, Glücwünſche, Komplimente, Grüße, Beileids- bezeigungen, Zodesanzeigen, Einladungen, Empfehlungsbriefe, Fürbitten für andere und Bitten für fih, Beftellungen (z. B. von Rennpferden, Gladiatoren und jeltenen Tieren für die öffentlichen Spiele”), offenbar gar nicht für

' Ältere Ausgaben von Schott, Straßburg 1510; Gelenius, Baſel 1549; Bluretus, Paris 1580; Bectius, Genf 1587; Scioppius, Dlainz 1608; Paräus, Neuftadbt a. d. H. 1617; Wingendorp, Leiden 1658; Migne, Patr. lat. XVIII 141— 405. Neue tritifhe Ausgabe von DO. Seed (Q. Aurelii Sym- machi quae supersunt, Berol. 1883. Monum. Germ. Hist. Auct. antiquissimi VI 1). E. Morin, Etudes sur la vie et les 6crits d. S. Paris 1847.

? „Ein großer Teil ber Korreipondenz des Symmachus ijt den Sorgen ge- widmet, welde ihm die Aufführungen bei feiner Verwandten Beförderung und bei andern Gelegenheiten verurſachen. . .. Man war froh, wenn nur für die fremden Tiere ber Zoll erlaffen wurde (Symmachi Ep. V 62). Das wichtigſte war immer bie Auswahl ber Pferde für die Eirkusfpiele.... Num hatte fi) der römische Geihmad in dieſer Beziehung bergeftalt verfeinert, daß man beftändig mit Pferderafjen ab- wechſeln mußte (ebd. IV 63); Kommijfionäre burchftrichen die halbe Welt, um Neues

Das letzte Auffladern der heibnifchen Literatur. 185

die Veröffentlihung beſtimmt, wenn der Briefichreiber auch ftet3 bemüht ift, den gewöhnlichiten Verkehrsformeln eine zierliche und verbindliche, mo möglich neue Wendung zu geben. Auch für die Zeitgefchichte bieten die Briefe diejes Konſuls und Stadtpräfelten nur den dürftigften Ertrag. Das intereflantefte daran ift die Mannigfaltigteit der Adreffaten, da Symmahus mit aller Welt in Verbindung ftand, mit den Kaifern Theodofius, Gratian und Arcadius, mit den TFeldherren und Staatsmännern Ricomeres, Zimaftus, Rufinus, Stiliho, Bauto, Siburius und Eutropius, mit den heiligen Biſchöfen Ambrofius und Paulinus von Nola, mit dem Dichter Aufonius, mit den Söhnen des heidniichen Fanatikers Flavianus Nicomahus, mit dem nod für das kraſſeſte Gögentum ſchwärmenden Vettius Agorius Prätertatus, mit den chrifllichen PBatriziern aus dem Haufe der Anicier, mit einem ganzen Schwarm vornehmer Berwandten, mit allen möglihen Senatoren und Senatorenjöhnen, Klienten, Rhetoren, Poeten, Zribunen und Notaren wahrhaft der Onkel der ganzen hohen Welt und der gejchäftige Gönner derer, die ji von deren Glanz beftrahlen laffen wollten, ftet3 ängſtlich be- ftrebt, ſich als mufterhaften Gentleman und feinen Stiliften zu zeigen, furchtſam bejorgt, jemand auf die Füße zu treten, erfüllt von den Er— innerungen altrömijcher Größe und Herrlichkeit, aber ohne andere Kraft, als fi) daran zu fonnen.

Wie jeine politiichen Schwankungen, jeine Unentſchloſſenheit und Schwäche, jo erinnern aud) jeine Vielgefhäftigkeit, jein Wohlwollen, feine Weichheit und Eitelteit oft an Cicero und deſſen Schwächen; über von deſſen feurigem Temperament, bon deſſen Geift und vielumfaffendem Wiſſen findet fich bei Symmahus faum eine Spur. Sein Stil iſt künſtlich gedrechjelt und Ihmwulftig wie derjenige des jüngeren Plinius. Auch feine Reden, von denen

und Außerordentliches zu finden und behutiam nah Rom zu transportieren. Sym- machus jhreibt an dieſe Lieferanten in jo verbindlichem Ton als an irgend jemand. Für die Tierfämpfe in den Theatern und im Kolofjeum, für die Jagden (Sylvae) im Eirfus Marimus bedurfte man zunähft der Glabiatoren, ‚einer Fechterſchar ihlimmer als die des Spartafus‘; au gefangene Barbaren, 3. B. Sachſen, traten bisweilen auf“ (ebd. II 46; I. Burdhardt, Die Zeit Konftantins des Großen 457 458). Burdharbt übergeht dabei den Galgenhumor, mit welhen Symmadhus fih darüber tröftete, dab meunundzwanzig ſächfiſche Gefangene fi einmal durch Selbſtmord ber entjeglihen Schauftellung entzogen: Sequor sapientis exemplum et in bonam partem traho, quod Saxonum numerus morte contractus intra summam decretam populi voluptatibus stetit, ne nostrae editioni, si quid redundasset, accederet. Nam quando prohibuisset privata custodia desperatae gentis impias manus, cum viginti et novem Saxonum fractas sine laqueo fauces primus ludi gladiatorii dies viderit? In bemjelben Brief reiht fid) dann an bie neunund— zwanzig Sachſen eine „Büren*Beitellung: Nostros, quibus ursorum lectio et com- paratio iam pridem credita est, pervectos ad te temporis aestimatione non ambigo (bei Seed a. a. ©. 57).

186 Zwölftes Kapitel.

allerdings nur wenige und dieje nicht einmal vollftändig erhalten find, leiden an GeziertHeit und Bombaft. Den Kaiſern gegenüber wahrt er im feinen Lobreden eine gewiſſe ariftofratiiche Würde; feine unvorſichtige Lobrede auf Marimus bradie ihm jedod eine Hocverratsanklage auf den Hals, und nachdem ihm das Aſylrecht einer novatianifchen Kirche das Leben gerettet, beeilte er fih, dur das Lob des Theodofius die frühere Lobrede auf Marimus zu begraben. Im Heidentum erblidte er den Lebenskeim der römischen Größe und Herrlichkeit und machte daraus kein Hehl ; dem Ehriftentum, für defjen Bedeutung ihm der Blid mangelte, trat er indes nicht ſchroff gegenüber, jondern verlangte nur, daß man ihn und feine Freunde bei dem Glauben laffe, „der einft lange dem Staat gefrommt habe“, und „da fie als Greife auf ihre Nahfommen vererben dürften, was fie als Knaben überfommen“. Das Befte, was er gejchrieben, it jeine Schon früher er- wähnte Relatio. So geſchickt diejelbe indes au auf das Nationalgefühl und die Schwächen unflarer, ſchwankender, weichherziger Chriften berechnet war, jo ſchwach waren die eigentlihen Gründe, welche er für jeine For— derungen vorbrachte. Es handelte fih um eine verlorene Sache, der noch jo ſchön gezirkelte Sätze und jo ergreifende Erinnerungen nicht mehr auf: helfen konnten.

Als PHilofophen nennt Symmadhus einen gewiſſen Batradus, dann Maximus, Asflepiades, Jamblihus, Niciad und Celſus; alle übrigen erklärt er als Schwindler, und auch die Genannten jcheinen völlig bebeutungslos gewejen zu fein. Mafrobius erwähnt einen Fauftlämpfer Horus, der nah unzähligen Boxereien fi ber Philo- fophie zumwandte und fi als Eynifer einen Namen machte. Der eigentliche Leib- philofoph des Symmahus aber war ber erwähnte Bettius Agorius Prü- tertatus, „Augur, Priefter der Veſta, Priefter des Sol, Fünfzehnmann, Kurial bes Herfules, Eingeweihter bed Bachus und der eleufinifhen Deyfterien, Hierophant, Tempelwart, burd das Taurobolium geheiligt, Vater ber Väter, dazu Quaestor can- didatus, Stabdtprätor, Korrektor von Zuscien und Umbrien, Konjular von Lufitanien, Protonful von Achäa, Stabtpräfelt (367—370), fünfmal Gejfandter des Senats, Praefectus Praetorio für Italien und Illyrien, 385 befignierter Konſul“, ein in Aberglauben und Zitelhochmut verrofteter Heide, der, ald alle Götter und Myſterien ihn im Kampf gegen das EChriftentum im Stiche ließen, es auch noch mit ber Philo- fophie verfuchte und bie Paraphrafen des Themiftius zu den Libri analytici priores et posteriores des Ariftoteles ind Lateiniſche überſetzte.

Als Redner werben von Symmachus Yulianus, Antonius, Gregorius und Severus aufgeführt. Erhalten ift eine fachlich interefiante Lobrede, die Latinus Drepanius Pacatus, ein Landsmann und freund des Aufonius, 389 im Senat auf Theobofius I. hielt.

Bon den Söhnen und Bettern des Flavianus Nicomachus jchrieb einer „Ans nalen“, andere wandten ihre Sorgfalt bem Texte des Livins zu. Die Grammatifer Servius und Tib. Claudius Donatus fhrieben Kommentare zu Bergil. Fla— bins Begetius ftellte aus früheren Militärihriftftellern einen „Abriß des Militär- weſens“ zufammen; vielleicht derſelbe Vegetius ſchrieb aud einen Traktat Über Zier- heilkunde.

Das letzte Auffladern der heibnifchen Literatur. 187

Der einzige eigentlich nennenswerte Profajchriftfteller ift der Geſchicht— ihreiber Ammianus Marcellinus. Er war aus Antiodhien gebürtig, diente als Reiteroffizier erft zu Nifibis und Antiodien, wurde um 354 nah Mailand und Köln fommanbdiert, folgte Julian auf feinen erften Feldzügen, wurde dann wieder nad Mejopotamien gefandt, madte 359 die fiegreihe Berteidigung don Amida mit, diente unter Julian gegen die Perjer, lebte bis 378 in Antiodien, von wo aus er Ägypten und Griehenland bereift zu haben jcheint, zog endlich über Thracien nad Rom und lieb ſich Hier bleibend nieder, um ſich fürder wiſſenſchaftlicher Tätigkeit zu widmen. Er ſchloß ih eng an Symmachus und deſſen Partei an und fand vielleicht fogar Aufnahme in den Senat. Im Yahre 391 bradte er bereit3 die erften Teile feines Geſchichtswerkes zum Abſchluß, das ſich ala Fortſetzung an die Annalen des Tacitus reiht, und konnte diefelben in Rom rezitieren. Bon da ab verfiegen die Nachrichten über ihn.

Sein Werf (Rerum gestarum libri!) behandelte die römische Geſchichte von Nerva bi zum Tode des Valens (96— 378); erhalten find aber nur die Bücher XIV—XXXI, melde die Jahre 353—378 umſpannen, eine Zeit, die er ſelbſt als tüchtiger Soldat in wichtigen, kriegeriſchen Epifoden mitgelebt hat. Die meiften Territorien des weiten Reichs, die hervorragendften Männer und die allgemeinen Verhältniffe fennt er aus eigener Anſchauung; er berichtet offen und reblich, urteilt verftändig, kräftig umd derb; dagegen ift er als Stilift linkiſch und ungeſchickt, prunkt mit feiner Gelehrjamfeit und ift oft bis zur Unverftändlichkeit geziert und ſchwulſtig. Er hängt noch mit echt heidniſchem Aberglauben an VBorzeihen und Wunderzeihen, Auſpizien und Augurien, verehrt die Götter des alten Olymps, jchreibt aber die Welt: regierung einer ziemlich unbeftimmten, allgemeinen Gottheit, dem Fatum und der Fortuna, zu. Das ChHriftentum behandelt er achtungsvoll, verwahrt fich dagegen, daß man es nur al3 Altweibermärchen anjehe, und tadelt ſogar den von ihm fonft hochverehrten Julian, daß er es den Chriften vermehren wollte, Rhetorit und Grammatik zu lehren, wenn fie nicht zum SHeidentum übergingen.

Auch auf dem Gebiete der Poeſie hat das Heidentum nur noch einen wirflih bedeutenden Vertreter aufzuweilen. Der heidniſchen Senatspartei fann der hochbegabte Elaudius Claudianus freilih kaum beigezählt werden, da er mit Symmadhus in gar feiner näheren Beziehung fand. Es wird ſogar darüber geftritten, ob er Heide oder Ehrift geweien. Man

Erasmus, Bafel 1518; Aecurfius, Augsburg 1583; Gelenius, Bafel 1583; I. U Wagner, Leipzig 1808; F. Eyſſenhardt, Berlin 1871; B. Gardt— baujen, Leipzig 1874/75. Gimazane, Ammien Marcellin, sa vie et son auvre, Toulouse 1889. W. C. Cast, Quaestiones Ammianae, Berol. 1868.

188 Zwölftes Kapitel.

braucht ihm aber nur mit Prudentius zu vergleichen, um zu erfennen, daß die chriſtlichen Ideen und Jdeale nicht die Seele jeiner Poefie geweſen find,

Bermutlih um das Jahr 370 zu Alerandrien geboren, fam er noch im jugendlichen Alter nah Rom, in griechiſcher wie lateinischer Sprache und Berjififation gleih gewandt, machte durch ein Lobgedicht auf die beiden jugendlihen Konſuln Olybrius und Probinus, die beide der dhriftlichen Familie der Anicier angehörten (395), Aufſehen bei Hofe, ward zum Tribun und Notarius (mit dem Prädikat vir clarissimus) erhoben und trat ver: mutlich in den Dienft Stilichos, der fürder der Hauptheld feiner Mufe war. Seine größeren lateiniſchen Werke find faft ſämtlich politiiche oder höfiſche Gelegenheitsdichtungen: Lobgedichte auf das dritte, vierte und jechfte Konjulat des Kaiſers Honorius (396 398 403), Schmähgedidte auf den Reiche: verivejer Rufinus in Sonftantinopel (zwiſchen 395 und 397) und den ge fürzten Eunuchen Eutropius (399), ein Feilgediht auf die Hochzeit des Honorius mit Maria, der Tochter Stilihos (398), ein Gediht auf den Krieg des Gildo in Afrika (398), drei Bücher auf das Konſulat des Stiliho (400), zwei Gedichte an Serena, die Gemahlin Stilihos. Für jeine legten großen Lobgedichte wurde ihm um 402 der Rang eines Patricius und eine Statue auf dem Trajansforum zu teil, deren Inſchrift 1493 wieder ausgegraben wurde. Alle diefe Gedichte find geſchichtlich überaus intereffant, bi$ zu einem gewilfen Grad aud ala Geſchichtsquellen wertvoll, weil fie über Stiliho und die gefamte Zeitgejchichte die merfwürdigften Einzelheiten enthalten, fie find aber auch in künftleriicher Hinficht jehr glüdlih entworfen, wahrhaft dichterifch bejeelt und im reicher, gewählter Sprade, oft mit dem Iebhafteften Schwung ausgeführt. Auch den drei Büchern „Bom Raube der Projerpina“ feinen zeitgefchichtliche Anjpielungen nit ganz fern zu liegen, obwohl der Mythus jelbft ganz unabhängig von denjelben in echt Haffiiher Abrundung durchgeführt ift?.

ı Als Ehriften (doc) eigentlich als bloßen Namenschriften) betrachtet ihn Th. Birt (Prolegomena ıxım—ıxvuı und De moribus christianis, quantum Stilichonis aetate in aula imperatoria valuerint), Marburg 1885; ebenfo Vollmer (Art. „Glaudianus“ bei Pauly» Wijjomwa, Real-Encyllopädie II 2656). E. Arens (Elaubdian, Ehrift oder Heide? in Hiftor. Jahrb. der Görres-Gejellihaft XVII [1896] 1—22) neigt der Annahme zu, daß ihm das Carmen paschale abzufpredhen und er einfach als „Vertreter des Heidentums“ anzufehen jei. Nah G. Rauſchen (Jahr: bücher der Kriftlihen Kirche unter Theodofius d. Gr., Freiburg 1897, 555—559) war er „mweber ganz Heide noch ganz Ehrift, aber doch mehr Heide als Chriſt, nad der Überzeugung feines Herzens wahricheinfich weder das eine noch das andere”.

® Ausgaben von Celſanus, Bicenza 1482; Ugoletus, Parma 1500; Parrhafius, Mailand 15005 Gamers, Wien 1510; Afulanus, Venedig 1528; Bentinus, Bafel 1584; Elaverius, Paris 1602; Scaliger, Ant— werpen 1608; Barth, Hanau 1612, Frankfurt 1650; Heinfius, Leiden 1650; Gesner, Leipzig 1759; Burmann, Amfterdam 1760; Königs, Göttingen 1808;

Das letzte Auffladern ber heidniſchen Literatur. 189

In all diefen Gedichten findet fi kein Ausdruck chriſtlichen Glaubens und riftliher Gefinnung, nicht die leifefte Andeutung davon. Das Chriſten— tum ift jo vollkommen ignoriert, als ob es gar nicht auf der Welt wäre. Wie fein anderer römischer Dichter der legten Jahrhunderte ift Claudian mit allen vorausgegangenen Dichtern, bejonders jenen des auguſteiſchen Zeitalters, veriraut. Er hat fi ihre Sprade vollkonmen angeeignet; er fennt alle Feinheiten der Metrif und jpielt damit. Seine Verſe fließen fo leiht und anmutig dahin mie jene Obids. Er Iebt und webt aber aud ganz in den Anihauungen der Alten, in ihrer Götterwelt, in ihrem Mofteriendienft, in dem Kalender der „Faſti“, in der bunten Geftaltenfülle der „Metamorphofen“, in dem Römerſtolz umd der künſtleriſchen Selbftgenügjamkeit des Horaz, in der Gäfarenverehrung Bergils. Nur Heißt Auguftus jet Theodofius oder Honorius, Mäcenas Stiliho; zumeilen treten auch die Saifer zurüd gegen Stiliho, melden er den „Vater des Reiches”, ja zweideutig „Fürſt“ und „König“, den „Göttern nahelommend“ nennt, ja als Gott verehren möchte, wenn er es ſich nicht jelbft verbeten hätte.

Aut regio quae non pro numine vultus Dilectos coleret, talem ni semper honorem Respueres !,

Zweimal befingt er ausführlihd den Triumph des großen Theodofius über Eugenius und Flavianus Nicomahus?; aber aus jeinen Verſen ließe ih nicht entfernt ahnen, daß es fich dabei um den letzten Entſcheidungskampf zwifchen Heidentum und Chriftentum gehandelt hat. Eugenius ift nur ein Tyrann, Flavian ein Rebell, welcher die Einheit und Größe Roms bedrohte, Den Sieg hat nicht Ehriftus, jondern die heidniſche Victoria erftritten. Auch den großen Sieg Stilichos bei Pollentia ſchreibt er der Victoria zu; fie bat das jechfte Konſulat des Honorius herbeigeführt, ihr gehört der Senat, fie ladet Stiliho ein, al3 Konſul feinen Plab in Rom einzunehmen:

Quae vero procerum voces, quam certa fuere Gaudia, cum totis exsurgens ardua pennis

Ipsa duci sacras Victoria panderet aedes!

O palma viridi gaudens et amica trophaeis

Custos imperii virgo, quae sola mederis

Vulneribus nullumque doces sentire Jaborem:

Adsis perpetuum Latio votisque senatus Annue, diva, tui®,

2. Jeep (I, Leipzig 1876; 11, ebd. 1879); Th. Birt (Monum. Germ. Hist. Auctores Antiquissimi X), Berlin 1892; 3. Rod, Leipzig 1893. über bas Leben bed Dichters geben ben beften Aufſchluß die Prolegomena bei Birt, De Claudiani vita et scriptis et temporum historia 1—ıxıx. Bgl. Bollmer a. a. D. II 2652—2660. ı XXII 179 (bei Birt a. a. ©. 209).

2 VII 63—72; VIII 72—108 (bei Birt a. a. ©. 143 152 f).

» XXIV 202 ff (bei Birt a. a. ©. 227 f).

190 Zwölftes Kapitel.

Gegenüber den Bemühungen des hl. Ambrofius und des Prudentius ſpricht dieſes Gebet an die Victoria deutlih genug. Der hf. Auguftin und Drofius Haben ſich nicht getäufcht, wenn fie Claudian ald Dichter für einen Heiden hielten!. Er Hat allerdings nirgends das Chriftentum angegriffen, aud nicht offen für das Heidentum gefämpft, aber bewußt oder unbewußt für dasjelbe Stimmung gemadt, vielleiht wirkjamer als Symmachus.

Daran ändert nichts, daß ſich unter jeinen Heineren Gedichten ein jehr ſchönes lateiniſches DOftergediht und zwei griehiihe Epigramme auf den Erlöfer finden. Da fein Heidentum nichts von dem verbiffenen Fanatismus eines Flavianus Nicomahus oder eines Prätertatus an ſich Hat, jondern lediglih poetiih und humaniftiih in der Schönheit der antiten Mythologie und Poeſie jchwelgt, da er an einem riftlihen Hof und in ftetem Verkehr. mit Chriften lebte, fi der Feier hriftlicher Feſte wohl kaum entziehen konnte, und da nichts darauf Hindeutet, dab er je in religiöfen Zwift geraten, jo ift es gar nicht ausgeſchloſſen, daß er fih im praftifchen Leben äußerlich feiner Hriftlihen Umgebung alkommodiert, zulegt nod das Ehriftentum fennen gelernt und auch innerlih angenommen hat, wäre es auch erft am letzten Oſtertage jeined Lebens gewejen. Denn er ift jung geftorben; nad 404 verliert fi jede Spur von ihm.

Als Dichter gehört er unzweifelhaft noch der heidniſchen Antike an; er ift ihr Iehter bedeutender Vertreter. Daß er nicht früher dem Chriften- tum näher getreten und ein chriftlicher Dichter geworden, ift ficher zu bes dauern. Die Zeiten waren vorüber, wo der „Raub der Projerpina“, diejer Hauptmythus der eleuſiniſchen Myſterien, mehr als ein hHumaniftifches Märchen hätte fein können. Sein Hauptheld Stiliho aber hatte dem Chriftentum zu große Dienfte erwiefen, um in einen römiſchen Halbgott umgewandelt zu werden, und war anderjeits ein zu flauer Ehrift, um in jener antifen Be- leuchtung die Liebe und Verehrung hriftliher Völker zu gewinnen. Mag Glaudian an techniſcher Leichtigkeit und Formgewandtheit Prudentius über: flügeln, an geiftigem, ja jelbft an poetiihem Gehalt fteht er weit Hinter ihm zurück. Schon da er die jhönften lateinischen Verſe einem Vandalen zu Füßen legte, zeigte den inneren Widerjprud, in welchen die antife Welt ſich verftridt Hatte und in weldhem fie ihrer Auflöfung entgegenging:

Zwölf Jahre nachdem die Leier Glaudiand verfiummt war, im Jahre 416, bejchrieb ein vornehmer Gallier, Rutilius Namatianus, in glatten, tadellofen Diftichen feine Reife von Rom über Oftia, die Küfte entlang, nad Gallien. Er hatte es in Rom zu hohen Würden gebradt, war faiferliher Haushofmeifter (magister officiorum), 414 fogar Stadt:

! Poeta Claudius quamvis a Christi nomine alienus (8. August,, De civ. Dei V 26). Paganus pervicacissimus (Orosius, Hist. VII 35).

Das letzte Auffladern ber heidniſchen Literatur. 191

präfeft geworden. Allein die Welt war bereit3 auß den Fugen. Die Scharen Aarihs Hatten Rom geplündert. Jetzt wurde Gallien von den Weftgoten heimgeſucht, und jo waren aud Namatians reihe Befigungen in Südgallien bon ihnen vermwüftet worden. Dad war die Urſache der Reife. Trotz allen Unheils war der hartnädige Heide jo wenig wie Symmachus und Glaudian an der Größe des heidnifhen Rom wankend geworden, er hoffte vielmehr au jetzt noch von den alten Göttern Heil und Rettung. Wie ein Lucilius und Horaz vertrieb er fi) die Zeit mit Verſemachen. Seine Reifebejhreibung ! iſt halb Idyll, Halb Satire. Zwiſchen die Reifenotizen fügen fich Bere zum Lobe der Götter, Erinnerungen an Freunde und Verwandte, alte Göttermpthen, rhetoriiche Kunftftüdchen, gelegentliche Ausfälle, z. B. gegen die Juden? und gegen Stiliho wegen jeined Vertrages mit den Goten?. Hür das Ghriftentum hat er nicht das mindefte Verſtändnis. Den Mönden auf der Inſel Gapraria widmet er darum folgende Bere: Weiter drüben vom Meer hebt fi) die Caprariſche Inſel: Männer, jcheuend das Licht, füllen den traurigen Strand. Mönche nennen fie fih mit fremden, griechiſchen Namen, Weil fie leben allein wollen und ohne @eleit. Wie wir fürdten den Zorn, jo fie die Gaben bes Glüdes; Mer maht elend fich jelbft, um ja nicht elend zu jein? O ber närrifhen Wut des völlig verdrehten Gehirnes; Während das Böſe du flieht, raubjt du das Gute dir felbft! Mögen die Zühtlinge nun vom Schidjal erwarten bie Strafen, Ober ihr Inneres blähn Galle ber ſchwärzeſten Art. Denn ber Galle bereits ſchrieb zu ber alte Homerus Bellerophontifher Qual Liebes: und Lebensperbruß. Denn getroffen vom Pfeil des Schmerzes, jo gehet die Sage, Faßte des Yünglings Herz Ekel am Menjchengeichledt *.

Noch entrüfteter fühlte Fich der vornehme Lebemann, als er auf einer andern Küfteninjel einen hochgeborenen jungen Römer aus feiner eigenen nächſten Belanntihaft traf, der fih in einer unwirtlichen Felſenhöhle als Einfiedler niedergelaffen hatte:

Aus den Fluten empor redt fi) das umfloffene Gorgon Zwiſchen dem Pififhen Strand und dem von Eyrniafum.

Gegenüber dem Fels, dem Dentmal neulihen Schiffbruchs, Wohnte ein Bürger von uns lebend bereits in dem Grab.

ı Herausgeg. von J. B. Pius, Bologna 1520; 4. Caftalio, Rom 1582; C. Barth, Frankfurt 1623; Th. Almeloveen, Amfterbam 1687; 1. W. Zumpt, Berlin 1840; 3. 3. Eolombet, Yon 1842; %. Müller, Leipzig 1870; Bährens (Poetae latini minores), Leipzig 1883. Deutſch überjeßt und erflärt von JtafiusLemniacus (A.v.Reumont), Berlin 1872. Bgl. N. Lardner, Works VIII, London 1838, 88 -90.

? Itinerar, I 383 f. » Ebd. IT Alf.

* Ebd. I 439— 452, überfegt vom Berfafler.

192 Dreizehntes Kapitel.

Kürzlich verließ er uns erft, ber Jüngling, von ebelften Stamme, Uns befreundet und reich, würdiger Gattin vermäßlt.

Furien trieben ihn an, vor Göttern und Menſchen zu fliehen, Und wahngläubig verfrod er fi in biejes Verfted.

Armer Tropf! Im Schmutz meint Himmlifches er zu verfoften, Quält fi ärger, als je ftrafet ein zürnender Gott!

Iſt nicht ſchlimmer, o fprid, die Sekte als Eirces Bezaub’rung ? Dieje verwandelt ben Leib, jene die Seele zum Tier!!!

Bon Namatians weiteren Schichſſalen wiffen wir nichts. Anfang und Ende feines Jtinerariums find nur in verftümmelter Faſſung auf uns ge: fommen. Soviel ift indes ficher, daß die alten Götter ihn und Rom voll- ftändig im Stiche gelaffen haben, das von ihm veraditete Möndtum aber die furchtbaren Kataftrophen jener Zeit überdauert hat.

Dreizehntes Kapitel,

Die Sateinifhe Dichtung unter den lebten weſtrömiſchen Kaiſern.

Die dichteriſche Prophezeiung des Prudentius, das einmal chriſtlich gewordene Römerreich würde allen feindlichen Gewalten trotzen und ewig weiter dauern, jollte fich nicht erfüllen. Wohl war das mächtige Römerreich berufen geweſen, der Kirche die Wege zu bereiten, aber verſchmelzen follten fie fih nicht. Ihre Ziele waren ganz verichiedener Natur. Die Kirche fonnte das ſchon tief erjchütterte, ſinkende Reich nicht vor dem Untergange retten. Schon unter Gallienus (um 260) begannen Einfälle der Barbaren dasjelbe zu beunrubigen. Im Jahre 406 brachen germaniide Scharen unter Radagais in Gallien ein; 410 ward Rom durch Alarich geplündert; 415 gründeten die Weftgoten ihre Herrſchaft in Südfrankreih und Spanien; 429 eroberten die Bandalen Afrika, 452 verwüfteten die Hunnen unter Attila Italien, 455 verheerte Geiferih auh Rom, 476 ward das weſtrömiſche Reich durch Odovakar vernichtet, 486 endlich fiel das nördliche Gallien in die Hände der Franken. Die noch jugendfräftigen Barbarenvölfer triumphierten über die morſche römiſche Überkultur.

Auch die Freunde der Literatur konnten unter all dieſen Kataſtrophen und Drangſalen wenig mehr leiſten. Es fehlte friedliche Ruhe und Muße, es fehlte die Grundlage einer ungeſtörten literariſchen Tätigkeit.

Ein ſprechendes Zeitbild gibt uns die in 616 Herametern abgefaßte Selbftbiographie des Paulinus von Pella, eines Enkels des Dichters

' Itinerar. I 515—526, überjegt vom Verfaſſer.

Die lateiniſche Dichtung umter ben letzten weſtrömiſchen Kaifern. 193

Aufonius, welder, 376 zu Pella geboren, jene Erzählung feiner Lebens— ſchickſale im Jahre 459 als vierundadhtzigjähriger Greis niederjchrieb !. Sein Vater Heiperius war Präfelt von Macedonien, wurde aber, als der Knabe faum neun Monate alt war, nad Karthago verjeßt. Die Familie zog dahin auf dem Landwege über die Alpen und dann über das Tyrrhenifche Meer. Don Karthago ward Hejperius mad anderthalb Jahren abermals verjeßt, diesmal in die Heimat jeiner Familie, nad) Bordeaur, wo Paulinus als dreijähriger Knabe noch jeinen Großvater, den alten Dichter, fennen lernte. Durch die Dienerfhaft ward er zuerft mit dem Griechifchen vertraut, las Jjofrates und Homers Ilias und Odyſſee. Dann erft fam das Lateinische mit Vergil an die Reihe, das ihm anfänglich ſehr jhwer fiel. Sehr Fromm und keuſch erzogen, dachte er ernfllih daran, fih ganz Gott zu weihen; die Eltern waren indes damit nicht einverjtanden. Nach einer jchweren Krankheit, die ihm nötigte, zeitweilig die Studien mit Spiel und Jagd zu vertauſchen, heiratele er die Tochter einer vornehmen Familie und ward durch gute Bewirtihaftung jeiner Güter zum wohlhabenden Mann. Sein Vater ftarb aber bald. Durch wiederholte Barbareneinfälle verlor Baulinus alle jeine Befigungen und feine Habe. Der Tod entriß ihm darauf feine Gattin und mehrere der nächſten Verwandten. Bon feinen zwei Söhnen ftarb der eine früh ala Presbyter, der andere ließ den hart bedrängten Vater im Stih. Was den ſchwer geprüften Mann in all diefen Schichſalsſchlägen aufredht erhielt, war feine tiefe Religiofität. Faſt völlig verarmt, 30g er im Alter von fünfund: vierzig Jahren nach Marjeille und juchte fih da durch Bebauung eines einen Gütchens durchzuſchlagen; aber auch Hier hatte er nur Mikerfolg und kehrte nad) Bordeaur zurüd, wo er endlich einen Käufer für das Gütchen in Marjeille fand und fo viel herausſchlug, daß er aus der größten Not errettet war. Dafür dankt er Gott von ganzem Herzen, bittet ihn um Mut und

Stärke und um feinen Schuß in allem, was ihm nod) fürder begegnen mag.

Sed, quaecumque manet nostrum sors ultima finem,

mitiget hanc spes, Christe, tui conspectus et omnem

discutiat dubium fiducia certa pavorem,

me, vel in hoc proprio mortali corpore dum sum,

esse tuum, cuius sunt omnia, vel resolutum corporis in quacumque tui me parte futurum.

Ein Seitenftüd, wenn auch ein weniger düfteres, zu dieſem bielgeprüften Dichterleben bieten die Schidjale des afritaniihen Rhetors Bloffius

! Sie trägt den Zitel Eucharisticos „Dankgebet“. Zuerſt herausgeg. von Marguerin be la Bigne, Paris 1573; dann von 8. Leipziger, Breslau 1858; W. Brandes, Wien 1888, in den Poetae christiani minores (Corpus script. ecel. lat. XVI 268—334). J. Rocafort, De Paulini Pellaei vita et carmine, Bordeaux 1890.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 13

194 Dreizehntes Kapitel.

Aemilius Dracontius, der gegen Ende des fünften Jahrhunderts in Karthago lebte und beim dortigen Prokonſul eine Stelle bekleidete. Er ſcheint zu einer jener römiſchen Familien gehört zu Haben, welche die Bandalen bei der Eroberung in ihrem Befigftande beließen, und lebte mit zahlreicher Familie ! in Wohlftand und Ehre. Er muß ſich indes erlaubt haben, ftatt den König Gunthamund, der von 484—496 regierte, den Kaiſer von Byzanz zu be fingen, fam hierdurch in Verdacht geheimer Beziehungen zu den Oftrömern und zog fi jo den höchſten Zorn des Königs zu. Er ward aller feiner Güter beraubt, jo daß die Seinigen in die äußerfte Not gerieten, ins Gefängnis geworfen und jogar graufam mißhandelt. Während feiner Gefangenſchaft verfaßte er zwei Gedichte: eine Elegie in 158 Diftihen, Satisfactio über- jhrieben, und eine größere religiöje Dichtung in drei Büchern, mit dem Titel Laudes Dei, in deren Prolog er abermals an die Gerechtigkeit und Milde des Königs appelliert?,

Das Beitreben der Dichter ging in diefer trüben, ſchweren Zeit mehr darauf aus, zu tröften, zu belehren, zu erbauen, als in der Form neue Wege einzujhlagen und eigentliche Kunſtwerle zu ſchaffen. Von den meiften Dihtern find nur die dürftigften Nachrichten vorhanden, oft faum mehr als der Name, und bei etlihen Dichtungen fehlt auch diefer. Ein „Ges dicht über die göttlihe Vorjehung“, um 415 oder 416 abgefaht, das tüchtige theologische Bildung vorausfekt, wird bon vielen dem Projper von Aquitanien zugejchrieben, doch haben ſemipelagianiſche Anklänge gegen jeine Autorſchaft Zweifel erweckts. Die „Alethias“ des Claudius Marius Victor (der zwiſchen 425 und 455 ftarb) führt den Anfang der Geneſis in freierer Bearbeitung aus, in gewandter, frijcher Form und ziemlich reiner Sprade®. Noh freier haltet mit dem bibliihen Vorwurfe Hilarius von Arles, der auf Anregung Leos I. ebenfalls den Anfang der Genefis bis auf Noe behandelte ®. Das „Commonitorium” des Orientius ift ein fchlichtes, Herzliches Lehrgedicht (in 1036 Berjen), das vom Lafter abmahnen und auf den Pfad der Tugend

! Numerosa propago (III 690 ff).

? Die Satisfactio herausgeg. von F. Arevalo, Rom 1791; abgebrudt bei Migne, Patr. lat. LX 901—932; jelbftändig von F. de Duhn (Dracontii car- mina minora), Zeipzig 1873. Eine Bearbeitung berjelben durch Biſchof Eugenius von Zoledo als Dracontii Elegia bei Migne a. a. O. LXXXVII 383—388. Die Laudes Dei herausgeg. von Arevalo, Rom 1791; und danad bei Migne a. a. ©. LX 679—902; ber erfte Zeil derjelben ebenfalls von Biſchof Eugenius herausgeg. als Dracontii Hexaemeron bei Migne a. a. ©. LXXXVI 371—B34.

Bei Migne a. a. D. LI 617—638.

* Herauägeg. von Y. Gagnejus, Lyon 1586, Paris 1545; Migne a. a. O. LXI 937— 970; 6. Shentl, Wien 1888, in Poetae christiani minores I (Corpus script. eccl. lat. XVI 335—498).

5 Bei Migne a. a. ©. L 1287—1292.

Die Iateinifhe Dichtung unter den letzten weſtrömiſchen Kaiſern. 195

führen will!. Ziemlich troden und nüchtern wirft Proiper von Aquitanien den Semipelagianern in feinem Gedihte „Von den Undankbaren“ ihren Un— dank gegen die göttliche Gnade vor?; feine mehr als hundert Epigramme find faſt ausſchließlich religiöfen Inhalts und ſchließen ſich eng an die Lehre des hl. Auguftin. Biihof Paulinus von Perigueur übernahm ed, das Leben des hl. Martin von Tours in treuem Anſchluß an Sulpicius Severus zu einem legendarischen Epos in Herametern zu gejtalten®.

Am meiften Erfolg hatte in der Bearbeitung der biblifhen Geſchichte Sedulius in feinem „Oftergediht” (Carmen paschale)*. Bon feiner Perfon weiß man nichts, als daß er, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts geboren, ſich in feiner Jugend mit mweltliher Wiſſenſchaft ab: gab, dann nad Griechenland ging und unter dem Einfluffe jeines dortigen Freundes, de& Prieſters Macedonius, fih ganz dem religiöjen Leben widmete und Kleriker ward. Nachdem er aber hierin fein Glüd gefunden, will er auch andere desjelben teilhaftig maden, und da fie lieber Verſe als Proſa lefen, will er feinem Unterrichte den Reiz der Poefie verleihen. Im erften einleitenden Buche zeigt er, wie hod) die wirklichen Wunder Gottes über allen Mythen der Heiden ftehen, und führt dann der Reihe nad) die erhabenften Großtaten Gottes im Alten Bunde auf. Die übrigen vier Bücher find dem Neuen Bunde gewidmet. Anftatt ängftlih dem evangeliihen Texte zu folgen, greift Sedulius friſch und lebendig heraus, was ihn am meiften angeſprochen, und führt es ebenjo friſch und originell aus, in ferniger, oft wirklich poetiſcher Sprache mit jeinen eigenen Andeutungen und Betradhtungen, mit malerifhen Zügen, wohl aud mit der einen oder andern rhetoriſchen Spielerei. Um aber auch die ftrengften theologiihen Forderungen zu bes friedigen, jchrieb er zu feinem Gedichte noch einen Paralleltert in Proſa, der

! Bei Migne a. a. D. LXI 977—1000 und R. Ellis, Wien 1888, in Poetae christiani minores 1 (Corpus script. ecel. lat. XVI 191—261. L. Bel- langer, Le po&me d’Orientius, Paris 1903; Recherches sur Saint ÖOrens, Auch 1903.

2 Das Carmen de ingratis bei Migne a. a. ©. LI 89—148; die Epigram- mata ebd. LI 497—532. Der Titel De ingratis ift abfihtlih doppelfinnig ge— halten: ingratus „Leugner ber gratia” und deshalb auch „undankbar“.

3 Heranögeg. von F. Juretus, Paris 1589; Migne a. a. O. LXI 1009 bis 1076; F. Eorpet, Paris 1852; M. Petfhenig, Wien 1888, in Poetae christiani minores I (Corpus seript. ecel. lat. XVI 1—190).

* Das Paschale carmen bei Migne a. a. DO. XIX 533— 754), das Paschale opus ebd. XIX 545— 754; die Hymnen ebd. XIX 753—770. Gefamtausgaben von J. Huemer, Wien 1885 (Sedulii opera omnia. Corpus script. ecel. lat. X). Die Gedichte allein hHerausgeg. von Y. Looshorn, Münden 1879; das Paschale carmen von Qurter (SS, Patrum opuse. sel. XXXIII). I. Huemer, De Sedulii poetae vita et scriptis commentatio, Vindob. 1878. €. 2. Leim— bad, Eälius Sedulius und fein Carmen paschale, Goslar 1879.

13*

196 Dreizehntes Kapitel.

alle biblifchen Einzelheiten nachträgt, die er etwa in feinen Verſen vernach— läffigt oder verkürzt hat. Was er anftrebte, hat er im reichiten Make er: langt, nämlid eine große Volfstümlichkeit, jo daß fein Werk bis tief ins Mittelalter hinein meiterwirkte.

Durh ein Heineres Gedicht, den abecedariihen Weihnachtshymnus A solis ortus cardine, lebt Sedulius aud in der firdlidhen Liturgie fort. Dasſelbe unterſcheidet ſich durd feine Zartheit jowie die Anwendung des Reimes und feine mufifalifche Anlage jehr deutlih von den ambrofianifchen Hymnen.

A solis ortus cardine Adusque terrae limitem Christum canamus principem Natum Maria virgine.

Beatus auctor saeculi Servile corpus induit,

Ut carne carnem liberans Non perderet quos condidit.

Clausae parentis viscera Caelestis intrat gratia, Venter puellae baiulat Secreta, quae non noverat.

Domus pudici pectoris Templum repente fit Dei, Intacta nesciens virum Verbo creavit filium.

Enixa est puerpera

Quem Gabriel praedixerat, Quem matris alvo gestiens Clausus Ioannes senserat.

Faeno iacere pertulit, Praesepe non abhorruit, Parvoque lacte pastus est, Per quem nec ales esurit.

Gaudet chorus caelestium, Et angeli canunt Deum, Palamque fit pastoribus Pastor creatorque omnium !,

Vom Aufgang bis zum Niedergang Erjchalle Preis und Lobgejang

Dem Sohn ber Jungfrau Jeſu Chrift, Der aller Herren Herrſcher ift.

Der aller Welt das Dafein gab, In Knechtägeftalt fam er herab; Das Fleiſch im Fleiſche zu befrein, Heil den Gefall’nen zu verleihn.

Der Gnade Himmelsftrom ergoß Eid in ber Jungfrau reinften Schoß, Ihr Leib umſchloß das Gottespfand, Das der Natur war unerfannt,

Die Klauſe heil’ger Züchtigkeit

Hat Gott zum Tempel fich geweiht: Der unberührte Leib jofort

Empfing den Heiland durch das Wort.

Geboren hat bie keuſche Magd,

Den Gabriel vorausgefagt;

Dem, als ihr Shop ihn noch umſchloß, Johannes jauchzt' im Mutterſchoß.

Zum Lager wählt’ er ſich das Heu, Ruht' in der Krippe fonder Scheu; Er ward mit farger Mil geträntt, Der jelbjt dem Vogel Nahrung ichentt.

Hoch freuet fih der Engel Chor,

Laut ſchallt ihr Yubelfang empor; Als Hirte madt der Hirten Schar Der Herr der Welt fi offenbar ®.

Mie der Heidnifche Dichter Glaudian, der den Stiliho befang, noch am Anfang des Jahrhunderts mit einer Bildfäule auf dem Forum Trajans ge:

! Sedulii opera omnia (ed. I. Huemer) 163 164. Shlofjer, Die Kirche in ihren Liedern 12 100 101.

Die lateinifhe Dichtung unter ben fehten weſtrömiſchen Kaifern. 197

ehrt wurde, jo erhielt aud der Spanier Flavius Merobaudes, der ih zugleih als Rhetor und tüchtiger Kriegsmann auszeichnete, 435 ein eherned Standbild zu Rom!. Ihm wird ein Lobgediht auf Chriſtus in 30 Herametern (Proles vera Dei) zugeichrieben. Ganz ficher fteht jeine Berfafferfhaft in Bezug auf ein Lobgediht, das in 197 Hexametern, mit dem feierlihen Pathos Vergils das dritte Konfulat des Aëtius (446) feiert, ebenjo für Bruhftüde von vier andern Gedichten, von welden zwei dem Preiie Valentinians III. und feiner Familie gewidmet find? In Feinheit des Ausdrudes und Verſes tommt er Glaudian nahe. Man braucht darum nicht anzunehmen, daß er Heide geblieben iſt. Es iſt leicht erklärlich, daß neben der hriftlihen Kunftrihtung des Sedulius aud eine mehr antike fih noch länger forterhielt, ziwar nicht mehr dem Heidentum ſelbſt Huldigend, wohl aber deſſen hergebradhten mythologifierenden Formen. Ihren Haupt: vertreter fand diefe Rihtung an dem bornehmen Gallier Gajus Sollius Apollinaris Sidonius, 430 in Lyon geboren?. Schon der Großvater und der Vater, beide mit der Stelle eines Praefectus praetorio Galliarum befleidet, waren Ghriften. Das Hinderte nit, daß er felbft noch eine thetorifch-humaniftiihde Schulung erhielt, wie fie noch don den Zeiten des Aufonius her im Schwange war, mit entſchieden antiker Färbung. Poetiſch angelegt, erwarb er ſich nicht nur viele freunde von gleichtehendem Rang, jondern gewann aud die Gunft der höchſten Perfönlichkeiten. Avitus gab ihm feine Tochter zur Frau, und als er Kaiſer wurde, nahm er ihn (455) mit nad) Rom. Sidonius hielt im folgenden Jahre den üblihen Panegyrikus auf ihn und ward dafür mit einer Bildfäule in der Bibliothel auf dem Forum Trajans ausgezeichnet. Er wußte auch Majorian und jpäter Anthimus, die Nachfolger des Aoitus, zu gewinnen. Majorian zog ihn bei den feier- lien Spielen zu Arles in feine nächſte Nähe. Anthimus madte ihn zum Stadtpräfelten von Rom und erhob feine Familie zur patriziihen Würde. Als er ih dann, mit Ehren und Würden überhäuft, auf feine Güter im Lande der Urverner zurüdzog, wurde er (470) unerwartet vom Volke zum Bilchof begehrt und nahm, anfänglich widerwillig, die Wirde an. Er entjagte jetzt jo ziemlich der Poeſie und widmete fich feiner oberhirtlihen Aufgabe jo hingebend, daß er fi weit und breit eines hohen Rufes erfreute. Er farb nah 480.

! Die Inſchrift befagt: Viro, tam facere laudanda quam aliorum facta laudare praeeipuo. Corpus inseript. lat. VI, n. 1724 (anno 435).

® Fl. Merobaudis carminum panegyricique reliquiae ex membranis Sangallensibus editae aB. G. Niebuhrio, Bonn. 1824. 2gl. 6. Fabricius 763. Claudian. ed. Gesner 710; ed. Jeep II 202.

® Bebensabri besjelben von Th. Mommfen (Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi VIII xLıv—ıım).

198 Dreigehntes Kapitel.

Sidonius hat eine Sammlung von bierundzwanzig, zum Zeil ziemlich langen Gedichten und eine Brieffammlung in neun Büchern Hinterlaffen !. „sn gebundener Rede wie in Proja, mag er erzählen oder überreden, loben oder tadeln oder was immer für einen Gegenftand behandeln, überall herrſcht diefelbe glüdlihe und reichhaltige Darftellung und eine Mannigfaltigfeit der Sprade und des Ausdruds, daß eine bewundernswerte Geiftesfraft und eine reihe Gelehrſamkeit ſofort in die Augen fpringt.“? Er ift bei weiten geift- reicher, belefener und gewandter als etwa Aufonius, ein echter, lebendiger Gallier, dem das Wort in wunderbarer Leichtigkeit floß und der dennoch, mit feinem Formgefühl begabt, die Kunſt des Stils vielleiht nur allzujehr pflegte, um jpäter nüchternen Kritikern zu gefallen. Nicht gerade zum Vorteil gereichte es ihm, daß er fih Statius und beſonders Claudian zum Borbilde nahm. Dies war indes begreiflih genug. In feinem Panegyrikus auf Apitus läßt er mit Juppiter den ganzen alten Olymp aufmarjdhieren, um die von der Völkerwanderung hart bedrängte Roma zu tröften und an die Regierung feines Schwiegervaters die glänzendften Hoffnungen für die Zukunft zu fnüpfen. Wenn man jein Loblied auf Majorian lieft, meint man, es wäre ein neuer Auguftus in Sicht, der ſiegreich alle Völker unter den römifchen Adlern vereinigte?d. Auch den Anthimus feiert er mit wahrhaft welt: Hiftorifcher Grandezza, dab man kaum glauben follte, unmittelbar vor dem völligen Sturze des Reiches zu ftehen. Den nüchternen Kritikler mag das anmwidern. Aber wer wirklich poetiiches Gefühl Hat, wird fih dem Eindrud nicht verſchließen können, daß Sidonius ſich gerade als Dichter über den Sammer der Zeit Hinwegzutäufchen wußte und in wirklicher Begeifterung alle Reminiscenzen alter Größe zujammenframte, um das finfende Rom gleichſam nod einmal in bengalifche Beleuchtung zu rüden. Dem Schwieger: john eines Kaiſers und einem Stabtpräfelten von Rom find dieje ftolzen Träume nicht zu verübeln *.

Daß Sidonius ala Biſchof jenen Träumereien und der Poefie über: haupt jo ziemlich entjagte, macht feinem gefunden Sinne alle Ehre; daß er nicht jofort alle Schwächen eines früheren Hofpoeten und Rhetors abftreifte, begreift fih. Läßt fi aud feine Korreſpondenz durchaus nit als ein

! Ausgaben von J. SirmondS.J., Paris 1614 1652; abgebrudt bei Migne, Patr. lat. LVIIT; Baret, Paris 1879; Chr. Lütjohann, Berlin 1887 (Monum, Germ. Hist. Auctores antiquissimi VII); P. Mohr, Leipzig 1895. M. Fertig, Sidonius und feine Zeit, Würzburg 1845/46. L. A. Chaix, S. Sidoine-Apollinaire et son siöcle, Clermont-Ferrand 1867/68.

? So urteilt Sirmond, Vita 8. Sidonii Apollinaris (Migne a. a. O. LVIII 442). > Migne.a. a. ©. LVIU 672 #; bei Lütjohbann a. a. O. 187—202.

+ Wie das Ebert (Geſchichte der Literatur des Mittelalters * 425) tut.

Die lateinifche Dichtung unter den lekten weſtrömiſchen Kaijern. 199

erihöpfendes Bild feines biſchöflichen Wirkens betrachten, jo ſpricht aus den fein gejchniegelten Briefen doch ein raſtlos wirkſamer, liebevoller, gütiger, verftändiger und mohltätiger Mann, der in jenen entjeglichen Zeitläuften viele Tränen getrodnet, viel Gutes geftiftet, dabei fih und andere auf ber Höhe einer feinen literariihen Bildung erhalten Hat. In einem Brief an Philagrius? zeichnet er ſich alſo:

„Du liebſt, wie ich vernehme, die Ruhigen; ich fogar bie Trägen. Du meibeft bie Barbaren, weil fie für ſchlecht gelten; ih, auch wenn fie gut find. Du ver- wenbeft Fleiß auf die Lefung; auch ich erlaube ber Trägheit nicht, mir hierin zu Ihaden. Du ftellft die Rolle eines religiöfen Mannes dar; ich fogar beffen Bild. Du verlangft nicht fremdes Gut; ich halte es ſchon für einen Gewinn, wenn ih bas meinige nicht verliere. Du freuft dih am Umgang mit Gelehrten; ich nenne eine noch jo große Menſchenmenge, ber es an literarifcher Bildung fehlt, die größte Ein- ſamkeit. Es heißt, du jeieft ſehr fröhlih; auch ich halte alle Tränen für verloren, außer jenen, welde man im Gebete vor Gott weint, Dan fagt, du feieft überaus zuvorfommend; aud vor meinem bejcheidenen Tiſch ift noch feiner erichhroden wie vor einer Polyphemshöhle. Man jagt dir die größte Milde gegen beine Diener nad; auch ich quäle mich keineswegs, wenn die meinen nicht fo oft gequält werden, als fie fih verfehlen. Man muß von Zeit zu Zeit faften? Ih jüume nicht, mit- zutun. Dann auch wieder fpeifen? Ich ſchäme mich nicht, darin voranzugehen. Schenkt mir übrigens Chriftus die Gnade, dich felbft zu ſehen, jo werde id) mid freuen, daß ih nun auch das Geringere an dir fernen lernen werde. Was aber das Wichtigere ift, das kenne ich ſchon genügend.“

Der Übergang des Sidonius in die Reihen des Klerus ift einigermaßen typiſch für die Zeitlage. Vor der zunehmenden Macht der Barbaren flüchtete die antife Bildung zur Kirche. Sie allein konnte ihr noch Schuß gewähren und hat ihr Schuß gewährt.

Zu dieſen Rettern gehört auch Alcimus Ecdicius Abitus, glei Sidonius der Sprößling einer vornehmen galliihen Familie. Im felben Jahre, in welchem Sidonius Bifhof von Clermont-Ferrand ward (470), wurde er als Nachfolger feines Vaters auf den biſchöflichen Stuhl von Vienne berufen. „Biſchof Avitus“, jo meldet Iſidor von ihm, „in allen weltlichen Miffenihaften wohl bewandert, gab fünf Bücher in heroiſchem Versmaße heraus: das erfte von dem Urſprung der Welt, das zweite von der Erb: fünde, das dritte von dem Urteil Gottes, das vierte von der Sintflut, das fünfte von dem Zuge durchs Note Meer. Er jchrieb auch an feine Schwefter Fuscina ein Buch von der Yungfräulichleit, in einer herrlihen Dichtung abgefaßt und mit einem eleganten Epigramm verſehen.“ Aus jeinen Briefen ift erfichtlih, daß er im Intereſſe des Ehriftentums alsbald mit den Fürften

'Sidonii Ep. lib. 7, ep. 14 (Migne a. a. ©. LIII 585); bei Lüt— johann aa. O. 121 122.

? 8. Isid., De viris illustribus e. 26 (Migne a. a. ©. LXXXII 1101).

200 Dreizehntes Kapitel.

der neuen Bölfer in Fühlung trat, welche fi in die Erbſchaft des unter: gegangenen weſtrömiſchen Reiches teilten. In einem ſchönen Briefe beglüd- wünſcht er Chlodwig zum Empfange der Taufe, die dabei ergreifend be— jhrieben wird, und fordert ihn auf, das Chriftentum zu ſchirmen. Mehrere jeiner Briefe find an den Burgunderfönig Gundabod und an deſſen Nach— folger Sigismund gerichtet, der 523 ftarb und den er noch um zwei Jahre überlebt zu haben ſcheint. Er wurde nad) feinem Tode als Heiliger verehrt.

Bon den zahlreihen Bearbeitungen, melde der Anfang der Biblifchen Geſchichte bis dahin gefunden, ift die ſeinige die freiefte, jelbftändigfte, nicht nur in der Form, jondern aud dem Stoffe nad) poetifch durchgearbeitet. Die erſten drei Gejänge entjprechen einigermaßen einem „Verlorenen Paradies” der erfte bejingt das paradiefiihe Glüd der Stammeltern, der zweite den Sündenfall, der dritte die Folgen der Sünde. Die Sinflut, d. 6. die Rettung Noes aus derjelben und der Zug durchs Note Meer (die den In: halt des vierten und fünften Buches bilden), find typiſch als Sinnbild der Zaufe aufgefaßt, durch welche der Menſch von der Erbſchuld befreit, das verlorene Paradies wiederum zurüdgewonnen wird. Damit ift ein tief poetiiher Zujammenhang der fünf Bücher hergeftellt !.

Das Gedicht „über die Jungfräulichkeit“ Hat Avitus als privates Gelegenheitsgedicht für jeine Schwefter verfaßt, die bon der Mutter jchon mit zehn Jahren zu fteter Jungfrauſchaft beftimmt wurde. Nur auf in: ſtändige Bitten teilte er es dem Biſchof Apollinaris, einem Sohne des Apol- linaris Sidonius, mit, dod bloß zur Zirkulation in vertrauten reifen. Es ift ungemein herzlich gedacht, aber die Miſchung antifen und bibliſchen Schmudes wird nicht jedermann zufagen, obwohl das Gedicht im Mittelalter viele Be: wunderer fand. In dem DBegleitihreiben an Apollinaris jagt er übrigens: „Unjerem Stande und nunmehr unferem Alter fommt e& zu, wenn etwas zu ſchreiben ift, Zeit und Mühe auf ernften Stil zu verwenden und ung nit darin aufzuhalten, was durch Beobachtung des Silbenmaßes wenigen Kennern harmonisch Eingt, fondern was durch wohlbemefjene Begründung des Glaubens vielen Leſern dienen mag.“ ?

Die profane Schulbildung jener Zeit war im ganzen weſentlich noch diejelbe, wie fie fich bereits in den Rhetorenſchulen der früheren Kaiſerepoche ausgebildet und in der merkwürdigen Schrift des Martianus Gapella „Über die Hochzeit der Philologie und des Merkur“ noch zu

! Ausgaben von J. Sirmond 8. J., Paris 1643; abgebrudt bei Migne, Patr, lat. LIX; R. Peiper, Berlin 1885 (Monum. Germ. Hist. Auctores anti- quissimi VI 2). P. Parizel, De vita et scriptis S. Aviti, Lovanii 1859. V.Cucheval, De S. Aviti Viennae episc. operibus, Paris 1868. A. Charaux, Saint Avite, eväque de Vienne, sa vie, ses @uvres, Paris 1876.

2 Migne.a.a. ©. LIX 370; bei Peiper a. a. O. 275.

Die lateinifhe Dichtung unter ben letzten weftrömifhen Kaifern. 201

Lebzeiten des Hl. Auguftin (etwa zwiſchen 420—427), jedenfall® nod vor dem Einbrud der VBandalen in Afrika, ihren literariichen Ausdrud gefunden hatte!. Der Berfaffer war, wie der hl. Auguftinus, ein Afrilaner aus Madaura. Nichts in feiner Schrift verrät, daß er Chrift geweſen wäre; er fteht dem Ehriftentum indes auch nicht feindlich gegenüber, jo daß feine Schrift bis tief ind Mittelalter hinein zum Schulbuch, vielfach zur einzigen Grundlage des profanen Echulunterrichts werden konnte.

Sie befteht aus neun Büchern, von welden die erften zwei eine alle: goriihe Erzählung als Einleitung enthalten, die andern fieben dann, ebenfalls in allegoriihem Gemwande, die jog. fieben freien Künſte (des jpäteren ſog. Trivium und Quadrivium) harakterifieren. Das Ganze ift in Yorın einer jog. Menippeiihen Satire gehalten, d. 5. abwechjelnd in Verſen und in Profa, doch mwaltet die Proja vor, und zwar eine jehr gezierte, gefünftelte und überladene, die an Apulejus erinnert.

Der Fern der einleitenden Fabel ift: dap Merkur, nah dem Vorbild der andern Götter, fih nad) einer Gattin umfieht. Da es ihm nicht glüdt, die Sophia (Weisheit), noch die Mantike (Wahrjagung), noch die Pine (Seele) zur Braut zu befommen, wendet er fih durch Virtus (die Tugend) an Apollon, und diefer ſchlägt ihn die gelehrtefte aller Jungfrauen, die Philologia vor, die, aus uraltem Gejchleht, mit den Wundern des Parnaſſes wie mit den Schreden der Unterwelt, mit den Ratihlüffen des Zeus, mit den Bahnen der Sterne und den Tiefen des Meeres vertraut, kurz alles Willen in ſich verförpert. Merkur läßt fi den Vorſchlag gefallen und zieht mit feiner Heiratsvermittlerin und der von ihr empfohlenen Braut über die Milchſtraße, unter dem Gefang der Sphären, zu Juppiters Palaft, um deifen Einwilligung einzuholen. Juppiter trägt Bedenken. Auf den Rat der Pallas beruft er immerhin alle verheirateten Götter und die älteren Göttinnen zur Beratihlagung. Unter denſelben befinden fich nicht bloß die alten, allbefannten Potentaten, jondern auch die abſtrakten Wejen der jpäteren alerandrinijchen PVoeterei, wie Valitudo, Verisfructus, Geleritas; nur Discordia und Seditio bleiben ausgejhloffen. Der Götterjenat entjcheidet fi für die Heirat und verlangt nur, daß Philologia zur Göttin erhoben und der Götterbeihluk durch die Philofophie in ehernen Tafeln eingegraben und der Welt fundgemacht werde.

Im zweiten Buch wird dann die Vorbereitung zur Hochzeit gejchildert. Die Braut hat anfänglich noch Bedenken, einem Gott ihre Hand zu reichen; allein allerlei Zahlenberechnungen, die auf feinem Namen fußen, geben die Berfiherung, daß die Ehe glüdbringend fein wird. Die Mutter Phronefis

! Ausgaben von F. B.Bodianus (Editio princeps), Vicenza 1499; B. Bul« canius, Bajel 1577; 9. Grotius, Leiden 1599; 1.9. Kopp und C. F. Her- mann, Frankfurt 1836; F. Eyßenhardt, Leipzig 1866. Vgl. Ebert, Ge— ichichte der Literatur bes Mittelalters I? 483—485.

202 Dreizehntes Kapitel.

jelbft übernimmt es nun, fie zu ſchmücken, und legt ihr ihren eigenen Gürtel um. Die neun Mufen und die vier Kardinaltugenden kommen zur Be: grüßung herbei. Die drei Grazien füflen fie auf Stirne, Mund und Bruft, um ihren Bliden, Worten und Gefinnungen Huld zu verleihen. Athanafia (die Unfterbliche), die Tochter der Apotheofis, übernimmt das Ehrengeleit. Da die Braut aber für das ätherifche Leben im Olymp nicht ſchlank genug it, muß erſt eine nicht eben äfthetifche Entfettung vorgenommen werben: unter nicht geringer Anftrengung erbricht fie eine Menge von Büchern, welche von den Künſten und Wiſſenſchaften, unter Beihilfe der zwei Muſen Urania und Salliope, zufammengelefen werden. Seht erſt kann die Braut eine Sänfte befteigen, welche fie in die himmlifchen Regionen Hinaufträgt. Am Eingang derjelben bringt fie der Juno Pronuba ihr Opfer dar und wird von derjelben dann weiter durch den Äther geleitet und mit dem ganzen Planetenkreis befannt gemadt. Endlich lenken fie in die Milchſtraße ein, gelangen zu Juppiters Palaſt und werden bon den Göttern empfangen. Merkur erhält feinen Pla neben Pallas, PHilologia läßt ſich beicheiden bei den Mufen nieder. Auf Begehren ihrer Mutter wird aber die Lex Poppaea verlejen, jofern diejelbe die Veräußerung der Brautausftattung verbietet, und darauf die Hochzeitsgaben überliefert. Zu diejen gehören fieben Mägde, welche Phöbus der Reihe nad vorführt. Das find die fieben freien Künſte, welche jpäter zum Trivium und Quadrivium vereinigt wurden; zum Trivium 1. Grammatit, 2. Dialektik und 3. Rhetorik; zum Ouadrivium 4. Geo- metrie, 5. Arithmetil, 6. Aftronomie und 7. Mufit (Harmonie). Nahdem eine allgemeine Schilderung der fieben Schönen mit ihren Altributen gegeben, trägt in den folgenden fieben Büchern jede einzeln einen turzen Abriß ihrer Lehrweisheit vor, wobei die Götter gelegentlich mitſprechen, die Jungfrauen zum Reden auffordern, auch wohl unterbrechen und jogar bisweilen ihre Qangeweile kundgeben. Zuletzt melden ſich noch zwei andere Sungfrauen, die Medizin und die Nrdhiteltur. Aber e3 iſt zu fpät am Abend geworden. Sie werben abgewiejen. Nachdem die Mufik ihren Vortrag geichloffen, «folgt noch ein Schlummerlied, das Brautpaar wird zum Hochzeits— gemad) geleitet, und der Verfaſſer verabſchiedet fi) von feinen Lejern. Das Barode der ganzen Schrift wie einzelne Geſchmacloſigkeiten ihrer Alegorien fpringen in die Augen. Noch jchroffer tritt dieſe allegorifche Auf: fafjung des antiken Mythus in zwei Werfen hervor, weldhe ein Landamann des Martianus Gapella, der Grammatifer Yulgentius in Karthago, etwa zu Beginn des jechiten Jahrhunderts verfaßte: Die drei Bücher Mythologie (Mythologiarum) und die Virgiliana Continentia!. So komiſch all

Mythographorum latinorum tomus II, compleetens Fabii Plauciadis Fulgentii Mythologias, Continentiam Virgilianam etc, (ed. Muncker), Amstelod. 1681.

Die lateinische Dichtung unter den letzten weſtrömiſchen Kaijern. 203

dieje Bücher auf den modernen Leſer wirken mögen, jo war dod) die Schrift des Martionus Gapella gar nicht übel dazu angetan, der Jugend jener Zeit ftatt an trodenen Tabellen in faßliher und amregender Weife eine Überſicht der verfhiedenen Wiſſenszweige zu geben, joweit fie damals Gemeingut der Bildung geworden waren, und um an dieje encyklopädijche Überſicht in poetiſch-allegoriſcher Form einen genauen, ſachlichen Unterricht in den einzelnen Disziplinen zu fnüpfen, natürlich mit Zuziehung der be- möährteften Autoren, wie 3. B. des Gicero und Quintilian für die Nhetorif, des Bergil und anderer Dichter für den poetifhen Stil. Dabei wurde durch jene vielfach komiſche Allegorie keineswegs die Philologie als Inbegriff alles Wiſſens vergöttert, jondern vielmehr die ganze alte Götterwelt auf die Schul: bank Herabgedrüdt. Die Götter wurden aus Göttern in allegoriſche Fabel— geftalten, in rhetoriſch-poetiſche Schmudfiguren umgewandelt. Der Gefahr des Polytheismus war damit die Spite abgebrochen, und die jungen Ehriften fonnten getroft mit der antifen Literatur und ihren Götterfabeln befannt gemacht werden. Die formelle Profanbildung kam in feinen Konflikt mehr mit dem Glauben,

Sp fonnte die Kirche die Profanbildung vorläufig getroft den Rhetoren- jhulen und Grammatifern überlaffen. Sie hatte feinen Auftrag erhalten, jeldjt alle profanen Wiffenszweige zu lehren, jondern nur für Die religiös: fittlihe Erziehung der Menſchen zu forgen und das Profanmwiffen durch ihren Einfluß zu heiligen und vor Verirrungen zu bewahren. Aus den zahlreihen Kirchenſchriftſtellern des vierten, fünften und ſechſten Jahrhunderts ift zu erjehen, daß fie fait ausnahmslos durch die damaligen Rhetorifjhulen eine für ihre Zeit jehr umfaffende Profanbildung erhielten und wohl hie und da in ihren jungen Jahren in Gefahr famen, einer etwas weltlichen, aber feineswegs einer eigentlih heidniſchen Richtung anheimzufallen. Bei den meiften finden wir, daß dem profanen Unterricht eine Fromme, chrifiliche Familienerziehung vorausging, das kirchliche Leben ſelbſt aber für eine ftete Fortſetzung religiöfer Belehrung und religiöjen Einfluffes forgte, jo daß der antit gefärbte Profanunterricht der religiöjen Gefinnung nicht den mindeſten Abbruch tat, wenn aud die Sprade der Bibel und der hriftlihen Predigten die Hajfiichen Erinnerungen aus den Privatbriefen, Gelegenheitsreden, Rede— übungen und Dichtungen nicht verdrängte.

Liber absque litteris de aetatibus mundi et hominis, auctore F. Cl. Gord. Fulgentio (ed. I. Hommey), Paris. 1694. Zint, Der Mytholog Fulgentius, Würzburg 1867,

204 Bierzehntes Kapitel.

Bierzehntes Kapitel, Die Hrifllid-Lateinifhe Literatur im oftgotifhen Weide.

Fünf Jahre nachdem Sidonius Apollinaris den Kaifer Anthemius jo feierlich bejungen, ward derjelbe von den Scharen Ricimers befiegt und ge- tötet; nad) vier weiteren Jahren ward Romulus Auguftulus von Odovafar abgejegt und die Herrlichkeit des altrömijchen GCäfarenreiches für immer zu Grabe getragen. Abermals nad vielen verhängnisvollen Wirren verdrängte der Oſtgote Theodorih d. Gr. den fühnen Herulerfürften und errichtete über den Trümmern Weftroms das Reich der Dftgoten, deffen Hauptii Ravenna, zeitweilig Verona wurde. Trotz aller Verheerungen durd Krieg und Plün- derung bewahrte Rom noch einen Reſt feines früheren Glanzes, der die germanischen Sieger mit Achtung und Bewunderung erfüllte. Theodorich war ein groß angelegter Geift. Er ließ die römischen Einrichtungen, Ver: faffung und Verwaltung mit geringen Abänderungen fortbeftehen. Ex er: nannte Konſuln, Patrizier und Senatoren, zog angejehene Römer in feinen Rat und in die hervorragendften Beamtungen. Auch die hergebrachten Bildungsanftalten blieben beftehen und wurden in Italien aus Staats- mitteln weiter unterflüßt. So konnte auch die bisherige Geiftesbildung und Literatur ihr Daſein weiterfriften, zumal fie an der Kirche, an Papft, Bi: ihöfen und Prieftern, einen Halt fand troß der Bedrängniffe, welche in jener Zeit auch das kirchliche Leben zeitweilig hemmten und bedrohten.

Einen vieljeitigen Einblid in dieſe wechjelvolle Übergangszeit gewähren uns die Schriften des Magnus Felir Ennodius, Biihofs von Pavia!. Stellt ſich Sidonius Apollinaris als der lebte Hofdichter des altrömijchen Kaifertums dar, jo könnte man Ennodiuß den erften galliihen Humaniſten nennen, der ſich im den Dienft des Heiligen Stuhles ftellte. Denn wie Sidonius ſtammte auch er aus dem füdlihen Gallien, 474 in Arles ge boren. Er fam aber früh nad Oberitalien und bildete fih zum Rhetor aus, Nachdem ſich jeine Verlobung mit einer reihen Braut zerihlagen, diefe den Schleier genommen hatte, trat er in den geiftlihen Stand und wurde in Mailand zum Dialon geweiht. Er erzählt dies jelbft in einer Art Belenntnis in Gebetsform, welche den Belenntniffen des hl. Auguftin nachgebildet if. Als Diakon wohnte er 501 der Synode zu Rom bei, welche für den eben erwählten Bapft Symmachus und die Rechte des Primats

! Ausgaben: Editio princeps, Bajel 1569; von J. Sirmond S. J., Paris 1611 1696 1728; danach bei Migne, Patr. lat. LXIII; von 6. v. Hartel, Wien 1832 (Corpus script. eccl. lat. Vl); $r. ®ogel, Berlin 1885 (Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi VII). Fertig, Magnus Felix Ennobius und feine Zeit, Paflau 1855. Magani, Ennodio, 3 Bde, Pavia 1886,

Die Kriftlich-Tateiniiche Literatur im oftgotifchen Reiche. 205

gegen deſſen ſchismatiſche Gegner eintrat, und verteidigte dann die Ent: jheidung der Synode gegen neue Angriffe in einer energiſchen, jchlagfertigen Schrift. Obwohl zu Rom mit dem Papſte felbft und deſſen vornehmiten Anhängern perſönlich befannt geworden, fuhr er nad feiner Rücklehr fort, in Mailand junge Leute in der Beredfamfeit zu unterrichten. In einer der oberitaliihen Städte wurde ihm die Ehre zu teil, auf König Theodorid) jelbjt eine Lobrede zu halten, die ſowohl deifen Waffentaten als wohlwollende Schonung, Interefie für höhere Kultur, Kunft, Wiſſenſchaft und Religiofität in begeifterten Worten feiert. Im Jahre 512 erhielt er den Biſchofsſitz von Pavia (Tieinum). Papft Hormisdas, den er ſchon als Diakon fennen gelernt und dem er jeine Erhebung zum Papſt einft in einem Briefe voraus- gejagt, jandte ihn zweimal (515 und 517) nad Konftantinopel, um dajelbft den Sailer Anaftafius für eine Wiederbereinigung der Griechen mit ber römischen Kirche zu gewinnen. Ennodius farb 521, von dem Volke zu Pavia innig betrauert, ala Biſchof wie als Redner und Schriftiteller hoch— angejehen. Außer den bereits genannten enthalten feine gefammelten Schriften eine geichichtlich jehr bedeutfame Lebensbeichreibung feines Vorgängers, des Biſchofs Epiphanius don Ticinum, ein Lebensbild des Hl. Antonius, eines Möndes von Lerin, zwei merkwürdige, poefievolle Gebetäreden auf die Oſter— ferze, ein kulturgefchichtlich interefjantes Bittgefuh um Befreiung eines Sklaven, achtundzwanzig ziemlich kurze Reden (Dietiones), zum größeren Teil rhetorifche Schul- und Übungsftüde, einen pädagogijchen Unterriht an zwei vornehme Jünglinge, Ambrofius und Beatus, und endlich eine ftattliche Brieffammlung in neun Büdern.

Der Briefwechſel leidet an der phrajenhaften Schönrednerei, wie fie bereits die Rhetorik Ciceros und Duintilians herangezogen, die gallijche Schule nicht unerheblich verjchlimmert hatte; aber er zeugt doch von viel— jeitiger Bildung, feinem Geſchmack und einer geradezu bewundernswürdigen filiftiichen Gemwandtheit und würde noch weit interefianter fein, wenn die meiften Briefe nicht jchon vieles als befannt vorausſetzten, was ſich jet nicht mehr genauer bejtimmen läßt. Wir fehen Ennodius in vertrauten Berkehr mit Verwandten und Freunden in Gallien, mit hohen Staatsbeamten in Ravenna, mit Rhetoren und Grammatitern in Gallien und Italien, mit Biihöfen und Äbten aus beiden Ländern, mit einer Menge von Pa- triziern und Senatoren. Er hat jogar Beziehungen am burgundijden Hofe, ihreibt einen Troſtbrief an die Bifchöfe, melde von den Bandalen aus Afrika vertrieben worden waren, und beglüdwünjht den Vandalenkönig Thrafimund, als diefer den Katholiken Frieden und Freiheit zurüdgab. Den größten Raum in Ennodius’ Briefwechſel nimmt jedoch ein Kreis hoch— ftehender Perfönlichfeiten ein, melde den vornehmften Geſchlechtern Roms angehören. In ihrer Mitte treffen wir den regierenden Papſt Symmahus

206 Vierzehntes Kapitel.

(498— 514) und feinen jpäteren Nadhfolger, den Dialon Hormisdas (Papſt von 514— 523), den Prieſter Adeodatus, den früheren Konful Yauftus, den treueften Anhänger des Papſtes Symmachus in feinen Kämpfen gegen das Schisma des Laurentius, die Söhne des Fauſtus, Avienus und Mefjala, jeine Schwefter Stephania, Gemahlin des Konfulars Afterius, den Aſterius jelbft, den Konfular Gethegus und deſſen Schwefter Blefilla, bejonders aber den gelehrten Senator und Konful Boöthius. Aus den Briefen ift erfichtlidh, daß ih im diefen vornehmen Freien der höchflen römischen Geſellſchaft religiöfe und kirchliche Gefinnung mit der feinften gejelligen Bildung und großem Interefje für Literatur und Wiſſenſchaft verband. Auch hochitehende Damen, wie die genannte Stephania und eine Domna Barbara, nahmen an jenen geiftigen Beftrebungen teil. Ja Ennodius war befonders bemüht, jüngere Leute in diefem Sinne und Geifte heranzuziehen.

Sehr intereffant ift in dieſer Hinficht die erwähnte pädagogiſche Anz feitung, welche er zwei Jünglingen, vermutlich feinen Schülern, bei ihrem Abgang auf eine höhere Schule (ad disciplinarum arcem), d. h. nad Rom ſelbſt, mit auf den Weg gibt, zum Zeil in Verſen, zum Zeil in Proja, eifrigft bemüht, zu feinen Präzepten in beiden Formen auch Mufter zu liefern!, Es ift hier nicht eine Spur von jenem SHeidentum, das man bei Ennodins hat finden wollen, vielmehr haben wir genau ſchon jenen chriſt— lihen Humanismus vor uns, der ſich bei den Pädagogen des ausgehenden Mittelalters und im 17. Jahrhundert in fait identischen Formen wiederfindet.

Was er den jungen Leuten vor allem einjhärft, ift Beſcheidenheit (verecundia), Keuſchheit (castitas) und Glauben (fides). Die doppelte Empfehlung in Profa und Vers mag gefünftelt erfcheinen, aber der Kern ift gefund. Die Strophen, welche er die Fides ſprechen läßt, zeichnen die erhabene Gefinnung, mit welcher Boäthius lebte und in den Tod ging:

Qui cupit caelo sociare terram,

Linquere et luxae vitium parentis,

Me petat, certum decus et coronam Muneris alti.

llle nee dirum metuit tribunal,

Nec per urbanos volitat potentes,

Conscius recti tenet inter 'undas Stagna salutis,

Barbarum quamvis tumeat Gelomus,

Parthica et latret Morinus figura,

Omne, quod mundi rabies susurrat, Despieit, arcet.

! Ennodii Opusc. VI. Paraenesis didascalia ad Ambrosium et Beatum ' (Migne, Patr. lat. LXIII 249—256; ®ogel in Mon. Germ. Hist. 310—315).

Die chriſtlich⸗-lateiniſche Literatur im oftgotifchen Reiche, 207

Intrat excelsi penetrale regis,

Ditium tutus manet in ruinis,

Ille nec legem patitur sepulcri Nec mala vitae.,

Zu der religiögsfittlihen Bildung muß fih dann der Studienfleiß ge- jellen, als Grundbedingung jener formellen Bildung, durch welde die Tugend erft ihre würbige Faſſung, der Edelftein feinen feineren Schliff erhält. Gram— matit und Rhetorik ala Quinteffenz der unteren Schulbildung werden wieder in Berfen verherrliht. Die „Grammatik“ läßt er gemütlich jagen:

Mentibus damus saporem, dum polimus fabulas. Indicem tenemus aequum, si quid errat parvulus. Abstinens manu pudorem aure et ore verbero. Quidquid ars habet pavendum, ars loquendi temperat, Cum pusillis et iocamur inter ipsa dogmata.

Nam iubet rigor magister, ne per omne terreas.

Die „Rhetorik“, welche die Feſſeln des Gefangenen löft, den ganzen Senat umftimmt, die Urteilätraft jelbjt gefangen nimmt, ſtimmt natürlich volltönende Akkorde an und verfteigt fih jogar zu der fühnen Berfiherung:

Qui nostris servit studiis, mox imperat orbi. Nil dubium metuens ars mihi regna dedit.

Zum Schluß empfiehlt er feine Schüßlinge an die befte römische Ge- jellihaft, deren Umgang ſchon bildend wirken wird, aus der alles Unwürdige ausgejhloflen, unter andern an den berühmten Patrizier Boöthius, an die Patrizier Gethegus, Feſtus, Symmadhus, Probinus, an mwürdige und bor- nehme Damen, welde er als leuchtende Mufter jeder Tugend ſowie der feinften gejelligen Bildung ſchildert.

Die Heidniihe Richtung in der höheren römiſchen Gefellihaft, gegen welche Ambrofius und Prudentius noch jo entſchieden hatten ankämpfen müffen, war aljo überwunden. Was die antike Bildung Schönes und Gutes bot, Hatte fih chriſtlichen Anfhauungen und Zielen untergeordnet. Die altflajfiihe Literatur war nur mehr ein Bildungsmittel im Dienfte eines Hriftlihen Humanismus. Die intime Beziehung aber, im welcher Ennodius zu den Päpften Symmahus und Hormisdas ftand, berechtigt zu der An- nahme, daB ſich diefe Wendung nicht nur unter den Augen, fondern aud) unter dem Einfluß des Papſttums vollzog.

Ennodins hat aud zwei Bücher Gedichte Hinterlaffen, von denen das eine einundzwanzig nicht eben jehr umfangreiche Gedichte, daS andere hundert— einundfünfzig Epigramme enthält. Von den erfteren find elf Hymnen, in Form und Umfang genau den Hymnen des Hl. Ambrofius nadgebildet, vermutlich mit der Abſicht, daß fie ebenfalls in der Liturgie Verwendung finden möchten.

208 Vierzehntes Stapitel.

Diefe Ehre ift ihmen nicht zu teil geworden. Sie haben aud weder die bewundernswerte Kraft noch die Hare Gliederung der ambroſianiſchen Hymnen, und der meift etwas gejuchte, gefünftelte Ausdrud ftimmt ſchlecht zu der jonft jo einfaden Form. Ein gewiffer poetijcher Hauch läßt ſich ihnen jedoch nicht abſprechen. Glüdlicher ift Ennodius jedenfalls in feinen Gelegenheitsgedichten, in deren antik Haffifcher Form er ſich gemwandter bewegt und in melden auch rhetoriishe Schwächen weniger auffallen. Ein rechtes Renaifjanceftüd it das Epithalamium auf Marimus, jo frei und fed, dab es heutzutage faum eine riftlihe Zenfur paffieren würde und daß es aud von Neueren als geradezu heidniſch angejehen worden iſt. Eine ſolche Auslegung ift nad allem, was wir von feinem Leben wiffen, durdaus ausgejchloffen !. Auch unter den Epigrammen finden fi) einige Derbheiten, die fih aus den Verhältniffen und dem Geihmad jener Zeit erflären, ohne daß man an dem fittlihen Ernfte eines Mannes irre zu werden braucht, der voll Andacht für den hl. Ambrofius ihm nadeifern wollte:

Cantem quae solitus, dum plebem pasceret ore, Ambrosius vates carmina pulchra loqui.

Bei weitem bedeutender als Ennodius war für die Weiterentwidlung der abendländifchen Literatur der berühmte Patrizier Boſthius, an den fieben Stüde feiner Brieffammlung gerichtet find?, mit feinem vollen Namen Anicius Manlius Torquatus Severinus Boöthius, Sohn des gleihnamigen Patriziers, der in Jahre 487 das Konſulat bekleidete. Er wurde um das Jahr 480 geboren und wahrjdeinlid, da der Vater früh ftarb, von deſſen Freunde Symmahus auferzogen, mit deifen Tochter Rufticiana er ſich dann au jpäter vermählte. Durch feine ungewöhnlichen Anlagen und Studien: erfolge zog er früh die Aufmerkjamkeit des Gotenfönigs auf fih, der ihn ſchon vor 507 zum PBatricius erhob, mit ehrenvollen Sendungen betraute und 510 zum Konſul ernannte. Dur feinen Einfluß gelang es ihm wiederholt, einzelne und jogar ganze Provinzen vor der Begehrlichkeit und den Bedrüdungen hoher Kronbeamten zu jchirmen?. Noch 522 ftand er bei Theodorih jo hoch in Gunft, daß derfelbe feine zwei Söhne Patricius und Hypatius, die noch im Snabenalter ftanden, gemeinfam mit dem Konjulat bekleidete, eine Ehrung, wie fie bis dahin feiner römischen Familie zu teil geworden. Nicht lange danach gelang es feinen Widerjadhern, ihn

! Deutlih genug ſpricht er feine tief religiöfe Auffaffung der Ehe in dem Be- gleitfhreiben aus (Epist. lib. 8, epist. 10 [Migne, Patr. lat. LXIII 136; Bogel in Mon. Germ. Hist. 275 276]). ®gl. Epist. lib. 7, epist. 20—23 (Migne a. a, 0. LXIII 123—126).

® Epist. 6, 6; 7, 13; 8, 1 21 36 37 40.

® De consolatione philosophiae c. 1, pros. 4 (Migne a. a. ©. LXII 616 f).

Die KHriftich-lateinifche Literatur im oftgotifchen Reiche. 209

bei Hofe zu verdächtigen. Als fein freund, der Konjular Albinus, von dem Referendar Cyprian wegen hochverräteriiher Beziehungen zum byzan- tiniſchen Hofe angellagt wurde, trat er mit feiner gewohnten Offenheit für ihn ein und erflärte rund Heraus: wenn Albinus eine Schuld treffe, fo treffe fie gemeinfam auch ihn und den Senat. Er murde jebt ftaats- berräterijcher Umtriebe und des Sakrilegiums angeflagt, feftgenommen und in Pavia eingeferfert. Dort ward ihm noch Muße beſchieden, das be- rühmtefte feiner Werke, die fünf Bücher „Vom Trofte der Philofophie” zu ihreiben. Dann ließ ihn Theodorich ohne Prozeß und Verteidigung in agro Calventiano (524 oder 525) mit Anwendung von Folterqualen hinrichten!.

Diefe Ihroffe Wandlung des Oftgotenkönigs wird hauptſächlich darauf zurüdgeführt, daß ihn die Verfolgung der Nrianer zu Byzanz aufs tieffte erbitterte. Im Jahre 523 erließ nämlich Kaifer Juftin auf Betreiben jeines Neffen Juftinian ein Dekret, welches alle Kirchen der Arianer den Katholiken übergab und fie aufforderte, zur katholiſchen Kirche überzutreten. Von feinen verfolgten Glaubensgenoffen zu Hilfe gerufen, forderte Theodorih den Papft Johannes auf, felbft nah Konftantinopel zu reifen und die Zurüdnahme jenes Ediftes zu erwirfen. Da der Papft diefe Zurüdnahme nicht er- wirkte, erzürnte der König und war nun leicht den Einflüfterungen zu— gänglih, daß fih in Rom ſelbſt eine Verfhmwörung gebildet habe, um mit Hilfe des Kaiſers das Jod der Goten abzufchütteln. So wurde der Papft eingeferfert und ftarb 526 im Gefängnis. Boöthius und Symmachus wurden hingerichtet. Das Boll von Pavia verehrte den gelehrten Konful al3 Heiligen und Märtyrer.

Wie die Bildung, jo war aud) die jchriftftelleriiche Tätigkeit des Boöthius eine jehr univerjelle?. Als Staatsmann beſaß er jene rhetorifchen und juri: ſtiſchen Kenntniffe, welche für diefe Laufbahn unerläßlich waren. Er intereffierte fih aber ſchon in feinen jüngeren Jahren auch fehr für Theologie und war im ftande, über bie ſchwierigſten Fragen auf diefem Gebiet Abhandlungen zu jchreiben, welche ihm die Ehre verfchafften, neben Auguftin und Thomas von Aguin genannt zu werden. Denn fein tieffinniger Geift verſenkte fich in die fubtiljten Begriffsbeftimmungen, welche die Lehre über die Menſch— werbung hervorgerufen hatte.

! Gervais, Histoire de Bo&ce, senateur romain, avec l’analyse de tous ses ouvrages (Migne a. a. ©. LXIV 1411—1600). Suttner, Bosthius, ber legte Römer, Eichſtätt 1852. 9. Uſener, Anecdoton Holderi, Leipzig 1877. A. Hilbebrand, Bosſthius und feine Stellung zum Chriftentume, Negensburg 1885.

® Gejamtausgaben feiner Werke Editio princeps, Venedig 1491/92; von Glarean, Bajel 1546 1570; Migne a. a. ©. LXII LXIV.

® Das Zeugnis des Gaffiodor (enthalten in dem fog. Anecdoton Holderi, in Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi XII v—vıı) verbürgt die Schriften:

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 14

210 Dierzehntes Kapitel,

Mit nit geringerem Eifer warf fi Boöthius auf die mathematiſchen Fächer des jog. Quadriviums, bearbeitete die Arithmetik hauptſächlich nad Nilomachos, ſchrieb fünf Bücher über die Mufil, worin er die Theorien der Pothagoreer und Ariftoreneer, bejonderd des Claudius Ptolemäus, des Niko» machos und anderer Griechen mit größtem Fleiß zufammenftellte und ver: arbeitete, verfaßte eine Geometrie nah Euklid und eine Aftronomie nad Ptolemäus!., Am meiften fühlte fih indes der römiſche Staatsmann von jeinem eigenen jpefulativen Talent wie vielleicht auch durch die Erinnerung an Gicero und Seneca zur Philoſophie Hingezogen, und da feinen am chriſt— fihen Dogma gejhärften Geift weder die Stoa noch die Lehre der Atademie befriedigen fonnte, griff er unmillfürlih auf die zwei größten Denfer von Hellas, auf Platon und Ariftoteles, zurück und faßte den Plan, deren Werke neu zu überjegen und zu erflären und deren Syſteme durch jelbjtändige Spekulation auszugleichen und zu ergänzen, eine Arbeit, welche jeitdem die chriſtliche Philoſophie in mannigfachfter Weiſe befhäftigt hat?. Diejer Plan allein, mitten in der politiichen und allgemeinen Verwirrung jener Zeit ges faßt und zum Teil aud durchgeführt, könnte genügen, dem großen Römer einen Ehrenplaß in der Geſchichte der Wiſſenſchaften zu fihern. Durch ihn ift ein Zeil der logiſchen Schriften des Ariftoteles dem Mittelalter ſchon er:

De Trinitate; Utrum Pater et Filius et Spiritus Sanctus de Divinitate sub- stantialiter praedicentur; Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint, cum non sint substantialia bona; Liber contra Eutychen et Nestorium. Im Mittel: alter wurbe ihm auch noch eine Schrift De fide catholica zugefhrieben. Abgeftritten wurden ihm diefe Schriften namentlih von F. Nitzſch (Das Syftem bes Bosthius und die ihm zugefchriebenen theologiichen Schriften, Berlin 1860, und Art. „Bosthius“ in Herzogs Real-Encyklopäbie IIL® [1897] 277 278); ebenjo von €, K. Rand, (Jahrbuch für klaſſ. Philologie XXVI, Supplementbd, Zeipzig 1901), mit dem aus Arnolds „Kirchen: und Sekerhiftorien“ fi herleitenden Beftreben, Boëthius möglihft zum Heiden zu ftenpeln. Ihre Aufitellungen treffend widerlegt von F. X. v. Funk (Art. „Bosthius" in Wetzer und Weltes Kirdenleriton IL? [1883] 967-—972) und N. Sheid 8. J., Die Weltanfhauung des Bosthius und jein „Zroftbuh* (Stimmen aus Maria-faah XXXIX [1890] 374—392).

! Die Bücher De arithmetica, De musica, Euclidis geometria bei Migne, Patr. lat. LXUI 1075—1364; neue Ausgabe von ©. Friedlein, Leipzig 1867. Bol. M. Cantor, Mathematifche Beiträge zum Kulturleben der Bölter, Halle 1863; Vorlejungen über Geihichte der Diathematif I 485 ff. O. Paul, Boethius und bie griehifche Harmonik, Leipzig 1872,

® Boötii Commentarii in librum Aristotelis /lsp! &punveias, rec. Meiser, Lips. 1877—1880. Wenn Prantl (Geſchichte der Logik im Abendlande I 679 bis 722) Bosthius „neben Marcianus Eapella und Gaffiodorus als die hauptſäch— lichſte Brüde zu dem Unverftande der mittelalterlihen Logik“ bezeichnet, dad Motiv der „Dreſſur“ als das „bei ihm weit überwiegende” angibt ufw., To wird jeder, ber etwas von mittelalterliher Scholaftif verfteht, willen, wie ſolche Liebenswürdigkeiten ins Deutſche zu überjeken find.

Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oftgotifchen Reiche. >11

ſchloſſen worden, ehe durch die Araber auch feine übrigen Werfe zur Kenntnis des Abendlandes famen; durch ihn wurde jo die erfte Grundlage der mittel: alterlihen Scholaftif gelegt.

Dem noch in antifen Erinnerungen aufgewachſenen Konſul, der die Zerftörung des römischen Reiches und die Herrſchaft der Barbaren ſchmerzlich empfand, mußte es eine jeltene Befriedigung gewähren, in folden Studien gleichſam die höchſten wiſſenſchaftlichen Triumphe helleniſch-römiſchen Geiftes durchzukoſten und ſich dabei der eigenen Überlegenheit über die brutale Gewalt der Goten bewußt zu werden. Es begreift ſich jedenfalls, daß ein folder Mann, als fein weitausfhauender Plan plöglih durch arianiſchen Fanatis— mus und gehäfjige Höflingsintriguen durchkreuzt ward, feinen Troft nicht in theologischen Studien ſuchen mochte, die ihn faft notwendig in heraus: fordernden Gegenjat zu jeinen Anklägern gebradt hätten, fondern in der Philofophie, welche bis dahin jein bevorzugtes Studium gewejen und deren völlig neutraler Charakter jede Herausforderung ausſchloß, deren ernfte, leidenſchaftsloſe Pflege am eheſten noch die Gegner zu beſchwichtigen geeignet war. So hat der merkwürdige Mann mährend der harten Monate der Gefangenſchaft feinen Zroft wirklich bei der Philofophie geſucht, aber nicht bei jenem Stoizismus, der in herbem Fatalismus nicht vor dem Selbft: mord zurüdichredte, jondern bei jener hriftlihen Philofopie, welche jelbft in den herbiten Prüfungen des Lebens eine liebevolle Fügung der göttlichen Borjehung erblidt. Unter anſcheinend völlig antifen Formen ift jein Troft ein weſentlich chriſtlicher.

Obwohl fein „Troſtbuch“! ſeinem weſentlichen Kerne nach eine philo— ſophiſche Schrift iſt, gehört es einigermaßen auch der poetiſchen Literatur an; denn es iſt in Form einer Menippeiſchen Satire gehalten, in welcher Proſa und Verſe abwechſeln. Der Anfang mag davon am beſten eine Vorſtellung geben. An eine kurze Elegie ſchließt ſich in Proſa eine Art Viſion, welche den Rahmen des Ganzen bildet:

„Ich, der in freudiger Luft einſt blühende Lieder geſungen, Muß anſtimmen jetzt ſchmerzlichen Trauergeſang.

! De consolatione philosophiae libri V lat. et germ. cum apparatu et ex- positione Thomas de Aquino, Norimb, 1475 1476 ete. A. Koburger. Andere Wus» gaben: Padua 1744; Glasgow 1751; Leipzig 1753; Paris 1788; Parma 1798; von Th. Obbarius, Jena 1843; danach bei Migne (mit ben Prolegomena des Glarean und ben Kommentaren des Murmellius und Rub. Agricola) a. a. ©. LXIU 579—1074; von R. Peiper, Leipzig 1871. Die althochdeutſche Überjegung Notkers des Deutihen (Labeo; geft. 1022) herausgeg. von P. Piper, Die Schriften Notkers und jeine Schule I, Freiburg und Tübingen 1882, 1—363. Vgl. %. Kelle, Geſchichte ber deutſchen Literatur I, Berlin 1892, 243 ff 250 ff. über die anderweitigen Überjegungen und Spezialihriften fiehe A. Potthast, Bibliotheca historica Medii Aevi I?, Berol, 1896, 161 162,

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212 Vierzehntes Kapitel.

Klagen nur geben mir ein in zerrifi'nem Gewand die Kamönen, Und es begleiten im Ernft ftrömende Tränen ihr Lieb. Sie hat wenigftens no fein Schreden vermodt, zu verfagen Mir in der Stunde der Not treuliches Freunbesgeleit. Sie, einft Ruhm und Bier der freubeftrogenden Jugend, Tröften im bdrüdenden Leid freundlich den trauernden Greis. Denn längft, eh’ ich's geglaubt, hat mich überfallen das Alter, Mich ſchnell alternder Schmerz plöglih zum Greiſe gemadıt. Bange vor ber Zeit find mir die Haare erblichen, Zittert, der Kräfte beraubt, mir ſchon die runzlige Haut. Selig preif’ ih den Zod, ber nicht bie glüdlihen Jahre Störet, fondern im Leid öfters willtommen ſich zeigt. Dem Unglüdliden, ad! will fein Gehör er gewähren, Will nicht ſchließen das Aug’, das ihn mit Tränen erjehnt. Als noch das treulofe Glüd mich mit flühtigen Gütern erfreute, Hätte mein Leben beinah’ jählings der Tob mir gefnidt; Sept wo bie Miene fi dreht der unftet jagenden Wolken, Zieht fi über die Zeit herzlos mein Beben hinaus. Freunde! Was habt ihr jo oft mich einftens jelig gepriefen. Traun, das gefuntene Glüd ruhte auf Shwantendem Grund. „Während ich dies ſchweigend bei mir überdachte und meine tränen- volle lage mit dem Griffel niederjchrieb, glaubte ich über meinem Haupte eine Frau zu ſchauen von gar ehrwürdigem Ausjehen. Ihre Augen glühten und übertrafen an Schärfe die gewöhnliche menjchlihe Energie, fie waren von lebhafter und unverfiegter Kraft, obgleich fie jo alt war, daß fie nicht dem jet lebenden Geflecht angehören konnte. Ihr Wuchs ließ ſich nicht feft bejtimmen. Denn bald ſchrumpfte fie auf das gewöhnlide Durchſchnitts— maß zufammen, bald jhien fie mit der Spitze des Sceitels an den Himmel zu ftoßen: ja, wenn fie ihr Haupt noch mehr erhob, drang fie in den Himmel hinein und entzog ed den menſchlichen Bliden. Ihre Gewande waren mit feiner Kunſt aus den zarteften Fäden eines unzerreißbaren Stoffes berfertigt: fie hatte diejelben, wie fie mir jpäter verriet, mit eigenen Händen gewoben. Ihren Glanz hatte, wie bei rauchgeſchwärzten Bildern, Alter und Vernadläffigung dunkel abgetönt. Am unterften Rande war denfelben ein IT eingewoben, am oberften ein 9. Zwiſchen beiden Buchftaben waren in Form einer Leiter Stufen eingezeichnet, welche von unten nad) oben führten, Gewalttätige Hände hatten indes das Gewand zerriffen, und jeder hatte die Fetzen fortgenommen, deren er ſich hatte bemächtigen können. In ihrer Rechten trug fie ihre Bücher, in der Linfen ein Scepter. Als fie die poetijchen Mufen an meinem Lager ſah, wie fie mir Slagelieder diktierten, ſprach fie, etwas erregt und mit zornfunfelnden Bliden: ‚Wer Hat diefen Theaterdirnchen erlaubt, zu diefem Kranken hinzuzutreten, die feinen Schmerz nicht nur duch Fein Heilmittel lindern können, jondern ihn noch zudem mit füßem Gifte nähren werden? Das find fie, die mit den unfrudhtbaren

Die Kriftlichelateinifche Literatur im oftgotifchen Reiche. 213

Dornen des Gefühl: die fruchtreihe Saat des Verftandes töten, die Seele des Menihen an die Krankheit gewöhnen, nicht davon befreien. Wenn eure Schmeicheleien allenfalls einen profanen Menjchen, wie das auch üblich, berüdten, jo möchte ic) das noch eher erträglich finden; denn in einem ſolchen würden unjere Rechte nicht verlegt. Diefen Mann aber, an eleatiihen und akademiſchen Studien gebildet? Aber padt euch lieber, ihr bis zum Tode jüßen Sirenen, und überlaßt den Kranken meinen Mufen zur Kur und Heilung! So angefahren, ſenkte jene Schar den Blid zu Boden, geitand errötend ihre Beihämung und verließ traurig das Zimmer. ch aber, deffen Blid das Weinen getrübt hatte, jo daß ich nicht unterjcheiden konnte, wer dieſe Frau von jo gebieteriichem Anjehen wäre, ftaunte und begann, mit geienkten Augen jchtweigend abzuwarten, was fie weiteres tun würde. Da trat fie näher heran, fette fih am Ende meines Bettes nieder, ſchaute in mein trauernd ernftes und von Hummer niedergebeugtes Antlit und beklagte fih in folgenden Verſen über die Aufregung meiner Seele.“

Die Philoſophie zieht einen Vergleich zwiſchen jeiner früheren geiftigen Geſundheit und feiner jeigen Schwäche, übernimmt die Rolle des Arztes, unterfucht ihn und fragt ihn über fein Befinden aus. Da er nit ant- wortet, hält fie ihn für lethargish und berührt jeine Augen mit ihrem Ge- wand. Da erhält er die frühere Klarheit wieder, erkennt fie als feine Mutter und erfährt von ihr, daß die Liebhaber der Weisheit allzeit von den Un— wilfenden und Böſen verfolgt worden feien. In Verſen befingt fie aber, wie der wahre Weile unentwegt und glorreih über allen Schidjalsihlägen fteht. Dann foriht fie Bosthius weiter aus und gibt ihm jo Gelegenheit, die Urjahen jeiner Verbannung zu erzählen. Daran knüpft ſich eine er- greifende Klage (in Verſen) über die MWechjelfälle des Lebens mit einem jehnenden Wunſch nad Erlöfung. Die Philofophie tadelt ihn zum Zeil wegen der düftern Auffaffung feines Lofes und wegen jeiner lagen, lobt ihn aber auch wieder, daß er ſich jo offen ausgefproden. Sie gefteht, daß er noch nicht reif ift, auf einmal geheilt zu werden; aber eine beifere Er: fenntnis ift angebahnt, und es bedarf jebt hauptjählih nur der Beruhigung, um dem Kranken zum ganzen und vollen Troſt zu verhelfen.

Sp ift im erften Buche der Rahmen geihaffen, der die eigentliche philo- jophiiche Abhandlung, wie in den Dialogen Platon oder Ciceros, dramatiſch beiebt. Das Troſtgeſpräch jelbft dreht ſich hauptjählih um zwei Punlte: die wahre Glüdjeligteit des Menſchen und die Vorjehung Gottes. Im zweiten und in der erften Hälfte des dritten Buches zeigt die Philofophie ihrem Schüler zunächſt, worin die Glüdjeligfeit nicht beſteht nicht in Maht und Ruhm, nit in NReihtum und finnlihen Genüffen. In der zweiten Hälfte des dritten Buches geht fie dann zu dem Beweije über, daß Gott in fi die weſenhafte Glüdjeligkeit ift, umd daß deshalb der Menſch

214 Vierzehntes Kapitel.

nur duch Teilnahme am göttlihen Leben wahrhaft glüdfih werden kann. Schon hier entfaltet Boöthius neben einer tiefen Welt: und Menjchentenntnis jeinen ebenfo tiefen ſpekulativen Geift und einen poetischen Schwung, der vielfah an Dante erinnert. So ſchließt das zweite Buch mit folgendem Liede auf die ewige Liebe:

Was den bunten Wechjel ber Welt

Liebli zügelnd im Einklang hält,

Ningende Kräfte im Erdenrund

Bindet zum ewigen Friedensbund,

Was die Sonne im rofigen Lauf

Leitet zu goldenen Höh'n hinauf,

Was den Abend führet herein,

Leihet der Nacht den Silberfchein,

Was des Meeres gierigen Schaum

Hält mit fefter Gewalt im Zaum,

Daß es nit in ftürmendem Braus

Meiter dehne die Grenzen aus,

Was ber Weſen zahllofe Reih'n

Ordnet zum herrlichen Ganzen ein,

Himmel und Land und Meer regiert,

Es ift Die ewige Liebe.

Fällt ihr Zügel, dann wird fogleidh

Sid auflöfen das Friedensreich,

Was fich liebte, entbrennen in Streit,

Was fi vereint in harmoniſcher Pracht,

Stürzen zurüd in des Chaos Nacht.

Einzig wieder die Liebe nur

Bindet die Völker dur heiligen Schwur,

Flicht das Band, das heilig und rein

Weiher die Ehe für immer ein,

Teffelt den Freund auch täglich aufs neu’

An den Freund in beftändiger Treu.

Selig, ſelig, o Menſchengeſchlecht,

Lenkt dich des Himmels mächtigſtes Recht: Sie, die ewige Liebe!.

Mit Recht berühmt iſt das prachtvolle Gebet, das den zweiten Teil des dritten Buches einleitet und zur Schilderung der göttlichen Glüchſelig— feit überführt.

Der du nad ew'gem Geſetz den Lauf ber Welten beherrfceft, Erb’ und Himmel fhufft, die Zeiten lenkteft von Anfang, Selbſt unwandelbar, gabft allen Weſen Bewegung,

Den nichts außer fi vermögen konnte, des Stoffes Flüchtiges Werk zu ſchaffen, die Maht nur eigener Güte, Angeboren dir, neiblos: du haft nad Herrlichftem Vorbild

! Migne, Patr. lat. LXIII 718, überjeßt vom Verfaffer.

Die Hriftlich-lateinifhe Literatur im oftgotifhhen Reiche. 215

Alles gemadt. Die Schöne Welt, jelbft ſchöner als alles,

Trugſt du im Geifte und haft fie nach ähnlichem Bilde geftaltet. Haft im einzelnen fie, haft fie im ganzen vollendet.

Du haft alles gezählt und gewogen, dab Hitze und Kälte,

Teftes und Flüffiges ftimmt, das reine Feuer emporftrebt Himmelan, dad Gewicht die Erbe ziehet zur Tiefe.

——— —— A

Bater, laſſe du mich zu den lichten Höh'n gelangen,

Sättigen mi am Quell des Guten und, fommend zum Lichte, Ewig richten auf dich bes Geiftes befeligtes Schauen,

Näume die Nebel hinweg und die Wucht des irdiſchen Stoffes, Zeige mir deinen Glanz. Denn bu nur bieteft den Frommen Helle, friedliche Raſt. Di ſchaun ift Anfang und Ende,

Du bift Führer und Kraft und Pfad und jeliger Zielpuntt !.

Ron diefem erhabenen Standpunkt aus gewinnt das jcheinbare Glüd der Böſen, das Unglüf der Guten hienieden ein völlig anderes Anjehen. Alle Klagen müſſen verftummen vor dem großen Gefamtplan der göttlichen Vorſehung, in welchen die Schidjale des Einzelnen eingegliedert find. Die vermeintlichen Diffonanzen löjen fi in der Harmonie der göttlichen Welt: ordnung auf. Ammer Höheren Flug nehmen hier die Betradhtungen des ernften Denker, immer heller, freundlicher wird die Luft, immer jchöner und freudiger geftalten fih feine Gedanken. Die lebte große Frage ift diejelbe, welche noch jahrhundertelang die ſchärfſten ſpekulativen Geifter be- ihäftigen jollte, wie ſich die ewige Vorausſicht alles Künftigen von jeiten Gottes mit der menjchlihen Freiheit in Einklang bringen läßt. Schon Boethius löſt fie, joweit das möglich, in jehr befriedigender Weile aus der einfahen unendlihen Ertenntnisfraft der göttlichen Natur, die allem Seienden, allen Wandlungen der Geihöpfe, in einem unteilbaren Blid (uno ictu) vorauseilt, gegenwärtig ift umd bleibt. „Denn indem diefe Wiffenäfraft in ihrem bdarftellenden Erkenntnisbilde alles umfaßt, fest fie allen Dingen Schranken, ift aber von nichts Späterem abhängig. Da dem jo ijt, bleibt der freie Willensentjheid des Menſchen unangefohten. Und da die Willen von aller Notwendigkeit entbunden find, wird nicht nach ungerechten Geſetzen Lohn und Strafe verhängt. Denn der vormwiffende Gott bleibt von oben Zuschauer von allem, und feines Schauens allzeit gegenwärtige Ewigkeit wirft mit der künftigen Beihaffenheit unjerer Handlungen zujammen, den Guten Lohn, den Böſen Strafe zumweifend. Und nicht vergebli richten wir auf Gott unſere Hoffnungen und Gebete; wenn fie recht find, können fie nicht unwirkſam bleiben. Meidet alfo die Lafter, pfleget die Tugenden, er: hebt die Seele zu den richtigen Hoffnungen, richtet demütige Gebete zu den

Ebd. LXIU 758. Nach der Überfegung von I. Jungmann S. J., Afthetit 13, Freiburg 1886, 212 213.

216 Nierzehntes Kapitel.

Höhen. Gemwaltig ift euch die Notwendigkeit der Rechtſchaffenheit nahe ger rüdt, wenn ihr es euch nicht verhehlen wollt, da ihr vor den Augen eines alljehenden Richters handelt.“ !

So ſchließt das merkwürdige Werk, das in der Geſchichte der Wiſſen— ihaft wie der Literatur tiefe Furchen ziehen ſollte.

„Den Spuren de3 ‚lebten Römers‘ begegnen wir im Mittelalter auf Schritt und Zritt; fein ‚Troſt der Philojophie‘ insbeſondere gehört zu denjenigen Büchern, an denen viele Generationen des Mittelalters fih auf: erbaut, fih im philofophifhen Denken geübt, woran die mittelalterlichen Sprachen zum Ausdrud abftrakter Gedanken ſich herangebildet haben. Eines jo ehrenvollen Loſes war das Werk nicht unwert, Auf ihm ruht ein letzter Glanz des klaſſiſchen Altertums: jowohl auf dem Inhalt, in dem der reinfte ethiſche Gehalt aus den Lehren der alten Philoſophenſchulen in&bejondere der Neuplatonifer und Stoiler mit dem Geifte römiſcher Mannestugend ih verbunden zeigt, wie auf der Form, insbefondere auf den poetijchen Zeilen, welde die erörternde und argumentierende Proja in wohltuender Weife unterbreen. Aber mit jenem leten Glanze des entſchwundenen Zages vermählt fi ſchon das Morgenrot eines neuen Tages, des Chriſten— tums, deſſen Geift; obwohl er nirgends zum fonfejfionellen Ausdrud gelangt, dod das Ganze durchdringt und den Ideen der göttlihen Vorjehung und der Liebe ihre eigentümliche Geftaltung gibt. Dazu nun nod der Vorzug einer edel populären Darftellung in dialogiſcher Form, der Reiz der Situation, die uns den Senator Boethius im Kerker vorführt, wo er der Zögling der Philoſophie von jeiner Pflegemutter getröftet wird.“ ?

Das Werk verbreitete ſich in feinem lateinischen Text bald über das ganze mittelalterlihe Europa. König Alfred d. Gr. übertrug es ſchon gegen Ende des 9. Jahrhunderts ins Angelſächſiſche. Notler Labeo überjegte e3 um das Jahr 1000 ins Deutjche, Jean de Meung (1280-1318) ins Fran: zöfiiche, Marimus Planudes (1260— 1310) ins Griechiſche. Der Hl. Thomas

! Haec enim scientiae vis praesentaria notione cuncta complectens, rebus omnibus modum ipsa constituit, nihil vero posterioribus debet. Quae cum ita sint, manet intemerata mortalibus arbitrii libertas. Nec iniquae leges, solutis omni necessitate voluntatibus, praemia poenssque proponunt. Manet etiam spec- tator desuper cunetorum praesecius Deus, visionisque eius praesens semper aeternitas cum nostrorum actuum futura qualitate concurrit, bonis praemia, malis supplicia dispensans. Nec frustra sunt in Deo positae spes precesque; quae cum rectae sunt, inefficaces esse non possunt. Aversamini igitur vitia, colite virtutes, ad rectas spes animum sublevate, humiles preces in excelsa porrigite, Magna vobis est, si dissimulare non vultis, necessitas indieta probitatis, cum ante oculos agitis iudieis cuncta cernentis (De consol. phil. lib. V, 6; Migne, Patr. lat. LXIII 862).

29. ten Brint, Geſchichte der englifchen Literatur I, Berlin 1877, 98 99.

Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oſtgotiſchen Reiche. 217

von Aquin Hat ihm die berühmte Definition der „Ewigkeit“ 1 und mand andere wichtige Ideen entnommen, faft die ganze mittelalterlihe Scholaftif dat daraus geihöpft. Dante nennt ihn

L’anima santa, ch’ il mondo fallace Fa manifesto a chi di lei ben ode;

er Spriht von jeinem Martyrium und verjeßt ihn unter die größten Leuchten der mittelalterlihen Wiffenihaft: Ihomas von Aquin, Albertus Magnus, Petrus Lombardus uſw. Auch Laurentius Balla, Angelo Boli- ziano und die übrigen Führer der Nenaiffance hielten Boethius hoch in Ehren, und jelbft die Magdeburger Genturiatoren konnten feiner Gelehr- ſamkeit ihre Anerkennung nicht verfagen. Noch 1665 hat Efleban Ma- nuel de Villegas, um fich ſelbſt in mannigfahem SHerzeleid zu tröften, das „Troſtbuch“ in klaſſiſches Spanish überſetzt. Erſt durch den Brud der Neuzeit mit der ſcholaſtiſchen Philofophie ift Boöthius mehr und mehr in den Schatten getreten; doch find der nahezu klaſſiſchen Formſchönheit jeiner Proja wie feiner Verſe auch mande neuere Beurteiler einigermaßen gerecht geworden.

Die eingeitreuten Gedichte find jo gedanfenreih und tief, vielfadh jo tief empfunden und im Zujammenhang de3 Ganzen fo ergreifend, zugleich bon folder Formvollendung, dab man verſucht fein dürfte, Boethius nicht nur als den größten philofophiihen Genius, jondern auch al& den be- deutenditen Dichter feiner Zeit zu bezeichnen.

Eine unhaltbare Überlieferung des Mittelalters gibt dem Boöthius vor Rufticiana eine andere Gattin, Elpis oder Helpis aus Sizilien? hr wurde (ebenfall® ohne ein hinreichendes Zeugnis) der ſchöne Hymnus auf die zwei Apoftelfürften zugejchrieben, der, in drei Abfchnitte geteilt, noch heute an deren Feſt im Römiſchen Brevier gebetet wird: Decora lux aeternitatis auream | Diem beatis irrigavit ignibus.

Das Licht, des Lichtes Urquell, das glänzt von Ewigfeit, Hat heil mit jel’gen Strahlen den Feſttag eingeweiht, Den den Apoftelfürjten zu Ehren wir begehn,

Der reu’gen Sündern öffnet die Bahn zu Himmelshöh'n.

Lehrer der Welt, Bejchlieher des Himmels, Ehr' und Preis Euch, Vätern Roms, zu Richtern beftellt dem Erdenkreis:

! Interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio (De consol. V, prosa 6 Migne, Patr. lat. LXIII 858), erflärt vom bl. Thomas (Summa theol. 1, q. 8, a. 1).

® Migne a. a. ©. LXII 537. Mone, Hymnen II 63 91. Über „die Elpisinjrift" im Atrium von St Peter fiehe H. Grisar, Analecta Romana ], Roma 1899, 105.

218 Vierzehntes Kapitel.

Durchs Schwert ſank hin der eine, durchs Kreuz der andere Held, Als Sieger herrſcht ihr beide im jel’gen Himmelszelt.

O Petrus, heil’ger Hirte, nimm gütig auf mit Huld Der Gläub’gen Flehn und löſe die Bande unfrer Schuld. Du, welden Macht gegeben der Serr, der dich ertor, Zu öffnen und zu ſchließen das heil’ge Himmelstor,

Erhabner Lehrer, Paulus, erleucht uns Herz und Sinn, Zieh unsre Herzen aufwärts mit dir gen Himmel bin, Wo Glauben fi in Schauen verflärt und, Sonnen gleich), Nur fel’ge Liebe waltet in Gottes ew'gem Reid.

O Rom, du hocbeglüdtes, das beider Fürften Hut Dertraut ift und geweihet durch ihr ruhmwürd'ges Blut, Das purpurrot erprangend, dir ſolchen Glanz verleiht, Daß du all andern Städten vorragft an Würbigfeit !,

O Roma felix, quae duorum principum Es consecrata glorioso sanguine, Horum cruore purpurata ceteras Excellis orbis una pulchritudines.

Über andere Namen können wir fürzer hinweggehen, da feiner derjelben bedeutendere Wellenkreiſe in der Literaturgefchichte gezogen. Der Grammatifer Priscianus in Konftantinopel verfaßte (zwiſchen 500 und 512) ein Lob» gediht auf den Kaiſer Anaftafius und eine lateiniſche Bearbeitung der poetiſchen Weltreife des Dionyfius?. Der Afritaner Luxorius ahmte in zahfreihen, darunter recht derben Epigrammen, Martial nah?. Ein an- onymes Gedicht an den Afritaner Ylavius Felix, ebenfalls einen Epigram— matifer, befingt die „Auferfiehung der Toten“ *. Bon Rufticius Helpidius, den man früher für den gleihnamigen Freund des Ennodius und Leibarzt des Königs ITheodorich hielt, der aber wahrfcheinlicher ein ehemaliger Konful

ı Überfeßt von F. 9. Schloffer, Die Kirche in ihren Liedern 12 104 105.

® Prisciani grammatici de laude imp. Anastasii, herausgeg. von St. L. Enb- liher, Wien 1828 und I. Bekker (Corp. Hist. Byzant. I) Bonn 1829; Peri- egesis e Dionysio, Jtovvaiou nepenyyars olxouueung bei Wernsdorf (Poetae latini minores V), Bernhard y (Geogr. graeci min. I) und C. Müller (Geogr. graeci min. II).

Bei Riefe (Anthologia latina 287—875) und Bährens (Poetae latini minores IV 441—529). Schubert, Quaestiones de anthologia codieis Sal- masiani. Pars I: De Luxorio, Weimar 1875. Klapp, De Anthologiae latinae carminibus nonnullis, Wandsbek 1875.

* Unter bem Titel De iudicio Domini hat es fi in die Werfe Tertullians (ed. Oehler II 776—781) wie unter bie Werfe des bl. Eyprian (ed. Hartel III 308—325) verirrt; Hartel bemerkt dazu: Quisquis vero auctor est, Musis

iratis hoc carmen panxit (Praef. ıxvıır). \

Die Kriftlich-Tateinifhe Literatur im oftgotifhen Reiche. 919

und Gefinnungsgenoffe des Boöthius war, ift ein größeres Gedicht „Über die Wohltaten ChHrifti Jeju“ t erhalten, dazu 24 Tetraftichen, wie jene des Prudentius als Inſchriften zu Bildern beftimmt. Unter den Korrefpondenten des Ennodius taucht eim jüngerer Dichter Arator auf, der, mit deſſen Neffen Parthenius befreundet, ſich erſt an antik-mythologiſchen Stoffen ver: ſuchte, von Parthenius aber für eine chriftlich-poetiiche Richtung gewonnen ward, als Yurift zu hohen Würden und zum Rang eines Gomes empor- ftieg, Ichließlih aber der Welt entjagte und in den geiftlihen Stand trat. AS Diakon zu Rom bearbeitete er die Apoftelgefhichte epiih in zwei Büchern, mit ziemlihem Formgeſchick und wirklicher Begeifterung für feine Sade?. Unter PBapft Vigilius war ihm vergönnt, die erbauliche Dihtung ſelbſt öffentlih vorzulefen, wozu bier Tage angejegt werben mußten, da die Hörer öfterd „da capo“ riefen. In der Behandlung des heiligen Tertes folgte er mehr der freieren Art des Sedulius als der ftrengeren des Juvencus.

Diel wichtiger für die MWeiterentwidlung der abendländijchen Geiftes- bildung als alle diefe Dichter ift Caffiodorusd mit vollem Namen: Ylavius Magnus Aurelius Gajfiodorus Senator —, der no unter Odovalar (um 485) geboren, Theodorih d. Gr. und fein Oftgotenreih und die lange Re- gierung des Kaiſers Juftinian überlebte und erft um 578 ftarb. Er ftammte aus einem vornehmen Geſchlecht aus Skyllaceum (heute Squillace) in Brut- tium, wurde früh Quäftor, Patricius, Konful (514), bekleidete die wichtigiten Ämter am Hofe Theodorih® und feiner Nachfolger (jeit 526 magister officiorum, ſeit 533 praefeetus praetorio) und zog ſich erjt nad) vierzig: jährigem Staatsdienft ins Privatleben zurüd, um den Reft feiner Tage der

! Serauögeg. von Migne, Patr. lat. LXII 545—548; 9. Müller, Göt— tingen 1868 und W. Brandes, Braunfhweig 1890.

® De actibus apostolorum libri II (Migne a. a. ©. LXVIII 63—246). Epi- stola ad Parthenium (ebd. LXVIII 245— 252). Neu herauögeg. von U. Hübner, Neifie 1850. Vgl. E.2.Seimbad, Über den Dichter Arator, in Theol. Studien und Kritifen XLVI (1878) 226—270.

: Sn Th. Mommſenz; andere ſchreiben mit Maffei „Eaffiodorius*. Sein Geburts» und Sterbejahr find unbekannt, befannt nur, daß er 93 Jahre alt geworden. Mommſen ſetzt fein Geburtsjahr um 490 oder etwas früher an; andere bebeutend früher, doch nicht vor 470. Im Anecdoton Holderi madt Eaffiodor über fi felbft folgende Angaben: Cassiodorus Senator vir eruditissimus et multis dignitatibus pollens. Iuvenis adeo, dum patris Cassiodori patricii et praefecti praetorio con- siliarius fieret et laudes Theodorici regis Gothorum facundissime recitasset, ab eo quaestor est factus, patricius et consul ordinarius, postmodum dehinc magister officiorum et praefectus praetorio. Suggessit formulas dietionum, quas in duo- decim libris ordinavit et Variarum titulam superposuit. Scripsit praecipiente Theodorico rege historiam Gothicam originem eorum et loca mores in libris enuntians.

220 Dierzehntes Kapitel.

Frömmigkeit und der Wiflenihaft zu widmen! In der Nähe feiner Heimat baute er das Kloſter Bivarium, anmutig gelegen, von ſchönen Gärten und Fiſchteichen (vivarıa) umgeben, aber noch reichlicher mit allen Hilfsmitteln zum Studium audgeftattet. Der vielbelejene und vielerfahrene Staatämann, der als Geheimjchreiber und vertrautefter Rat des Königs für die Angelegen- heiten des ganzen Reiches gejorgt, organijierte hier jelbit den Unterricht in allen Fächern, von der Grammatik bis hinauf in die Schrifterflärung, vers faßte für alle kurze, praftiiche Handbücher, unterrichtete perſönlich und arbeitete ipäter als Schriftfteller unermüdlicd bis zum Tode. Als Greis von dreiund- neunzig Jahren verfaßte er noch eine Abhandlung über die Orthographie zur Ergänzung feiner Grammatik?.

Er war weder body jpefulativ noch poetiſch veranlagt wie Boöthius, aber mit jenem ſcharfen Gedächtnis, praktiihen Verftand, geduldigen Fleiß und unermüdlihen Sammelgeifte ausgeftattet, den ein ausgebreitetes hiſto— riſches, enchklopädiſches Willen verlangt. Noch während die Sorgen und Mühen der ausgedehnten Reichsberwaltung auf ihm laſteten, verfaßte er, auf Anregung Eurichs, des Gemahls der Amalaſuntha, eine allgemeine Chronik, die fih zum Teil auf die Euſebius-Bearbeitung des Hieronymus, Livius und Baffus ſtützt und die nod erhalten iftd. Auf Wunſch Theodorichs jelbit jchrieb er eine Geſchichte der Goten, von den ältejten Zeiten bis zur Gegenwart, bon der aber nur noch die Auszüge des Jordanes vorhanden find ®. Unter dem Zitel Variae (epistolae et formulae) gab er (zwijchen 534 und 538) eine Sammlung von etwa 400 Aktenftüden und Briefen heraus, die, teils in jeinem teils in des Königs Namen verfaßt, eine überaus wichtige Quelle der damaligen Zeitgefhichte bildend. Ein Grundzug diefer Schriften wie jeiner ftaatsmännifchen Tätigkeit liegt in dem Bemühen,

ı P.P.M. Alberdingk Thijm, lets over M. A. Cassiodorus Senator en ziine eeuw, Amsterdam 1857, 21858. 4. Thorbede, Eajfiodorus Senator. Ein Beitrag zur Geihichte der Völkerwanderung, Heidelberg 1867. U. Franz, M. A. Eaffiodorus Senator. Ein Beitrag zur Gefhichte der theologiichen Literatur, Breslau 1872. J. Ciampi, I Cassiodori nel V. e nel VI. secolo, Imola 1876.

? Gejamtausgaben feiner Werke: Paris 1579, Genf 1656 1663, von dem Mau— riner I. Garet (Rouen 1679, Venedig 1729); abgedrudt und vermehrt bei Migne, Patr, lat. LXIX LXX.

Herausgeg. don Mommfen (Chronica minora saec. IV V VI VII. 2b 2. Monum, Germ. Hist. Auctores antiquissimi XI 109—161), Berlin 1894; Migne a. a. ©. LXIX 1218—1248,

* Herausgeg. von Mommjen (Iordanis Romana et Getica. Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi V 1), Berlin 1882; Migne.a.a. O. LXIX 1251 bis 1296,

° Herauögeg. von Mommjen (Variae. Monum. Germ. Hist. Auetores anti- quissimi XII), Berlin 1894; Migne a. a. ©. LXIX 501— 880. Engliſche liber- fegung von Th. Hodgkin, London 1886.

Die Hriftlichelateinifche Literatur im oſtgotiſchen Reiche. 991

die Intereſſen der fiegreichen Oftgoten mit jenen der befiegten Römer aus— zugleihen, diefe durh Schonung und gerechte Behandlung für die fremden Gemalthaber zu gewinnen, jene durch römische Bildung zu heben und politiſch zu erziehen und jo Germanen und Romanen, gotifhe Voltskraft und römijche Kultur auf dem Boden hriftlicher Gefittung zu verföhnen: das große Problem jener Zeit, das wichtigſte und fruchtreichfte, das fi ein Staatsmann ftellen fonnte, und das unter Theodorich bereits einer günftigen Löſung entgegen: zugehen ſchien. Als indes unter feinen Nachfolgern Leidenſchaft und Barbarei die Ausfihten immer mehr herabftimmten und faft alle erreichten Erfolge durchkreuzten und zerftörten, flüchtete der große Staatsmann feine Lebens: gedanken gewiffermaßen von dem Gebiete der Politit auf das der Kirche, bon der Staatskanzlei ins Klofter.

Auch in der Einfamfeit von Vivarium, melde der Staatsmann von Ravenna als ein Sechziger auffuchte, ift er micht als eigentlicher Bahn- bredher aufgetreten. Er hat in keiner Wiſſenſchaft neue Pfade eröffnet; aber er hat in einer Zeit, wo die Barbarei die ganze antite und römiſch-chriſtliche Bildung zu dverihlingen drohte, ihr ferne von den Heerftraßen der Legionen ein friedlich ftilles Aſyl geihaffen, wo fie vorläufig ungeftört mweiterblühen fonnte. Die Aufnahme in jein Klofter war an die Bedingung geknüpft, fih nicht bloß der Frömmigkeit, jondern auch der Pflege der Wiſſenſchaft zu widmen, Nur joweit nötig ließ er Brüder zu, melde Feld und Garten beftellen und jo den übrigen den nötigen Unterhalt beſchaffen follten. Auch dieje follten fennen lernen, was Golumella, Gargilius Martialis, Nemilianus und andere der Alten über Feldbau, Gartenwirtihaft uſw. gejchrieben. In jeinen zwei Werten De artibus ac disciplinis liberalium litterarum ! und De institutione divinarum litterarum ? hat er dann gleichſam das Facit der bisher vorhandenen Geiftesentwidlung gezogen und daraus einen Grundplan entworfen, nah welchem ſich die Studien der Seinigen in rationeller Unterordnung weiter entfalten follten. Den Unterbau bilden die fieben freien Künſte in der hergebrachten Reihenfolge: Grammatik, Rhetorik 3, Dialektik, Arithmetif, Mufil, Geometrie, Aftronomie. Die Philojophie hat fih noch nicht zum eigentlihen Wiffenszweig geftaltet. Die logiſchen und ertenntnistheoretiihen Unterfuhungen find der Dialektik zugeteilt, alles übrige den „göttlihen Wiſſenſchaften“, d. 5. der Theologie. Die Theologie jelbft bat noch feine eigentlih wiljenjchaftlihe Gliederung erhalten. Gajfiodor führt in feinem Abriß erft die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift auf, dann die vier Konzilien, die verſchiedene Einteilung der heiligen

! Migne.a.a. ©. LXX 1149—1220. ® Ebb. LXX 1105—1150. s Ebd. LXX 1219—1270. Die Rhetorik herausgeg. von C. Halm, Rhe- tores latini minores, Lips. 1868.

222 Vierzehntes Kapitel.

Schriften, die hiſtoriſchen Kirchenſchriftſteller, die hauptſächlichſten lateinischen Kirchenväter (Hilarius, Cyprian, Ambroſius, Auguſtinus, Hieronymus), eine Anweiſung über das Leſen der heiligen Schriften und das Studium der Hilfswiſſenſchaften, wie der Kosmographie u. dgl., endlich allgemeine Vor: jhriften über Studium und Ordenäleben überhaupt. In Eleineren Einzel- ſchriften hat Caſſiodor noh zum Teil die Grammatif und Orthographie behandelt. Ein Opusculum „Über die Seele” (in 12 Kapiteln) ftreift vom philoſophiſchen Gebiete ftark ins astetiiche hinüber!. Das umfangreichite Wert Caſſiodors aus feiner Höfterliden Zeit ift eine Erklärung der Davidiſchen Pjalmen?, welche durchweg auf derjenigen des Hl. Auguftinus fußt. Sehr fur; dagegen find jene Erllärungen zu den Apoftelbriefen, der Apoitel- geihichte und der Apokalypſe. Die Kirchengeſchichte förderte er dadurd, daß er duch feinen Freund, den Scholaftifus Epiphanius, die kirchengeſchichtlichen Werke des Sokrates, Sozomenus und Theodoret überſetzen ließ und dieſe Überfegungen dann jelbft nad} jeiner Auswahl zufammenftellte und verſchmolz. Mit diefer Historia ecclesiastica tripartita® übermachte er dem Mittelalter einen reihen Schatz kirchengeſchichtlicher Kenntniffe in gedrängter, praftiicher Form, wenn die moderne Gejchichtskritit Hier auch vieles auszujegen hat. Sie reiht von Konflantin d. Gr. bis auf den jüngeren Theodofius und ſchließt fih fomit als Fortſetzung an die von Hieronymus bearbeitete Kirchen: geihichte des Eufebius.

Die Stellungnahme Gaffiodors zur Poeſie zeichnet fih am beiten in der Einleitung zu feinem Pjalmenlommentar. Auch ihm galt fie als eine Tröfterin in den Bedrängniffen der Zeit. Aber während Boöthius als Dichter-Philofoph die ſchönſten Gedanken hriftliher Ethik in die Kunftformen antifer Lyrik kleidete, ſuchte Gaffiodor, der gelehrte Sammler, feinen Troft bei den Pſalmen. „Nachdem ih die Sorgen meiner hohen Stellung in Ravenna und die weltlihen Geſchäfte mit ihrem ſchädlichen Beigeihmad abgeichüttelt und den geifligen Honig des himmlischen Pſalmenbuchs verfoftet hatte, verjenkte ih mich, wie das lebhafte Verlangen zu bewirken pflegt, ala eifriger Forſcher in dasſelbe, um nad fo viel bittern Erlebniffen die ſüßen Morte behaglich einzufchlürfen.” Als Anfänger hatte er aber mit Schwierig- feiten zu ringen, um zum vollen Verſtändnis zu gelangen; er ftudierte darum die Enarrationes des hl. Auguftin und ward aus einem Lejer jelbft Kom— mentator, aber mehr ein myſtiſcher als ein philoſophiſch-exegetiſcher. Alle andere Poeſie verblaßte in feinen Augen vor diefem einen Bud.

„Ein wahrhaft ftrahlendes Bud, eine leuchtende Nede, ein Labjal für das wunde Herz, ein Honigkuchen für den inneren Menjchen, ein Feſtmahl

! Migne, Patr. lat. LXX 1279—1308, ® Ebd. LXX 10—1056. » Ebd. LXIX 879—1214.

Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oftgotifhen Reiche. 293

für geiftliche Perſonen, eine Zunge voll geheimer Kräfte, welche die Stolzen vor den Demütigen beugt, die Könige den Bettlern unterwirft, liebreih die Kleinen nährt. Denn fo groß ift die Schönheit der Empfindungen und die Heilkraft der darin quillenden Worte, dab man darauf mit Recht die Worte Salomons im Hohen Liede beziehen darf: ‚Ein verfchloffener Garten und ein verfiegelter Quell, ein Fruchtgarten voll von allen Früchten‘ (HI 4, 12). Denn bald neigen die einen der Pjalmen, nad göttlihem Ratſchlag verfaßt, die erregte ſtürmiſche Seele zum lauterften, ruhigften Leben; bald fündigen fie Gott an, wie er zum Heile der Gläubigen fihtbarer Menſch werden und zum Weltgerihte kommen wird; bald nahen fie, mit Tränen die Sünden abzuwaſchen, mit Almojen die Schuld loszukaufen; bald laufchen fie in ehrerbietigem Staunen auf heilige Reden; bald leiht das hebräifche Alphabet ihnen tiefere Bedeutung; bald verkünden fie heilſam das Leiden und die Auf: eritehung des Herrn; bald beweinen fie in liebendem Mitleid die Trauernden; bald erſchließen fie dur Wiederholung heilige Dinge; bald find fie durch die Stufengefänge bewundernäwert; endlich verweilen fie glüdlich in göttlicher Lobpreiſung, in feliger Fülle, unbeſchreiblicher Sehnſucht, wunderfamer Tiefe. Nie wird das gläubige Gemüt völlig geftillt, das fi daran zu jättigen begonnen. Die Pjalmen find es endlih, welche unjere Nachtwachen ver— Ihönern, wenn mitten im Schweigen der Nacht die menſchliche Stimme in plallierenden Chören fih zum Gejange erhebt und in melodifch modulierten Morten uns zu jenem zurüdführt, von weldhem zum Seile des Menjchen- geichlehts das göttliche Wort einft ausgegangen.“ !

Zurüdblidend auf das Treiben in der Welt, fand der Mönd von Bivarium, der einft jo mädtige Staotsmann von Ravenna, daß die Böen jelbit in ſcheinbarem Glüd feine rechte Freude genießen:

„Dei aller körperlichen Anmut ift das Antlitz der Böſen wolfenumflort ; ſelbſt wenn fie ſich freudig gebärden, find fie traurig, da fie bald bereuen, vom Anſturm der Leidenjchaft verlaffen, plöblih in Trauer verfinfen; ihre Augen bewegen fi mehr als nötig ift; Hin und her denfend brüten fie, unfiher, unjtet, ſchwankend, vor allem bang, vom Willen aller abhängig, in ängftliher Sorge, von Verdacht geplagt; das Urteil anderer prüfen fie ängſtlich, weil fie das eigene törichterweije verloren: indem fie daS weltliche Leben ſuchen, gehen fie dem Unglüd des ewigen Todes entgegen, und während fie gierig nad zeitlihem Lichte ringen, erwerben fie fih die Finſternis ber ewigen Nacht.” 2

Ganz anders ift es mit dem Guten, der fi zum Glauben an die heilige Dreifaltigfeit befennt und fein Leben nad der Lehre der Apoftel einrichtet.

! Ebd. LXX 10. 2 Ebb. LXX 1298 1299.

224 Vierzehntes Kapitel.

„Immer ift fein Antlig froh und ruhig, hager aber kräftig, bleich aber ſchön, trotz befländiger Tränen freudig, ehrwürdig durch den langen Bart, ohne allen Shmud dod rei geziert. So werden die Menſchen durch die Gerechtigkeit Schöner, indem dieſe die Gegenjäße ausgleiht: die Augen fröhlih und voll unfhuldigen Liebreizes, die Nede wahr und der Guten Herz treffend, begierig, alle für die Liebe Gottes zu gewinnen, von der er ſelbſt erfüllt ift; die Stimme gemäßigt, weder halbem Schweigen nod gewaltigem Gejchrei ſich nähernd; Strengheit bricht jeine Kraft nicht; bon freudigen Creigniffen läßt er fich nicht erregen: ein Heiliger Tempel, eine Wohnftätte der Tugenden; feine Züge verändern fi nicht, weil fie an Beharrlichkeit gewohnt find. Sein Schritt ift weder ſchleppend noch eilig; er jieht feinen um feiner jelbft willen an, er ſchont feinen wegen eines andern. Er empfiehlt das Rechte und Gute, lehrt ohne Anmaßung, ift demütig und frei, fireng und voller Liebe, jo daß es ſchwer ift, ihm zu berlafjen, wie man das Leben jelbft nur widermwillig verläßt.“ !

Diefe Schilderung ift nicht nur dadurch bemerkenswert, dab fie in an: ſchaulicher Weife den Unterſchied der chriſtlichen Lebensanſchauung und Jdeale von jenen des heidniichen Altertums fennzeichnet?, ſondern noch mehr dadurch, dab fie auf den Kern und die Seele jener fittlihen Kraft hinweiſt, durch welde das Mönchtum zum Retter der abendländiichen Kultur geworden ift: die lauterfte Gotted: und Menjchenliebe.

Miffenihaft und Kunſt ericheinen Hier allerdings nicht als unabhängiges Selbftziel, wie fie es in der objektiven Ordnung der Dinge auch nicht find noch fein können. Die wiſſenſchaftliche Bildung ordnet ſich der religiös— fittlihen unter, das profane Wiffen dem theologifchen ; aber wie das Ordens: leben als ausnahmsweiſe Lebensform das Weltleben nicht ausſchließt, ſondern vorausſetzt, jo ift dem profanen Willen innerhalb jener philoſophiſch be- gründeten Ordnung die freiefte Spannweite gegeben. Die theologiſch-hiſtoriſche Richtung des Caſſiodor ſchließt die philofophiich-humaniftifche des Boethius feineswegs aus. Jene übermachte dem Mittelalter die bibliſche und theo- logische Wiſſenſchaft der patriftiihen Zeit, diefe die wichtigften Ergebniſſe antifer Philofophie und das Intereſſe für die alten Klaſſiker. Die innige Begeifterung des Caſſiodor für die Liturgie und das Pjalterium Hinderte ihn nit, den umfangreidhften geichichtlihen Arbeiten, dem Studium der Geographie, ja felbft dem allergewöhnlichſten praktiſchen Realwiffen feine Sorge zuzuwenden®. Er forderte feine Mönche nicht nur zu unermüdlicher

ı Migne, Patr. lat. LXX 1300 1301. ® Das hebt Ebert (Geſchichte der Literatur des Mittelalters I®, 518) hervor. * Katalog ber Bibliothek des Kloſters Bivarium, zufammengeftellt von A. Franz, M. Aurelius Caffiodorus Senator, Breslau 1872, 80—92.

Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oftgotifhen Reiche. 2935

Vervielfältigung der Handfhriften auf, welche nod für Jahrhunderte den Drud erjegen mußte, er empfahl ebenjo angelegentlih das Studium der Orthographie, von welchem die Brauchbarkeit der Codices bedingt war, der Kalligraphie, der Initialenmalerei, und jelbft der Buchbinderei, der nächtlichen Beleuhtungsmittel und der Uhrenmacherei hat er nicht vergefien. Die Waſſer— uhr jollte der Sonnenuhr nahhelfen, damit durch genaue Zeiteinteilung die wiſſenſchaftliche Arbeit gefördert würde!. Wohlgeregelte Lampen mit praftiihen Mechanismus jollten auch die nächtlichen Stunden der Arbeit fihern. Die jhönen Büchereinbände aber vergleicht er geradezu mit dem hochzeitlichen Kleide, welches vorab die heiligen Schriften verdienen ?.

ı A, Olleris, Cassiodore, conservateur des livres de l’antiquite latine, Paris 1841. ® Migne, Patr. lat. LXX 1144—1146.

Baumgartner, Weltliteratur, IV. 8. u. 4. Aufl. 15

Zweites Bıd.

Die lateinifhe Literatur des Mittelalters.

Erſtes Kapitel.

Die Erhaltung des Sateins als lebendiger Sprache der Kirche, des Rechts und der Wilfenfhaft.

Der Sturz des weſtrömiſchen Kaifertums gilt mit Recht al3 die Scheide- linie zwiſchen Altertum und Mittelalter. Mit Romulus Auguftulus erliſcht die Reihe der römischen Gäfaren, die ftolze Weltherrſchaft des römiſchen Senats und Volkes, die letzte Widerſtandskraft der einft unbefiegliden, mwelterobernden Zegionen, der letzte Machtreft der antiten Götter, des griechiſch— römischen Heidentums, der von ihm beherrſchten Kultur, Literatur und Kunſt. Wie das römische Weltreih alle früheren Weltreihe an Machtfülle und Glanz übertroffen hatte, jo hat aud jein Sturz die Welt in ein Chaos gerifien, wie feine Ummälzung zuvor. Diejes Chaos hat allerdings nicht erſt mit dem Jahre 476 begonnen; die vernichtenden Wellenſchläge der Völkerwanderung erhoben ſich ſchon ein Jahrhundert früher; die innere Zerſetzung des riefigen Staatzfoloffes reiht in noch frühere Zeit zurüd; von innen und außen haben dann die zerjtörenden Kräfte zujammengewirtt, bis feine Staatskunft mehr das unterwühlte Gefüge zu retten vermochte, aud das Ehriftentum dem finfenden Reihe keine Hilfe mehr bieten konnte, weil dasjelbe zu lange in hartnädigem Stolze gegen die Botihaft des Heiles angelämpft, fie nur halb und widerftrebend angenommen, fie durch ketzeriſches Seltentreiben und heidniſche Üppigkeit unaufhörlich in ihrer Wirkjamteit gehemmt Hatte.

Die furchtbaren Schidjalsihläge, welde vom Anfang des 5. Jahr: hundert3 an über das römiſche Reich hereinbradhen und dasjelbe endlich jertrümmerten, find bereit3 von den Zeitgenoffen als ein Gottesgericht be- trachtet worden, das die römische Welt dur ihre blinde Anhänglidkeit an da3 Heidentum, durch ihren ungemefjenen Stolz, ihre grenzenlofe Habjucht, Genußſucht und Entfittlihung auf fi) herniederbeſchwor. Steiner hat diejes weltgejhichtlihe Strafgericht gewaltiger und ergreifender beſchrieben als Sal: vianus, ein Gallier, vermutlih aus der Gegend von Trier oder Köln gebürtig, der nach kurzem Leben in der Welt um das Jahr 430 der Hlofter: gemeinde von Lerin beitrat und ſpäter al3 Priefter in Marfeille wirkte.

Er Hatte mit eigenen Augen die jchredlichen Verheerungen gejhaut, melde die Züge der Barbaren im nördliden und füdlihen Gallien wie in

230 Erftes Kapitel.

Afrika angerichtet Hatten. Als Antwort auf die Klagen derjenigen, melde über dem Elende der Zeit den Glauben an eine göttliche Vorfehung und an Gott jelbit verzweifelnd über Bord werfen wollten, jchrieb er feine acht Bücher „Über die Weltregierung Gottes“ oder, wie Gennadius fie fpäter überjchrieb: „Bon dem gegenwärtigen Strafgeriht“ 1 ein düfteres, aber völlig aus der Wirklichfeit gegriffenes Kulturbild jener grauenvollen Zeit, welche den längft vollzogenen inneren Bankrott der antik-heidniſchen Bildung zu feinem legten offenen Abſchluß brachte. Das Wert, ala Geſchichtsquelle vom höchſten Werte, ift „in einem faft an Lactanz und Hilarius erinnernden Stil” gehalten, „an dem das genaue Studium Giceros unverkennbar ift“ ?, zugleich mit einem erhabenen Schwung, der an die altteftamentlihen Propheten gemahnt. Mitten in dem Schreden der Bölferwanderung findet er noch das Heidentum mit feiner entnervenden Unſittlichkeit in voller Blüte,

„In den Gymnafien wird nod Minerva, in ben Theatern Venus, in dem Zirkus Neptun, auf den Fehtböden Mars, auf den Ringpläken Merkur angebetet und verehrt, und jo waltet noch allenthalben, je nad der Verſchiedenheit der Ber: anftalter, ber alte Gößendienft. Jede Art von Unzucht wird in ben Theatern be— gangen, jede Art von Ausfhweifung auf ben Ringpläßen, jedwede Ausgelafienheit im Zirkus, jedwede Tollbeit in den Schaufpielhöhlen. Dort herrſcht die Unzucht, anderwärts bie Sittenlofigfeit, hier die Völlerei, dort die Raferei, Überall der Dämon; ja in all ben Bergnügungslofalen zufammen haufen alle Ausgeburten der Hölle; denn von ben ihrer Verehrung geweihten Pläken herab führen fie allenihalben ben Borfiß®.

„Italien wurde ſchon durch jo viele Kriegszüge verheert; haben Die Jtaler endlich von ihrem Lafterleben abgelaffien? Rom wurde belagert und eingenommen ; haben bie Römer endlich aufgehört, Gottesläfterer und Tollköpfe zu fein? Die Barbarenvölfer haben die gallifhen Provinzen überflutet; ftedlen die Gallier, was Eittenverderbiheit anbelangt, nicht noch in ihren früheren Verbrechen? Die Bandalen find hinüber nad) Spanien gezogen: fo hat ſich die Lage der Spanier verändert, aber nicht ihre Bafterhaftigkeit. Damit endlich kein Teil der Welt frei von töblichem Verderben bliebe, warf fid) der Krieg auch auf die Meeresfluten; jo wurben die vom Meere umſchloſſenen Städte, jo wurden Sardinien und Sizilien, die Kornlammern bes Fistus, verheert und zerftört, fo wurden uns bie Lebensadern abgeſchnitten und Afrika jelbft, ber Lebenshort der Nepublit, in Fefleln gelegt. Und nun? Nachdem die Barbaren in jene Länder eingebrungen, bat dort wenigitens aus Furcht das Lafterleben aufgehört? Oder hat, wie ſich zeitweilig auch die nichtsnutzigſten Sklaven

! Gefamtausgaben der Werte Salvians von P. Pithoeus, Paris 1580; C. Nittershufius, Nürnberg 1611 1623; St. Baluze, Paris 1663 1669 1684; Migne (nad Baluze), Patr. lat. LI; €. Halm, Berlin 1877 (Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi I 1); Fr. Pauly, Wien 1883 (Corpus script. eccl, lat. VIII). Deutſche Überfegung von A. Helf, Kempten 1877. Bal. W. Zihimmer, Galvianus, der Presbyter von Maffilia und feine Schriften, Halle 1875. U. Hämmerle, Studien zu Salvian, Landshut 1893,

* 9. Norden, Die antike Kunftprofa II, Leipzig 1898, 585.

® De gubernat. Dei VI 11 (ed. Halm a. a. ©. 77, 8 60).

Batein ald Sprade der Kirche, bes Rechts und ber Wiſſenſchaft. 231

zurechtweiſen laffen, der Schreden wenigftens einige Beiheidenheit und Zucht ab» gepreßt? Wer könnte die Größe des libels meflen? Während die Waffen ber Barbaren um bie Mauern von Eirta und Karthago Elirrten, jauchzten die Einwohner von Karthago im Zirkus und jchwelgten in den Theatern. Während die einen vor ben Zoren hingeſchlachtet wurden, trieben bie drinnen noch Unzudt. Während ein Teil des Volkes draußen don den Feinden gefangen wurde, war ber andere drinnen eine Beute bes Lafters. ... Es miſchte fih Tozufagen das Kampfgeichrei vor ben Mauern und das Freudengeſchrei innerhalb der Diauern, das Röcheln der Sterbenden und das Gejauchze der Bakchanten, und faum zu unterſcheiden war mehr ber Schmerzen ruf der im Kampf Gefallenen und ber Yubelruf der im Zirfus Schreienben. Und was tat diejes Volk mit ſolchem Zreiben anders, ala dab es, da Gott es vielleicht noch nicht verderben wollte, jelbft feinen Untergang herbeiforberte ?

„Doch was rede ih von Dingen, die in weiter fyerne und gleihjam in einem andern Erbteil geichehen find, dba ich doch weiß, dab in meiner Heimat und in ben Städten Galliens faft alle Bornehmeren durch ihr Unglüd nur noch ſchlechter ge— worben find?!

Ich Telber jah zu Trier Männer von hohem Amt und Adel, von ben Bar- baren ſchon ausgeraubt und arm geworben, ärmer noch an Ehre und Sittlichkeit, ein ſchandvolles Leben führen, Greife, beim bevorftehenden Untergang ber Stabt der Böllerei, der Trunkſucht und ber Unzucht ſich ergeben; felbit die Spiken der Stabt- bevölferung jchrieen, vom Weine beraufcht, wie Rajende, wüteten wie Bakchanten, gebärbeten fi wie Tollfinnige. Auch in Köln ließen die Vornehmiften jelbft dann von ihren Freß- und Zrinfgelagen nit ab, als der Feind ſchon in die Stadt ein- 30g, To daß fie bas, was ihnen ben Untergang bereitete, auch dann noch trieben, als fie zu Grunde gingen. Und wir wollen uns wundern, daß fie alles verloren haben, nachdem fie ihre Tugend verloren? Was foll ih von den übrigen Städten Galliens fagen? Auch fie find durch ähnliche Sünden ihrer Bewohner gefallen. Als bie Heere der Barbaren ſchon anrüdten, wurde weder für die Verteidigung der Stäbte noch für den Schuß ihrer Bewohner Fürforge getroffen; von Trunfenheit unb Sorg- Iofigfeit waren alle wie betäubt. Viermal wurde die reichjte Stadt Galliens, Trier, zerjtört, und nach jeder Zerftörung nahm das fittliche Verberben zu. Der Untergang dieſer Stadt zog ben Ruin ber andern nah fi. Vor meinen Augen mußte id) Leichen jehen beiderlei Geſchlechts, nadt, zerrifien, von Vögeln und wilden Tieren angefrefien; der Geſtank der Toten wurde zur Peſt für die Lebenden, und der Tod baudte aus den Toten ben Tob aus. Und die wenigen vom Adel, die dem Tod entronnen waren, verlangten nad jolhem Greuel der VBerwüftung von den Kaiſern Birfusfpiele und Theaterftüde, und dies verlangten fie, nachdem fie geplündert und bejiegt waren, nach ihren Niederlagen, nad all dem vergofienen Blut, nad Ion eingetretener Unterwerfung. Wo follten dieſe Schaufpiele abgehalten werben? Über den Grabmälern und Aſchenkrügen, über den Haufen von Totengebeinen, über den Blutladhen ber Erjchlagenen ?**

Mit derjelben Wucht der Beredfamteit ftellt Salvian der unglaublichen Entartung der Römer die natürliche Frömmigkeit, Einfachheit und Sitten:

! De gubernat. Dei VI 12 (ed. Halm a. a. D. 78, & 67).

® Ebd. VI 13 (ed. Halm a. a. ©. 79, $$ 72 ff). Kürzer zufammengedrängt bei C. J. Greith, Geſchichte der altiriichen Kirche, Freiburg 1867, 10 11. Ral. 9. Grifar, Gejhichte Roms und der Päpfte im Mittelalter I 55—57.

232 Erftes Kapitel.

reinheit der germanischen Bölfer gegenüber, welche von. den Laſtern der Überkultur noch nichts kannten und der frechen, öffentlichen Sittenlofigfeit, bejonders in Afrika, durch firenge Maßregeln ein Ziel jegten:

„Erröten wir“, ruft er aus, „ich bitte euch, ſchämen wir uns! Ber den Goten gibt es feine Ungfichtigen als eben die Römer, bei den Vandalen wieder nur Römer, fo weit hat es bei ihnen bie Liebe zur Keufchheit, die Strenge ber Zucht gebracht, daß fie nicht nur jelbft feufch find, jondern daß fie, um etwas ganz Neues, Unglaub- liches, Unerhörtes zu fagen, felbft die Römer teufh gemacht haben, Wenn es Die menihlihe Schwäche erlaubte, möchte ic; mit übermenſchlicher Kraft rufen, dab es über ben ganzen Erbfreis hin widerhallte: ‚Schämt euch, ihr römischen Völker, ſchämt euch eures Lebens! Kaum eine Stabt ift von Borbellen, feine von Unzudt frei außer denjenigen, in welden die Barbaren ihren Sit aufgeihlagen haben.‘ Und wir, die wir jo unlauter find, wundern uns, wenn wir im Elend find; wir, die wir an Tugend zurüd find, wundern uns, wenn wir durch die Kraft ber Feinde befiegt werden; wir wundern uns, daß jene unfere Güter befigen, die unſere Lafter verab- jheuen. Nicht natürliche Körperkraft führt fie zum Siege, nicht natürliche Schwäde bereitet uns Niederlagen. Keiner made ſich eine andere Überzeugung, feiner eine andere Auffaffung zurecht: einzig und allein die Verrottung unferer Sitten hat ung baniebergeftredt,” !

Zu weit geht Salvian unzweifelhaft, wenn er einen Sokrates und Gato zu Propheten der „freien Liebe“ macht; aber feinem ſcharfen Ausfall auf die helleniſch-römiſche Philofophie liegt der durchaus richtige Gedante zu Grunde, daß die größten Philofophen des Altertums nicht zu einer wahrhaft menjhenwürdigen Auffafjung der Ehe durdgedrungen find, dab fie (jelbft ein Sokrates und Plato) den Ausſchweifungen der Sinnlichkeit feinen feften Damm entgegenzuftellen wußten und daß ihre praftijche Lebens— pHilofophie nicht im ftande war, die Lüfternheit der erotiſchen Dichter und die von aller Moral losgebundene Kunſt daran zu Hindern, „die ganze Welt zur Lafterhöhle zu machen“ 2,

Mögen die Schilderungen Salvians auch jonjt mitunter an ſtark rheto- rifcher Färbung leiden, weder jein Lob der Germanen noch jeine Verurteilung der Römer in ihrem ganzen Umfang gerechtfertigt fein, darüber kann doch fein Zweifel walten, daß er in der furchtbaren Entfittlihung den wunden Punkt berührte, an welchem die gejamte römische Welt frankte und welcher ihren Untergang berbeiführte. Der ftetige Fortjchritt der Kirche in Rom wie in den Provinzen, die wahrhaft großartige Weile, in welcher fie die Sorge für Arme, Kranke und Notleidende, die Löfung der jozialen Frage überhaupt auf fih nahm, die Lehrtätigfeit der Päpfte, welche in die dog—

! Salvian., De gubernat. Dei VII 23 (ed. Halm. Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi I 103, 88 107 ff).

® Quantum ad doctrinam suam pertinet, lupanar fecit e mundo (ebd. VII 23 [ed. Halm a. a. ©. 102, 88 101 ff}).

Zatein ald Sprade der Kirche, bes Rechts und der Willenichaft. 233

matiihen Wirren des Morgen: wie des Abendlandes entjcheidend eingriff, der politiihe Einfluß der Päpfte, wie eines Leo d. Gr., der wiederholt die ihlimmften Kataftrophen von Rom und Italien abwendete, die große Zahl der firhlihen Schriftfteller, die prachtvollen kirchlichen Bauten, welche in Rom und anderwärts erflanden: all das bürgt jedoch dafür, daß ein recht anfehnlicher Zeil der römischen Welt das Chriftentum mit ganzer Seele in ſich aufgenommen Hatte und religiössfittliche Kraft wie geiftige Bildung genug befaß, um das Werk der riftlihen Zivilifation in allen Ländern des einftigen Weltreihs erfolgreich durchzuführen. Chriſtliche Römer find die Lehrer und Erzieher der germanischen Völker geworden und haben die Grundlagen des Kriftlihen Mittelalterö gelegt.

Als um die Mitte des 6. Jahrhunderts auch das Reich der Oftgoten in Italien zufammenbrad, das der Langobarden an feiner Stelle emportaudte und faft das ganze Exarchat an fi riß, meue jchredliche Kriege die ſchon längit erjhöpfte Halbinjel verwüfteten, jchien freilich die chriftlihde Bildung des Abendlandes und was fie an Trümmern antifer Bildung gerettet, von neuem mit dem Untergang bedroht. Die germanijchen Völler, welche ſich in die Erbihaft Weftroms geteilt, beſaßen zwar in ihrer jugendlichen Voll: fraft reiche, vielberſprechende Eigenſchaften. Das günftige Zeugnis, das ſchon Tacitus ihrer Sittenreinheit ausgeitellt, wird auch von Salvian und andern jpäteren Schriftftellern beftätigt. König Genſerich belämpfte in dem von ihm eroberten Afrifa die Sittenlofigkeit durch die ftrengften Geſetze, ſchloß die Laſterhöhlen, verbannte die Päderaften in die Wüfte, zwang die Dirnen zur Ehe und bedrohte ihren Rüdfall mit den ftrengften Strafen. Allein diefe Sittenftrenge hielt nicht an. Bald erlagen die vandalifhen Eroberer dem verführerifchen Einfluß der verrotteten liberkultur, welche fie in’ Afrika vor: fanden. „Die Vandalen“, berichtet Prokopius, der Geheimfchreiber Beliſars, „nd das üppigfte unter allen Völtern, die wir fennen. Seitdem fie Afrika gewannen, genofjen fie täglich des Bades und der erlefenften Tafelfreuden. In reihftem Schmud, in feidenen Gewändern verbrachten fie den Tag in den Theatern, den Rennbahnen und andern Luftbarkeiten, zumal aber auf Jagden. Zänzer, Gaufler und Mimen, Mufit und was nur Aug und Ohr erfreut, verwandten fie zu ihrer Ergößung. Viele wohnten in Villen mit Gärten und Hainen, reih an Brunnen und Bäumen. Unabläffig hielten fie Trinfgelage, und mit großer Leidenjchaft ergaben fie fih den Werfen der Aphrodite.“ ? Wie Genferih, jo wüteten auch die Könige Hunnerich und Thrafamund als fanatiche Arianer mit allen Mitteln der Berfolgung

1 F. Dahn, Urgeſchichte der germanifhen und romaniſchen Völker I, Berlin 881, 213. ® Procopius, De bello Vandalico II 6.

234 Erites Kapitel.

gegen die Katholiken, und wenn es ihnen aud nicht gelang, den katholiſchen Glauben in Nordafrila auszurotten, wurde die Blüte der Kriftlichen Kultur dafelbft doch für immer gefnicdt, auch die materielle Kultur in einer Weile geihädigt, von der fie ſich nimmer erholen jollte!,

Auch die übrigen germanischen Völterftämme waren ſchließlich Barbaren. Sie vergeudeten ihre Kraft in unaufhörlihem Kampfe; fie zerftörten, ohne aufzubauen. Spanien, Gallien und Jtalien wurden durch ftetige Kriege erihöpft, die geiftige Entwidlung durd die Mifhung der Spraden und Völker wie durch Jammer und Elend gehemmt. Das eigentlihe Erbübel aber, an welchem die neuen germaniihen Staaten nad kurzer Gewalt: herrihaft zu Grunde gingen, war der Arianismus, den fie bon Byzanz her wieder ind Abendland gejchleppt hatten, nachdem er hier, jobald der welt— lihe Arm ihm verfagte, nur mehr ein kümmerliches Dafein friftete. Ein Ghriftentum ohne Gottheit Chriftt, ein Kirchentum ohne Verband mit der von Chriſtus geftifteten Weltkirche, zugejchnitten auf weltlich-nationale Inter: effen, auf Fürſtenwillkür und die Herrſchſucht ſchmeichleriſcher Hofbifchöfe, ohne theologische Überlieferung und Wiſſenſchaft, one Kraft und Saft wie ohne Liebe und Barmherzigkeit, konnte die widerſpruchsvolle alexandriniſche Irr— lehre den germanischen Völkern feinen Erſatz für daß ganze und volle Chriſtentum bieten. Sie war mit Lahmheit und Unfruchtbarkeit geichlagen. Nur im Verfolgen war fie ftarf, und fo hat fie denn überall, wo fie hin— drang, Hab, Zwift und Verwirrung hervorgerufen, die faum gegründeten Staaten in inneren und äußeren Hader gezerrt und ihre joziale wie politifche Entwidlung gehindert. Der brutalen Gewalt legte fie feinen Zügel an, der Willkür der Herrſchenden jehte fie feine Schranken. Das Fauftreht ward zum einzigen Recht und verihlang der Reihe nad die von ihm erhobenen Könige und ihre Reihe. So ift ſelbſt der tüchtige und edel angelegte Theodorih zum blutigen Tyrann geworden; jo Hat Gelimer jeine Ber: folgungswut als Siegesbeute des triumphierenden Beliſar büßen müſſen; jo ſtürmten Alarich II., Totila, Teja in wilden Kämpfen ihrem Untergange zu, Rom wechjelte innerhalb jehzehn Jahren fünfmal feinen Herrſcher und wurde in der furchtbarſten Weije verheert. Italien, von den fremden Sriegs- iharen ausgeſogen und niedergetreten, fiel der Verwüflung und namenlojem Elend anheim. Aber aud die neugegründeten Reiche hatten weder Beftand noch Segen. Wie Pilze ſchoſſen fie auf, wie Pilze verſchwanden fie wieder: die rohen Stantsverbände der Alanen, Sueven, Heruler und Gepiden tie die Reiche der Weftgoten in Aquitanien, das der Oftgoten in Italien, das Reih der Burgunder und das der Bandalen in Afrika das 7. Jah:

Victor. Vitensis, Hist. persecutionis Africanae sub Genserico et Hunnerico Vandalorum regibus (Migne, Patr. lat. LVIIT). L. Marcus, Hist. des Vandales®, Paris 1838,

Latein ald Sprache ber Kirche, des Rechts und ber Wiſſenſchaft. 235

hundert ſah fie nicht mehr. Wie die Wellen des Bufento über Alarichs Grab, jo fluteten die Wogen der Zeitgeihichte über ihre verfuntenen Trümmer !,

Don unberehenbarem Nuben für die Bildung des Abendlandes war es, dab in dieſer traurigen Zeit der Gärung und Berwirrung das groß: artige Beifpiel Caſſiodors nicht vereinzelt blieb, jondern in der Gründung des Benediktinerordens einen mweltgej&hichtlihen Umfang gewann. Um 480 geboren, fam Benedikt von Nurfia jhon als Knabe nad Rom, ward durch den Abſcheu, den das fittenloje Treiben dajelbft in ihm ermwedte, in die Einöde getrieben, lebte als Einfiedler erft in der Höhle von Subiaco, gründete von hier aus zwölf Klöſter, ließ fih, von Feindfeligfeiten vertrieben, in Monte Gajffino nieder und verfaßte hier jeine berühmte Ordensregel, durch die er der Patriarch der Mönde des Abendlandes werden jollte?, Schon 534 verpflanzte jein Schüler Placidus den kaum gegründeten Orden nah Sizilien, andere Schüler bald darauf nah Gallien?®. Im Jahr 540 fiftete Gaffiodor das Kloſter Vivarium, defien Beziehung zum hl. Benedikt nit völlig aufgehellt ift, deſſen Einrichtung aber auf die weitere wiflen- ihaftlihe Tätigkeit des Ordens jedenfalls mächtig einwirkte.

Einen gewaltigen Aufihwung verdankt der Orden dem Sprößling einer römiſchen Patrizierfamilie, Gregorius, der, 540 geboren, jhon 573 Prätor von Rom war, bald aber, nad dem Tode feines Waters, in den Orden trat, mit jeinem großen Reichtum ſechs Klöſter in Sizilien und eines auf dem Mons Cölius in’ Rom gründete, zeitweilig als Nuntius (Apokrifiarius) des Papftes in Konftantinopel wirkte, dann Abt des von ihm gegründeten Klofters wurde und endlich ala Papft Gregor I. von 590 bis 604 die ganze Kirche regierte, einer der größten Päpſte aller Zeiten *.

Er war weder ein fo genialer Denker wie Auguftin noch ein fo viel: jeitiger Gelehrter wie Hieronymus, aber nicht minder ein Heiliger, ein von

’G. Kurth, Les origines de la civilisation moderne II?, Paris 1888, 363— 374.

® 8, P. Benedicti Regula eum commentariis, bei Migne a. a. O. LXVI 215—932; neue Ausgabe von E. Schmidt O. 8. B., Regensburg 1880; Hand» ausgabe von dbemjs. (ebd. 1892) und beutjche Überfegung (ebd. 1891). Vgl. von demſ.: Über bie wiflenfhaftliche Bildung des hl. Venedilt, in Studien und Mit: teilungen aus dem Benediktinerorden IX (1888) 57—73 234— 251 361—382 553 —573 ; War ber hl. Benedikt Priefter? (ebd. XXIL [1901] 3—22). T. W. Allies, The monastie life, London 1896, 134—173.

Über die Sendung des hl. Maurus nad Gallien vgl. Malnory, Quid Luxorienses monachi discipuli sancti Columbani ad regulam monasteriorum ete. eontulerint, Paris 1894; Revue Bönddictine XII (1895) 326 327.

* Gejamtausgaben feiner Werke von P. Toffianenfis, Rom 1538—1593 ; P. Guffanpilläus, Paris 1675; Sammarthbanus (Mauriner), Paris 1705; I. 8. Gallicioli, Venedig 1768—1776; Migne a. a. O. LXIXV—LXKIX.

236 Erftes Kapitel.

Gottes Geift erfüllter Seelenhirte, ein Mann von großartigftem Herricher: talent. Ihm gelang es in der verhältnismäßig furzen Zeit feines Ponti: fifats, die Kirche in Italien und Gallien neu zu beleben, die bis dahin arianiſchen Weftgoten in Spanien für fie zu gewinnen, die Angelfachjen zum Ehriftentum zu befehren und jo zwiſchen allen Zeilen des einftigen tmeit- römijhen Reiches wenigftens wieder die religiössfirhliche Einheit herzuftellen, das innerlichlice Leben von den vorhandenen Schäden zu befreien und zu fräftigen, und dur Reform des Ordenslebens, im Sinne des hi. Benedikt, der weiteren Ausbreitung des Chriftentums wie der Pflege religiöfer, geiftiger und materieller Kultur den fruchtbarften und ſegensreichſten Stützpunkt zu ihaffen. Die Weitergeftaltung der bereits politiich getrennten, ſprachlich verichiedenen Völler zu völlig neuen Reihen zu verhindern, lag weder in der Aufgabe noch Abfiht und Macht des großen Papftes. Uber dem gänzlihen Untergang der bisherigen abendländifchen Bildung war ſchon dadurch gefteuert, daß die innerlich erneuerte und gefräftigte Kirche an ihren wejentlihen Grundlagen fefthielt und für ihre Weitervererbung ſorgte.

Ein mächtige Mittel der Einigung für die getrennten neuen Völfer blieb zunächſt die Einheit der Kirchenſprache!.

Noch bevor das Ehriftentum aus dem Dunkel der Katakomben hervor- ftieg und die römiſchen Bafiliten in chriſtliche Kirchen verwandelte, hatte die griechiſche Sprache ihre weite Verbreitung im Abendlande eingebüft, die lateinische ihre Erbſchaft angetreten. In lateinischer Sprache wurden die heiligen Geheimnifje gefeiert und die heiligen Sakramente ausgejpendet, ges meinſam gebetet und gejungen, gepredigt und religiöfer Unterricht erteilt. Das Lateiniſche wurde vorab die Sprade des Kultus und der Liturgie. Die erhabenften Geheimnifje des Chriftentums mit der ſchönen Kunſt auf eine Linie zu ftellen, würde Profanation fein. Bei aller Ehrfurdt indes, welche das Opfer des Neuen Bundes und das feierliche Gebet der Kirche verdient, fann weder die Kunſtgeſchichte noch die Literaturgefchichte von den erhabenen fünftleriishen Formen abjehen, in welchen fich beide verförpert und ſichtbar ausgeftaltet haben, und welde die Zentraljonne, ja die Seele des gejamten mittelalterlihen Sunftlebens bilden. Wie die mittelalterlihe Architektur, Skulptur und Malerei, jo ift auch die mittelalterlihe Poefie und Literatur unverfländlih, wenn man die zentrale Stellung mißlennt, welde das euchariftiiche Opfer und das öffentlihe Stundengebet darin einnehmen.

Bor allem hat ſich die Liturgie der heiligen Meſſe jhon im Laufe der erften Jahrhunderte zu einem wirklichen Kunſtwerk ausgebildet, das, völlig verftanden und liebevoll gewürdigt, jeden zur Bewunderung Hinreigen muß.

ı N. Gihr, Das heilige Meßopfer, dogmatiſch, liturgiſch und astetifch erklärt ®, Freiburg 1902, 236—295.

Batein ald Sprade ber Kirche, des Rechts und ber Wiflenfchaft. 237

Zunächſt um die eigentlihe Opferhandlung reiht fih ein Franz von Ge: beten, von denen viele in das frühefte hriftliche Altertum hinaufreihen!, Ihre ſchlichte Einfachheit reiht fih würdig an die bibliichen Worte, durch melde fih das Geheimnis felbft vollzieht. Um diejen feiten Kern, den jog. Kanon, der jpäter nur wenige Zuſätze erhielt und dann unveränderlich blieb, reihte fih ein zweiter Kranz bon Gebeten und Lejungen, der je nad) den ber- fchiedenen Feſten und Feſtzeiten beweglich ift, aber für jedes einzelne Fyeft eine fünftlerifche Einheit des Gedanfen®, der Stimmung und der fyorm be: fit. Jeden Tag bringen darum die Mehgebete unverändert biejelben er- babenen Gedanken, Worte und Bitten wieder, um welde fi, wie um un: verrüdbare Pole, die gejamte Offenbarung und das Heilsleben des Einzelnen dreht, jeden Tag bringen fie aber auch wieder etwas Neues, was im Laufe des Kirchenjahres die ganze Gejhichte der Erlöjung und ihres Fortwirkens lebendig vor Augen führt. Keine Dichtung hat die Geheimniffe der Menſch— mwerdung, der Auferftehung, der Sendung des Heiligen Geijtes ergreifender zum Ausdrud gebracht als die Meßgebete auf Weihnachten, Oftern und Pfingften. Durch die Verteilung der bibliichen Erzählung und der auf fie bezüglihen Pjalmen und Prophetien auf die einzelnen Tage des Jahres ift ein bibliſcher Cyklus entitanden, welcher zugleih die wunderbare Typik des Alten Bundes umfakt und fo den gejamten Stoff der Offenbarung Jahr für Jahr, mit dramatifcher Friſche und Schönheit neu aufleben läßt, während das größte aller Geheimniffe fih auf dem Altare erneuert. Den eigentlichen Feſtgedanken faſſen in epigrammatifcher Kürze drei Gebete zufammen, die eigentlihe Dration des Tages, die Sefreta und die Poftlommunion.

Die ältefte Geftaltung der heiligen Meſſe läßt fih aus dem fog. Sacra- mentarium Leoninum (d. 5. Leos I.) und dem Sacramentarium Gela- sianum (des Papſtes Gelafius) erjehen. Zu einem gewiſſen Abſchluß ge: langte die römiſche Liturgie dur) Gregor d. Gr. in dem nad) ihm benannten Sacramentarium Gregorianum, nad) weldhem das mwejentlihe Mekformular nur mehr unerheblihe Veränderungen erhielt ?,

Ein ähnliches Kunſtwerk ftellt das Firdhlihe Stundengebet dar, das in jeinen Anfängen ebenfall® aus der riftlihen Urzeit herrührt, durch die

: 5. Probſt, Liturgie der drei erſten hriftlihen Jahrhunderte, Tübingen 1870. Derf., Liturgie des 4. Jahrhunderts und deren Reform, Münfter i. W. 1893. Derf., Die abendländifche Meſſe vom 5. bis zum 8. Jahrhundert, ebd. 1896.

2 I. Duchesne, Origines du culte chretien. Etude sur la liturgie latine avant Charlemagne, Paris 1889. F. Probft, Die älteften römischen Saframen- tarien und Orbines erflärt, Münfter 1892. H. A. Wilson, A comparative index to the Leonine, Gelasian and Gregorian Sacramentaries, according to the text of Muratori, Cambridge 1892; The Gelasian Sacramentary, Oxford 1894. Sacramentarium Gelasianum bei Migne, Pair. lat. LXXIV 1055—1244.

238 Erſtes Kapitel,

beihaulihen Möndsorden weiter ausgebildet und endlih, von der Kirche reguliert, als Breviergebet jedem Priefter zur Pflicht gemadt wurde. Es liegt ihm der Gedanke zu Grunde, den ganzen Tag, joweit ald nur möglid, dem Lobe Gottes zu weihen. Den Grundftod bildet hier das Pſalmenbuch des Alten Bundes, auf die verjchiedenen Tage der Wodhe und an jedem Tage auf fieben Gebetsftunden: Matutin und Laudes, Prim, Terz, Sert, Ron, Beipern und Komplet verteilt. Auch hier erjcheint der Fyeitgedante eines jeden Tages am fürzeften in der jog. Oration ausgedrüdt. Demjelben entſprechend find die Pjalmen ausgewählt. Bor und nad jedem Pjalm bringen die jog. Antiphonen denſelben wieder mannigfaltig zum Wusdrud, ebenjo der Hymnus, der in den ſog. Heinen Horen den Palmen vorausgeht, in den übrigen ihnen folgt und duch kurze Wechſelverſe (Verſikel) zum Gebete des Tages übergeleitet wird. Während in den Pjalmen die Lob— gejänge des Alten Teftamentes weiterflangen dur alle Jahrhunderte, war in den Hymnen den Dichtern Gelegenheit geboten, Neues zu jhaffen, jo daß das jeßige Brevier hymnologiſche Beitandteile aus den verſchiedenſten Perioden , der chriſtlichen Literaturgefhichte enthält.

In Bezug auf die Aufnahme folder neuen Beftandteile in die firchliche Liturgie herrſchte allerdings anfänglich ei gewiſſes Schwanfen. Die zweite Synode von Braga (563) verfügte in ihrem 12. Kanon: „Außer den Plalmen und Hymnen der Bibel des Alten und Neuen Teftaments joll nichts Poetifches in der Kirche gefungen werben, wie die Heiligen Kanones vor: ſchreiben.“ Die vierte Synode von Toledo (633) hob indes dieſes Berbot in feiner Allgemeinheit auf und erklärte es für „unrecht, alle von Hilarius und Ambrofius verfaßten Hymnen zu berwerfen“. Die Synode von Tours (567) aber verfügte: „Außer den Ambrofianishen Hymnen, welche wir im Kanon haben, können aud) andere, die deifen würdig find, gejungen werden, wenn ihre Verfaffer genannt find“ (Kanon 23). Dagegen ließ die Synode von Narbonne (589) bei Leichenbegängniffen nur die bibliichen Pjalmen, mit ausdrücklichem Verbot „bejonderer Leihengedichte” (Kanon 22), Mehrere Spnoden aber (Nurerre 585, Narbonne 589, Chalond 644, aud die Synodalftatuten des Hl. Bonifatius um 747) wehrten unpaffende Gejänge und Chöre von den kirchlichen Feſten ab!.

Inwieweit unter Gregor I. aud das kirchliche Stundengebet zu einem gewiffen Abſchluß kam, ift noch eine ftrittige Frage; gewiß ift aber, dab er und die älteften Söhne des hi. Benedilt einen großen Anteil an der Ge- ftaltung und Verbreitung desielben hatten?,

ı Hefele, Konziliengeſchichte III?, Freiburg i. B. 1877, 19 81 26 53 43 585. 2 P, Batiffol, Histoire du Breviaire Romain, Paris 1893. ©. Bäumer, Geihichte bes Breviers, Freiburg 1895.

Latein ald Sprache ber Kirche, des Rechts und der Wiſſenſchaft. 239

Außerhalb der katholiſchen Kirche nimmt die äußere Gottesperehrung im modernen Leben meift einen fo verſchwindend geringen Raum ein, dab mande kaum die Bevorzugung zu würdigen wiſſen, welche der hi. Benedikt und feine Söhne dem Opus Dei, dem feierlichen Gottesdienfte, beimaßen, vielmehr geneigt find, die bejhaulide Seite des Mönchslebens als eitel Müßiggang und Tagdieberei aufzufaffen und höchſtens die Verbienfte der Mönde um Wiffenihaft und materielle Kultur gelten zu laffen. Es kann indes fein Zweifel jein, daß das Lob Gottes, Kultus und Liturgie die eigentliche Seele ihrer unermüdlichen, opferfreudigen Kulturtätigfeit nad allen Seiten hin gewefen. Der heilige Opferdienft des Neuen Bundes hat die zahllojen Dome, Kirchen und Klöfter gebaut, welche während des Mittel- alter3 von der Südfüfte Siziliens bis hinauf in die Orfneyinfeln und nad Island den Kern ftädtifcher Niederlaffungen und die Ausgangspunfte der Zivilifation bildeten. Die Pfalmodie war der Drpheusgefang, der die Germanen angezogen, gebändigt und in die Kirche geführt hat. Ohne jenen glühenden Eifer für das Lob Gottes, ohne jenen wunderbaren Troft, den fie im Gebete und Gottesdienfte fanden, wären die Mönche des Abend: landes nie im ſtande geweſen, all jenen Gefahren, Entfagungen, Leiden und Mühen zu trogen, mit welden ihr Apoftolat und ihre allgemeine Kultur— aufgabe verfnüpft waren.

Wie das Lateinische die überlieferte Spradhe des Kultus und der Liturgie blieb, jo blieb e8 naturgemäß aud die Sprache des religiöfen Unterrichts, der Predigt und der Wiſſenſchaft überhaupt. Für die romaniſchen Völker und die Romanen war dies jelbftverftändlih. Nur langſam trennte fih ihre Sprade von der lateiniſchen ab: fie konnten noch lange mit Leichtigkeit einem lateiniſchen Vortrag folgen. Den Germanen mußte der erſte religiöfe Unterricht natürlih in ihrer Sprache geboten werden. Schon dies erheifchte viele Mühe und Anftrengung. Für höhere Bildung konnten die nötigen Lehrmittel unmöglich gleich geſchaffen werden: der einfachfte Weg war, fie im Lateinifchen zu unterrichten und ihnen damit den gejamten Schatz religiöjer und profaner Literatur zu erſchließen, der in diefer Sprache vorhanden war.

Tritt au die Liebe und die Begeifterung für antiles Denken, für antife Form- und Sprachſchönheit bei manchen der führenden Geifter, wie 3. B. bei Gregorius d. Gr.! nicht jo lebendig hervor, wie etwa bei Boethius,

ı Johannes Diafonus (Vita 8. Greg. M. lib. 2, n. 13 [Migne, Patr. lat. LXXV 92]) jagt zwar: „Tune rerum Sapientia Romae sibi templum visibiliter quodammodo fabricabat, et septemplicibus artibus, veluti columnis nobilissimorum totidem lapidum, apostolicae sedis atrium fulciebat. Nullus pontifici famulantium, a minimo usque ad maximum, barbarum quodlibet in sermone vel habitu prae- ferebat, sed togata, Quiritum more, seu trabeata Latinitas suum Latium in ipso

240 Erſtes Rapitel,

jo wurde doch das Studium der altrömischen Literatur wenigftens innerhalb gewiſſer Grenzen ein unerläßliches Hilfsmittel, um eine größere Gemwandtheit in der lateiniſchen Sprade zu erlangen, und jo erhielt fi in den Klofter: ſchulen aud das Studium der Alten, wenn auch durch die religiöä-theo- logiſche Grundrichtung überwogen und zurüdgedrängt. Als Behilel des Unterriht ward das Lateiniſche auch die Sprache alles höheren geiftigen Verkehrs. Dazu gejellten fih nod die mächtigen Spuren, welche die lange Herrihaft der Römer in der Verwaltung wie in allen Rechtsverhältniffen zurüdgelafien hatte. Das Lateiniiche blieb die Sprache des kirchlichen Rechts, in weiten Umfang aud die Sprade des meltlihen Rechts und des diplo— matishen Verkehrs, wie in den Alten und Briefen Gafliodors.

Bereit3 umter den erſten Genoffen des HI. Benedikt fand ſich ein Dichter, Marcus von Monte Gaffino, der feinen Ordenspatriardhen nad) deſſen Hin- gang in ſchönen Diftichen verherrlichte. Er beichreibt darin, wie Benedikt auf den Höhen von Monte Gaffino noch einen Göbentempel vorfand, der dem Juppiter geweiht war, wie er die Gößenbilder zerftörte und die „Burg der Hölle und des Todes“ in eine „Burg des Lebens“ verwandelte, wie Chriſtus felbft feine Schritte dahin lenkte, manderlei Wunder jein Wirken dajelbft begleiteten, die öde Felſenwüſte duch ihn zum blühenden Garten ward.

Wieder zurüd gibt dir der Berg die empfangenen Ehren, Den geehrt, geihmücdt du mit jo reichlicher Zier, Deſſen nadten Feld bu befleidet mit ladhenben Gärten,

Defien ödes Geflein prangt nun von Früchten und Grün. Staunend bewundert der Fels das Obft, nicht feines zu nennen; Schimmernd aus wallendem Laub bliken bie Äpfel hervor.

Alto befruchteft du auch des Menſchen Sinnen und Streben, Nekeit mit himmliihem Tau fegnend das flarrende Herz.

Wandle, ich flehe did an, die Dornen in blühende Zweige, Welche in meiner Bruft wuchern als ſpitzes Geftrüpp!!

Dem heiligen Bapft Gregor d. Gr. werden mehrere Hymmen zugejchrieben, welche Aufnahme in das Brevier gefunden haben, jo das jhöne Sonntags: lied Primo dierum omnium, die Tyaftenlieder Clarum decus ieiunii und Audi, benigne conditor, alle in der Art der ambrofianiihen Hymnen ge- halten, aber auch zwei furze Lieder in ſapphiſchem Versmaß, das Morgen: lied Ecce iam noctis tenuatur umbra und das „Mettenlied“ :

Nocte surgentes vigilemus omnes, Semper in psalmis meditemur atque

Voce concordi domino canamus Duleiter hymnos.

Latiali palatio singulariter obtinebat. Refloruerant ibi diversarum artium studia, et qui, vel sanctimonia, vel prudentia forte carebat, suo ipsius iudicio subsistendi coram pontifice fiduciam non habebat. ı Migne, Patr, lat. LAXX 183— 186.

Latein ald Sprade ber Kirche, bes Rechts und der Wiſſenſchaft. 241

Ut pio regi pariter canentes, Cum suis sanctis mereamur aulam Ingredi caeli, simul et perennem Ducere vitam. Praestet hoc nobis deitas beata Patris ac Nati pariterque Sancti Spiritus, cuius resonet per omnem Gloria mundum. Nachts uns erhebend, Takt uns waden alle, Daß ftetes Loblied Gott dem Herrn erjdhalle, Und wir einftimmig feinen Namen preifen An fühen Weifen. Daß ums, die wir lobfingend ihn verehren, Er einft voll Huld mit feiner Engel Ehören, Moll’ in jein Reich erhöhn und Wonn’ uns geben Und em’ges Leben. Schenk', ew’ge Gottheit, aus des Himmels Höhen, Gewährung, o Dreieiniger, unfrem Flehen, Defi’ Ehre preifen mit vereinten Schalle Die Welten alle‘.

Ob Gregor d. Gr. diefe Hymnen wirklich verfaßt Hat, ift nicht ficher. Iſidor, Ildephons und Honorius von Autun erwähnen nod feine Hymnen von ihm. Jedenfalls fpricht die Überlieferung dafür, daß er als Freund, Gönner und Förderer der Hymmendichtung betrachtet wurde. Der Schwer- punft jeiner literariihen Tätigkeit lag jedod in feinen theologiſchen Proſa— jhriften, feinen „Dialogen“ ? (Bon dem Leben und den Wundern der italifchen Väter; Von der ewigen Dauer der Seelen), in feinen jog. Moralia (eine praktiſch⸗asletiſche Erklärung des Buches Job) und feiner Regula pastoralis (einem meifterhaften Lehrbuch der Seeljorge, voll praftiicher Weisheit und religiöfer Salbung). Seine Homilien befißen nicht dieſelbe künſtleriſche Ab— rundung tie diejenigen Leos I., aber fie find einfah, Mar, zum Herzen ſprechend, voll natürlicher Beredſamkeit und erheben ſich gelegentlih, tim Anſchluß an bibliſche Terte, befonders der Propheten, zu erhabenem Schwung. Seine Briefe umfpannen von höchſter Warte aus die gefamte Zeitgejchichte, zeichnen aber den Mann, dem es nicht um jchöne Worte und harmonischen Sapfall, jondern um praktiſche Ziele zu tun iſts.

ı Shlofjer, Die Kirche in ihren Liedern 1? 116.

: 2. Wieſe, Die Sprade ber Dialoge des Papftes Gregor, Halle a. ©. 1900.

Neu berausgeg. von P. Ewald und 8. M. Hartmann, Berlin 1891 1893. Monum. Germ. Hist. Epist. I II. Bgl. 3. Blößer S. J., Das Rund: Ihreiben Pius’ X. zur Gentenarfeier Gregors d. Gr., in Stimmen aus Maria-Laach LXVI (1904) 485505.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 16

2423 Zweites Kapitel.

Zweite Kapitel.

Tateiniſche HSchriftfieller in Nordafrika und im weflgotifhen Spanien.

In Afrika, welches der Kirche den großen hl. Auguftinus gejchentt, fand die Yehre der Kirche an Fulgentius, Biſchof von Rufpe (geb. 468, geit. 533), im Kampfe gegen den Arianismus der Vandalen noch einmal einen gewaltigen Verteidiger; allein zweimal ward er dafür nad Sardinien verbannt; erft die legten zehn Jahre feines Lebens konnte er wieder in der Heimat wirfen!. Die Hilfe fam zu jpät. Im Laufe des 6. Jahrhunderts verfiegten Bildung und Literatur nahezu vollftändig. Die Herrſchaft der Bandalen hatte alles zertreten. Die byzantiniſche Eroberung vermochte feine Rettung mehr zu Schaffen. Um 549 oder 550 ſchilderte der Grammatiter Flavius Cresconius Corippus einen Krieg, welden ein gewiſſer Johannes (faijerliher Gouverneur oder Obergeneral) gegen die Mauren führte, in acht Büchern, Kronifartig, mit der Korrektheit eines Schulgedichts, mitunter auch mit anſchaulicher Beſchreibung und Erzählung? Der Dichter fiedelte indes nad Konftantinopel über und befang etwa um 567, ſchon als älterer Mann, in einem bombaftiichen Lobgedicht (in vier Büchern) den Kaiſer Juftinus jo breitipurig, daß die erjten drei Bücher nur die erften acht Tage jeiner Regierung umfaſſen. Während e3 hier fehr an Poeſie fehlt, mangelt es dem Gedichte des Verecundus, Biſchofs von Byzacene, „Über die Buße“s, zwar jehr an Richtigkeit der Sprache und des Metrums, aber nicht an Poefie. Der Ausdrud jeiner Zerknirſchung, beſonders aber die Schilderung des Welt brandes und des jüngften Gerichts it bon einem Schwung getragen, der an die Palmen erinnert. Auch Verecundus ſchloß aber feine Tage nicht in Afrika; als Berteidiger des Konzils don Ghalcedon im Dreikapitelftreit wurde er nah Konftantinopel zur Verantwortung geladen und ftarb (552) auf der Flucht in Ghalcedon.

Ebenfalls zu Konftantinopel ftarb der Ereget Junilius, der eme Schrift des Perjerd Paul zu Nifibis lateinisch bearbeitetet, und B. Lici- nianus, Biihof von Karthago Spartoria, Verfaffer dogmatiſcher Briefe?. Bon dem Diaton Yulgentius Ferrandus von Karthago find nod

ı Gefamtausgaben von W. Pirfheimer und J. Cochläus, Hagenau 1520; 2. Mangeant, Paris 1684; Migne, Patr. lat. LXV.

2? Herausgeg. von J. Partſch, Berlin 1886 (Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi III 2).

® Serausgeg. von Pitra, Spicileg. Solesmense IV 138,

* Migne, Patr. lat. LXVIII 15—42. s Ebd. LXXI 689—700.

Lateiniſche Schriftfieller in Nordafrita und im weftgotifchen Spanien. 243

fanoniftiiche Schriften vorhanden, die aus der Zeit von 540 ftammen!. Mit diefen Namen entihwindet Nordafrifa aus der Literaturgejchichte.

Im Reiche der Weftgoten in Spanien bewegte ſich dagegen die Ent: widlung in auffteigender Linie?. Nachdem Hermenegild für den katholiſchen Glauben geftorben, fein Bruder Reccared mit dem ganzen Bolfe zu dem: jelben übergetreten war (587), vollzog fih auch ein reger Anſchluß an die römische Bildung. Mehrere Könige jelbft nahmen Anteil daran, Bon König Sifebut find zwei ganz artige Gedichte in forreten Herametern und mehrere Briefe? vorhanden, von König Ehintila einige Diftiha*, von König Reccesvinth ein paar Infriftend, von König Wamba jogar mehrere Anichriften®. Das größte Verdienft um die Ausbildung der Goten erwarben ih die großen Biſchöfe jener Zeit: Severus von Gartagena, Marimus von Saragoija, Iſidor von Sevilla, Braulio und Tajo von Saragofla, Eugenius IL, Ildephons und Julianus von Toledo, Fructuojus von Braga. Ihr Einfluß ſchuf ein heilſames Gegengewicht gegen die Willtür der Könige und Richter, die Herrfchjucht der Großen und die Raufluft des Volkes. Durch fie geftalteten fi die kirchlichen Synoden zugleih zu allgemeinen Reihstagen, auf‘ welden das Verhältnis zwiſchen Kirche und Staat aufs befriedigendfte geordnet wurde. Durch den friedlichen Ausgleih zwiſchen ger: maniſcher Kraft und romaniiher Bildung gelangte das Reich zu einer hohen geijtigen wie materiellen Blüte. König Sifebut jelbft jchreibt diefe haupt: ſächlich der Überwindung des Arianismus zu.

„Es war, es war ehedem“, jagt er in einem Briefe an den Langobarden— fünig Adalwald und feine Gemahlin Theodelinde, „dieſe ſchädliche Peſt all: gemein verbreitet, welche unfichtbar die Seelen der Ungläubigen den hölliſchen Mohnfigen zugejellte und mit verlodender Süßigfeit gewürzt den Becher des Todes darreihte. Ungeheure Schidjalsihläge und mannigfaltigftes Elend, Mangel an Korn und peftartige Krankheiten, häufige Tchredlichite Kriege und täglicher Jammer haben uns damals, in jener hinter uns liegenden Zeit, in maßlojefter Weife bedrängt. Seitdem der himmlische Glanz den Herzen der Gläubigen erftrahlt und der wahre Glaube den verbiendeten Geiftern aufgegangen ift, die Katholifen den Frieden erlangt haben, blüht, durch Gottes Fügung, der Goten Reid.“ Ein volles Jahrhundert dauerte dieje

ı Ebd. LXVII 887—962.

® Bol. N. Antonius, Bibliotbeca Hispana Vetus I, Matriti 1788, 306—436. P. P. Gams, Die Kirhengeihihte von Spanien II, Regensburg 1874.

> Florez, Espaüa sagrada VII 320. Migne a, a. ©. LXXX 372, Bährens, Poetae latini minores V 357.

* Riese, Anthologia latina 494, Bährens a. a. ©. V 363.

5 Migne a. a. D. LXXXVII 402, ® Ebd. LXXXVIL 401.

? Sisebuti Gothorum regis Epist. VIII (Migne a. a. ©. LXXX 373.

16*

244 Zweites Kapitel.

Blüte, eine wahre Dafe im kriegeriſchen Gewirre jener Zeit, und fie hätle wohl noch länger gewährt und hätte fi dem Islam gegenüber widerftands- fähiger ertwiefen, wenn die Könige der gemeinfam mit der Kirche geichaffenen Rechtsordnung treu geblieben wären.

Bon den Schriften der meiften diefer Biſchöfe, melde den Weftgoten die chriftlih Lateinische Bildung vermittelten, it verhältnismäßig weniges erhalten; von Severus von Gartagena und Marimus von Saragofia gar nichts, don dem gelehrten Bishof Braulio von Saragofja nur eine mäßige Brieffammlung und ein Hymnus auf den hl. Nemilian; doch geht aus feinen Briefen hervor, daß er Horaz, Vergil, Ovid, Terenz, Quintilian und die Fabeln Aefops kannte!. Tajo von Saragoffa hat nur ein Gedicht, eine Midmung zu feinen weitſchichtigen theologiſchen Sententiae, hinterlaflen ?. Bon Julian von Toledo find mehrere wertvolle theologische und apologetijche Abhandlungen, eine Ars grammatica, ſowie ein die Regierungszeit des Königs Wamba betreffendes Geihichtäwert vorhanden, das in Sprade, Stil und Darftellung eine tüchtige Kenntnis der Alten verrät, aber jeine Gedichte find verloren. Drei Gedichte werden in älteren Sammlungen dem Bifchofe Aructuofus von Braga zugefhrieben. Der Hl. Ildephons von Toledo zeichnete fih hauptſächlich als geiftliher Redner aus?. in ihm fälſchlich zugejchriebenes Epigramm feiert die Überwinder des Arianismus, die Biſchöfe Leander von Sevilla und Maffona von Merida, folgendermaßen :

Leander pater excellens, quem suscipit aether Laudibus ornatum, conspieuum titulis,

Ineus Arianae gentis, medicator et idem Doctor Isidori, quem generat Domino;

Tu quoque ter felix Meritensis gloria gentis Massona consilio, pectore, note fide,

Ambo pares animis, pietate et laudibus ambo, Inque domo magni murus uterque Dei.

Vieistis tolerando minas animumque rebellem Regis, eum sceleris paenituisse ferunt.

Vos soboli regis biforem reserastis Olympum; Per vos alter enim martyr ad astra volat:

Alter et ad roseas emergit luminis auras, Et qua luce caret, tunc iubar eius habet.

Vos memorant genti Gothae tribuisse salutem, Linquit cum invisum dogma, piumque tenet.

Vos merito vietrix laurus, sequiturque perennis Gloria, tot meritis debita magnificis.

:S. Braulionis Caesaraugustani episcopi Epistulae bei Florez, Espaüa sagrada XXX, danad bei Migne, Patr. lat. LXXX 649— 700,

®: Taionis Caesaraugustani episcopi Sententiarum libri V (Migne a. a. O. LXXX 727-992).

® Seine Werle bei Migne a. a. DO. XCVI 427—816.

Lateinische Schriftfteller in Nordafrifa und im weftgotifhen Spanien. 245

Semper vester honos, atque inelyta fama manebit, Vosque canent populi, sed magis astra canunt,

Estis enim aeterna praecincti tempora fronde Inter doctores splendidiore loco '.

Ein eigentliher Dichter war der unmittelbare Vorgänger des hi. Ilde— phons, der hl. Eugenius II. (nad anderer Zählung ILL), der von 646 bis 657 den erzbiihöflihen Stuhl von Toledo innehatte. Auf den Wunſch des Königs Chindaſvinth gab er die Satisfactio des Dracontius neu heraus und bearbeitete aus deſſen Laudes Dei jenen Zeil, der die Schöpfungs- geihichte behandelte und der unter dem Titel Hexaemeron weitere Ber: breitung erlangt hatte, ließ manches als irrig oder unjchön weg, änderte anderes und fügte einige Verſe über den fiebten Tag bei?. Die eigenen Gedichte des Eugenius find vorwiegend religiös, doch nad Inhalt wie Form ziemlih mannigfaltig. Am häufigften find Herameter und Diftichen, aber gelegentlich erjcheinen auch jambiſche Senare, katalettifche trochäiſche Tetrameter und jogar japphiihe Strophen. Die allgemeinere Sammlung hebt mit einem Gebet an Gott an, dann folgen Gedichte über die Kürze des Menjchen: lebens, über die Unbeftändigfeit der menſchlichen Dinge, Strafpredigten gegen Trunfenheit und Völlerei, Lobgedichte auf verfchiedene Märtyrer. Eine Reihe mehr perjönlicher Gedichte beginnt mit einem Stüd, worin Eugenius ſich über jeine Kränklichkeit beflagt, und einem andern, worin er die Gebrechen des Alters betrauert, ſich dabei im religiöfer Weile zu tröften ſucht. Mit Profodie und Metrik iſt es mitunter übel beftellt, und ſtrenge Formkritiler werden Sirmonds Anficht teilen, „daß die Gedichte der Politur entbehren und aus groben und diden Fäden gewoben jeien“, aber faum mit ihm zugeftehen, dab dabei der geiftreihe Gedante nur um jo mehr herborglänze, „wie ein Edelftein aus zerriffenen Lappen“; den wirklichen Poeten wird man in ihm indes faum verfennen können, jei es, daß er das Lieb ber Nadtigall befingt oder die vielen Plagen der Sommerhige bejchreibt, oder wie Uhland von gaftliher Ruhe unter einem jchattigen Baume erzählt, einem lieben Freunde Lebewohl jagt oder die verjchiedentlichften Einfälle in ein Epigramm zufpigt, dem König Chindafvinth eine ſcharfe Generalbeidhte auf den Grabftein jet oder den vorüberziehfenden Wanderer um ein frommes Memento für die Königin Reciberg anfleht, über die Untreue eines Freundes Hagt, den er geliebt wie Nifus den Euryalus, oder ſich jelbft eine ernit asletiſche Grabichrift widmet. Er ift ein mwarmfühlender, liebenswürdiger Menſch, mit dichteriihem Formgefühl begabt, der aber der Überlieferung und Übung der altklaffiihen Mufter ſchon zu ferne flieht, um ihrer Form:

' Migne, Patr. lat. LXXX 161 162.

2 Seine Werfe ebd. XCVI 16—324; die ihm zugefchriebenen Gedichte ebd, XCVI 322—330, die indes N. Antonius bis auf drei für unecht hält.

246 Zweites Kapitel.

ſchönheit nadeifern zu können, für feine Zeit aber nod einen achtenswerten Reſt davon beſitzt. Daß anderthalb Jahrhunderte nad) der weſtgotiſchen Groberung, ein halbes vor der mohammedaniſchen noch fo viel Kriftlich römische Bildung in Spanien lebte, ift eher zu berwundern als zu belächeln.

Wie es niht an Fleiß und Eifer fehlte, das Gerettete zu bewahren und zum Ausbau einer neuen Bildung zu verwerten, zeigt am beiten der gelehrtefte und gefeiertfte Spanische Schriftfteller diefer Zeit, Iſidor, der nahezu vierzig Jahre (599 —636) den erzbiihöflichen Stuhl von Sevilla innehatte, 633 auf dem vierten Nationaltonzil von Toledo den Vorſitz führte. Der von ihm verfaßten Schrift „Von den berühmten Männern“ fügte ein jpäterer Herausgeber (Perez) eine Notiz über ihn Hinzu, worin ihn der ihm befreundete Biſchof Braulio von Saragofja als den Mann bezeichnet, „den Gott nad) jo vielen Verluften Spaniens diejen lebten Zeiten erwedt bat, wie ich glaube, um die Monumente des Altertums wieder herzuftellen, und als Stütze Hinftellte, damit wir nicht völlig verbauerten und veralteten“ 1.

Dur feinen älteren Bruder Leander, welder an der Belehrung Her: menegildS beteiligt war und fpäter noch die Ausſöhnung Reccareds und des ganzen Volfes mit der Kirche vollzog, ſtand er den wichtigſten Zeitereignifien in nächſter Nähe; nach defjen Tod zu feinem Nachfolger augerjehen, ward er felbft der einflußreichfte Bifhof und Führer der ſpaniſchen Kirche und vollendete das große Werk des Übertritts durch Belehrung, Organifation und Erneuerung des gefamten Volkslebens nad allen Seiten hin. Inmitten diefer riefigen praktiſchen Tätigkeit hatte Iſidor noch die Spannkraft, fi in allen Wiffenszweigen eine Gelehrjamteit zu erwerben, die jemer Zeit geradezu phänomenal erſchien, das ganze Mittelalter hindurch angeftaunt und benutzt wurde und die, nad dem Mapftab der damaligen Berhältnifie beurteilt, noch heute Ehrfurcht gebietet?.

Als Theologe ſchrieb er eine Geſchichte der hervorragenditen Perſönlich— feiten des Alten und Neuen Teftaments, über perſönliche allegoriihe Typen des Alten Bundes, über die myſtiſche Bedeutung der bibliihen Zahlen, Ein- leitungen und Abhandlungen zu beiden ZTeftamenten und den einzelnen Büchern derfelben, eine apologetiſch-polemiſche Schrift vom katholiſchen Glauben

ı8. Braulionis Caesaraugustani episcopi Praenotatio librorum D. Isidori (Migne, Patr. lat. LXXXI 16 17).

2 Gejamtausgaben von Marguerin be la Bigne, Paris 1580; Perez und Grial, Madrid 1599 1778; 3. du Breul, Paris 1601, Köln 1617; F. Arevalo, Rom 1797—1803; letztere abgedrudt bei Migne, Patr. lat. LXXXI bis LXXXIV. 2gl. N. Antonius, Bibliotheca Hispana. Vetus I, Matriti 1788, 821—868. P. P. Sams, Die Kirchengeſchichte von Spanien II, Regens⸗ burg 1874, 102—113.

Lateiniſche Schriftiteller in Nordafrika und im weftgotiihen Spanien. 247

gegen die Juden (feiner Schweiter Florentina gewidmet), ein Handbuch der Dogmatit und Moral (Libri tres sententiarum), zwei Bücher über die Prlihten des geiltlihen Standes und eine Mönchsregel.

Als Hiftorifer verfaßte er eine kurze Weltchronik, eine Geſchichte der Goten, Bandalen und Sueven und eine fichlihe Literaturgeſchichte (De viris illustribus) !.

Als Polyhiſtor ftellte er auf Wunſch des Königs Sifebut in einem Handbuh das damalige Naturwiffen (De natura rerum) zufammen, ver: faßte die dialeftiihen Schriften: Libri duo differentiarum, d. h. ein Synonymwörterbuch (De differentiiss verborum), ein Lexikon der theo- logifhen Begriffe (De differentiis rerum) und zwei Bücher Synonyma.

Sein Hauptwert aber find die Etymologiae oder Origines, eine Art allgemeiner Encyklopädie oder Konverjationsleriton, das er erft kurz vor jeinem Tode vollendete und das fein Freund Braulio, Biſchof von Saragofia, in zwanzig Bücher geteilt, herausgab?.

Es umfaßt: 1. Grammatil, 2. Rhetorik und Dialeftif. 3. Die vier mathe: matifchen Disziplinen (Arithmetif, Geometrie, Mufit, Aftronomie). 4. Mebizin. 5. Recht und Geſchichte (einichlieglih einer kurzen Weltchronik). 6. Kirchenrecht. 7. Die Lehre von Gott, den Engeln und Ständen der Menſchen. 8. Die Lehre von der Fire und ben Sekten. 9. Die Lehre von ben Spraden, Völkern, Reichen, ber Kriegstunft, den bürgerlihen Berhältniffen und Verwandtihaftsgraden. 10. Wort: ableitungen. 11. Anthropologie (auch von fabelhaften Wunderweien). 12. Zoologie, 13. Kosmographie. 14. Geographie. 15. Baufunft und Lehre vom Feldbau. 16. Geo» logie und Metallurgie. 17. Botanik und Gartenbau. 18. Lehre vom Krieg und ben öffentlichen Spielen. 19. Schiffsbaufunft, Gebäubeeinrihtung und Kleidertradt. 20. Hauswirtichaft, häusliche und ländliche Technologie.

Bei allem geht Iſidor von den Namen aus, deren etymologiſche Er- flärung oft jeher wunderlich ift, aber doch jchließlid darauf führt, die Grund- begriffe und Ausdrücke der einzelnen Wiſſenszweige zu erklären und jo ein Glementarbuch derjelben herzuſtellen. Wie ſich von jelbit verſteht, war es dabei nicht auf neue Forfhungen und Rejultate abgejehen, jondern darauf, das Notwendigfte und Wiſſenswürdigſte aus allen Gebieten zu ſammeln.

Nah manden Seiten hin mußte Iſidor weit hinter dem Umfang von Kenntniffen zurüdbleiben, welden die alerandriniihe Gelehrſamkeit und

Die Geihichtöwerfe neu herauägeg. von Th. Mommsen, Chronica minora saec. IV V VI VII, 2b 2, Berol. 1894 (Monum. Germ. Hist. Auctores anti- quissimi XI 241—506). ®ie Historia de regibus Gothorum etc. deutſch von D. Coſte, Leipzig 1887, G. Dzialowski, Iſidor und Jldefons als Literatur: hiftorifer, Münfter 1898 (Kirchengeſchichtl. Stubien IV, Heft 2).

? Einzelauögaben von B. Bulcanius, Baſel 1577 und F. W. Otto bei Lindemann (Corpus Gramm. lat. III), Leipzig 1833, doch befier ſchon bei Are: valo (II u IV) und Migne.a. a. ©. LXXXI.

248 Zweites Kapitel.

Varro in ihren encpllopädiihen Werfen aufgeipeihert hatten, da ihm jene griechiſchen Werke nicht unmittelbar zugänglih waren, die Spezialitäten des römischen Sammlers vielfach von jeinem Ziele ablagen. Dafür fiand ihm aber zu Gebot, was die hriftliche Wiſſenſchaft in ihren erften ſechs Jahrhunderten geleiftet Hatte, umd hier hat er denn aud mit riefigem Bienenfleiße alles ihm Erreihbare durchgeſtöbert und erzerpiert, mit der denkbar größten Univerjalität. Keinen Zweig der Naturwiſſenſchaft no des untergeordnetften Realwiſſens hat er unbeadhtet gelafjen. Die Allgemeinheit feines Intereſſes entipricht ganz der des Nriftoteled. Das verdient, mweitverbreiteten Vorurteilen gegenüber, um jo mehr hervorgehoben zu werden, als Iſidor einer der angejehenften und fichlichften Kirchenfürſten feiner Zeit war, der unbedingte Vertrauengmann Gregors des Großen wir würden heute jagen: ein Ulttamontaner vom reinften Waſſer —, Förderer und Gönner des zeitgenöjfiihen Mönchtums, jelber Asket, als Heiliger und Kirchenlehrer verehrt. Diefer Mann, die Säule des orthodoren Glaubens in Spanien, hat dem Studium den dent: bar weiteiten Rahmen gezogen und dem Mittelalter die Umriſſe einer Ency- Hopädie hinterlaffen, welche zu den Fächern des Triviums und Duadriviums nit etwa bloß diejenigen der Theologie gejellt, jondern alle Zweige der naturwiſſenſchaftlichen, medizinischen, juriftifchen, hiftorifchen und ökonomiſchen Disziplinen umfaßt. Seine Anregungen hätten, fonjequent durchgeführt, nit nur zur vieljeitigiten Univerfitätsbildung, ſondern aud zur Errichtung polytehnischer Inftitute, botanifher Gärten, anatomiſcher und chemiſcher Laboratorien, möglichft allfeitiger Bibliotheten und wiſſenſchaftlicher Samm: lungen führen müffen. Es war alſo nicht die Kirche noch der kirchliche Geift, der dieje Entwidlung, des menjhlihen Wiffens um Jahrhunderte aufs gehalten hat, jondern politiiche und joziale Hinderniffe der verfchiedenften Art.

Eine die Literatur berührende Schwierigkeit mag hier Erwähnung finden. Das Theater ftand noch zur Zeit Jfidors auf einer jo niedrigen Stufe und in jo ſchimpflichem Ruf, daß er es nit nur unter die gemeinften öffentlichen Beluftigungen einreihen, jondern geradezu auf eine Linie mit den Häufern der Schande ftellen zu müffen glaubte. Tragoedi sunt, qui antiqua gesta atque facinora sceleratorum regum, luctuoso carmine, spectante populo, concinebant. Comoedi sunt, qui privatorum hominum acta dietis atque gestu cantabant, atque stupra virginum et amores meretricum in suis fabulis exprimebant. . . . Idem vero theatrum, idem et prostibulum, eo quod post ludos exactos meretrices ibi prostarent!. Die Gönner und Schußherren der ſceniſchen Künſte find Bachus und Venus. Der wiffensdurftige Gelehrte, der jonft feinen Notizen faum je eine Zenjur beifügt, fieht fich hier zu der Warnungstafel genötigt:

! Etym. lib, 18, c. 42 45 46 51 (Migne, Patr, lat. LXXXII 657--659).

Lateiniſche Schriftfteller in Nordbafrifa und im weitgotiihen Spanien. 249

„Diefes Schauſpiel, o Chrift, mußt du haflen, wie du feine Urheber hafjeft.“ Infolge davon hat die dramatiiche Poefie au in feiner Poetil feinen Platz gefunden !. :

Niemand kann den ehrwürdigen Sirhenfürften tadeln, daß er die zur Kirche übergetretenen Weſtgoten vor jener ſittlichen Fäulnis bewahren wollte, mit welcher das Theater im Verein mit den übrigen öffentlichen Schauftellungen die römiſche Welt verpeftet hatte. Ein neues Drama zu Ihaffen, war aber die Zeit noch nicht gefommen, wo es galt, die Wet: goten erft in die Elemente hriftlich-römijcher Bildung einzuführen, Ja noch tief ins Mittelalter hinein nahm die religiös-fittlihe Bildung der Völker die Kräfte des Klerus vor allem in Anjprud. In der Schulung des Klerus behauptete die Theologie jelbfiverftändlih den erften Pla, und die Begeifterung für bibliſche und chriſtliche Poeſie verdrängte bei vielen jogar das Intereſſe, das harmloſe antife Dichter, wie Vergil und Horaz, hätten beanſpruchen fünnen.

In einem Gediht, das dem hi. Iſidor zugejhrieben wurde und das fih auf deſſen Bibliothek beziehen joll, vielleicht wirflih von ihm ſelbſt her— rührt, wird die altklaſſiſche Poeſie ganz deutlich beifeite gehoben ?,

Geiftliches findet du hier und Weltliches, beides in Fülle: Mas dir von Dichtern gefällt, nimm dir beliebig und lies.

Wieſen voll Dornengeftrüpp fiehft du und Blütengefilde; Wilfft du meiden den Dorn, wähle bie Rojen dir aus.

Ih, Origenes, einft ber Wahrheit lauterfter Lehrer, Ward unzeitig, ah! Ihäblihen Zungen zum Raub. Sp viel Tauſende wohl ber Bücher gedacht’ ich zu Ichreiben, Als eine Legion führet an Männern zum Kampf. Nie hat Läfterung mir im geringften berühret die Seele, Immer wahend und Flug, troßte ich feindlicher Macht. Einzig hat mich gebradt zu Fall das Buch Periarchon, Zraf den verwundbaren fFled, itellte den Pfeilen mich bloß.

Gallien hat mich erzeugt, gab mich den Pictavern zum Lehrer, Hilarius, den Sohn, freudig mit bonnerndem Mund.

Etym. lib. 1, ec. 89 (Migne a. a. ©. LXXXII 117—121).

? Das Gedidt Versus in bibliotheca wird weder von Ildephons noch don Braulio erwähnt, es fteht indes in mehreren ber älteften Codices (Mediol. Ambros. und Matrit.); Verſe daraus werden ſchon von Julian von Zolebo, Beda und Notker zitiert. Nah Manitius (Gejhicdhte der hriftlich-Tateiniichen Poefie 414) „ſtammt es unzweifelhaft von Aibor*, Arevalo (Isidoriana II, e. 81, bei Migne a, a. O. LÄXXI 575) hält es für jehr alt: An autem Isidorus auctor sit, non perinde certum. ebenfalls drüdt es im wejentlichen feinen wiffenihaftlid-litera= riſchen Stanbpunft aus.

250

Zweites Kapitel,

Ambrofius, duch Zeichen berühmt und durch Lieder, der Lehrer, Glänzet durch Titel allbier, glänzt burd fein mädhtiges Wort.

Zraun, es lügt, wer ganz dich behauptet geleien zu haben: Denn wer hätt’ im Beſitz alles, was jemals bu jchriebft ?

Zaufend Bände ja find’s, die, Auguftinus, di künden, Und fie bezeugen es jelbft, was ich verſichert von dir.

Mögen viele dir aud mit ihren Büchern gefallen: Auguftinus allein gilt für der übrigen Schar.

Hieronymus bu, Dolmetfh und Kenner der Spraden, Bethlehem feiert dich, es preifet Dich ftaunend der Erbfreis; Unfere Bibliothet auch ehrt in den Werfen den Autor.

Johannes bin ih, Chryſoſtomus, alfo geheiken, Weil die Rede mir fließt Lieblih in goldenen Strom. Konitantinopel erhielt einft Glanz durch meine Belehrung, Aber dur Bücher erft überall Lehrer ih ward, Pflegte Sitten und Recht, beihhrieb die Kämpfe der Tugend, Lehrte den Sünder die Schuld büßen in läuterndem Schmerz.

Wer könnt’, Eyprian, dich befiegen als Meifter der Rebe, Der du als Lehrer zuerft, dann aud als Märtyrer ftrahlft ?

Menn du Perfius ſchauſt, den Maro, den Flaccus und Nafo, Papinianus dir nicht, minder Lucanus noch ſchmechkt: Siehe, ebenjo ſüß Prudentius mobelt die Verſe; Mannigfaltiger Sarg machte ihn weithin berühmt. Lies das Funftvolle Lieb des wohlberedten Apitus, Sieh, Juvencus fteht, Sedulius dir bereit; Beiden fliehet das Wort in lieblichen Verſen vom Munde, Beide in köſtlichem Kelch bieten dir biblifchen Trank. Bleibe länger nicht Sklav' der alten Heibenpoeten, Bettle die Mufen nicht an, reih wie an Gutem bu bift!!

Dank dem Einfluß der Kirche blieb in jener Zeit auch der fernite

Meften Europas von der Kriftlih-römishen Bildung nit unberührt.

Dumio, in der Nähe von Bracara, dem damaligen Site des Suevenreiches (dem heutigen Braga in Portugal), ließ ih um die Mitte des 6. Jahr: Hundert3 ein Pannonier nieder, der fürder Martinus von Bracara oder Martinus Dumienjis genannt wurde. Orient, wo er ſowohl mit griechiſcher Sprade und Bildung als mit dem Mönchsleben in Ägypten bekannt geworden war. Er gründete ein Klofter in Dumio, ward deffen Abt, gewann viele der arianiſchen Sueven für die

t Migne, Patr. lat. LXXXIII 1107—1111.

Er fam zu Schiff aus dem

Drittes Kapitel.” Literar. Beben in Gallien. Gregor von Tours. 951

Kirche, ward erft Biihof von Dumio, dann Erzbiihof von Bracara und führte al3 folder den Vorfi auf einer Metropolitanionode von Bracara (572). Außer mehreren moraliihen Schriften „Vom Zorne“, „Formel eines fittlihen Lebens“, „Zur Abwehr der Prahlerei”, „Vom Stolze“, „Ermahnung zur Demut“, „Sprüche der ägyptiſchen Väter“, „Worte der Alten“, hat er auch einige Verſe Hinterlaffen: eine Aufjchrift für eine dem hl. Martin geweihte Bafilifa, eine andere für einen Speijefaal und ein Epitaph für ſich jelbft!. Daß es aber für einen Biſchof viel Wichtigeres zu tun gab, al3 an alten Dichtern Proſodie und Metrik zu ftudieren, zeigt feine Predigt „Über die Zurechtweifung der Bauern“, in welder er noch das kraſſeſte antike Heidentum zu bekämpfen hatte, darunter 3. B. einen eigenen Helttag für die Motten und Mäuſe (dies tinearum et murium), an welchen: diefen Tieren Opfer von Kleiderftoffen und Brot ausgeſetzt wurden, um fie fir das übrige Jahr gnädig und nahfihtig zu fHimmen?. So war es noch mit dem tiefen Naturgefühl und dem hellen Geifte diefer Germanen beichaffen ! „Junge Bären: Niefenarbeit war's, fie bildend zu beleden.*

Drittes Kapitel.

Fiterarifhes Leben in Gallien. Gregor von Tours. Benantins Fortunatus.

Das reiche, hocdhentwidelte Gallien, das zeitweilig an literariiher Reg- ſamkeit Jtalien weit überflügelt hatte, fiel beim Zufammenbrud des welt: römischen Reiches zum Zeil den Weftgoten, zum Zeil den Burgundern und Franken anheim und blieb geraume Zeit ein Zankapfel der neuen ringenden Mächte. Die größten Hoffnungen fnüpften fi daran, dak Chlodwig (Chlodo: weh), der Merowinger, nachdem er alle Franken unter feinem Scepter ver: einigt hatte, fih 496 mit feinem Volke von dem hl. Remigius zu Reims

! Von jeinen Werfen finden fi Formula vitae honestae, Libellus de moribus, Pro repellenda jactantia, De superbia, Exhortatio humilitatis, De ira (Erzerpt aus Seneca), De pascha und drei Gedichtchen bei Gallandi (Bibl. vet. Patr. XII) und danad bei Migne a.a. ©. LXXI 21—52; Verba seniorum und Aegyptiorum patrum sententiae (zwei Sprudfammlungen aus bem Griedhifchen) bei Migne a. a. ©. LXXIII 1025--1062; LXXIV 381—894, bie Capitula Martini (eine Ranonesfammlung) bei Migne a. a. ©. LXXXIV 574—586; CXXX 575 bis 588. Die Schrift De correctione rusticorum trefffih ediert von C. P. Ca— fpari, Ehriftiania 1883,

? De correctione rasticorum, c. 11.

252 Drittes Kapitel. s

taufen ließ. Es war die erfte große Mafjenbetehrung eines germanifchen Stammes zum fatholijchen Glauben. Das neue Franfenreih, das bald von der Schelde bis an die Pyrenäen reichte, ward dadurd ein riftliches. Mit dem Empfang der Taufe war indes nur der erfte Schritt zur chriftlichen Zivilifation getan. Die bisherige Roheit und Barbarei war nicht über: wunden. Äußere wie innere Kriege ließen die blühenden Länder des einftigen Gallien während des ganzen 6. und 7. Jahrhunderts nicht zur Ruhe fommen und führten fiet3 neue Verwilderung herbei, wo faum die hriftlihe Kultur fefteren Fuß gefaßt zu haben ſchien. .

Nah dem Tode Chlodwigs (511) ward das Reih unter feine vier Söhne geteilt. Theuderih ſchlug feinen Sig in Meb auf, Ehlodomer in Orléans, Childebert zu Paris, Chlotar I. zu Soiffons. Die Erbidaft Ghlodomers, der ſchon 524 ftarb, fiel teild an Childebert teild an Chlotar. Die drei Brüder waren nun hauptfählih darauf bedacht, ihre Reihe durd neue Croberungen zu vergrößern. Theuderich unterwarf fih (531) das Reich der Thüringer, Chlotar und Ghildebert eroberten (532) vereint das Reich der Burgunder, in das fie fih mit Theudebert, dem Sohne des in- zwiſchen geftorbenen Theuderich, teilten. Die Franken befamen jebt jogar Luſt nah Italien und ſetzten fih zeitweilig in Ligurien und Venetien feit, wurden aber durch Narjes daraus vertrieben. Da Theudeberts einziger Sohn Früh ftarb, Ehildebert keinen Erben Hinterließ, vereinigte Chlotar 1. (558) wieder die ganze Monarchie feines Vaters, bedeutend erweitert, aber nur auf kurze Zeit, indem er ſchon 561 flarb!.

Es erfolgte nun eine neue Teilung unter Chlotars vier Söhne, Sigi: bert I. erhielt Auftrafien mit der Hauptjtadt Reims und vorzugsweiſe germaniſcher Benölterung, Guntram Burgund mit der Hauptftadt Orleans, Chilperich Neuftrien mit der Hauptitadt Soiſſons, beide mit vorwiegend romaniſcher Bevölkerung. Gharibert, dem Paris zugeteilt war, ftarb bald (567), und die andern drei Brüder erhielten nun an feinem Erbe gleihmäßigen Anteil. Die Eroberungen nah außen hörten jet auf; aber um jo jchred- ficher geftaltete fi der Hader, der nunmehr in dem fränkiſchen Königshaufe ausbrad. Denn Sigibert allein madte nod einigermaßen dem Chriſten— namen Ehre. Guntram war zwar gutmütig, aber wollüftig und fittenlos, Chilperich ein ebenſo graufamer als wollüftiger Tyrann, der ſich von den Zeitgenoſſen mit vollem Recht den Namen eines fränkiſchen Nero verdiente. „Er war dem Trunk ergeben, und der Bauch war ſein Gott; an Ver—

Gregorii Turonensis Historia Francorum, ed. W. Arndt (Monum. Germ. Hist. Script, rerum Meroving. I, Hannov. 1884/85). Ozanam, La eivilisation chretienne chez les Frances, Paris 1849. Junghans, Geihichte der fränkiſchen Könige ChHilderih und Chlodwig, Göttingen 1857. Bornhak, Geihichte ber Franken unter den Dlerovingern, Greifswald 1863.

Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. Benantius Fortunatus. 253

heerungen vieler Gegenden hatte er eine Freude wie einſt Nero, als er beim Brande Roms Lieder fang. Niemand hielt er für flüger als ſich jelbit; die Sorge für die Armen war ihm läftig, am liebften verjpottete er im vertrauten Kreiſe die Biihöfe und nichts haßte er mehr al& die Kirchen. Man kann ſich keine Luft oder Ausſchweifung erdenten, die er nicht wirklich verübt hätte. Gr erfann immer neue Martern, um das Volk zu peinigen. Seine Erlaffe jhloffen mit den Worten: ‚Wer unfere Befehle mißachten follte, dem follen zur Strafe die Augen auögeriffen werden.‘ Gewiß, unter diefem jchredlichen Geſchlecht war er einer der Entjeglichften.“ t Zu mehreren Gemahlinnen hielt er noch Kebsweiber, und jo iam es, daß eine gewöhnliche Magd, Fredegunde, von ihm zur Hauptlönigin erhoben, eine Furie von faft beijpiellofer Entartung, durch unerhörte Frevel in die Schidjale des Franken— reiches eingreifen konnte.

Als ESigibert (566), voll Beratung über das unmürdige Treiben jeiner Brüder, die ebenjo ſchöne als Huge Brunhilde, die Tochter des Weitgotentönigs Athanagild, heimgeführt hatte, lüftete zeitweilig auch Chil- perih nad einer ähnlichen föniglihen Verbindung, und er warb um Brunhilds Schweiter Galefvinta. Kaum hatte er indes die edle Fürften- to‘hter zur Gemahlin erlangt, jo ward er berjelben wieder überbrüffig, wandte jeine Gumft abermals der Magd Fredegunde zu, melde Galejvintha heimlich erdrofieln ließ, der erfte Mord in einer Reihe von Verrätereien, Schändlichkeiten und Bluttaten, welche die nächſten dreißig Jahre Fränkifcher Geſchichte zu einem der ſchauerlichſten Kapitel der Weltgeichichte geftalteten.

Das einzige Licht, das diejes traurige Schauergemälde einigermaßen mildert und erträglih macht, geht von der Kirche aus, und zwar haupt: jählih von den Gräbern zweier Heiligen, des hl. Hilarius don Poitierd und des hl. Martin von Tours. An den gotterfüllten Schriften des erfteren bildete und ftärkte fich ein glaubensfefter Epiftopat und Klerus, der mit unbefieglicher Geduld an der Zivilifation des Frankenvolles weiter arbeitete. Die Grabftätte des andern, durch zahllofe Wunder verherrliht, ward zu einer Zufluchtsftätte, wo das Volk ſelbſt mit ebenjo unverjieglicheın Ver: trauen Rat und Hilfe in den erdrüdenden Nöten und Unglüdsfällen der böjen Zeit juchte.

Was immer fih aud im Laufe der Zeit Mißbräuchliches, Schiefes oder Lächerlihes an den Wunderglauben des Mittelalters, jeine Heiligen» und Reliquienverehrung angefruftet haben mag, der eigentliche Kern war gut, rein, jegensvoll; er Hat der geiftig fittlihen Kultur der Völker unberechenbare Dienfte geleiftet?. Einer entarteten, twildkriegerifhen, aus den Fugen ge

! Greg. Turon. a. a. ©. lib. 9, c. 9. ? St. Beiffel 8. J., Die Verehrung der Heiligen und ihrer Neliguien in Deutihland bis zum Beginne des 13. Jahrhunderts, Freiburg 1890, 11—48.

254 Drittes Kapitel.

ratenen Zeit, in welder das Recht des Stärferen herzlos den Schwachen miedertrat, fonnte das Gebot der chriſtlichen Gharitas nicht ſchöner, nicht eindringliher vorgehalten werden als in der Geftalt des HI. Martinus, der noch als Katechumene und einfacher Legionsfoldat im Heere Julian des Apoftaten einem nadten Bettler die Hälfte feines Kriegsmantels zum Almofen gab, und dem dann Chriftus in der Nacht, mit jenem Mantel umhüllt, erihien und mit den Worten dankte: „Martin, der Satechumene, hat mich mit diefem Gewand bekleidet.” Wenn dann bderfelbe chriftliche Krieger als Mönch und Biſchof Taufende aus Irrwahn und Lafter zum Dienfte Chrifti Heranzog, wenn wunderbare Gebet3erhörungen noch jein Grab berherrlihten, was Wunder, daß jein Beijpiel aud nad jeinem Tode noch weiter wirkte, dab jein Grab ein Segensquell der Kriftlihen Charitas, der Heilige jelbft der Liebling des Volkes, der Lieblingsheld der Literatur, der Legende, der Poefie, Tours aber der Mittelpunkt des religiöfen Lebens in Gallien, der Gallia christiana, geworden ift!.

Daß die Kirche troß aller Schwierigkeiten unaufhaltſame TFortichritte machte, bezeugen die vielen Bilhofsftühle, die von 505—597 neu errichtet wurden (Never, Aire, Rodez, Aorandhes, Seez, Coutanced, Boulogne, Perpignan, Garcaffonne, Montpellier), die vielen Klöſter, welche in derjelben Zeit entitanden, die zahlreichen Konzilien und Shnoden, welche in ben ver: ihiedenen Teilen des Frankenreiches abgehalten und immer zahlreicher be- ſucht wurden, ja jelbft zur Zeit der furdtbarjten inneren Wirren nicht auf: hörten und einen raftlofen Kampf gegen alle auftauchenden Irrlehren und Mißbräuche bedeuten. Dabei waren die Bilhofsftühle durchweg mit aus- gezeichneten Hirten bejebt, jo daß es jeit dem erften Jahrhundert wohl zu feiner Zeit eine jo große Anzahl von Heiligen gab wie damals ?.

Wenn aud die Merowinger nit ganz gleihgültig gegen die Volle: bildung waren, jondern mandes taten, um die vorhandenen Schulen zu erhalten und zu heben, jo war Wiſſenſchaft und höhere Bildung doch ganz an die Sorge des Klerus gewielen, der aber viel zu jehr von den aller: dringendften Bedürfniffen des Hirtenamtes in Aniprud genommen war, um

! Sulpicius Severus, Vita 8. Martini, berausgeg. (mit befjen übrigen Schriften) von B. Gijelinus, Antwerpen 1574; 9. de Prato, Berona 1741 bis 1754; banad) bei Migne, Patr. lat. XX 95—244 und LXXIV 671—674; €. Halm, Wien 1866 (Corpus script. ecel. lat. I). Zur literarifhen Würdigung des Sulp. Severus vgl. I. Bernays, Über die Chronik des Sulpicius Geverus, Breslau 1861; abgebrudt in deſſen gejamten Abhandlungen II (berausgeg. von 9. Ujener, Berlin 1885) 81—200; €. Norden, Die antife Kunftproja II 583. Ein anihaulides Bild von der fulturgefhichtliden Bedeutung des hl. Martin wie von feiner Verherrlihung durch die Kunſt gibt das quellenmäßig gearbeitete Pradtwerf von A, Lecoy de la Marche, Saint Martin, Tours 1881.

2 Wattenbad, Deutihe Geſchichtsquellen II®, Berlin 1885, 89 90.

Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 255

fih in größerem Umfang den gelehrten Studien zu widmen. Als eigentlich bedeutend fann man nur den Geichichtichreiber Gregor von Tours und den Dichter Benantius Fortunatus bezeichnen.

Die Ummälzungen, durch welche das einft römische Gallien zum größten Teil in ein Reich der Franlen verwandelt wurde, hat Gregor von Tours gegen Ende des 6. Jahrhunderts in feiner Historia Francorum beidhrieben. Er hieß eigentlih Georgius Florentius und nahm erft jpäter nach feinem Urgroßdater, dem hl. Gregor, Biſchof von Langres, den Namen Gregorius an. Aus einer Senatorenfamilie von Arvernä (Glermontsfferrand) 538 ge boren und früh zum Dienfte der Kirche beftimmt, hatte er erft feinen Oheim Gallus, Biſchof von Arvernä, dann den Dichter und Biſchof Avitus zu Lehrern. Er tat fi im dem kirchlichen Disziplinen jo hervor, daß er ſchon mit etwa fünfunddreißig Jahren auf den Herborragendften Biſchofsſitz von Gallien, zum Metropoliten von Tours, erhoben wurde. Als foldher wirkte er in jegensreichfier Weile, erwies ſich befonders als tapfern Verteidiger der Kirche gegen den tyranniſchen Chilperich, als Heilfamen Berater der Könige Sigibert und Ehildebert und ftarb, angejehen und gefeiert in ganz Gallien, im Jahre 594. Mitten in den Kämpfen der Zeit ftehend, mit den be- deutendften Männern perfönlic befannt, war er vorzüglich dafür ausgerüftet, der Herodot der Franken zu werden,

Das erſte Buch feines Geſchichtswerles faßt einleitend die gefamte Welt: geihichte von Adam bis auf den Tod des hl. Martin, des Hauptbegründers der hriftlihen Kultur in Gallien (um 400), zufammen, meift nad Hierony— mus (Eujebius) und Orofius, mit Benußung der heiligen Schriften, des Sulpicius Severud und Rufin. Im zweiten Buche werden ſchon ausführ- licher die Anfänge des Frankenreichs bi zum Tode Chlodwigs erzählt. Vom dritten bis zum legten (zehnten) Buche erweitert fi die Darftellung zur einläßlichſten Zeitgeihichte, die beſonders in den letzten fünf Büchern eine memoirenartige Friſche und Lebendigkeit beit. Seinen Standpunft jegt er folgendermaßen auseinander :

„Da ich die Kämpfe der Könige mit den feindlichen Völkern, ber Märtyrer mit den Heiden, ber Kirche mit ben Ketzern bejchreiben will, will ich zuerft mit meinem Glauben herausrüden, auf daß fein Lejer bezweifeln möge, daß ich Katholik fei. Wegen derjenigen, welche ſchon wegen des nahenden Weltendes verzweifeln, hielt ih es auch für rätlih, einen Abriß aus den Ehronifen und früheren Geſchichts—

Gejamtausgabe feiner Werke von Th. Ruinart, Paris 1699; abgedrudt bei Migne a. a. O. LXXI; neue Eritifhe von W. Arndt und B. Kruſch (Monum. Germ. Hist. Script. rer. Meroving, I), Hannover 1884/85. Tert ber Historia Franc. nad) dem Manuffript von Corvey von 9. Omont, Paris 1887, nah dem Manuſtkript von Brüffel von G. Eoflon, Paris 1893; deutſche Uber» fegung von W. Gieſebrecht, Berlin 1851; 2. Aufl. Leipzig 1878.

256 Drittes Kapitel.

werfen zujammenzuftellen, bamit Har wird, wie viele Jahre vom Anbeginn ber Welt verfloffen find. Zuvor jeboch bitte ich ben Lefer um Verzeihung, wenn ich mid in Buchftaben oder Silben an der Kunft der Grammatik verfündige, die ih mir nicht ganz vollitändig angeeignet habe. Dahin nur geht mein Streben, was die Kirche zu glauben vorftellt, ohne Schminke und Herzensſchwanken feftzuhalten, weil ich weiß, daß ber jünbige Menſch durch lautere Gläubigkeit bei unferem lieben Herrn Ber: zeihung erlangen kann.“!

Das Wert, nah Giefebreht „eines der wichtigsten Erzeugniſſe der gefamten gejhichtlihen Literatur“, jchmedt weder nah Salluft noch nad Livius und Tacitus, obſchon aus einigen Stellen erfihtlid ift, daß Gregor den eriteren gefannt hat, daß ihm Vergil geläufig war, daß er vielleicht auch Plinius und Gellius fannte, dazu Prudentius, Sidonius und andere hriftliche Schriftſteller?. Er pragmatifierte nicht viel, noch hat er fih um funftvolle Gruppierung bemüht. Ausdrud und Spradhe erweden bei dem. Verehrer klaſſiſcher Satinität oft großes Ärgernis. Doch die chriſtliche Weltauffafjung gibt dem Ganzen eine feite Einheit; das rohe Walten barbariſcher Leiden- ihaft und das ftille, aufbauende Wirken der Kirche find einander, ohne EffettHajcherei, in ihren wirklichen SKontraften gruppenmeife jehr ſprechend gegenübergeftellt. Die Erzählung jchreitet ar, bejonnen und verſtändlich voran. Die Darftellung hat die anſchaulichſte individuelle Färbung. Die Sprade, die da und dort ſchon zum Altfranzöfiihen Hinüberneigt, ift feine tote oder künftlih angequälte, fondern eine durchaus lebendige >,

Dem Nachfolger des Hl. Martinus war jelbftverjtändlich weder die alt: klaſſiſche Bildung die Hauptſache nod die politiihe Zeitgeſchichte, jondern die Kirche und das Firhlidhe Leben, auf welchem weſentlich die Hoffnung der Zukunft beruhtet. Außer feiner Chronik hat er deshalb fonft lauter religiöje Werke gejchrieben: „Bier Bücher über die Wunder des hl. Martinus“, welden Papft Gregor d. Gr. jelbft als Apoftel Gallien: mit dem Welt: apoftel verglichen Hatte, dann „Über den Ruhm der Märtyrer”, „Über den Ruhm der Belenner”, „Leben der Väter“, „Über Leiden, Tugenden und Ruhm des Heiligen Märtyrers Julian“. Überaus lebendig tritt darin der

! Migne, Patr. lat. LXXI 461.

?2 G. Kurth, Saint Gregoire de Tours et les &tudes classiques au VI* siöcle (Revue des Quest. Hist. XXIV [1878] 586—593).

s „Die kunftlofe, einfache Sprache Gregors, feine behaglide memoirenartige Erzählung, welde Geſchichten aller Art, die größten Staatöbegebenheiten und un— bebeutende Vorfälle bes gewöhnlichen Lebens bunt durcheinander miſcht, das iſt es eben, was feinem Werke einen jo großen Reiz verleiht und es zu einem treuen Spiegel feiner Zeit macht, daß ihm in biefer Hinficht fein zweites zu vergleichen ift* (Watten- bad, Deutſche Gefchichtsquellen 96).

* Dagegen richtet ſich hauptfählich die ungünftige Beurteilung Nantes (Welt: geſchichte IV! 2, 328-868).

Literar. Beben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 257

fulturgeihichtlihe Einfluß zu Tage, den die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien auf die Kriftli gewordenen Völler ausübte: fie jchlang ein fihtbares und greifbares Band, welches die Gegenwart mit Chriſtus und jeinen Heiligen verfnüpfte, die Kirchen und Städte des Abendlandes feierlich und meihevoll in ihren Beſitz fiellte, den Pulsfchlag des über: natürlichen Lebens beftändig erneuerte.

Ganz don demjelben Geift finden wir Benantius Fortunatus bejeelt, den Herborragendften Dichter diefer Zeit. Sein voller Name it Venantius Honorius Clementianus Yortunatus. Er wurde in der Nähe von Treviſo (in Oberitalien) etwa um 530 geboren und erhielt jeine Aus— bildung zu Ravenna, der Hauptitadt des Oſtgotenreiches und des Exarchats. Außer Grammatit und Rhetorik trieb er hauptfählih Jurisprudenz und Poefie, doch beziehen ſich die früheften feiner erhaltenen Gedichte ſchon auf religiöje Stoffe, die Kirchen und Heiligtümer Ravennas. Bon einem ſchweren Augenleiden betroffen, wandte er ſich vertrauengvoll an den Hl. Martinus bon Tours und fchrieb die glüdlich erfolgte Heilung deffen Yürbitte zu. Um ihm zu danken, unternahm er eine Bilgerfahrt an fein Grab (jedenfalls vor dem Nahre 566), machte aber den weiten Umweg über die Noriſchen Alpen, den Inn, den Lech, die Donau und den Rhein und verweilte längere Zeit am Hofe Sigiberts J., Königs von Auftrafien, in Met. Seine Ankunft traf gerade in die Zeit der glänzenden Hochzeit SigibertS mit Brumhilde, der weſtgotiſchen Königstochter, und jo feierte er Ddiejes Feſt in einem pomp- haften Epithalamium, das, wie jenes des Sidonius Apollinaris, hriftlich gedacht, aber in antilsmythologiiche Formen gekleidet if. Venus lobpreift die Braut, Gupido den Bräutigam; in einem bejondern Gedicht gratuliert aber der Dichter dem Bräutigam, dat Chriftus die arianische Braut dem wahren Glauben gewonnen und ihm zur Gemahlin gegeben habe:

Catholico eultu decorata est optima coniux, Ecclesiae crevit, te faciente, domus.

Reginam meritis Brunichildem Christus amore Tune sibi eoniunxit, hanc tibi quando dedit.

An der tiefreligiöfen wie kirchlichen Gefinnung Fortunats ift ſonach nit im mindejten zu zweifeln, wenn er aud in dem mehr weltlich ge: baltenen Hochzeitägediht dem Gejhmad der romaniſchen Hofleute entgegen- fam, als Dichter fi) zeitweilig in deren Beifall ſonnte und noch mande Städte und Burgen bejuchte, um, wie ein Borläufer der Troubadours, die Gaftfreundichaft der Vornehmen zu genießen und fie in zierlichen Diftichen zu befingen. Ebenſo häufig und gern ließ er fih aber aud bei Bilchöfen und in Klöftern nieder und ftellte fein Talent in den Dienft der Kirche, fo

daß nicht eben eine bejondere Belehrung angenommen zu werden braucht, Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 17

258 Drittes Kapitel.

wenn er, nachdem er endlich jeine Wallfahrt in Tours gehalten, ſich bleibend in Poitiers niederließ und der Kloſtergeiſtliche der einftigen Königin Rabe: gunde wurde!.

Radegunde, als Heilige no heute verehrt, ift eine der freundlichſten Eriheinungen jener Zeit, daS verjöhnende Gegenbild zu der verbrecherijchen Fredegunde und ihrer rachſüchtigen Gegnerin Brunhilde, gewiffermaßen eine Borläuferin der Hl. Elifabeth von Thüringen, ein Engel der Frömmigkeit und Buße, der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit wie diefe, aber wohl noch härter und ſchwerer geprüft als fie.

Sie war nod ein Kind, als ihr Vater, König Berthar von Thüringen, bon feinem eigenen Bruder Hermanfried meuchlings ermordet wurde. ALS dann (532) Chlotar und Ehildebert vereint Reih und Macht der Thüringer bernichteten, der Brudermörder Hermanfried jelber durch Meuchelmord endete, fiel fie, das dreizehnjährige Mädchen, den zwei Franfenkönigen ala Sieges- beute anheim. Chlotar gewann es durch das Los und ließ es zur künftigen Königin aufziehen. Nur gezwungen ging fie die Ehe ein. Schon jetzt mit den höchſten weiblichen Tugenden geihmüdt, flößte fie dem rohen König abwehjelnd Liebe und Haß ein, Liebe durd ihre Schönheit und Herzens- güte, Haß durch ihre ernfte Frömmigkeit und Lebensſtrenge. Seine Brutalität machte ihr das Leben zur Qual, fie litt und duldete indes in wunderbarer Geduld. Erft als Chlotar ihren jüngeren Bruder ruchlos hinmorden lieh, entfloh fie nad Noyon und verlangte von Biſchof Medardus den Schleier. Nur nad längerem Bedenken willfahrte dieſer ihren Bitten. Vergeblich fuchte fie jeßt der König zurüdzugewinnen und folgte ihr erft nah Tours, dann nad Poitiers, in deſſen Nähe fie fich niederließ und ein Kloſter nad der Regel des Hl. Cäſarius gründete. Alle feine Bemühungen waren indes vergeblih, und der Hl. Germanus vermochte ihn endlih, von meiteren Ver: ſuchen abzuftehen und Nadegunde fogar bei der Gründung ihres Klofters fürftlih zu unterftügen. Äbtiſſin wurde ihre frühere Dienerin Agnes, die fie wie eine Pflegetocdhter aufgezogen hatte; die ehemalige Königin jelbft lebte als einfache Nonne, mit etwa zweihundert andern Jungfrauen, melde ih dem Kloſter angejchloffen hatten. Den vorzüglichſten Schatz ihres ftillen Heiligtums bildete eine anjehnliche Reliquie des Heiligen Kreuzes, welche fie

ı Th. Bormann, Über das Leben des lateinischen Dichters V. H. El. VBenan- tius Fortunatus, Fulda 1848. F. Hamelin, De vita et moribus V. H. Cl. For- tunati, Redonibus 1873. A. Schneider, Lefefrücdte aus Venantius Fortunatus, Innsbrud 1882. F. Leo, Benantius Fortunatus, der Iekte römiſche Dichter (Deutfhe Rundihau XXXI, Berlin 1882, 414—426). L. Caron, Le poete Fortunat et son temps, Amiens 1884. D. Leroux, Le poete S. V. Fortunat, Paris 1885. Ch. Nisard, Le poöte Fortunat, Paris 1890. W. Meyer, Der Gelegenheitsdihter Venantius Fortunatus, Berlin 1901.

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auf ihre Bitten von Kaifer Juftinus in Konftantinopel erhalten hatte und nad) welcher ihre Genofjenihaft jelbft den Namen „vom heiligen Kreuze” führte. Aus der Betradhtung des Kreuzes und des Gekreuzigten ſchöpfte die thüringiſche Fürftentochter, die einftige Königin der Franken, jenen Heroismus, der fie zur Mutter der Armen, zur Pflegerin der Kranken und Ausfägigen, zu einer Helferin aller Notleidenden machte. Durch die Buß— firenge und Entjagung, welche fie in ihrer Höfterlihen Stille übte, ward fie aber teineswegs gleihgültig für die feinere Geiftesbildung, welche fie mit ind Kloſter gebradt. Wie fie der Zier des Gotteshaufes und des Gottes— dienjtes die liebevollfte Sorge zumandte, pflegte fie mit ihren Schweftern, bejonderö der begabten Agnes, auch die religiöfe Literatur und Boefie. Und jo fand der hochbegabte Fortunatus in Poitierd an Radegunde eine „Mutter“, an Agnes eine „Schweiter“, die jein Talent zu ſchätzen und auf die würdigſten Aufgaben zu lenken wußten.

Sie vermodten ihn, in Poitiers zu bleiben, Priefter zu werden und jeine Tätigkeit den religiöfen wie gejchäftlihen Bedürfniffen des Kloſters zu widmen. Die Freundſchaft, welche ihn mit den beiden Ordensſchweſtern verband, blieb eine durchaus reine und ideale, wenn aud das eine oder ‘andere jeiner Gelegenheitägedichte in zartem Zone gehalten ift oder wenn er fröhlich über die eßbaren Geſchenke jcherzt, welde ihm die ftrengen Fafterinnen zulommen liefen. Wahrſcheinlich im Intereffe des Kloſters mußte er mande Reifen duch das ganze Frankenreich machen und teils früher gefnüpfte Beziehungen zu einflußreichen Perfönlichkeiten aufrecht er: halten, teild neue anfnüpfen. Im Namen Radegundes wandte er fi in Berjen jogar an Kaiſer Yuftinus und deffen Gattin Sophia.

Nahdem Radegunde (587) geftorben war, ſchrieb er ihr Leben, aber niht ala Dichter, in dem Heitern Ton, den er fi zur Erfriichung mit: unter in feinen Gelegenheitsverfen bergönnt, ſondern mit jenem asletiſchen Ernite, wie e8 dem Andenfen einer Heiligen, zumal der vielgeprüften Dulderin, der praftiichen Verehrerin des Kreuzes, gebührte. In dieſe jpätere Zeit fallen wohl aud die andern Heiligenbiographien, die er in Profa geſchrieben hat: des Hl. Hilarius, des hi. Germanus von Paris, des hl. Albin, des Hl. Paternus, des hl. Amantius, des HI. Remigius, des HI. Medardus, de3 Hl. Marcellus von Paris, des Hi. Leobin von Ghartres, des hl. Maus ritins und der heiligen Märtyrer Dionyfius, Nufticus und Eleutherius. Er felbft, der Biograph jo vieler Heiligen Biſchöfe Galliens, wurde gegen Ende des Jahrhunderts auf den verwaiften Biſchofsſtuhl von Poitierd erhoben, jcheint demjelben aber jhon nad etwa einem Jahr (um 600) entrijfen worden zu fein.

Naht Prudentius und Sidonius Apollinaris ift Yortunatus wohl der fruchtbarfte, vielfeitigfte und formgewandtefte der älteren hriftlich-lateinijchen Dichter. Es find noch etwa zweihundertfünfzig größere und kleinere Gedichte

17*

260 Drittes Kapitel.

von ihm vorhanden, darunter ein Leben des hi. Martinus, das allein 2243 Herameter umfaßt, während mande feiner Gelegenheitägedidhte und Elegien Hundert und jelbft mehrere Hunderte von Berjen zählen. Da er aber faſt ausschließlich Gelegenheitsdihter war, iſt auch die Stoffwahl eine überaus mannigfaltige !.

Das „Leben des Hl. Martinus“ ift, wie Prolog und Epilog bejagen, ein Botivgedicht, durch welches Fortunatus ſich jeinem himmlischen Patron für die ihm gewordene Heilung dankbar erweiſen wollte. Den erften zwei Büchern hat er die Martinus-Biographie des Sulpicius Severus, den zwei folgenden deifen „Dialoge“ zu Grunde gelegt. Wie er jelbit gefteht, hat er auf die Arbeit nur etwa ein halbes Jahr verwandt und biejelbe ohne große Anforderungen an fih ausgeführt?. Eine jelbftändige epiihe Durch— dringung und Neugeftaltung ift nicht vorhanden, und manden wird die klaſſiſch-angehauchte Profadarftellung des Sulpicius Severus vielleicht mehr anjprechen als Fortunats gewandte Verſifikation. Doch zeigt ſich in dieſer unzweifelhaft eine ſehr große ſprachliche wie poetiſche Begabung, eine Leichtig— feit, die unwillkürlich an Ovid erinnert.

No weit mehr tritt diefe ftaunenswerte Formgewandtheit in den „Ver: mijchten Gedichten“ hervor, von melden Fortunatus die meiften auf An— regung jeined Freundes Gregor von Tours jammelte und in elf Büchern verteilte. Der Gruppierung liegt leider weder ein chronologiſches noch ein ſachliches oder formell poetiiches Einteilungsprinzip zu Grunde, was teilweiſe den Genuß ftört, noch mehr aber die Überſicht über die Entwicklung und Tätigkeit des Dichters erihwert. Wir müſſen uns begnügen, einige Haupt: momente hervorzuheben.

Vor allem Hat fi Fortunatus durch zwei Hymnen auf das heilige Kreuz neben Ambrofius einen der ehremvollftien Plätze unter den älteren Hymnendichtern der Kirche verdient. Diejelben haben ihn ſchon über drei- zehn Jahrhunderte überlebt und werden noch heute in der Paſſions- und Karwoche wie an den Feſten der Auffindung und Erhöhung des Kreuzes gebetet. Den einen könnte man als das Bannerlied des Kreuzes und des— halb auch des Chriftentums bezeichnen :

Vexilla regis prodeunt, Doran des Königs Banner ziehn, Fulget erucis mysterium, Des Kreuzes Wunder ftrahlend glühn, Qua vita mortem pertulit An dem den Tod das Beben litt

Et morte vitam protulit. Und fterbend Leben ſich erftritt;

! Ausgaben von Chr. Brower, Mainz 1603 1617; M. U. Luch i, Rom 1786; abgebrudt bei Migne, Patr. lat. LXXXVIII 1—596; Fr. Leo und B. Kruſch, Berlin 18831—1885 (Monum. Germ. Hist,. Auct. antiquissimi IV).

? Audax magis quam loquax, nec efficax, cursim et impolite inter frivolas occupationes (Migne a. a. ©. LXXXVII 3864).

Literar. Leben in Gallien. Gregor von Zours. Benantius Fortunatus. 261

(Quae vulnerata lanceae Mucrone diro, criminum Ut nos lavaret sordibus, Manavit unda et sanguine.

Impleta sunt quae eoncinit David fideli carmine Dicendo nationibus: Regnavit a ligno Deus.

Arbor decora et fulgida ÖOrnata regis purpura,

Eleeta digno stipite

Tam sancta membra tangere.

Beata cuius brachiis Pretium pependit saeculi, Statera facta corporis, Tulitque praedam tartari.

O crux, ave spes unica Hoc passionis tempore, Piis adauge gratiam Reisque dele crimina.

Te fons salutis, Trinitas, Collaudet omnis spiritus, Quibus erucis vietoriam

Largiris, adde praemium.

Das von der Lanze fharfem Stich Graufam verwundet, mildiglich,

Bon uns zu waſchen unfre Schuld, Strömt Blut und Wafler aus voll Hulb.

Erfüllt ift, was voll heil’gem Drang In treuem Liebe David fang,

Als er den Völkern Kunde gab:

Es herrſchte Gott vom Holz herab!

Baum, Ihöngeihmüdt, in heller Glut Mit königlihem Purpurblut, Ermwählt, der heil’gen Glieder Laſt An jeinem Stamm zu bieten Raft.

Heil dir, des Arm umſchlungen hält Den Löfepreiö der fünd’gen Welt, An bem ber heil’ge Leib fi wiegt, Der Tob und Hölle obgefiegt.

Kreuz, einz’ge Hoffnung uns bereit, Willlommen in bes Leibens Zeit; Bermehr’ der fyrommen Gnab’ und Hulbd, Zu nichte mad ber Sünder Schuld.

Dih Duell des Heils, Dreieinigfeit, Lob’ alles Leben weit und breit. Zum Sieg bes Kreuzes jende du Uns, Herr, ben ew’gen Bohn Hinzu !,

Der zweite diefer Hymnen ftellt in ergreifendfter Weiſe den verhängnis: vollen Baum des Paradiefes dem Lebensbaum des Kreuzes gegenüber und berfnüpft damit in wenigen Strophen ein Gejamtbild des Erlöſungswerkes, wie e3 Schöner, reicher, poetifcher faum ein anderer Hymnus zufammendrängt :

Pange, lingua, gloriosi lauream certaminis, Et super erucis trophaeo die triamphum nobilem, Qualiter redemptor orbis immolatus vicerit.

De parentis protoplasti fraude factor condolens, Quando pomi noxialis in necem morsu ruit, Ipse lignum tunc notavit, damna ligni ut solveret.

Hoc opus nostrae salutis ordo depoposcerat, Multiformis proditoris ars ut artem falleret, Et medelam ferret inde hostis unde laeserat.

! Carm. lib. II, 6 (Mon. Germ. Hist. Auct. antiquissimi IV 34 35). Wir

geben den Hymnus aber in der Faſſung, in welder er fi) durch die kirchliche Liturgie allgemein eingebürgert hat. Benutzt find die Überfegungen von Fortlage (Gefänge chriſtlicher Vorzeit 111 112); Schloffer (Die Kirche in ihren Liedern 106 107); G. M. Pahtler (Die Hymnen der katholiſchen Kirche, Mainz 1858, 98 94).

Drittes Kapitel,

Quando venit ergo sacri plenitudo temporis, Missus est ab arce patris natus orbis conditor, Atque ventre virginali carne amictus prodiit.

Vagit infans inter arcta conditus praesepia, Membra pannis involuta virgo mater alligat, Et Dei manus pedesque strieta cingit fascia.

Lustra sex qui iam peregit, tempus implens corporis, Sponte libera redemptor passioni deditus, Agnus in crucis levatur immolandus stipite.

Felle potus ecce languet: spina, clavi, lancea Mite corpus perforarunt, unda manat et cruor: Terra, pontus, astra, mundus, quo lavantur flumine,

Crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis, Silva talem nulla profert fronde, flore, germine: Dulce ferrum, dulce lignum, dulce pondus sustinent.

Flecte ramos arbor alta, tensa laxa viscera, Et rigor lentescat ille, quem dedit nativitas, Et superni membra regis tende miti stipite.

Sola digna tu fuisti ferre mundi victimam, Atque portum praeparare arca mundo naufrago, (uem sacer cruor perunxit fusus agni corpore.

Sempiterna sit beatae Trinitati gloria Aequa Patri Filioque, par decus Paraclito; Unius Trinique nomen laudet universitas.

Bon dem lorbeerreihen Streite töne meiner Stimme Stlang, Auf des Kreuzes Siegeszeihen finge fie Triumphgeiang, Wie ber Weltheiland fi opfert und als Lamm den Tod bezwang.

Trauernd ob des eriten Menſchen Überliftung hatte Gott, Als der Biß des Sündenapfels uns geftürzt in Todesnot, Schon den Baum gezeigt, der Sühnung für des Baumes Schulden bot.

In dem Werk der Dienfchenreitung tat die Weisheit jenen Zug, Daß bie Kunft verdarb die Künſte bes Verführers voller Trug, Und von daher Heilung brachte, wo ber Feind uns Wunden fhlug.

Als ber Zeiten heil’ge Fülle endlich angebroden war, Shidte Gott ben Weltenſchöpfer, jeinen Sohn, vom Himmel dar, Den, mit unfrem Fleiſch umhüllet, einer Jungfrau Schoß gebar.

In ber Krippe engem Raume wimmernb liegt das Sindelein, Seine Glieder hüllt in Windeln ihm die Mutter keuſch und rein, Gottes Hände, Gottes Füße ſchließen feit die Binden ein.

Und nachdem er auf der Erbe war gewandelt breikig Jahr’, Sieh, da gibt er als Erlöfer willig fi zum Opfer bar, Und das Gotteslamm als Opfer wird erhöht am Kreuzaliar.

Literar. Beben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 263

Er erihlafft vom Gallentrante; durch ben zarten Leib mit Wut Bohrt man Dornen, Nägel, Lanze; Wafler fließt heraus und Blut; Erbe, Meere, Sterne, Welten waſchen fi in biefer Flut.

Treues Kreuz, vor allen Bäumen einzig hehr und fegensreich! Nein, an Zweigen, Blüten, Früchten ift im Wald bir feiner gleid). Sühes Holz! o fühes Eifen! Süße Laft befchweret euch!

Neige, hoher Baum, die Afte, beine Faſern beug’ erichlafft, Deine Härte foll entſchwinden, die dein Urfprung dir verihafft, Deines hohen Königs Glieder jpanne aus auf zartem Schaft.

Du allein warft auserfehen zu des Lammes Schladtaltar, Zu der Arche, die entriffen uns des Untergangs Gefahr, Zu dem Pfoiten, ber vom Blute heil’gen Lamms bezeichnet war.

Ewig fei dir Ruhm und Ehre, heiligfte Dreifaltigkeit! Gleih dem Bater, gleich dem Sohne, gleich dem Heil’gen Geiſt geweiht. Einen in den drei Perfonen lobe alle Welt und Zeit! !

Nächſt diefen Hymnen fanden einige Elegien das meiſte Lob, melde Yortunatus den tragiſchen Familienſchickſalen Radegundes widmete und von melden die eine „Über den Untergang Thüringens“ überſchrieben ift?. Der Stoff ift aber nicht epiich behandelt, fondern in Form einer Epiftel, die Radegunde an Amalafried, den Sohn Hermanfrieds, den legten Sproffen ihres Geſchlechtes, richtet, welcher nah Byzanz geflüchtet war und dort im Heere des Kaiſers diente. So ganz hat ſich der Dichter in die ſchmerzlichen Erinnerungen der thüringifchen Fürftentochter Hineingelebt, daß man das Gediht jogar ihr ſelbſt Hat zufchreiben wollen. Der Anfang jeildert in einigen ergreifenden Zügen den Sturz ihres Königshauſes:

Hammer bereitet der Krieg, rafch wirft er bie tüdifchen Lofe, Reißt in Vernichtung jäh glänzende Throne dahin. Mächtig in Reih'n aufragten die herrlih prangenden Türme, Bis ber entjehlihe Sturz alles in Flammen begrub. Fürſtliche Pracht umblühte den ftolgen Bau bes Palaftes: Seht ftatt der Wölbung Zier deckt ihn der trauernde Schutt. Weithin leuchteten einft, mit rötlichem Erze gefchmüdet, Ragende Dächer: in Grau hüllet die Aſche fie ein. Unter bes Feindes Gewalt hinwandern gefangene Fürſten, Tief aus der Höhe des Ruhms ftürzend in ſchmähliches Los. Meines Alters Genofjen, die lieblihe Schar der Geipielen Ungewartet im Staub liegt fie, des Tages beraubt,

! Carm. lib, II 2 (Monum. Germ, Hist. Auct. antiquissimi IV 27 28), über- fegt von Pachtler, Die Hymnen der Tatholifhen Kirche 95— 98; nur bie fünfte Strophe ift abgeändert.

? De exeidio Thoringiae (Monum. Germ. Hist. a, a. ©. 271—279; Migne, Patr. lat. LXXXVIII 427—436).

264 Drittes Kapitel.

Aus diefer furdtbaren Kataftrophe blickt Radegunde dann noch weiter in die Vergangenheit zurüd, in die Zeit, wo Berthar, ihr Vater, erfchlagen worden war, wie fie damals, das arme Waifenfind, an Amalafried einen Freund und Beichüger fand:

Dente bob, Amalafried, wie einft als lieblicher Knabe Dort, mein Vetter, fo treu du Radegunde geliebt.

Du, ber Berwaiften warft du an Vaters Statt, des erichlagnen, Mutter ſah' ih in bir, Bruder und Schwefter in bir.

Nahmft in den Arm mich ſchmeichelnd, ich hing am Kufſe des Bruders, Und bein koſendes Wort rührte mein kindiſches Herz.

Kaum ein Weilhen verging, ein Stündchen, du fehrteft mir wieder: Sept erhoff’ ih umfonft Worte von Jahre zu Jahr.

Langſam ſchalt' ich dich oft, obwohl du eilteft: es hielten Bater und Mutter, ed hielt fürſtliche Pflicht dich zurüd.

Ab, mir war e8 ein Zeichen: bald jollt’ ich, Teurer, dich miſſen; Liebe jo grenzenlos leidet ja raſchen Verluft.

Jetzt harrt fie umfonft auf ein Wort von ihm. Sie weih nit einmal, wo er meilt.

Wüßt' ih den Ort nur! Umſonſt die jäufelnden Lüfte befrag’ ich, Frage das leichte Gewölf, fährt es am Himmel baber. Warb fih Byzanz dein Schwert? ber tapfere Perſer? befichlft du In Aleranders Stadt? Liegft vor Jeruſalems Burg? Hielten mid) nicht in Banden bes Kloſters heilige Mauern, Glaube mir, wo bu auch weilft, plößlich erſchien' ih vor dir. Raid in der Winde Gebraus durchſchifft' ich die brandenden Fluten, Schaufelte fröhlih im Sturm Wogen hinauf und hinab; Wenn die Wellen fich türmten, ich ſchwebte beherzt in ben Lüften, Und vor bes Seemanns Furcht bangte ber Liebenden nicht; Löfte die Fugen bes Schiffs der tobende Regen, ich griffe Nah den Planfen, und fo trüge das Meer mich zu bir. Wenn ich did, Teurer, erblidte, vergäß’ ich die Fährden bes Weges, Über des Schiffbruchs Not hülfe dein Troft mir hinweg. Oder wenn bann ber Tod das traurige Leben mir raubte, Würfft den Hügel du do über bem Grabe mir auf. Vor bie vertrauten Augen, von Licht und Leben gejchieden, Ließ ih mich tragen: ber Tod rührte doc endlich dein Herz; Da bu ber Lebenden Klage nicht hörft, du weinteft am Grabe, Der du mir Worte verfagft, Tränen erhielt ih gewiß.

Abermals blidt fie dann auf die Drangjale, welde über fie herein- gebrochen, und nun folgt die ergreifendfte Epijode, die Ermordung ihres jüngeren Bruders auf Befehl ihres königlichen Gemahls:

Heimlich erſchlagen ward im zarten Flaume ber Jüngling;

Werne war ich, ich ſah nicht den entſetzlichen Mord; Nicht verlor ih ihn nur: id) durft' ihm die Augen nicht ſchließen, Nicht, auf die Leiche geftredt, einmal noch reden zu ihm,

Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 265

Nicht mit den brennenden Tränen die falten Glieder erwärmen, Durfte zum Abſchied nicht küſſen dem ſchweigenden Mund. Einjt der Heimat entführt, jet war ich boppelt gefangen, Sah bei des Bruders Tod wieder im Feinde den Feind, Wieder erſchienen die Bilder ber Lieben mir, wieder beweint' ich, Dater, Mutter und Ohm, unfer begrab'nes Geſchlecht!.

Anftatt einer Antwort auf dieſe in ihrem Namen verfaßte Epiftel er- hielt Radegunde aus Konftantinopel die Nachricht von dem Zode Amala: frieds. In einem andern Gedicht wendet jih Fortunatug abermals in ihrem Namen an ihren Neffen Atardis und fügt der Totenllage um den Dahingejhiedenen den Wunſch bei, er möge nun in treuer Liebe an des Berftorbenen Stelle treten, fie in ihrem Kloſter recht oft mit Nachricht er: freuen und vereint mit feiner Mutter ihre Kloftergründung unterftügen, auf dat Gott ihm einft auf dem Sternenthrone ewigen Ruhm gewähren möge.

Über die größere Epiftel jagt Ebert?: „Mit einem Gruß an die Schweftern des Vetters jchlieht das Gedicht, in dem bie Heimatd-, Stammes- und Verwandten: liebe, wie fie nur das Herz eines deutſchen Weibes empfinden kann, die Sprade welicher Rhetorik fiegreich durchdringt, den Dichter über fich ſelbſt erhebend.“ Leo aber jagt: „Man mu notwendig auf die Perfon der Erzählerin die Hauptvorzüge des Gedichtes zurüdführen, muß annehmen, daß die unwibderftehliche Gewalt der Dar- ftellung, der Anblicd ber friſchaufbrechenden Wunden, die Teilnahme an dem ver- zehrenden Schmerz ber Freundin dieſer ſchwungloſen Feber ungewohnte poetifche Wallungen mitteilten; benn das Gedicht hat Stellen von einer jo unmittelbaren Kraft des Gefühle, daß es ſich nit nur hoch über die übrigen Leiftungen besjelben Poeten hinaushebt, fondern auch von allen faft allein über das hiſtoriſche und jpracd- fie Intereſſe hinaus einen Pla in der Literatur beanfpruden darf. Es ift das lete hervorragende Erzeugnis der römischen Elegie, auch in der yorm.“ ?

Schon der Schluß des Gedichtes, mehr aber noch das Leben und der ganze Charakter Radegundens weijen darauf hin, daß fie zwar zu biejen Gedihten die Anregung gegeben, den Schmerz über ihre früheren Scidfale aber längft überwunden und in Heiliger Kreuzesliebe verflärt Hatte. Wie die meilterlihe Handhabung der elegiſchen Yorm, jo ift darum auch die er: greifende Stimmung und Durhführung ſicher das Verdienft des Dichters, der jih mit innigftem Mitgefühl in die Situation Hineinzudenfen und ihr den richtigen Ausdrud zu geben wußte. Ganz diejelbe Tiefe der Empfindung atmet auch das jhöne Gedicht, in welchem er den Abſchied der weftgotiichen Königstohter Galſpintha von den Ihrigen jchildert, ein Gedicht, das ganz unabhängig von Rabegunde, aus eigenem Antrieb des Dichters entfland, als

ı Überjeßt von Friedrich Leo, Venantius Fortunatus, der letzte römiſche Dichter (Deutſche Rundſchau XXXII [1882] 424—426).

2 Geſchichte der Literatur des Mittelalters I? 533.

:s4. a DO. XXXII 424.

266 Drittes Kapitel.

er der Prinzejfin auf ihrem Brautzuge in Tours begegnete. Ebenfowenig it das tiefe Naturgefühl, das fi z. B. in mehreren Ofterliedern und in jeiner „Moſelfahrt“ fundgibt, aus „germanischen“ pder „weiblichen“ Ein: flüffen herzuleiten. Noch viel ungerechter wäre es, feine herrlichen Gedichte auf die ſeligſte Jungfrau, auf die Jungfräulichkeit, auf verſchiedene Heilige, noch feine innig-herzlichen Gelegenheitägedihte an Radegunde und Agnes, an Gregor von Tours und andere Biſchöfe jamt und jonders für „meliche Rhetorik“ zu erklären. Die friſche, Iebendige Geftaltung derjelben ift nicht die Wirkung eines bloßen Formtalents, jondern eigentlich poetifcher Ber geifterung und Stimmung. Seine Begeifterung gilt aber in hervorragendfter Weiſe dem Leben und den Anſchauungen der Kirche, und man darf Diele nicht ohne weiteres ablehnen oder mißgünftig beurteilen, wenn man Fortunatus richtig auffaffen und würdigen will.

Die unleugbaren Schwächen Fortunats hängen teil$ mit jeinen guten perſönlichen Eigenſchaften, teil mit feiner eigenen Tage und den allgemeinen Zeitverhältniffen zufammen. Ein feingebildeter, künſtleriſch angelegter, per- jönlid ungemein liebenswürdiger Mann, aber wie es jcheint, ganz mittellos und ohne fefte Qebensftellung, geriet er durch feine Wallfahrt in die Fremde und wurde durch die langobardiihe Invafion in Oberitalien von jeiner Yamilie und feiner Heimat völlig abgeichnitten, jo daß neun Jahre lang nicht einmal eine Nachricht von den Seinigen zu ihm drang. So war er darauf angewieſen, fi unter den „Barbaren“ Freunde zu maden, und da ein Dichter damals der jeltenjte Bogel war, jo fand er unter den Romanen wie unter den Germanen, unter den Biſchöfen wie unter den weltlichen Großen raſch eine Menge Berehrer. Alle Welt wollte Verſe von ihm haben, bon ihm bejungen und gelobt jein. Das drängte ihn zu einer mafjenweijen Gelegenheitsdidhtung, der weder Kriecherei oder Schmeichelei, jondern lediglich aufrihtige Gemütlichkeit und Dankbarkeit zu Grunde lag. Diejelbe erhebt fi durchweg nicht jehr Hoch, ſetzt aber bei feinen Leſern doch einen weit höheren Bildungdgrad voraus, al$ man nad) den Kulturfchilderungen Gregors bon Tours erwarten würde, Geradezu betwundernswert ift die Fertigkeit, mit welcher Fortunatus den gewöhnlidften Ereigniffen einen poetiſchen Anhauch, den alltäglihen Höflichkeitsformeln eine fünftleriich-anmutige Wendung zu geben weiß. Ob er für einen Brief oder für geliehene Bücher, für eme Mahlzeit oder für ein paar Früchte dankt, ob er einen Bittfteller empfiehlt oder jelbft um einen Brief bittet, jede Stleinigfeit wird unter feiner Hand wirflih zu einem Gediht. Darüber zu jpötteln würde leichter jein, als es ihm nachzutun.

Weitaus die größte Zahl der Gelegenheitägedichte find übrigens nicht bloße Spielereien, fondern haben einen ernfteren, vorwiegend religiöjen Ge: halt, und der ſtark laudatoriſche Charakter, der bei manchen abitoßend wirkt,

Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. VBenantius Fortunatus., 267

mildert ji bedeutend, wenn man Perfonen, Zeit und Gelegenheit genauer mit in Rechnung zieht. So hat es auf den erften Blid etwas Verletzendes, wenn er den gewalttätigen Chilperih und die jchredliche Fredegunde faft mit ebenjo volltönendem Lob überhäuft wie zuvor den edeln Sigibert, feinen MWohltäter, und deſſen Gemahlin Brunhilde. Dieje Lobjprüche werden indes begreifli, wenn man in Betracht zieht, daß er in diefem Gedicht ala Spreder einer ganzen Synode auftrat, welche zujammenberufen war, um über ver: leumderifche Anklagen zu richten, welche gegen feinen Freund Gregorius von Tours erhoben morden waren, und welde bezwedten, ihn von feinem Biihofsfise zu verdrängen. Es galt hier, den gegen Gregor eingenommenen König zu befhmwichtigen, und bei einem jo rohen Gejellen mußte das Lob Ihon etwas flarf aufgetragen werden, wenn es wirken jollte. Ein ſolches Lob war eigentlich fat die einzige Form, in mwelder ein priefterlicher Dichter dem König vorhalten fonnte, was von ihm zu erwarten geweſen wäre. In einem würdigen Trauergedichte über die verftorbenen Söhne Chilperichs mahnte Fortunat zudem das ruchloſe Fürftenpaar in einfchneidender Weiſe an Tod und Ewigkeit und hatte darum bei feinem Lobe nur die reinfte und edelfte Abſicht, beide auf beffere Bahnen zu lenken.

Freilich zeigt fih der Dichter au hier wieder als ein gemütlicher Optimiſt, der dem Schlimmiten noch eine freundlihe Seite abzugewinnen weiß. Die düftern Ereigniffe der Zeitgefchichte, welche jein Freund Gregorius von Tours in jo padender Einfalt und Größe erzählt, werfen ihre Schatten taum in die ftilfe Welt des Dichterd hinein. Von der Ermordung Sigiberts und Chilperichs, von dem furchtbaren Haß der Königinnen Fredegunde und Brunhilde ift nicht die Rede. Wie ein Kind freut ji Fortunat, wenn Radegunde den Altar ihrer Kirche mit neuen Blumen ſchmückt; ſchmerzlich empfindet er es, wenn fie fi für längere Zeit völlig in die Einjamteit zurüdzieht; jubelnd begrüßt er den Oftertag, wo fie in bejcheidenem Maße wieder an Unterhaltung und literariihem Leben teilnimmt. Mitten in der grauenvollen Zeit „haben wir hier doch ein TFledchen Erde und ein paar Menjhen, unter denen Frieden und Genügen herrſcht. Das Bild, das fie bieten, ift nicht ohne Bedeutung und in gewiſſer Weile eine Verheißung für folgende Zeiten. Dort die thüringifche Königstochter, ihrer Heimat entführt und zur fränkiſchen Königin in romaniſcher Bildung erzogen, eine Heilige der Fire; hier der italiiche Gelehrte und Dichter, ein frommer Priefter, auf den von Franken eroberten galliihen Boden verſchlagen: jo finden wir die Überreſte der verfunfenen Jahrhunderte mit ihren aus der Fäulnis mächtig fortwirfenden Keimen und die friſchen Kräfte, denen die Zukunft gehört, jene bon diejen, diefe von jenen bereits beeinflußt und umgeftaltet beieinander“ 1.

3 Leo, Venantius Fortunatus, der letzte römische Dichter (Deutſche Rundſchau XXXII) 426.

268 Viertes Kapitel.

Mag der Sänger der thüringishen Elegien allenfall® in Bezug auf die Form den römischen Elegifern beigezählt werden, der Dichter des Vexilla regis trägt ſchon dem Mittelalter das Banner des Kreuzes boran.

VBiertes Kapitel,

Die Slucht der lateinifden Bildung nad den britifhen Infeln.

Eine Zufludtsftätte fand die chriſtlich-lateiniſche Bildung zunädft in Irland. Hier hatte Batricius, der Sohn eines in Schottland ftehenden römischen Decurio, in Aurerre und Lerin gebildet, in Rom jelbft mit Miffionge vollmachten verjehen, nad Überwindung unfägliher Schwierigkeiten 445 den Metropolitanfig Armagh gegründet und nah und nad die ganze Inſel auf frievlihen Wege für das Chriftentum gewonnen. Als er 493, im Alter von 120 Jahren, ftarb, verehrte ihn das ganze Volt als feinen Bater und Apoftel; die einheimiſche Gejeggebung war mit den Forderungen der Kirche in Einklang gebradt; bald erftanden auch Klöſter, welche von Irland aus den Glauben und die hriftliche Zivilifation nad andern Ländern verbreiten jollten !.

Ein Gedihtfragment von 31 Herametern, welches dem hl. Patrid zu: gejhrieben wird, erinnert daran, daß der ehrwürdige, durch viele Wunder ausgezeichnete Glaubensbote mit der frohen Botihaft aud die Kenntnis lateinijcher Literatur in Jrland eingebürgert hat. Seine Confessio ſowie jeine Epistola ad Caroticum, früher angefochten, gelten heute ala echt und find grundlegende Quellen für jeine Lebensgeſchichte.

Ein Gedicht, das fein großartiges apoftoliiches Wirken in 23 trochäiſchen Strophen (92 katalektiſchen trochäiſchen ZTetrametern) feiert, wird feinem Schüler, Biihof Secundinus (Sehnall), zugejhrieben?. Da heißt es: Dominus illum elegit, ut doceret barbaras

Nationes, et piscaret per doctrinse retia,

Et de saeculo credentes traheret ad gratiam, Dominumque sequeretur sedem ad aetheream.

wA. Bellesheim, Geihichte ber Fatholiihen Kirche in Irland I, Mainz 1890, 1—68. Whitley Stokes, The tripartite life of Patrick, London 1887. Die bem hl. Patrid zugeichriebenen Werke bei Migne, Patr. lat. LIII 801 bis 840; W. Stofesa. a. O. II 269489; G. T. Stofes und Eh. 9. H. Wright (The writings of St. Patrick) Yondon 1889.

? Bei Muratori (Anecdota lat. IV 156f) und Migne, Pair. lat. LIU 837-— 840.

Die Flucht der lateinifhen Bildung nad den britiſchen Inſeln. 269

Eleeta Christi talenta vendit evangelica,

Quae Hibernas inter gentes cum usura exigit, Navigii huius laboris, tum operae pretium,

Cum Christo regni caelestis possessurus gaudium '.

Die Profodie ift darin gänzlich vernachläſſigt, der Reim nur gelegentlich angewandt; aber die Begeifterung für den Heiligen jowie bibliſche Anklänge geben dem Lobgedichte doch einigen Schwung. Wo Secundinus Biſchof gewejen, ift nicht feſtgeſtellt.

Die berühmtefte Pflanzfiätte des religiöfen Lebens wie der kirchlichen Studien wurde das Klofter Bangor in der Provinz Ulſter, welches der hl. Comgall um das Jahr 550 ftiftete?.

Bon Irland aus z0g im Jahre 563 Columba (auch Eolumbfille genannt) mit zwölf Schülern hinüber an das unmirtliche Felsgeſtade der Hebriden und gründete auf einer diefer Inſeln, Jona oder Hy, ein Slofter, das jih bald zur Pflanzihule des Ghriftentums für ganz Galedonien ent: widelte. Faſt Jahr für Jahr wurden von hier aus neue Kirchen und Klöfter erſt an der jchottiichen Weſtküſte, dann im Innern geftiftet. Bon Sugend auf bis ins höchſte Alter widmete er der Berpielfältigung der heiligen Schriften einen unermüdlichen Fleiß. Er foll mit eigener Hand dreihundert Evangelienhandjchriften angefertigt haben und leitete dazu aud, gleih Caſſiodor, jeine Schüler an. Er jelbft beſaß tüchtige poetiihe Anlagen, verwertete diefelben aber nur in feltiichen Liedern. Sein großes zivilifatorifches Werk dauerte indes auch nad) jeinem Tode (597) weiter. Obwohl die Schüler Golumbas einer faft übergroßen astetifchen Strenge Huldigten, führte auch unter ihnen das Studium der heiligen Schriften zur Pflege der lateiniſchen Spradhe und anderweitiger Wiſſenszweige. Auch auf den öden Hebriden wurden bereits im 7. Jahrhundert die beliebteren lateinischen Klaſſiker gelejen. Adamnan, Abt von Hy von etwa 664 bis zu feinem Tode 704, jchrieb in ſehr anziehender Yorm das ſowohl an Wundern als an jchlidhten, er: baulihen Fügen reiche Leben des großen nordiihen Mönchspatriarchen. Mande Stellen, bejonders der Tod des Heiligen, find von ergreifender poetiiher Schönheit?,. Nicht weniger Intereffe bietet der Reijeberiht „Yon der Lage des heiligen Landes“ +, welchen Adamnan nad den Mitteilungen

! Migne a. a. ©. LIII 89.

? Bellesheim a. a. ©. I 84 85 101—112. €. 3. Greith, Geſchichte ber altiriſchen Kirche, Freiburg 1867, 179.

» Vita 8. Columbae abbatis Hyensis, in Acta SS. Bolland. (9. Iun. II 197 ad 256), bei Migne, Patr. lat. LXXXVIU 725—776; W. Reeves (Life of St. Columba), Dublin 1857. Vgl. A. Baumgartner, Reifebilder aus Schott= land ?, Freiburg 1895, 132—134.

* Herausgeg. von J. Gretier, Ingolſtadt 1619; Mabillon (Acta 58. 0. S. Benedieti III 2, 502—522); Migne a. a. DO. LXXXVII 779—814;

270 Viertes Kapitel.

des galliſchen Biſchofs Arculph niederſchrieb, der, von einer Reiſe nach Konſtantinopel und Jeruſalem zurückkehrend, durch Sturm und Unwetter an die Inſel Jona verſchlagen ward und, von den Mönchen daſelbſt gaſtlich aufgenommen, ihm ſeine Erlebniſſe und Beobachtungen in die Feder diltierte!. Mit Glück hat Adamnan in der einen Schrift den Sulpicius Severus, in der andern Hegeſippus und Hieronymus nachgeahmt. So waren die Mönche vom ferniten Nordweſten Europas bis nad Afien hinüber die Träger des internationalen Verkehrs und der allgemeinen Bildung.

Was Adamnan vergeblich angeftrebt hatte, die Mönde von Hy zur Annahme der römischen Ofterrehnung und Tonfur zu bewegen und jo den rituellen (nicht dogmatiichen) Zwieſpalt zu löfen, in welchem fie ji mit Rom und der ganzen übrigen katholiſchen Welt befanden, gelang 716 den ein- dringlihen Ermahnungen des dur Heiligleit wie Gelehrſamkeit herbor: ragenden englifchen Prieſters Egbert? Diejer jandte aud die erften Glaubensboten an die riefen aus, erft den hl. Wigbert, dann den hi. Willi: brord mit elf Gefährten. Der lehtere ward 695 in Rom zum Biſchof ge: weiht, gründete 698 das Kloſter Echternach und mit Hilfe Karl Martells das Bistum Utrecht, als deſſen eriter Biſchof er 738 ftarb.

Ein anderes Klofter mit dem Namen Bangor beftand ſchon zu Anfang de3 5. Jahrhunderts in Wales, in der Nähe von Chefter. Dasfelbe hatte nad Bedas Bericht zu Ende des 6. Jahrhunderts einen ähnlichen Zulauf wie einft die Hlöfter der Thebais. Die Zahl der Mönde war jo groß, daß fie in fieben Kommunitäten geteilt werden mußten, von denen feine unter dreihundert Mitglieder umfaßte, die fämtlich von Handarbeit lebten. Aus diejem Klofter joll Pelagius, der Begründer des Pelagianismus, hervorgegangen fein; aber auch viele rechtgläubige Männer und Stüben der älteften britiſchen Kirche, wie Jltud, David von Menevia, Dubricius von Gaerleon und Gildas, ftanden mit demjelben in Beziehung.

Gildas (nad alten Chroniken ein „Ire“, wahrjheinlider ein Romano: Brite), Schon von Beda und Alkuin mit dem Beinamen des „Weijen“ (Sapiens) ausgezeichnet und als Heiliger verehrt, wurde im Jahre 504 geboren, ftudierte unter dem britiſchen Abte Jltud, der ein Schüler des hl. Germanus von Aurerre war, und in mehreren iriihen Klöftern, kam

PB. Geyer (Itinera Hierosolymitana saeculi IV—VII. Corpus seript. ecel. lat. XXXIX 217—297), Leipzig 1899. Bgl. P. Geyer, Adamnanus, Abt von Jona, Augsburg 1895.

! Qui haec de sanctis experimenta locis eorum frequentater libentissime nobis dietavit. Quae et ego quamlibet inter laboriosas et prope insustentabiles tota die undique conglobatas ecclesiasticae sollieitudinis occupationes constitutus vili quamvis sermone discribens declaravi (De locis sanctis 1. 3, c. 6; Migne, Patr. lat. LXXXVII 844; bei Geyer a. a. O. XXXIX 296 297),

® Bellesheim, Geihichte ber katholiſchen Kirche in Irland I 190.

Die Flucht der lateiniihen Bildung nah den britifchen Inſeln. 971

nad verichiedenen Reifen und Pilgerfahrten wieder nah Britannien zurüd und verfaßte hier um 547 fein Wert De excidio Britanniae! und andere Heine Schriften. Er ftarb 569. Die Schrift beginnt, wie ein hiftorisches Werk, mit einer orientierenden kurzen Bejchreibung Britanniend. Schon im zweiten Kapitel geht fie indes ganz unmißverſtändlich in eine hochpathetiſche Strafrede über, welche der ftrenge Aslet an jeine Zeitgenoffen hält. Mas er von geihichtlihem Stoff Heranzieht, fol nicht Hiftorifscher Belehrung, ſondern nur dazu dienen, die Schidjalsfchläge, welde Britannien trafen und noch treffen, als wohlverdiente göttlihe Strafgerichte darzuftellen. Nach diejem allgemeinen Ausblick wendet fih das zürnende Wort des mutigen Warner an die tyranniſchen Kleinkönige Konftantin (in Cornwall und Devon), Aurelius (2), DVortiporius (in Pembroke), Euneglaffus (?), Maglocunus (auf Anglefey) und endlih an den Klerus in feiner Geſamtheit. Das Sittengemälde ift von hinreißender Heftigkeit und Wucht und erinnert an die Schilderung, welde Mojes von Chorene von dem Untergange Armeniens entwirft ?:

„Könige hat Britannien, aber Tyrannen; Richter hat es, aber gottlofe, häufig räuberifhe, welche breinfhlagen, aber auf die Unſchuldigen; welche rächen und ſchützen, aber nur bie Schuldigen und bie Diebe. Sie haben viele Weiber, treiben aber dazu no Hurerei und Ehebrud. Sie ſchwören viel, aber Mleineide. Sie ge— loben viel und lügen faft beftänbig. Sie find flets im Kampf, aber es gilt nur bürgerlihe und ungerechte Kriege. Im Land herum jpüren fie gar ſehr den Dieben nad; die Räuber aber, bie mit ihnen zu Tiſche fißen, lieben fie und geben ihnen Geſchenke. Sie jpenden reichlich Almoien, aber häufen dafür einen Berg von Ver— breden auf. Sie ſetzen fih auf den Stuhl des Gerihts, aber jelten fuchen fie Die Richtichnur des rechten Urteils. Die Unfchuldigen und Niedrigen verachten fie; bie Stolzen, die Batermörder, die Diebsgejfellen, die Ehebrecher, die fyeinde Gottes, die man, wenn es fozufagen die Gelegenheit böte, mitfamt ihren Namen um bie Wette ausrotten müßte, erheben fie, foweit fie fünnen, zu den Sternen. Sie halten viele in den Kerfern gefangen, welche fie mehr aus eigener Lift ald aus jener Schuld zu Boden treten und mit Ketten belaften. Sie verweilen mit ihren Eidſchwüren lange zwiihen ben Altären und veradhten dann biefelben gleih danach wie ſchmutzige Steine. Nicht unvertraut mit dieſem ſchändlichen Frevel ift der umreinen Löwin Damnonia Junges, der tyranniſche Konftantin.” ®

„Priejter hat Britannien, aber törichte; eine Menge Kirchendiener, aber un: fluge; Kleriter, aber hinterliftige Räuber; Hirten, wie fie fi nennen lafjen, aber zum Mord ber Seelen bereite Wölfe. Denn fie jorgen nicht für den Borteil bes

! Herauögeg. von Polydorus Vergilius, London 1525; J. Joscel- linus, London 1568; €. Bertramus, Kopenhagen 1757; 3. Stevenjon, London 1838; danah bei Migne a. a. ©. LXIX 329-392; San Marte (A. Schulz), Berlin 184; Th. Mommfen, Berlin 1898 (Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi XIII). Die wenigen fihern Lebensangaben über Gildas bei Mommſen (Prolegomena 4—10).

2 Bol. diefes Wert I* 251 252.

5 Migne a. a. ©. LXIX 3847 348 (bei Mommijen a. a. ©. 41).

272 Viertes Kapitel.

Volles, jondern ſuchen nur ihren eigenen Bauch zu füllen. Sie haben bie Kirche zur Wohnung, aber fie gehen nur ſchimpflichen Gewinns halber hinein. Sie lehren das Volk, aber nur Lafter und ſchlimme Sitten, indem fie das jchlechtefte Beiſpiel geben. Sie bringen jelten das Opfer dar und ftehen nie reinen Herzens am Altare. Sie tadeln das Volk wegen feiner Sünden nit, weil fie das gleiche tun. Die Gebote Eprifti verachten fie und fuchen ihren Gelüften in jeglicher Weile zu frönen. Den Sitz bes Apoftels Petrus nehmen fie mit unreinen Füßen ein, finfen aber, dant ihrer Geldgier, auf den verpefteten Platz des Verräter Judas herab. Die Wahrheit haſſen fie wie einen Feind, und die Lügen hegen fie wie ihre liebften Brüder. Die armen Gerechten jehen fie wie jchredliche Schlangen mit grimmigen Mienen an, und bie verbreherifchen Reihen verehren fie ohne Spur von Scham wie Engel bes Dimmels. Mit erhobenen Lippen predigen fie, dab man den Armen Almoſen fpenden müſſe, fie felbft aber geben feinen Heller her. über die ſchändlichen Frevel bes Volkes ſchweigen fie und die ihnen angetanen Unbilden bauſchen fie auf, als wären fie Ehriftus angetan. Eine allenfalls fromme Mutter oder Schweftern jagen fie aus dem Haufe, und fremde Weiber erheben fie ungebührlicherweife zu ihrem vertrauten häuslihen Dienfte oder erniebrigen fie vielmehr, wenn ich die Wahrheit fagen barf, die zwar nicht mir, aber jenen, Die foldhes tun, unpaffend erfcheinen mag.“ !

Das grell aufgetragene Sittengemälde hat nicht bloß großes kultur— geichichtliches Intereffe, die darin gegebene Charakteriftif der britiichen Könige macht es ziemlich ficher, dak mande Züge der Artusfage (bejonders das wilde, ausjchweifende Treiben, die Lügenhaftigkeit und Wolluft der Sagen- fönige) auf geihichtlihen Anhaltspunkten beruhen. Die markige Bereb- ſamkeit des Gildas hat oft wirklich poetiihen Schwung. Er ift in den Propheten wie in den Evangelien wohl zu Haufe, kennt außer der Bibel: überjegung des Hieronymus nod) eine ältere, ift mit Bergil, Perfius, Martial und Glaudian befannt, auch mit Philo, mit Rufinus, Orofius und mit dem Wert des Hieronymus „Über die kirchlichen Schriftfteller“. Seine Sprade tft reich und kraftvoll, und wenn er auch den Haffiihen Periodenbau nicht zu treffen verfteht, jondern in längeren Sabgefügen plump und ſchwülſtig wird, handhabt er einfachere Konftruftionen, Aufzählungen, Antithejen u. dgl. mit jchmeidiger Gewandtheit. Aus dem Ganzen fpricht der fittlihe Ernſt eines gotthegeiiterten Priefters, der von der Welt nichts zu hoffen und nichts zu fürdten hat, und darum die Mächtigen der Erde wie den von jeinem Ziele abgewichenen Klerus im Geifte der Propheten an ihre Pflicht zu mahnen wagt?.

Durch die heidniſchen Angelfachjen, welche die bereits chriſtlichen Briten im Kampfe gegen die Pilten und Skoten zu Hilfe gerufen, wurden die Briten jelbft in den Weiten, nad Wales und Cornwallis zurüdgedrängt, und wo fie nicht zurüdwichen, überwunden und al3 Sklaven behandelt.

! Migne, Patr. lat. LXIX 367 368 (bi Mommſen a. a. D. 62). ® Migne a.a. ©. LXIX 8329. Ebert, Gejhicdhte ber Literatur des Mittel: alters I 565.

Die Flucht der lateiniſchen Bildung nah ben britiſchen Inſeln. 273

Die britiſche Geiftlichkeit, welche fich für die Belehrung der Angelſachſen nicht rührte, fiel felbit jener Entartung anheim, welche Gildas befämpfte, und fo mußte der Süden und Often der Inſel, das eigentliche England, ein zweites Mal für das Ehriftentum und die hriftlich-Tateinifche Bildung erobert werden.

Diefe zweite friedliche Eroberung vollzog fih unmittelbar von Rom aus. Angeregt durch die Schönheit angeljähliiher Sklaven, weldhe auf dem Markte zum Berfauf ausgeboten wurden, entjandte Papſt Gregor d. Gr. im Jahre 596 den. Hl. Auguftin an der Spige von vierzig Mönchen nad) England, um den Angeljahjen das Evangelium zu predigen. Das große Werk gelang mit wunderbarer Schnelligkeit. Schon an Pfingften 597 Eonnte Auguftin den König Ethelbert von Kent mit 10000 jeiner Untertanen taufen. Im Jahre 604 wurde Effer Hriltlih, 631 Oftanglien, 634 Weiler, 635 Mercia und 678 Suſſex. Mit der Belehrung brad für Land und Volk eine der glüdlihften und glanzvollften Zeiten an.

Bon dem reichen Liederſchatz des poetischen Volkes haben fi das „Beowulfslied“, die „Schlacht bei Finsbury“ und zwei Brucjftüde des „Waldere” ! im die hriftlihe Epoche hinübergerettet, melde alsbald eine chriſtlich- angelſächſiſche Poeſie ſchuf die herrliche Erftlingsblüte der Dichtung unter den germaniſchen Völkern. Das Angelſächſiſche ward natür- lich aud die Sprache der Predigt und des religiöfen Unterrichts für das Volk. Wie bei den Weftgoten und Franken blieb das Lateinische auch hier die Sprache der Kirche, des Gottesdienftes, der Wiſſenſchaft, der höheren Bildung. Den erften Glaubensboten, welche den hi. Auguftinus begleitet und mit dem gregorianischen Chorgefang auch die Pflege der kirchlich— lateiniſchen Dichtung über den Kanal gebradt Hatten, folgten noch viele andere Vertreter der bisherigen abendländiihen Bildung. Im 7. Jahr: hundert beftieg jogar ein Mönd aus Tharſus, Theodor, der gleich feinem Begleiter Hadrian, einem Afrikaner, völlig mit dem Griechiſchen vertraut war, den Erzſtuhl von Ganterbury. Sie bildeten eine ganze Anzahl von Mönden in der Kenntnis diefer Sprade heran. Zahlreiche angelſächſiſche Mönde und Geiftlihe, nicht minder wanderluftig als die keltiſchen, zogen nah dem Frankenland und über die Alpen, um fi weiter in den kirch— lien und profanen Wiſſenſchaften auszubilden. Eine Menge Bücher wurden aus den romaniſchen Ländern in England eingeführt, füllten die Biblio- thefen der dortigen Klöſter und wurden mit Eifer vervielfältigt, gelefen und fommentiett. Es konnte nicht ausbleiben, daß nun aud England feine jelbftändigen lateiniſchen Schriftiteller erhielt. Die zwei bedeutendften find der hi. Aldhelm und Beda der Ehrwürdige, jener vorwiegend Dichter, dieſer Geihichtihreiber und Polyhiſtor.

ı DB. ten Brink, Gefhihte der englifhen Literatur I, Berlin 1877, 30 -40. Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4, Aufl. 18

274 Viertes Kapitel.

Der HI. Aldhelm (geb. um 650) ftammte aus dem Königshaufe von Wefjer, lernte bei dem Abte Hadrian in Kent Latein und Griechiſch, begründete mit dem jchottiihen Einfiedler Maildulf das Kloſter Malmes— bury (etwa 40 engliſche Meilen meftlih von Orford), hob dasjelbe als Abt aus unſcheinbaren Anfängen zu glänzendfter Entfaltung und bejuchte 690 Rom auf bejondere Einladung des Papftes Sergius; als 705 das Bistum Sherborne (jpäter nah Salisbury transferiert) von dem Bistum Weiler abgezweigt wurde, erhielt er als erfter Biſchof den neuen Biſchofs— fig, blieb aber zugleih aud Abt von Malmesburyg. Er ftarb bald darauf (709); Malmesbury blieb indes bis ins jpäte Mittelalter hinein ein Haupt: fig gelehrter Studien und höherer Bildung. Wie die Briefe und Aktenftüde des ehrwürdigen Abtes ausweilen, war derjelbe in erfter Linie ein eifriger Asket und treffliher Organijator!. Ein kurzer Traltat „über die Sieben: zahl, die Versmaße, die Rätſel und die Proſodie“ läßt ihn aber aud als Gelehrten und eifrigen Schulmann erfennen, der feine Bildung bon den Elementen auf weiter auszubreiten beftrebt war?,

Die Schrift ift an den König Aldfrid von Northumberland (ad regem Acircium) gerichtet, feinen „geiftlihen Sohn“, als freundliches Erinnerungzeihen, zugleih aber aud mit der Bitte um Schub gegen bös- artige Neider und Schwäßer und um Anerkennung jeiner mühjamen Arbeit. Diefe Gegengabe glaubt er um jo eher beanfpruchen zu dürfen, „als feft- fteht, dab dor unjerer geringen Perfon nod feiner, aus unjerem Stamme hervorgegangen und in der Wiege des germanischen Volkes aufgezogen, ſich auf diefem Gebiete jo jehr betätigt? und felbftändige Erzeugniffe nad) den Regeln der metriſchen Kunſt in literarijchem Text herausgegeben hat, zumal feiner, der mitten im lärmenden Getöfe jo vieler weltlichen Geſchäfte ftand und dabei noch von kirchlicher Hirtenforge niedergedrüdt wurde, durch welche ein furdtiames und ängftlihes Gemüt wie dur die drüdendften Bande eingefhnürt zu werden pflegt“. Er redet dem König jehr zu Herzen, menigftens die geringe Mühe auf ſich zu nehmen, das Buch zu lejen, nach— dem er die tweit größere nicht geſcheut, es zu ſchreiben. Er hält ihm dabei das Beifpiel des Kaiſers Theodofius vor, der es, mitten in den Sorgen für fein Weltreich, nicht gejcheut Habe, die 18 Bände Priscians abzuſchreiben und jo als Schreiber jein tägliches Brot zu verdienen.

1 Acta SS. Bolland. Mai. VI 79. Montalembert, Les moines d’Oc- eident V, Paris 1867, 26—52; beutih von 8. Brandes V, Regensburg 1868, 28-54.

2 Seine Werke herausgeg. von A. Mai (Classici Seriptores V [1833] 501 f); % U. Giles, Orforb 1844; banad bei Migne, Patr. lat. LXXXIX 63—314).

® Quantum constat neminem nostrae stirpis prosapia genitum, et Germanicae gentis cunabulis confotum, in huiuscemodi negotio ante nostram mediocritatem tantopere desudasse etc. (Migne a. a. ©. LXXXIX 236).

Die Flucht der lateiniihen Bildung nah den britifchen Injeln. 275

In der Einleitung (De septenario) verfolgt Aldhelm die heilige Siebenzahl durch alle Reihe und Beziehungen der fihtbaren und unficht- baren Welt, eine Zahlenjpielerei, wie fie ſchon die älteren Kirchenväter fiebten und welcher das ganze Mittelalter treu geblieben ift, welche ala mnemoniſches Hilfsmittel auch nicht ganz unpraktiſch fein mochte, noch halb— rohen Neubetehrten die hauptſächlichſten Glaubenslehren in Erinnerung zu bringen. Den Kern der Schrift bildet aber eine gedrängte Metrit und Projodif!, zwiſchen welchen als praktiſcher Leſe- und Übungsftoff eine Samm— lung von Hundert Rätjeln eingeichoben ift?,

Anregung und Mufter fand Aldhelm in den hundert Rätjeln des Sym— phofius (jpäter Sympofius gejchrieben), den einige ins 4. oder 5., andere ihon ins 2. oder 3. Jahrhundert verfegen, und der kaum Ghrift geweſen zu fein jcheint. Die Rätjel des Symphofius zählen jeweils nur drei Verſe. Aldhelm ahmte dies nicht nad, ſondern dehnte jeine Rätjel von vier bis zu ſechzehn und mehr Berjen aus, jo dab fie zum Zeil, wie die Rätſel Schillers, ihren epigrammatiihen Charakter einbüßen und zu bejchreibenden Gedihthen auswachſen. Die Stoffe find vorzugsweile dem Naturleben entnommen.

So bie tetraftihiichen Rätjel: 1. Die Erde. 2. Der Wind. 3, Die Wolke, 4. Die Natur. 5. Der Regenbogen. 6. Der Mond. 7. Fatum und Schöpfung. 8. Das Salz. 9. Die Sonnenwende. 10. Die Zwillingsmutter. 11. Der Diamant. 12. Der Jagdhund (Molossus). 13. Der Blajebalg. 14. Die Spinnen. 15. Die Orgel. 16. Der Pfau. 17. Der Salamander. 18. Der Zintenfifh. 19. Die Muſchel.

Die pentaftihifhen: 1. Die Plejaden. 2. Der Ameijenlöwe. 3. Die Biene. 4. Die Feile. 5. Die Nachtigall. 6. Die Wage. 7. Die Wafferfchlange. 8. Der Magnet. 9. Der Hahn. 10. Der Probierftein. 11. Der Mlinotaurus. 12, Der Topf. 13. Das Taufendblatt. 14. Der Bücherſchrank. 15. Die Neflel.

Dann und wann taucht auch ein Gegenjtand aus dem Alltagsleben, aus der Mythologie auf; man denkt unmwilllürlih an eine Lejefibel oder einen Orbis pietus. Für ein erftes Leſebuch ift die Auswahl vorzüglich getroffen, da der vorhandene Wortihat ein überaus reihhaltiger ift und

ı Neben Berjen des Vergilius, Ovidius, Lucanus, Juvenalis und Perfius werden Verje aus Ambrofius, Juvencus, Arator, Profper, Sebulius u. a. angeführt als Belege, und jelbit proſaiſche Schriftfteller wie Gicero, der ältere Plinius, Seneca, Solinus u. a. zitiert. So erſcheint das Ganze als eine für die Zwecke bes höheren Unterrihts beitimmte Schrift, welche ein vorteilhaftes Zeugnis abgibt für die Pflege der lateiniſchen Poefie in England zu jener Zeit, und die Bemühungen, biefelbe zu erhalten und zu fördern" (Bähr, Geihichte der römischen Literatur IV ?, Karls» ruhe 1872, 1, 171).

? (Juamobrem nostrae exereitationis sollicitudo ... . decies denas, id est centenas quinas aenigmatum propositiones componere nitebatur, et velut in quodam gymnasio, prima ingenioli rudimenta exercitare cupiens etc. (Migne a. a. DO. LXXXIX 170).

18*

276 Viertes Kapitel.

die anmutigen Rätjel, gleih forgfältigen Miniaturbildchen, das Gedächtnis unterftügen. Der gelehrte Mönch fpielt mit dem Latein wie mit feiner angeljähfiihen Mutterſprache; er weiß alles darin auszudrüden und den Schüler zu feſſeln. Ein prädtiges Gejamtbild der Schöpfung leitet am Schluß ins religiöje Gebiet über.

So laffen uns die artigen Gedichtchen, in welchen ſich nicht nur ge— mütliches Naturgefühl und mannigfaltiges Willen, fondern auch poetiſcher Geift zeigt, einen Blid in das Treiben der damaligen Klofterfchule werfen und erflären uns einigermaßen die hohe Bildung und das wiſſenſchaftliche Streben, da3 zwei Jahrhunderte fpäter in König Alfred dem Großen jo leuchtend herbortritt.

Noch formgewandter als in feinen Rätfeln zeigt fi Aldhelm in feinem größeren Gedichte „Vom Lobe der Jungfrauen“ (De laudibus virginum)!, der metrifchen Bearbeitung einer Lobrede in Proja? über denjelben Gegen- ftand. Wie Gregor don Nazianz wird auch er denjenigen gerecht, welche in unentweihter Ehe leben oder, nachdem fie Gott in diefem Stande ge: dient, der Welt entjagen, preift dann aber, gemäß der Lehre der Kirche, jenes Leben als das glüdlichfte, welches in völliger Enthaltjamteit ganz demjenigen der Engel ähnlich zu werden ſucht. Nach einem begeifterten allgemeinen Lobeshymnus auf die Jungfräulichkeit geht das Gediht dann mehr ins Epifche über, indem es in einer Doppelreihfe von Männern und Frauen die ſchönſten Bilder der Jungfräulichkeit aufführt: hier Elias, Henoch, Eliſäus, Jeremias, Daniel, die drei Jünglinge im Feuerofen, Johannes den Täufer, Johannes den Evangeliften, den Völferapoftel Paulus, Lukas, die Väpfte Klemens und Sylveſter, Ambrofius und Martin von Tours, Gregor von Nazianz und Balilius, die Einftedler Antonius, Paulus, Hilarion und Johannes, Benedilt von Nurfia, Gervafius und Protafius, Narciffus, Atha- nafius, Babylad, Kosmas und Damian, Chryſanthus und Daria, Julian, die Ägypter Amos und Apollonius und endlich den hl. Hieronymus,

qui fuit interpres et custos virgo pudoris, Hebraea Romanis vertens oracula verbis;

dort die allerjeligfte Jungfrau Maria und ihr glänzendes Gefolge: Cäcilia, Agatha, Lucia, Juſtina, Eugenia, Agnes, Thella, Eulalia, Scholaftita, Konftantina, Euftohium, Demetriad, Anaftafia, Rufina, Anatolia und Viktoria. Im zweiten Teil, welchen man jpäter irrigerweije für ein jelb- ftändiges Gedicht, De octo principalibus vitüs, nahm, entwidelt Aldhelm dann, daß die Jungfräulichkeit nicht beftehen Fönne, wenn die Jungfrau

ı 2904 Herameter (Migne, Patr. lat. LXXXIX 257—290). R. Ehmwalb, Aldhelms Gedicht De virginitate, Gotha 1904. ® Migne.a.a. DO. LXXXIX 108—162.

Die Flut der lateiniſchen Bildung nad ben britifchen Inſeln. 277

nicht auch Heldenmütig den Kampf gegen die verjchiedenen Hauptlafter führe, die, wie in der Pſychomachie des Prudentius, als feindliche Feldherren ge— dacht find. Zum Schluffe empfiehlt er den Heiligen nicht bloß feine inneren Seelenangelegenheiten, jondern ruft fie auch gegen die böswilligen Kritiker zu Hilfe, denen an der Verbolllommnung feiner Berje nichts gelegen ift, die aber wie zottige Böde an allem herumzupfen:

Nec tamen emendant titubantis gramma poetae, Sed semper cupiunt scriptorum carpere chartas, Ut caper hirsutus rodit cum dente racemos.

Wie es jcheint, Haben die „zottigen Böcke“ jelbft nichts geleiftet ; wenigftens ift nicht3 don ihnen befannt. Aldhelms Gedicht aber gelangte zu großem Anjehen und behielt dasfelbe geraume Zeit. Zu feiner Eigen- art gehört es, daß er gerne in griechiichen Wörtern jeine Kenntnis dieſer Sprache verrät, anderſeits als gewandter Dichter in angeljähfiiher Sprache auch im Lateinischen Häufig fih der Allitteration bedient. Projodie und Metrik laffen tro feines theoretiihen Eifers zu wünſchen übrig.

In Herametern bejang er ebenfall3 eine von der Prinzeffin Bugge erbaute Kirche im allgemeinen und dann die einzelnen, der Gottesmutter und den Apoſteln geweihten Altäre. Er verjuchte fi aber auch in acht— filbigen rhythmiſchen Verſen, die zwar nicht zu Strophen gegliedert find, aber faft immer reimen, und zwar jo, daß fi der Reim mitunter auf bier bis fünf Verſe erftredt im Grunde aljo eine Art Snittelverje, die in größerer Zahl ſehr eintönig lauten. In zweihundert jolchen Verjen ſchildert Aldhelm launig die Rückkehr von einem Beſuche in Cornwallis, unter einem gräßlichen Regenfturm, der das Haus zerftörte, in welchem er zuerft Zuflucht geſucht, aus welchem er aber noch glüdlih vor deſſen Fall wieder entrann. Ein anderes derartiges Gedicht befchreibt eine Pilgerfahtt nah Rom; ein drittes ift eim Gebet, ein viertes ein Lobgedicht auf König Aethelwold.

Die angelfähfiichen Gedichte Aldhelms find leider verloren. Dod wird berichtet, daß dieſelben fich großer Volfstümlichkeit erfreuten. Die Pflege des Lateinischen war aljo durdaus fein Hindernis für die Nationalliteratur, vielmehr ift fie ald ein Gewinn für diefe zu betrachten. Dies gilt gleicher— maßen von Aldhelms berühmterem Zeitgenoffen Beda.

Wie Malmesburyg im füdlihen England, jo ward aud das Slofter Wearmouth (d. h. an der Mündung des Wear) in Northumbrien, unfern von Durham, eine Pflegeftätte höherer Bildung, welche nicht nur für Nord» england, fondern für das gejamte Europa Bedeutung erlangen follte. Der Gründer desjelben, Biscop, mit dem Beinamen Benediltus, war aus vor: nehmem Gejchleht, Beamter des Königs Oswin und reihbegütert, vertaufchte aber jhon mit fünfundzwanzig Jahren die weltliche Laufbahn mit der geift: lien, machte eine Wallfahrt nad) Rom und predigte dann in feiner Heimat,

278 Vierte Kapitel.

bejuchte auf einer zweiten Romfahrt das Kloſier Lerin und machte fi da— jelbft in zweijährigem Aufenthalt vollftändig mit dem Mönchsleben vertraut, fam abermal3 nach Rom und begleitete von dort den griechiſchen Mönch Theodor, der Erzbiihof von Canterbury werden jollte, und den Abt Hadrian nah England und übernahm jelbft für einige Zeit die Leitung des Petrus: Hofterd zu Canterbury, worin ihm Hadrian als Abt folgte. Darauf zog er nohmald nah Rom und gründete dann das Kloſter Wearmouth, dem er jechzehn Jahre bis zu feinem Tode (690) vorftand. Zum Bau der Kirche holte er fachkundige Werkleute aus Gallien herbei, beſchaffte auch Glasmaler und den reichſten Kirchenſchmuck. Nicht weniger als fünfmal in feinem Leben beſuchte er Rom und brachte jedesmal die reichiten Bücher— Ihäße aus allen Zweigen der Literatur mit!, koſtbare Reliquien, tüchtige Sangesmeifter, reihlihe Privilegien und die ſchönſten kirchlichen Kunft- gegenflände der verjchiedenften Art. Was nur die Klöſter Italiens und Galliens bis dahin an Literatur und Kunſt aufzumweifen hatten, das ward gleihjam Hoch oben im Norden, an der fchottiihen Grenze, geborgen und blühte hier in neuem Flore auf ?.

Auf dem anjehnlichen Gebiete, das König Echert dem Stlofter vergabte, wurde ſchon dor defjen Gründung (674) der Mann geboren, der ihm Welt: ruf verleihen follte: Beda der Ehrmwürdige?. Bereits im Alter von fieben Jahren wurde er den Mönden zur Erziehung übergeben, mit neun: zehn Jahren empfing er die Diafonatsweihe, mit dreißig ward er Priefter und zugleich Lehrer an der Schule, der er fein ganzes Willen verdankte und an der er fi, immer weiter forichend, in unermübdlichem Fleiße zum größten Gelehrten jeiner Zeit meiterbildete!. Das Klofter war und blieb

' Innumerabilem librorum omnis generis copiam apportavit (Beda, Vita SS. Abbat, Monasterii in Wiramutha; Migne, Patr. lat. XCIV 717).

® Auch fein Nachfolger Geolfrid reifte wiederholt nah Rom und bradte von ba neue Bücherſchätze nah Haufe, unter andern eine Bibel mit dem Text bes bl. Hieronymus. Bon dieſer lieh er drei koftbare Abfchriften anfertigen, eine für Mearmouth, eine für Darrow, die dritte nahm er mit nad Rom, um fie als Weihe: gabe an der Confessio des hl. Petrus niederzulegen. Da er unterwegs ftarb, brachten feine Gefährten die Bibelhandihrift nah Nom. Es ift Dies bie noch erhaltene Biblia Amiatina, die fi gegenwärtig in der Laurentianiihen Bibliothek zu Florenz befindet, der ältefte vollſtändige Lateinifche VBibelcoder, die Hauptgrundlage des neuen Bulgatatertes. Bol. 3. Hilgers, Bibliothek und Archiv der römifchen Kirche im 1. Nabrtaufend, in Stimmen aus Maria-Laach LVII (1899) 410-412.

_K.Merner, Beda der Ehrwürbige und feine Zeit, Wien 1875. Monta- lembert, Les moines d’Oceident V, Paris 1868, 60—105 ; deutſch von H. Brandes V, Regensburg 1868, 63—108.

* Bgl. feine Charakteriftif durch Alkuin (Versus de Sanctis Euboricensis Ecclesiae ®. 1287—1324), bei Dümmler (Poetae Latini aevi Carolini I, pars I 198), Berlin 1880.

Die Flucht der lateiniſchen Bildung nad ben britifhen Inſeln. 279

jeine Welt bis zu feinem Tode (735); aber die reichen wiſſenſchaftlichen Mittel, welche es bot, machten es ihm möglich, nächſt Iſidor von Sevilla der einflußreichfte Lehrer des gefamten Mittelalters zu werden.

Wie Iſidor, hat auch Beda das ganze Trivium und Quadrivium, d. h. die ganze ihm zugängliche profane Gelehrſamkeit ala Grundlage und Hilfsmittel zum Studium der Theologie und dann dieje jelbft in umfaſſendſter Weiſe durdgearbeitet, doch nicht in weitem enchklopädiſchen Rahmen, jondern in gelonderten Einzeljchriften. Aus jeinen grammatiſchen und literariſchen Studien find Abhandlungen über Rechtſchreibung und Metrif, ein Bud Hymnen und ein Buch Epigramme hervorgegangen, aus feinen naturwiflen- ihaftlihen Studien eine allgemeine Kosmographie und Geographie unter dem Zitel De natura rerum, aus jeiner prieiterfihen Tätigkeit das durch jeine jhlihte Einfachheit und Salbung jo anjpredende Homilienbud, eine Lieblingsichrift des Mittelalters, aus feinen theologiſchen Forſchungen Kom: mentare zu falt allen Büchern der Heiligen Schrift ſowie wertvolle Mono: graphien über einzelne bibliiche Fragen und Stellen. Er war recht eigent: li der erfte, der die Schriftauslegung nad Art und Weile der griechifchen und römischen Kirchenväter unter die germanijchen Völker verpflanzte, umd bildet fo den Übergang zur mittelalterlihen Theologie. Es fehlt ihm weder die ſcholaſtiſche Schärfe in Behandlung ſpekulativer Fragen noch auch die Luft an allegoriſch-myſtiſcher Deutung der Schrift, welche mehr oder weniger das Mittelalter beherrſcht; der eigentliche Grundzug feines Genius geht ent- ſchieden zum Hiſtoriſchen, und als Gejchichtjchreiber ift er auch jenen der „Ehrwürdige“ geblieben, welche jeine religiöjen Verdienfte nicht zu ſchätzen wiſſen. Seine hiltoriichen Arbeiten erftreden fi von dem engften häuslichen Kreife bis am die Peripherie der allgemeinen Weltepochen. In beiwunderns- werter Einfachheit und Klarheit, mit jener nüchternen, jeder Überſchwenglich⸗ keit abholden Frömmigkeit, wie fie dem germaniſchen Geiſte am meiſten zuſagt, hat er die Hausgeſchichte ſeines Kloſters geſchrieben. Ganz in der— ſelben Art iſt feine engliſche Kirchengeſchichte (Historia ecclesiastica gentis Britonum), von den erſten Anfängen bis zum Jahre 731, gehalten, das älteſte und ehrwürdigſte Werk germaniſcher Hiſtoriographie. Durchaus nicht als Gegenſatz zu dieſer Richtung iſt das Leben des hl. Cuthbert, Biſchofs von Lindisfarn, zu betrachten, das Beda ſowohl in Verſen als in Proſa geſchrieben hat, wenn auch hier das Wunderbare eine größere Rolle ſpielt und Beda ſelbſt dem Heiligen die Befreiung von einem ſchweren Zungen— leiden zuſchreibt. Im Gegenteil mahnt das beſonnene, redliche Weſen des emſigen Forſchers, ſein Zeugnis nicht nach rationaliſtiſchen Vorurteilen ab— zumeſſen. Denn niemand wird den realiſtiſchen Wiſſenstrieb eines modernen Forſchers in dem angelſächſiſchen Mönche verkennen können, der, vom kirch— lichen und klöſterlichen Feſtkalender ausgehend, ſich nicht nur um das all—

280 Viertes Kapitel.

gemeine und angeljähiiihe Martyrologium verdient machte, jondern die da= mal3 noch vielumftrittene Ofterberehnung zum Ausgangspunft für allgemein wiſſenſchaftliche Chronologie nahm, jelbftändig die umfafjendften Unterfuchungen darüber anjtellte und Hinmieder durch chronologiſche Zeittafeln, Gruppierung der Weltperioden die Weltgeihichte vom allgemeinften Stanbpunft aus zu fördern ſuchte!.

Inwieweit Beda auch poetiſch veranlagt war, läßt ſich nicht apodiktiſch aburteilen, da feine angeljähfiichen Gedichte verloren ?, jeine lateinischen nur zum Teil erhalten find®, Jedenfalls war er mehr Gelehrter als Dichter. Dabei trug die Behandlung desjelben Stoffes in Profa und Berjen dazu bei, dab der Unterſchied zwiſchen beiden lediglich äußerlih und techniſch auf: gefabt wurde, der innere, wejentliche Unterſchied fi mehr und mehr ver— wiſchte. So hat aud Beda den hl. Euthbert ſowohl in Proja als in Berjen (976 Herameter) * verherrliht. In Bezug auf Projodie und Sprade find jeine Verſe durchweg beffer als diejenigen Aldhelms. Auf eine epiſche Einheit zielt das Gedicht nicht hin: der Dichter will lediglich feinen Heiligen ver— derrlihen und rüdt darum die Wunder in den Vordergrund, welde ihn duch alle Lebensſtufen begleiten. Dabei fehlen aber doch auch nicht die irdiſchen, realiftiihen Züge, und mit Glüd ift dabei die poetijche Seite auf: gegriffen und verwertet. Das freundichaftliche Verhältnis des Heiligen zu den Zieren und zur leblojen Natur ift nicht erft ein Zug der Franziskaner— fegende; mir treffen ihn ſchon hier bei Euthbert, verbunden mit dem ans ziehenden Kulturbild des Mönches, der jelbft feine der beitellt und den Urwald lite. So erzählt Beda von ihm gar gemütlich):

Da mit eigenem Arm er wollte die Seinen ernähren,

Grübt den Boden er um, den braden, mit emfigem Spaten, In den bezwungenen Grund ftreut er die Hoffnung des Jahres. Spärli die Ausfaat war, doch reichlich ſproßte bie Saat auf.

Als zur Ernte es Zeit, da kamen diebijche Vögel, Fraßen dem Greife hinweg die golden ftrahlenden Ähren.

Sanft und ruhig indes ſprach er zu den graufamen Räubern: „Wie gegen Recht und Fug wagt ihr meine Ernte zu plündern, Die ihr die Furche nicht zogt im Felde mit euerer Arbeit? Seid ihr ärmer als ich, ich bitt' euch, dab ihr die Sichel ! Ausgaben feiner fämtlihen Werke: Paris 1521 1544 1554; Baſel 1563; Köln 1601 1612 1688; Cambridge 1722 1777; neuere Ausgaben von J. A. Giles, Zonbon 1843; Migne, Patr. lat. XC—XCV. Die hiſtoriſchen Werke herausgeg. von J. Stevenfon, London 1841; R. Huſſey, Orford 1846. C. Plummer, Bedae Ven. hist. ecel. gen. Anglor. I, Oxf. 1896, ? Mit Ausnahme von ein paar Zeilen, die er auf feinem Sterbelager bichtete, Bei Zupitza, Alt: und Mittelenglifches Übungsbud (1882) 2. ® Migne, Patr,. lat. XCIV 575—638. * Ebd. XCIV 575—596,

Die Flucht der lateinifchen Bildung nad den britiſchen Infeln. 281

Schwingen bürftet vielleiht in biefem golbnen Meere? Wäre es, ba euch Gott zu rauben bier hätte verftattet, Wohl, dann wehr' ich es nicht; jonft weichet auf eure Grenzen.”

Sprach's. Die geflügelte Schar wich gleich und wagte nicht fürber Anzutaften das Recht, das dem Kämpfer Gottes zu teil warb, Vielmehr Lebte fortan fie mit ihm in frieblidem Bündnis

Und erwibderte treu die Lieb’, die den Ihren er fchenfte.

Denn er warb ihnen hold, wie zarten Lämmern ber Hirte!.

Weniger poetiiden Sinn verrät es wohl, wenn Beda au alle Zahlen und Zahlverhältniffe des Kirchenkalenders in Herameter gebracht hat. Doc bricht auch Hier ein finniges Naturgefühl und wirklich poetifche Stimmung fih gelegentlih Bahn, wie in der folgenden Zeichnung der vier Jahreszeiten.

Frühling heißt der Beginn des Yahrs, ber Beginn dann der Welt aud). Samen von jeglicher Art läht num erſprießen ber Frühling,

Kleidet mit Blättern den Baum und ſchmückt mit Blumen bie Erbe; Fröhlich fhwillet am Zweig ber knoſpenden Rebe das Auge.

Fröhlich grafet das Vieh und fucht fi fpielend zur Paarung.

Alſo befahl es ber Herr, ber Schöpfer, zu unferem Dienite.

Dienen möge dafür dem Schöpfer voll Liebe der Knecht auch,

Deifen auf ewigen Au'n noch harren die himmliſchen Gaben.

Mächtig erreget das Volk, zum Kriege hept es ber Sommer.

Daß er werde gedämpft, wir ruhig bes Friedens genießen,

Freier und ungeftört bem Dienfte Gottes uns wibmen,

Das erflehet zum Wohl der Kinder emfig die Kirche.

Doh auch die Wollen verjcheucht, die Welt erheitert der Sommer, Schneibet das Gras und erntet das Korn und füllet die Scheunen; Dafür dürfen wir Gott benn auch aufs herzlichfte danken,

Siehe, die Hügel umkränzt der Herbft mit Tieblihen Trauben, Freundlich zu jhauen dem Blick, noch füher dem Gaumen zu foften, Unter ber Kelter eniftrömt den Beeren ber labende Tropfen. Früchte au fammelt der Herbft und legt fie in Zellen zufammen, Früchte, ber Erbe entftammt, doch auf des Schöpfers Befehle.

Sie, die nit an Gott, noch des fünftigen Lebens gedenken,

Die kein Hoffen erhebt Hoch über bie fliehenden Wollen,

Mögen mit üppigem Schmaus die Därme praffend ſich füllen, Und als höchſtes Gefchent Die Freude der Tafel betrachten; Ehriften dagegen geziemt’s, ein beſcheidenes Mahl nur zu halten, Aber in frommem Gebet und langanhaltendem Flehen

Sich demütig empor zu dem himmlischen Vater zu wenden,

Daß uns bie Speife nicht Lohn, nur Labſal bes Wanderers werde, Daß er jpende uns hier, was wir zum Leben bebürfen,

Aber im Himmel uns erjt die völlige Wonne gewähre.

' Cap. 18 (Migne a. a. DO. XCIV 584).

282 Biertes Kapitel.

Winter wird es zulegt; vom Froſte ftarret die Erbe,

Don den Früdten erichöpft, noch nicht zum Graben geeignet. Ruhmlos trauert die Flur, ber Blumen Pradt ift entſchwunden. Fröſtelnd ladet uns jet ber Winter zum gaftlidhen Feuer, Lodt uns, träge die Zeit in Luft und Schmaus zu verprafien. Da muß wieder Gebet, Maßhalten, heiliges Faſten

Zügeln ber Lodung Gewalt und bes Leibes niebre Begierden!.

Von dem poetiichen Geifte Bedas und feiner Liebe zur Poefie zeugt auch fein Bericht über den angelſächſiſchen Dichter Kädmon im vierten Buch feiner Kirchengeſchichte?.

„Im Kloſter diefer Abtiffin (Hilda) war ein durch göttliche Gnadenerweiſe be fonders ausgezeichneter Bruder, der treffliche religiöfe und Fromme Gedichte zu machen pflegte; was er aus den göttlichen Schriften durch Dolmetſcher lernte, das gab er bald in poetifhen Worten, in anmutiger und ergreifender Weiſe in feiner, b. b. ber angeljähfiihen Sprade wieder. Durch feine Gedichte wurden oftmals viele mit Ber- achtung der Welt und mit Verlangen nad dem himmliſchen Leben erfüllt. Auch andere aus dem Volke der Angelſachſen haben nad ihm religiöfe Gedichte zu machen verſucht; aber feiner iſt ihm barin gleihgefommen. Denn er hat nit von Menſchen ober durch menſchlichen Unterricht die Sangeskunft erlernt, jondern durch göttlichen Beiftand hat er mühelos die Gabe bes Liedes empfangen. Er lonnte darum nie ein leichtfertiges ober überflüffiges Gedicht verfaffen, fondern feiner Zunge ftand nur das an, was fi auf das Religiöfe bezog. Bis im ein ziemlich vorgerücktes Alter war er in ber Welt geblieben und hatte nie fingen gelernt. Wenn darum bei einem Gaftmahl zur Erhöhung ber Freude ber Neihe nad jeder fingen mußte und bie Zither bald an ihn fam, erhob er fi mitten von der Mahlzeit, ging hinaus und begab fi nad Haufe.

„Als er dies wieder einmal tat und aus der Speifehalle zu ben Biehftällen gegangen war, beren Sorge ihm für jene Nacht übergeben war, und als er ba zur geeigneten Stunde fih dem Schlafe überlaffen hatte, ſtand plöglid einer im Traume vor ihm, grüßte ihn und rief ihn bei feinem Namen: ‚Käbmon, finge mir etwas.‘ Jener aber antwortete: ‚Ih kann nicht fingen; gerade beshalb bin id von bem Gaftmahl weggegangen, weil ih nicht fingen fann.‘ Da fprad der andere, ber ihn angerebet hatte: ‚Und do, bu mußt mir fingen‘ ‚Mas foll ich fingen?‘ ſprach jener. ‚Singe mir‘, erwiderte biejer, ‚den Anbeginn ber Schöpfung.‘ Auf dieſe Antwort fing jener jofort zum Lobe Gottes bes Schöpfers Verſe zu fingen an, bie er niemals gehört hatte und deren Sinn biefer ift: ‚Nun follen wir loben den Ur— heber des himmlischen Reiches, die Macht des Schöpfers und feinen Rat, die Zaten des Glorienvaters, wie er, der ewige Gott, aller Wunder Urheber ift, der zuerft den Menichentindern den Himmel zum Dache gab; darauf ſchuf der Fürft des Menfchen- geichlechts, der Allmächtige Die Erde.‘ Das ift der Sinn, aber nit die Reihenfolge der Worte, die er im Schlummer fang; denn aud bie beftangelegten Gedidhte können ohne Einbuße ihrer Schönheit nicht wörtlich in eine andere Sprache überjekt werden.

Hymnus II. De celebritate quattuor temporum- (Migne, Patr. lat. XCIV 608). ® Histor. Ecel. 1. 4, ec. 24 (Migne a. a. ©. XCV 212-215).

Die Flucht der Tateinifhen Bildung nad den britifhen Inſeln. 283

Bom Schlafe aber erwacht, behielt er alles, was er ſchlummernd gefungen, im Ge- dächtnis und fügte bemfelben in gleicher Art noch viele Worte zu einem gottes- würdigen Gedichte hinzu.

„Am Morgen fam er zu dem Verwalter, ber ihm vorftand, erzählte ihm von ber Gabe, bie ihm zu teil geworben, warb zu ber Abtiffin geführt und erhielt von ihr den Befehl, in Gegenwart vieler gelehrien Männer feinen Traum zu erzählen und das Gebicht herzufagen, damit durch das Urteil aller geprüft würbe, was und woher das wäre, was er erzählte. Und es erichien allen, e8 jei ihm vom Herrn eine bimmliihe Gnade verliehen worden. Und fie legten ihm einen längeren Abſchnitt aus der heiligen Geſchichte oder Lehre vor und geboten ihm, benfelben, wenn er fönnte, in poetifdhe Form zu bringen. Er nahm die Aufgabe auf ih, fam bes Morgens wieber und bradte das jhönfte Gedicht, wie ihm aufgetragen, vollendet mit fih. Die Äbtiſſin, die Gottes Gnade in dem Mann erkannte, riet ihm bald, das weltlihe Gewand abzulegen und den Möndshabit anzuziehen, und befahl, ihm bie ganze biblifche Gefchichte ber Reihe nach beizubringen. Er aber wiederholte ſich alles, was er durch das Gehör lernen konnte, käute es wieder wie ein reines Tier und ver- wandelte es in das fühefte Gedicht; und indem er es noch fehöner vortrug, machte er feine Lehrer hinwieder zu feinen Zuhörern. Er fang aber von der Schöpfung ber Welt und von bem Anfang bes Menſchengeſchlechts und der ganzen Geſchichte ber Genefis; vom Auszug Israels aus Ägypten und von feinem Einzug in das Land ber Verheißung, von vielen andern Geihidhten der Heiligen Schrift, von der Menſch— werbung bes Herrn, feinem Leiden, feiner Auferftehung und Himmelfahrt, von ber Ankunft des Heiligen Geiftes und von der Lehre ber Apoftel. Ebenfo verfahte er viele Gedichte von den Schreden bes fünftigen Gerihis und von ben Schreden ber Höllenftrafe und von ber Süßigkeit des Himmelveihes, auch viele andere von ben göttlihen Wohltaten und Strafgeriten, worin er alle Menſchen von der Liebe zur Sünde abzuziehen, dagegen zur Liebe und zum Eifer, Gutes zu tun, anzufpornen fudte. Denn er war ein jehr religiöier Mann und ber religiöfen Zudt demütig ergeben; gegen diejenigen aber, welche anbers handeln wollten, war er von großem Eifer erfült; daher ſchloß er auch fein Leben mit einem gar jhönen Ende,

„Denn als die Zeit feines Hinſcheidens herannahte, warb er vierzehn Tage zuvor von leiblicher Krankheit bedrängt, doch in jo mäßiger Weife, daß er zu jener Zeit reden und umbergehen fonnte. Es war aber in der Nähe ein Haus, in welches man bie Kränfliciten und die dem Tode Nahen zu bringen pflegte. Er fagte aljo feinem Diener beim Anbruch des Abends, vor der Naht, wo er dieſe Welt ver- lafien jollte, daß er ihm in demjelben fein Lager bereiten follte. Diejer wunderte fi über die Bitte, da er dem Tode nod gar nicht nahe zu fein ſchien, tat indes, was er gefagt hatte. Und als fie, dort gelagert, abwechſelnd und vereint mit ben andern, die fi dort befanden, einige frohe Worte getaufcht und gefcherzt hatten und die Mitternacht bereits vorüber war, fragte er, ob fie die Euchariſtie drinnen hätten. Sie erwiberten: ‚Was bedarf es ber Euchariftie? Denn bu brauchſt noch nicht zu fterben, der du jo fröhlich wie ein Gefunder mit uns redeſt.“ Er aber jagte: ‚Und doch, bringt mir die Eudariftie.‘ Und als er fie in bie Hand genommen, fragte er, ob fie ihm alfe freundlich gefinnt wären, ohne irgend einen Hader oder Groll. Sie erwibderten, daß fie ihm alle freundlich gefinnt wären, weit entfernt von jebem Zorn, und fie baten ihn, jeinerfeits auch ihnen freundlich gefinnt zu fein. Er antwortete alsbald: ‚Ic bin allen Dienern Gottes freundlich gefinnt.‘ Und fo ftärfte er fid mit der himmlischen Wegzehrung und bereitete fih zum Eintritt in das andere Beben; und er fragte, wie nahe die Stunde wäre, wo die Brüder geweckt werben

284 Fünftes Kapitel.

follten, um Gott bie nädtlihen Lobpfalmen zu beten. Sie antworteten: ‚Nicht mehr weit.‘ Da antwortete er: ‚Gut, warten wir auf dieſe Stunde.‘ Und indem er fi mit dem Zeichen bes heiligen Kreuzes bezeichnete, legte er fein Haupt auf das Kiffen, ichlummerte ein wenig ein und ſchloß fo geräufchlos fein Leben. Und fo geihah es, daB, wie er Gott mit einfacher, reiner Seele und ruhiger Frömmigkeit gedient hatte, jo auch in ruhigem Zobe die Welt verließ und zu feiner Anſchauung gelangte, und daß die Zunge, die fo viel heilfame Worte zum Lobe des Schöpfers gebichtet Hatte, auch bie lekten Worte mit feinem Lobe ſchloß, indem er fich befreuzte und feinen Geift in feine Hände empfahl. Aus dem Erzählten fcheint aud; hervorzugehen, daß er feinen Tod zum voraus wußte.“

Fünftes Kapitel.

Die Pioniere der Hrifflid-Lateinifhen Bildung in Deutſchland.

In demfelden Jahre, in welchem Beda der Ehrmürdige flarb, wurde Altuin geboren, der Lehrer Karls des Großen. Es brach ſchon die Zeit an, in welcher das heilige römische Reich deutjcher Nation begründet werden, da3 gemeinfame Band der Kriftli-fateiniihen Bildung auch politiih wieder eine fefle Unterlage erhalten jollte. Dank der mächtigen Lebenskraft der Kirche dauerte die Flucht lateinischer Wiſſenſchaft und Poeſie in den britiſchen Norden nit einmal jo lang.

Bereit3 früh im 7. Jahrhundert entjandte Irland Glaubensboten in die noch heidniſchen Zeile des eigentlichen Germanien, im Anfange des nächſten folgte denfelben Bonifatius, der große Apoftel der Deutſchen, und gründete in Mainz den Primatialfit des künftigen chriftlich-germaniichen Reiches. Gehören dieſe Pioniere der Hriftlihen Zivilifation aud zunächſt der Kirchengeſchichte an, jo hat ihnen doch auch die Literaturgefhichte Wichtiges zu danfen. Sie haben mit dem Wiffen und der Sprade der patrijtiichen Zeit wenigſtens teilmeife auch die Erbſchaft des klaſſiſchen Altertums an die germaniſchen Völker vermittelt und den Grund gelegt, auf weldem eine jpätere Zeit diefelbe wiffenfhaftlih neu aufleben laffen konnte.

Unter den irifhen Glaubensboten ragen Golumbanus und fein Schüler Gallus duch ihre literarifche Bedeutung hervor. Jener war 543 aus edlem Geſchlecht in Leinfter geboren, ward Mönd in Bangor und z0g 590 mit zwölf Schülern hinüber nah Gallien. Er lieh fich zuerft in Annegray (Burgund), dann in Luxeuil nieder und gründete dann das dritte Klofter zu Fontaine. Beiſpiel und Wort der feeleneifrigen Mönche übten einen zündenden Einfluß aus. Bolt wie Klerus wurden aus ihrer Gleidhgültigfeit und fittlihen Verlommenheit mächtig aufgerüttelt. Als die furdtlofen Buß—

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prediger aber aud) die Könige und Großen nicht jchonten, erhob ſich Feind— jeligkeit und Verfolgung wider fie. Golumban mußte feinen Wanderftab weiterjegen. Das Gute, das er gepflanzt, blühte indes fort. Die wichtigften Biſchofsſtühle des Frankenreichs erhielten Oberhirten aus Luxeuil. Schotten- Höfter entftanden in Corbie, Bejfancon, Römiremont, Ebersmünfter, Straß- burg, Hohenau, Hohenburg, Mainz. Columban zog den Rhein hinauf in die heidniihe Schweiz, an den Zürichſee und an den Bodenjee, um die noch heidniihen Bewohner Alemanniens zu befehren. Zu Bregenz er: frantte jein Gefährte Gallus und blieb gegen jeinen Willen zurüd; als er dann wieder genejen, gründete er in einer Walbeinjamfeit an dem Eleinen Flüßchen Steinah das nah ihm benannte Klofter St Gallen. Fat hundertjährig ftarb er daſelbſt am 16. Dftober 646. Golumban aber wanderte weiter nah Norditalien und gründete das nicht minder berühmte Klofter Bobbio, wo er jhon am 23. November 616 das Zeitliche fegnete. Beide Hlöfler wurden zu unermeßlich fruchtreihen Pflanzjtätten hriftlicher Kultur, St Gallen für das gefamte ſüdliche Deutſchland, Bobbio für Norditalien.

Die Möndsregeln und Bußbeſtimmungen des hl. Golumban zeichnen den fittlihen Ernft und die Lebensftrenge, welche diefe Boten des Evangeliums beherrichte und ihre Wirken befruchtete!. Derjelbe Ernft bejeelt die klöſter— lichen Borträge des ehrwürdigen Abtes, die fih duch Kraft und feurige Berediamkeit auszeihnen. Da und dort tritt begeifterter Schwung zu Tage. So jagt er 3. B. von dem irdiſchen Leben:

„DO du Leben! Wie viele haft du getäufcht, wie viele verführt, wie viele ver- blendet! Während du fliehft, bift du nichts; während du fcheineft, bift du mur ein Schatten; während du dich erhebt, bift du ein Rauch; täglich Fliehft du und täglich fommft du wieder; kommend fliehft und fliehend fommft bu wieder; gar verſchieden im Ende, glei im Beginne; verſchieden im Güterverteilen, gleih im Dahineilen; füß den Zörichten, bitter ben Weifen. Die dich lieben, bie fennen dich nit, und die dich verachten, die durchſchauen did. Du bift alfo nit wahrhaft, ſondern trügeriſch; du zeigft dich ala wahr und erweijeit dich als falſch. Was alfo bift du, Menſchenleben? Ein Weg bift du für bie Sterbliden und nicht ein Leben; von ber Sünde beginnend bis zum Tode führend. Wahr wäreft du, wenn dich die Sünde ber erften menfchlichen Gejehesübertretung nicht unterbrochen hätte, und da bift bu nichtig und fterblich geworben, als bu alle beine Wanderer bem Tode überantwortet haft. Ein Weg zum Leben alfo bift du, umd nicht ein Leben; denn du bift nicht wahr. Ein Weg bift bu, aber fein ebener; für die einen lang, für die andern kurz, für die einen breit, für die andern eng, für die einen frob, für die andern traurig, für alfe gleich raſch dahineilend und unwiderruflich!" ?

I Berzeihnis feiner Schriften bei U. Bellesheim, Geſchichte der Fatholifchen Kirche in Irland I, Mainz 1890, 157—159. ® Instructiones variae V (Migne, Patr. lat. LXXX 240).

286 Fünftes Kapitel.

Auch aus den Briefen! Golumbans, jelbft jenen, welche an die Päpfte Gregor d. Gr., Sabinian und Bonifaz IV. gerichtet find, ſpricht eine Feuer— jeele voll fürmijcher Gewalt und kraftvoller Eigenart?. Nur mit Mühe hält die Ehrfurdt vor dem oberften Hirten der Ehriftenheit den furchtloſen Trutz danieder, mit welchem der Heilige gewohnt war, wie ein Prophet des Alten Bundes die Mächtigen diefer Erde anzudonnern. Gleich vielen andern Iren hielt er mit übertriebenem Starrfinn an der alten Ojfterrehnung der Orientalen feſt; doch vermochte ihn die ftärfere kirchliche Gefinnung endlich, fein Haupt zu beugen.

Ein paar Gedichte?, welde unter Golumbans Namen überliefert find, wurden ihm ziemlich Teichtfertig abgejtritten *, gelten aber heute als echt. Zwei davon behandeln das asketiſche Yieblingsthema von der Unbeftändigfeit aller irdischen Dinge, das dritte gibt in einer langen Reihe ſpruchartiger Verſe allgemeine Lebensregeln; das zweite ift vielfah aus Stellen von Horaz, Juvenal und Glaudian zufammengeitellt, das dritte lehnt fi an die ſog. Sprüche des Cato. Noch merkwürdiger ift das aus 159 adoniſchen Verjen befiehende vierte Gediht an einen Freund Fedolius. Er bittet darin um häufigere Briefe, nicht um Gold, da das Gold fo viele übel herbeigeführt habe. Er erinnere nur an das goldene Vlies, den Erisapfel, an Pogmalion und Polydor. So oft habe das Gold auch Frauen vom reiten Wege ab- gebracht, wie Danae und die Frau des Amphiaraus. Darum ermahnt er den Freund, die irdifchen Dinge fahren zu laffen und jeinen Sinn auf das Ewige zu rihten. Am Schluffe erklärt er das Versmaß, deſſen fi ſchon Sappho bedient habe, und vermeldet, daß er 72 Jahre zähle und die Laft derjelben ſchwer empfinde. Sollte Solumban fih nicht fiher als Verfaſſer des Gedichtes nachweiſen laffen, jo jpricht die Überlieferung dod dafür, daß unter feinen Mönden die Klaſſiker gelefen und ftudiert wurden.

ı Bei BP. Fleming (Collectanea sacra, Lugduni 1667); Migne (Patr. lat. LXXX 259—233); W. Gundlad, Berlin 1891 (Monum. Germ. Hist. Epist. III, 156—186). e

? Ein Brief an Papft Bonifay IV. trägt folgende Überſchrift: Pulcherrimo omnium totius Europae ecclesiarum capiti, papae praedulei, praecelso praesuli, pastorum Pastori, reverendissimo speculatori; humillimus celsissimo, minimus maximo, agrestis urbano, micrologus eloquentissimo, extremus primo, peregrinus indigenae, pauperculus praepotenti (mirum dietu! nova res, rara avis!), scribere audet Bonifacio Patri Palumbus (Epist. 5; Monum. Germ. Hist. Epist. III, 170; Migne a. a. O. LXXX 274). Bgl. Bellesheim, Geſchichte der katholiſchen Kirche in Irland I 153—156.

Bei Goldaft (Paraeneticorum veterum pars I [1604] 47 48 52 146); Migne a. a. ©. LXXX 285— 24.

Bon ©. Hertel in Zeitjchrift für hiſtor. Theologie XLV 396 f, widerlegt von W. Gundlach, Neues Ardhiv XV.

» Mignea.a. O. LXXX 280-296; Goldasti Notae ebd. LXXX 295— 322.

Die Pioniere der KHriftlich-lateinishen Bildung in Deutſchland. 287

Der Hl. Gallus erſcheint in den gejchichtlichen Nachrichten etwas milder als jein ſtrenger Meifter, im übrigen von demjelben Geifte erfüllt 1. Von ihm ift eine Predigt erhalten, die er (614 oder 615) vor den Biſchöfen von Auguftodunum und Speier und dem geſamten alemannijchen Klerus hielt, der in Konſtanz zur Wahl eines neuen Bifhof3 verjammelt war. Er lehnte die Wahl von fih ab, empfahl aber feinen Schüler Johannes, der denn aud zum Biſchof erforen wurde. Die Predigt entwirft in chlichter und doch geradezu erhabener Sprache ohne geſuchten Redeprunf ein gedrängtes Bild der gejamten Heilsgeſchichte gewiſſermaßen einen Abrik der frohen Botihaft, die er den Völkern Mlemanniens gebraht und mahnt dann Klerus und Volk zur Vollendung der großen Aufgabe, die er als Glaubens: prediger begonnen:

„Unterbefjen, während jenes alles geihah, ließ der Herr die Völker alle ihre eigenen Wege gehen und ſich ihren Geiit mit den mannigfadhften Irrtümern erfüllen, fo daß die einen Sonne, Mond und Sterne, zum Nuben des Menſchen beftimmte dienende Wejen, mit göttlichen Ehren verherrlichten, andere aber, von noch größerer Zorheit befangen, nicht nur Gold und Silber, jondern Holz und Stein, vierfüßige und friechende Tiere, Vögel und felbft Pflanzen an Stelle Gottes bes Schöpfers ver⸗ ehrten. Als wir über umjere Truggebilde und unfer ſchlechtes Treiben endlich Efel und Reue empfinden mußten, da alſo jandte ber liebreihe Schöpfer aller feine Apoftel zu uns, die uns lehren jollten, uns von jenen Wahngebilden zum lebendigen und wahren Gott zu befehren und jeinen Sohn von ben Himmeln zu erwarten, und auf dad wir glaubten, im Empfang des Heiligen Geiftes, den wir in Ehrifto wiebergeboren erhielten, Nachlaß der Sünden zu erlangen. Seid alfo bedacht, jo zu leben, wie ihr wiſſet, daß es fi für Kinder Gottes ziemet, meibend die Gier der Böllerei und den Wahnfinn der Trunfenheit, den Schmuß ber Unzucht, ben Gößendienft des Geizes, des Zornes Tollheit, der Traurigkeit büftern Nebel, bes Widerwillens Groll, des Neides Roft, aufgeblajenen Sinnes Nichtigkeit, des Stolzes Ball, und keiner vermeſſe fih an irgend einem Ehriften Diebftahl oder Mord oder Läfterung zu begehen oder ihn durch falfches Zeugnis irgend eines Werbrechens zu brandmarfen; fondern feid gütig und vergebt einander, wie Gott euch eure Sünden vergeben hat.“ ?

Bei aller priefterlihen Bildung, die Gallus und feine Schüler bejaßen, mußte vorerft der Urwald gelichtet, das Heidentum verdrängt und die Grund»

! Vita S. Galli, auctore anonymo (Wettino), herauögeg. von J. v. Arx (Monum. Germ. 88. [Pertz] II 5—21); 6. Meyer v. Knonau, St Gallen 1870; deutſch von A. Potthaſt, Berlin 1857; 2. Aufl. von Wattenbad, Leipzig 1888. Vita 8. Galli, auctore Walafrido Strabone, bei Migne a. a. O. CXIV 975—1030. €. 3. Greith, Der hl. Gallus, der Apoftel Alemanniens, St Gallen 1845 1865. Über Fragmente einer Vita S. Galli von Notter dem Stammler vgl. J. Shwalm und P.v. Winterfeld, Zu Notker dem Stammler, in Neues Archiv XXVII (1901) 740—751; P. v. Winterfeld, Nochmals Notlers Vita 8. Galli, ebd. XXVIII (1902) 6176.

® Sancti Galli Sermo 22 23 (Migne a. a. ©. LXXXVII 25 26).

288 Fünftes Kapitel.

lagen religiössfittliher Kultur gelegt werden, ehe jeine Gründung aud) die wiffenihaftlihe und literariihe Schulung in Angriff nehmen fonnte.

Das war aud der Schwerpunkt der Tätigkeit des HI. Bonifatius, des größten der deutſchen Miffionäre, den man mit vollftem Recht den Apoftel Deutihlands genannt hat.

Winfried (um 686 geboren) erhielt zu Exeter (Adescancastre) feinen erften Unterriht und trat dann in die Abtei Nhutfcelle (in Southamp— tonfhire); 716 ſetzte er zum erftenmal nad Friesland über, mit dem großen Plan, das noch heidnijche Germanien für Chriftus zu gewinnen. Das Mip- lingen des erften Verſuchs entmutigte ihn nit. Obwohl zur Rückehr ge: nötigt und Abt feines Kloſters geworden, hielt er an feinem Plane feft und begab fi ſchon 718 nah Rom, um fein Werk unmittelbar dem Bapfte Gregor II. zu unterftellen, Als Bonifatius (das war fein Ordensname), mit dem Segen und den Vollmachten des Papftes verjehen, ging er dann an jeine Riefenarbeit und durchpilgerte zuerft Bayern, Thüringen, Friesland, den Lahngau. In einem Miffionsleben von 37 Jahren vollbradhte er unter unfägliden Mühen und Beihwerden die große Aufgabe, die ihm zu teil geworden, befehrte Heſſen, Thüringen und andere Gebiete zum chriftlichen Glauben, erneuerte in den bereits chriftlichen Landftrihen das religiöfe und tirhlihe Leben, gab Deutihland im Auftrage des Papftes jeine erfte fird;- lihe Organifation und ftarb endlich des glorreihen Martertodes, indem er, obwohl Erzbiihof von Mainz und Primas von Deutihland, wie ein einfacher Milfionspriefter wieder zu den Frieſen ging, denen feine erſte Tätigkeit ge: golten; 755 wurde er am Fluſſe Borne bei Dodum erfchlagen !.

Bei aller Strenge des Mönchslebens, an weldhem der Heilige zeitlebens fefthielt, bei all feinen Gebeten, Entbehrungen und Nachtwachen, bei feinen zahllofen Wanderungen und Reifen, bei all jeinen Hirtenforgen, feinen apoftoliichen Arbeiten, den neuen Gründungen und Organifationsbemühungen, die ſich beftändig drängten, kurz, neben der großartigen Tätigkeit, von welcher jein umfangreicher Briefwechjel? und feine Predigten Zeugnis geben, fand Bonifatius no Zeit, unmittelbar fich mit der Literatur zu befhäftigen. Wie Beda verfaßte aud er zum Zmede des Unterrichts eine lateinische Grammatik

ı Die älteften Vitae von Willibald (Monum. Germ. SS. II 831 f); Jaffé (Bibl, rer. Germ. III 422 f); von einem Utredter Anonymus (Bolland. Iun. I 477); von Otloh (ebd. 1473; Jaffe, Bibl. III 471 f). Neuere Biographien von Seiters, Mainz 1845; Reinerbing, Würzburg 1855; Pfahler, Regens— burg 1879; Buß (herausgeg. von R.v. Scherer), Graz 1880. Weitere Literatur bei €. Will (F. Böhmer, Regesta archiepisc. Mogunt. I, Oeniponte 1877, xı—xıy) und Botthaft (Bibl. Medi Aevi II? [1896] 1217—1220).

® Bei Jaffé (Bibl, rerum Germ. III 8—35) und Dümmler, Berlin 1892 (Monum. Germ. Hist. Epist. III, 2831—431).

Die Pioniere der Kriftlichelateinifhen Bildung in Deutichland. 289

und Metrit, wie Aldhelm jchrieb auch er eine Rätjelfammlung und andere religiöfe Gedichte!.

Die Rätjel verdienen diefen Namen wohl nur in einem etwas freieren Sinne Denn viel zu raten ift nicht daran. Es find eine Reihe von zwanzig religiöfen Gedichten, in welden die zehn Haupttugenden und ebenfo die zehn Hauptlafter (zufammen in 388 Herametern) charakterifiert werden. Der Prolog ift an feine „Schwefter“ gerichtet.

Zehn goldftrahlende Äpfel Hab’ ich geſendet ber Schweiter, Die in blühendem Flor am Baume bes Lebens gewachſen, Hingen voll ſüßen Gefhmads an feinen Heiligen Zweigen, Als bes Lebens Holz einft hing am Baume des Todes. Spielend damit wirft du die Freuden bes Lebens verftehen, Und erfüllen bein Herz mit der Süße bes künftigen Lebens. Speifend wirft bu nod mehr des Nektars Labung verkoften Und ihr lieblicher Duft dir mächtig erquiden bie Seele. Magſt die Äpfel aud) wohl bem künftigen Reiche vergleichen : Denn fo füß wird einft dich himmliſche Wonne beglüden. Doch don anderem Holz gibt's and’re, gar ſauere Äpfel, Die am verpefteten Baum bes bittern Todes ergrünen, Davon Adam ak und ward mit dem Tode betroffen.

Diefe, vom fhäblihen Hauch und der Viperngalle der alten Schlange verderblich erfaßt und ihrem verrät'rifhen Gifte, Soll mit ihrem Arm niemals berühren die Jungfrau.

Sie zu eflen, ift Sünde, und fie zu fojten, Entweihung, Knirichend ſchwärzen fi, von ihnen verpeftet, bie Zähne. Solcher Äpfel Genuß zerreißt bas heilige Bündnis

Und gibt preis den Lohn bes ew’gen, himmliſchen Reiches.

Die zehn goldenen Apfel find: die Charitas, der katholiſche Glaube, die Hoffnung, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Barmherzigkeit, die Geduld, der wahre hriftliche Friede, die hriftlihe Demut, die Jungfräu— lichkeit. Die Früchte vom Baume des PVerderbens find: die Begierlichkeit, der Stolz, die Völlerei, die Trunkſucht, die Unzucht, der Neid, die Un: wiſſenheit, die eitle Ehrbegierde, die Trägheit, der Zorn. In der Ausführung verſchmelzen bibliiche Gedanken und antike Reminiscenzen mitunter jehr har: moniſch und poetijch.

Die Geredtigfeit fpridt:

Juppiter heißt's, ſei Vater mir, der bliesgewalt’ge, Jungfrau fei ich felbft, jo meldet das törichte Märchen, übermaß von Schuld Hab’ mich verdrängt von der Erde, Und nur felten ſei mein Gefiht den Sterblichen fidhtbar.

! Incipiunt aenigmata Bonifatii Ep. quae misit sorori suae (Dümmler, Poetae latini aevi Carolini I 1 [Mon. Germ., Berol. 1880], 3—15). Migne, Patr, lat. LXXXIX 887—892 (unvollftändig).

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Auf. 19

290 Fünftes Rapitel.

Da ih wirklich war die Tochter des himmlischen Königs Und nad bes Vaters Gejek den Erbfreis friedlich beherrichte, Weilend im Vaterſchoß und feines Kuſſes mich freuend, Hätte das Menſchengeſchlecht ftet? goldene Zeiten genofjen, Wenn es bie heilige Norm ber hehren Jungfrau beachtet. Doch man veradhtete mich, ımd alfe Übel auf einmal

Zrafen jene, die Chriſti Gebot verhöhnten, des Gottes,

Und fie wanderten hin zu bes Erebus jchwarzer Behaufung, Jammernd im Tartarus nun, in Plutos flammendem Reiche.

Der Titel der Gedichte oder die Löjung der Rätfel ift in den Anfangs- buchftaben der Verſe gegeben, wenn man fie vertifal herunterlieft. Dieje Künftlichfeit der Alcoftihen, die jchon lange in den Klöftern Liebhaberei geworden zu jein jcheint, fommt der Poefie nicht eben jehr zu gut, hindert aber dod au nicht, daß die frommen Gedanfen vielfah einen wirklich poetiihen Ausdrud gewinnen.

In dem Briefwechjel des Heiligen finden fi mehrfach kleine Gedichte oder wenigſtens einige Verſe dem Briefe angehängt oder in benjelben ein- gewoben!, Seinen erften Brief an Papft Zacharias (742) ſchließt Bonifatius jelbft mit einem Glückwunſch in ſechs Herametern:

Te Deus altithronus sancta conservet in aede, Sedis apostolicae rectorem, tempora longa, Melliflua gratum populis doctrina per orbem, Perficiatque Deo dignum pia gratia Christi. Splendida percipiat florens sua gaudia mater, Atque domus Domini laetetur prole fecunda ?.

Ein viel früherer Brief an feinen Freund Nidhard (etwa von 720) läuft in vierzehn Paare achtſilbiger, rhythmiſcher Verje aus, die ſich jeweilen reimen. Ein Brief an die Abtiffin Eadburga (um 725) endet mit den alliterierenden Verſen:

Vale verae virgo vitae, ut et vivas angelice, recto rite et rumore regnes semper in aethere,

Das mag als bloße Spielerei erſcheinen; aber bei der wichtigen Rolle, welche die Alliteration in der angelſächſiſchen, überhaupt der altgermanifchen Literatur ſpielt, deutet fie doch auf das Intereſſe hin, das Bonifatius ſolchen formellen Dingen zumandte. So wagt es aud) die junge Nonne Leobgitha (Liobgyth), die Tochter eines Freundes Namens Tinne, ſich in einem lateinischen Brief an den vielbeihäftigten Miffionsbiihof zu wenden, ihn nit nur um fein Gebet, ſondern auch um Korrektur ihres Briefes zu bitten und den

! Bol. Dümmler, Poetae Latini Aevi Carolini I 18—20. Andere Rätſel, mehr in der Art Albhelms, vgl. ebd. I 20—28. ® Ep. 40 (Migne, Patr. lat. LXXXIX 748; Dümmler a. a. ©. I 189).

Die Pioniere ber Hriftlich-lateinifchen Bildung in Deutjchland. 29]

Brief mit vier Herametern zu fchließen, mit der Bemerkung: „Die unten: ftehenden Verschen habe ich gemäß den Regeln der poetifchen Überlieferung abzufaffen verfucdht, nicht aus übermütigem Selbfivertrauen, fondern um mein feines, ſchmächtiges Genie als Anfängerin zu üben und gar jehr deiner Hilfe bedürftig. Ich Habe diefe Kunſt dur den Unterricht Eadburgas gelernt, welche unermüdlih und unaufhörlih das göttliche Geſetz erforſcht.“ Die Berje der mwißbegierigen jungen Slofterfrau lauten:

Arbiter omnipotens, solus qui cuncta creavit,

In regno Patris semper qui lumine fulget,

(ua iugiter flagrans, sic regnet gloria Christi,

lllaesum servet semper te iure perenni?,

Die angeljähfiihen Nonnen lernten aber nicht nur ein leidliches Latein Ihreiben, fie unterftügten auch das Miffionsmwerf in Deutſchland mit ihrem Gebete, mit ihrem Almofen, mit zierlihen Paramenten und auch als fundige Abjchreiberinnen. So beftellt ſich Bonifatius z. B. bei Eadburga einen mit goldenen Buchftaben ausgeführten Goder der Briefe des Hl. Petrus, deffen er ih, als Zeihen größerer Ehrfurdt vor den heiligen Schriften, beim Predigen bedienen mollte®.

Aus dem Kreife diejer engliihen Klöfter, in welchen die Kenntnis des Latein eine für jene Zeit hohe und vielfeitige Bildung eröffnete, ftrömten dem Apojtel Deutſchlands die tüchtigſten Hilfskräfte zu, wie Burdard und Lullus, die Brüder Willibald und Wunibald, Witta, Chunihild und ihre Tochter Berathgide, Chunitrud, Thekla, Lioba (die erwähnte Liobgyth) und Walpurgis. So wurde es ihm möglich, die hervorragenden Miffionsitationen, Bishofsfige und Klöfter nicht nur zu Pflanzftätten des Chriftentums, fondern auch höherer Bildung zu geftalten. Chunihild mit ihrer Tochter wurden Lehrerinnen in Thüringen, Thella ward Abtiffin des Kloſters Kitzingen, Lioba in Biihofsheim, Walpurgis in Heidenheim. Lullus ward jpäter Erzbiſchof von Mainz, Willibald Biihof von Eichſtält, Burdard in Würz- burg, Witta in Buraburg. Zum Mittelpunft des weiteren Apoftolates erjah Bonifatius das Kloſter Fulda, wo fein Schüler Sturmius 744 zuerft in der Silva Buchonia das Kreuz aufpflanzte, und. das für Mitteldeutichland eine Ähnliche Bedeutung erlangte wie St Gallen für den Süden.

! Bon Ähnlihem literarifhen Eifer zeugt der Brief einer wahrfheinlih gal« liihen Nonne aus dem 7. Jahrhundert, der in einem St Galler Eoder (190, ©. 50 bis 55) erhalten ijt; veröffentliht von E. Caſpari (Briefe, Abhandlungen und Predigten aus ben zwei lekten Jahrhunderten des kirchlichen Altertums und dem Unfang des Mittelalters, Chriftiania 1890, 178—182) und W. Gundlad, Berlin 1892 (Monum. Germ. Hist.. Epist. III 716—718).

®2 Migne, Patr. lat. LXXXIX 720 721. s &bb. LXXXIX 712.

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292 Sechſtes Kapitel.

Sechſtes Kapitel. Die fiterarifhe Tafelrunde Karls des Großen.

Mas Bonifatius gejät, gepflanzt und geordnet, erhielt nad mancher Seite hin feine Vollendung durch den großen Monarden, der, dreizehn Jahre dor dem Martertod des Heiligen geboren, dreizehn Jahre nad) demjelben zum König von Auftrafien gefalbt ward, nad Karlmanns Tode das ganze Franken— reich unter ſich vereinigte, 774 die Alpen überſchritt und die langobardiſche Krone auf fein Haupt jehte, 778 auch über die Pyrenäen zog und die Macht der Araber für immer auf den Ebro zurüddrängte, nad langem Kampfe 785 auch die Macht der heidniſchen Sachſen brach, fein Reich auch nah Oſten und Südoſten erweiterte und dur ſog. Marken ſchirmte und ih endlid am Weihnadtstage 800 von Leo III. in Rom zum Saifer frönen lieh. y

Diefer Tag war einer der folgenſchwerſten der Weltgefchichte. Über ein Jahrtaufend Hat er die Schidjale Europas beherriht oder wenigſtens wejentlih beeinflußt. Die Gründung des römijhen Kaifertums deutjcher Nation, d. h. die Erneuerung des alten Jmperatorentitel® mit völlig neuer Bedeutung, als Schutzherrſchaft der Kirche auf Grund einer germanijchen Staatsverfaffung, mußte jhon durch ihre politiihen Wirkungen von höchſter Bedeutung aud für die Literatur fein. Sie verſchaffte ihr eine Zeit ruhiger Entwidlung, fie feftigte ihren religiöä-chriftlichen Charakter, fie verftärkte den Einfluß der antifen Bildungselemente, ordnete fie aber der hriftlihen Melt: anihauung und germaniſchen Recdtsverhältniffen unter.

Der Einfluß der neuen politiihen Sage und der neuen Inftitutionen wuchs durch den perfönliden Anteil, welhen Karl d. Gr. an der Literatur wie an der geiftigen Bildung überhaupt nahm. Die erften Erfolge dantte er jeinem Schwert und jeiner Willensenergie, feiner hohen Eriegerifchen und politiihen Begabung ; aber er hatte feine höhere Bildung erhalten, und fein Gefichtöfreis ging deshalb nur wenig über den jeiner Vorfahren hinaus. Erit während des Langobardenkrieges, unter den alten Denfmälern Italiens, im Verkehr mit den Langobarden und Italienern wurde er fidh der geiftigen Macht und Überlegenheit bewußt, welche eine Jahrtaufende alte Kultur ver: leiht und welche bloße Naturanlagen eines noch fo fräftigen, aber rohen Volkes aufzumiegen nicht im ftande find. Er lernte Wiſſenſchaft, Literatur und Kunft ſchätzen, und der ſchon in feiner äußeren Geftalt riefenhafte Franten- fönig erſchwang fih zu dem Entſchluß, ſelbſt Schüler zu werden, um feinen Bölfern jene höheren geifligen Güter vermitteln zu fönnen !,

! Einhardus, Vita Karoli Magni imperatoris, bei Perf (Monum. Germ. SS. II 443—463); Migne, Patr. lat. XCVII 9—26; beutfö von O. Abel,

Die literarifche Tafelrunde Karls des Großen. 293

Im Jahre 780 midmete ihm Adam, Abt von Masmünfter, eine Abihrift des Grammatikers Diomedes „Von der Rede und ihren Teilen“. Das Jahr darauf begann Godesſkalk jenes pradtvolle Evangeliarium, welches Karl zur Erinnerung an die Taufe feines Sohnes Pippin durch Papit Hadrian in Rom (am Ofterfefte 781) anfertigen ließ, welches ganz in Gold: und Silberbuchſtaben auf Purpurgrund geſchrieben ift, und auf welchem der Kalligraph den Kaiſer mit den Verſen verherrliht: Providens ac sapiens, studiosus in arte librorum. Noch im jelben Jahre traf Karl in Parma mit dem gelehrten Angeljahien Alkuin zujammen und lud ihn an feinen Hof ein. Aus Italien folgten ihm bei jeiner Heimkehr der gelehrte Diafon Paulus und der Grammatiter Beter von Pila,

Aus Spanien fand fih an dem königlichen Hofe ein vertriebener Weſt— gote ein, Theodulf mit Namen, ein fenntnisreiher Mann, gewandt in Proja wie in Verſen, der jpäter als Biſchof von Orleans großen Einfluß gewann. Auch drei gelehrte irifch-fchottiiche Mönde, Dungal, Yojeph und Dicuil, jcheinen fich zeitweilig in Karls Nähe befunden zu haben. Den fremden Lehrern jchloffen ſich alsbald talentvolle junge Franken an, unter welden Angilbert und Einhard fih am meiften auszeichneten und das Vertrauen Karls genofien.

So bildete fih am Hofe Karls jener zugleich gelehrte und intime Kreis, den man feinen gelehrten Hofftaat und auch wohl feine Hofſchule genannt hat, deffen Mitgliedern Alkuin ſelbſt gelegentlih den Namen von Alademikern gab. Diefe Alademie hatte aber gar nichts Offizielles; im Gegenteil herrſchte darin die höchſte Vertraulichkeit. Im literariihen Verkehr mußte die Etikette der Gemütlichkeit meiden, und um hierin nicht be— hindert zu werden, wurde jedem fein eigener Klubname zugeteilt, nad) einer Sitte, die Altuin wahrjheinlihd aus England mitgebradt hatte. Der Kaifer ſelbſt hieß David, Alluin Flaccus, Einhard Beſeleel, Angilbert Homer, Wizo Candidus, Arno Aquila, die Abtiffin Gijela, Karla Schwefter, wurde zur Lucia, feine Baſe Gundrad zur Eulalia und feine Tochter Rotruda zur Golumba !,

Der Verkehr der gelehrten Hofgefellihaft knüpfte fih zunächſt an die Geſpräche bei Tafel und dann an die weitere Unterhaltung, welche auf diejelbe folgte. Es wurden da Rätſel aufgegeben, Anefvoten erzählt, ge:

Leipzig 1880. DO. Abel, Jahrbücher bes fränkfifchen Reiches unter Karl d. Gr. (fortgejeht von B. Simfon), Berlin 1866 1884. Monnier, Alcuin et Charle- magne®, Paris 1864. Alberdingk-Thijm, Karel de Groote (deutſch von Zroft), Münfter 1865 1868. J. Janfjen, Karl db. Gr. (Drei gejchichtliche Vorträge) *, Frankfurt 1891.

"Adolf Ebert, Die literarifche Bewegung zur Zeit Karls d. Gr. (Deutſche Rundſchau XI, Berlin 1877, 398—410).

294 Sechſtes Kapitel.

fungen und mufiziert, Gedichte vorgelefen und beſprochen, aber aud wifjen- ihaftlihe Fragen erörtert und Stüde aus ernfteren Werfen vorgelejen, literariihe Pläne und wichtigere Aufgaben in Erwägung gezogen.

Die Seele dieſes Kreifes war Altuin!, Er war 735 zu Vorf ge boren, fieben Jahre älter als Karl. Gleih Beda fam er fhon ala Kind an die klöſterliche Domſchule von York und begleitete nod als Schüler feinen Magifter Aelbert auf deſſen gelehrten Studienreifen bis nah Rom. Als Aelbert, von 766 an Erzbiſchof, zwölf Jahre fpäter refignierte, teilte er jeine Amter an feine zwei Lieblingsfhüler: Eanwald erhielt das Erz bistum, Alkuin Schule und Bibliothel zur Verwaltung. Den reihen Bücher: Ihaß, der jo in jeine Hände fam, hat er begeiftert in einem feiner Gedichte beſchrieben. Da fanden fid) die Kirchendäter und Kirchenſchriftſteller Hie— ronymus, Ambrofius, Hilarius, Auguftinus, Athanafius, Orofius, Gregorius d. Gr., Leo d. Gr., Baſilius, Fulgentius, Gajfiodor, Johannes Chryſoſtomus, dann Aldhelm, Beda, PBictorinus, Boethius, die alten Gejdhichtjchreiber, Pompejus, Plinius, Ariftoteles, Cicero, die hriftlihen Dichter Sedulius, Alcimus, Clemens, Projper, Baulinus, Arator, Fortunat, Yactantius, die antifen Dichter Vergil, Statius, Lucanus und eine ganze Schar von Grammatifern?. Kurz:

Illie invenies veterum vestigia patrum, Quidquid habet pro se Latio Romanus in orbe,

Graecia vel quidquid transmisit clara Latinis, Hebraicus vel quod populus bibit imbre superno.

Im Jahre 780 machte Alkuin eine zweite Romfahrt, um für jeinen Freund Canwald das Pallium zu holen. Auf diefer Fahrt lud ihn Karl ein, die Leitung der Studien im ganzen Franfenreihe zu übernehmen. Er fam im Jahre 782 mit feinen vier Schülern Wizo, Fredegis, Sigulf und Oſulf und blieb bis 789. Auf dringende Bitten Karls kehrte er 793 ein zweites Mal ins Frankenreich zurüd und wurde diesmal (796) Abt

Gefamtausgaben feiner Werke von Frobenius (Abt Froben Yorfter zu St Emmeram, Regensburg 1777); banad von Migne, Patr. lat. C CI Die Briefe und hiftorifhen Schriften bei Jaffe, Bibl. reram Germ. VI (berausgeg. von Dümmler und Wattenbad, Berlin 1873). Die Briefe allein herausgeg. von Dümmler, Berlin 1895 (Monum. Germ. Hist. Epist. IV). Die Gedidte berausgeg. von dem ſ., Berlin 1880 (Monum. Germ. Hist. Poetae latini aevi Ca- rolini 11 2). 8. Lorentz, Altuins Leben, Halle 1829. K. Werner, Alcuin und fein Jahrhundert. Paderborn 1876. J. Bass-Mullinger, The schools of Charles the Great, London 1877. A. F. Thery, L’Ecole et l’Academie Palatines. Alcuin, Amiens 1878. Dümmler, Art. „Altuin‘, in der Allgem. deutſch. Biographie I 343— 348.

2 Versus de Sanctis Euboricensis ecclesiae ®. 1535—1561, bei Dümmler, Poetae latini aevi Carolini I 208 204.

Die literariſche Tafelrunde Karla des Großen. 295

des Martinsklofters zu Tours und bildete hier den gelehrten Abt von Fulda, Hrabanus Mautus, den primus praeceptor Germaniae, heran. Hier ſtarb er 804.

Seine Schriften umfaffen alle Gebiete der damaligen Eirhlich-Hlöfterlichen Gelehriamteit, von den geringfügigften grammatiiden Regeln bis hinauf in die höchften Spekulationen der Metaphyfit und der Trinitätslehre. Überall war er mit faunenswerter Schmiegjamfeit des Geiftes und umfaflender Belejenheit zu Haufe. Wie bei den Kirchenvätern ericheinen bei ihm Humanis- mus und Theologie nod nicht ala getrennte Richtungen. Die gejchichtliche Kontinuität der Bildung ift noch ungeftört. Die alten Klaſſiker find in den Dienit der chriſtlichen Literatur und Wiſſenſchaft genommen, aber ohne eine privilegierte Stellung; die altchriftlihen Dichter, die jih an ihnen ge ihult, werden ebenjo hoch gehalten. Das Lateinifche ift nicht eine Zier- pflanze, die fünftlich gezüchtet wird, fondern die allgemeine, alltäglihe Sprache der Wiſſenſchaft, der Literatur und des literarischen Verkehrs, der täglichen Lektüre, der Unterhaltung.

Das hatte feine nit zu unterfchäßenden Vorteile. Der Angelſachſe, der Weſtgote, der Langobarde, der Italiener, der re und Schotte, der Franke und Alemanne brauchten nicht verjchiedene Spraden zu lernen: fie fonnten ſich alle im derjelben verftändigen. Die Kenntnis diefer Sprache eröffnete ihnen die altlateinische Literatur und alles, was von der griechiſchen in dieſelbe übergegangen, die bibliſche und patriftiiche Literatur und mas bis jetzt an chriftlicher Poefie geleiftet worden war. Sie ermöglichte es, jowohl alle antiten Versmaße der Griehen nadzubilden, als nad dem Bei- jpiele der romanischen und germaniſchen Volksdichtung den Gedanten in rhythmiſche Form zu Heiden, mit Alliteration, Affonanz und Reim. Wie die Architeltur und die übrigen bildenden Künſte ſich indes vorläufig noch nad) dem Vorbilde der Alten richteten, jo gaben die poetifhen Talente un: willtürlih no den antifen Formen der Poefie den Vorzug und wandten fie faft ausfhließlih an, doch vielfach mit jener Freiheit, welche ſich die borausgegangenen hriftlihen Dichter bereits verftattet hatten.

Alkuin war vorab ein ausgezeichneter Lehrer. Das zeigen die kleinen Schulbücher über Grammatik, Rechtſchreibung, Rhetorik und Dialektik, welche bon ihm nod) erhalten find. Drei davon find dialogiſch-katechetiſch gehalten. Die Grammatik läßt er durch einen fünfzehnjährigen Sadjenfnaben einem etwas jüngeren Franken erklären. In der Rhetorik und Dialektif find Karl und Alkuin ſelbſt die Perjonen des Schuldialogs, der ſchon dadurd zu den merfmwürdigften Alten der Pädagogit und Kulturgefhichte gehört. Am mwißigiten und munterften aber zeigt ſich Alkuin in einem kurzen Dialog zwiichen ihm und dem feinen Pippin, dem Sohne des Kaiſers. An die bejondere Liebhaberei des Kaiſers für die Aftronomie erinnert das Schriftchen

296 Sechſtes Kapitel.

De cursu et saltu lunae ac bissexto jowie mehrere auf Kalender— rechnung bezüglihe Briefe. Die großen, allgemeinen Gefichtspunfte der Pädagogik zeichnet die Einleitung in die Grammatik, wo die fieben freien Künfte mit den fieben Säulen verglichen werden, die das Haus der Weisheit tragen, d. h. die Theologie, welche letztes Ziel und Krone alles Willens if.

Wie Alkuin mit den Kindern Kind zu werden wußte und den Ab- ſchreibern jeden einzelnen Buchftaben bis ins Heinfte erklärte, jo griff er auch als mohlgeihulter Theologe in die wichtigften theologischen Fragen feiner Zeit ein, in den Streit über den Abdoptianigmus und über bie Bilderverehrung ; er jhrieb Kommentare zu verſchiedenen Büchern der Heiligen Schrift, ein dem Kaiſer gewidmetes Wert über die Trinität, eine Ethik, welche bejonders die Verwaltung des Nichteramtes ins Auge fakt, eine Pſychologie, die ftark in die Askeſe Hinüberftreift, Er verfaßte auch mehrere Heiligenleben in Proſa, mie jenes des hl. Richerius, des hl. Vedaſtus, des bi. Willibrord.

Am liebenswürdigften jpiegelt ſich ſein Charakter, am glänzendften zus gleih jeine vielfeitige Tätigkeit in den von ihm erhaltenen Briefen, von melden indes die meilten erft im die letzte Periode feines Lebens fallen. Boll Eifer für Religion und Kirche, für Schule und Wiſſenſchaft, ebenjo anjpruchslos und liebreih als gelehrt und geiftreih, ift er ein unermüd— licher Lehrer, Tröfter und Helfer aller, die fih an ihn wenden, der treueite Freumd feiner alten Belannten in England, der allzeit heitere Genoſſe der Gelehrten an Karls Hofe, der forglide Water des Slofters von Tours, ein wirklicher Diener aller von einzelnen Laien und Prieftern hinauf bis zu den einflußreichften Biihöfen und Prälaten, den Prinzen und Prinzeſß— finnen des Kaiferhaufes und zum Kaifer, feinem geliebten „David“ ſelbſt. Welch einen Jubel atmet der Brief, im welchem er den 801 von der Krönung heimfehrenden Karl begrüßt:

„Gepriejen ſei Gott ber Herr und gepriefen jeine beftändige Barmherzigkeit über feine Diener: zu deren Wohl und Heil er Euch, jühefter David, glüdlih und friedlich heimgeführt, erhalten, geehrt und erhöht hat... . Selig das Volk, dem bie göttlihe Milde einen fo frommen und klugen Herrſcher gegeben! Glücklich das Volt, das von einem weifen und frommen Fürften regiert wird, wie es in jenem platonifhen Spruche heißt, wo gejagt wird: glüdlich jeien die Reiche, wenn Philo- jophen, d. h. Liebhaber der Weisheit herrſchten oder bie Könige fi ber Philojophie widmeten, weil nichts in der Welt mit der Weisheit verglichen werden fan. Denn fie ift es, die den Niebrigen erhöht und dem Mächtigen Ruhm verleiht und an jedermann lobwürbig ift. Im ihr liegt die Zier und Schönheit des gegenwärtigen Lebens und ber Ruhm der ewigen Seligfeit; denn mur jene Weisheit ift die wahre, welche jelige und ewige Tage gewährt.“ !

Alcuini Epist. 229 (Monum. Germ. Hist. Epist. IV 372 373); bei Migne, Patr. lat. C 364—366.

Die literariſche Tafelrunde Karls des Großen. 297

Adlersflügel wünſcht er fih, um dem Kaiſer entgegenzueilen. Doch das Fieber Hält ihn zurüd. Seine Tage find gezählt. Er wünſcht fih nur noch das eine, friedlich im Kloſter des Hl. Martin jeine Tage beſchließen zu dürfen.

So ift das Verhältnis zwiſchen Karl und Alkuin bei weiten idealer als jenes zwiſchen Auguftus und den großen Dihtern, die jein Zeitalter verherrlihten. Man darf nicht davon abjehen, wenn man feinen dichte: riſchen Leiftungen gerecht werden will. Denn wenn uns aud ein paar Hundert Gedichte von ihm erhalten find, jo hat er dod die Poefie nur nebenher als Gelegenheitsdichtung, ala freundliche Zufpeife zu feinem ernften Schul: und Gelehrtenleben betrieben.

Auch in feinen größeren Dichtungen hat er wohl faum Hohe Kunft: forderungen an ſich geftellt. Im der einen hat er daS bereits in Proſa geichriebene Leben des Hi. Willibrord in Herametern verfifiziert; in der andern hat er die Geſchichte feiner Heimat York in 1657 Hexametern erzählt:

Patriae quoniam mens dicere laudes, Et veteres cunas properat proferre parumper Euboricae gratis praeclarae versibus urbis.

Die eine ift ganz im Stil der mittelalterlihen Heiligenlegenden ge: halten, in welchen die Wunder meift alles übrige zurüddrängen; die andere hat ſchon ungefähr die Anlage der jpäteren Reimchroniten. An Bergil, Prudentius und andern gebildet, führt aber Alkuin feine Erzählung doch mit der Gewandtheit, Anmut und gewählten Sprache eines tüchtigen Epilers aus. In beiden Gedichten, beſonders aber in dem Hiftoriichen Lobgedicht auf York, pulfiert innige Liebe zur Kirche wie zur Heimat, die, einmal Hriftianifiert, auch zur Leuchte für andere Völfer geworden ift.

Die Gründung Yorks dur die Römer, das Treiben der Briten und ihre Verdrängung durch die Angelfahien, die Kämpfe des Königs Edwin und jeine Befehrung durch Paulinus, die Stiftung des Erzbistums, die Kriegstaten des Königs Oswald, die Schidfale der Könige Egfrid und Aldfrid, wunderbare Gnadenerweiſungen des heiligen Kreuzes, die merf: würdige Viſion des Drithelm von Melroje, das Wirken der Hl. Guthbert, Willibrord und Beda, die Entwidlung der Domſchule unter dem Erzbiſchof Egbert: all das ift teils nah Beda teils nah andern Überlieferungen und eigener Kundſchaft überaus lebendig erzählt, ein KHulturbild, das zugleich) Hiftorifchen und literariichen Wert hat. Schon mehr astetifch gefärbt ift die Elegie auf die Verwüſtung des Klofterd Lindisfarne dur die Dänen (De elade Lindisfarnensis monasteri) in 120 Diftihen; ziemlich nüchtern und hausbaden find die 205 Spruchverſe, welche fi unter dem Titel Praecepta vivendi, quae monastica dieuntur vereinigt finden, jehr munter dagegen die Epiſtel, in welcher er alle jeine Freunde von Utrecht bis gen Mainz grüßt.

298 Sechſtes Kapitel,

Alle feine übrigen Gedichte find Gelegenheitägedihte, Epifteln, Epi— taphien und Epigramme!, Mande Hocdpathetiihe Glüdwünjhe find an Kaifer und Papft gerichtet und werden in Gedanlen und Form der hohen, mweltgefhichtlichen Bedeutung beider gerecht. So ruft er dem Kaiſer ſchon bor feiner Krönung (800) die Worte zu:

Ipsa caput mundi spectat te Roma patronum, Cum Patre et populo, pacis amore pio,

Quos revocare quidem studeat tua sancta voluntas Ad pacis donum, per pia verba Dei.

Erige subiectos et iam depone superbos, Ut pax et pietas regnet ubique sacra?,

In ähnlichen Weiheaktorden Huldigt er auch dem Papfte Leo IIL in mehreren Gedichten. Gegenüber dem Kaiſer ſchlägt er aber aud gemüt- (ihere Töne an gemäß der Vertraulichkeit, die in dem gelehrten Hofkreiſe herrſchte. Da beginnt er:

O dilecte Deo, David dulcissime Flacco,

und dann erkundigt er fi gemütlich ſcherzend nach allen ſeinen früheren Genoſſen, nach den Prieſtern und nad) den Arzten, nach dem kunſtfertigen Bejeleel (Einhard), nad dem Kleinen Schreibmeifter Zahäus, nad dem Leſe— meifter Sulpicius und dem Gejanglehrer Idithun, nach der für Aſtronomie ihwärmenden Prinzeſſin, nad Angilbert und jogar nad dem Mundſchenk Nemias und dem Küchenmeifter Menalcas. Alter Humor Klingt noch, etwas melancholiſch angehaucht, durch die Elegie an den Kudud (Cuculus), wie ein jüngeres Genie des Kreiſes genannt wurde, das fich leider durch Trunk— jucht verdarb und unglüdlid machte. Man hat in ihm einen gewifjen Dodo vermutet, an den ein Projabrief Alktuins gerichtet ift, und ihm das merkwürdige Gedicht vom Kudud oder Confictus veris et hiemis zu— gejchrieben, das unter Altuins Gedichte Aufnahme gefunden hat und wohl aud von diefem gedichtet jein fann. Die Form ift Vergils Eklogen ent: lehnt, aber das innige Naturgefügl darin ift echt germaniſch: es fledt ein richtiger deutſcher Frühlingsgruß darin. Raſch verfammelten fi von den hohen Bergen ber Alpen

In des Lenzes Beginn der Rinder gemütliche Hirten Unter ſchattigem Baum, die fröhlichen Mufen zu fingen.

ı Nicht alle ftammen von Alkuin ſelbſt; mande find nur Abſchriften von metriihen Infchriften aus Rom. So ift 3. B. das Gebiht Nr 3 bei Dümmler (Poetae latini aevi Carolini I 345) eine Inſchrift auf der Kirche S. Pietro in vin- eoli, die von Arator herrührt. ®al.H. Grisar, Analeeta Romana I, Roma 1899, 68.

» Dümmler (a. a. ©. 1257 ff). Migne, Patr. lat. CI 784.

Die literarifhe Tafelrunde Karla des Großen.

Dafnis auch fand fi ein und der würbige greife Palämon. Alle bereiteten fi, das Lob des Kuckucks zu feiern.

Aber es fam auch der Lenz, gefhmüct mit blühenden Kränzen, Und mit ftarrendem Haar der eifige, grimmige Winter,

Und es entjpann fi ein Kampf, ein gewaltiger, über den Kudud.

Erjt hub an der Lenz und fang melodifch drei Verſe.

Der Lenz.

ſtäme der Kudud doch, der allerliebfte der Vögel! Allen im Haus ift er wie feiner der Gäfte willfommen, Der fein köſtliches Lied mit glänzendem Schnabel geftaltet.

Der Winter.

Drauf in geftrengerem Ton erwibert der eifige Winter: Bleibe der Kudud ung fern und ſchlummre in nädtliher Höhle! Quälenden Hunger nur pflegt er uns als Gabe zu bringen.

Der Lenz.

Käme der Kudud do, mein Liebling, mit fröhlichen Keinen, Und vertriebe den Froft, des Phöbus Genoſſe von jeher, Phöbus im wachſenden Licht, im hellen, Tiebet den Kudud.

Der Winter.

Bleibe der Kudud uns fern! Gr bringt nur Mühen unb Arbeit, Er verdoppelt den Kampf, ſcheucht von uns behagliche Ruhe, Alles wirbelt er auf, bringt Land und Meer burdeinander.

Der Lenz.

Fauler Winter du! Was fingft du Läft’rung dem Kudud? Der du träge verſchnarchſt die Zeit in finftern Höhlen, Nachdem du ber Benus gefröhnt und dem törichten Bacchus.

Der Winter.

Auch ich fühle mich reich, ich gönne mir luſtige Schmäufe, Feire in füher Ruh’, beim warmen feuer am Herde. Davon weiß der Kuckuck nichts; es quält fich der Arge.

Der Benz.

Blumen bringt uns herbei der Kudud, labt und mit Honig, Baut uns Scheunen und Haus und führt auf friedlichen Wegen, Zeugt lebendige Brut und Hleidet mit Jubel die Auen,

Der Winter.

Feindſchaft dräuet mir, was du zur freude bir rechneft. Ich aber zähle mit Luft in meinen Truhen die Schäße, Praſſe am leckern Mahl und genieße beftändiger Ruhe.

299

300 Sechſtes Kapitel.

Der Lenz.

Wer aber fpeichert dir auf, du fauler, jchläfriger Winter, Schäthze und füllet mit Pradt bie leeren Truhen im Haufe, Wenn fi zuvor nicht der Lenz und der Sommer fleißig bemühten?

Der Winter.

Wahr ſprichſt du, und barum act’ ich auch jene als Knechte, Die nur Schaffen für mid und meinem Gebote fi duden: Alles gehöret bem Herrn, was jene fih mühſam erquälen.

Der Len;.

Nein, du bift nicht ihre Herr, nur ein ftolzer, erbärmlicher Bettler. Könnteft dich kümmerlich nicht aus eigenen Mitteln ernähren, Brächte dir Speife und Trank nit der Kuckuck, den wir erwarten.

Palämon.

Da, von erhabenem Sik hub an der würb’ge Palämon,

Dafnis, ber Jüngling zugleid und die Schar der waderen Hirten: ‚Schweige, Winter, nunmehr, du grämlidher, grimmer Verſchwender, Und e8 fomme herbei ber Freund der Hirten, ber Kudud. Fröhlich auf Hügeln und Höh’n mög’ jegliche Anofpe fih öffnen, Frei auf den Wieſen das Vieh fih Weide ſuchen und ruhen, Grünenb wieder der Wald den Mübden öffnen fein Laubbadh, Strogenden Euterd zum Eimer des Senns die Ziegen fi drängen, Zaufendftimmigen Sangs die Vögel den Morgen begrüßen. Darum fomm nur fehnell, o Kudud, ſäume nicht Länger!

Liebling aller, o fomm, als Gaft uns allen willfommen !

Alles harret auf dich, das Meer und die Erb’ und ber Himmel. Willomm, fühefter Freund, für immer willlommen, o Kudud!!

Perjönlichkeiten wie Karl d. Gr. wirken erbrüdend auf den zeitgenöf- fiihen Epifer. Erft in einiger Ferne, wenn die Sage ihr Spiel beginnen fann, mag er e3 verjudhen, eine jo gigantijche Geftalt im Hohlſpiegel der Didtung aufzufangen. Gleich Alerander mag indes aud Karl fi einen Homer gewünſcht haben, und da Angilbert! im traulien Hofkreife dieſen Namen führte, ift die Vermutung nicht unbegründet, daß er fi mit dem Plane eines karolingiſchen Epos trug?. Bon vornehmen fränkischen Geſchlecht, war er zugleih der Liebling des Kaiſers und feiner bevorzugten Tochter und ward deren Gemahl in clandeftiner Ehe und Vater zweier Söhne, deren einer der jpätere Geſchichtſchreiber Nithard war. Später ſcheint ſich Angilbert

! Conflictus veris et hiemis bei Dümmfler (Poetae latini aevi Carolini I 270— 272).

? Wattenbadh, Deutfhlands Gefhichtsquellen I 162—169.

®’ Angilberti Carmina, bei Dümmler (a. a. ©. 1355—881) und Migne, Patr, lat. XCIX 849-854.

Die literarifche Zafelrunde Karls des Großen. 301

indes von der Welt zurüdgezogen zu haben, ward Abt von St-Riquier und wurde wie Kaiſer Karl jelbft in weiten Kreifen als Heiliger verehrt. Er galt nicht bloß als ein ausgezeichneter Diplomat, dem Karl verjchiedene wichtige Sendungen anvertraute, jondern auch als tücdhtiger Poet. Ein paar gemüt- volle Gedichte rechtfertigen dieje günftige Meinung und maden es nidht uns wahriheinlih, dab auch das Bruchſtück eines größeren epifchen Geſanges, Carolus magnus et Leo III, von ihm herrührt!. In der Art Vergils, recht Friih, lebendig und maleriſch jchildert er den Bau von Aachen, des neuen Roms, dann Wald und Park bei der Stadt, eine große Jagd, an der der Kaiſer mit feiner ganzen Familie fi) beteiligt, darauf den Traum Karls über die jchredliche Lage des Papſtes, die Entfendung einer Gejandt- ihaft an den Papft, dad Zufammentreffen von Papft und Kaiſer bei Paderborn.

Laut jchallen die Trompeten. Es drängt ih Schar an Schar, Am Sonnenfheine funfeln die Helme wunberbar,

Die Waffen fröhlih bliken, die Banner Iuftig wehn,

Stolz von den hohen Roſſen bie jungen Reiter fehn.

Bon Kraft und Kampfmut ftrogend ftehn fie in langen Reihn, Es glüht in ihren Adern: fie ſchlügen gerne drein.

Hoch über alle raget in voller Waffenpradt,

Geihmücdt mit gold’nem Helme bes Kaiſers heil'ge Madht.

In Gold und Scharlach prunket fein Schlachtroß mächtig ſchwer, Sein Blick, ber gleitet lächelnd hin auf fein zahllos Heer.

Dorn an ber Front, der langen, ftehn feftlich in brei Reih'n Die Bifhöfe und Priefter, geteilt in Chöre ein,

In wallenden Gewanben hoch weht das Kreuzpanier, Und um fie barrt des Papftes das Volk in Freudenzier.

Der Kaijer fieht von ferne Pippin, den Sohn, fi nahn, Da teilet er die Scharen, zu öffnen freie Bahn,

Läßt Heer und Bolt ſich ftellen in weiten, offnem Streis. Er jelbft harrt in der Mitte fromm auf ben Prieftergreis, Um Haupteslänge ragend ob feinem fFeftgeleit:

Der herrlicfte und größte im Bolfe weit und breit.

Lebt naht der Papft. Boll Staunen tritt in ben Kreis er ein, Schaut alle Stämme, Bölfer, in friedlihem Verein,

In Kleidung und in Sprade, in Waffen und Geftalt

So wunderſam verſchieden, jo bunt, fo mannigfalt.

Verehrend vor ihm nieder ber große Kaiſer fällt,

Doch aldbald in den Armen ber Priefterfürft ihn hält; Sie ſchütteln fi die Rechte, fie taufhen Kuß und Gruß, Sie wechſeln traute Reden auf holdem Freundesfuß.

' Bei Dümmler (a. a. ©. I 366-381).

302 Schftes Kapitel.

Dreimal finft mit dem Volfe das Heer auf feine Knie, Des Papites Vaterſegen erflehen dreimal fie:

Dreimal der Hohepriefter blickt betend himmelan

Und fpendet feinen Segen voll Liebe jedermann.

In trautem Zwiegeſpräche ftehn dann fich zugefellt Europas Hort, der ſtaiſer Leo, ber Hirt der Welt '.

Trotz der Hajfiihen Reminiscenzen atmet die Ausführung ſchon ganz den Geift mittelalterliher Romantik.

Nächſt Alkuin hat fein Mitglied der Tafelrunde fo viele Gedichte hinter: lafjen ala der Gote Theodulf, jeit 788 Biſchof von Orleans, 798 aud mit der Würde eines Missus dominicus befleidet?. Auch bei Ludwig dem Frommen ftand er anfänglih in Gunft, wurde aber, der Teilnahme an der Verſchwörung Bernard3 von Jtalien angellagt, 818 aller feiner Würden entjeßt und farb 821 im Gefängnis. Gleih Alkuin griff auch Theodulf durch theologiihe Schriften (De Spiritu Sancto; De ordine baptismi) in die obwaltenden Zeitfragen ein, war überaus tätig für Verbreitung und Organijation der höheren wie niederen Schulbildung und genoß in politiihen wie firhlihen Fragen Karla Vertrauen. Aud er trieb die Poeſie nur nebenher, entwidelte aber in Sprade, Ausdrud und Berfifitation mehr Gewandtheit als jeine übrigen Kollegen, Alluin nit ausgenommen. Seine Diftihen fließen jo glatt dahin wie diejenigen des Venantius Yortunatus, ja, man darf wohl jagen, faft wie diejenigen Ovids. Noch wibiger und heiterer ala Alkuin und Angilbert hat er die Ffarolingiiche Tafelrunde be- ihrieben*. An Belejenheit jheint er Altuin kaum nachgeftanden zu haben.

8. 475—505, überjeßt vom Berfaffer. „Niemand*, jagt Wattenbad (Deutihlands Geſchichtsquellen 169), „wird Diejes Fragment aus der Hand legen, ohne zu bedauern, daß uns von diefem Werke nicht mehr erhalten ift; es weht uns barin gleihfam bie friſche Luft jenes kraftvollen Lebens an, und wir fühlen uns auf einen Augenblick entrücdt aus der einfürmigen Atmoſphäre der geiftlichen Ehroniften, ja ſelbſt der feelenlofen Schulpoefie." Auh Ebert (Deutihe Rundſchau XI 408) fpricht ſich ſehr günftig Über das Gedicht aus: „Der Verfafler jenes epiſchen Gejanges beſaß wahres poetifches Talent, einen reichen Sinn für das Maleriſche der Schilderung fowie für die Mufit bes Verſes. Die finnlihe Kraft und die ganz weltliche Rich— tung, welche dieſes Poem, ebenjo wie bie Efloge des Najo, auszeichnen, künden ſchon eine neue Literatur der Zufunft in dem neuen Imperium an, bie allerdings erft viel jpäter zu einer wahren und vollen Entwidlung reifen follte.“

? Seine Werle herausgeg. von Y. SirmondS.J., Paris 1646 und in beffen Geiammelten Werfen Il, Paris 1696; Migne, Patr. lat. CV 187—380. Seine Gedichte bei Dümmler (Poetae latini aevi Carolini I 437—581). Haurdau, Singularitös historiques et litt6raires, Paris 1861. Rzehulka, Theodulf, Biihof von Orlians, Breslau 1875. Cuissard, Theodulfe, Eväque d’Orleans, Paris 1892. ® Migne.a. a. DO. CV 191-282,

* XXV. Ad Carolum regem (122 Diftihen), bei Dümmler (a. a. O. I 483—489).

Die literarifhe Zafelrunde Karls bes Großen, 303

In einem Gedicht, worin er feine Lieblingsautoren aufzählt, entwidelt er zugleich, wie die antifen Mythen allegoriſch gedeutet und jo für die hriftliche Bildung nutzbar gemacht werden fünnen!. Im Anjhluß an ein Gemälde zeichnet er jehr jchön feine Auffaffung der fieben freien Künfte, d. h. der ganzen damaligen Bildung. Nachdem er Biſchof geworden, drängten natürlich wichtigere Geſchäfte das Dichten zurüd:

Non amor ipse meus, Christus mes carmina quaeret, Sed mage commissi grandia lucra gregis?,

Sein umfangreihftes Gedicht, Versus contra Iudices, ein ernftes Mahnwort über Gebrauh und Mißbrauch der richterlihen Gewalt (in 478 Difiihen), Hat er indes mahrjdeinlihd al® Missus dominicus ver— faßt. Auch aus der Zeit feiner Gefangenihaft find noch einige ſehr ſchöne Gedichte vorhanden. In dem einen, an Biſchof Aiulf von Bourges, beteuert er feierlich feine Unſchuld.

Non regi aut proli, non eius, erede, iugali Peccavi, ut meritis haec mala tanta veham. Crede meis verbis, frater sanctissime, erede: Me obiecti haudquaquam criminis esse reum. Perderet ut sceptrum, vitam propriumque nepotem, Haec tria sum numquam consiliatus ego.

Sp hat die Poeſie diefen Dichter durch alle Wechjelfälle bi$ zum Tode begleitet. In der römiſchen Liturgie lebt nod ein Gedicht von ihm fort, das er für den Palmjonntag verfaßte:

Gloria, laus et honor tibi sit, rex Christe redemptor, Cui puerile decus prompsit osanna pium. Israhel es tu rex, Davidis et inelita proles, Nomine qui in domini, rex benedicte, venis. Coetus in excelsis te laudat caelicus omnis, Et mortalis homo et cuncta creata simul. Plebs Hebraea tibi cum palmis obvia venit, Cum prece, voto, hymnis adsumus ecce tibi®.

Lob ſei und Glorie und Ehre dir, König Ehriftus Erlöfer, Welchem ber findlihen Schar frommes Hoſanna ertönt. Israels König bift du und Davids herrlicher Sprößling, Der bu im Namen bed Herrn, König, gejegnet dich nahſt. Did, Herr, preifen entzüdt in der Höhe die himmliſchen Scharen, Did der fterblihe Menſch, alles Geſchaff'ne zumal. Dir zog einft das hebräifche Wolf mit Palmen entgegen: Wir mit Gebet und Gelübd’ nahn und mit Hymnen uns bir.

ı XLV. De libris quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum a philo- sophis mystice pertraetentur, bei Dümmler (a. a. O. I 543—544).

® XLIV. Car modo carmina non scribat, bei Dümmler (a. a. ©. I 542). ® LXIX, bei Dümmler (a. a. ©. I 558—559).

304 Sechſtes Kapitel.

Bon Paulinus, Biſchof von Aquileja, einem ſehr vertrauten Freunde Altuins, find nur wenige religiöje Gedichte erhalten: eine Regula fidei, ein Gedicht auf Lazarus, eine Elegie auf die Zerftörung von Aquileja, ein Rhythmus auf Ehrifti Geburt und fleinere Hymnen!. Der Schotte Joſeph (Joſephus Scottus), der jhon in England Alkuins Schüler war, hat fidh nur durch die künſtlichſten afroftihiichen Figurengedichte verewigt?. Unter dem Namen „Naſo“ verftedte ſich wahrfheinlih ein anderer Schüler Alkuins, Mundvin, der den Kaiſer in einer artigen Efloge verherrlihte?. Auch der Abt Fardulf*, ein Langobarde, ein gewiffer Bernomwind, und ein „Iriſcher Verbannter“ (den mande für identiih mit dem Mönde Dungal halten) feierten Karl in einigen fürzeren Gedichten.

Intereffanter find die poetiichen Epifteln, welde Beter von Pija im Auftrage Karls und in feinem eigenen Namen an den Langobarden Paulus Diakonus richtete, und die Antworten, welche diefer darauf gab®, In Ernft und Scherz zeichnet ji Hier das jchöne, gemütliche Ver: hältnis, in weldem die beiden Gelehrten zu dem gewaltigen Herrſcher ftanden. Die meiften find in Herametern und Diſtichen, ein paar joviale Ergüffe heiterer Laune aber auch in rhythmiſchen Verſen abgefaht. So erhebt 3. B. einmal Petrus den Paulus in hochtrabendem Lobeserguß als einen neuen Homer, Bergil, Philo, Tertullus, Flaccus und Tibullus. Paulus aber erwidert darauf:

Dicor similis Homero, Flacco et Vergilio, similor Tertullo sive Philoni Memphitico, tibi quogue, Veronensis o Tibulle, conferor.

Peream, si quemquam horum imitari cupio, avia qui sunt secuti pergentes per invium, potius sed istos ego comparabo canibus.

Graiam nescio loquelam, ignoro Hebraicam: tres aut quattuor in scholis quas didici syllabas, ex his mihi est ferendus maniplus ad aream.

Gleichen ſoll ih dem Homerus, dem Horaz und dem Bergil, Dem Tertullus, ja dem Philo fern zu Memphis an dem Nil, Dem Zibull auch von Berona ähneln ſoll mein Saitenfpiel.

Hol’ der Kudud mich, wenn einer diefer mir als Vorbild galt, Die auf unwegſamen Pfaden haften eitle Spufgeftalt; Eher werb’ ich fie vergleihen Hunden wohl jung oder alt!

ı Dümmler (Poetae latini aevi Carolini I 123—148).

® Ebd. I 149—159. s Ebd. I 382-392.

* Ebd. I 352— 854. ® Ebd. I 413—425.

° Pauli et Petri diaconorum carmina, bei Dümmler (a.a.D©.127—86). Bol. Wattenbah, Deutihlands Geſchichtsquellen I 155—162.

Die literariihe Zafelrunde Karls des Großen. 305

Griechiſch ift mir wie Hebräiſch, beides völlig unbelannt; Mit ein paar latein’schen Broden, die ih in ber Schule fand, Komm’ ih, mit gar leichter Garbe, zu der Tenne hergerannt!

Dies ift natürlich Scherz. Paulus verftand das Griechiſche und gab darin Unterricht am Hofe. Lehnte er auch mit Recht das übertriebene Lob von fih ab, fo beſaß er doch wirkliche poetiiche Begabung. Tief ergreifend ift die Elegie auf den Gemahl jeiner Schülerin, der Prinzeſſin Adelperga, den Herzog Arichis, ſehr ſchön fein Gedicht auf den Comerſee, feine Grab: Ihrift für Königin Hildegard und mehrere feiner Epifteln an Karl und an Peter von Piſa. Auch jein größeres Gediht auf den hi. Benedikt verdient alle Anertennung. Paulus war übrigens nur furze Zeit am Hofe Karla. Aus vornehmer Familie in Friaul entftammt, Hatte er eine treffliche Aus— bildung in Pavia genoffen, wurde Lehrer der Mdelperga, einer Tochter des Königs Defiderius, für welche er feine „Römische Geſchichte“, eine Fort— fegung des Eutropius, ſchrieb, begleitete diefe bei ihrer Verheiratung nad Benevent, trat aber bald in das Kloſter Monte Caſſino. Im Jahre 782 folgte er Karl nah Deutihland, auf defien Wunſch er eine Sammlung treffliher Homilien verfaßte, kehrte jedoch ſchon 787 in fein Kloſter zurüd, wo er fein berühmteftes Wert, feine „Geſchichte der Langobarden“ !, und eine Erklärung der Benediktinerregel vollendete.

Der Geſchichtſchreiber Karls ward zunädft Einhard, der, um 770 im Maingau geboren, fi) ala Schüler in Fulda auszeichnete und deshalb don Abt Baugolf an den Hof gejandt wurde. Wegen feiner künſtleriſchen Anlagen und Leitungen erhielt er dort den Namen „Bejeleel” , hieß aber auch „Nardus“ oder „Nardulus“, ward wegen feiner kleinen Statur viel gehänjelt, aber wegen feines reihen Wiſſens jehr hoch geihäßt und vom Kaifer bald als vertrautefter Rat zu allen wichtigen Gejchäften herbei: gezogen.

Danf und Liebe trieben ihn, nad dem Zode des Kaiſers kurz deſſen Lebensbild zu entwerfen, weil feiner ihm jo nahe geftanden, feiner fo genau in jeine Angelegenheiten eingeweiht war. Er hatte klaſſiſche Bildung und kritiihen Vlid genug, um fi nicht ſchon beim erften Verſuch felbft für einen Slajfifer zu halten; aber indem er fih Sueton zum Vorbild nahın, hat er ein umgemein treffendes und wirkungsvolle Portrait des Kaiſers ent:

: Ausgaben von W. Parpus, Paris 1514; E. Peutinger, Augsburg 1515; Lindenbrog, Leiden 1595; Gruterus, Hanau 1611; 9. Grotius, Amfterdam 1655; Migne, Patr. lat. XCV 458—672; 8. Bethmann und 6. Wait, Hannover 1878 (Monum. Germ. Hist. Seript. rer. Langob. 25—187). Deutſch von K.v. Spruner, Hamburg 1838; R. Jacobi, Leipzig 1878. Die übrigen Schriften bei Migne a. a. DO. XCV. Val. Wattenbach a. a. O. 155—182,

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. u. 4. Aufl. 20

306 Siebtes Kapitel.

worfen, das deffen geihichtlicher Stellung entſpricht. Wie Karl ein weſent— lich neues Imperium gründete, nur mit Überreften altrömifcher Formen und Erinnerung, jo ift die Lebensbeſchreibung Karls von Einhard ein mittel alterlich gedachtes Eharafterbild in Stil und Yorm der Alten !,

Siebte3 Kapitel,

Die Fiteratur an den Kloſterſchulen: Fulda, Reichenau, St Gallen.

Aachen wurde kein zweites Rom, wie fi Angilbert und andere Poeten ge träumt haben mochten. Den Einheitspunft des neuen Reiches bildete vorläufig nur die gewaltige Perjönlichkeit des Kaiferd, dann die Würde, die er jeinen Erben hinterließ. Aber einen feften lofalen Mittelpunkt ſchuf er nit. Seine Nachfolger teilten nicht diefelbe Vorliebe für Nahen; fie ſchlugen bald hier bald dort ihre Pfalz auf. Schon lange vor Karls Tod hatten ſich jeine literariihden PBaladine wieder nad verſchiedenen Seiten zerjtreut. Zur Grün: dung einer rein weltlihen Schule war es nicht gelommen, da die begabteften weltlichen Räte des Kaiſers, wie Angilbert und Einhard, fih ſchließlich ganz dem Dienfte der Kirche widmeten. Mit ihnen zog ſich die weltliche Bildung nah dem furzen höfiſchen Jugendfrühling gleihfam wieder ins Klofter zurüd, nicht weil Papft oder Mönche dies angeftrebt hätten, jondern weil die freien Germanen, die weltlid gefinnt waren, fih gar nidt um Wiſſenſchaft und Literatur kümmerten?, jene, die daran Gefallen hatten, fih der Eirhlihen Laufbahn zumandten.

ı Mit dem ungünftigen Urteil Rankes (Zur Kritil fränkifchebeuticher Reichs» annaliften 416) vgl. bad gerechtere Wattenbachs (Deutichlands Geſchichtsquellen 175 ff), ber von Einhard mit Recht jagt: „Auch dankt er, und wir mit ihm, dem Sueton mehr als nur die Ausbrüde. Keine Biographie des Mittelalters ftellt uns ihren Helden jo volljtändig und plaftiih nad allen Seiten feines Wefens dar, Das ift die Frucht ber Kategorien, welche Einharb bei feinem Vorbild fand.“

2 Wipo erteilte im Jahre 1041 Kaiſer Heinrich III. den Rat, nad italieniſchem Mufter den Schulunterridt für bie ritterliche Jugend bes Reiches anzuordnen:

Tune fac edietum per terram Teutonicorum, Quilibet ut dives sibi natos instruat omnes Litterulis, legemque suam persuadeat illis,

Ut, cum prineipibus placitandi venerit usus, Quisque suis libris exemplum proferat illis. Moribus his dudum vivebat Roma decenter, His studiis tantos potuit vineire tyrannos:

Die Literatur an den Kloſterſchulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 307

Sp wenig die Kirche einen Prudentius oder Venantius Fortunatus, einen Boöthius oder Gaffiodorus Hinderte, fi nad jeder Richtung auszu— bilden, jo wenig hätte fie den weltlichen Großen der farolingifchen Zeit irgend eine Schwierigkeit im dieſer Hinficht bereitet. Noch ungerechtfertigter ift die Borftellung, „dur die fremde, römische Kirche“ wäre die reim deutſche, ureigene Entwidlung der germanischen Bölter, bejonders der Deutfchen, zum Schaden berjelben erdrüdt worden. Abgeſehen von all den hohen Gütern, welche ihnen die hriftlihe Zivilifation gebradht hat, gilt Hier die wohl— begründete Mahnung: „Doch ift es fraglih, ob wir überhaupt berechtigt find, Hier von einer Entwidlung zu ſprechen; folange wir von den Deutjchen Nachricht Haben, ijt eine ſolche, wo fie unberührt blieben, kaum mahrzu: nehmen, und gerade das am jpätejten unterworfene ſächſiſche Heidentum ift völlig ſtarr und jeder Veränderung widerftrebend; das waren Zuftände, die ungeftört viele Jahrhunderte ohme merkliche Entwidlung fortbeftehen fonnten.” ?

Der Kirche danken aljo die deutjchen Völker jo gut wie die übrigen Nationen Europas den beiten Teil ihrer natürlihen Entwidlung und die hriftlihe Kultur dazu. Der Kirche dankt Karl d. Gr. die beften Hilfs: fräfte, die ihm nad der Gründung des Reiches bei feiner großen Kultur- arbeit zur Seite fanden. Der Kirche ift es zu danken, daß diefes, fein größtes und jegensreichftes Werk, nicht unterging, fondern daß die hriftliche Zivilifation faft ebenſo viele Pflanzitätten fand, als es Biſchofsſitze, Domitifte und Klöſter im dem weiten Reihe gab.

Noch für lange galt es zunächſt, durch religiös-fittlihe und materielle Kultur die Grundbedingungen einer höheren Geiftesbildung zu legen, und dies ift der Hauptgrund, weshalb die allgemeine Kulturgeſchichte der nächſten zwei Jahrhunderte weit reicher und bedeutender ift als die Literaturgefchichte. 63 koftete der Kirche ſchon außerordentlihe Mühe, nur die nötigen Kräfte für ihre gewöhnliche Seelforge und das Kriftlihe Apoftolat heranzubilden und den Höfterlihen Unterricht auf jener Höhe zu halten, wie ihn die angel: ſächſiſchen und irif hen Glaubensboten über das Meer gebracht Hatten. Dabei war der eigentlich religiöfe Teil der großen Aufgabe weit mehr durch praftijche hriftliche Erziehung bedingt als durch Wiſſenſchaft und Kunſt. Die religiöfe, astetijche Literatur drängte deshalb die wiſſenſchaftliche und ſchöngeiſtige weit zurüd oder gab auch dieſer eine klöſterliche Färbung.

Hoc servant Itali post prima crepundia cuncti, Et sudare scholis mandatur tota iuventus. Solis Teutonieis vacuum vel turpe videtur, Ut doceant aliquem, nisi clerieus aceipiatur. (Wiponis Tetralogus ®. 190—200 Monum. Germ. Hist. SS. XI 251].) ı Wattenbad, Deutſchlands Geihichtsauellen im Mittelalter I’, Berlin 1885, 208. 20*

308 Siebtes Kapitel.

Die Überlieferung des hl. Bonifatius erhielt fih am lebendigiten an deffen Grabe, dem Klofter Fulda, wo dem erfien Abt Sturmi (742—779) zunächſt der gelehrte Baugulph (780-802), dann Ratger (8302—817), Eigil (817— 822), Sturms Biograph, und endlih Hrabanus Maurus folgte, der 842 der Abtswürde entjagte, fünf Jahre jpäter aber zum Erzbiſchof von Mainz erhoben wurde und als folder 356 ftarb. In ihm verband ſich die Überlieferung des Apoftels der Deutſchen gewiſſermaßen mit der literariichen des Alkuin, da er nod zeitweilig deſſen Schüler in Tours war. Sein vielfeitiges Wifjen, fein Eifer für Schule und Unterricht haben ihm den Namen eine primus praeceptor Germaniae verſchafft; feine formell gewandte, aber allzufehr zur Künftlichfeit neigende Gelegen- heitsdichtung bewegt ſich jo ziemlid in den Geleifen Fortunats und Alkuins !.

Weit poetifcher angelegt als Hraban war jein Schüler, der Alemanne Walafrid Strabo (um 809 geboren). Derjelbe ftudierte erft in Reichenau unter den gelehrten Äbten Haito und Erlebald, den Mönden Wettin und Tatto und fam dann erft nah Fulda, um für einige Zeit Hrabans Unter: richt zu genieken. Von dem Erzkanzler Hilduin empfohlen, fand er zeit weilig Anftellung an dem Hofe Ludwigs des Frommen, deſſen Gemahlin Judith ihn begünftigt zu Haben jcheint. Im Jahre 338 wurde er Abt von Reihenau und bekleidete dieje Würde nad kurzer Unterbredung wieder von 842 bis zu feinem Tode 8492,

Seine „Bifionen des Wettin“ (De visionibus Wettini, gegen taujend Herameter), die er, anlehnend an eine Profajhrift des Abtes Haito, ſchon mit achtzehn Jahren verfahte, find gewiſſermaßen ein Präludium zu Dantes „Böttlicher Komödie”. Denn fie ſchildern nicht nur eine Fahrt durch Hölle, Himmel und Tyegfeuer, jondern haben jchon in der Geitalt des Führers (ductor), in der Beichreibung der Sündenftrafen, in der Auffafjung des Fegfeuers ala eines Berges, in der Verwendung perſönlicher umd zeitgenöſſiſcher Momente, in der Anordnung des Paradiejes zahlreiche Anklänge an das jpätere Weltgediht aufzumeifen. Die jchlechten Priefter und Mönche werden dabei jcharf mitgenommen. Auch Karl d. Gr. entgeht den Strafen des Fegfeuers nicht, weil er, bei allen feinen jonftigen Verdienſten, ſich von Sinnenluft beftriden ließ ®.

I Seine Werke biöher nur zum Zeil ediert von Golvenerius, Köln 1627; bana bei Migne, Patr. lat. CVII-CXU. Die Gebidte herausgeg. von E. Dümmler, Berlin 1884 (Monum. Germ. Hist. Poetae latini aevi Carolini II 150— 258). KRunftmann, Hrabanus Magnentius Maurus, Mainz 1841. Köhler, Hrabanus Maurus und die Schule in Fulda, Leipzig 1870.

? Seine Werle bei Migne a. a. O. CXIII CXIV, Die Gedite ebd. CXIV 1043—1130, neu herausgeg. von Dümmler (a. a. O. II 259—473).

® Migne.a.a. ©. CXIV 1075.

Die Literatur an den Alofterfchulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 809

Bon jeinem Klofter jagt Walafrid in der Einleitung:

Wo von ben Alpen herab fih ergießendb ber herrliche Rheinſtrom MWeftwärts wenbet ben Lauf, wird er zum ftattlidhen Meere. Mitten darin erhebt fi) eine gewaltige Infel,

Augia wird fie genannt: rundum ift Deutichland gelagert.

Aus ihr gingen hervor viel Scharen trefiliher Mönde,

Sehr ſchön geihrieben find die von Walafrid in Proſa verfaßten Leben des hl. Gallus und des hl. Othmar, die fi auf ältere, no unbeholfene Darjtellungen ftügten. Ex wollte das Leben des hi. Gallus aud in Hexa— metern bearbeiten, fam indes nicht dazu. Dagegen verherrlichte er in kurzer epiſcher Biographie den hl. Blaitmaicus, Abt des Klofters Jona, der bei einem ilberfall der Dänen (um 793%) den Martertod erlitt, und den kappa— dociihen Märtyrer Mammas aus Cäſarea, der ſchon als Kind den Tieren des Waldes predigte.

Geſchichtlich wie literarifch merkwürdig find feine Verje auf eine Reiter: ftatue Theodorihs, die Karl d. Gr. aus Ravenna entführt und vor der Raiferpfalz in Aachen hatte aufftellen lajfen (Versus de imagine tetrici). Malafrid faßt ihn als Verkörperung eines grimmigen gott: und menſchen— feindlihen Tyrannen auf und benußt dann den ſtark aufgetragenen Schatten- grund, um Ludwig den Frommen und die kunftliebende Kaiferin Judith zu verherrlihen. Das feine, höfiſche Lob ift dabei in einen Dialog gekleidet, den der Dichter (Strabus) mit feinem poetiſchen Genius (Seintilla) hält!.

In einem andern größeren Gedicht Hortulus ſchildert Walafrid jeinem Freund und ehemaligen Lehrer Grimald, jetzt Abt von St Gallen, feinen Kloftergarten und deffen Gewächſe: Salbei, Raute, Stabwurz, Gurfe, Melone, Wermut, Andorn, Fendel, Schwertlilie, Liebitödel, Kälberkropf, Lilie, Mohn, Sclarea, Minze, Polei, Sellerie, Betonica, Adermennig, Meer- traubchen, Melifje, Rettich und Rofe, jedes in einem eigenen artigen, dMrdh- weg recht poetiichen Gedichtchen. Schöner ift wohl kaum je 5. B. die Melone beichrieben worden:

Ebenſo ftrebend empor aus winzigem Kern die Melone

Hebt fih und bildet ein Dach aus den Schilden gewaltiger Blätter Schattenreih und Hammert fih an mit zahllojen Zweigen.

Und wie die Ulme umgarnt, die ragendbe, laubig ber Efeu

Und mit ſchmiegendem Arm fie umfaßt vom Bufen ber Erbe

Bis hinauf in des Stamms hochragenden Wipfel ihr folgend

Und mit grünenbem Kleid verbirgt die runzlige Rinde,

9. Grimm, Das Reiterftanbbild des Theodorich zu Aachen und bas Gedicht des Walafrid Strabus darauf, Berlin 1869. €. P. Bod, Die Reiterftatue bes Dftgotenfönigs Theodorich vor dem Palafte Karls d. Gr. zu Aachen, in Jahrb. bes Vereins von Altertumsfreunden im Rheinland V, Bonn 1844, 1—160.

310

Siebtes Kapitel.

Ober wie au an beliebigem Baum bie Fletternde Rebe

Üppig wuchert hinauf und die ragenden Zweige mit Büfcheln Kleibet und weit in bie Höhe aus eigenen Kräften emporfteigt, Daß an fremdem Stod die rötlihen Trauben zu hängen Scheinen und Bachus ſchwer die grünenden Äſte belaftet:

Alfo aus ſchwächlichem Reis empor fih rankt die Melone, Stredet bie Gäbelchen aus und mwinbet an ihnen ſich weiter, Faßt mit jpigigem Zahn umarmenb die Zweige ber Erle,

Und daß nicht fie los mehr reike der rafende Sturmwind, Schürzt fie ein Hammerndes Band nietfeft an jenlihem Knoten, Und ba jebem entfprieht ein zäher, boppelter Faden,

Faſſen von reits und von links gleichzeitig beide die Stütze. Und wie Mäbcdhen beim Nähn die weichen Gewebe durchkreuzen Und mit beweglidem Arm gewaltige Bogen bejchreibend Orbnen in zierlihem Kreis gleihförmig die Reihen der Fäden, Alſo verbinden die Schößlinge dann fi zu Ketten und Leitern Und ummweben im Nu von allen Seiten die Zweige,

Und erheben mit frember Gewalt fi über der Tore

Bogen ſchwebend empor und fluten fühn in die Höhe.

Und wer fünnte genug die Früchte bewundern, bie hängen

Da und dort vom Aft, kunſtreich gefurdt und gerundet,

Und geglättet dabei, gleichwie das Holz auf der Drehbant.

An dem zierlihen Stiel dehnt erft gewaltig der Hals fid

Und dann wächft der Leib fofort zum riefigen Bauch an. Nichts als Wanft und Bauch und in dem Kerker der Höhlen Sitzen in Reih und Glied viel eine, lebendige Kerne,

Deren jeber bir fann verſprechen ähnliche Ernte.

Ya folange bie Frucht fih in zarterem Alter befindet,

Ehe im Innern der Saft bei bem Nahen bes jpäteren Herbftes Abnimmt und die Haut rundum verholzt und es hindert,

Mag fie, wir ſehen es oft, verwendet auch werden als Speife; Schlürft fie reihlih das Fett am Herd in der bampfenden Pfanıte, Schmeden nicht übel fürwahr die wohlbereiteten Stüde, Können in häufigem Fall dem Mahle zur Würze gereichen.

Läßt man aber die Frucht an des Sommers Gluten verborren -

Mit der Mutter zugleich und fchneidet man fie mit der Sichel, Mag als Gefäß alsdann fie dienen zu ftetem Gebraude.

Bald ift ber ftattliche Bauch gefäubert und innen geglättet. Oft ein halbes Quart geht in die gewaltige Höhlung,

Oder ber befiere Zeil bes vollen Maßes hat Pla drin.

Und verpihft du den Krug mit Leim forgfältig am Munde, Hält er unverfehrt dir lang die köſtliche Gabe!.

Im Lateinischen ift diefe Kleinmalerei viel feiner durchgeführt, als es

die Überfegung wiedergeben fann. Vergil ift darin ziemlich erreicht, und

es wäre völlig ungerecht, Walafrid nur als feinen Nachtreter zu betrachten.

! De eultu hortorum ®. 99—151, bei Dümmfler (Poetae latini aevi Ca-

rolini II 339 340).

Die Literatur an ben Klofterfchulen: Fulda, Reigenau, St Gallen. 311

Denn was dieſer von feinem Borbilde gelernt, das hat er fi jelbftändig zu eigen gemadt; er ſchaltet damit frei wie ein echter Künſtler. Der Hortulus ift denn auch nit ein aus dem alten Latium entlehntes Produkt, es ift der echte mittelalterliche Kloftergarten, dem Deutſchland und die Länder des Nordens bis nah Skandinavien und Island hinauf zu jo großem Dank verpflichtet find. Auch in den Heineren Gedichten Walafrids jpiegelt fih ein frijches und finniges Dichtergemüt, dem die lateinische Sprade und Form feine läftige, fremde Zwangsjade ift, fondern das natürlichjte Mittel, feine poetifhen Jdeen und Stimmungen auszudrüden. Die altgermanijchen Namen kamen ihm fo roh und ungeſchlacht vor, daB er ſich ſchämte, die— jelben in der Bearbeitung der St Gallus-Legende beizubehalten, obwohl er jelbft ein Alemanne und aus dem niedern Volle war.

In die Zeit Walafrids fallen noch etlihe Dichter, die zwar gleich ihm feine hervorragende Rolle in der Weltliteratur jpielten, aber doch als Träger und Vermittler literariſcher Bildung um die jpäteren Bolfsliteraturen fih mannigfache Verdienſte erworben haben.

Ermoldus Nigellus, ein aquitaniſcher Mönch, Erzieher und ſpäter Kanzler Pippins, des Sohnes Ludwigs des Frommen, von letzterem aus politiſchen Gründen nach Straßburg verbannt, dichtete hier eine bemerkens— werte Epopöe in vier Büchern, welche die Kriegstaten Ludwigs des Frommen zur Darſtellung bringt und ſich durch friſche Erzählung, ſchöne Natur: ſchilderung und gute epiſche Vergleiche auszeichnet. Auch die zwei Elegien Ermolds verraten poetiſche Anlage!. Weniger läßt ſich das von Ermenrich bon Ellwangen, einem Schüler Walafrids, ſagen, der zuletzt (865—874) Biſchof von Paffau war. Seine Epiftel an Abt Grimald von St Gallen it mehr eine barode Schauftellung der damaligen Schulgelehrtheit als eine poetiihe Schöpfung?. Sehr poetiſch ift Dagegen ein bufolifches Kalendergedicht des Abtes Wandelbert von Prüm, um 848 verfaßt, das ganz an den Hortulus Walafrids erinnert, oft noch friiher und anfchaulicher ift?, Als ein echter Poet it auh Sedulius Scottus zu betradten, ein eingewanderter Ste, Lehrer an der Domſchule St Lambert in Lüttih, der etwa zwiſchen 840— 868 dichtete. Außer etwa neunzig Gedichten ift don ihm ein Fürſten— jpiegel (De rectoribus christianis) vorhanden, der wie das Troftbüchlein des Boethius in Proja abgefakt ift, in dem aber jedes Kapitel mit einem Gedichte Tchlieht *.

! Ermoldi Nigelli Carmina, bei Dümmler (a. a. ©. II 1—93).

? Monum, Germ. Hist. SS. II 31—33.

s Wandalberti Prumensis Carmina, bei Dümmler (a a. DU 567-622).

* Sedulii Scotti Carmina (rec. L. Traube, Berol. 18396. Monum. Germ. Hist. Poetae latini aevi Carolini III 151— 240).

312 Siebtes Kapitel.

Mit welchen Schwierigfeiten die Vertreter der religiöjen wie der wiljen- Ihaftlihen Bildung nad dem Tode Ludwigs des Frommen zu ringen hatten, ſchildert die ergreifende Elegie des Florus, Diaconus und Magifter an der Schule zu yon: Querela de divisione imperii post mortem Ludoviei pi!, Da heißt es:

Montes et colles silvaeque et flumina, fontes, Praeruptaeque rupes, pariter vallesque profundae,

Francorum lugete genus; quod munere Christi Imperio celsum, iacet ecce in pulvere mersum.

Trauert, ihr Berge und Hügel, ihr Wälder, Ströme und Quellen, Felfen, jo mädtig getürmt, und ihr tiefen Schludten und Zäler, Weint um der Franken Geſchlecht, dem EChriftus erhabene Herrſchaft Hatte verliehn, das jet im Staube ſchmachtet begraben !

Bon dem dreigeteilten Reihe jagt er:

Pro rege est regulus, pro regno fragmina regni.

Statt bes Königs wir haben ein Königlein, Statt des Reiches gebrodene Trümmer.

Troß aller Nöten der Zeit hat Florus indes noch eine Anzahl recht guter religiöjer Gedichte zu jtande gebradt. Zwei größere Gedichte leiftete Andradus, Mobdicus zubenannt, von 843—849 Chorbiſchof von Sens; das eine ift eine merkwürdige Allegorie über den „Quell des Lebens“ (De fonte vitae; 404 Herameter), das andere erzählt in 1200 Verſen (teils Diftihen teild Herameter) die „Paſſion des Hl. Julian und feiner Gefährten“ ?, Milo, Mönd des Klofters Elnon bei Tournai (geft. 872), verfahte das Leben des hl. Amand, Stifters der Abtei, in vier Büchern (1800 Hera: meter), und ein didaktiſches Gediht „Von der Mäßigkeit“ (2078 Bere). Heiric, Mönd von Aurerre (geft. 877), behandelte das Leben des hi. Ger: manus in ſechs Büchern! Das Lob des hi. Adelhard von Gorbie findet ih zur Abmwehjlung in der Form der Efloge (Ecloga duarum sancti- monialium) bejungen.

Als ein wahres „Kleinod aus den Schaklammern der Monumente“ bezeichnet Friedrich Rückert die Elegie, welche der Benediktiner Agius, „durch Chriſti Gnade Priefter” (mie er ſich jelbft nennt), auf Hathumod, die erfte Abtiffin von Gandersheim (geft. 874), verfaßte, eine ebenjo edle und

' Flori, Diaconi Lugdunensis, opera, bei Migne, Patr. lat. CXIX.

® Andradi Modici Carmina (bei Traube [Monum. Germ. Hist. Poetae latini aevi Carolini III 67—121)).

® Milonis Carmina (ebd. III 557—684).

Heirici Carmina (ebd. III 421—517).

Die Literatur an den Klofterfhulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 313

milde als heiligmäßige Frauengeftalt, welche dem Ahnenkreiſe des ſfächſiſchen Königshaufes angehört. Ihr Bild ift in dem Gedichte mit „jeltenfter Un— mittelbarfeit, mit brennenden Farben gemalt, aber harmonisch, ſtimmungsvoll und lebenswarm“. Agius jelbft aber legt in der Ausführung nit nur eine für jene Zeit außerordentliche Bildung an den Tag (er kennt Vergil, Horaz, Ovid, Tacitus, Plinius, Sueton, Venantius, Sulpicius Severus, Boethius, Gregor d. Gr., Aldhelm, Alkuin, Einhard u. a.), ſondern er erweiſt fih auch ala „ein Mann von Harem Berftande und reihem Gemüte, hochſinnig, treuherzig und von fernhafter Frömmigkeit, ein Schriftfteller voll Geftaltungs- fraft, Takt und Feuer, ein rechter Sachſe und ein wahrer Poet”!. Nach den Unterfuhungen ©. Hüffers ift faum ein Zweifel darüber möglid, daß ber: ſelbe Agius, Mönd zu Korvey, aud das Gedicht „Von der Übertragung des hi. Liborius“ und die poetijche Lebensbeſchreibung Karla d. Gr. verfaßt dat, welche bis dahin nur allgemein einem „ſächſiſchen Dichter“ (Poeta Saxo) zugejchrieben wurden?. Auch in diefen Gedichten zeigen fich diejelben Eigenfhaften: eine an denſelben Schriftftelleen gejchulte, feine Form⸗ und Sprachgewandtheit, dasfelbe tiefe und innige Naturgefühl, diefelbe herzliche und fernige Frömmigkeit, dasjelbe ausgeprägt ſächſiſche Stammesgefühl, ge hoben und verklärt von echt kirchlichem Geifte. Er fieht in Karl nicht den erbarmungslojen Herrfcher, der den trogigen Naden feines Volkes gebrochen, fondern den Gottgefandten, der es zu Chriſtus geführt:

„Er muß in Wahrheit unfer Apoftel heißen: wie mit Eifenzungen hat er ge- predigt, uns bie Pforten des Glaubens aufzutun. Ehrifto dem Herrn hat er viel Tauſende befehrter Sachſen aus der Knechtſchaft des Teufels zugeführt. So gebe

ihm Gott ald Dimmelslohn den Umgang ber Apoftel, beren Amt er auf Erben ver- fehen hat!“

Die bedeutendften Kräfte wandten fih auch jetzt den theologifchen, politiichen und kirchlichen ragen der Zeit zu: jo der gewaltige Erzbiſchof Hinkmar von Reims, Erzbifhof Agobard von yon, Biſchof Claudius von Turin und fein Gegner, Biihof Jonas von Orleans, ſowie die ges lehrten Mönde Pashajius Radbertus und Ratramnus von Corbie. Heftige Kämpfe führte vor allem die häretifche Prädeftinationglehre des Möndes Gottſchalk herbei, welcher, obwohl bereit3 von einer Synode zu

! Dialogus Agii (ebd. III 369— 388), überfegt von Friedr. NRüdert, Das Leben ber Habumod, Stuttgart 1845. Unter bem Titel „Leben bes Abtes Eigil von Fulda und der Äbtiffin Hathumoda von Gandersheim“ überjegt von. Granbauer, Leipzig 1888 1890. G. Hüffer, Korveyer Stubien, Münfter 1898, 17—71.

2 Poetae Saxonis Annalium de gestis Caroli Magni Imperatoris libri quinque rec. P.de Winterfeld, Berol. 1899 (Monum. Germ. Hist. Postae latini medii aevi IV 1). Die Vita et Translatio S. Liborii in den Acta SS, Bolland, Iulii V 409—424.

314 Siebtes Kapitel,

Mainz 848 verurteilt und von dem gejamten Epijfopat befämpft, hals- ftarrig bis zum Tode an feinen Jrrtümern fefthielt. Eine große Vertrautheit mit den alten Klaſſikern, bejonders Gicero, Vergil, Horaz, fogar Zerenz, befundet fih in den Schriften des Pashafius Radbertus. Als den fein: gebildetften Humaniften diejer Zeit darf man aber wohl Servatus Lupus bezeichnen, der, aus Sens gebürtig, Abt von Ferrieres wurde, ala Ge: lehrter wie als firhlicher Diplomat hohen Anjehens genof, noch mit Einhard und Hrabanus in literarifhen Verkehr ftand und zeitlebens nicht aufhörte, altklaſſiſche Schriftfteller zu fammeln und zu ftudieren. Wie er felbft nad Fulda reifte, um Bücher zu lefen und abzujchreiben (ad oblivionis re- medium et eruditionis augmentum), jo wandte er fi an andere deutſche und franzöfiiche Klöfter, ja an den Papft jelbft, um alter Klaffiter habhaft zu werden. Er kennt denn aud (wie aus feinen Briefen hervorgeht) nicht nur die landläufigen Autoren: Donat, Priscian, Vergil und Boöthius, jondern die verjchiedenften Schriften Giceros, dann Cäſar, Salluft, Livius, Duintilian, Sueton, Gellius, Macrobius. Aus alten Handſchriftenkatalogen geht hervor, dab die franzöfifhen Klöſter diefer Zeit überhaupt reicher an Klaffiterhandichriften waren als die deutjchen !.

Bon Italien wurde um dieſe Zeit wenig zur allgemeinen Literatur beigefteuert ; vereinzelt fteht das Lobgedicht des Bertharius, Abtes von Monte Caſſino (856— 883), auf den hi. Beneditt?. Das von den Arabern eroberte Spanien erlebte damals eine neue Märtyrerzeit, und wenn darum auh Eulogius, Priefter von Gorduba, von feinen gelehrten Streifzügen in verjchiedenen Klöftern nicht nur geiftlihe Hymnen und Schriften des Hl. Auguftin heimbrachte, fondern auch die Neneis, die Satiren des Horaz und des Yupenal, die Fabeln des Avienus, die Bildergedichte des Por— phyrius und die Nätjel Aldhelms, fo fam er jelbft nicht einmal dazu, diefe zu verwerten, da er 850 in den Kerker geworfen, und weil er jeine Ans griffe gegen den Islam fortjeßte, 859 enthauptet wurde. Sein „Ge denfbud der Märtyrer” gibt ein Bild diefer blutigen Heroenzeit. Sein Leben jchrieb fein Freund Albarus, ein angejehener Laie bon jüdiſcher Herkunft.

Unter den Klöftern, melde der allgemeinen Bildung mährend des 9. Jahrhunderts den ficherften Rüdhalt gewährten, nimmt St Gallen

ı Norden, Die antife Kunftprofa II, Leipzig 1898, 699—705.

? Herauögeg. von P. Martinengius (Pia quaedam poemata, Romae 1590) und Mabillon (Acta SS. ord. Bened. I 29 f).

®8. Eulogii opera, bei Migne, Patr. lat. CXV. Alvari Cordu- bensis opera, in Florez, Espaüa sagrada XI, Madrid 1753. Bgl. v. Baus diſſin, Eulogius und Alvar, ein Abſchnitt ſpaniſcher Kirchengefchichte aus der Zeit der Maurenherridaft, Leipzig 1872.

Die Literatur an ben Kloſterſchulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 315

wohl die hervorragendite Stelle ein!. Dem Beftreben, die deutſchen Schüler in die chriſtlich-lateiniſche Literatur einzuführen, gehen hier auch die erften - Anſätze zu einer deutſchen Literatur zur Seite. Schon aus dem 8. Jahr: hundert find Wörterbücher, Gloffen und nterlinearverfionen vorhanden, welche beiden Zwecken dienten. Dagegen liegt das ältefte „Leben“ des hl. Gallus erft in einer Faſſung vor, die aus dem Anfang des 9. Jahr: dundert3 ftammt. Bis in die legten Jahre Karla d. Gr. blieb indes, wie der „Mönd von St Gallen” erzählt, „die Galluszelle das ärmfte und engite Klofter in dem ganzen weitläufigen Reiche“. Die Klofterbrüder mußten fih zu viel mit Gartenbau, Feldbau und Handarbeit beihäftigen, als daß viele Zeit zum Abjchreiben von Büchern übrig geblieben wäre?. Erft unter Abt Gozbert (816—836) erholte fi die Abtei von den Nachteilen und Beihwerden, welche ihr die herrſchſüchtige Einmiſchung der Biſchöfe von Konftanz und andere äußere Wechielfälle bereitet hatten; das Kloſter jelbft ward nah dem Plane eines kaiſerlichen Baumeifterd zu einem wahren Muftertiofter umgebaut und die Bibliothek zu einer wirklich anjehnlichen erweitert. Unter den Abten Grimald (841—872), der, jelbft ein Gelehrter, als Erzlanzler Ludwigs des Deutſchen mächtigen Einfluß befaß, und Hart- mut (872—883) geftaltete fih das Kloſter danı einigermaßen zu einer Art Akademie und einer der erften Schulen des Reiches.

Das ältefte Bücherverzeichnis der Bibliothef, etwa um 850 abgefat, zählt allerdings nur ungefähr 400 Bände und trägt einen faſt ausfchließ- lich monaſtiſch-theologiſchen Charakter, Bon Dichtern find darin nur Die hriftlihen vertreten: Juvencus, Sedulius, Prudentius, Arator, Alcimus Avitus, Aldhelm, eine metriihe Vita S. Galli, von römischen Schriftftellern nur Catos Epigramme, Donat, Priscian und andere Grammatifer, ein Kommentar zu Bergil, ein Auszug des Yuftinus aus Pompejus (Trogus). Aud unter den Schenkungen Hartmut3 und Grimalds finden fi feine Codices bedeutender alter SKlafliter erwähnt. Dagegen führt das Bücher: bzw. Handjchriftenverzeihnis von 1461 Werke von Statius, Martial, Lu— canus, Perfius, Ovid an und aliqui alii, quos circa illos invenies*.

ı Casus 8. Galli, ed. Ild. v. Arx (Monum. Germ. Hist. SS. II 59—188); danah bei Migne a. a. DO. CXXVI 1055—1080. 6. Meyer v. Knonau, St Galliſche Geſchichtsquellen, St Gallen 1870—1881. Epigrammata seu hymni sacri antiquorum Patrum monasterii 8. Galli (Migne a. a. ©. LXXXVI 25—72).

2 Monachi 8. Galli gestorum Caroli M. lib. 2, e. 12. Weidmann, Ge Ihichte der Bibliothek von St Gallen, St Gallen 1841, 3.

Weidmann a. a. D. 360396.

4 Verzeichnis der Bücher, die Hartmut der Bibliothek jhhenkte, bei Ratperti Casus S. Galli n. 9 (Migne a. a. DO. CXXVI 1072); Verzeichnis ber Bücher, bie Srimald der Bibliothek Hinterließ, ebd. (Migne a. a. ©. CXXVI 1075) und bei Weidmanna. a. DO. 396-400.

316 Siebtes Kapitel.

Den eigentlihen Reihtum der Bibliothek bildeten die heiligen Schriften und deren beite Kommentare, die Schriften der Kirchenväter und der übrigen riftlihen Autoren bis herab auf jene Zeit.

Als Hauptvertreter der Studien während der erflen Blütezeit des Klofters wird der Mönch Iſo genannt, welcher die äußere Stiftsſchule leitete, umd der Schotte Moengal, Marcellus zubenannt, welcher die jungen Novizen des Kloſters unterrichtete. Die berühmteften Schüler der beiden waren Notfer der Stammler (840—912), der kunftreihe Tutilo und Ratpert, aus Zürich gebürtig, der bis gegen das Ende des Jahr: hunderts lebte. Alle drei machten ſich vorzüglich als Schulmänner verdient, haben aber auch, jeder in feiner Art, Kunſt und Literatur gefördert.

Ekkehard IV. gibt von den drei Männern folgende Charakteriftit:

„Obwohl die drei einmütig dasfelbe Ziel anftrebten, waren fie Doc, wie zu gehen pflegt, von verichiebener Natur. Notker ſchmächtigen Leibes, aber nicht Geiftes, ftotternd mit der Zunge, aber nicht mit dem Geijte, in göttlihen Dingen jtramm und kühn emporftrebend, in Widerwärtigleiten gebuldig, in allem mild, ftreng in Bezug auf die Forderungen unferer Ordenszucht, war er ängſtlich bei plöhlichen und unerwarteten Ereigniffen, außer bei Pladereien ber Teufel, denen er mutig entgegen- zutreten pflegte. Er war unermüdlich im Beten, Leſen und Diftieren. Und um alle Gaben jeiner Heiligkeit furz zufammenzufaffen, er war ein Gefäh des Heiligen Geiftes, wie damals in gleicher Fülle kein anderes gab.

„Zutilo aber war in ganz anderer Weife qut und nützlich. Er war ein Dann mit Armen und fonftigem Gliederbau, wie ihn Favius von den Athleten fordert; er war beredbt, von heller Stimme, ein feiner, funftreiher Bildner und Dialer, ein Mufiter wie feine Gefährten, aber in jeber Art von Saiten und Blasinftrumenten ihnen weit voraus. Er Iehrie auch die Söhne der Abeligen an einem vom Abt be: ftimmten Orte das Saitenjpiel. In die Nähe wie in die Ferne war er ein gejchidter Bote; in feinen Bauten und andern Runftleiftungen tücdhtig, zu Vorträgen in beiben Spraden von Natur glüdlih angelegt und gewandt, in Ernjt und Scherz immer munter, jo daß unfer Karl einft demjenigen fluchte, der einen jo begabten Menſchen zum Mönch gemacht habe; vor allem aber war er wader im Chor, in ber Einſam— feit zu Tränen geneigt, frudtbar in ber Erfindung von Verfen und Melodien; keuſch wie jein Lehrer Marcellus, der vor Weibern die Augen ſchloß.

„Ratpert aber ging zwijchen ben beiden Genannten in der Mitte einher. Bon Jugend auf Schulmeifter, ein fchlichter und wohlwollender Lehrer, aber gegen bie Schüler etwas fireng, felten den Fuß aus dem Klofter ſetzend, jo daß er num zwei paar Schuhe im Jahr brauchte, das Ausgehen töblich haßte, ben wanderluftigen Zutilo umarmte unb bejhwor, dab er fi doch in adht nehmen möchte. In der Schule fleißig, vernadläffigte er oft den Befuch der Horen und ber Meffe ‚Wir hören bie Meſſe gut‘, ſagte er, ‚wenn wir lehren, wie man fie lefen muß.‘ Obwohl er bie Straflofigkeit als den ſchlimmſten Fehler eines Klofters bezeichnete, fam er doch nur zum Stapitel, wenn man ihn rief und wenn ihm das hochwichtige Amt bes Kapitel« haltens und Strafens, wie er fagte, übertragen wurde.“ !

Eecehardi IV, Casus S. Galli c. 8 (Monum. Germ. Hist. SS. [Pertz] U 94 95.

Die Literatur an den Klofterfchulen: Fulda, Reihenau, St Gallen. 317

Iſt auch diefe Charakteriftif erft fünfzig oder mehr Jahre nad dem Tode der drei Männer entworfen, fo gibt fie doch die Überlieferung wieder, welche ihr Andenken im Kloſter lebendig erhielt, und den gemütlihen Bund, den das Möndtum mit Wiffenihaft und Kunft geichloffen hatte.

Notkers literariihe BVerdienfte hängen mit dem Kirchengeſang zu: jammen, den er um eine neue Spezialität bereichert hat!. An das Graduale reihten fi nämlich fehr lange Tonfiguren, die auf die Silben des Alleluja gejungen murden, aber ſchließlich ſehr ſchwer zu behalten waren. Man nannte fie Sequenzen. Schon in feiner Yugend kam Notker auf den Ge: danken, diefen fünftlihen Melodien einen Zert zu unterlegen, mittel3 deſſen fie fi leichter im Gedächtnis einprägten. Er wagte fi indeflen nit an eine ſolche Neuerung, bis ein durchreifender fränkiſcher Priefter nach feinem Antiphonarium jolhe Sequenzen mit Terten den Mönden vortrug. Da diefe Texte jehr unbefriedigend waren, verjuchte es Notker nun, beflere zu liefern, und dies gelang ihm in hohem Grade. Er wurde ald Sequenzen- dichter für alle Zeiten berühmt, Stoff und dee der Sequenz war natürlich mit dem jeweiligen Feltoffizium gegeben; doc war in der Ausführung wie in der rhythmiſchen Modulation immerhin eine nicht bloß technifche, ſondern auch poetiſche Aufgabe zu löſen. Ziefe Religiofität, theologifhe Bildung und poetiſches Talent vereinten fih in Notfer, um diefer Aufgabe gerecht zu werden, während mufifaliiche Anlage und Bildung ihn befähigten, den Tert nit nur trefflid der Melodie anzupafien, fondern auch neue Melodien zu ſchaffen?. Schubiger führt jehzig Sequenzen auf, die nad vorhandenen Zeugniffen Notker zum Urheber haben, und nod achtzehn weitere, die ihm mit einiger Wahrſcheinlichkeit zugejchrieben werden können.

Der Schluß einer feiner Ofterfequenzen (Laudes salvatoris) lautet alfo: Er hat es nicht verihmäht, dab man ans Kreuzesholz ihn ſchlug;

Allein die Sonne blickte nicht herab auf feinen Tod

Es leuchtete der Tag, ben einſt der Herr gefchaffen;

Er hat den Tod befiegt, und lebend zeigt er fi als Sieger feinen Treuen,

Zuerft Marien, dann aud) den Apofteln, und erflärt die Schrift, das Innerſte des Herzens Eröffnet er, daß ihnen alles deutlich wurde, was von ihm noch dunkel war.

Nun jubelt alles froh dem Auferftandenen entgegen;

Das Saatenfeld erblüht von neubelebter Frucht,

Und lieblich tönt ber Vogel Sarg, ba nun das Eis, bas traurige, verſchwand,

Es leuchtet Helfer Sonn’ und Mond, die Ehrifti Tod vordem betrauerten;

! Seine Schriften bei Migne, Patr. lat. CXXXI 983—1178; einige Gedichte ebd. LXXXVII 40-48.

2 P. Anſelm Shubiger, Die Sängerſchule St Gallens vom 8. bis 12. Jahrhundert, Einfiebeln 1858, 45 46. Bol. W. Bäumker, Art. „Notfer Balbulus*, in der Allgem. Deutihen Biographie und in Weker und Weltes Kirchenlerifon IX? 531.

318 Siebtes Kapitel.

Die Erbe grünt frohlodend dem erftandenen Erlöfer,

Die, als er ftarb, erbebend ihren Einfturz drohte.

Drum labt uns jubeln all an dieſem Tag, an weldem Chriftus Durch feine Auferftehung uns bes Lebens Weg eröffnet.

Es ftimme Himmel, Erde und dad Meer in frohem Jubel ein, Und alfe Geifterhöre follen den Dreieinigen im Simmel Toben !,

Macht fi in diefem Ofterjubel gar jhön das Naturgefühl des Sängers geltend, jo verrät er in der Sequenz auf den hl. Gallus gar gemütlich fein biederes ſchwäbiſches Nationalgefühl:

O Gall, von Gott geliebt, bem Ewigen,

Don Menſchen wie von Engelſcharen,

Der du, ben ftrengen Rat des Herrn befolgend,

Die Güter deines Vaters wie der Mutter Liebe,

Der Gattin Sorge wie die Baterfreude

Verachteteft: du folgteft arm dem armen Herrn und Meiſter Und zogft das Kreuz der trügerijchen Freube dor.

Doch Chriſtus hat fie dir mit hundertfahen Lohn erſetzt, Wie diefer Tag bezeugt, der alle uns

In füher Freude dir als Söhne unterwirft;

Der Schwaben dir, o Gall, zum teuren Baterlande jchenkte Und bi, mit Richtermadht verjehn, im Himmel dem Apoſtelchor vereinte. Nun rufen wir zu dir, o Gall, aus tiefftem Herzensgrunde, Erwirb bu uns die Gnade Jeſu Ehrifti,

Erfüll’ die Ruheſtätte feines Leibes mit Frieden,

Erfreu’ die Deinen, die da flehn, mit fteter Ruhe,

Damit fie jederzeit gewürdigt werben,

Dir froh die ſchuldige Verehrung zu erweifen ?,

Die übrigen Gedichte Notkers, einige Hymnen und Gelegenheitägedichte, bieten faum etwas Neues. In der Sequenzendichtung fand er einen Mit: bewerber an Waldram, während Zutilo ähnliche, bis jet textloſe Melodien im Introitus ebenfall3 mit Texten verfah und jo die jog. Tropen aus— bildete. Bon Waldram find aud einige nette Gelegenheitägedidhte an Kaiſer Karl II. und an Biſchof Salomo III. (890— 920) von Konftanz erhalten, der als Lieblingsfchüler Notkers gleichfalls die Poefie pflegte. Eine längere Elegie von 343 Verſen an Biihof Dodo von Verdun ſcheint von Waldram in Salomos Auftrag verfaßt zu fein; fie jhildert das Unglüd Deutſchlands, das ein Kind zum König hat und deffen Gaue, von unglüdjeliger Zwie— tracht zerriffen, ungehindert von fremden Horden, wie den „Ungarn“, ber: beert werden. St Gallen wurde von dem allgemeinen Unheil aud mit- betroffen, erholte ſich aber wieder davon und erfreute ſich bi$ ins 11. Jahr:

ı Schubiger, Die Sängerfhule Et Galfens vom 8. bis 12. Jahrhundert 48 49. ®: Shubiger.a. a. ©. 50 51.

Die Literatur an den Klofterfhulen: Fulda, Reihenau, St Gallen. 319

Hundert hinein gedeihlicher Blüte. Als Dichter betätigten fi außer dem bereit3 genannten Ratpert au Sintram, der Seelenführer der Einfleblerin Wiborada, und Abt Hartmann, der Nadfolger Salomos in der Leitung des Klofters, als Projaiker die Mönde Adelhard, Viktor, Gerold, Notfer der Arzt (physicus; piperis granum), endlich Notker der Groflefzige (Labeo), der durd feine Überfegungen der erfle Begründer einer deutſchen wiſſenſchaftlichen Literatur geworden ift!; er farb 1022. Ein vierter Notfer, zeitweilig Propſt in St Gallen, dann Biſchof von Lüttich (geft. 1008), jchrieb das Leben des hl. Remaclus.

Den bier Notkern ftehen fünf nicht minder berühmte Effeharde gegenüber ?,

Ekkehard J., einer edeln Familie im Toggenburg entſtammt, Mit: ſchüler der heiligen Bifhöfe Ulrih von Augsburg und Konrad von Konftanz, erhielt um 930 von feinem Lehrer Gerold die Aufgabe, eine Anzahl alt: deutſcher Heldengefänge in lateinische Berje zu bringen, und fo entitand das lateinische Kunftepos „Walther mit der ftarten Hand“ (Waltharius manufortis), die ältefte ung erhaltene Faſſung der deutſchen Heldenjage. Später verfaßte er auch zwei Gedichte, die ſich mit der Farolingifchen Sage beihäftigten, die aber verloren find, dann auch zahlreiche Hymnen, Sequenzen und Gelegenheitägedichte. Als Dekan erwarb er ji das Vertrauen und die Yiebe aller, gelangte auch auf einer Romreife zu großem Anjehen bei Papft Johann XI. und ftarb 973 als Dekan, da er wegen eines Fuß— übeld hinfte und deshalb nicht Abt werden fonnte.

Eftehard II. (Palatinus), fein Neffe, ein ebenſo ftattliher Mann al3 waderer Mönd, von dem Kaiſer Otto II. meinte, feinem ſei je die Benediltinerfutte beſſer angeſtanden, leitete mit hohem Ruhme die äußere und innere Klofterjchule, mußte zeitweilig auch der verwitweten Herzogin Hedwig bon Schwaben auf Hohentwiel als Lehrer und Hausgeiftlicher dienen und wurde endlich Dompropft in Mainz, wo er 990 ftarb. Der Auf: enthalt in Hohentwiel war für ihn nicht? weniger als romantiſch, jondern eine wahre Plage ®.

Ettehard IIL, gleich dem vorigen ein Neffe Effehards I., hielt fi) ebenfalls einige Zeit bei der Herzogin Hedwig auf und mußte deren Hof: faplänen Unterricht erteilen. Er ftarb jung.

Eftehard IV. (wie der vorige ebenfalls iunior genannt), um 980 geboren, fam ſchon als Knabe ins Klofter, genoß hier den Unterricht Notker Labeos und gelangte jelbft zu jo hohem Anſehen, daß ihn Erzbiſchof Aribo

ı®B, Pieper, Die Schriften Notkers und feiner Schule, Freiburg 1882 1888. J. Kelle, Geihicdhte der deutichen Xiteratur I, Berlin 1892, 232-274 393 bis 413,

26. Meyer v. Knonau, Die Efkeharde von St Ballen, Bajel 1874.

» J. v. Arx, Geihichte des Kantons St Gallen I, St Gallen 1810, 273—275.

320 Achtes Kapitel.

als Lehrer an die Domſchule von Mainz berief!. Seine bedeutendſte Leiſtung ift die Fortfegung der von Ratpert begonnenen Kloſtergeſchichte von St Gallen unter dem Titel Casus S. Galli; daneben vereinigte er in feinem Liber Benedictionum eine Menge Benediltionen, Inſchriften und Gedichte, darunter die Neubearbeitung eines Gedichtes auf den bl. Gallus, das Ratpert verfaßt hatte. Auf Wunſch des Erzbiſchofs Aribo überarbeitete er auch das Walthari- Lied? Effehards I., das nod von deutjchen Barbarismen wimmelte. Er ftarb im Jahre 1060.

Ekkehard V. jchrieb viel fpäter (um 1210) ein Leben des hi. Notter, in welchem die erften drei Notfere in bevenkliher Weiſe als eine Perſon behandelt werden, während der Verfaſſer dagegen fih als fundiger Liebhaber des Kirchengeſanges bewährt.

Achtes Kapitel. Das Walthariunslied.

Das Walthariuslied kündigt die Zeit an, wo neben der gelehrten fateinifchen Literatur allmählich jelbftändige Literaturen der romaniſchen mie germanifchen Völker erftehen follten. Es hatte lange gebraudt. Über ein Jahrtaufend feit Chriſti Geburt war dahingegangen, ehe Eklehard IV. das Schulpenſum feines erften St Galliihen Namensvetters korrigierte, und noch gab es kaum Anfänge einer deutſchen Literatur. Der Domſcholaſtikus von Mainz hielt das Deutſche und alles, was daran erinnerte, noch für barbariſch. Eigentlihen literarischen Wert hatte in feinen Augen nur die lateiniſch ge- dachte Gelegenheitspoefie feines Vorgängers, und aus dem, was er bon Ekkehard II. meldet, erfieht man, welche Ehrfurdt er unmilllürlih vor dem

ı Dümmler, Ekkehard IV. von St Gallen, in Zeitſchrift für deutſches Alter⸗ tum XIV 1—73.

? Seripsit et in scholis metrice magistro, vacillanter quidem, quia in affectione non in habitu erat puer, vitam Waltharii manu fortis, quam Magontiae positi, Aribone archiepiscopo iubente, pro posse et nosse nostro correximus; barbaries enim et idiomata eius Teutonem adhuc affectantem repente latinum fieri non patiuntur. Unde male docere solent diseipulos semimagistri dicentes: Videte, quomodo disertissime coram Teutone aliquo proloqui deceat, et eadem serie in latinum verba vertite. Quae deceptio Ekkehardum in opere illo adhuc puerum fefellit; sed postea non sic; ut in lidio Charromannico, „Mole ut vincendi. Ipse quoque opponam* (Eccehardi Casus S. Galli c. 9 (Monum. Germ. Hist. SS. [Pertz] II 118). Mit lidium Charromannicum ift ein „Lieb auf Karlmann“ gemeint, deſſen Namen jo gejchrieben wurde; Mole ut vincendi und Ipse quoque opponam find die Anfänge zweier verlorener Gedichte.

Das Walthariuslied. 321

Griechiſchen hegte und vor der Herzogin Hedwig, welche die Pſalmen griechiich herſagen konnte. Er hatte feine Ahnung, dab man ihm nad Jahrhunderten vielleicht danken würde, wenn er das MWalthariuslied Effehards I. unver: ändert gelaffen hätte, und dak man es jogar vorgezogen hätte, wenn dasjelbe in deutichen Verſen oder deuticher Proja aufgezeichnet worden wäre. Aber auch fo, mie es liegt, ift es eine nicht bloß intereffante, ſondern jchöne Dichtung. Es ift Schon bei weiten romantiicher ala das Karlslied Angilberts, und umfaßt in feinen 1456 Herametern einen verhältnismäßig reihen Stoff!.

Seit den Tagen Attilas waren nahezu fünf Jahrhunderte verfloſſen, die Ereigniſſe der Völterwanderung längft in dämmernde Ferne gerüdt, als der jugendliche Poet fih in jene Zeit zurüdverjegte. Erſt wenige Jahre zuvor (926) hatten räuberiihe Schwärme von Ungarn die ganze Gegend am Bodenjee mit Schreden erfüllt, St Gallen verbeert und die Fromme Rekluſe Wiborada Hingemordet. So begreift es fih, dab Ekkehard die Hunnen für Ungarn oder Pannonier anſah und feine Epopde alfo anhub:

Einen ber drei MWeltteil’, ihr Brüder, nennt man Europa. Mamnigfach find feine Völfer in Sprach' und Sitten und Namen, Nah ihrer Lebensart unterfchieden und nad ihrem Glauben.

Unter biefen verdient beionders das Volk der Pannonier

Seinen Plab, das zumeift doch auch Hunnen wir pflegen zu nennen. Mächtig war bies tapfere Volk duch Waffen und Mannskraft, Nicht allein die umber gelegenen Land’ unterjochend,

Sondern e8 überichritt auch des Ozeans Küften uud ſchenkte Bündnis den Flehenden, wie's die Widerfadher zerftäubte.

Das ift alles noch recht ſchulmäßig, und aud andere Züge erinnern daran, dab dem jungen Poeten fein Vergil jehr lebhaft vor Augen jchwebte. Sobald er indes mehr zur Sache fommt, wird er entichieden poetiſcher.

! Ausgaben von F. Eh. J. Fiſcher (De prima expeditione Attilae. Carmen epicum saec, VI, Lips. 1780); 5. Molter (J. 6. Meujels Hiftor. Literatur für das Jahr 1782, 870—374, und Beiträge zur Geihichte und Literatur, Frank— furt 1798); 3. Grimm (Gedidte bes 10. und 11. Jahrhunderts, herausgeg. von J. Grimm und U. Shmeller, Göttingen 1838, 1—126 383 —385); Edéle— ftand Dumeril (Poésies latines anterieures au 12=® siöcle, Paris 1843, 313 bis 377); 8. ©. Provana (Monum. hist. patriae. Script. III, Aug. Taurin. 1848, 133—166); R. Peiper, Berlin 1873; 3. Viktor v. Scheffel und A. Holder (Waltharius, Tateinifches Gedicht des 10. Jahrhunderts, mit deutſcher Übertragung, Stuttgart 1874); H. Althof (Waltharii Poesis. Das Waltarilied Ekkehards I. von St Gallen nad) der Geroldushandichrift, 1. TI, Leipzig 1899). Deutiche Überjeßungen von F. Molter, Karlsruhe 1732; ©. F. Klemm, Wien 1829; San Marte, Magdeburg 1858; 3.2. v. Sheffel (a. a O. und im „Ekkehard“, Kap. 24, Frankfurt 1855); Linnig, Paderborn 1884; 3. Aufl. ebd. 1901; 9. Altbof, Leipzig 1902. Anbderweitige Literatur bei Potthast, Bibliotheca Medii Aevi I? 398 399.

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 21

322 Achtes Kapitel.

Die eigentlihe Erzählung beginnt mit einem Eroberungszug, den Attila nad dem Welten hin unternimmt. Die Könige, melde er bedroht, wagen feinen mannhaften Widerftand, jondern juchen fi mit Geſchenken und Geifeln abzufinden. Der Frankenlönig Gibih übergibt ihm als Geifel den jungen Hagen, bon edler trojanischer Ablunft, der Burgunderklönig Herrich jein einziges Kind, das jchöne Töchterchen Hiltgund, der Gotenkönig Alphere von Aquitanien endlich feinen Sohn Waltharius, weldem bereits Hiltgund ver- lobt ift. Dazu jpendete jeder der Fürften noch reihe Schäße, und fo ziehen die Hunnen vergnügt in ihr Land zurüd, Attila benimmt fi aud in der Behandlung der Geijeln ritterlih. Er läßt Waltharius und Hagen in feiner nächſten Nähe, wie jeine eigenen Kinder, zu tapfern Kriegern aufziehen ; Hiltgund aber übergibt er feiner Gemahlin Ospirin (der „göttlichen Bärin“), welche jich derjelben mütterlih annimmt und ihr bald die Sorge für die königliche Schatzlammer übergibt. So geht alles feinen friedlichen Weg.

Nun geihieht es aber, dab der Frantenkönig Gibih ſtirbt. Sein Nachfolger Gunther verweigert den Tribut. Hagen, defjen Lage dadurch bedenflid geworden, entflieht. Dieje Flucht macht die Königin bejorgt, daß auch die andern zwei Königstinder feinem Beifpiele folgen möchten, und fie rät darum, Waltharius bald mit einer hunnifchen Prinzeſſin zu ver: heiraten, um ihn dauernd an Attila zu feſſeln. Waltharius weigert ſich aber unter dem Vorwande, Attila als Junggejelle viel freier und wirkſamer dienen zu können. Attila glaubt ihm und übergibt ihm die Führung feiner Leute in einem Streifzug gegen ein aufrühreriihes Land.

Sieggefrönt fommt der junge Held nad Haufe und genießt nun ſolches Anjehen, daß er einen Fluchtplan wagen zu fünnen glaubt. Da er Hiltgund allein im Königsfaale trifft, jo ſäumt er nicht, ihr diefen Plan zu eröffnen.

Hiltgund traf er alleine, da füht’ er fie und ſprach: „Beihaff mir einen Trunf, das war ein heißer Tag.” Da füllte fie den Becher, er trank ben fFirnewein,

Jach wie den Waflertropfen einfaugt der glühe Stein, Dann ſchloß er in die feine der Jungfrau weiße Hand, Beib’ wuhten, daß von alters verlobt fie ſei'n einand.

Errötend ftand umd ſchwieg fie. Da fprad er zu ber Maid: „Schon lange tragen wir ber Fremde herbes Leid,

Und follten doch nad) Rechten einander fein zu eigen:

Ih Hab’ das Wort geſprochen! Nicht länger mag ich's ſchweigen.“

Die Aungfrau fand betrüblich, als wär's nur Spott und Hohn; Aufflammt ihr blaues Auge, fie jprad mit herbem Ton:

„Was heuchelt deine Zunge, was nie bein Gerz begehrt?

Viel befferer Verlobten bältft, Schlauer, du dich wert.”

Da blidte treu und minnig, da ſprach der tapfre Mann: „gern ſei, was du gebenfeft! O Hör’ mich huldvoll an!

Das Walthariuslied, 323

In meines Herzens Grunde hauft weder Falſch noch Arg, Niemals ih mit dem Munde den wahren Sinn verbarg. Kein Späher weilt im Saale, nur wir zwei beib’ allein, Ih wüßt' ein jüh Geheimnis, wollt'ſt du verſchwiegen fein.” Da ftürzte ihm zu Füßen Hiltgund und weint’ und ſprach: „Wohin du mich berufeft, o Herr, ich folg’ dir nad.”

Er hob fie auf mild tröftend: „Ich bin ber Fremde müb, Ein jühes Heimatjehnen die Seele mir durchglüht;

Dod ohne Hiltgund nimmer fteht mir zur Flucht mein Sinn, So du zurüde biiebit, des ſchöpft' ich Ungewinn.“

Da lacht' fie in die Tränen: „DO Herr, bu fprichft mit Fug Das Wort, das ich jeit Jahren geheim im Bujen trug. Gebiete denn die Flucht, mit dir will ich fie wagen,

Dur Not und Fährlichkeit muB uns die Liebe tragen.“ !

Darauf wird dann Hiltgund mit den nötigen Vorbereitungen betraut. Sie ſoll aus dem Schafe des Königs Helm, Leibrod und Panzer nehmen, dazu zwei Schreine voll goldener Spangen, aud Angelhaten bereiten Lafjen, um unterwegs Fiſche und Vögel fangen zu können. Nach fieben Tagen ift ein glänzendes Feſt, bei welchem die Hunnen aljo ſchmauſen und trinten, dag alle ſchließlich in tiefften Schlaf verfallen. Da bejteigen die zwei Ver: lobten das Pierd des Waltharius, „Löwe“ genannt, das aud die beiden Schreine tragen muß. Hiltgund führt die Zügel und die Angelruten, da Waltharius mit den Waffen belaftet ift. Alfo reiten fie vierzig Nächte lang und verbergen fi tagsüber im Walde. Die Hunnen ſetzen ihnen zu jpät nad. Glücklich erreichen die Flüchtlinge bei Worms den Rhein und bezahlen den Fährmann mit den Fiſchen, die fie in fremden Wafjern gefangen.

Das ift ihr Unheil. Der Fährmann verfauft die Fiſche an den Hof des Königs Gunther, wo fie Auffehen erregen. Man zieht Erkundigungen ein, und auf den Bericht des Fährmanns zweifelt Hagen nicht, daß der Flüchtling Waltharius ei, der von den Hunnen zurüdlehre. König Gunther ift hocherfreut, jo wieder den Schab zu erbeuten, den ihm die Hunnen ent- wendet, und rültet alöbald zwölf feiner beften Mannen aus, darunter Hagen, um Walthariuß zu verfolgen.

Diefer hat unterdeffen den Wasgenwald (die Vogeſen) erreicht und ruht an einer Felſenhöhle, zu der nur ein enger Weg führt, zwiſchen zwei hohen Bergen. Hiltgund hält für ihn Wade und mwedt ihn, da die Franken auf jeine Fährte gefommen und Gunther einen Boten an ihn abgeordnet hat. In der erften Aufwallung droht Waltharius allen fed Tod und Verderben, bereut aber alsbald die Rede und bittet Gott um Verzeihung dafür. Die Jungfrau und das Roß auszuliefern, verweigert er, bietet aber Hundert Goldipangen an, um den König zu ehren. Hagen, den jeinerjeits Waltharius

ı Überfeßt von Scheffel. 21*

324 Achtes Kapitel. allein jcheut, rät dem König, das Anerbieten anzunehmen, und begründet dies mit einem jchredhaften Traume, in welchem er jah, wie ein Bär Gunther das Bein zerfleifchte und ihm felbft ein Auge ausriß. Gunther jpottet aber jeiner Furcht, und Hagen zieht fich beleidigt zurüd.

Da der Abgejandte Gamelo ein zweites Mal alles herausfordert, bietet Waltharius zweihundert goldene Spangen an, wird aber abgemwiefen, und nun beginnt fjofort der Kampf mit den Mannen Gunther, die einzeln Maltharius angreifen. Diefe elf Einzellämpfe find fehr lebhaft, anſchaulich, mit feſſelndem Wechſel beichrieben. Waffen, Stimmung, Art des Kampfes find immer etwas anders. Seinen Schwefterfohn Patafrid fuht Hagen duch Bitten und Tränen vom Kampfe abzuhalten, aber vergeblih. Nach— dem ſchon fieben Helden gefallen, zaudern die übrigen vier, und Gunther muß fie zum Zorn und zur Blutrade aufftaheln, um ihre Bedenken zu überwinden. In der kurzen Baufe legt Waltharius den Helm ab, um etwas aufzuatmen, und fann fi kaum mit feinem Schilde wehren, al3 unverjehens der Kampf erneuert wird.

Die legten drei Kämpfer vereinigen fich zu gemeinfamen Angriff, werfen einen Dreizad an dreifahem Seile nad Waltharius’ Schilde und ſuchen ihn jo zu Fall zu bringen oder wenigftens jchußlos zu machen. Aber er troßt ihrer vereinten Kraft, läßt ſchließlich von felbit den Schild fahren, ftürzt auf die einzelnen lo& und haut einen nad dem andern nieder, Gunther jelbit, der ihnen beigeftanden, muß fliehen. Es ift ihm jet nur noch eine Hoffnung übrig: der gewaltige, riefenhafte Hagen. Allein diefer will nicht die dem jungen Freunde gelobte Treue breden. Erft da Gunther in flehent- lichften Bitten ihn, den Vajallen, um Hilfe fleht, erwacht fein Ehrgefühl, und er berfpriht dem König, gegen Waltgarius zu kämpfen, doch nicht jebt, fondern erft am folgenden Tage.

Während die beiden ſich in einen Hinterhalt zurüdziehen, fperrt Wal- tharius den Kampfplatz mit einem Verhau, legt zu jedem Rumpfe der über: wundenen Gegner das zugehörige Haupt, das er jeweilen nad dem Siege abgehauen, kniet dann, das entblößte Schwert in der Hand, nad Often ge: wandt nieder, dankt Gott für feinen Sieg und betet für die Seelen der getöteten Yeinde. Dann genießt er kurze Raft auf feinem Schilde, von Hiltgund behütet :

Gefunfen war die Sonne. Einbrach die dunkle Nacht. Der müde Held Walthari ftand prüfend und bedadt’: Ob er in fihrer Felsburg ſchweigſam verweilen möge, Ob er durch öde Wildnis verfuche neue Wege.

Er ſcheute bloß den Hagen und ahnte böje Lift,

Daß ihn der König dort umarmet und gefüßt.

Das fürchte ih, jo dacht' er, daß fie zur Stadt entreiten

Und morgen früh den Kampf erneun mit frifchen Leuten, Wofern fie nicht ſchon jekt im Hinterhalte Tauern.

Dad Walthariuslied, 325

Auch ſchuf der wilde Wald ihm ein gelindes Schauern, Als dräut’ es drin ringsum von Dorm und wilden Tieren, Daß er bort hilflos irrend die Jungfrau möcht’ verlieren. Dies alles wohlgepräft und wohlerwogen fprady er:

„Wie es auch geh’, bis morgen behalt ich hier mein Lager, Daß nit der König prahle, ich fei dem Diebe gleich Entflohn bei Naht und Nebel aus dem Frankenreich.“

Er ſprach's und Dorn und Straudwerf hieb er fi rings vom Hag Und ſchloß den engen Pfad mit ftahlichtem VBerhad.

Mit bitterm Seufzen wandt' er fih zu den Leihen dann, Jedwedem Rumpfe fügte fein Haupt er wieder an;

Gen Sonnenaufgang warf er knieend fi zur Erbe

Und iprad das Sühngebet mit ſcharfentblößtem Schwerte:

„O Schöpfer biefer Welt, der alles lenkt und richtet,

Gen deſſen hohen Willen fi nichts hienieden ſchlichtet,

Hab’ Dank, dab Heute ich mit deinem Schuß bezwungen

Der ungerechten Feind Geſchoß und böje Zungen!

O Herr, der bu die Sünde austilgft mit ftarfen Armen, Doch nit den Sünder jelbft dich fleh’ ih um Erbarmen: Lab biefe Toten hier zu deinem Reich eingehn,

Daß ih am Himmelsfige fie möge wiederjehn !”

So betete Walthari. Dann trieb er alſogleich

Der Zoten Noffe ein und band fie mit Gezweig.

Noch ſechſe waren übrig. Zwei waren umgefommen, Drei hatte König Gunther mit auf die Flucht genommen.

Dann löft’ er feine Rüftung. Das war dem Hih’gen gut,

Mit frohem Zufpruch ſchöpft' er der Jungfrau Troft und Mut. Mit Speife und mit Trank Iabt’ er die müben Glieder,

Und auf den Schild gelagert, warf er zum Schlaf fich nieder. Den erften Schlummer jollte Hiltgunde ihm behüten,

Denn allzujehr nach Ruhe gelüftet's den Vielmüden.

Er jelbit behielt fih vor die Wacht am frühen Morgen,

Er wußt', da drohten ihm erneuten Kampfes Sorgen.

Zu Haupt’ ihm fißend wachte Hiltgund die Nadt entlang

Und ſcheuchte von den Augen den Schlaf fih mit Gefang. Bald Hub Walthari fi und brad des Schlummers Reft

Und hieß die Jungfrau ruhen und griff zum Speere feſt

Und wandelt’ ab und auf. Bald ſchaut er nad den Roffen, Bald lauft’ er an dem Walle. So war bie Naht umfloffen '.

2 Ad cuius caput illa sedens subito vigilavit, Et dormitantes cantu patefecit ocellos. Ast ubi vir primum iam expergiscendo soporem Ruperat, absque mora surgens, dormire puellam lussit et arreeta se fuleit impiger hasta. Sie reliquum noctis duxit, modo quippe caballos Circuit, interdum auscultans vallo propiavit, Exoptans orbi species ac lumina reddi.

326 Achtes Kapitel.

In der Morgendämmerung bepadt Waltharius vier Pferde mit den Waffen und dem Schmude der befiegten Feinde, Hilft Hiltgund auf das fünfte Roß und befteigt jelbft ein jechftes, das zugleih die Goldichreine trägt. Kaum find fie etwa taufend Schritte gezogen, da nahen Gunther und Hagen. Noch ift eben Zeit, dab die Jungfrau mit den bepadten Pferden fi in einem Walde bergen fann dann fteht Waltharius ſchon den zwei Feinden gegenüber. Er flieht nicht, fondern reitet ihnen mutig entgegen, beihmwört aber Hagen bei feiner alten FFreundestreue, vom Kampfe abzuftehen.. Hagen erflärt jedoch, Waltharius habe längft die Freundſchaft gebroden, indem er jeinen Neffen, die zarte Blume, gemäht Habe. Und nun jpringt Hagen vom Pferde. Er und Gunther jchleudern ihre Speere, die jedodh von dem Schilde Waltharius’ abprallen, welcher ſich mit feinem langen Speere der ihn nur mit lürzeren Schwertern Angreifenden ermwehrt. Doch er fürchtet damit nicht lange ausdauern zu fönnen, wirft darum den Speer gegen Hagen, flürzt fofort mit dem Schwerte auf Gunther los und haut ihm das eine Bein bis an den Schenkel ab. Einen zweiten tödlichen Streih wehrt nur Hagen mit feinem Helme von dem König ab, indem er fi über denfelben beugt. Das Schwert Waltharius’ zerfpringt an dem Helme, und während er den unnüß gewordenen Griff der Klinge nachwirft, haut ihm Hagen die rechte Hand ab. Dod mit der Linken greift Wal- tharius zu dem Halbſchwert, das er nad) Hunmenfitte bei fich trägt, und Ihlägt Hagen ein Auge und ſechs Zähne aus.

So ward der Kampf gejchlichtet wohl durften beide ruhn. Laut mahnten Durft und Wunden, die Waffen abzutun. Da ſchieden hochgemut die Helden aus dem Streit, An Kraft ber Arme gleih und glei an Tapferkeit. Wahrzeichen ließ jedweber zurüd von dem Gefechte, Hier lag des Königs Fuß dort lag Waltharis Rechte, Dort zudte Hagend Aug’: jo hob an jenem Platz Sich jeder feinen Zeil vom großen Hunnenihab.

Die beiden jehten fih. Der dritte lag am Grunde. Mit Blumen ftillten fie den Blutftrom aus der Wunde. Diltgund, der zagen Maid, laut rief Walthari dann. Die fam und legte guten Verband den Reden an. Walthari drauf befahl: „Jetzt miſch' uns einen Wein, Wir haben ihn verdient, er ſoll uns beilfam fein. Es ſei der erjte Trunf dem Hagen zugebradt, Der war dem König treu und tapfer in ber Schladt. Danı rei’ ihn mir, ba ich das Schwerfte hab’ erlitten, Zulegt mag Gunther trinken, der läjfig nur geftritten.“ Die Jungfrau folgt dem Winke und bradt’s dem Hagen bar. Da ſprach ber Held, wie ſehr er vom Durft gequält auch war: „Walthari, beinem Seren, fei erft der Trunk gereicht, Bräver als ih und alfe hat der fich heit erzeigt!”

r Das Walthariuslied. 327

Zwar müd, doch frifchen Geiſts ſaß itzt beim Wein geeint Hagen, ber Dornige, mit feinem alten Freund,

Nah Lärm und Kampfgetös, Schildflang und ſchweren Hieben Zum Becher bort bie zwei viel Scherz und Kurzweil trieben. „Zulünftig”, ſprach der Franfe, „magft bu den Hirſch erjagen, D Freund! und von dem Fell ben Leberhandihuh tragen, Und fo bu bir mit Wolfe ausftopfefl beine Rechte,

So meint doch mander Mann, bie Hand jei eine echte.

O weh! auch mußt fortan du allem Brauch entgegen

Um beine rechte Hüfte das breite Schlachtſchwert legen,

Und will Hiltgunde einft dir in die Arme finten,

Sp mußt du fie verfehrt umarmen mit ber Linten.

Und alles, was du tuft, muß ſchief und linkiſch fein... .“ Walthari ihm erwidert': „O Einaug, halte ein!

Noch werd’ ih manden Hirſch als Linker nieberftreden, Do dir wirb nimmermehr des Ebers Braten fchmeden. Schon ſeh' ich aueren Auges dich mit den Dienern fchelten Und tapfrer Helden Gruß mit jcheelem Blick entgelten,

Doch alter Treu gedenkend ſchöpf' ich dir guten Rat:

Bift bu ber Heimat erft und deinem Herb genaht,

Dann laß von Mehl und Mil den Kindleinbrei dir kochen, Der ſchmeckt zahnlofem Dann und ftärkt ihm feine Knochen.“

So ward der alte Treubund erneut mit Glimpf und Scherz, Dann trugen fie den König, dem ſchuf die Wunde Schmerz, Und huben fänftlih ihn aufs Roß und ritten aus;

Nah Worms die Franken zogen, Walthari ritt nah Haus. Da ward mit hohen Ehren begrüßt ber junge Held,

Und bald ward auch Hiltgundbe dem Treuen anvermähßlt. Nah feines Waters Tode tat er ber Herrſchaft pflegen

Und führte dreißig Jahre fein Bolt mit Glüd und Segen; Noch in mand ſchwerem Kampfe gewann er Sieg und Ruhm. Do ftumpf ift meine Feder, und billig ſchweig' ih drum. Hochweiſer Lejer du, fchent meinem Werfe Gnabe!

Wohl gleicht mein rauher Reim dem Sang nur ber Cikade, Doch für das Höchſte ift mein junger Sinn erglüht.

Gelobt jei Jeſus Ehrift! So flieht Waltharis Lied !,

Haec quicumque legis stridenti ignosce cicadae, Raucellam nec adhuc vocem perpende, sed aevum, Utpote quae nidis nondum petit alta relictis. Haec est Waltherii poesis; nos salvet lesus?.

Da Effehard IV. feine feilende Nahhilfe auf Sprache und Ausdrud beihränfte, die alte Sage aber ſich fonft nirgends in diefer Faſſung wieder: findet, jo fönnen wir die Ausführung jelbft wohl ziemlich ficher als das jugendliche Werk Eftehards I. betrachten. An die erhabene Einfachheit und

überſetzt von Scheffel. 29. 1458 - 1457.

328 Neuntes Kapitel,

großartige Tragif des Nibelungenliedes reicht diejelbe nicht entfernt hinan. Die Verftümmelung der drei Haupthelden hat faſt einen etwas komiſchen Beigeſchmack, den der Dichter am Schluß mit naivem Humor ausgebeutet hat. Dafür aber find die Kampfihilderungen voll feſſelnder Lebendigkeit und Mannigfaltigfeit. Überhaupt verhindern es die nach Vergils Vorbilde angewandten Mittel der Kunftpoefie durchaus nit, daß der nationale Gehalt der Sage in et epiiher Objektivität und Kraft zur Darftellung gelangt !. Mit Recht jagt darum Sceffel?: „Noch heute erquidt den Lejer der warfen: tlirrende Nahhall germanifcher Urzeit, der harakteriftiiche Schmelz, der aus Bindung zweier jo ungleiher Elemente, wie vergiliſcher Form und nibelun- gischen Inhalts, entjtehen muß, die Einfachheit einer dennoch reihen Er: findung, das ruhige Gleichmaß im Fortjchritt der Erzählung, die empfindende Märme und epiiche Kraft des Dichters.“

Neuntes Kapitel,

Der Auodlieb.

Nicht viel jpäter als um die Zeit, da das Walthariuslied durch Elke— hard IV. die uns erhaltene Faflung gewann, ift aud eine andere kleine Epopöe entftanden, von der aber bis jetzt nur lüdenhafte Bruchftüde wieder aufgefunden worden find. Das ift der „Ruodlieb“. Wie jenes ein Stüd altgermanijcher Heldenjage, jo bannt diefer einen kleinen mittelalterlichen Nitterroman in die Form des lateinischen Herameterd. Die größeren Brud: ftüde ftammen aus einer Handſchrift des Kloſters Tegernfee; die vierunddreißig Blätter derfelben werden noch durch ein paar andere ergänzt, die ſich in St Florian fanden. Bon B. J. Docen aufgefunden, wurden fie 1838 und 1840 von A. Schmeller veröffentliht. Innere Gründe weiſen auf einen Geiftlihen in der erften Hälfte des 11. Jahrhunderts als Berfaffer Hin. Schmeller ſchrieb es dem Mönd Froumund von Tegernfee zu, der nod

„Diktion und Vers zeigen den Schüler Vergils, der es felbft nicht verihmäht hat, hie und da einmal einen ganzen Vers feines Meifters feiner Darftellung ein- zumweben: im ganzen aber beherricht er die durch Vergil geichaffene Ausdrucksweiſe des römischen Epos mit vollfter Freiheit; fein Stil ift feineswegs ein künſtlich ge— machtes Moſaik aus antiten Reminiszenzen. Das römiihe Gewand ſchmiegt fi dem beutjchnationalen Inhalt jo vollkommen an, dab es oft als fein aus ber Fremde er» borgtes mehr erfcheint, zumal ber Dichter auch mitunter ſich nicht enthält, eine deutſche Redewendung wörtlih in das Lateinische zu übertragen und gegen die Grammatif desjelben als Deutſcher fi zu verfündigen* (A. Ebert, Geſchichte der Literatur des Mittelalters III, Leipzig 1887, 275).

? ©. 112 feiner Ausgabe,

Der Ruodlieb. 329

nad 1017 unter Abt Ellinger lebte; Berjchiedenheiten in Stil, Sprade und Reim mahen es jedoch mwahrjcheinlicher, daß der Berfaffer des „Ruodlieb“ etwas jpäter, zwiſchen 1023 und 1030, lebte.

Ein tüchtiger, junger Ritter, namens Ruodlieb, hat in feiner Heimat mehreren Herren treu und hingebend gedient, aber wenig Dank geerntet, fih nur Feindfchaften zugezogen. Er übergibt daher die Sorge für feinen Familienſitz der noch rüftigen, wadern Mutter und zieht in die Fremde, nur mit feinem Pferde, einem Knappen und einem trefflihen Spürhunde. Trüb und traurig in die Zukunft ſchauend, trifft er unterwegs mit dem Jäger des Königs zujammen, der das bereits betretene Grenzland beherricht, erregt zuerft Verdacht, gewinnt aber bald deſſen Vertrauen, wird von ihm bei jeinem König eingeführt und tritt in deffen Dienfte. Mittels allerlei kunſt— reiher und wunderfamer Jagdſtückchen erlangt er große Beliebtheit. Der Friede, deſſen fi das Land erfreut, wird aber durch den böfen Feind ge- flört, der bei Anlaß eines Marktes einen großen Streit erregt, bei dem viele Menſchen ums Leben fommen. Es bricht Krieg aus. Ein Grenzgraf des Nahbarreiches bricht zuerft in das Neich des Königs ein, dem Ruodlieb dient, ſengt und brennt und macht viele Gefangene, wird aber jchließlich überwunden und jelbft gefangen mit all jeinen Leuten vor den König ge: führt, gegen welchen der Zug gerichtet war. Diefer behandelt den liber- wundenen mit nahezu wunderbarem Edelmut und jhidt ihn dann nebft Ruodlieb an feinen Heren, den „Eeineren“ König, zurüd, mit dem Antrag, auf taufend Jahre Frieden und Freundſchaft zu ſchließen. Die Gejandt: ihaft ift mit dem beſten Erfolg gekrönt. Es wird eine Zufammenfunft der beiden Könige verabredet und bald darauf gehalten, wobei der Heinere König die Leute des größeren aufs reichlichfte beichenkt ; diefer erlaubt indes nur den Geiftlihen, die Gefchente anzunehmen.

Ruodlieb, defien Name jebt zum erftenmal genannt wird, fehrt mit dem größeren König an deffen Hof zurüd und findet hier einen Boten mit Briefen aus der Heimat. Seine früheren Herren und feing Mutter wünſchen ihn ſchleunigſt zurück. Der König ift einverftanden und entläßt ihn aufs Huldreichfte. Als Andenten gibt er ihm zwei Silbergefäße in der Geftalt bon Broten, das eine mit byzantinischen Goldmünzen, das andere mit Münzen und koſtbarſtem Schmud gefüllt: das fleinere Brot foll er in Gegenwart jeiner Mutter, das andere größere aber erſt bei feiner Verheiratung vor feiner Ermwählten anfchneiden. Beim Abjhied läßt der König ihm die Wahl, ob

Bateinifche Gebihte des 10. und 11. Jahrhunderts, von $. Grimm und A. Schmeller, Göttingen 1838. Ruodlieb, Der ältefte Roman bes Mittel» alters. Nebft Epigrammen. Mit Einleitung, Anmerkungen und Gloffar herausgeg. von Friedrich Seiler, Halle a. ©. 1882, 160-171. Rudlieb, Übertragung des älteften deutſchen Heldenromans, von Di. Heyne, Leipzig 1897.

330 Neuntes Kapitel.

er mit Gold oder mit Weisheit belohnt fein wolle. Da Ruodlieb die Weisheit vorzieht, erteilt ihm der König zmölf weile Räte:

1. Zraue feinem Rotkopf; denn das find jähzornige und ſchlechte Menſchen. 2. Verla nie den ſchmutzigen Dorfweg, um durch die Saaten zu reiten; jonft wirb man dich ſchelten, und bu wirft zum Born Hingeriffen werben. 3. Kehre nie ein, wo ber Dann alt und bie Frau jung ift, fondern wo umgekehrt ber Mann jung und bie rau alt ift. 4. Verleihe nie eine trächtige Stute zum Eggen, ſonſt geht das Junge zu Grunde. 5. Beſuche aud einen lieben Freund nicht zu oft; font ver- liert der Beſuch an feinem Wert. 6. Behanble nie eine Magb vertraulich wie eine Gattin, fonft wird fie übermütig. 7. Sude dir eine Gattin nad dem Rat der Mutter, behandle fie gut, bleibe aber ihr Meifter und vertraue ihr nicht alle beine Geheimniffe an, damit fie bir nicht bei etwaigem Streite verlekende Vorwürfe machen kann. 8. Beherrfhe den Zorn und ſchiebe die Rache wenigſtens zum folgenden Tag auf. 9. La dich nicht in Streit mit deinem Herrn ein, und wenn er etwas von bir leihen will, fo jchent es ihm. 10. Wo bu eine Kirche fiehft, empfiehl dich ben Heiligen. Wo geläutet oder gefungen wird, gehe hin und halte die Andacht mit; das verlängert die Neife nicht, fondern verfürzt fie. 11. Wenn dich jemand auffordert, um Ehrifti willen das Faſten zu breden, jo weigere Dich nicht; dadurch bridft bu nicht fein Gebot, fonbern erfülft es. 12. Haft bu Ader- land an ber Straße, fo ziehe feine Gräben, um bie Leute von den Saaten fern zu halten; fonft umgehen fie die Gräben, und du haft den doppelten Schaden.

10) Et numquam sit iter quoquam tibi tam properanter, Ut praetermittas, quin, ecclesias ubi cernas, Sanctis committas illis te vel benedicas. Sieubi pulsetur aut si quo missa canatur, Descendas ab equo currens velocius illo, Catholicae paci quo possis participari, Hoc iter haud longat, penitus tibi quin breviabit Tutius et vadis hostem minus atque timebis,

11

Ahnuito numquam, si te cogens homo quisquam Oret amore pii ieiunia frangere Christi, Non ea nam frangis sua sed mandata replebis.

12

Si tibi sint segetes prope plateas generales, Non facias fossas, progressus ulteriores

In sata ne fiant; nam fossas circueundo

Strata fit utrimque per siccum gente meante; Si non fodisses, damnum minus hine habuisses.

An dieſe Weisheitsſprüche knüpft fih zum Zeil der weitere Verlauf der Geſchichte. Nachdem NRuodlieb von dem Freunde fich verabjchiedet, der ihn noch drei Tagereifen begleitet hat, drängt ſich ihm richtig ſchon ein Rot— fopf auf, deflen Begleitfchaft er umfonft abzuſchütteln verfudt und der ihm gleich bei der erften Furt feinen Mantelſack ſtiehlt. Ruodlieb ehrt bei einem jungen Bauern ein, der eine alte Frau hat, und findet die befte Aufnahme, Der Rote aber zieht zu einem alten Bauern mit einer jungen rau, ber:

Der Ruodlieb. 331

führt dieſe zum Ehebruch, erfchlägt den Mann, wird aber gepadt und hin: gerichtet. Ruodlieb dagegen trifft mit einem jungen Neffen zufammen und fehrt mit ihm bei einer Gevatterin von Ruodliebs Mutter ein, die eine jehr ihöne Tochter hat. Ruodlieb bezaubert alle mit feinem Harfenfpiel, dann unterhält er die Tochter mit Würfeljpiel, und fie verlieren gegenjeitig ihre Ringe aneinander. Nur Rüdfiht auf den guten Ruf verhindert die jungen Leutchen, daß fie nicht allzumeit gehen. Durd die Gevatterin wird Ruodlieb an die Sehnfucht jeiner Mutter nah ihm gemahnt und reift weiter. Ab— gejandte der Mutter fommen ihm entgegen. Eine Dohle, die jpredden kann, verfündet feine unmittelbar bevorſtehende Rückkehr. Das freudige Wieder- jehen wird mit einem Feſtmahl gefeiert, zu dem Ruodlieb und der Neffe jorgfältigit Toilette maden. Dann hält er Zwieſprache mit der Mutter allein und fchneidet vor ihr das Hleinere der Silberbrote an, und dann in feinem Subel auch noch das andere, ohne auf die Anweifung des Königs zu achten. Die Brote werden hier als afritanifche bezeichnet (factos apud Afros).

Ruodlieb begleitet nun zumächft feinen Neffen auf die Brautfahrt. Er unterhält die Burgfrauen, Mutter und Tochter mit feiner Gewandtheit im Kahnfahren und Fiſchen, fowie mit den Hunftjtüden feines mohldrejfierten Hundes. Zur Heirat fommen eine Menge Verwandte herbei. Ruodlieb empfiehlt die Partie hauptjählich damit, dab es gelte, den Bräutigam dem Netze einer ſchändlichen Buhlerin zu entreißen. Dieſer gefteht jeine Schwäde teuevoll ein und wird von den Anweſenden in Gnaden aufgenommen. Auch das Fräulein gibt fein Jawort. Wie er fie aber auf feinen Schwertfnauf zu ewiger Treue verpflichten will, lieſt fie ihm gehörig den Text und ver- bittet fi von feiner Seite weitere Buhlereien. Nun legt er Hein bei und verſpricht ihr vollftändige Befferung, worauf dann die Verlobung und Über: reihung der Hochzeitsgeſchenke richtig von ftatten geht.

Jetzt dringt Ruodlieb3 Mutter darauf, daß auch er fich vereheliche, um die Fortdauer der Familie und ihres Beſitzes zu fihern. Er erklärt ſich bereit. Anftatt fi aber, nad) dem weiſen Nat des Königs, aud) bei der Brautwahl an die Mutter zu halten, wendet er fih an eine der andern Berwandten und wird damit wirklich in die Jrre geführt. Die ihm empfohlene Schöne ift eine leihtfinnige Kokette, die ſich bereit mit einem Kleriker ein: gelafjen hat. Zum Glüd erfährt er nicht nur redhtzeitig ihre Unzuverläfligkeit, jondern fann ihr diefelbe auch ſehr jchlagend beweilen. Die Frömmigkeit und Wohltätigleit der Mutter verdient aber Gottes Hilfe und Schub, daß er do zu einer guten Frau fommt.

Sed Rödlieb mater, quodeumque potest, operatur In Christi miseros, viduas, orbos, peregrinos. Inde merebatur, quod Rödlieb valde beatur !,

ı VII 85—87.

332 NReunies Kapitel.

In frohen Träumen wird der Mutter erſt diejes künftige Glück gezeigt. Sie fieht, mie zwei Eher mit einer ganzen Schar Säue auf ihren Sohn eindringen, diefer aber die Tiere erlegt; dann fieht fie ihn auf einem Ruhe: bette im Wipfel einer hohen Linde ruhen, eine weiße Taube trägt eine foft bare Krone herbei und jegt ſich lieblojend auf jeine Hand.

Die Träume verwirklihen fih denn auch. In einer Falle nimmt Ruodlieb einen Zwerg gefangen, der ihm um Leben und Freiheit verjpricht, den Schaf zweier Könige zu zeigen, des Immunch und jeines Sohnes Hartund. Dieje werde er bejiegen und erihlagen; dann könne er aud des Königs Tochter Hariburg gewinnen, wenn das aud großes Blutvergießen foften werde. Als Geijel bietet er Ruodlieb feine eigene niedliche Zwerg: gemahlin an, die auf jeinen Ruf alsbald erjcheint:

Parva, nimis pulchra sed et auro vesteque compta, Quae ruit ante pedes Rödlieb fundendo querelas: „Optime cunctorum, vinclis mihi solve maritum Meque tene pro se, donec persolverit omne.*

Damit bricht das lebte Fragment (XVII) ab. F. Seiler, der kri— tiihe Herausgeber der Dichtung, ſchlägt das Verdienſt derjelben ziemlich hoch an:

„Den abjoluten Maßſtab Höchfter poetiicher Vollendung dürfen mir natürlich nit an das Gedicht anlegen, vor dem relativen aber befteht es glänzend. Es feiftet mehr, al3 man für jene Zeit erwarten und verlangen kann. Das Gediht atmet Leben, nicht Schule. Es ift nit dur irgendwelchen Zwed eingegeben, fondern, wie jedes echte Kunſtwerk, um jeiner jelbft willen da; es will genoffen, nicht genußt jein. Der Dichter ift ein Mann von gereifter Zebenserfahrung und mildem Charakter, von frommen, aber nicht zelotiſchem und noch weniger weltabgewandtem Sinne. Er ver: bindet mit realiftiicher Beobachtungsſchärfe ein glüdliches Darftellungstalent und ein freundliches Gemüt, das ihn zu den Menjhen wie zur Natur umd ihren Geſchöpfen gleihmäßig hinzieht. An Originalität und freiheit des Geiſtes, an Selbftändigfeit in Wahl und Verarbeitung des Stoffe, an plaftifcher Geftaltungsfraft, mit einem Worte an dichterifcher Begabung über: ragt er alle feine Zeit: und Zunftgenofjen durchaus. Daher läßt fi feinem Werte fein poetifches Erzeugnis in lateinischer Sprade von Waltharius bis zum Iſengrimus, d. 5. vom 10. bis 12. Jahrhundert, auch nur annähernd an die Seite ftellen; es ift eben ein ‚literariiches Wunder‘ (E. PVoigt).“ !

Diejes Urteil dürfte doch ftarker Einſchränkung bedürfen. Gerade jehr ſpannend ift die Verwidlung nicht zu nennen; die Gharakteriftif ift weder

Seiler, Ruoblieb 199 200.

Zehntes Kapitel. Das lateiniſche Tierepos. 333

ſehr mannigfaltig nod immer ſcharf, treffend und feflelnd; Sprade, Bers und die Form überhaupt find jo Holperig und ungeſchlacht, daß ein eigent- liher Genuß faum möglich ift.

Zehntes Kapitel, Das lateinifhe Vierepos.

Ungefähr im diejelbe Zeit wie die erite lateiniiche Bearbeitung der Nibelungenfage fällt auch das frühefte lateinische Tierepos, der Vorläufer der vielen jpäteren Bearbeitungen des Reinele Fuchs. Der Titel lautet: Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam. Das Gedicht enthält 1175 Hexa— meter, meijt leoninifch gereimt!. Der Name des Berfafjers ift unbelannt. Er war Mönd des Kloſters St Evre in Toul, als dasjelbe 936 nad längerem Berfall dur eine Heilfame Reform mieder auf beffere Wege ge: bracht wurde. Wie er im Prolog befennt, hatte er ſchon als Kloſterſchüler die Studien vernadhläfjigt, feine Zeit mit Poffen verloren und ſich durch jeine fraulheit den Namen „Ejel“ erworben, war dann dem Kloſter entlaufen, aber wieder aufgefangen und in Haft genommen worden. Da rafite er ih auf und gab fih ans Dichten, und da er ſich Hohen und erhabenen Stoffen nicht gewachſen glaubte, verſuchte er feine Schidjale unter dem Namen und Bilde eines Kalbes zu erzählen.

Um Oftern, da die Hirten im Wasgau ihre Herden auf die Weiden trieben, macht fi ein im Stall zurüdgebliebenes Kalb los und läuft Iuftig auf die Wieſen. Wie es dann aber in den anitoßenden Wald kommt, begegnet e& dem Wolf in Geftalt eines Förfters, der es freundlich begrüßt, mit in feine Höhle nimmt und ihm Gaſtfreundſchaft zujagt, aber zugleich auch ankündigt, es müffe ihm morgen zum Oftermahl dienen. Gegen Mitter- nacht treffen die zwei Dienftleute des Wolfes, die Otter und der gel, mit neuen Vorräten in der Höhle ein und vernehmen, was ihr Herr mit dem Kalbe vorhat. Der gel fingt feinen Herrn mit Zitherjpiel in den Schlummer, aus dem ihn ein jchredhafter Traum aufſcheucht. Der Igel rät darauf, da3 Kalb am Leben zu laffen. Auch die Otter mahnt den Wolf von dem

ı Serausgeg. von Y. Grimm und U. Schmeller (Lateinifhe Gedichte des 10. und 11. Jahrhunderts, Göttingen 1838); E. Voigt (Ecbasis captivi, das ältefte Tierepos des Mittelalters, Straßburg 1875, in Quellen und Forſchungen VII). Metriſch überjegt von Meiste, Halle 1858. J. Kelle, Geſchichte ber beutfchen Literatur I, Berlin 1892, 209—216. U. Ebert, Geſchichte der Literatur des Mittelalters I 276285.

334 Zehntes Kapitel.

Frevel ab, er werde jonft nad dem kanoniſchen Recht ald Räuber fterben. Doc der Wolf befteht darauf, daß das Kalb gegen 6 Uhr geichlachtet werden folle.

Inzwiſchen ift aber der Berluft des Kalbes bei der Herde bemerft worden. Der Hund führt die Herde vor die Höhle des Wolfes; das Brüllen des Stierd wedt diefen vom Schlummer auf. Der Wolf fordert Otter und Igel auf, für ihn zu kämpfen: er fürchtet niemand als den Fuchs, den er unter den Angreifenden nicht zu bemerfen glaubt. Otter und gel wollen aber nicht eher kämpfen, bis fie wilfen, wie es mit feinen Beziehungen zum Fuchs fteht. Und nun jchiebt fi in die NRahmenerzählung „vom Wolf und Kalb“ eine weit längere „vom kranken Löwen und vom gejhundenen Wolf“ 1 ein, worin der Fuchs jchon jo ziemlih die Hauptrofle ſpielt.

Der Löwe liegt nierentrant in feiner Höhle. Durd feinen Kämmerer, den Wolf, läßt er alle Tiere des Waldes vor fi laden, um ihm ein Heil mittel anzugeben. Alle fommen, nur der Fuchs nidt. Der Löwe grollt und befiehlt, duch den Wolf noch mehr aufgereizt, ihn in Stüde zu reihen. Der Pardel nimmt fi indeffen des Fuchſes an, der nun zu Hofe fommt und fih duch Entihuldigungen zu retten jucht. Nur aus Sorge für den Löwen hat er fich fo verfpätet; denn bis zum See Genefareth ift er ge pilgert; da hat ihm das Kluge Wafferhuhn das geheime Mittel angegeben, das allein den König retten fann, und ihm aud den nächſten Weg an den Hof bezeichnet, über Rom nah Bordeaur. Der Storh, den er in Pavia traf, habe dasjelbe Mittel angegeben.

Der Löwe traut der Sade nit; da aber alle Tiere Iniefällig für den Fuchs einftehen, gibt er nah und erlaubt dem Fuchs, als Zeichen jeiner Gnade, fein Königsſcepter berühren zu dürfen." Unter vielem Sträuben rüdt dann endlich der Fuchs mit dem Geheimnis heraus: dem Wolfe müſſe das Fell ausgezogen, der König in dasjelbe gewidelt werden, nachdem ihm erft Lenden und Rüden mit dem Fiſchgehirn eingefalbt wären, das der Fuchs aus Indien mitgebradht. Zwei Luchſe und der Bär ziehen nun dem Molfe das Fell ab bis auf Kopf und Füße. Der Fuchs aber, zum Pfalz: grafen ernannt, jpielt mit großer Würde den Arzt weiter, verordnet ihm die richtige Mönchskoſt und führt ihn im Garten jpazieren. Die Tiere, welche drei Tage gefaftet, erhalten auf Vorſchlag des Leopards ein reichliches Mahl; dann werden die Amter und Gejchäfte bei Hofe unter fie verteilt.

Die Bären müffen das Holz herbeifhleppen, die Kamele die Teppiche, "die Ottern und Biber das Waller. Der Tiger hat die Bäderei zu bejorgen,

ı Schon in Diftichen bearbeitet von Paulus Diaconus (Poetae latini aevi Carolini rec. E. Dümmler I, Berol. 1880, 62—64). Die „Fabel vom Löwen und Hirſch“ findet fih in Fredegars Chronik (lib. 2, 57. Script. rer. Merowing. II 81), ebenfo in ber Klloftergefchichte von Tegernſee (B. Pez, Thesauri anecdot. nov. III 1, 493 f), aber aus dem Löwen ift bajelbft ein Bär geworben.

Das lateiniſche Tierepos. 335

der Elefant die Küche. Der Hirſch wird zum Mundſchenk ernannt, der Leopard zum Truchſeß, der Eber zum Türhüter. Luchſe und Gemjen jollen die Leibwache bilden, die Meerkatzen das Bett bereiten, die Affen für das Licht jorgen. Dem Igel wird aufgetragen, Apfel und Mandeln zu bringen; da er aber aus Adelsſtolz ſich defjen weigert, wird er in die Küche verwieſen, wo er den Bratipieß zu drehen hat und das Spülwaſſer zu trinken befommt.

Der Pardel fehlt noch. Der Fuchs geht ihn holen, während der Leopard ihn dermaßen preift, daß der König ihn zu feinem Nachfolger an Sohnes Statt ernennt. Auf die Frage, weshalb er jo lange gefäumt, erklärt er, er habe dem König ein Schlafmittel verihaffen wollen, und führt als joldhes Amſel und Nachtigall vor.

Das Mahl hat inzwijchen längft begonnen, und die zwei Sänger fingen rührende Lieder vom Leiden Chrifli. Der Pardel will aber ein Iuftiges Lied haben. Die beiden tränenbeneßten und ajchebededten Sänger baden ſich darum in der Gironde und vereinigen fi dann, wohlaufgepußt, mit dem Sittih und dem Schwan, um ein Ofterlied zu fingen. Alles ift nun luſtig und voller Freude. Nur der Fuchs jcheint nicht recht zufrieden, und da der König fragt, was ihm fehle, gefteht er, daß ihm zu feinem Glüde noch eine gewiſſe Höhle auf dem Berge fehle die Höhle, welche der Wolf bewohnt.

Der König entläßt nun die Tiere. Die Nachtigall fingt ihn in den Schlaf. Nachdem er drei Tage und Nächte geichlafen, zieht der Löwe in den Schwarzwald. Amfel und Nachtigall gehen in den Welten, der Schwan zu den Normannen und der Sittih nah Indien. Der Fuchs aber madt eine Spott-Grabinfhrift auf den Wolf und läßt fi dann von dem Leopard in die ihm zugeteilte Burg inftallieren.

So weit die lange Zwiſchengeſchichte. Die Otter dankt dem Wolfe für ſeine ſchätzbaren Mitteilungen und fteigt dann auf den Hügel über der Höhle, um Ausihau zu halten. Da fieht fie die Feinde allefamt zum Angriff bereit, an ihrer Spite den Fuchs mit der Belehnungsurkunde, “die ihm die Höhle zuteilt. Erjchroden dringt die Otter in den Wolf, er jolle das Kalb freigeben. Da er fich weigert, flieht die Otter dur einen Sprung in den Fluß, der Igel macht fih in den Felſen unfihtbar. Die Burg wird geftürmt; der Wolf, durch Schmeichelreden des Fuchſes aus feiner Höhle hervorgelodt, wird vom Stier an einen Baum gejpießt. Der Fuchs widmet ihm aud hier eine Spottinfohrift und nimmt von der Burg Beſitz. Das gerettete Kalb aber geht mit jeiner Mutter nah Haufe und erzählt ihr unterwegs, was es ausgeftanden.

Mande Züge diefes Tierepos entftammen den äſopiſchen Fabeln, andere dem viel verbreiteten „Phyſiologus“. In Bezug auf die Yorm hat der Dichter vieles (etwa ein Fünftel der Verſe) aus Horaz (Epifteln und Satiren) herübergenommen, vieles auch aus Prudentius (Hamartigenia)

336 Zehntes Kapitel.

und andern driftlihen Dichtern!. Die Tiere find durchweg als Mönche geichildert, werden auch ala Fratres und Gonfratres angeredet, der Löwe als „Abt“ und „Vater“; doch jpielen einzelne Züge aud ins Weltleben hinüber. Die fatirifshen Anjpielungen, an denen das Gedicht reich jein dürfte, laffen fi natürlih nur vermuten, feinestwegs nachweiſen; aber die drollige Erzählung wirkt ſchon für fi ergöglic genug.

Die in die Vergangenheit zurüdgreifende Zwiſchengeſchichte erwähnt König Konrad I., die Haupterzählung König Heinrich 1.

Die Tierfage mit den bereits in der Echasis vorhandenen Hauptgeftalten behielt in Nordfrantreih und den angrenzenden Niederlanden ihre Volks: tümlichfeit und fand ſchon in der nädften Zeit noch mehrfache lateinische Bearbeitung.

Eine kürzere der Isengrimus (in 344 Diftihen), das Wert eines jüdflandrifhen Dichters, mag etwa aus dem Anfang des 12. Jahr: hunderts ftammen?, Sie umfaßt nur zwei Abenteuer: die Krankheit des Löwen und die Wallfahrt der Gemſe. Das erfte dedt ſich ziemlich mit der Darftellung in der Ecbasis; das zweite erzählt Renard, um dem König während deſſen Retonvaleszenz die Zeit zu lürzen. Bertiliana, die Gemie, unternimmt eine Wallfahrt, erſt allein, dann mit fieben Gefährten, welche fih ihr anſchließen. Die Hornbewaffneten, Hirſch, Widder und Bod, bilden den Bortrab. Renarbus ift Neifemarihall, der Efel Laftträger und Tür: hüter, die Gemje Wächter und der Hahn Stundenfager. Iſengrim, zivar bollgefrefjen, aber doch ſchon wieder beutegierig, hat die Pilger bemerkt und ichleiht fih an die Herberge im Walde, wo fie ſich für die Nacht Unterkunft juchen. Renardus hat ihn aber ebenfall® beobadhtet und finnt nun auf eine Lift, ihm zu verſcheuchen. Glücklich trifft er unterwegs einen toten Wolf, an einem Baume aufgehängt: dieſem jchneidet er den Kopf ab und nimmt ihn in die Herberge mit. Wie nun Yiengrim erjheint, um mitzufpeifen, wird ihm der Wolfskopf vorgejegt mit der Bemerfung, dab nichts vor: rätig ſei als fieben Wolfsföpfe. Da der Wolf ftußt, wird der Wolfe: topf abgetragen, aber bald als ein zweiter wieder gebradt und jo als dritter, mit einem Holzftüd gejperrt. Dem Iſengrim wird es nun immer unheimlicher, und troß der wiederholten ſpöttiſchen Einladungen ſchleicht er erihroden davon.

ı Die Gejhichte vom Franken Löwen findet fi bereits im Pantſchatantra (T 11) und ift aus biefem in deſſen vielfache orientalifhe und occidentaliſche Nachkommen⸗ ihaft von Fabelbüchern übergegangen. Die Stelle des Fuchſes nimmt aber der Schafal ein, die bes Wolfes das Kamel, das durch die Lift des Schafals dahin gebradht wird, daß es ſich felbft dem Franken und bungrigen König zur Speife anbietet (Benfey, Pantichatantra I, Leipzig 1859, 230— 234; II 80—85).

2 Bei Jakob Grimm, Reinhart Fuchs, Berlin 1834, 1—24. Kurze Über- fit ebd. zıx—ıeuı.

Das lateiniſche Tierepos. 337

„Die Dichtung iſt mit Geſchick und ſogar mit Gewandtheit behandelt; gleich im Eingang, aber auch an andern Orten (z. B. V. 503—514) zeigt die Darftellung Friſche und Leben, das Geſpräch fügt ſich meiftenteils in angemefjener Bewegung. Es mangelt nicht an Bildern und Bergleihungen... .. Der Dichter ſcheint unter den Klaſſiklern vorzüglih Ovid gelefen zu haben.“

Weit umfangreicher ift die andere Bearbeitung Reinhardus Vulpes, in 6596 Berjen, von dem flandriihen Magifter Nivardus um die Mitte des 12, Jahrhunderts verfaßt!., Zu den zwei Abenteuern des Iſengrimus gejellen fich hier noch zehn andere und bieten ihnen einen höchſt ergößlichen Rahmen.

1. Ylengrim, längft über Reinhard erboft, trifft ifn im Walde und will ihm ans Leben; Reinhard rettet fih nur damit, daß er einem vorbeiziehenden Bauern jein geichlachtetes Schwein abjagt und dem gefräkigen Wolfe über: läßt. 2, Um fi zu rächen, prahlt er bei ihm über feine Methode zu fiſchen, die darin beftehe, den Schwanz ins Waſſer zu halten, der die Fiſche anzöge, und, wenn genug Fiſche angebiffen, fih dann aufs Trodene zurüdzuziehen. Der gierige Iſengrim verſucht das, bis der Schwanz ihm einfriert. Reinhard aber ftiehlt unterdeffen dem Frühmeſſer Bovo feinen Hahn und lodt bie Leute nah dem Weiher, wo die Bäuerin Aldrade dem Wolfe den Schwanz abfappt. 3. Reinhard tröftet ihn und’ ladet ihn ein, als Feldmeſſer einen Rechtsſtreit zu jhlichten, den vier Widder über ein Grundftüd führen. Auf Reinhards Nat ftellt er fih in die Mitte. Denn wo fie zufammentreffen, da ſoll die Grenze fein. Die Folge davon ift, daß fie ihm jämmerlich zer ftoßen, jo daß er faft des Todes ift.

Es folgt nun (4. und 5.), wie im Isengrimus, die Geſchichte vom kranken Löwen und von der Wallfahrt der Gemje Bertiliana. Nachdem aber Iſengrim dor dem ihm aufgetiihten Wolfstopfe zurückgewichen, Hat e8 damit nicht fein Beenden; er ruft no in der Nacht jeine gefamte Wolfsfippe zufammen und belagert mit ihr die Herberge im Walde. Die Pilger find indes aufs Dad geftiegen und machen von hier aus einen jolhen Lärm, daß die Wölfe eingefhüchtert die Flucht ergreifen. 6. Obwohl dur Reinhardus gerettet, trauen Gerhard, der Gänferih, und Sprotin, der Hahn, ihm nicht und geben deshalb die Wallfahrt auf. Vergeblich ſucht Reinhard wenigſtens den Hahn für die Fortſetzung derjelben zu gewinnen. Dagegen weiß er den Hahn vorübergehend durch das Lob feines Gejanges zu berüden; doch wird der Hahn in äußerfter Gefahr no von dem Jäger und feinen Hunden gerettet. 7. Mittels Krapfen, die er von einem Kloſterkoch erhalten, gewinnt Reinhard den Wolf für den Gedanken, ins Klofter zu gehen, macht ihm

ı Heranägeg. von Done (Reinardus Vulpes), Stuttgart 1832, und E. Voigt ‘(Diengrimus, herausgeg. und erklärt), Halle 1384. Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 22

338 Zehntes Kapitel.

jelbit eine Tonfur umd führt ihn ins Klofter Blandinium. Nachdem er ihn hier untergebracht, fchleicht er in Jfengrims Haus und entehrt in ſchimpflichſter Weiſe deifen Weib und Kinder. Iſengrim führt fih im Kloſter über alle Maßen dumm und täppiih auf, zieht im Seller den Fäſſern die Zapfen aus und richtet alles mögliche Unheil an. Die Mönche bearbeiten ihn der: maßen mit Schlägen und Stöhen, daß er fih aus dem Staube macht und nad Haufe eilt. Da findet er jein Weib in einer Schlucht hängend, reitet fie und bernimmt von ihr Reinhards Untaten. Er ſchwört ihm ewige Rache.

8. Die Erzählung greift nun zu der früheren Epijode zurüd, wo der Molf gejhunden den Hof des Königs verläßt. In feiner erbärmlichen Nadt- heit trifft er mit dem Pferde Corvigar zufammen, das eben ein Stord aus dem Schilfgras vertrieben hat. Er verlangt von Eorvigar defjen Haut; der verjpottet ihn exit, ftellt fih daun reuig und fleht um Verzeihung; mie aber Iſengrim den ihm dargebotenen Fuß faflen will, ſchlägt er ihm jo ins Antlik, daß er zu Boden ftürzt. 9. Auf fein Gefchrei kommt Reinhardus herbei, tut jehr teilmehmend und ſchiebt die Schuld, dak der König Iſengrim ent- bäuten ließ, auf den Widder Joſeph. Zu diefem führt er jeinen Oheim und jorgt dafür, daß derfelbe abermal3 geprellt wird. Auf Iſengrims Forderung erbietet der Widder für die Feldmeſſung zwölffahen Zins und dazu nod, jelbft in den Rachen des Wolfes zu jpringen. Diejer reißt den Rachen auf, jomweil er fann. Der Widder ftößt ihn mit feinen Hörnern zu Boden und bringt ihm neue Wunden bei. 10. Neinhardus führt den Löwen als Gaft zu Iſengrim; fie erjagen zufammen ein Halb; der Wolf joll e& teilen, und dieſer jpricht jedem ein Drittel des Kalbes zu. Dafür reißt ihm der Löwe ein Drittel feiner Haut von der Schulter bis zum Schwanz herunter. Nun joll Reinhardus die Teilung vornehmen. Diefer weiſt ein Drittel dem Löwen, ein zweites der Löwin und ein drittes dem jungen Löwen zu; ob er jelbft einen Fuß des Kalbes erhalten joll, überläßt er der Grokmut des Löwen. Wie ihn diefer fragt, von wen er teilen gelernt, jagt er: „Von meinem Oheim!“ 11. Reinhardus rät Iſengrim, von dem Eſel Carcophas, dem Sohne Balduins, eine Haut zu verlangen, die diefer feinem Vater ſchuldig geworden jei. Garcophas verlangt Zeugeneid und führt Iſengrim zu einer Falle, al3 dem Heiligtum, bei dem er ſchwören fol. Das Eijen padt al&- bald des meineidigen Wolfes Pfote, und er kann fi nur dadurch retten, daß er fich jelbit die Pfote abbeikt. 12. Im Walde trifft Iſengrim die alte Sau Salaura, die mehr als fünfzehn Eicheln gefreffen hat. Er jchmeidhelt ihr. Sie verlangt, er foll ihr das Ohr drüden, wenn fie jet ihren Gejang anftimmen werde. Ihr Geſchrei ruft die ganze Herde herbei, die fih auf den armen Iſengrim ftürzt und ihm zerfleifcht. Während er unter Ber: wünſchungen ftirbt, kommt Reinhardus herbei und führt mit ihr allerlei heuchleriihe Reden über den Lauf der Welt. Salaura jhimpit namentlid

Elftes Kapitel. Hroswitha von Gandersheim. 339

über den Papſt, worauf Reinharbus jagt: „Lebte mein Oheim no, er würde jo vermefjene Worte nicht dulden, ſondern den ſchuldloſen Papſt rächen.“

Die Dihtung Hat jehr verſchiedene Beurteilung gefunden. J. Grimm findet die Darftellung „minder gedrängt und gehalten“ al$ die des Isen- grimus, aber „immer noch belebt, verftändig und erfinderifch, was ſich be— jonders in Führung der Gejpräche zeigt” 1; „feine Arbeit zeugt von Verftand, Talent und vielfeitiger Ausbildung; ich denke nicht, daß ihm die Gaben eines der ausgezeichneteren lateiniichen Dichter des 12. Jahrhunderts den Rang ftreitig machen, weder des Hildebert von Mans (F 1133) noch des Matthäus bon Vendöme, des Ägidius von Gorbeil, des Henricus von Septimello, welche etwas jpäter, gegen den Schluß des Jahrhunderts, blühten”?. Gerbinus dagegen nennt das Werk „ein recht eigentlich umleidliches Gedicht“, und ſucht diejes Urteil dann im einzelnen zu begründen. In der Tat ift das Tierepos zu ftarf zur gehäffigen Satire geworden, vieles zu roh und ſchmutzig, zu frech und ausgelafien, als daß der Eindrud ein günftiger fein könnte. „Der Spott ift oft jo frech, mie er jelbfi im Mittelalter jelten jonft ge funden wird.” ®

Elftes Kapitel. Hroswitha von Gandersheim.

Nachdem bereits Heinrich I. (919—936) dem deutſchen Königtum wieder Anjehen und Macht verichafft hatte, erlangte das Imperium Karla d. Gr. dur Otto d. Gr. (936— 973) eine glorreihe Erneuerung, welche ebenfalls der Literatur zu gute kam. Ähnlich wie Karl ſuchte Otto die ihm mangelnde Schulbildung dadurd zu erjegen, daß er in vorgerüdten Jahren noch Latein fernte und Grammatifer, wie Gunzo und Stephan, nad Deutjhland berief. Seine Mutter Mathilde, feine zweite Gattin Adelheid und fein jüngfter Bruder Bruno ftehen nicht nur im Heiligenkalender, ſondern zeichneten ſich auch durch ihre feinere Bildung aus, bejonders Bruno, der fih mit großem Ernft und Eifer ſowohl dem Studium der Alten als der hriftlihen Dichter widmete, als Reichsfanzler und Erzbiſchof von Köln (950—965) eine Haupt: ftüße des lirchlichen Lebens wie der kirhlihen Studien wurde. Sammelte Otto auch feine ſo glänzende Tafelrunde um fi wie Karl, jo bejuchte doch mander gelehrte Fremde feinen Hof, wie der Italiener Liutprand, der Ire Israel, der Lothringer Ratherius und gelehrte Griechen, die geradezu als

ı Yatob Grimm, Kurze Überfiht uxxvan. ® Ebd. cı. » Geihichte der poetifchen Nationalliteratur der Deutjchen I, 3. Ausgabe, Leipzig 1846, 140—143, 22*

340 Elites Kapitel,

feine Lehrer bezeichnet werden. Noch lebhafter erwachte das Intereſſe für griechiſche Literatur und Bildung, als Otto II. (972) jih mit der griechiſchen Kaiſertochter Theophano vermählte. Einer Tochter Ottos, Mathilde, Abtiffin von Quedlinburg, widmete Widukind feine ſächſiſche Geſchichte; Gerberga, die Nichte des Kaifers, Abtiffin von Gandersheim, galt als eine überaus vielfeitig gebildete Frau.

Die glänzendfte Vertreterin der Literatur in diefer Zeit ward indes eine fchlichte Nonne, Schülerin der Faiferlihen Nichte Gerberga, Hrosmitha (Roswitha, eigentlih Hrötsvith oder Hrotfuitha) von Gandersheim !.

Über ihre Perfonalien weiß man faft gar nichts weder Geburts: no Sterbejahr, weder Familiennamen nod Herkunft und weitere Lebens: ſchickſale. Aus ihren Werten erhellt nur, daß fie etwas älter als Gerberga tvar, dem bon dieſer geleiteten Klofter Gandersheim angehörte, da fie durch innere Neigung fi zur Poefie wie zu den Studien hingezogen fühlte, im ftillen und autodidattiich zu dichten verfuchte, zuerft an der älteren Nonne Rikkardis und andern Schweitern, dann an Gerberga treffliche und vieljeitige

' Ihre verichollenen Werke wurden um 1492 (ober 1493) in bem Benebiktiner- ftift St Emmeram zu Regensburg von bem Humaniften Konrab Geltes wieder auf: gefunden und unter dem Titel Opera Hrosvite illustris virginis et monialis ger- mane, gente saxonica orte, nuper a Conrado Celte inventa zu Nürnberg 1501 herausgegeben. Neuausgaben: K. U. Barad, Die Werle der Hrosvitha, Nürn— berg 1858; J. Bendixen, Hrotsvithae Gandersh. Comoedias VI. ad fidem cod. Emmeramensis ed. Lübeck 1857 ; Hrotsvithae opera rec. et emend. P.de Winter- feld, Berol. 1902. Das Gedicht De gestis Oddonis I, abgedrudt bei Pertz, Monum. Germ. Hist. SS. IV 317 ff; De primordiis eoenobii Gandersheimensis (ebd. IV 306). Sämtliche Werke herausgeg. von H. L. Schurzfleiſch, Witten- berg 1707; Migne, Patr. lat. CXXXVII 989—1196. Die Echtheit ihrer Schriften angefohten von J. Aſchbach, Roswitha und Konrad Eeltes (Sitzungs— berite der Afabemie), Wien 1367; 2. Aufl. ebd. 1868; fiegreidh verteidigt von N. Köpfe, Zur Literaturgefhichte des 10. Yahrhunderts, 2. TI: Hrotjuit von Gandersheim, Berlin 1869. Mit Redt führt E. Bernheim (Lehrbuch der hiſto— riſchen Methobe®, Leipzig 1894, 289) Aſchbachs Verſuch als ein abjchredendes Bei- ipiel von Hyperkritik an. Bol. F. Löher, Hrotsvitha und ihre Zeit (Wiflen- Tchaftlihe Vorträge), Münden 1858. €. Dorer, Roswitha, die Nonne von Gandersheim, Aarau 1857. G. Freytag, De Rosuitha poetria. (Difiert.) Breslau 1839. A. H. Hoffmann v. Fallersleben, De Roswithae vita et seriptis. (Differt.) Breslau 1839, 9.0. Walbdberdorff, Hrotfuit von Ganders- beim (Berhandl. des hHiftor. Vereins für Oberpfalz und Regensburg XXIX). Ch. Magnin, Hrosvitha, de la comedie au X"* siècle (Revue des Deux Mondes XX [1839] 441—480); Ph. Chasles, Hrosvita et ses contemporains (ebd. XI [1845] 707—731). W. H. Hudson, Hrosvitha of Gandersheim (The Engl. Historical Review III, London 1838, 431—457). DO. Grashof, Das Benedik— tinerinnenftift Ganberöheim und SHrotiuitha, die „Zierbe des Benebiktinerordens* (Studien und Mitteilungen aus dem Benediktinerorden V—VII [1884-—1886]). K. Streder (Neue Jahrb. f. d. Hafj. Altertum, 15. Sept. u. 15. Ott. 1908).

Hroswitha von Gandersheim. 341

Lehrerinnen fand, auf Anregung der lekteren aud ein größeres Gedicht auf Otto I. verfaßte, das bis zur Krönung Ottos II. in Rom (973) reicht. Sie mochte alfo wohl etwa um 930 geboren fein und nod über 973 hinaus gelebt haben. Ihre innige Vertraulichkeit mit Gerberga legt die Annahme nahe, daß fie aus vornehmer Familie ftammte. Sicher ift dies indes nid. Kein Zweifel kann aber darüber herrichen, daß fie ein großes poetiiches Talent mit einer für jene Zeit bewundernswerten Gelehrjamfeit und Bildung ver: einigte, und zwar in liebenswürdigfter Weile. Nirgends eine Spur bon eitler Selbflüberhebung, fondern eine mädchenhafte Schüchternheit, Anſpruchs- lofigteit und Naivetät, verflärt von inniger Yrömmigfeit.

In ſchlichteſter Offenheit erklärt fie die Nöten, die ihr die Poefie bereitet, welche Hilfe fie dabei gefunden, wie bejcheidene Ziele fie ihrem winzigen Genie (ingeniolum) ftedt, da3 fie doch nicht verroften laffen will. Und da ihr anderweitige, mehrverjprechende Tätigkeit verſagt ift, hofft fie wenigſtens, mit ihren Verslein etwas zum Lobe Gottes beizutragen!. Wie ein Kind ihaut fie zu dem gelehrten Kölner Erzbiihof und Reichskanzler Bruno, dem heim ihrer eigenen jugendlichen Lehrerin, empor:

At Christus, Patris sapientia vera perennis, Tironem refovendo suum clementius istum Ipsi dona dedit tantae praeclara sophiae, Quod non est illo penitus sapientior ullus Inter mortales fragilis mundi sapientes,

Neigung wie Studium führten Hroswitha zunächſt der Epif zu. Sie fand eine lateinifche Bearbeitung des apofryphen Jatobus-Evangeliums; die Legenden jpradhen fie an, und fie verfaßte danah ein Marienleben (in

' Unde, elam cunetis et quasi furtim, nunc in componendis sola desudando, nunc male composita destruendo, satagebam iuxta meum posse, licet minime necessarium, aliquem tamen conficere textum ex sententiis Scripturarum, quas intra aream nostri Gandersheimensis collegeram coenobii. Primo sapientissimae atque benignissimae Rikkardis, magistrae, aliarumque suae vicis instruente magisterio, deinde prona favente clementia regiae indolis Gerbergae, cuius nunc subdor dominio abbatiae, quae aetate minor, sed, ut imperialem decebat neptem, scientia provectior, aliquot auctores, quos ipsa prior a sapientissimis didieit, me admodum pie erudivit. Quamvis etiam metrica modulatio femineae fragilitati difficilis videatur et ardua, sola tamen semper miserentis supernae gratiae auxilio, non propriis viribus confisa, huius carmina opuseuli dactylicis modulis succinere apposui, ne creditum talentum ingenioli, sub obscuro torpens pectoris rubigine, neglegentia exterminaretur, sed sedulae malleo devotionis percussum, aliquantulis divinae laudationis referret tinnitum, quo si occasio non daretur negotiando aliud lucrari, ipsum tamen in aliquod saltem extremae utilitatis transformaretur instru- mentum (Hrotsuithae in Opera sua metrice conscripta Praefatio; Migne, Patr. lat. CXXXVII 1063 1064).

342 Elftes Kapitel.

859 Herametern) unter dem Titel: Historia nativitatis laudabilisque conversationis intactae Dei Genetrieis, quam scriptam reperi sub nomine Sancti Jacobi fratris Domini. Sie war nod ganz jung, ala fie diefen erften poetischen Verfuh unternahm, und mußte nichts Näheres über die Apolryphen und deren Wert. Als fie darüber aufgeflärt wurde, wollte fie da3 angefangene Gedicht nicht verderben, weil fie meinte, was man für falſch gehalten, könnte fi ja noch als wahr herausftellen. Dies war nun freilih nicht der Fall. Wohl aber war die Gefahr teilweiſe entihwunden, welche die Apofryphen in den erften Zeiten boten. Als Poefie aufgefaßt, flößten die darin enthaltenen Marienlegenden keine Bedenken mehr ein, und die junge Dichterin von Gandersheim ftieß damit nicht bloß auf feinen Widerſpruch, ſondern fand eine Menge Nahahmer durdy alle folgenden Jahrhunderte. Hrosmwitha hat aljo hier für eine ganze Art von Poefie Bahn gebrochen, und zwar unftreitig mit Glüd. Ihre Darftellung ift von einem lebendigen Geifte inniger Beihaulichleit getragen, ſowohl da, wo fie den Text des evangeliichen Berichtes in ſchlichten, ungekünftelten Verfen wiedergibt, als auch wo fie der Legende folgt und fich eine freiere und reichere Ausführung gejtatten kann. in ſchönes Beifpiel für das erftere ift ihre Erzählung von Chriſti Geburt, für das letztere die Flucht nach Ägypten. Allerliebft beſchreibt fie da, wie die heilige Yamilie in einer Höhle unterwegs raften will, furdtbare Schlangen aus derjelben hervorkriehen, aber vor dem Ehriftfinde ohnmächtig ih im Staube ringeln, wie das Gottesfind dann felbft feine Mutter und jeinen Pflegevater beruhigt, wie Tiger und Pardel aus der Wüſte herbei: fommen und der heiligen Familie das Geleit geben, eine riefige Palme auf des Kindes Wink ihre Krone herniederfentt, damit die müden Pilger fich an ihren Früchten laben können, die Palme aber für ihre Bereitwilligteit für immer zum Zeichen des himmlischen Triumphes erhoben wird. Dabei wird das Jeſukind wiederholt redend eingeführt, und die Erzählung erhält dadurch dramatiſche Lebendigfeit.

Siehe! das liebliche Kind an der Bruſt der erhabenen Mutter Neigte ſich ſanft und ſprach zur Palme mit frohem Gemüte: „Palmbaum, neige die Wipfel und beuge die ſtolzen Gezweige, Daß von den Früchten die Mutter nad ihrem Gefallen ſich pflücke!“ Alſo ſprach es gebietend; es neigte der ftolzefte Baum ſich, Beugte fih willig und lag zu den Füßen der göttlichen Mutter. Als der reihliden Frucht die gehorfame Palme beraubt war, Blieb fie zur Erde gebeugt und wagte ſich micht zu erheben, Sondern erwartete no den Wink des gebietenden Knaben.

Jeſus fprah zu dem Baum: „Jetzt, Palme, erhebe dich wieder, Denn du mwurbeft erwählt zum Genofjen ber feligen Bäume, Welche des Emwigen Hand in den Gärten von Eden gepflanzt hat. Glänzender Ruhm fei dir für künftige Zeiten beſchieden;

Palme, du glänzeft dereinft ala Zeichen des herrlichften Sieges!

Hroswitha von Gandersheim. 343

Seht ergieße fogleih an beiner gejegneten Wurzel

Mit Harftrömender Flut ſich eine verborgene Quelle!”

Hurtiger warb das Gebot erfüllt, als der Herr es geiproden; Und die Begleiter bes Knaben erhoben mit freudigem Dank ihn, Als fie des friſch entipringenden Quells heilfließende Wellen Schauten, fie ftillten den Durft am lauteren, lieblihen Borne!.

Denjelben Zug treffen wir in einem zweiten Gedicht, das Hroswitha nad einer urfprünglich griechiſchen, aber bereit3 von einem Biſchof Johannes lateinisch überjegten Vorlage verfaßt hat und das die „Himmelfahrt Chriſti“ (in 150 Herametern) feiert. Die Abjhiedsworte Chrifti und jeine Begrüßung im Himmel durd die Chöre der Engel nehmen einen breiten Raum ein.

An diefe zwei Epopden, die man noch bibliih nennen kann, reihen fi jeh8 Legenden aus dem Leben der Heiligen: das Martyrium des hl. Gangolf (582 Berje); das Mariyrium des hi. Pelagius, „des köftlichften Märtyrers, der zu umjern Zeiten zu Cordova mit dem Martyrium gekrönt wurde“ (414 Berje); der Fall und die Belehrung des Vicedominus Theophilus (455 Berje); die Belehrung eines gewiffen verzweifelten Jünglings durch den hl. Bafilius (259 Berje); das Martyrium des HI. Dionyfius (266 Berje) ; dad Martyrium der Hl. Agnes (459 Berje).

Wie in ihrem „Marienleben”, Hält ſich die Dichterin auch in dieſen Legenden mit großer Pietät an die ihr vorliegende Überlieferung, jo daß ih ihre künftleriiche Tätigkeit nahezu ganz auf die formelle Geftaltung be: ihräntt. Darunter ift aber keineswegs die bloße Verſifikation zu verfiehen. Mit dichterifcher Vorliebe und Begeifterung hat fie fich die jeweiligen Stoffe ausgewählt, welche teils den Heroismus des hriftliden Martyriums, teils die Jungfräulichkeit, teils den Triumph der Gnade über Sünde und menſch— lihe Schwäche verherrliden. Und folgt fie num auch im wejentlichen den gegebenen Vorlagen und nimmt mitunter fogar deren Ausdrud in ihre Dar: ftellung herüber, fo behält fie fih doch eine fünftleriishe Wahl und Verwendung vor, fürzt oder erweitert, übergeht einen oder den andern Zug, fügt aud) da und dort Hinzu, um die Erzählung befler zu begründen und zu verbinden, beichreibt eingehender, dramatifiert, haucht dem Bericht mehr poetiſche Stimmung ein und bringt endlich alles in leichtfließende, oft auch melodijche Verſe, welche zwar den funftvollen Bau der großen antiten Klaſſiker nicht erreihen, aber über die Durchſchnittsleiſtungen des Mittelalters doch ent: ſchieden herborragen.

Es liegen fi Hier intereffante Parallelen ziehen, 3. B. zwiſchen ihrer Behandlung der St Agnes:Legende und dem ſchönen Hymnus des hl. Ambrofius wie mit deſſen Profaerzählung vom Martyrium der Hl. Agnes, dann dem

ı fÜberjegt von E. Dorer.

344 Elftes Kapitel.

alten Feltoffizium der Heiligen und dem Gedichte des Prubentius. Ihre Erzählung faßt alles Schöne zufammen, was die früheren Bearbeitungen enthalten, und kann ſich jedenfalls neben denjelben jehen laffen, wenn aud) andere aus ſprachlichen, ftiliftiichen oder äfthetiihen Gründen dieſe oder jene andern vorziehen mögen.

Dem jugendliden Sohne des Stabtpräfeften von Rom, der Agnes feine Liebe gefteht und um ihre Hand wirbt, hält die zarte Jungfrau in den folgenden Worten ihre bräutliche Liebe zu ChHriftus entgegen:

Glaubt ihr wohl, ihr fönntet das Herz, das geweihte, verführen, Welches mit füher Gewalt die Liebe zum Ewigen feifelt ?

Siehe! es fchmücdet mein Haupt das gefegnete Zeichen der Treue! Ehriftus hat mich erwählt; er hat mich feit ihm verbunden !

Ihn allein, den Geliebten, verlangt mein Geiſt zu erfaflen, Nimmer begehrt mein Herz nad fremden Genofjen und freunden! Beiftige Kraft und jeglider Shmud umftrahlen ben Hehren! Alles verbunfelt fein Ruhm auf Erden und droben im Himmel! Vor der Zeiten Beginn erzeugte der ewige Gott ihn,

Gleich an göttliher Macht und glei an Heiliger Würbe!

Ohne Erzeuger empfing und gebar ihn die ebelfte Mutter,

Nährte den eigenen Gott, als Menſch in ben Zeiten erfchienen.

Göttlihe Schönheitsfüle bewundern ftaunend der Sonne Flammende Glut und das mildere Licht des beleuchteten Mondes.

Sonne und Mond verherrliden ihn. Nach feinem Gebote Dienen dem höhern Lichte die raftlos wandelnden Sterne!

Ihn umraufcht das erhabene Lied Tobfingender Engel. Machtvoll ift mein Herr und reih an Güte und Mitleid!

Herrlich leuchtet mein Freund, mein Gott und Einziggeliebter! Ihn nur liebet mein Geift, und er erwäßlte zur Braut mid).

Siehe! es jchmückte der Freunb mein Haupt mit fhimmernder Krone, Und er bejchentte die Braut mit firahlendem edlem Gefchmeibe!

Süße entquillt den Lippen bes Freundes, die Worte des Gottes Laben wie Süße der Milh und ftärfen wie lieblicher Honig.

Lichtreich ſtrahlt das Gemach von Gold und bunten Juwelen, Und er bereitet es einſt der Braut zu ewiger Wonne.

Jubelgeſang erſchallt in den Hallen der bräutlichen Kammer, Freudig vernimmt bie Erwählte das dauernde Lob bes Geliebten!.

In der Schilderung und Ausmalung der Martyrien iſt Hroswitha bei weitem maßvoller und zarter als z. B. Prudentius, ohne daß dabe der Hochfinn der Glaubenshelden ſchwächer hervorträte.

Überfegt von E. Dorer.

Hroswitha von Gandersheim. 345

Literarifch bemerkenswert ift vor allem die Theophilus-Legende und die ihr ähnliche Legende von dem verzweifelten Jüngling, der durch den Hl. Bafilius befehrt wird, da namentlid die erftere als Grundlage und Borläuferin der Fauftjage gilt. Die Belehrung und Buße des Theophilus von Adana fällt in das Jahr 538; der erfte Bericht darüber von einem gewiſſen Eutyhianos | ift jedenfalls jhon vor dem Jahre 572 abgefakt; Paulus, Diakon von Neapel, überjegte ihn ins Lateiniihe und widmete ihn „König Karl“ !. Auf diefer Überjegung fußt Hroswithas Gedicht. Die dramatiſche Lebhaftigfeit der Erzählung hat fie ſchon aus derjelben herübergenommen, die Reden aber mit feinem Geſchmack ſelbſtändig geftaltet.

In der andern Legende verjchreibt fich der Sklave eines gewiffen Proterius dem Teufel, um die Liebe und Hand feiner Tochter zu erhalten; das gelingt ihm denn auch; aber die Ehe fällt unglüdlih aus, er bereut fein furchtbares Bündnis und wird dur die Vermittlung des Hl. Bafilius von demjelben befreit. Die Erzählung ſtammt aus einer Lebensbeſchreibung des Heiligen, weldhe dem Hi. Amphilohus zugejchrieben wurde und ſchon im 9. Jahr: hundert an dem römiſchen Subdiafon Urfus einen Überſetzer fand.

Das Leben des Hl. Gangolf gehörte einer von der Dichterin noch nicht jo entfernten Zeit an. Denn derjelbe war ein Bajall des Königs Pippin, Baterd Karl d. Gr., ein tüchtiger Jäger und Krieger, aber aud ein biederer, frommer und wohltätiger Mann. Nur auf Bitten feiner Freunde vermählt er fich, wird aber von feiner Frau bald ſchmählich betrogen. Eine wunderbare Quelle bringt ihre Schuld an den Tag. Sie geht aber feines: wegs in fi, jondern tötet Gangolf mit Hilfe ihres ehebrecherifchen Buhlen. Wunder geichehen an jeinem Grabe, und da fie deijen jpottet, wird fie jelbft in bärtefter und jchimpflichfter Weile von Gott geftraft.

Der Hl. Pelagius war ein Zeitgenoffe der Dichterin; die Nachricht von jeinem Martyrium erhielt fie von einem Augenzeugen, wahrſcheinlich einem Mitgliede der Geſandtſchaften, die Abd ur Rahman III. in den Jahren 950 und 955 an Dtto d. Gr. ſandte. Er war ein Knabe von dreizehn bis vierzehn Jahren, der ala Geifel in die Hände des Kalifen fiel, durch jeine Schönheit die fündige Lüfternheit desfelben erwedte und, da er diejen helden= mütig zurücdwies, erjt gemartert und dann enthauptet wurde. Die Erzählung ift überaus lebendig und ergreifend durchgeführt.

In der Paifion des Hl. Dionyftus folgt Hroswitha der von Hilduin in Proſa gejchriebenen Vita desjelben.

Weit berühmter als durch ihre poetiſchen Erzählungen ift Hroswitha duch die ſechs Dramen geworden, welche fie, nad dem Vorbilde des Terenz

Nah den Bollandiften wahriheinlih Karl der Kahle (Act. SS, Fehr. 1488); nah Ebert eher Karl der Dicke (Geſch. ber Lit. des Mittelalters III 295).

346 Elftes Kapitel.

und um benjelben zu verdrängen, geichrieben hat. Es find die erſten lateiniſchen Dramen, die uns feit Seneca begegnen, die erften Verſuche einer hriftlihen Dramatik in lateinifher Sprache. Merfwürdig genug, dab fait ein Jahrtaufend verfloffen ift, bevor in der chriftlihen Welt das erfte Drama auftaudte, umd daß abermals mehrere Jahrhunderte dahingingen, ehe fih die Bühne, erft die geiftlihe, dann auch die weltliche, zu einer bleibenden Inftitution der Völker Europas entwidelte. Die Berantwort: lichkeit dafür trifft, wie wir ſchon gejehen, die Haarfträubende Entfittlihung, welcher die öffentlihen Schaufpiele überhaupt bei den Römern, bejonders während der Kaijerzeit, anheimgefallen waren. Das Theater war für alle, die es ernft mit dem Ghriftentum nahmen, zum Gegenftand des Abicheus geworden. Ohne Theater aber hatte natürlih aud die dramatiiche Poefie einen großen Zeil ihres Reizes verloren.

Jener Abſcheu tritt auch bei Hroswitha noch deutlih zu Tage. Sie beablichtigte keineswegs, demfelben entgegenzutreten. Was fie veranlaßte, Dramen zu fchreiben, war die Wahrnehmung, daß in Katholifchen Kreiſen Stüde des Terenz gelefen wurden, eine Lektüre, die fie für unwürdig, ge: fährlih und ſchädlich hielt. Sie wollte etwas Befferes an, deren Stelle jeßen. Sie jagt ganz offen:

„Es gibt manche Katholiten eine Tatſache, von ber wir uns nicht ganz reinwaſchen können —, welche, um ber feineren Vollendung der Sprade willen, die Eitelkeit ber heidnifchen Bücher dem Nuten der heiligen Schriften vorziehen. Es gibt auch anbere, weldhe, den heiligen Blättern noch anhänglich, zwar bie Schriften anderer Heiden verſchmähen, dennoch aber die Phantafiegebilde des Terentius öfters lefen und, indem fie an der Süßigkeit der Sprache ihre Freude haben, ſich mit ber Kenntnis nichtswürdiger Dinge bejubeln. Deshalb habe ih, ‚die fräftige Stimme von Ganderöheim‘ (Clamor validus Gandersheimensis), es nit verfhmäht, den- jenigen durch Diktion nadzuahmen, den andere durch Leſen verehren; damit in der— felben Art der Darftellung, in welcher die ſchmählichen Schandtaten wollüftiger Weiber beflamiert wurden, nad Vermögen meiner geringen Anlagen, die lobwürdige Keuſch-— heit heiliger Jungfrauen gefeiert würbe, freilich befhämt es mich öfters und macht mich fehr erröten, daß ich durch eine ſolche Art der Darftellung gezwungen bin, die verabfheuungswürdige Torheit unerlaubter Liebe und die verfängliden Zwiegeſpräche fiber Dinge, denen wir fein Ohr ſchenken follten, zu behandeln, fie im Geifte durch— arbeiten und ftiliftifh ausführen muß. Wenn ich dies indes aus Scham vernach— läffigte, fo würbe ih mein Vorhaben nicht erreichen, noch bas Lob der Unſchuldigen nad meinen Kräften zur Darftellung bringen; denn je verlodender die Schmeidel- fünfte der Liebenden fich zeigen, deſto erhabener tritt auch der Ruhm bes höheren Gnabenbeiftandes hervor, und befto glorreicher bewährt fi) ber Sieg der Triumpbieren- ben, zumal wo weibliche Gebrechlichkeit fiegt und Mannestraft befhämt wird.“

In dieſer Abfiht und don dieſem Standpunkte aus Hat Hrosmwitha ihren Dramen, mit Ausnahme eines einzigen, das Thema der Liebe als Knoten der Verwidlung zu Grunde gelegt, ohne ſich dabei vor heiffen oder

Hroswitha von Gandersheim. 347

verfänglihen Situationen zu jcheuen!. Im „Gallicanus* wird die Liebe des gleichnamigen Feldherrn Konſtantins d. Gr. zu deffen Tochter Konftantia zum Anlaß, daß die zwei chriftlichen Primicerii Johannes und Paulus in jeine Umgebung fommen und feine Belehrung zum Chriftentum einleiten, welche dann wirklich erfolge. Nun entjagt er der Hand der Sonftantia, die fih längft Gott geweiht; aud feine Töchter werden Nonnen, und er flirbt mit Johannes und Paulus unter Julian den Martertod, Das zweite Stüd „Dulcitius“ ift dadurd merkwürdig, dab in demjelben, ganz ab- weihend von den Grundjäßen der antiten Dramatit, welche das Tragiſche und Komiſche völlig ſchied, die ernfte Handlung durch einige hochkomiſche Scenen unterbrohen wird. Die drei edlen riftlichen Jungfrauen Agape, Chionia und Irene werden von Kaiſer Diocletian dem Präfekten Dulcitius übergeben, weil fie ſich weigerten, fi mit den erſten Würbenträgern des Hofes zu vermählen. Dulcitius läßt fie in einen Küchenraum einfperren und jchleiht fih nachts im denjelben; infolge einer plößlichen Geiſtes— umnadtung aber merft er nicht, daß fich die drei Gefangenen hinter eine Wand geflüchtet haben, und liebkoſt an ihrer Stelle die Töpfe und Pfannen des Küchenraumes. | Scena III. Duleitius. Quid agunt captivae sub hoc noetis tempore ? Milites. Vacant hymnis. Duleitias. Accedamus propius, Milites. Tinnulae sonitum vocis a longe audiemus. Dulcitius. Observate pro foribus cum lucernis; ego autem intrabo et vel

optatis amplexibus me saturabo. Milites. Intra, praestolabimur.

Seena IV.

Agape. (Quid strepit prae foribus? Irena. Infelix Duleitius ingreditur. Chionia. Deus nos tueatur! Agape. Amen. Chionia. Quid sibi vult collisio ollarum, cacaborum et sartaginum ? Irena. Lustrabo. Accedite, quaeso, per rimulas perspieite. Agape. Quid est? Irena. Ecce, iste stultus, mente alienatus aestimat se nostris uti am- plexibus. Agape. Quid facit? Irena. Nune ollas molli fovet gremio, nunc sartagines et cacabos am- plectitur mitia libans oscula.

. ı Die ſechs Dramen bei Migne, Patr. lat. CXXXVII 975 —1062. Deutſche Überjegung von J. Bendiren (Das ältefte Drama in Deutſchland), Altona 1850; franzöfifche Überfekung von Ch. Magnin (Theätre de Hrotsvitha), Paris 1845. Bol. 3. 8. Klein, Gefhichte bes Dramas III, Leipzig 1874, 648—754. U. Ebert, Geſchichte der Literatur des Mittelalters III 314329.

348 Elftes Kapitel.

Chionia. Ridiculum! Irena, Nam facies, manus ac vestimenta, adeo sordida, adeo coinquinata, ut nigredo quae inhaesit similitudinem Aethiopis exprimat. Agape. Decet ut talis appareat corpore, qualis a diabolo possidetur in mente. Irena. En, parat egredi. Intendamus quid illo egrediente agant milites pro foribus exspectantes.

Scena V.

Milites. Quis hic egreditur daemoniacus, velmagis ipse diabolus? Fugiamus, Duleitius. Milites, quo fugitis? State, exspectate, ducite me cum lucernis ad cubile. Milites. Vox senioris nostri, sed imago diaboli. Non subsistamus, sed fugam maturemus; phantasma vult nos pessumdare. Duleitius. Ad palatium ibo, et quam abiectionem patior, principibus vulgabo.

Scena VI.

Duleitius. Ostiarii, introducite me in palatium, quia ad imperatorem habeo secretum.

Ostiarii. Quid hoc vile ac detestabile monstrum, seissis et nigellis panni- eulis obsitum? Pugnis tundamus, de gradu praecipitemus, nec ultra huc detur liber accessus,

Dulecitius, Vae, vae! Quid contigit? Nonne splendidissimis vestibus indutus, totoque corpore videor nitidus, et quicumque me aspieit velut horribile monstrum fastidit? Ad coniugem revertar, quo ab illa quid erga me actum sit experiar. En, solutis crinibus egreditur, omnisque domus lacrymis prosequitur.

Schwarz wie ein Mohr enteilt Dulcitius dem Küchenraum. Seine eigenen Soldaten halten ihn für ein Geipenft und ergreifen vor ihm die Flucht. Höchlich erzürnt rennt er ſelbſt zum Kaiferpalaft, um Diocletian jein Leid zu Magen. Doch die Palaftdiener erkennen ihn nicht, jondern prügeln das Ungetüm mit Fauftichlägen zum Tor hinaus und werfen e3 die Treppen des Palaftes hinunter, Erft zu Haufe, bei feiner rau, kommt er endli wieder zu ſich und ſchwört den drei Chriftinnen jchrediihe Race. Doch wunderbare Hilfe von oben vereitelt die Schmach, die er ihnen zu— gedadht. Agape und Chionia fterben den Martertod in den Flammen, ohne daß ihre Kleider von diejen verlegt werden. Irene, die jüngfte, wird von Engeln auf den Gipfel eines Berges entrüdt, zu weldem die ber- folgenden Soldaten vergeblih emporzuflimmen ſuchen, bis endlih dem Comes Sifinnius der Faden der Geduld reift und er die Jungfrau durd einen Pfeilfhuß töten läßt.

Der Held des drilten Stüdes heißt Calimahus. Er liebt die jchöne Drufiana, die Gemahlin des Andronicus zu Ephefus, eine Chriftin, die mit ihrem Manne in jungfräulicher Ehe lebt. Sie weiſt die Bewerbung mit aller Entſchiedenheit ab; um aber allen weiteren Verwicklungen zu entgehen,

Hroswitha von Gandersheim. 349

bittet fie um einen baldigen Tod und mwird erhört. Calimachus beftiht nun den Wächter des Grabes, Fortunat, um die Leiche zu fehen, und will ihr Gewalt antun; aber eine furdhtbare Schlange tötet die beiden. Dagegen erfcheint Chriftus dem Johannes und Andronicus, die am Grabe Drufianas beten, und fündet ein Wunder an. In feinem Namen erwedt der Apoftel Johannes erft den Galimahus, der ſich befehrt, und dann Drufiana, die aud) die Wiedererwedung des Yortunat wünjht. Da diefer aber die Gnade der Drufiana und des Galimahus beneidet, ftirbt er wieder und wird jeht zur Hölle verdammt.

Schon diejes Stüd hat einige ziemlich gewagte Situationen, von denen eine an Goethes „Braut von Korinth“ erinnert. Noch Heiklere bietet das vierte Stüd, „Abraham“, benannt nad einem Eremiten, der ein verwaiſtes Kind, namen: Maria, ebenfalld in meltfremder Einfiedelei zum Dienfte Gottes aufgezogen hat. Doch zur Jungfrau emporgeblüht, wird Maria bon einem Mönche verführt, verzweifelt an Buße und Belehrung und wird Hetäre. Der greife Pflegevater ſucht fie nun in dem Schlupfwinkel ihres Lafterlebens auf, verlangt eine geheime Zufammentunft, gibt fih ihr zu erkennen, bewegt fie zur Reue und Buße und erlangt, daß fie ſich als heldenmütige Büßerin von ihrem tiefen Falle erhebt. Tief ergreifend ift vorab die Stelle, wo er fi ihr zu erkennen gibt.

Abraham. Jetgzt ift es Zeit, die Hülle abzuftreifen, Die mich verbirgt. Geliebte Tochter mein, Maria, Herzenäfind! Erfennft bu mid, Den Greis, ber väterlich dich auferzog, Der did dem Himmelskönig angetraut? Maria Weh mir! Das ift mein Vater, Lehrer, Abraham! Abraham Was ift dir, Tochter?

Maria. O, wel Jammerlos! Abraham Mer hat getäufcht dich? wer hat dich verführt? Maria. Der Feind, der unfre Stammeseltern ftürzte.

Abraham. Wo ift der engelgleidhe Lebenswanbdel, Den du geführt? Maria. Zerſtört, vernichtet. Abrafam Wo ift der Jungfrau heil’ge Zucht und Scheu, Ein Wunder einft? Maria. Ach, alles ift verloren! Abraham. Was fanır dir jegt dein Faſten, Beten helfen, Dein Waden, alles Ringen, alles Mühn, Kehrft du nicht um, aus lichten Himmelshöhen Geſunken in der Hölle tiefen Schlund? Maria Weh! Wehe! Abraham. Meshalb Haft du mid veradhtet ?

Verlaffen mih? Verhehlt mir beinen Fall? Ich hätte firenge Buße übernommen Für di, mit Ephrem, meinem lieben Freund.

350 Elftes Kapitel.

Maria. Nachdem dem Lafter ih anheimgefallen, Wagt’ ih es nimmermehr, mich bir zu mahı, Die Sünderin dem Heil’gen. Abraham. Wer ift frei Bon Sünde, als der Yungfrau Sohn allein? Maria, Ad, feiner! Abraham. Sünbigen iſt menihlid, in der Sünbe Verharren teufliih. Strenges Urteil trifft Nicht dem, der plötlich fällt, nein ben, ber ſäumt, Don feinem Falle raſch fi zu erheben. Maria. Weh mir Elenden! Abraham. Warum fintft bu Hin Und bleibt dahingeftredt am Boden liegen ? Erhebe dich und höre, was ich jage. Maria. Entſetzen faßte mid, drum ſank ih hin. Ih kann des Baters Mahnwort nit ertragen. Abraham. Schau nur auf meine Liebe. Fürchte nicht! Maria. Ich kann nid. Abraham. Hab’ id nicht um beinetwillen Derlaffen meiner Zelle ftillen Frieden, Die Zucht der Ordensregel abgeftreift, Mit frechen Schlemmern mich zu Tiſch gefekt, Mit loſem Scherz vertaufcht das lange Schweigen, Damit ih unerkannt dir könnte nahen ? Warum jentft beinen Blid zu Boden bu? Warum gönnft du mir feine Antwort mehr? Maria Ad, meiner Schuld Bewußtfein drüdt mich nieder. Wie darf den Blick zum Himmel ich erheben? Wie mit dir reben ? Abraham. Kind, verzage nicht, Derzweille nit. Aus hoffnungslojer Tiefe Erhebe dich und je auf Bott dein Hoffen! Maria. Zu ungeheuerlid find meine Sünden, Sie warfen mid in der Verzweiflung Abgrund. Abraham Schwer ift die Schuld; doc göttlihes Erbarmen Reicht über das Geſchaff'ne weit hinaus. Drum brid des Schmerzes Feſſeln, nübe raid Der Buße FFrift, laß fie nicht träg veritreichen. Wo ſchmählich überquoll der Sünde Greuel, Soll überftrömen jet der Gnade Heil. Maria. Könnt’ ich Verzeihung hoffen, o wie gern Wollt’ ih der Buße Strenge auf mid nehmen! Abraham. Eırbarm dich meiner, der um beinetwillen Sich müde ging. Laß die Verzweiflung fahren, Don allen Sünden die entjetzlichfte. Unrettbar fündigt, wer daran verzweifelt, Daß Gott bes Sünders fi erbarmen will. So wenig als ein Feuerfunke kann Das weite Weltmeer je in Flammen jegen:

Maria.

Abraham,

Maria. Abraham. Maria. Abraham. Maria. Abraham. Maria,

Abraham. Maria,

Abraham.

Maria.

Abraham.

Maria.

Abraham, Maria.

Abraham, Maria.

Hroswitha von Gandersheim.

Sp wenig fann der Sünde Pitterfeit Die fühe Huld bes Herrn jemals verwandeln. Nicht leugn' ich die erhab'ne Herrlichkeit Des göttlihen Erbarmens, aber meine Schuld, Sie ift zu ſchrecklich maßlos nimmer kann Ih je genugtun, je fie würdig büßen. Ich nehme fie auf mid. Nur ehr zurüd Zur heil’gen Stätte, die du haft verlaffen, Und fang ein zweites Dial das Leben an, Dem du entflohn. Ih will nit widerſprechen. Was dur gebeutjt, will ich gehorſam tun. Nun wahrlid, bift du wiederum mein Kind! Bor allen andern follft du Liebe finden! Mit meinem Gold und Puß, was ſoll geichehen ? Berfüg’ darüber als mein Herr und Bater. Was du als Sündenlohn gewannft, wirf weg Mit deinen Sünden. Kann ich's ſchenken nicht Den Armen oder einer Kirde ftiften? Nein. Das ift fein gottgefällig Opfer, was mit Sünde Man fi) erwarb. Dann fort mit aller Sorge!

Der Dlorgen naht. Es dämmert, Lab uns gehn!

O lieber Vater! Geh du mir voran Als guter Hirt, ich folge als dein Schäflein Mit gleihem Schritt.

Nicht jo, Ich geh’ zu Fuße;

Dich jeh’ ich auf mein Pferd. Der rauhe Pfad Soll deine zarten Füße nicht verwunden.

Wie ſoll ich's dir gedenten, wie vergelien,

Daß du mich, des Erbarmens jo Unmwürb’ge,

351

Nicht ſchreckſt noch drängit, vielmehr jo mild und liebreich

Zur Buße mahnit.

Nur eine wünſch' und hoff’ ich,

Daß fürder Gott du dienft in fteter Treue. Don ganzem Herzen, ja mit allen Kräften Will ih e8 tun; und wenn die Kraft verfiegt, An meinem treuen Willen foll’s nicht fehlen. So eifrig du ber Eitelkeit gedient, So eifrig ſollſt du Gottes Willen jegt erfüllen. O dab durch dein Verbienft fi Gottes Wille An mir erfüle!

So lab heim uns fehren! Ya heim! Es ſchmerzt mich jede Zögerung.

Dasjelde Motiv kehrt im „Paphnutius“ wieder, indem der Einfiedler

Paphnutius, tiefbetrübt über das Unheil, das die Hetäre Thais anrichtet,

352 Elftes Kapitel.

fie aufſucht, befehrt und zur firengften Buße bewegt, durch melde fie ſich eines heiligmäßigen Todes und ewiger Glorie würdig macht. Die ver: fänglihen Scenen find hier etwas matter, der Gegenjaß reicher und lebendiger ausgeführt. Das ſechſte Stüd endlid behandelt das Martyrium der drei Schmeitern Fides, Spes und Charitas, der Töchter der Sapientia, melde unter Kaiſer Hadrian nah Rom kamen, um das Chriftentum zu verbreiten. Sie werden einzeln, in drei ziemlich ähnlichen Scenen, vor den Präfekten Amphilochus berufen, zum Abſchwören des Glaubens aufgefordert, von der Mutter zur Standhaftigkeit aufgemuntert, beharren treu und werden ent: hauptet. Die Mutter jelbft beftattet fie und erfleht fih an ihrem Grabe einen baldigen Tod, der ihr aud gewährt wird.

In Bezug auf die Ausführung der ſechs Stüde läßt ſich Hroswitha taum mit Terentius vergleichen, den fie wohl verdrängen, aber nicht eigentlich nachahmen wollte. Sie verzichtete ſchon von vornherein auf die Teilung in Akte, auf eine gleihmäßige Behandlung der Scenen, auf eine Gruppierung, welche dramatiſche Täufhung und Aufführung ermöglichte, ja jogar auf den hergebrachten dramatiihen Vers. Ihre Stüde find ſämtlich in einer Art rhythmiſcher Proja gefchrieben, aber nicht in eigentlihen Verſen; fie find mehr dramatiſche Skizzen, in welden einige Scenen leicht ausgeführt, andere nur faft angedeutet find, als forgfältig durdhgearbeitete Dramen. Ya fie jind eigentlih mehr epiſch als dramatifch angelegt und haben viel Verwandtes mit ihren epifchen Legenden. Eine funftvolle Charakteriftit findet ſich ebenjo- wenig als eine jpannende Verwidlung. Alles ift überaus primitiv und naiv, und dennoch beweijen dieje leicht hingeworfenen Skizzen ein wirkliches drama- tiſches Talent, Geihid für die dialogiſche Form, Intereſſe für die tiefften, ergreifendften Probleme des Seelenlebens, eine frische realiftiihe Beobachtungs— gabe und zugleich Begeifterung für die höchſten fittlichen Ideale.

In geradezu wunderbarer Fülle bieten ihre wenigen Stüde ſchon die Keime der meiften Motive, VBerwidlungen, Charaktere, welche jpäter das ſpaniſche Legendendrama jo Herrlich entfaltet hat. Noch mehr Bewunderung verdient die reine, feufche Energie, mit welcher die Nonne von Ganderäheim alle Anflüge von Prüderie überwunden und die verfänglichſten Situationen jo geftaltet hat, dak dem Verfänglichen völlig die Spite abgebrochen ift, und daß es im Zufammenhang des Ganzen nur der reinen und edeln Abfiht zum Triumphe verhilft.

Ihren Hauptzwed hat Hroswitha wohl nur in geringem Umfang er: reiht. Ihre Dramen haben weder eine höfiiche Dramatik begründet noch auf das mittelalterliche Mofteriendrama eingewirkt. Die weltlich gefinnten Verehrer des Terenz fonnten leicht wahrnehmen, da ihre dramatiſche Sprade und Kunft formell den antiten Meifter nicht erreichte, Strengeren asketiſch 'gefinnten Gemütern aber war das ſchon viel zu viel, was ſie an erotijhen

Zwölftes Kapitel. Chroniften und Geſchichtſchreiber. 353

Motiven in die religiöfe Legende hineinzog, und fie wandten ſich ſcheu von diefen erften Blütenknoſpen einer riftlihen Dramatik ab.

Hroswitha felbft wurde von ihrer Kaijerlichen Freundin Gerberga an— gegangen, in einem größeren epifchen Gedichte Otto I. zu befingen. Sie verjuchte ed, war fi aber far darüber, daß ein Epos im großen Stile über ihre Kräfte ging. Dagegen ift ihr ein ſchönes epiſches Familiengemälde des ottonishen Kaijerhaufes in hohem Grade gelungen, aus welchem Die weltgeſchichtliche Geftalt Ottos I. majeftätvoll hervorragt.

Zwölftes Kapitel. Chroniſten und Geſchichtſchreiber.

Unter den kirchenpolitiſchen Kämpfen, welche das 11. Jahrhundert be— wegten, unter der mächtigen Erregung, welche die Kreuzzüge vom Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Ende des 13. hervorriefen, ging wie unter ge— waltigen Frühlingsſtürmen allmählich die Saat auf, welche die Verbindung des germaniſchen und romaniſchen Volkstums mit der chriſtlich-lateiniſchen Bildung verbreitet und langſam gezeitigt hatte: in den verſchiedenen neuen Völkern Europas entfalteten ſich nacheinander eigene, getrennte Literaturen, eine engliſche, altnordiſche, deutſche, franzöſiſche, provençaliſche, ſpaniſche, portugieſiſche, italieniſche. Die Literatur trat mehr und mehr aus den Kloſter— ſchulen heraus ins öffentliche Leben. Die Laien beteiligten ſich daran, und die größten poetiſchen Talente wandten fi der Pflege ihrer mütterlichen Bollsiprahe zu. Das Latein blieb indes Sprade der Kirche, des Rechts und des diplomatijhen Verkehrs. Während der Kreuzzüge war es ein ge meinſames Band, das die verjhiedenen Völker zufammenhielt und ihren gegenfeitigen Austauſch erleichtert. Es blieb aud die Sprache der Willen: ihaft an den Univerſitäten, welde im Laufe des 12,, 13. und 14. Yahr: hundert3 erftanden, zu Bologna, Salerno, Padua, Paris, Orford, Cambridge, Prag, Wien, Heidelberg, Köln und Erfurt !.

ı ‚Bon ben Feſſeln der Schule macht man fich jeßt frei; die lateinifhe Sprache ift nicht mehr eine fremde, mühjam erlernte, in welder man bie vorliegenden Mufter ängftlih nahahmt, ſondern fie ift bie gewöhnliche Sprache aller geſchäftlichen Ber« handlungen, aller Wiffenfhaft und Kunft, die Sprache bes feineren gefelligen Verkehrs. Es bildet fi eine eigene, den Bebürfniffen und Zuftänden ber Zeit angemefjene Ausdrucksweiſe, in ber man fi mit Leichtigkeit bewegt. Einen jehr bedeutenden Einfluß auf diefe Sprade übt natürlich der kirchliche Gebrauch; nicht nur finden wir überall die Ausdrüde ber Bibel und ber Kirchenväter angewandt, ſondern man er« fennt auch nicht felten den Ehorgefang wieder in bem rhythmifchen Alang ber Profa;

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. m. 4. Aufl. 23

354 Zwölftes Kapitel.

Lateinisch blieb vor allem die reiche Geſchichtsliteratur, wie fie ih an den Fürjtenhöfen, den Dom- und Klofterjchulen bis dahin entwidelt Hatte. Es iſt unmöglich, ihren unabjehbaren Reichtum in einem gebrängten Bilde borzuführen, noch weniger tunlih, ihre einzelnen Erſcheinungen eingehender zu würdigen. Die großen Sammelmwerfe mittelalterliher Geſchichte, wie die Monumenta Germaniae, die Sceriptores rerum Italicarum von Muratori, die franzöſiſche Quellenfammlung Bouquets, die einschlägigen Teile der Bol: landijten und der Mignefhen PBatrologie, die englifchen Urkundenſamm— lungen ufw., find weder völlig abgejchloffen noch erſchöpfend. Was allein Deutihland aufzumweifen hat, it aus den ſummariſchen Darftellungen von Wattenbah und Lorenz nur annähernd zu erſehen. Die Forfhung fördert noch bejtändig neues Material oder bedeutende Ergänzungen zu Tage!.

Eine ganz hervorragende Stelle nehmen in der älteren Geſchichtsliteratur die Lebensbilder der Heiligen (Vitae Sanctorum) ein, durch welche die neueren Länder Europas mit dem Ehriftentum zugleih die hriftliche Ge- fittung erhielten. Sie bilden gewiffermaßen den erllärenden Text zu den Domen, Stiften und Hlöftern, Altären und Heiligenfohreinen, Statuen und Gemälden, Werfen der Kleinkunſt und Miniatur, welche das Andenken jener Heiligen in religiöjfer und fünftlerifcher Weife verewigten und e3 fihtbar und handgreifli bezeugen, daß unfere moderne Zivilifation ihre tiefften Grund» lagen und Wurzeln der Kirche dankt?.

Des Hl. Bonifatius, Golumban, Gallus und anderer ruhmreicher Bahnbrecher der Kriftlihen Zivilifation haben wir ſchon gedadt. Eie wie ihre Biographen fanden Nachfolger und Nadeiferer in den ver— ſchiedenſten Gauen.

So ſchrieb der Frieſe Liudger das Leben feines Lehrer, des hi. Gre— gorius von Utrecht, welcher in großer Anzahl Miffionäre für die Sadjen heranbildete; Altfrid jchilderte dann Liudgers großartige Miffionstätigfeit, welche in der Gründung von Münfter (Mimigarbefort) ihren Abſchluß fand, Weitere Nachrichten über die Sachſen und deren Belehrung bietet das bon Hukbald geſchriebene Leben des hi. Lebuin (Liafwin). Einen viel weiteren Ausblid auf die Chriftianifierung des Nordens eröffnet Rimberts Leben des

häufig find fogar die Sakteife mit unvollfommenen Endreimen verjehen, eine Ente artung, die fhon im vorigen Zeitraum hin umd wieder fi zeigt" (Wattenbad, Deutihlands Geihichtsquellen im Mittelalter II® 5 6).

ı jiberfiht bei A. Potthast, Bibliotheca Medii Aevi I*, Berlin 1896. Sammel» und Miszellenwerfe ber Gefchichtichreiber des Mittelalterd m—coxLvın W. Wattenbah, Deutihlands Geſchichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Berlin 1885; 6. Aufl. ebd. 1893/94. O. Lorenz, Deutſch⸗ lands Geihichtsquellen im Mittelalter feit der Mitte des 13. Jahrhunderts?, Berlin 1876, Histoire littéraire de la France, 32 ®be, Paris 1738 -18898.

® Uberfiht bei A. Potthast a. a. O. II? 1131—1646.

Ehroniften und Geſchichtſchreiber. 355

hl. Ansgar, der jeinerjeit3 daS Leben feines Vorgängers, des hi. Willehad, eriten Biſchofs von Bremen, jehrieb. Der HI. Adalhard, ein Enkel Karl Martells, begründete von Gorbie aus das Kloſter Gorvey, eine Leuchte der jähfiihen Lande, der hl. Meinulf das Nonnenklofter Böddeken. Wandal- bert zu Prüm bejchrieb das wunderbare Leben, das der Hl. Goar am Rhein führte, ein unbekannter Verfaſſer das erſte Leben des Hl. Lambert, des Patron: don Züttih. Der Hl. Rupert führt uns nad Salzburg, der hl. Bernward nad Hildesheim, der Hl. Adalbert nach Prag, der Hl. Ulrich nad Augsburg, der Hl. Wolfgang nad Regensburg. Es gibt feine bedeutendere Stadt, feine Kultusftätte, welche nicht durch das Andenken eines Heiligen geweiht und mit deſſen Lebensgefhichte, Wundern und Gnadenerweifungen aufs innigſte verwachjen wär. Man mag an diefen alten Heiligenleben vielfah den Mangel an nüchterner Tatſächlichkeit, panegyriſtiſche Breite, Wunderſucht, ſtiliſtiſche Fehler der verichiedenften Art tadeln, in ihrer Gejamtheit ftellen fie doch eine große Summe bedeutfamer geſchichtlicher Tat- jahen dar und haben diefelben mit einem Zauber religiöjer Poefie umgeben, welcher Kunſt, Literatur und Leben zugleich gehoben hat.

In innigften Zufammenhang mit den Heiligen und ihren Biographen ftehen vielfadh die Annalen und Chroniken der Klöſter, Bistümer und Stifter. Sp reihen fih 3. B. an die Lebensgejhichte der hll. Gallus und Othmar die Casus $. Galli, eine Klofterhronif, welche mit geringer Unter— bredung (883—890) bis zum Jahre 1233 reiht, an die Lebensgeſchichte der HI. Bonifatius und Sturmius die für die gefamte Reichsgeſchichte be: deutenden Annalen von Fulda, die bis 901 reichen, eine Gefchichte der Übte von Fulda und verſchiedene Einzelfchriften. Won weiterer Be— deutung find au die Annalen von Hersfeld, die Chronik des Regino (die fi zu einer Art Weltgejchichte erweitert), die Annalen von Kanten, die Bistumsgefhichte von Verdun, die Annalen des Prudentius, fortgejegt dur Hinkmar von Reims, die Annalen von Saint-Baaft, das Buch Abbos von der Belagerung von Paris (776—805), die Geſchichte der Bistümer Aurerre und Le Mans, die Chronit von Monte Gaffino, Erchem— pert3 Gefchichte der Langobardenfürften zu Benevent, die von Agnellus ver— faßte Gejchichte des Bistums Ravenna. In der DOttonenzeit mehren ſich dann die Aufzeichnungen derart, daß man faft alle Klöfter und Biſchofs— fige aufzählen müßte, um die Menge der Chroniken, Annalen und kleineren Geſchichtsquellen zu verzeihnen. Walteten im ganzen auc) lediglich praftifche Zwede vor, und fahen es die Chroniften nicht auf eine funftvolle Darftellung ab, fo find doch viele diefer Aufzeihnungen ganz gut und oft fefjelnd ge ſchrieben und bringen in ihrer eigenartigen Darftellungsweije den urwüchſigen poetijchen Geift des Volkes und der Zeit zum Ausdrud. In manden tritt eine reiche, vieljeitige Bildung, in andern fogar gezwungener Schwulft und

23*

356 Zwölftes Kapitel.

Bombaſt zu Tage. Eine kurze Gejamtcharakteriftif ift deshalb nicht möglich. Wir begegnen allen Tonarten des Stils und der Sprache.

Eine ſehr mannigfaltige Gelehrjamteit legt 3. B. Heinrid von Aurerre an den Tag, der in tironifhen Noten Erklärungen zu den aſtronomiſch⸗chronologiſchen Werfen des Beda jchrieb und zum Lobe des hl. Germanus jogar Verſe aus Petronius verwendete. Eine noch viel größere Belejenheit (Horaz, Vergil, Terenz, Ovid, Juvenal, Cicero) zeigt Liud— prand, Kanzler des Königs Berengar und 949 deffen Gefandter in Konftantinopel, fpäter als Flüchtling Gaft am Hofe Ottos und von ihm zum Biſchof von Gremona erhoben, 968 von ihm als Brautwerber für Dtto II. abermald3 nah Konftantinopel entjandt. Seine Antapodofis (Bud der Vergeltung), eine Geſchichte feiner Zeit, welche aber bis in die Zeit Karla II. (des Diden) zurüdgreift, entjpricht zwar nicht allerwegs den Forderungen höherer Geſchichtſchreibung, bietet indes in ihrer „behaglichen, memoirenartigen Art zu erzählen einen Einblid in die Sitten, Zuftände und Dentweije der Zeit, der von höchſtem Wert ift“ 1,

Lange nicht jo viel Gelehrtheit befigt Widufind, der Mönd von Gorvey, welcher es in der Ölanzzeit Ditos I. (967) unternahm, die Ge: schichte der Sachſen zu ſchreiben; es wird ihm oft ſchwer, feine Gedanken in die Sprade Sallufts zu drängen; über mandes war er aud nicht unterrichtet genug; doc die Liebe zu feinem Volke gibt feiner Auffaffung eine lebenswarme Einheit und Kraft, welche nicht nur jehr anziehend poetiſch wirkt, jondern aud treu das Denken, Sinnen und Leben feiner Sadjen jpiegelt. Begeiftert fieht er in Ottos Siegen über die Slaven, Ungarn und Weftfranten den Triumph feines Stammes, den Gott und St Veit an die Spitze der Chriſtenheit geitellt haben.

Ein anderer Sadfe, Thietmar, von 1009 bis 1019 Biſchof von Merjeburg, beihrieb die Errichtung diejes Biſchofsſitzes dur Otto I., deffen Zerftörung durch den zweiten Biſchof Gifiler und die Wiederherftellung des— jelben nad Gifilers Tode, miſchte der Erzählung aber alles mögliche bei, was ihn gerade interejfierte, jomohl was er in andern Büchern gelejen, als was er felbjt erlebt, jo daß fein Buch nicht den einheitlihen Guß bat, der die Chronik Widukinds auszeichnet, aber als Geſchichtsquelle großen Wert beſitzt.

Hermann der Lahme (Contractus), ein Sohn des ſchwäbiſchen Grafen Wolverad, ſchon mit ſieben Jahren der Kloſterſchule von Reichenau übergeben, zeitlebens durch Gichtbrüchigkeit an den Krankenſtuhl gebannt, aber ſonſt lebhaften, tüchtigen Geiftes, erwarb fich bei all jeinen Leiden ein hohes Maß von Kenntniffen und verfaßte neben wertvollen Dichtungen aud)

mWattenbach, Deutihlands Geſchichtsquellen im Mittelalter I 898.

Ehroniften und Geſchichtſchreiber. 357

eine Weltchronit, die von Chrifti Geburt bis auf fein Todesjahr 1054 herab» reicht, viel vollftändiger als alle biäherigen Verſuche, die in diefer Richtung angeftellt worden, und durchweg mit berftändiger Stoffwahl, wenn aud) eine pragmatifche Durchdringung des gejamten Stoffes noch fehlt.

Der ſkandinaviſche Norden fand feinen erften Hiftoriographen an dem Magifter Adam, der 1069 urfundlih als Domſcholaſter von Bremen erwähnt wird, und mit Vergil, Horaz, Lucan wie mit der kirchlichen Literatur vertraut, ih als Hiftoriter beſonders Salluft zum Vorbild erfor. Er jah ſich perfönlih am Hofe des Dänenkönigs Spen Eftrithfon um Auf: ihlüffe um, vermertete forgfältig die Urkunden der Hamburgifch-bremiichen Kirche, zog auch emfig Material aus bereits vorhandenen Werten herbei und verarbeitete e3 in mwohlgruppierter überfihtliher Darftellung.

Als Bermittler zwiihen der griehiichen Welt und dem Abendlande ift Anaftafius bemerkenswert, von 867—879 Bibliothefar der römischen Kirche. Lange iſt ihm der jog. Liber Pontificalis zugejhrieben worden, ein chroniſtiſches Werk über die römiſchen Päpfte, daS von Petrus bis in das Pontifikat Hadrians IL, aljo in die Zeit des Nnaftafius, reicht, jpäter nod weitergeführt wurde. Diejes bedeutjame Werk, zum Zeil ein Quellen: werf eriten Ranges, hat aber nicht ihm zum Verfaffer, fondern ift vom 6. Jahrhundert an gruppenweife entftanden. Dagegen hat Anaftafius viele griehiihe Schriften, darunter die Akten des fiebenten allgemeinen Konzils, ins Lateiniſche übertragen. Von hervorragender Bedeutung ift auch jeine Überfegung der vereinten Geſchichtswerle des Theophanes, Nicephorus und Georg Syneellus, wenn aud die umfaffendere Kirchengefhichte, welcher dieſe Überfegung einverleibt werden ſollte, nicht zur Vollendung gelangte und jein Latein ſchwerfällig, oft ziemlih barbariih ift. Einige Jahrhunderte weiter reicht die KHirchengeichichte, welche Ordericus Bitalis, Abt in der Normandie, um 1140 in dreizehn Büchern vollendete. Noch umfangreicher ift diejenige des Dominitanerd Bartholomäus von Lucca, auch Ptolemäus de Fiadonibus genannt, welche jih in vierundzwanzig Büchern bis zum Jahre 1312 erfiredt.

Einen trefflihen Gejhichtichreiber erhielt die fränkiſche Kirche an Flodoard, der, um 893 geboren, 936 Nom bejuchte, 948 der Synode von Ingelheim beiwohnte, 952 zum Biſchof von Tournay gewählt wurde, aber an der Befigergreifung feines Bistums gewaltjam verhindert, feine Tage 966 als Abt zu Reims beſchloß. Seine „Geihichte der Kirche von Reims“ (die in vier Büchern von den ältejten Zeiten bis 948 reicht) ſowie jeine „Annalen“ zeichnen fih durch jorgfältigfte Kenntnis alles archivaliſchen Material3, Genauigkeit, Treue und Zuverläffigkeit aus und find für die Staats-, Kirchen und Literaturgeihichte Frankreichs von herborragendfter Bedeutung.

858 Zwölftes Kapitel.

Der große Kampf zwifhen Papfttum und Kaiſertum um die kirchliche Freiheit und Selbftändigfeit, weldde mit den Fragen über Laieninveftitur und Gölibat untrennbar zufammenhing, beſchäftigte viele Schriftfteller. Der herborragendfte derjelben ift Lambert von Hersfeld, ein Thüringer, der erjt als gereifter Mann (1058) ins Klofter trat, kaum aufgenommen ohne Erlaubnis des Abtes eine Pilgerfahrt nad Ierufalem unternahm, dann aber reuig ins Stlofter zurüdkehrte und fürder treu zur Kirche hielt. Bis - zum Jahre 1040 find feine Angaben ziemlih fpärlih, dann werden fie immer reihhaltiger und entwideln fih 1073 bis 1077 zur umfafjendften Erzählung. Über die Verhältniffe durchweg wohl unterrichtet, den berechtigten Forderungen des Kaiſertums nicht abgeneigt, aber fie nad) ftreng objektiven Normen bemejjend, maßvoll in feinem Urteil und in feiner Darftellung, läßt er die Vertrautheit mit Salluft und andern Slaffitern durchblicken, ohne fie mühſam nachzuahmen, in Sade wie Form ein tüchtiger, felbftändiger Hiftorifer. Merlwürdig ift die Nachricht, Lambert habe in jungen Jahren denjelben Zeitraum zuerft in einem Epos behandelt, dieje Form aber auf: gegeben, weil ihm Mangel an Wahrheit vorgeworfen worden ſei. Es dürfte wohl hiermit ein allgemeiner Grund angedeutet fein, weshalb bei jo über: reihem epiſchen Stoff die kräftigſten Talente fi eher dem praftijchen Leben oder der Gejchihtihreibung zumandten, indem die merkwürdigſten Ereigniffe nod zu nahe lagen, als daß die Zeitgenoffen eine freie poetifche Behandlung derjelben ertragen hätten, das Öffentliche Leben aber jelbft zu bewegt war, als daß die Verherrlihung älterer Zeiten viel Eindrud Hätte machen können.

Der Belgier Sigebert, Mönd zu Gemblour, war weniger mit der Politit Gregor VII. einverftanden als Qambert, im ganzen aber doch kirchlich gefinnt. Er gab fid) große Mühe, die legendarifchen Überlieferungen der Kirchen: geihichte mit der Chronologie in Einklang zu bringen, und jo erwuchs feine anjehnliche Chronik, welche fih mit dem Jahre 381 an Eufebiug-Hieronymus anſchließt und bis 1111 reicht. Andere ſetzten fie dann bis 1148 weiter.

Die umfaffendfte Weltchronit aber jchrieb Ekkehard, Mönd in dem Klofter Aura (bei Kiffingen), der 1101 eine Pilgerfahrt nah Jeruſalem machte, 1106 dem Konzil von Guaftalla beimohnte und 1108—1125 das Klofter Aura leitete, wieder ein viel gereifter und viel ftudierter Mann. Mit ausdauerndftem Fleiße hat er manche Zeile wiederholt neu durdhgearbeitet. Reihhaltigkeit und gute, überfichtliche Anordnung, gefundes Urteil und Hare, gefällige Sprache machen das Werk zu dem beiten dieſer Art.

Auf ide fußen zum Teil die Chronif und andere Hiftorifche Arbeiten des gelehrten Biſchofs Otto don Freifing!, Halbbruders des Königs

I! Seine Werke herausgeg. von R. Wilmans in ben Monum. Germ. SS. XX 83—496. Literariihe Charakteriftif ebd. XX 93—100.

Ehroniften und Gefhichtfchreiber. 359

Konrad und Oheims Friedrichs I. Barbaroffa, der, in Paris gebildet, ſich erft dem Eiftercienferorden anſchloß und Abt des Kloſters Morimund tward, bald aber, zum Biſchof von Freifing erwählt, in die Neihe der einflußreichften Kirhenfürften trat. Die fieben erften Bücher feiner Chronik find annaliſtiſch gehalten; doch zeigt fih da und dort eine geihichtsphilofophiiche Auffafjung, weldhe im achten Bud dann vollftändig in den Bordergrund tritt und nad) dem Vorbilde des Hl. Augufiin in feinem Werfe De civitate Dei die Shidjale der Welt in die erhabenfte religiöfe Beleuchtung rüdt. Weit reicher an geihichtlichen Einzelheiten find feine (fpäter von Ragewin fortgefegten) „Zaten des Kaifers Friedrich“. In beiden Werken hat der ausgezeichnete, in der Theologie wie in den Faiferlihen Archiven wohlbewanderte Kirchenfürft aud der Darftellung große Sorgfalt zugewandt und dürfte den Klaſſikern des Mittelalterd beigezählt werden, wenn diefe Ausdrudsmeile üblich wäre.

Denjelben Namen verdiente für die Zeit der Sreuzzüge Wilhelm von Tyrus. Er wurde um 1130 in Syrien oder Paläftina geboren, machte aber feine Studien im Abendlande, wahriheinlih zu Paris, warb 1167 Arhidiafonus in Tyrus, im folgenden Jahre Gefandter in Konftantinopel, 1170 Erzieher des Prinzen Balduin und, als diejer als Balduin IV. (1170) König wurde, defien Kanzler und 1175 Erzbiihof von Tyrus. Im Jahre 1178 wohnte er dem Laterankonzil bei, um 1185 ift er geftorben. Er hat zwei größere Geſchichtswerke Hinterlaffen. Das erfte behandelte die Geſchichte des Orients bon Mohammed bis herab auf feine Zeit. Es fußte ganz auf arabiihen Quellen, bejonder8 dem Geſchichtswerke des Patriarchen Eutychius (Said:ibn:Batrif) von Alerandrien. Es ift leider verloren. Das andere behandelt die Geſchichte der Kreuzzüge und des Königreichs Jerufalem von 1095—1184 in 23 Büchern. Das lebte vermochte Wilhelm indes, über: wältigt von Schmerz über das namenloje Unglüd des Heiligen Landes, jeiner Heimat, nicht mehr zu vollenden,

„Es läßt feine ber Forderungen, die man an einen großen Geidhichtichreiber macht, ganz unbefriebigt. Er war in der Lage, fich ben reichlichſten Stoff verſchaffen zu fönnen; bie Gejundheit bes Urteils, bie überall das Wahre herauszufinden weiß, bie Unbeftechlichfeit eines hohen Sinnes, die ben Beruf bes Geſchichtſchreibers in feiner ganzen Größe auffaßt, zeigt fih auf jeder Seite. Dazu befißt er in hödhfter Ausbildung jene Eigenjchaften, welche der Geſchichtſchreiber mit dem Dichter gemein haben muß, vor allem die Gabe ber anjhaulihen Darftellung. Wer ein lebendiges Bild von jener Zeit befommen will, wird es nur durch dieſen Geſchichtſchreiber erhalten, ber jein Werk in berjelben Begeifterung niederſchrieb, welche bie Kreuzzüge hervorrief, und ber felber einer ber größten Charaktere jener Periode war, beren ge— lehrte, kirchliche und politifche Bildung er in ſich vereinigte,“ ?

u. R. Kaudler, Geſchichte der Kreuzzüge und bes Königreichs Jeru— falem, aus dem Lateinifchen des Erzbifhofs Wilhelm von Tyrus?, Stuttgart 1844, Vorwort ıv.

360 Zwölftes Kapitel.

In ungünftigem Gegenjab zu Otto von Freifing und feinen Fortſetzern Ragemwin (Rahevin) und Otto von St Blafien (der die Chronik bis 1209 weiterführte) fieht Gottfried von Viterbo, deifen Ablunft und Nationalität nicht fiher bekannt if. Er war lange Jahre hindurch Hof: faplan König Konrads und dann Friedrich Barbaroffas, in deren Dienften er bon Deutihland aus vierzigmal nah Rom kam und noch viele andere Sendungen nah Sizilien, Franfreihd und Spanien übernahm. In feinen Mupeftunden dichtete er zuerft für den jungen König Heinrih VI. den „Königsipiegel“ (Speculum Regum), worin die Franken von den Römern abgeleitet und beide Völker zugleih in Karl d. Gr. verherrliht wurden, dann eine Fortſetzung dazu, welche die Taten Friedrichs I. feierte, flocht dann beide Gedichte in eine Art Weltchronif ein, die er zuerft Memoria Saeculorum, dann nad mehrfahen Umarbeitungen (1186 bis 1191) das „Bantheon“ nannte, ein wunderliches Gemengjel von Geſchichte und Sagen und Fabeln aller Art, von Proja und Verſen!. Dabei führte er die Neuerung ein, die metrifchen Partien nicht in Diftichen oder Herametern abzufafen, jondern je zwei Hexameter mit einem Pentameter zu unterbreden, ein nicht bloß ungemwohntes, jondern auch in ſich unharmoniſches Gefüge. Stoff: ich schließt das Pantheon eine Menge poetifher Sagen und Fabeln ein und zeugt darum von einer gewiſſen poetifhen Veranlagung des Verfaſſers. Das meunzehnte Buch 3. B. enthält eine finnige Auslegung des Taijerlichen Krönungsfhmudes. Im achtzehnten Buch findet fi neben andern englifchen Stoffen auch ſchon ein Teil der Merlin: und Artusjage in der eben ans gegebenen Weiſe verfifiziert. Die künftige Geburt des Königs Arthur ver— fündet der „Prophet“ Merlin folgendermaßen:

Hic erit Arturus rex summus in orbe futurus,

Proelia gesturus, loca Gallica rex habiturus, Nomine magnus erit, vulneribusque perit.

Nec perit omnino, maris observabitur imo. Vivere perpetuo poterit ex ordine primo: Ista tibi refero, cetera claudo sinu.

Arturi qui tantus erat, si bella requiris, Omne solum variis potuit devincere miris, Viribus et gladiis praefuit ipse viris?,

Ein ſolches maffenhaftes Hineintragen von Sagenftoffen und jagenhafter Ausihmüdung in die Gefhichte konnte auf die Geſchichtſchreibung natürlich

! Godefridi Viterbensis Pantheon seu Memoria Saeculorum, herauägeg. von Muratori (Script. rer, Italic. VIII) und Migne, Patr. lat. OXCVII 871 bis 1044.

® Migne a. a. D. CXCVIII 1008.

Chroniften und Geſchichtſchreiber. | 361

nit günftig wirken. Nimmt darum aud bon dem 13, Jahrhundert an die Zahl geſchichtlicher Schriften zu, fo ift in der Geſchichtſchreibung jelbft ein deutlicher Verfall bemerkbar. Hochſtehende Männer, Reihsfürften, Kirchen: fürften nehmen ſich derjelben kaum mehr an; fie gerät zufehends in bie Hände der Bürgerlihen, zeriplittert ih mehr und mehr ins Lofale. Die Bettelorden widmeten ſich vorzugsweiſe der Predigt, den theologiſchen und philoſophiſchen Studien, der Asleſe. Auf praktiſche Ziele in diefem Sinne find die Sammelwerke berechnet, die uns nun begegnen, wie die „Goldene Legende“ (Legenda Aurea) des Yacobus a Voragine, eined Dominifaners, der 1292—1298 Erzbifhof von Genua war; das große Legenden- und Evangelienbuh de3 Thomas don Chantimpré (Cantipratensis) und die Wundergefprädhe des Eiftercienfers Gäfarius von Heilterbad, ausgezeichnet durch die jhlichte, Fromme Anmut der darin gebotenen Er: zählungen, die für die KHulturgefhichte jener Zeit überaus reichhaltig find. Eine Schatzkammer der mertwürdigften Sagenpoefie für den ſtandinaviſchen Norden bildet die (bis 1168 reichende) „Dänische Geſchichte“ des ſeeländiſchen Ritters Saro Grammaticud, aus welder Shafefpeare die Geftalt feines Hamlet erhalten hat.

Die „Goldene Legende” !, deren urfprünglicher Zitel einfach „Legende der Heiligen“ lautete, erlangte in den nächſten zwei Jahrhunderten eine Verbreitung, wie jie nur wenigen Schriften des Mittelalters zu teil ward. Die Handidriften find faft unzählbar; bis 1500 einihließlih zählt man über fiebzig lateiniſche Drude derfelben, dazu dreizehn niederdeutiche, acht italienijche, fünf franzöfifche, je drei englifhe und böhmiſche Druckausgaben. Schon von den Humaniften wurde fie ſowohl wegen des Inhalts als wegen der Form ftark angefochten.

„Wie unmwürdig ber Heiligen und aller Chriſtenmenſchen“, jchreibt ſogar Ludwig Vives, „ift jene Geſchichte der Heiligen, welche die ‚Goldene Legende‘ genannt wird. Ih weiß nicht, warum man fie bie goldene nennt. Ein Dann mit eifernem Mund und bleiernem Herzen Hat fie gefchrieben. Was kann man Häßlicheres nennen als dieſes Buh? Was ift es für uns Chriften eine Schmach, daß bie auögezeichnetften Zaten unferer Heiligen nicht richtiger und forgfältiger aufgezeichnet find, fowohl für die Kenntnis ala Nahahmung fo großer Tugend!“

Johannes Bolland, der Begründer des großen Bollandiſtenwerles, mweift diejen Ausfall als ungerecht umd übertrieben zurüd und fchreibt ihn dem Einfluffe des Erasmus zu, deſſen fede Kritik nichts unangefodten ließ und

ı Neuere Ausgaben von G. Brunet (franzöfiih), Paris 1848; Th. Gräffe, Dresden und Leipzig 1846; 2. Aufl. 1850. Kiteraturangaben bei Chevalier, Röpertoire, col. 1150 2666. Bgl. R. v. Noftiß-Riened, Art. „Jacob be Boragine‘, in Wetzer und Weltes Kircdhenlerifon VI? 1178—1182.

® De caussis corruptarum artium c. 2,

362 Zwölftes Kapitel.

vieles verurteilte, was er jelbft nicht genügend kannte. Er hält Jatob de Voragine deshalb für entjchieden glaubmwürdiger, wenn er auch zugibt, daß eine forgfältigere Aufzeihnung der Taten der Heiligen wünſchenswert gewejen wäre.

Wie die zahllofen Einzellegenden jener Zeit war aud die Sammlung der ſog. „Goldenen Legende“ nicht auf ein fireng geſchichtliches Werl, jondern auf ein vollstümliches Erbauungsbud berechnet, welches den Geift und die Macht der Heiligen zum Ausdruck bringen, zu ihrer Nahabmung und An- rufung anregen follte, Über den tindlihen Glauben an das Wunderbare, der darin hervortritt, gilt die Bemerkung Friedrichs von Hurter:

„Haft alle Schriftfteller diefes Zeitalter (12. und 13. Jahrhundert) berühren dergleihen außerordentliche Greigniffe, einige haben jogar Samm— lungen derjelben angelegt: insgefamt Beweife, wie allverbreitet, wie in das Leben eingegangen der Glaube an Wunder gewejen ſei. Manchen berjelben fieht man mohl das Märdenhafte an; andere dürften durch den Schmud, womit Tatſachen allmählich umgeben wurden, diefe Geftalt gewonnen haben; bei einzelnen möchte die Kritik, injofern fie mit bloßem Berneinen ſich nicht gleichftellen will, ihre Unzulänglichkeit erklären. Wofür man fi auch entjcheiden möge, eine Wahrheit liegt unverlennbar in diefer Wunder: fülfe, daß diejelbe auf den Wandel von Taufenden und Zaujenden ohne Einfluß nicht bleiben fonnte. Es muß doch dadurch manches Chriſtenherz geweckt, es muß doch dadurch mancher Chriſtenwille gelenlt, es muß doch dadurch manches Chriſtenleben bewahrt worden ſein. Man mag unbe— denklich viele dieſer Wunder kindiſch, ungereimt nennen, dennoch blickt durch dieſe Schlade das Gold der Anerkennung einer alles erfüllenden, in allem waltenden, allenthalben gegenwärtigen, die Frommen väterlich beſchirmenden, die Wankenden erjhütternd mahnenden, die Frebler oft furdtbar zermal: menden höheren Macht.“ *

Das wachſende Intereffe für das Mittelalter und deſſen bunte Lebens erjcheinungen hat übrigens die gute Yolge gehabt, daß auch dieſe mittel- alterlihen Legendenfchriftfteller und Legendenfammler richtiger aufgefaßt, ge: rechter gewürdigt und liebevoller aufgenommen worden find, als e& in den Zeiten des Humanismus und der Glaubenstrennung möglih war.

„Gäfarius von Heiſterbach, der einft jo verjpottete Typus mittelalter: licher Dumpfeit, gilt jetzt als einer der intereffanteften Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts, als eine Hauptfundgrube für Kulturgefhichte, Mythologie und Sagenfunde, als gejhäßter Biograph und gelehrter Theologe, bejonders

! Acta SS. Bolland. lanuar. I xıx f.

? $r. dv. Hurter, Innocenz II. IV 537. Bgl. St. Beiffel, Die Ver— ehrung ber Heiligen und ihrer Reliquien in Deutfchland während der zweiten Hälfte des Mittelalters, Freiburg 1892, 106—111.

Ehroniften und Geſchichtſchreiber. 363

auf dem Gebiete der Moral und Homileti. Man rühmt ihn endlich als gewandten Erzähler und Darfteller, der in zwei novelliftiihen Werfen Ernftes und Erjchütterndes wie Anmutiges und Launiges zu ſchildern ver: fanden Hat.“ !

Wie in diefen geiftlihen Legendenbüchern ji ein feſter gefchichtlicher Kern vielfach mit dichterifhen Ausihmüdungen und fogar freien Erfindungen verbindet, jo hatte ſchon lange aud auf profanem Gebiete die Geſchichte der Sage die Hand gereicht. Das ſchönſte und einflußreichfte Werk dieſer Art find „die Taten Karls des Großen“ beidhrieben von dem „Mönche von St Gallen“, der Kürze halber wohl aud) einfad Monachus Sangal- lensis genannt?. Es wurde in den Jahren 884—887 niedergejchrieben, auf Wunſch Karla des Diden, der im Dezember 883 einige Zeit im Kloſter verweilte. In einem Kranz der gemütlichften Anekdoten und Erzählungen tritt hier die Geftalt des großen Kaiſers vor uns, wie fie in der Erinnerung der Mönche, der Krieger, des Volkes weiterlebte, verflärt von der lebendigen Glaubensinnigfeit, die in ihm hauptfählih den Schutzherrn der Kirche und der höchſten geiftigen Güter erblidte. Der erfte Teil beihäftigt ſich denn auch zunächft mit der Frömmigkeit Karls und mit feiner Sorge für die firhlichen Angelegenheiten, der zweite erft mit feinen Sriegsfahrten; ein dritter Zeil hätte wahrſcheinlich noch das häusliche Leben des Kaiſers ſchildern ſollen, ſchon der zweite aber bricht beim 31. Kapitelchen unvoll: endet ab. Man kennt nicht einmal den Namen des alten Möndes, der die bunten Geichichten gefammelt hat, in St Gallen jelbft hat fich feine Handichrift derfelben erhalten; aber auswärts wurden fie mit Einhards Geſchichtswerk vervielfältigt und haben viele jpätere Poeten mit Stoff ber: jorgt. Die kurze Einleitung rüdt das anziehende Bild in die erhabenfte, weltgeſchichtliche Beleuchtung.

Wie wunderlich aber die Karlsſage ſich ſpäter weiter entwickelte, davon geben die Gesta Caroli Magni der Regensburger Schottenlegende ein höchſt merkwürdiges Zeugnis 3,

ı %. Raufmann, Wunberbare und denkwürdige Geſchichten aus ben Werten bes Gäfarius von Heifterbah 1. ZI (Annalen bes hiftor. Vereins für den Nieder: rhein XLVII, Köln 1888, 2). Vgl. die ebenjo trefflihe Monographie besjelben Ber: fafiers, nach deſſen Tode von H. Cardauns herausgegeben, über ben Gäfarius geiftesverwandten „Thomas von Ehantimpre*, Köln 1899. A. Meifter, Die Fragmente der Libri VIII Miraculorum bes Cäſarius von Heifterbah, Rom 1901.

® SHerauögeg. bon Pert (Monum. Germ. Hist. SS. II 726—763); Jaffé (Bibliotheca IV 619—700); Migne (Patr, lat. XCVIII 1369—1410); überjegt von W, Wattenbad, Berlin 1850; 2. Aufl. 1877,

s A. Dürrwädter, Die Gesta Caroli Magni der Regensburger Schotten« legende zum erftenmal ebiert, Bonn 1897.

364 Dreizehntes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Epiſche Berfude und hiſtoriſche Zeitgedichte.

Zahlloſe Scharen ſpäterer Dichter haben aus den Chroniken und Legendenſammlungen des Mittelalters Stoff und Anregung geſchöpft; das Mittelalter ſelbſt aber iſt zu keinem weiteren lateiniſchen Epos gelangt, das gleich den Epopöen des Altertums die kommenden Jahrhunderte über— dauert hätte.

Eine bevorzugte Stelle nimmt in der Epik des Mittelalters, wie ſchon früher, die Heiligenlegende ein. Wohl fein Dichter ſeit Prudentius hat fie aber in jo umfafjender Weiſe bearbeitet, ihr Weſen und ihre Bedeutung jo tief und großartig erfaßt als der bereit3 erwähnte Flodoard, der Geſchicht— ihreiber von Reims, in einem Werke, da3 er (etwa um das Jahr 938) dem gelehrten Erzbiihof Rotbert von Trier mwidmete!. In drei Büchern bat er die Heiligen Paläftinas, in zwei andern diejenigen von Antiochien, endlih im vierzehn Diejenigen Italiens bejungen, jo daß jeine Legende Morgenland und Abendland, ja in ihren Hauptumriffen nahezu die ganze Kirchengeſchichte des erften hrijtlihen Jahrtaujends umſpannt. Den einheit- lichen Grundgedanfen, welcher die bunte Geftaltenfülle zufammenfaßt, drüdt der Zitel aus: „Von den Triumphen Chriſti und feiner Heiligen“ oder, noch genauer gefaßt, „Von den Triumphen Chrifti in feinen Heiligen“. Die „Anrufung” an der Spite des Gedichtes reiht die Legende, unter einem nod weiteren Nusblid, der geſamten Weltordnung ein und erklärt aufs befriedigendfte die hohe Wertſchätzung, melde die Legende der Heiligen im Leben und in der Poefie des Mittelalter wie der katholiſchen Völker durch alle folgenden Jahrhunderte gefunden hat. |

Gott! unendliches Licht! der du ftrahlend erhelleft das Weltall,

Der du mit ewigem Glanz den Äther lieblich durchfluteſt,

Der bu den Himmel geſchmückt mit zahllos funfelnden Sternen,

Der bu vom Meere bas Land mit göttlihem Machtſpruch geſchieden, Babft den Beihwingten bie Luft, den Schwimmern die Wogengefilde, Statteteft aus mit Gräfern und Wald die grünenden Fluren,

Füllteft fie an mit unenblien Reihen ber lebenden Wefen,

Hoc über alle beftellteft den Menihen zum König der Schöpfung, Der du nad) göttlihem Bild haft feine Züge geftaltet,

Ihm die Seele verliehn, geformt nad himmlischen Gleichnis,

! Flodoardi Canonici Remensis Opuscula metrica. De triumphis Christi Sanctorumque Palaestinae libri tres (Migne, Patr. lat. OXXXV 491—550); De triamphis Christi Antiochiae gestis libri duo (ebd. CXXXV 549—596); De triamphis Christi apud Italiam libri XIV (ebd. CXXXV 595-886). Bgl. Histoire littöraire de la France VI 318— 8329. Bähr, Geſchichte der röm. Literatur im Raroling. Zeitalter 274.

Epifche Verſuche und Hiftorijche Zeitgebichte. 365

Und, mit dem ftrahlenden Kranz erhabenen Lichtes gefrönet, Glorreih über die Schar ihn ber Übrigen Weſen erhoben.

Als er durch finftre Gewalt fich trennte vom ewigen Lichte, Und in die Tiefe verſank, verdammt zum nädtlihen Abgrund, Sandteft zum Lehrer bu ihm das Licht, das ftrahlende, felber, Niefeft ihn wieder zu bir und fhidteft ihm himmlische Führer, Daß bie göttlide Macht fi zeigte im höchſten Triumphe.

Du, erleuchte mein Gerz, du Lit vom ewigen Lichte,

Du, erfülle den Geift, auf dab bie erhabenen Siege

Feiern möge mein Lied, mit denen bu Fröneft die Deinen !

Laſſe die göttliche Kraft durchdringen mein Sinnen und Fühlen, Daß mein Singen und Flehn verherrliche beine Triumphe

In den Yüngern, die bu im Himmel befrönft und auf Erben. Denn auf ben Schwingen der Tugend fie fireben empor zu ben Sternen Und bes Abgrunds Ziefen mit himmliſchem Licht fie durchdringen, Goldene Blüten und felige Frucht fie dankend dir tragen;

Über die Reiche der Welt erhebt fie ihr Glauben und Hoffen Siegreih empor und madet fie würdig des himmlischen Thrones, Wo fie in feliger Luft am Quell des Lichtes ſich Taben

Und erhellen die Welt mit ihren Taten und Worten !.

Das ift der Standpunkt des Dichters. Don einer Vergötterung oder Anbetung der Heiligen, wie im Heroenkult der Alten, ift nicht die leiſeſte Spur. Alfe ihre Vorzüge und Berdienfte, all ihre Glorie im Jenſeits und hienieden gehen von Gott aus und werden auf ihn zurüdbezogen. Die Triumphe der Heiligen find nur Triumphe Chrifti und die Siege des Menihenfohnes nur Erweiſe feiner göttlihen Madt. Alle Schönheit und Herrlichleit der fihtbaren Schöpfung wird anerlannt, mit tieferem Gefühl, als e8 bei den Alten der Fall war. Der Menſch erſcheint als die Krone der Schöpfung, aber nicht wie ein Juppiter oder Apollo ſelbſt zum Gott erhöht, ſondern als Werk des ewigen, unendlichen, unfihtbaren Gottes. Über der fichtbaren Welt tut ſich eine viel erhabenere, unfichtbare, geiftige Welt auf, welche aber durch die Menfchwerdung des Sohnes Gottes in die fihtbare Schöpfung herniederfteigt und den Menſchen zu einem neuen, höheren Dafein erhebt. Das ift das Reich der Gnade, das nunmehr die fihtbare Schöpfung verffärt und das kurze Leben hienieden mit dem ewigen Leben der Glorie verbindet. Wie Gott die Fülle feines Seins in den zahllojen Reihen der natürlihen Weſen fpiegelt, jo offenbart ſich feine fittlihe Schönheit und Bolltommenheit in der unabjehbaren Mannigfaltigfeit der Heiligen, die vereint in der Liebe und Nachfolge Ehrifti, jeder wieder in verſchiedener, individueller Weiſe feine Gefinnung zum Ausdrud bringt. In der Kirche hat dieſe erhabene Ordnung der Gnade, welche die ganze Menſchheit vereint, auch

! Migne, Patr. lat. CXXXV 491 492, überjfegt vom Berfafjer.

366 Dreizehntes Kapitel.

fihtbare joziale Geftalt hienieden gewonnen. Ihre Geſchicke find nur ein Fortleben Ehrifti in der Menjchheit, ihre Heiligen die Blüten der von Chriftus erlöften, jet noch von ihm geleiteten und begnadigten Menjchheit.

So fahte das Mittelalter die Legende auf. Sie ift im Grunde nur der jchlichte, epijche Ausdrud für die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen, wie fie ſchon das Apoftoliiche Glaubensbelenntnis enthält und wie fie jeder Chriſt nicht ala etwas Fremdes, Außergemöhnliches, jondern als eigenfte, religiöje Familienbeziehung betradtet. Wir find Söhne und Brüder der Heiligen. Den Heiligen dankt nicht nur Deutjchland und Italien, jondern das ganze Abend» und Morgenland jeine hriftlihe Kultur.

Das alles tritt nun in Flodoards Legende gar ſchön und anmutig zu Tage. Anfnüpfend an die Heiligen Stätten Paläftinas läßt er zuerft das ganze Leben Chrifti an unjerem Blid vorübergleiten. Dann zeichnet er uns in furzen Zügen die Apoftel und vorzüglidften Jünger des Herrn. Durd) längere Schilderung ift Stephanus, der erfte der Märtyrer, ausgezeichnet. Ein großes Gedicht bejchreibt darauf in gewaltigen Zügen die Zerftörung Jeruſalems, als das furdtbare Gottesgeriht, das die Synagoge durch die Verwerfung des Meſſias auf ſich herabgezogen, ein fürzeres Gedicht den Verſuch Julians, die Weisfagung Chrifti Lügen zu trafen. Dann führt uns der Dichter die Heiligen vor, welche an den Stätten der Erlöjung lebten und wirkten, im ausführlicher Darftellung den gelehrten Hieronymus und jeine Schülerin, die fromme Pilgerin Paula. Im ganzen umfakt der erſte Zeil 49 Gedichte.

In Antiohien wurden die Anhänger Jeſu zuerft Chriſten genannt; die Stadt blieb lange ein Mittelpunkt für die Ausbreitung des Chriftentums im Morgenlande. Ihre Heiligen feiert der zweite Teil der Legende in zwei Büchern mit 27 Gedichten. Am reichlichſten find Hier der Hl. Julian und die hl. Baftliffa, der Hl. Heiychius, der hi. Simeon der Säulenfteher und die heilige Büherin Pelagia bedacht.

Weit umfangreicher ift der dritte Teil ausgefallen, der in feinen vierzehn Büchern 229 größere und fleinere Gedichte zählt und außer den Heiligen Italiens auch viele andere Heiligen des Abendlandes behandelt. Zu an— jehnlicheren Epyllien find die folgenden Stoffe erweitert:

Der Streit bes HI. Petrus mit Simon Magus. Das Martyrium ber hi. Apoftel Petrus und Paulus. Die Schüler der Apoftel umd ber HL. Apoflinaris. St Clemens. St Mlerander und jeine Gefährten. Papft Zephyrin und der hi. Kalixtus. St Urban und Eäcilia. St Lucius und Stephanus. Die hl. Eugenia. St Sixtus und Laurentius. Chryjanthus und Daria. Die hi. Marcellian, Marcus und Sebaftian. Chryjogonus und Anaftafia. Der hl. Marcellus. St Sylvefter. Gregorius d. Gr. Gregorius II. und ber bi. Bonifatius. Papft Stephanus II. Papft Habdrian. Leo III. (und Karl db. Gr.). Leo IV. Translation des hl. Kalirtus,

Epiſche Verſuche und Hiftorifche Zeitgedichte. 367

Am Schluffe des zwölften Buches erzählt Flodoard, wie er auf feiner Pilgerfahrt nah Rom von Papſt Leo VII. überaus gütig aufgenommen, geiftig und leiblich gefpeift, reich beſchenkt und mit liebevollem Segen in jeine Heimat entlaffen wurde.

In den folgenden zwei Büchern werden zahlreiche Heilige nachgetragen, welche zubor übergangen worden. Am glänzendften werden die hl. Ambrofius, Beneditt von Nurfia und Columban gefeiert.

Die Ausführung ift jehr ungleichartig. Wo der Stoff jelbft und frühere poetiiche Bearbeitungen es ermöglichen, läßt Flodoard der Erzählung freien Lauf und erhebt ſich nicht felten zu wirklich poetifcher Darftellung; mo ber Stoff dürftig, begnügt er fi mit wenigen Berjen, die ſich mitunter nur durch das Metrum von Proja unterfcheiden. Weitaus die meiften Legenden find in Herametern abgefaßt, nur wenige in Senaren. Dem erften Teil geht die mitgeteilte „Anrufung“ in Herametern voraus, dem zweiten ein Gediht in fapphiichen Strophen, dem dritten eine Vorrede in Asklepiadeen. Die Verſe find zum Zeil recht gut gebaut, die Sprade ift rei, wenn auch nicht von Haffischer Reinheit. Flodoard verfieht es, nicht bloß feſſelnd zu erzählen, fondern auch meifterhaft zu ſchildern, wie dies z. B. in dem Gediht von der Zerftörung Jerufalems zu Tage tritt.

AU die zahlreichen metrifchen Legenden bes Mtittelalters hier einzeln aufzuführen, liegt über den Rahmen unferer Aufgabe hinaus. Als bebeutfamer in literarifcher Hinfiht mögen erwähnt werben: Die Lebensbeichreibungen bes hl. Suitbert ' umb bes bi. Rebuin? (verfaßt von Ratbod, ber 917 als Erzbiichof von Utrecht ftarb), bie „Paffion des hl. Mauritius und ber thebäiſchen Legion” (gedidhtet von Sige— bert von Gemblour zwiiden 1074 und 1078®), die ‚Metriſche Theophil— Geihichte‘, das „Gedicht von ben fieben Makkabäiſchen Brüdern”, die „Verſe vom bl. Laurentius“, die „Paſſion des heiligen Märtyrers Bictor“, die „Paſſion bes bl. Mauritius und feiner Gefährten“, das „Leben ber hl. Thais" (nad griedhifcher Vorlage), die „Paffion der heiligen Märtyrer Felix und Adauctus*, das „Leben bes jeligen Belenners und Biſchofs Maurilius“ (ſämtlich Marbod zugeichrieben, der 1123 als Biſchof von Rouen ftarb) ®.

Für Kunſt- und Literaturgefchichte zugleich bedeutſam ift „Das Leben und Leiden des Heiligen Märtyrer Chriftophorus“, die ältefte lateiniiche Bearbeitung

! Acta SS. Bolland. Mart. I 84—86.

® Migne, Patr. lat. OXXXII 5538—558.

® Passio 5. Mauritii ete, auctore Sigeberto Gemblacensi, herauögeg. von E. Dümmler (Philof. und Hiftor. Abhandlungen der f. Akademie d. Wiſſenſch., Berlin 1898, 44—125).

* Migne a. a. ©. CLXXI 1593— 1604. Sechs kleinere Gedichte über ben hl. Martin veröffentlihte E. Dümmler (Neues Arhiv für ältere deutſche Geſchichte XI [1886] 460—466) ; acht Gedichte über denfelben Heiligen H. Delehaye S. J. (Analecta Bolland. VII [1888] 307—820).

368 Dreizehntes Kapitel.

der in Deutjhland jo volkstümlichen St Chriftophslegende, als Schulübung verfaßt von Walter von Speier!. Derjelbe ftudierte unter Biſchof Balderih von Speier (970— 987) an der Domſchule dafelbft, wurde Magifter an bderjelben, jpäter ſelbſt Biihof von Speier (von 1004—1031). Auf den Wunſch Biſchof Balderihs verfaßte er als Subdialon das Leben des hl. Chriſtophorus ſowohl in Proja, wobei er Gicero nachahmen follte, ala in Berjen, wobei er ſich Vergil zum Vorbild nahın.

Im erften Buche feines Gedichtes bejchreibt er den Studiengang, den er bis dahin durchgemacht und der ihm zu feiner Aufgabe vorgebildet hatte. Die erften zwei Jahre waren dem Unterricht im Lejen, Schreiben und Ehorgejang gewidmet, Im dritten folgten dann Grammatif und etwas Mythologie, woran der angehende Poet ſich fehr ergößte. Gelefen wurden der lateinische Homer, Martianus Gapella, Horaz, Perfius, Juvenal, Bosthius, Statius, Lucan, vor allem aber Bergil. Zur Einführung in die Dialektit diente die „Einleitung“ des Porphyrius in der Überfeßung des Boöthius, die Rhetorit wurde nach Cicero, die Nrithmetif und Mufit nad) Boöthius, die Geometrie nah Martian Capella erklärt ?,

In den übrigen fünf Büchern erzählt Walter dann feine Legende. Ghriftophorus ift darin ein Kananäer, ift von riefiger Geftalt und hat den Kopf eines Kynocephalen. Er heißt urſprünglich Reprobus, führt aber ſchon vor der Taufe ein chriftliches Leben und wandert von feiner Heimat aus, um einen Führer zum mahren Glauben zu fuchen. An der Grenze von Syrien erfcheint ihm ein Engel, unterrichtet ihn, tauft ihn und gibt ihm den Namen Chriftophorus. Nun zieht er weiter gen Samon, die Hauptjtadt von Syrien, wo der Kriftenfeindlihe König Dagnus herrſcht. Durch Predigt und Wunder befehrt er viele Einwohner. Zweihundert Mann, welche der König gegen ihn ausfendet, fönnen feinen Bid nicht aushalten, fondern kehren umverrichteter Sadhe heim. Zweihundert andere werden nun ausgeihidt, denen er freiwillig folgt. Vor dem Glanz feiner Augen ftürzt der König jelbft zu Boden, bedroht aber den Heiligen mit dem Tode und läßt ihn ins Gefängnis werfen. Allein die vierhundert Mann, die gegen ihn ausgefandt worden waren, befehren fih und fterben ala Märtyrer. Ebenjo befehren fi die zwei Buhlerinnen Nicäa und Aquilina, welde der König zu ihm in den Kerker ſchickt, um ihn zu verführen. Auch fie erleiden heldenmülig den Martertod. Nun wird Ghriftophorus ſelbſt mit Ruten

! Vita et passio 8. Christophori martyris, auctore Walthero Spirensi subdiacono, libri sex, metrice, herausgeg. von Pez (Thesaurus anecd. II 3, 27—97) und W. Harfter, Münden 1878. Bol. W. Harfter, Walther von Speier, ein Dichter des 10, Jahrhunderts, Speier 1877.

Mol. F. A. Specht, Gefhihte bes Unterrichtswefens in Deutihland von ben älteften Zeiten bis zur Mitte des 13, Jahrhunderts, Stuttgart 1885, 114.

Epiſche Verſuche und hiſtoriſche Zeitgedichte. 369

geſtrichen, ihm ein glühender Helm aufgeſetzt. Drei Hofleute, die den König wegen ſeiner Grauſamkeit tadeln, werden mit dem Tode beſtraft und ſterben als Märtyrer. Der Heilige wird nun auf einen glühenden Roſt gelegt; aber während dieſer von der Glut verzehrt wird, bleibt Chriſtophorus un— verletzt. Jetzt läßt der König mit Pfeilen auf ihn ſchießen; doch keiner der Pfeile trifft. Als der König ſelbſt zu ſchießen verſucht, verletzt er ſich dad Auge und erblindet. Chriſtophorus verkündet ihm, er ſelbſt werde morgen die Märtprerfrone erwerben, der König aber mit feinem Blute ſich die Stirne beftreihen und wieder fehend werden. So gejchieht es. Der Heilige wird enthauptet. Der König, dur fein Blut geheilt, nimmt das EhHriftentum an und läßt es in feinem ganzen Reiche verfündigen.

Die Erzählung ift lebendig ausgeführt, die Verſe find gut gebaut,

die Sprade zwar von Bergil beeinflußt, aber doch mit Wahrung einer gewifien Selbftändigkeit, melde der Schule Walter alle Ehre macht. . Der großen Sagenftoffe. bemädtigten ſich jetzt weltliche, ritterliche Dichter und führten fie im ihren Nationalfpradien aus. Die geiftlichen Dichter wandten fih mit Vorliebe der religiöfen Lyrik, der philofophifchen Didaktil und einer halb epiihen Halb Iyrifchen Gelegenheitspoefie zu. In reicher Menge wurden zeitgenöffiiche Erlebniffe in Lobgedichten, Feftgefängen, Zrauerliedern behandelt, bibliihe und antike Stoffe in größeren Epen aus: geführt, auch Ereigniffe der Gegenwart und der jüngften Vergangenheit in der hergebradten Schulform des Kunſtepos bejungen; doch ein höherer Kunftwert läßt ſich den meiften diefer Erzeugniffe nicht beilegen, wenn auch einige derfelben zeitweilig Hohe Bewunderung fanden, gelejen, ftudiert, wiederholt vervielfältigt wurden und darum. einen gewiſſen Iiterarifchen Einfluß erlangten.

Stleinere Zeitgedichte, in melden fih das epische Element meiſtens mit dem lyriſchen miſcht, begleiten gleichſam die ganze Geſchichte, jpärlih von der Völferwanderung, häufiger von Karl d. Gr. an, und bilden einen nicht ganz unerheblichen Zeil der Geihichtsquellen mancher Perioden !,

So begegnen uns Lieder auf die Zerftörung von Aquileja (in ſapphiſchen Strophen), auf den Sieg Chlotars über die Sachſen, auf den Tod Erichs, Grafen von Friaul, auf den Tod Karla d. Gr., auf die Thronbefteigung Karls des Kahlen, auf die Schlaht von Fontenay (25. Juni 841), auf die Thronbefteigung Lothars.

Andere Lieder befingen einen Abt Hugo (?), den eben verftorbenen Fulko, Erzbifhof von Reims, den Sieg von Brunauborf (936 oder 937),

ı Edelestand du Me6ril, Po6sies populaires latines anterieures au 12° siöcle, Paris 1848, 284—294. Monum. Germ. Hist, Poetae latini aevi Carolini I—IV, Berolini 1881— 1899.

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. n. 4. Aufl. 24

370 Dreigehntes Kapitel.

die Niederlage des Königs Albert, den Tod Heriberts, Erzbiſchofs von Köln, den Tod des Konftantius, Schulvorſtehers des Kloſters Lurenil.

Weiter treffen wir Geſänge auf den Tod Heinrichs IL, auf die Krönung Konrads des Salierd, auf den Tod des Schulmeifters Hubert in Orleans, auf den Tod Wilhelms des Eroberers. |

Ein noch aus dem 9. Jahrhundert ftammendes Gedicht feiert in ſapphiſchen Strophen das Lob des Biihofs Adalhard von Berona (876—914), ein längeres Gedicht in gutgebauten Herametern den „Kaiſer“ Berengar, d. h. den italienifhen König Berengar, den Papſt Johann X. 916 zum Kaifer feönte. Mehr als anderswo erhielt fih in Italien durch Schulüberlieferung ein gewiffer Reit guten Geihmads und techniſcher Gewandtheit in der Hand: habung der lateiniſchen Sprade und Metrif. Faſt überall fonft ward die Reinheit der antifen Form kaum beachtet, der Herameter mit Vorliebe gereimt und mit den vertradteften Künfteleien mißgeftaltet. In ſolchen gereimten Hera: metern fahte Wipo, der Kaplan Konrads IL, den „Zetralogus“ ab, welchen er an Weihnachten 1041 dem König Heinrid III. überreichte und worin er mit taftvollem Lob allerlei gute Räte und Ermahnungen verband. In gereimten, rhythmiſchen Verſen it das herzliche Trauerlied abgefaßt, das er dem verftorbenen Konrad II. widmete:

Qui vocem habet serenam, hanc proferat cantilenam De anno lamentabili et damno ineffabili,

Luget omnis homo, forinsecus et in domo,

Suspirat populus dominum, vigilando per somnum, Rex Deus, vivos tuere et defunctis miserere.

Anno quoque millesimo nono et trigesimo A Christi nativitate nobilitas ruit late, Et Caesar caput mundi, et cum illo plures summi, Oceubuit Imperator Cunradus legis amator. Rex Deus, vivos tuere et defunctis miserere !,

Don guter Haffiicher Bildung zeugt das „Epos vom Sadjen: friege“ (Gesta Heinriei imperatoris metrice), in weldem ein un: befannter Sänger nah dem Siege Heinrihs IV. über die Sadfen bei Homburg (9. Juni 1075) den ganzen Krieg von feinen Anfängen an in begeifterter Teilnahme für den fiegreichen König feiert. Die Hriegsereigniffe, befonders die Belagerung und die Verteidigung der Burgen, find darin ſehr anſchaulich geſchildert. Die Verje fliegen oft jehr gut und im leivlich reiner Sprache, doch find fie oft wieder leoninifch gereimt und durd die allgemein verbreiteten Freiheiten und Nachläſſigkeiten entftellt?, Eine „Elegie auf

Schubiger, Die Sängerfäule von St Gallen 91. : Wattenbad, Deutichlands Geſchichtsquellen II 80—82.

Epifche Verſuche und hiftorifche Zeitgebichte. 871

den Tod Heinrihs IV.“ verfaßte der Flanderer Blittero, bon der aber nur bekannt ift, daß fie, anfnüpfend an den Tod des Kaiſers, das Elend der Welt beflagte. Dagegen wimmelt die Lobjhrift, welche Biſchof Benzo von Alba in gereimter und rhythmiſcher Profa auf denjelben Kaifer fchrieb, von unwürdigen Schmeidheleien jowie von den gemeinften Shimpfreden auf jeinen gewaltigen Gegner Gregor VII. und deſſen An- hänger!,

In alphabetiihen Rhythmen harakterifierte Adelmann, Lehrer zu Lüttich, jpäter (um 1048) Biſchof von Brescia, die Männer feiner Zeit, welde aus der Lüttiher Schule hervorgingen, ein überaus anziehendes Kleinbild der Gemütlichkeit und des literarifchen Intereſſes, das an jener Schule unter der Leitung Fulberts und Adelmanns herrfchte, und des Einfluffes, den fie bis nah Paris und Tours, nah Burgund und ins Land der Allobroger, nah Verdun und Köln, ja bis nad Italien hinüber ausübte ?,

Andere Zeitgedichte befchäftigen fi mit dem Siege der Pijaner über die Sarazenen (1088), mit der Belagerung und Eroberung der Stadt Como, mit. den Waffentaten der Einwohner von Perugia (Historia metrica de rebus a Perusinis gestis), mit dem Lobe der Stadt Bergamo. Ascellin Adalbero, Biihof von Laon (977—1030), richtete an Robert „den Großen“ ein jatirifches Gediht. Abbo behandelte in einem größeren Gedichte die Belagerung von Paris, Wilhelm von Apulien die Taten der Normannen, der Biihof Donizo das Leben der Marfgräfin Mathilde. Wohl noch aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts ftammt das ältefte lateiniſche Gedicht auf den Eid Gampeador in japphiichen Strophen.

Zahlreihe Gedichte riefen natürlich die Kreuzzüge hervor, bejonders der Kampf um Yerufalem. Das Lied Ierusalem mirabilis enthält eine allgemeine Aufforderung zum Sreuzzug, das Lied Nomen a sollemnibus einen Jubelgeſang auf die Eroberung von Jeruſalem. Andere Gedichte behandeln die Niederlage der Kreuzfahrer durch Emad-eddin Zenfi (1146), den Feldzug Amalrichs nad Ügypten (1168), den Fall von Jeruſalem (1187) und den darauffolgenden Kreuzzug, den Krieg mit Saladin und den Fall von Accon (1291)3,

Don dem Solymarius, einem größeren Gedicht, das die Taten der eriten Sreuzfahrer feierte, find bis jegt nur einzelne Fragmente aufgefunden

ı Ebd. II® 202. ®? Adelmanni Rhythmi alphabetici (Migne, Patr. lat. CXLIII 1295 bis 1298). > da Me&ril, Poesies populaires latines anterieures au 12° siöcle (1843) 297 ff; Po6sies populaires latines du moyen-äge (1847) 2355 ff. Wattenbad a. a. O. II® 437. 24*

372 Dreizehntes Kapitel,

worden!. Der Berfaffer, der dasſelbe felbft als Jugendarbeit bezeichnet, widmete in xeiferen Jahren dem Kaiſer Friedrich I. Rotbart ein jorgfältig durchgearbeitetes Epos in zehn Gejängen (6576 Berjen), welches die Taten diejes Kaiſers bis zum Jahr 1160 unter dem Titel Ligurinus befingt. Es ſticht duch feine Abrundung wie durch befjere Sprade und Versbau vor allen Erzeugniffen diefer Zeit hervor. Dod war e3 völlig verſchollen, bis Konrad Geltes eine Handſchrift desfelben in dem fränfifchen Kloſter Ebrach fand und e& 1507 druden ließ. Später (1737) von Sendenberg als Fälſchung erklärt, ift e& von neueren Fordern, A. Pannenborg und Gafton Paris, wieder als echt verteidigt worden ?.

Gunther, der Verfaſſer der zwei Gedichte, unterjchreibt fi) bei dem einen derjelben als „Scholaſtikus“. Den Solymarius widmete er Konrad, dem vierten Sohne des Kaiſers, den er jeinen Zögling nennt; er ift aljo jein Erzieher gewejen. Später ift er in das Eiftercienjerklofter Päris (oder Pairis) bei Urbeis im Elſaß eingetreten und deffen Prior geworden. Ein asketiſcher Zraktat über Gebet, Falten und Almoſen läßt ihn als einen Theologen von gediegenfter Bildung und reicher Belefenheit, zugleich als einen Meifter lateiniſchen Projaftils erkennen. Eine andere von ihm ver: faßte Schrift über die Eroberung Konftantinopel3 durch die Sreuzfahrer, melde auf Mitteilungen feines Abtes Martin von Päris fußt, gehört zu den mwertvollften Quellen, welche über den vierten Kreuzzug vorhanden find. Über Friedrih I. war er nit bloß dur das Wert Ottos von Freifing und ſeines Fortſetzers Rahewin fehr genau unterrichtet, jondern aud mit anderweitigen Berichten über feine Zeit vertraut.

Indem er nun die nächftliegende Zeitgefhichte zum Vorwurf feiner Didtung nahm, mußte er natürlih auf die dankbarfte Aufgabe des Epilers, die eigentliche Fiktion, die freie Geftaltung eines gleihfam flüjfigen Sagen: ftoffes, verzichten. Friedrich der Notbart war für ihn noch nicht der ehr: würdige Bewohner des Kyffhäuſers, ſondern der waftengewaltige Hohenftaufe,

! Serauögeg. von Wattenbach, Archives de l’Orient Latin I (1881); 551—561. Mi;

® Guntheri poetae Ligurinus sive de rebus gestis Imp. Caes. Friderici Aug. cognomento Aenobarbi libri docem: Augsburg 1507; Straßburg 1531 ufw. C. 6. Dümgé, Heidelberg 1812; abgedbrudt bei Migne, Patr. lat. CCXII 327 bis 476. Deutfh von Theod. Bulpinus, Der Ligurinus Gunther von Pairis im Elfaß, Straßburg 1889. A. Bannenborg, Über ben Ligurinus und andere Abhandlungen, in Forfhungen zur deutſchen Geſchichte XI (Göttingen) 163 fi; XI 227 ff; XIV 185 ff; XIX 611 ff. Derf., Der BVerfaffer des Ligurinus. Programm des Gymnafiums Göttingen (1883). Gast. Paris, Dissertation eritique sur le po&me latin du Ligurinus, attribu& a Gunther, Paris 1872. E Michael, Gefhichte des deutſchen Volfes vom 13. Jahrhundert bis zum Aus— gang bes Mittelalters III, Freiburg i. B. 1908, 297—302.

Epifche Verſuche und hiſtoriſche Zeitgedichte. 973

der gegen den Papſt und gegen die Welfen zu Felde zog, der größte Herrſcher, den ſeit Auguſtus und Karl dem Großen die Welt gejehen. Er mußte ſich darauf beſchränken, die allgemein befannten politifhen und kriegeriſchen Nach— richten im Berje zu bringen. Soweit ſich darin poetiſche Begabung entfalten fonnte, zeigt fie ji in ungewöhnlichem Make. Das Latein ift ihm durchaus feine ungewohnte, mühjam angequälte Waffenrüftung; er beherricht es völlig als natürliches, wie angegoffenes Gewand; er weiß darin in lebhafteiter, natürlichſter Darftellung zu erzählen, zu zeichnen, zu dharakterifieren, zu reden, zu fefleln, hinzureißen.

So ſchildert er 3.8.1 in wahrhaft ergreifender Weife, wie Papft Hadrian dem herannahenden Kaijer entgegenzieht, gleich einem greifen Vater, der dem nad langer Abweſenheit zurücklehrenden Sohne fein Leid klagt, wobei freilich gegen alles kanoniſche Recht dem faiferlihen Sohne alle Herrſchaft und Gewalt im Haufe zugeteilt wird. Meifterlich wird dann der Haupturheber der Wirren, Arnold von Brescia, gezeichnet:

Der Stifter all des Unheils, all bes Gewirres war

Arnold, den zum Verderben uns Brescia einjt gebar;

Mit großen Koften hat ihn Frankreich bei fi ernährt,

In Schranken ihn gehalten, ihm gaftlih Dach gewährt, Bis er zum Heimatlande dann endlich wieder fam

Und mit hochweiſen Reden das Volk gefangen nahm,

Die KHlerifei verfolgte mit grimmen Spott und Haß,

Den Mönchen Feindſchaft fäte und Streit ohn’ Unterlaß, Um feiles Lob ben Pöhel mit Schmeichelei betrog,

Bon Prieftern, ſelbſt vom Papfte die ſchlimmſten Mären log, Und aller Ohren füllte mit ketzeriſchem Rat,

Mit unerhörter Lehren verweg’ner Dradenjaat:

Nicht Geld, nit Grund und Boden ber Kirche ſei gewährt, Derluftig aller Güter jei Mönch und Pfaff erklärt,

Kein Abt fteh’ etwas höher als Bürger oder Knecht,

Kein Biſchof könne geben Geſetz und ſchaffen Redt.

Nahdem der Dichter dann auch mande Mikftände jener Zeit erwähnt, bemerkt er jehr richtig, daß Arnold fie ausgebeutet Habe, um das Bolt zu täujchen.

Mandy gute Mahnung gab er, die konnte heilfam fein, Ward fie befolgt; doch miſchte er immer Faljches drein. Fürwahr, die Kunft zu täuſchen er fäuberlich veritand, Indem er Falfches, Wahres in einen Anäuel wand.

Das Falſche Tiebt ja keiner: nur durch ber Wahrheit Schein Schleiht wie ein Dieb der Irrtum fih in bie Seelen ein. So ging auch mit dem Glauben er gar betrüglid um;

I Lib. 8, ®. 242 fi.

374 Dreizehntes Kapitel.

Nicht wahre Ehrfurdt hegt’ er vor Gott und Heiligtum, Nicht feſt an Überlieferung hielt er und Gottes Schrift; In Fromme Honigworte mifht’ ruchlos er fein Gift.

Ein moderner Zeitungsfchreiber möchte den gewandten Ghibellinen um den fein ftilifierten Brief beneiden, melden diefer durch den Erzbifhof Rainald bon Daffel gegen die zeitliche Gewalt des Papftes und den Beſitz des Kirchen: ftaates jchreiben läßt!. Dieſe ghibellinifche Begeifterung läßt es erflärlich erjheinen, dat das Gedicht, lange nachdem das Papfttum fiegreih aus dem Kampfe gegen die Hohenftaufen hervorgegangen war, noch auf den Inder gejeßt wurde. Doch formell hat e& zweifelsohne Hohe Vorzüge und auch andere von der Politit unberührte Stellen, wie die verjchiedenen Kampfes: fhilderungen, bejonders die Erzählung vom alle Mailand, der Schluß— fataftrophe des Ganzen, verraten ein glänzendes poetiſches Talent?. So kann nur ein wirkliher Dichter erzählen und ſchildern.

Einen durchſchlagenden Erfolg hatte von den epifchen Verſuchen diefer Zeit nur die Alerandreis des Walter von Chätillon, etwa um das Jahr 1180 nah fünfjähriger Arbeit vollendet und dem Erzbiſchof Wilhelm II. gewidmet, der von 1176 bis 1201 die Diözefe Reims regierte. Der Dichter ftammte eigentlih aus Lille; doch blieb ihm der Name von Chaͤtillon hängen, wo er feine Jugend verbradte. Er wurde ſpäter Propft der Stiftsherren von Tournai. Das Gediht, das 5464 Herameter in zehn Büchern umfaßt, fennt noch nicht die Aleranderfage, wie fie der Orient in buntefter Fülle ausgeftaltet hatte, der Geift der Kreuzzüge dann mit ritterlihen Anfhauungen durchwob. Walter folgt einfah dem Bericht des Duintus Eurtius und jpinnt deffen Erzählung etwas weiter aus, in einer Sprade und Darftellung, welche, wie jene des Ligurinus, eine gründliche Schulung an Vergil und den jpäteren lateinifchen Epikern verrät, aber die: jelben keineswegs ſtlaviſch nachahmt, fondern mit dem ertvorbenen Sprad: ihab frei jhaltet und waltet, allerdings im Rahmen eines würdevoll ab: gemefjenen Schulgefhmads, ernft und pathetiſch, aber ohne tiefe, mächtige Leidenihaft und ohne Fühlung mit dem Volksleben jener Zeit. Eine gewiſſe Einheit erhalten die verſchiedenen Kriegsabentener nicht nur in der Perſon und dem Charakter des macedoniſchen Eroberer, ſondern aud in der tief tragischen, zugleich ernft religiöfen Auffaffung des Dichters, der in dem ber: frühten Zujammenbrud der macedonishen Weltherrſchaft das allgemeine Gefe der irdiſchen Vergänglickeit, eine verdiente Strafe ftolzen Übermutes, das Walten einer höheren Vorjehung betrachtet.

Am vollſten klingt diefe Betrachtung in der ergreifenden Schlußpara- baje aus:

! Lib. 4, ®. 567 fi. ® Lib. 10, ®. 820 ff.

Epifche Verſuche und hiftorifche Zeitgebichte. 375

Gluͤcklich der Menſchen Geflecht, wenn ſtets es bie ewigen Güter Hätte vor Augen und ftets im Bangen harrte des Endes,

Das dem Hohen der Welt fo gut wie bem armen Plebejer Unverjehens fi) naht, indes er mit großer Gefährbe

Ninget nad) Gut und nad Geld, und bie blöden fterblihen Augen Flüchtig umflattert ber Ruhm mit feinen trüg’riihen Schwingen. Während nad käuflichen Ehren wir frucdtlos Hafen und jagen, Pflügen bie Fluten bes Meers, und überbrüffig bes Lebens, Haupt und Waren zugleich den ſchäumenden Wellen vertrauen, Während wir troßen dem Froſt ber Alpen und drohenden Räubern, Um nur bes geizigen Roms Schußwälle und Binnen zu ſchauen, Und vom gewonnenen Ziel vielleiht auf glüdlihen Pfaden Heimwärts lenken den Schritt zu dem Lande, das und geboren, Siehe, da faht uns im Nu ein winziges Fieber und ſchleudert Alles in Trümmer, was wir in langem Leben gefammelt. Alerander, dem nicht genügten die Grenzen bed Erbballs,

Schau’, ihm genügt jegt ein Grab, aus Marmorfeljen gehauen, Fünf Fuß mißt der Palaft da ruht bie Leiche bes Helden, Spärlih mit Erbe bedeckt fein Reid, bis dab Ptolemäus,

Der Ägypten von ihm als König geerbt, die verehrten

Überrefte, voll Scheu von dem ganzen Erdkreis betradptet,

Führt in bie herrliche Stabt, die bes Fürften Namen verewigt !.

Das find nicht mur ſchöne, kunſtvolle Verje, das ift mirkliche Poefie. Sole Stellen find aber nicht nur vereinzelt und kümmerlich vorhanden; die ganze Dichtung ift reich an jhönen Zügen, treffenden Schilderungen und gehaltreihen Sprüden, die fih dem Gedächtnis einprägen.

Frei bon erotiſchem Beifab, war das Gedicht wie gemacht zur Jugend: und Schullektüre. Es ift darum nicht zu verwundern, dab es ſchon ein Jahrhundert fpäter, zur Zeit des Heinrich von Gent (1280), in den Gram— matikſchulen jo ſehr geſchätzt wurde, daß die Lejung der lateinischen Klaſſiker darüber zurüdtreten mußte. Auh an Widerſpruch fehlte es zwar nidt. Des Dichters Zeitgenofje und Landsmann Alanus von Lille nannte ihn einen „Mävius“, d. h. ſchlechten Dichter und brannte ihm folgende Kritik auf:

—— Nlie

Maevius, in caelos audens os ponere mutum, Gesta ducis Macedum tenebrosi carminis umbra Pingere dum tentat, in primo limine fessus Haeret et ignavam queritur torpescere musam,

Dies tat indes dem Gedichte feinen Eintrag. Andere Dichter, wie Wilhelm Brito, legten die größte Wertfhäkung dafür an den Tag. Es hielt fich vielfah in den Schulen, wurde von 1513 an häufig neu gedrudt?

! Migne, Patr. lat. CCIX 572. ® Alexandreis sive gesta Alexandri Magni libris X comprehensa auctore Gualtero de Castellione: Straßburg 1518; Ingolftadt 1541; Lyon 1558;

376 Dreizehntes Kapitel.

und noch 1693 von dem Benediktiner P. Athanafius Gugger in St Gallen wieder herausgegeben. Seine Wirkſamkeit hat ſich alfo bis ins 18. Jahr- hundert Hinein erftredt.

Neben andern Schwächen künſtlicher Schulpoefie leidet die Alerandreis auch an der Neigung zur Allegorie, wo ſolche feineswegd in der Sadıe begründet ift, jondern in froftiger Weiſe an die Stelle des Wirklichen und Konfreten tritt. So wird 3. B. im zehnten Buche der frühe Tod Aleranders nicht durch menſchliche oder einfach religiöfe Elemente motiviert, jondern durch allegorifche Figuren, welche jenen des Martianus Gapella nachgebildet find. Ganz erboft darüber, daß Alerander den Erbfreis für feinen Ehrgeiz zu enge fand, fteigt die „Natur“ im die Unterwelt hinab, wo in dem von taujend Kaminen (mille caminis) brodelnden Höllenfeuer die Superbia, die Libido, die Ebrietas, die Gula, die Ira, die Proditio, die Detractio, der Livor und die Hypokriſis gequält werden, und Hagt ihnen ihren Verdruß, worauf fi die Proditio erhebt und raſche Hilfe verjpricht, indem fie dafür ſorgen will, dat Antipater den König vergiftet. Auch diefe Stelle ift an ſich gut aus: geführt, in lebhafter Charakteriftit und treffendem Ausdrud; aber all das vermag eben die abftraften Lafterbegriffe nicht zu fonfreten, lebensvollen Geftalten umzuwandeln.

Faſt ohne poetiſchen Wert ift das epifch-didaktiiche Boem vom „Machomet“ (Otia Walterii de Machomete lege) in 544 Diftihen!. Walter fügt feine Erzählung auf den Bericht feines Abtes Warnerius, diefer hinwieder auf einen wadern Kleriker an der Fire von Send, namens Paganus (cui nomen erat Paganus, honestus, clericus et Senonum magnus in ecclesia), und diefer endlid auf die Nachricht eines befehrten Arabers, der bon Nugend auf in der Lehre Mohammeds unterrichtet und, obwohl Sklave, in allen freien Künften wohl bewandert war, und den er zeitweilig bei fih Hatte. Das ältefte Manuffript ift vom 15. Juli 1199 datiert. Du Meril vermutete als Verfaffer einen Gualterus von Gompiögne, der Mönch zu Marmoutierd war, wo 1170 ein Warnerius als Abt genannt wird.

Ein anderes Gedicht über Mohammed (über 1100 Verſe) verfaßte Hildebert (Historia Mahumetis). An die lateinifhen Gedichte lehnt ih der altfranzöfiihe Roman Mahomet von Alerander du Pont.

Bei Walter jagt der Einfiedler (Bohaira ou Bahira) dem Mohammed alfo voraus:

no

Um 1559; St Gallen 1659 1693; nad ber St Galler Ausgabe von 1659 abgedruckt bei Migne, Patr. lat, CCIX 463—574. Neuausgabe von Müldener, Leipzig 1863. Ein noch unediertes Gedicht Walters herausgeg. von Fr. Novati (M&- langes Paul Fabre, Paris 1902, 265—278).

ı E. du Me&ril, Poesies populaires latines du moyen-äge (1847) 379 bis 415.

Epiſche Verſuche und Hiftorifche Zeitgedichte. 377

Wahrlich, fag’ ich dir, dur bift in des Teufels Krallen: Glauben und Religion wird vor bir zerfallen;

Ehe wirft und Jungfrauſchaft du zugleich vernichten, Keuichheit wirft als Ehebrud du verdammend richten, Willkür wird mit ſchnöder Macht heil'ges Recht erdrüden, Gottentfremdbung wird im Keim Frömmigkeit erſticken; Fleiſchliche Beſchneidung wirft bu ftatt der der Seelen, Statt der Taufe heil'gem Bad, aller Welt befehlen;

Kurz den alten Adam wirft wieder du erweden,

Sitten aber und Geſetz ganz zu Boden fireden!.

Gegen Ende der Regierung Heinrich IT. von England (1154—1189) widmete Joſeph von Ereter (Iseanus) dem Erzbiihof Baldwin von Ganter: bury ein epifches Gedicht über dem trojanifchen SKrieg in jechs Büchern. Er ſchrieb auch eine Antioheis, im welcher er die Kreuzfahrt des Richard Löwenherz verherrlichte, von welcher aber nur ein Bruchſtück erhalten ift?. Der bereit3 erwähnte Wilhelm Brito, um 1150 in der Bretagne geboren, Hofkaplan des Königs Philipp Auguft von Frankreich, befang diefen König in feiner Philippis (9201 Herameter in zwölf Büchern) zwiſchen den Jahren 1214 und 12243. Ein ähnliches epifches Lobgediht widmete Nikolaus de Braja dem König Ludwig VIII. (Gesta Ludovici VII.) um 1226, Theodorus Balliscolor dem 1265 verftorbenen Papfte Urban IV. Einen nicht geringen Ruf ala Dichter erwarb fich Peter (von) Riga, Stiftäherr zu Reims, mit feiner Aurora, worin er in mehr als 15000 Verſen das Alte und Neue Zeftament, vorzugsweiſe nach der beliebten allegoriftiichen Seite hin bearbeitetet. Aegidius von Paris, der auch ein größeres Werk über Karl d. Gr. (Carolinus) verfaßte, ergänzte das unvollendete Werk, und Guido von Vicenza, Biſchof von Ferrara, ahmte es ein Jahrhundert fpäter in feiner Margarita Biblica nad. ine Fortfegung der Aurora ift auch der Hortus deliciarum des Hermann, Kuſtos zu Verden.

In 500 Diftihen verberrlichte der Magifter und Schulmeifter Juftinus zu Lippftadt (zwiſchen 1259 und 1264) den Stammheren Bernhard von Lippe, von deffen elf Kindern drei Söhne Bilhöfe wurden und der jelbft noch Mönd und Abt wurde und endblih al3 Milfionär dem Biſchof Albert

ı 9. 57—66.

2 H. Morley, English Literature 65 66.

* Herauägeg. von J. Dreyer, Antwerpen 1534; P. Pithou, Frankfurt 1596; Barth, Beipzig 1657.

+ Das Merk erfreute fich der größten Beliebtheit. Ungewöhnlic viele Hand— ihriften besjelben find darum erhalten; die königliche Bibliothet zu Paris allein bejaß deren fünfzehn. Ganz gebrucdt wurde es indes nie, Proben bei P. Leyser, Historia poetarum medii aevi, Magdeburgi 1721, 692 f; Migne a. a. ©. CCXII 17—42; Histoire litteraire de la France XVII, Paris 1832, 26-35. ®gl. Migne a. a. DO. COXII 41-46. Hist. litt. de la France XVII 86—69.

378 Dierzehntes Kapitel.

von Riga nad Livland folgte. Der flandrifhe Mönch Walther de Muda befang (um 1284) den Biſchof Trophimus in Norwegen, Heinrih Rosla aus Niemburg den Kampf, der 1287 von Heinrih dem Wunderbaren, Herzog bon Braunfchweig, um die Feſte Herlingdberg geführt ward. Franz de Keyſere (der fih Cäſar nannte) ſchrieb um 1293 ein verfifiziertes Leben des hl. Bernhard.

Die meiften diefer epiſchen Verſuche haben geringen poetifchen Wert, bezeugen aber immerhin, daß die antifen lateiniſchen Dichter eifrig gelefen wurden und dab ein reges literariiches Streben vorhanden war.

Vierzehntes Kapitel.

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Zahrhunderts.

Aus der borangegangenen Darftellung erhellt zur Genüge, dab das Studium und die Kenntnis der altklaſſiſchen Literatur, beſonders der latei- nifhen, nie ganz untergegangen, fondern bald in größerem, bald in ge ringerem Umfang die Grundlage der literariſchen Bildung geblieben ift. Meder Theologie und Philojophie noch Geſchichtſchreibung und Poefie ver: mochten fi davon freizumaden und haben dies im Grunde aud nicht angejtrebt. Neben einer Latinität, melde fi fait mur um den neueren chriſtlichen Gehalt fümmert und daher die altllaffiihe Schönheit von Form und Sprade völlig vernadhläffigt, finden wir faft durch alle Jahrhunderte Verſuche, auch den antifen Gefhmad und Yormfinn wieder zu erneuern. Bon Minucius Felix läßt fi dieſes Streben nad einer Renaiffance an einer langen Reihe von Namen bis in die Nähe Dantes verfolgen, der gewöhnlich als der erfte Vorläufer der „Renaiffance“ und des „neueren Humanismus“ gepriefen zu werben pflegt. Ambrofius, Prudentius, Priscian, Sedulius, Ennodius, Boöthius, Gaffiodor, Venantius Fortunatus, Aldhelm, Beda, Bonifatius, Alluin, Hroswitha, Hildebert von Tours, Johann von Salisbury, Aanus ab Inſulis, Peter von Blois bezeichnen die Bauptringe einer Über: lieferung, die nie völlig unterbrochen worden ift.

Daß in der Wertihäbung des Mittelalters die Theologie den erjten Rang einnahm, die Philofophie den zweiten, die übrigen Wiffenfchaften und die Literatur erft an dritter Stelle famen, rührt keineswegs von ehrgeizigen oder herrſchſüchtigen Beftrebungen der Kirche Her, ſondern liegt in der Natur der Sache jelbft begründet. Selbft bei den Hellenen wurde die Poeſie durch Politit und Rhetorik, diefe durch die PHilofophie und ſchließlich auch dieſe durch die encyhklopädiſche Gelehrſamkeit der Alerandriner zurlidgedrängt, und

Die Humaniften und bie Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 79

auch bei den Römern hat die forenfiihe und philoſophiſche Bildung vor der bloß poetiſchen und literariihen faft beftändig den Vorrang behauptet. Man kann darum auch der mittelalterlihen Scholaftit faum einen Vorwurf daraus machen, wenn fie zeitweilig das Intereſſe für die literarifchen und Hiftorifchen Studien zurüdgedrängt hat. Die größten Theologen des Mittelalters, wie Thomas von Aquin und Bonaventura, huldigten übrigens durchaus feiner jolhen Einfeitigkeit. Diefelbe zeigt fi erft feit dem Auffommen der Uni: verfitäten und ift lediglih der Konkurrenz, der Disputierfudht und dem Strebertum zuzujchreiben, das fih an denſelben entwidelte. Es fehlte auch nit an Männern, welche den Wert der humaniſtiſchen Studien wohl zu würdigen berftanden und nachdrücklich für fie eintraten.

In die Zeit der erften Salier hinein reiht Marbod, etwa um 1034 in der Bretagne geboren, von 1067—1081 Scholaſtikus an der Domjdule bon Angers, dann zum Biſchof von Rennes erhoben!. Nah achtundzwanzig— jähriger Verwaltung des Bistums zog er ſich ala ſchlichter Benediktinermönd in das Slofter des HI. Albinus zu Angers zurüd und ftarb hier 1123. Er hat die Poefie eigentlih ſchulmäßig betrieben und darum eine beträdht- liche Anzahl Heiner Werke in Verſen Hinterlaffen: ein „Büchlein von den drei Feinden“ (den Weibern, dem Geiz und der Ehrſucht), die bereits erwähnten Legendendichtungen über Theophilus, die malfabäifchen Brüder, den hl. Lau— rentius, das Martyrium des Hl. Viltor, des Hl. Mauritius und feiner Ge: noffen, der Hl. Felir und Adauctus, den Heiligen Biſchof und Belenner Maurilius. Daran reiht fih eine Sammlung Heinerer Gedichte, eine Sammlung didaktiſcher Sprüde über die „Redefiguren“ (De ornamentis verborum) und ein größeres didaktiſches Gedicht (Liber decem capitu- lorum)?. Nahezu alles ift in leoniniſchen, d. h. gereimten Herametern oder Diftihen abgefaßt, in welchen Marbod nicht geringe Gewandtheit ent: widelt. Er ſcheint fi dabei mehr der allgemeinen Mode unterworfen zu haben, als jeinem eigenen Gejhmad gefolgt zu fein. Das „Bud von den zehn Kapiteln“ wenigſtens, das er erft in feinem fiebenundjechzigiten Jahre ſchrieb, ift in gewöhnlichen (nicht gereimten) Herametern abgefakt, die im ganzen gut fließen und feineres Formgefühl verraten als viele der leo: niniſchen Neimereiend. Das merkwürdige Gedicht, wohl von Prudentius angeregt, beginnt mit einer Art Widerruf feiner jugendlichen Gedichte, die er ungeziemender Leichtfertigkeit anflagt. Er will es nun befjer machen,

! L. Ernault, Marbode öv&que de Rennes; sa vie et ses euvres (1085 a 1123), Rennes 1890.

2 Ausgaben: Edit. princeps, Paris 1531; Köln 1539; Bafel 1555; Göttingen 1799; von Beaugenbdbre, Paris 1708; danach bei Miene, Patr. lat. CLXXI 1457— 1784.

> Migne a. a. ©. CLXXI 1694—1716.

380 Vierzehntes Kapitel.

ftellt Normen für eine ernitere, würdigere Schriftftellerei auf, ſchildert dann den mannigfadhen Jammer der verjchiedenen Lebensalter in jehr trübjeligen Farben, und behandelt in den weiteren Kapiteln das verhängnisvolle Treiben ſchlechter Weiber, das jegensvolle Wirken braver Frauen, Laften und Freuden des Greifenalters, die Torheiten des Fatalismus und der Aftrologie, die Falſchheit des Epifureismus, das Glück wahrer Freundichaft, den Nuten und die Vorteile des Todes und endlich die Auferftehung der Leiber!. Weit mehr Anklang als diejes ernfte Mahn- und Troftbüchlein des greifen Biſchofs fand jein „Bud von den Steinen“, eine Beihreibung der Eigenjchaften und Kräfte, welche der damalige Volksglaube den einzelnen Edelfteinen und Steinen zufchrieb?. Es wurde wohl jhon gleichzeitig ins Altfranzöfifche überſetzt. Mehr poetiihen Wert haben einige von Marbods Hleineren religiöjen Ge— dichten, die in zwei Gruppen gefammelt find.

Marbods Gedichte find zuerft als Beigabe zu den Werten des Hilde bert von Tours gedrudt worden, eines etwas jüngeren Zeitgenoffen, der aber als Dichter ihn weit überragt und neben Adam von St Victor den größten Hymmendichtern des Mittelalters beizuzählen ift. Hildebert wurde 1056 ala Sohn eines Verwalters auf dem Schloffe Lavardin (bei Montoire) geboren und erhielt eine jorgfältige Ausbildung; wo, ift ungewiß. Biſchof Hoel von Le Mans übertrug ihm die Leitung jeiner Domſchule und ernannte ihn (1091) zum Ardidiafonus. Nah dem Tode des Biſchofs (1096) wurde Hildebert felbft zu deffen Nachfolger erwählt. Als Biſchof erwarb er fi) mitten in ſchwierigen Zeitläufen um die Kirche die vieljeitigften Verdienſte, nahm 1119 Anteil an dem Konzil, das Papſt Galirtus IL in Reims hielt, und wurde 1125 auf den ehrwürdigen Metropolitanfig von Tours erhoben. Als Erzbiſchof entfaltete er eine ebenſo ſegensreiche Tätigkeit bis zu feinem Zode (1133). Seine ausgebreiteten klaſſiſchen Studien und poetiihen Werte fallen Hauptfählih in die Zeit jeiner Wirkſamkeit ala Domfholafter zu Le Mans; er ſcheint der Poefie auch nachher nicht ganz untreu geworden zu fein, aber fie war für ihn nicht eigentlicher Zebensinhalt und Hauptftreben, jondern nur eine freundliche Zufpeije des Lebens. Dennoch hat er ziemlich viele Gedichte Hinterlaffen, und im mehreren berjelben zeigt ih ungewöhnliche Begabung ?.

! Oratio ad Dominum, bei Trench, Sacred Latin Poetry* 280 281. Gebet an Gott ben Vater Universae Creaturae bei Fortlage, Gefänge ber dhrift- lihen Vorzeit 275. Bußlied Cum recordor, quanta cura ebd. 273.

? Carmina varia bet Migne, Patr. lat. CLXXI 1647—1685 1718—1736.

> Venerabilis Hildeberti opp. tam edita quam inedita edd. An- tonius Beaugendre, Parisiis 1708. Migne a. a. ©. CLXXI 1—1458. Deservilliers, Un &väque du douzi&me siecle, Hildebert et son temps, Paris 1876. Höbert-Duperron, De venerabilis Hildeberti vita et scriptis,

Die Humaniften und die Schulpoeſie des 12. und 13. Jahrhunderts. 381

Umfangreichere Gedichte behandeln: „Die Heilige Meſſe“, „Die heilige Euchariſtie“, „Das Sechstagewerk“, „Die Weltordnung“, „Den Schmud der Welt“, ausgewählte Stellen aus den „Büchern der Könige”, „Die Ge- ſchichte der Suſanna“, „Die Makfabäer“, „Den hi. Vincentius“, „Das Martyrium der Hl. Agnes”, „Die Auffindung des heiligen Kreuzes“, „Das Leben der Hl. Maria von Ägypten“. Daran reihen ſich zwei Sammlungen Heinerer Gedichte: eine von moraliiden Sprüden aus dem Alten Teftament, die andere bon chriſtlichen Inſchriften. Wieder ein längeres Gedicht Führt und die Tiergeflalten des Phyſiologus in Herametern vor, mwährend ein anderes (in leoninischen Diftichen, in jechzehn Gefänge geteilt) das Leben des Pieudopropheten Mohammed in überaus merfwürdiger Faſſung erzählt, ein noch unvollendetes (in fünfzehn Gejängen Liber dietus mathematicus) gegen die Aftrologie gerichtet ift. Eine erfie Sammlung „Bermifchter Ge: dichte” umfaßt hundertvierzig Nummern, eine zweite fiebzehn, ein Supplement noch neun weitere!, Iſt aud unter der kritiſchen Forſchung neuerer Zeit die Zahl der Gedichte, die ganz unzweifelhaft von Hildebert herrühren, ziemlich zufammengejchmolzen, jo behalten erftlich doch alle nahezu ausnahmslos ihren Wert als Erzeugniffe diefer Periode, und für Hildebert ſelbſt bleiben ihrer genug gerettet, um feine herborragende literariihe Bedeutung, feine viel: jeitige Bildung, jeine Formgewandtheit, fein wirklich poetiſches Genie ſicher— zujtellen 2,

Am meisten Anklang von feinen Gedichten fanden bei den Zeitgenoffen zwei „Römiſche Elegien“. Die erftere erwähnen nicht nur Helinand und Vincenz von Beauvais, Wilhelm von Malmesbury nahm fie unter dem Namen des Verfaſſers ganz in feine Chronik „Won den Taten der Eng: liſchen Könige“ auf, obwohl fie faum in den Tert paßte. Die zwei Ge: dichte verdienten die Aufmerkſamkeit. Sie jpiegeln den lebendigen Eindrud, den die Trümmer des antifen Rom, wie die Leiden des päpftlichen Rom

Bajocis 1855. Haurdau, Meölanges poétiques d’Hildebert de Lavardin, Paris 1882, Dieudonne, Hildebert de Lavardin, Evöque du Mans, Archeve- que de Tours. Sa vie, ses lettres, Paris 1898.

ı Haureau.a..a. O. 217 218.

? Sicher von Hilbebert flammen Die Versus de Sacrificio Missae, De operibus sex dierum, Inscriptionum christianarum libellus, Vita Mariae Aegyptiacae; von ben Carmina miscellanea Nr 40 43 50—54 58 63 64 71 75 79 106 110 112 127 130 140; von ben Carmina indifferentia Nr 2 4 14. Wahriheinlih von ihm ift Die Historia de Mahomete, ebenſo zahlreihe der Carmina miscellanea et in- differentia. Strengerer Unterfuhung barren no: De ordine mundi, Carmen in libros regum, Versus de 8. Vincentio, De inventione S. Crucis, Lamentatio pec- catrieis animae. Die Bearbeitung des Physiologus wird von Hauréau Tibald zugeichrieben, der Liber mathematicus Bernhard von Ehartres (Sylvefter), die Passio S. Agnetis bem Petrus von Riga.

382 Vierzehntes Kapitel.

unter Paschalis IT. auf den ebenjo kirchlich gejinnten als humaniſtiſch ges bildeten Biſchof machten!.

Nichts wiegt, Rom, dich auf, ob auch du beinah' in Ruinen; Wie gewaltig du warſt, laſſen die Trümmer noch ſehn. Alter zerſtörte die Pracht und die ſtolzen Bogen der Kaiſer, Götter und Tempelgepräng liegen begraben im Sumpf. AL die errungene Macht ſtürzt, die ber grimme Araxes Fürchtete, da fie ftand, da fie geſunken, beflagt; Welche ber Könige Schwert, des Senates jorgliche Weisheit, Welche die höchſte Gewalt jelber zum Haupte erſehn; Melde lieber allein, mit Verbrechen beladen fi wählte Gäfar, als daß er fie fromm hätte mit andern geteilt. Alles beuget jein Stolz ins Jod, Freund, Feinde, Berbreden, Zwingt mit Geſetzen das Recht, fauft fi) mit Geldern bas Bolt, Alles förderte einft ber Weltmacht Werden, ber Ahnen Sorge, das gaftlihe Recht, Freundihaft und Waffer und Land. Steine und Kräfte zum Bau, Geld fandte der Norb unb der Süden, Und zur gewaltigen Burg behnten die Hügel fi aus. Schätze jpendeten dann die Fürſten umb Segen das Schidjal, Künftler beharrlichen Fleiß, einige Hilfe die Welt. Dennoch fiel bie Stabt: was läßt fih Würbdiges jagen Als nur das eine von ihr: Nom war, das einzige Rom! Nicht die Länge ber Zeit indes, nit Flamme, nit Eifen Konnte raffen dahin alle die ſchimmernde Pradt. Menihliher Kunft gelang’s, jo groß dies Rom zu gejtalten, Daß zu zerftören e8 ganz nimmer den Göttern gelang. Möchten vereinen fih auch zum Neubau Marmor und Schäße, Neue fürftliche Gunft, treffliher Künſtler Geſchich, Nimmer zur Dauer empor wird rüden body die Maſchine, Noch aus den Trümmern heraus wieder ſich heben ber Bau. So viel bleibt noch beftehn, fo viel finkt, daß nie das Neue Würdig das Alte erſetzt noch das Zerftörte ergänzt. Götter bewundern bier ſelbſt die hehren Göttergeftalten, Und dem erbichteten Bilb möchten fie gleihen gar gern; Nimmer vermochte Natur den Göttern ein Antlif zu formen, Mie es menſchliche Kunft ftraßlend von Schönheit erſchuf. Was zu Göttern fie macht, das ift ihr Antlig; Verehrung Finden fie nicht durch fi, nur durch die Wunder der Kunft. Glückliche Stadt, wärft du nur endlich) der Herrfcher entlebigt Ober für Glauben und Recht hätten die Herrſcher Gefühl!

! Datur in praedam civitas Romanorum et apostolici sedes fastigii cruentis Saxonum direptionibus profanatur, Adducitur papa captivus et iniquorum pedibus pontificalis infula conculcatur. Desolata moeret cathedra sanctitatis, et, cui omnes tribus et linguae servierant, Roma redigitur sub tributo. Polluerunt -Ecelesiam Dei canes immundi et Germanorum cruda barbaries divinae legis iugulat filios et captivat ministroes (Hildeberti Epistolae lib. 2, ep. 21; Migne, Patr. lat. CLXXI 232). Die zwei Elegien (Carmina miscellanea n. LXIII LXIV) bei Migne a. a. ©. CLXXI 1409 1410, überjeßt vom Berfaffer.

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 383

Mit den „Herrſchern“ können nur die Ghibellinen gemeint fein, melde damals in jhlimmfter Weife die firchliche Freiheit mit Füßen traten.

Den Gegenjah des chriftlihen zum antiten Rom zeichnet der Dichter in der folgenden Elegie, indem er diejelbe der Stadt jelbft in den Mund legt:

Als no der alte Olymp mir, bie leeren Götzen behagten, Ragten mir herrſchend empor Krieger und Mauern und Volk. Aber jeitdem ich geftürzt die falſchen Altäre und Bilder, Und mid zum Dienfte verfprad) ewig bem einzigen Gott, Sind die Burgen geftürzt, gefunten ber Götter Paläfte, Ward zum Sflaven- das Volk, ward aud ber Ritter zum Knecht, Weiß ih faum, wer ich bin, hat Rom fich felber vergeffen, Gönnet mein Fall mir faum, da man noch meiner gedentt. Doch willlommener ift ber Verluft mir als das Berlorne, Größer bin ih im Fall, reicher, von allem enterbt. Mehr als ber Adler gilt mir das Kreuz, mehr Petrus als Cäſar, Mehr als der Feldherren Schwarm bot mir das wehrloje Volf. Ragend einft zwang ich die Welt, zerftört bekämpf' ich die Hölle, Ragend gebot ich bem Leib, miebergeichmettert dem Geift. Damals zagenber Plebs, den Fürften der Nacht jept gebiet’ ich; Städte waren damals, jetzo der Himmel mein Reid). Daß es nicht fhiene, ih dankt’ es ben Waffen oder Cäſaren, Daß nicht täufhender Glanz mid und die Meinen umfing, Sant mein friegerifcher Ruhm und der Schimmer bes hehren Senates, Stürzten die Tempel bahin, fielen Theater in Staub, Stehen die Roftra Leer, nicht gibt's mehr Edifte noch Kriegslohn, Bauern fehlen bem Feld, Recht und Gerichte der Plebs. Träge ber Adel erjchlafft, der Richter läßt fich beſtechen, Und der freiheit entwöhnt, ſchmiegt fi dem Joche das Volk, AL das lieget im Staub, daß nicht meine Bürger ihr Hoffen Setzen daran und das Kreuz drüber verlöre den Wert. Andere Tempel verheikt und andere Ehren das Kreuz ung, Seinem Waffengefolg ſpendend ein ewiges Neid). Unterm Kreuze dient ber König als freier, bie Krone Löfet ihn nicht vom Geſetz, Liebe veredelt die Furcht. Reichlich der Geizige gibt und gewinnt und ſammelt fih Zinfen; Sicher bemwahret fein Gut, wer ob den Sternen e3 birgt. Welches Cäſarenſchwert, welch’ fonjularifche Klugheit, Welche Rhetorenfunft, welches bewährtefte Heer Hat mir fo Großes verſchafft? Ihr Eifer hat mir erÖbert Länber; doch nur bas Kreuz hat mir den Himmel gebradt.

Die Überfegung vermag die Haffiihe Abrundung und Schönheit der beiden Elegien nicht wiederzugeben. „Wir nehmen an”, jagt Haurdau, „daß Hildebert dieje beiden Stüde nad feiner langen Reife durch Italien ver— faßte. Ein feinfühliger, empfänglicher und wiſſenſchaftlich gebildeter Mann wie er, der fi durch bejtändiges Studium des Vergil und Horaz faft zu deren Landsmann, wenn nicht Zeitgenofjen gemadt hatte, ein ebenfo leiden-

384 Vierzehntes Kapitel.

ſchaftlicher Verehrer aller lateiniſchen Herrlichkeiten, fonnte durch den Anblid der römischen Ruinen nur aufs tieffte ergriffen werden. Diefe Ergriffenheit diftierte ihm das erſte Gedicht, weitere Betrachtung das zweite.“

Dieſelbe Haffishe Formvollendung zeigt fi in andern, mehr weltlichen wie religiöjen Gedichten. Sie hat unzweifelhaft mit beigetragen, daß Hildebert aud in rein rhythmiſchen Gedichten eine ungewöhnliche Schönheit und Fülle der Yorm entfalten konnte,

Bon einer auferordentlihen metrifhen Fertigkeit, klaſſiſcher Schulung, poetifcher Erfindungsgabe und Darftellungstunft zeugt das erwähnte Fragment, das den Titel Liber mathematicus? trägt, das man aber am beften wohl „Das Horoſtop“ überjchreiben fönnte. Den Vorwurf der breit angelegten, in fünfzehn Kapitel geteilten Erzählung bilden die tragiſchen VBerwidlungen, welche die abergläubijche Furt vor einem ſchreckhaften Horojtop hervorruft. Mag das Gediht nun don Hildebert herrühten, wie Beaugendre meinte, oder von dem Philojophen Bernhard von Chartres (Sylvefter), welchem Haurdau es zujchreibt, jedenfalls gehört es bderjelben Zeit und durchaus derjelben humaniftiichen Richtung an. Dem Dichter war es fihtlih darum zu tun, dem Glauben an Nftrologie, der damals noch lebhaft in vielen Gemütern fpufte, ein Schnippchen zu ſchlagen; doch drängt ſich dieſe Tendenz nirgends unmittelbar auf; fie liegt einfadh in dem Stoffe, den der Dichter, ohne zu moralifieren, dichteriih ausführt und objektiv wirken läßt. Die Handlung ift in das alte Rom verfegt und trägt vorwiegend antikes Kolorit, aber dod) öfter recht naiv mit mittelalterlihen Anſchauungen vermifcht; die Berwidlung erinnert in ihren Hauptumriffen an die Dedipusfage, die Aus: führung aber, bejonders die leicht dahinfließenden, wohllautenden Diftichen, an die Fasti und Elegien des Opid.

Niemand ift hienieden vollkommen glücklich; e& fehlt immer an irgend einem Punkte das bringt das menſchliche Dafein mit fih. So fängt die Geſchichte an. Ein reicher, vornehmer, mit Kriegsruhm geſchmückter Römer lebt in glüdlichfter Ehe mit feiner durch alle nur erdenklichen Bor- züge ausgeftatteten Frau. Nur eines mangelt zu ihrem Glüde: Kinder jegen. Der Mann altert ſchon zujehends; die Hoffnung auf Nachkommen— Ihaft nimmt immer mehr ab. Da wendet ſich die Frau an einen Sterndeuter und läßt fi das Horojfop ftellen. Es wird ihr ein Sohn verheißen, und

! Seine Legende ber „bl. Maria von Ägypten”, ſchließt fi, abweidhenb von ber lateinifchen Bearbeitung des Paulus Diaconus, jo genau der urfprünglich griehifchen Faſſung an, dab die Bollandiften fogar die Vermutung ausfpraden, er hätte dieſelbe nah ber griehiihen Vorlage ausgeführt, alfo griehijh verftanden. Seine Briefe beuten freilich auf keine nähere Belanntihaft mit dem Griehifhen hin, wohl aber auf große Bertrautheit mit Ovid, Vergil, Horaz, Terenz, Seneca und Bosthius.

®? Migne, Patr. lat. CLXXI 1365— 1830.

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 385

zwar einer, der zugleih Paris, Achilleus, Kröjus und Ulyſſes in deren Einzelvorzügen übertreffen, die Herrſchaft über Rom erhalten, aber das ift ebenjo gewiß ſchließlich ſeinen Bater umbringen ſoll. Mehr ängftlich und jorgenvoll als hoffnungsfroh kehrt fie nah Haufe zurüd und, von ihrem Gemahl um ihren Summer befragt, eröffnet fie ihm die erhaltene Meisfagung. Dem Manne tut e& leid, daß Juppiter ihm nur unter jo ihredliher Bedingung einen Sohn gewähren will; aber als rauher Soldat tritt er dem drohenden Unheil mit graufamer Entjhloffenheit entgegen und nimmt feiner Frau da3 Verſprechen ab, falls fie einen Knaben zur Welt bringe, denjelben fofort zu töten (Cantus I und ID). Die rau verjpricht dag, Wie fie aber eines allerliebften Knäbleins geneft, bringt fie e& nicht übers Herz, das fchredliche Verſprechen zu halten, fondern übergibt das arme Kindlein insgeheim fremden Leuten, um es aufzuziehen. Es erhält den Namen Patricida, damit es ſchon von Kindheit an abgejchredt würde, je das Verbrechen zu begehen, das die Sterne von ihm verfündigten. Das Kind wählt zum ſchönſten, talentvollften Knaben heran und erhält nun die aus— erlejenfte Erziehung. Der Dichter läßt fidh die Gelegenheit nicht entgehen, bei diejer Gelegenheit die Studien des Triviums und Quadriviums in eleganten Verſen zu harakterifieren. Nachdem die Studienlaufbahn vollendet, tritt der wadere Jüngling alsbald ins Heer, um allen Gefahren eines untätigen Schlaraffenlebens zu entgehen. Raſch fteigt er zum höchſten Kriegsruhm empor und wird „Bannerträger des Auſoniſchen Reiches“ (IT).

Nun bricht Krieg zwiſchen Rom und Karthago aus, aber nicht der mweltbefannte Puniſche Krieg; Rom hat einen König. Bon Hannibal und einem Alpenübergang ift nicht die Rede. Zur See bringen die Karthager plöglih ein riefiges Heer nad Italien, das Rom mit dem Außerften be: droht. Der König und die höchſten Heerführer werden gefangen. Rom wäre verloren, wenn ihm in dieſem kritiſchen Augenblid nicht der jugendliche PBatricida zu Hilfe käme. Mit jeinen Scharen durchbricht er die Reihen der Punier und gewinnt einen vollftändigen Sieg (IV). Der befreite König meldet den Triumph nah Rom und bewirbt fih um den Lorbeer. Der Senat antwortet zweideutig, dem Sieger folle der verdiente Lorbeer zu teil werden. Da iſt der König denn doch ehrlih und Hug genug, den wirt lihen Sieger anzuerkennen. Im einer prächtigen Rede legt er jeine Würde nieder und übergibt Scepter und Reich dem tapfern Patricida. Diejer wird gekrönt und auf jchneeweißen Pferden, umjubelt von Senat und Bolt, zue Juppiterftatue auf dem SKapitol geführt (V).

Eine unermeßliche Freude überftrömt die Mutter, welche insgeheim dem Schickſale ihres geretteten Sohnes gefolgt ift. Aber die Macht, melde nun in jeinen Händen ruht, die bisher wörtlicde Erfüllung alles deſſen, was

der Sterndeuter ihm verheißen bat, läßt den lebten Teil der Weisſagung Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl, 25

386 Vierzehntes Kapitel.

jet doppelt bedrohlich eriheinen. In ihrem Herzen entipinnt fi ein furdht- barer Kampf zwiſchen Mutterliebe und Gattenliebe. hr Kummer ift dem Gatten unbegreiflih. Zuletzt fann fie das fchredliche Geheimnis nicht mehr bei ji behalten (VI).

Ehlihe Treue und Recht verpflichteten fie zu geftehen, Was mit befj'rem Erfolg wäre geblieben verhehlt.

„Heil'ge Natur“, ſprach fie, „ich könnte bei bir mich beklagen, Die du niemals ans Werk legſt die vollendende Hand!

Haft du auch viel mir gewährt, du Tießeft zum Weibe mich werben, Und dies eine fhon hat wichtige Gunft mir verjagt.

Denn jo ift mein Geihleht es haffet nun einmal die Tugend, Iſt zu allem geneigt, was es an Frevel nur gibt.

Könnten bie Himmlifchen nur ausrotten für immer der Weiber Boſes Geihleht, dem Mann wäre gefichert die Welt.

Peftluft, Schlachtengewühl und Dieeresftürme verderben Nicht der Männer fo viel, ald das gefühlloie Weib.

Für Jahrhunderte hegt der Baum und die Pflanze fih Samen Und erhalten am Blühn aljo ihr eignes Geſchlecht:

So auch heget das Weib in fi die Wurzeln bes Frevels, Nähret ben treibenden Keim ſtets fich erneuernder Schuld.

Kim’ auch zurüd uns die Zeit der alten Einfalt und Güte, Schwände der findige Geift überverfeinter Kultur,

Wäre das Weib jhon im ftand zu erneuern die ſchädlichen Künfte Und zu erfinden dazu nod ein verberbliches Werk.

Grimmige Löwen vermag bie Zeit, bie mächt'ge, zu zähmen, Tiger und Bärinnen kann bändigen ihre Gewalt;

Einzig das Weib beharrt bei feiner Bosheit und ändert Niemals im Laufe der Zeit feine verdbrehte Natur.

Hätte ein Weib jein Geſchlecht jemals von Grund aus verleugnet, Wären ein Wunber nit mehr Raben von blendendem Weiß.

Doch, wozu der Natur, wozu den herrſchenden Sitten Schreibe, Verwegene ich, eigenen Frevel zur Laſt?

Wenn ich ſchändlich und ſchlecht, graufam, nichtswürdig gehandelt, Warum laff’ ih mit Shmad haften dafür mein Gejchledht?

Ach, es findet fidh nichts, was färben fünnte mein Unrecht, Noch, was ich frevelnd beging, fünnte entziehen dem Blick!

O mein Gemahl! fo lang Hintergangen bu haft eine Gattin, Melde nit Gattin für did), nein, eine Feindin dir war.

Vielleicht haft du gewähnt, mit taufend Erweiſen der Liebe, Zaufend Dienften der Huld dir zu erobern mein Herz:

Denn bein einz’ger Gebanfe war ih von ber erften Begegnung, Einziges Sehnen und Biel, einzige Sorge für Did).

Ad, dein Lieben, es ward dir nicht gebührend erwibert, Was bu Gutes mir tatft, ward dir unwürdig gelohnt:

Liebe vergolten mit Hab, Wohltat mit ſchmählichem Undant, Freundliches Lob mit Schmach, Treue mit ſchwarzem Verrat!

Sinne, mein Gatte, darum auf neue, ſchreckliche Strafe, Reihe mein Herz aus dem Leib, jpanne die Glieder aufs Rab!

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 15. Jahrhunderts. 387

Reichlich Hab’ ich verdient, was nah Rhabamantifhem Spruche Duldet der fündige Schwarm drunten im Tartarusſchlund.

Doch du zweifelft und ftarrft, weißt nicht, wa8 bie Worte bedeuten Nun, wohlan, jo vernimm, was meine Nede bezmwedt. Einft, du erinnerft dich noch, gebar id) den Sohn, dem die Sterne Numas heil’ge Gewalt, Scepter verhiegen und Thron. Doch fie verhiegen zugleih ab, Tränen find befjer als Worte! Wehe! der jhredlihe Sohn brädte den Vater ins Grab. Schaubernd vor dem Bericht haft du bie Mutter gewaffnet Wider ihr eigenes Kind, haft es zum Tode verdammt, Aber mächtiger war die Natur ald Mahnung und Drohung, Hat ihr eigenes Gebot jonder Bebenfen erfüllt. Meiner Lüge du glaubft, du wähnft das Kindlein getötet, Uber es lebt und gedeiht, ſorglich von andern gepflegt. Magit du Sünde es nun, magſt du Verbrechen es nennen, Freudig ladet dem Kind auch noch der heutige Tag. Jener, der ift dein Sohn, den bu fo oft ſchon bewundert, Defien Reden und Tat du jhon fo häufig belobt. Jener, der ift bein Sohn, ben in fieben Gürteln ber Erbe MWeithin alles Wolf kennet und ftaunend verehrt. Jener, ber ift bein Sohn, von dem zu lügen fein Neiber, Nicht der erbittertfte Feind, jelber die Fama nicht wagt. Jener, der ift dein Sohn, von dem überwunden Karthago, Wenn ed auch Hannibals denkt, nimmer erniedrigt fi fühlt. Jener, der ift dein Sohn, der thronet auf fürftlihem Site, Siehe, voll ftrahlenden Ruhms führet das Ecepter der Welt! Alles hat ſich erfüllt, was der Deuter der Sterne verheiken, Übrig bleibet nur eins: das, was dein Schickſal betrifft. Aber es ziehen dahin die Sterne nah ew’gem Verhängnis: Zeigen muß es fi bald, was dir das Fatum bejchied.“ !

Sprachlos ftarrt der Vater über die unerwartete Hunde. Dod er ift feine jähzornige, leidenjhaftliche Natur. Er ſchwankt lange zwijchen Freude und Furt; aber ftill wägt er die Ehre und das Glüd, das ihm in feinem Sohne zu teil geworden, gegen die Gefahr, die ihm zufolge des Horojlops von demjelben Sohne droht, und je länger er überlegt, defto mehr fiegt die Vaterliebe über jedes Bangen. Er tröjtet jeine Gattin, er dankt ihr, er wünſcht ihr Glüd, er fieht in dem Ruhm des Sohnes nur mehr jeinen eigenen. Einmal muß man ja doc fterben. Was kann es Beſſeres geben, al3 in einem ſolchen Sohne fortzuleben? Er will fi gerne in das ge: weisſagte Todeslos ergeben, wenn es ihm nur vergönnt ijt, den herrlichen Sprößling liebend in feine Arme zu jchließen (VIII).

So ziehen denn Vater und Mutter zum Sapitol. Patricida Führt eben den Vorſitz in der Senatsfigung. Den Vater fennt er nit; aber

t Migne, Patr. lat. CLXXI 1371 1372, überfeßt vom Verfaſſer. 25*

388 Vierzehntes Kapitel.

die Mutter erfennt er alsbald, erhebt ſich, fteigt von feinem Throne nieder und geht ihr entgegen. Sie bittet ihn um eine geheime Unterredung (IX). Ihre Bitte wird aldbald gewährt. Vater, Mutter und Sohn meilen nun zum erftenmal beifammen. In langer Rede ergießt die Mutter ihre Herzens: freude und ftellt endlih den Sohn dem gerührten Vater vor (X). Die erfte Seligfeit des Zufammenfindens wird dur feinen Schatten getrübt; dann aber greift der Vater zum Wort, um den Sohn mit dem Horoſkop, mit feinem eigenen Blutbefehl, mit der düſtern Ausſicht in die Zukunft bekannt zu machen. Zum voraus wälzt er alle Schuld des künftigen Vatermordes von dem Sohne ab. In jchneidender Schärfe harafterifiert er die ſchauder— vollen Folgen des Fatalismus. Tief ergreifend ift die Liebe gezeichnet, mit welder, troß der entſetzlichen Weisſagung, Sohn und Eltern aneinander hängen (XT). Der folgende Geſang meldet die Betrachtungen, welche Patri- cida bei ſich anftellt: der Höhepunkt des Glüds ift für ihn ein Yall ins tieffte Unglüd geworden (XII). Er ruft Senat und Volk zufammen, hält ihnen jeine bisherigen Verdienfte vor und bittet fie, ihm eine Gunft zu gewähren (XII). Was er immer nur wünſchen mag, wird ihm zugeltanden. Er bittet fie num um die Gnade, flerben zu dürfen, und ſetzt ihnen zur Begründung diefer Bitte die Vorausſagung des Sterndeuterd auseinander (XIV). Verſchiedene Redner ſuchen ihn umzuftimmen, aber alles prallt an jeinem feſten Entihluß ab. Er beruft ſich auf die ihm bereits zugeftandene Gunft, und um frei zu werden, legt er Krone und Scepter nieder. Hier briht das Fragment ab (XV).

Die häufigen Laffiihen Neminiscenzen, die breiten Reden und ihre thetorijche Ausführung, ſowie manches andere verraten das Heine Werf als Schuldichtung. Die feine pſychologiſche Behandlung der drei Hauptcharaltere, die dramatiiche Lebendigkeit der Erzählung, die Wahrheit und Friſche des Affeltes und vorab die ſchönen Verje bezeugen aber doch aud wieder die Tatſache, dab Schule und Dichtung fih durchaus nicht immer gegenfeitig ausſchließen. Wie wenig aber der Dichter die Rhetorik überſchätzte, beweijen die feinen Diftichen, mit welchen Patricida im legten Gejang des Fragments die funftvollen Einreden der römiſchen Rhetoren zurüdweift:

Eloquitur, vultumque sui sermonis inaurat Pollio, facundi pectoris arma movet.

Suadet, adornat, agit, oratoremque colorat, Alterat arte modos, alterat arte vires.

Non ea depictae venus est aut gratia vocis, Quae mea pervertat vota meumque mori.

Agrestis tam voce fuit quam veste Camillus, Gratus apud superos rusticitate sua.

Non pietis nugis rigidi placuere Catones, Sermo patens illis et sine veste fait.

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 389

Agresti Latio monstravit Graecia blandum, Graecia perplexum, Graecia grande loqui.

O gravis illa dies, qua simplex et rude verum Sorduit et pieti plus placuere soni!

Aequor inaccessas utinam fecisset Athenas, Non foret eloquii Roma nitore nocens.

Ländlih war wie das Kleid jo die Rebe des wadern Camillus,

_ Grabe fo bäuerlih jhliht war er ben Göttern genehm.

Nicht dur Fünftlihen Tand gefielen die ftrengen Gatonen, Unbemäntelt und Far lautet ihr offenes Wort.

Hellas erjt lehrte zu Rom die Kunft, einſchmeichelnd zu reden, Hellad verwidelten Kniff, Hellas erhabenen Stil.

Unglüd bradte der Tag, an welchem die jhhlichte und rechte Wahrheit nimmer gefiel, nur mehr gefünftelter Schmud.

Hätte das Meer doch Athen uns unzugänglich geftaltet, Nimmer duch ſchädliche Kunft, hätteft du, Roma, geglängt!

Wie ji feine humaniftiihe Bildung mit der innigften religiöfen und fichlihen Lyrik vertrug, davon ift Hildebert von Tours wohl das glänzendfte Beijpiel!, Aber auch die mittelalterlihe Scholaftif ftand der humaniftiichen Bildung gar nicht jo wildfremd und gegenſätzlich gegenüber, wie die fpäteren Humaniften des 16. Jahrhunderts der Welt glauben machen wollten. Schon das Anjehen und der Einfluß des Boöthius bildete Hier eine verbindende Brüde. Gab es num aud) jpelulative Köpfe, welche, einzig um die abfirafte Wahrheit befümmert, wenig oder nichts auf ftiliftiiche Darftellung gaben, jo fanden fi) doch wieder andere, welche für beides Neigung und Verftändnis bejaßen. Der bedeutendite Vertreter dieſer Richtung ift der gelehrte Engländer Johannes von Salisbury (loannes Sarisberiensis).

Um 1120 zu Salisbury geboren, widmete er fi über zwölf Jahre in Frankreich, zumeift in Paris, dem Studium der Philofophie und Theo: logie, hörte Abälard, Meiſter Alberih von Reims, Robert von Melun, Wilhelm von Condes, den Deutſchen Hardewin, Meifter Theodorih, Wilhelm von Soiſſons, Meifter Gilbert de la Porree, Robert Pullus und andere Vehrer, ward dann auf Empfehlung des Hl. Bernhard Selretär des Erz- biſchofs Theobald von Canterbury und feines Nachfolgers, des hl. Thomas

! Ainsi, gräce & sa largeur d’esprit, cet homme d’action d’un caractere doux et generalement ferme, ce galant homme qui donna par sa prösence un lustre de bon ton et d’urbanit6 a la société feodale de son temps, ce savant docteur, potte a ses beures, allie a une foi hors de tout soupgon un goüt tr&s prononce de la raison; petri des enseignements de saint Augustin, il conserve une main dans la main des auteurs anciens, qu’il connaissait et jugeait si pr&cieux pour leur esprit pratigue, pour leurs reflexions morales et leurs consolations (A. Dieu- donne, Hildebert de Lavardin, Paris 1898, 285).

390 Vierzehntes Kapitel.

Bedet, und endlih nad deſſen Tod (1170) ſelber Biſchof von Chartreg, in welcher Würde er 1180 ftarb, nahdem er das Jahr zubor dem latera- nenfiihen Konzil angewohnt hatte !.

Zehnmal in jeinem vielbewegten Leben verließ er England und über: Ihritt die Alpen, zweimal durchwanderte er Apulien, wiederholt führten ihn wichtige Geſchafte nah Rom, wiederholt durchreifte er England und Frant: reih?. Seinem Erzbifhof und der Kirche in den ernfteften kirchenpolitiſchen Zeiten unbedingt ergeben, beftändig in die widhtigften Geſandiſchaften und Geſchäfte verwidelt, fand der geiftvolle Mann noch Zeit, die wiffenjhaft- Iihen Bewegungen jener Tage mit größtem Intereſſe zu verfolgen und außer vielen dentwürdigen Briefen nod mehrere Schriften zu verfaffen, die von der außerordentlihen Wieljeitigfeit feiner Kenntniffe Zeugnis geben. Das umfangreihfte Wert, Polycraticus, sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri octo, widmete er 1159 dem damaligen Kanzler Thomas Bedet. Es ift weniger ein einheitliches Werk als eine Sammlung publiziftiiher Eſſays, in welchen die wichtigften Zeitfragen bald mit Shulmäßigen Ernſte, bald mit ſatiriſch-ironiſchen Seitenhieben, immer aber mit einer gewiffen Eleganz der Darftellung und mit Heranziehen vieler antifer Schriftiteller, Dichter wie Projailer, abgehandelt werden. Die erften Bücher verbreiten fi) über die Zerftreuungen des vornehmen Hoflebens, wie Jagd, MWürfelfpiel, Mufit, Schaufpiel, Minnefang, Wahrfagerei und Aftro- logie, welche mit hohem fittlihen Ernfte abgeſchätzt, das Erlaubte zugeftanden, das Verbotene und die ſchädlichen Auswüchſe ironisch zurüdgemwiejen werben. Noch jchärfer geht Johannes im dritten Buch der höfiſchen Schmeidhelei, Kriecherei und Intrigenwirtfchaft zu Leibe. Im vierten und fünften werden Hauptfählih die Pflichten eines Königs beſprochen, im ſechſten jene des Adels. In den zwei legten Büchern wendet fi Johannes von dem höfiſchen Leben und Treiben der ernften Wiffenihaft zu und würdigt der Reihe nad) die philofophifchen Syſteme der Alten.

Wie zuvor die Schmeidhler und ntriganten, jo belämpft Johannes bier hauptſächlich die Dialeltifer, welche ihr Fach, die Dialektit, aus einem Mittel zum Zweck maden und fo durd) leere Formaliſtik, Streiterei, ein— feitige und rationaliftiiche Behandlung der Theologie und der Wifjenihaft überhaupt den mannigfadhften Schaden beibringen ?. Angriffe von ſeiten jolder einjeitigen Dialektifer veranlaßten ihn, fih in einem zweiten Werk, dem Metalogicus, ebenfall® dem hi. Thomas Bedet gewidmet, in vier

! Metalogicus lib. 2, ec. 10 (Migne, Patr. lat. CXCIX 867—869).

® Metalogicus lib. 3, prooem. (Migne a. a. O. CXCIX 889).

® Joannis Saresberiensis Opera omnia nunc primum in unum col- legit J. A. Giles, 5 Bde, Oxonii 1848, abgedrudt bei Migne a. a. O. CXC 195 f; CXCIX 1—1039.

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12, und 13. Jahrhunderts. 391

Büchern zu verteidigen, indem er den Unterſchied der wahren von der falſchen Wiſſenſchaft noch einläßlicher zeichnete. Weniger bedeutend ijt die kleine Schrift De septem septenis. In fehr mwürdiger, anziehender Form find die Biographien der beiden heiligen Erzbiihöfe Anſelm und Thomas von Ganterbury gehalten.

Dem Polyceraticus ift eine längere poetijhe Einleitung in Diftichen borgejegt, welche den Titel Entheticus führt und einen reihen Kranz der geiftreichiten Sittenſprüche in fi) vereinigt. Denjelben Titel Entheticus de dogmate philosophorum führt eine Sammlung von Sprudgedichten, die fih auf 1852 Verſe beläuft. An diejelbe jchließt ſich ein längeres alle: goriiches Gedicht, De membris conspirantibus, das unter dem Bilde einer Verſchwörung der übrigen Glieder gegen den Bauch in artiger und witziger Weiſe eine vernünftige Mäpßigfeit empfiehlt. Die Epigramme find nit gleihmertig; doch zeigt fi aud in ihnen ein mit Wit und feinem Kunſt— gefühl ausgeftatteter Geift, der fih an der Lektüre der Klaſſiker und viel: feitigem Studium jowohl ein reiches Wiffen als große Formgewandtheit er: worben hat. .

Den Ariftoteles charakteriliert er folgendermaten (De Aristotele et dogmate eius):

Magnus Aristoteles sermonum possidet artes Et de virtutum eulmine nomen habet. ludicii libros componit et inveniendi Vera, facultates tres famulantur ei: Physicus est moresque docet, sed logica servit Auctori semper officiosa suo. Haec illi nomen proprium facit esse, quod olim Donat amatori sacra Sophia suo;

Nam qui praecellit, tituli communis honorem Vindieat, hoc fertur iure poeta Maro.

Die Irrtümer des Nriftoteles bezeichnet er in den folgenden Diftichen (De errore Aristotelis):

Sed tamen erravit, dum sublunaria casu Credidit et fatis ulteriora geri. Non est arbitrii libertas vera creatis, Quam solum plene dicit habere Deum. Quidquid luna premit, de quattuor est elementis, Et quae transcendunt, simpliciora putat. Illaque perpetua definit pace vigere, Quae supra solem circulus altus habet. Nam ibi committunt aliquod contraria bellum, Nam tranquilla quies ulteriora fovet'!,

ı Migne a. a. ©. CXCIX 983.

392 Vierzehntes Kapitel.

Wie Johannes von Salisbury ift auch Alanus de Inſulis (Lille oder Ryſſel), der gefeierte Doctor universalis, zugleich Scholaftiler und Humanift, allerdings nod mehr Philofoph, nicht praftiiher Volitifer und Diplomat wie jener. Er joll um 1114 geboren, um 1202 geftorben ſein. Nad) einigen war er Giftercienfer, wurde 1152 Biſchof von Aurerre, verzichtete 1167 auf jeinen Biihofsfig, kehrte nah Clairvaux zurüd und ftarb hier in Höfterliher Zurüdgezogenheit; das beruht aber auf Verwechſlung mit einem andern Alanus, der den Beinamen landrenfis führt. Zugejchrieben werden ihm: ein kurzer Abriß der Theologie unter dem Titel: Regulae de sacra Theologia, eine etwas umfangreihere Summa der gefamten Theo: logie: De arte sive de articulis catholicae fidei, ein Tractatus de fide catholica contra haereticos (wahrſcheinlicher von einem andern Giftercienjer desjelben Namens, Alanus de Podio, verfaßt)!. Alanus ift der erfte hriftlihe Philofoph, der die pjeudo-arifioteliihe Schrift Liber de causis erwähnt, und bei dem ſich aljo der Einfluß arabiſcher Philojophie deutlich geltend macht. Gewiß interefjant ift es, daß ein ſolcher Gelehrter auch zugleid nodh Humanift war, und zwar in der Art des Martianus Gapella. Denn an die „Hochzeit des Merkur mit der Philologie” erinnert zumeift jein allegorifches Lehrgediht Anticlaudianus, das etwa 5880 Berje zählt. Dasselbe hängt aber auch aufs innigfte mit jeiner Philoſophie zuſammen, in welcher die „Natur“, hauptfählih nad) dem Timäusfragment des Platon und nad) Boäthius, al3 Stellvertreterin und Schülerin Gottes in der Organi— jation und Entwidlung des Weltalld jehr poetiih aufgefaßt, eine Haupt- rolle jpielt?,

Um ihre bisherigen Werke dur eine Meifterleiftung zu krönen, ruft die Natur ihre Schweitern zur Beratung zufammen: Concordia, Gopia und Favor, Juventus und Rijus, Modejtia und Budor, Ratio, Honeltas, Decus und Prudentia, Pietad, Fides, Liberalitas und Nobilitas. Der Palaſt, wo fie ſich verſammeln, liegt auf einem hohen Berg, von herrlihem Wald um: geben, in einer Paradiejeslandihaft, wo die Pflanzen zugleih Früchte und Blüten treiben, der Zauber des Lenzes fih mit der Fülle des Herbites vereint. Der Bau jelbft ift mit den herrlichſten Malereien geihmüdt, jo

! Alani Magni de Insulis Opera moralia paraenetica et polemica, ed. Carolus de Visch, Antverp. 1654. Vollftändigfte Sammlung der ihm zugefchriebenen Werfe bei Migne a. a. O. CCX 9—1056. De planctu naturae, Lips. 1494. Anticlaudianus sive de officio viri in omnibus virtutibus perfecti, Basil. 1536, Venet. 1582, Antverp. 1611 1621, Paris. 1612.

2 M. Baumgartner, Die Philofophie des Alanus de Injulis im Zujammen- hang mit ben Anſchauungen des 12. Jahrhunderts dargeitellt, Münjter 1897 (Beis träge zur Geſchichte der Philofophie des Mittelalters, herausgeg. von C. Bäumker

und ©. v. Hertling, Bd 2, Heft 4). Bol. Allgem. Literaturbl. (Wien) 1899, Nr 5, ©. 136,

Die Humaniften und die Schulpoefie bes 12. und 13. Jahrhunderts. 398

lebendig, daß fie in die Wirklichkeit jelber übergehen. In feierliher Programm: rede, tiefbetrübt, trägt die Natur die. begründeten Klagen vor, die gegen ihre bisherigen Leiftungen laut geworden find, und fordert die Hilfe ihrer Schweſtern, um einen Menjchen herborzubringen, deffen alljeitige Vollkommen— heit jenen Mängeln abhelfen fönnte.

Nicht nah irdifhem Stoff, nad) Staub und Mobder geartet,

Nein, ein himmliſcher Menſch joll fürber die Erde bewohnen,

Und uns tröften für bas, was unſere Werle geichäbdigt.

Wohnen joll jein Geift in den Himmeln, der Leib nur auf Erben; Menſchlich hienieden er fei, doch göttlich über ben Sternen,

In langer, jorgfältiger Beihreibung wird zuerft die Phronefis oder Prudentia vorgeführt, die jo ziemlich der Vorftellung der alten Minerva entiprit. Sie ſtimmt allerwegen der Natur bei, jagt aber nichts eigentlich Entſcheidendes. Das iſt der Ratio vorbehalten, die drei Spiegel der Er: fenntnis trägt, einen gläfernen, filbernen und goldenen, in welchen die ver— ihiedenen Reiche des Erkennbaren zu ſchauen find. Ihre Rede läuft darauf hinaus, daß die Natur mit ihren fämtlihen Schweftern zu dem geplanten Werke nicht ausreihe, jondern daß man fih um übernatürlihe Hilfe an Gott wenden muß.

Was die Natur gemadt, das vollendet der göttlihe Schöpfer; Göttliches ſchafft er aus nichts, fie bildet nur aus Vorhand’nem Dinge, bie wieder vergehn; Gott herrſcht, fie leitet ihm Dienfte; Was er befiehlt tut fie; er lehrt, fie hat nur zu lernen.

Als pafjendfte Botin an Gott wird die Prudentia vorgefhlagen. Die Concordia, bei deren Beihreibung und Lob der Dichter jehr lange verweilt, gewinnt ihre Zuftimmung, und es werden die nötigen Vorbereitungen zu ihrer Geſandtſchaftsreiſe an den himmlischen Hof getroffen. Den prächtigen Staatswagen bauen ihr die Künſte des Triviums und Quadriviums. Die Grammatik bejorgt die Deichjel, die Logik die Achſe, die Rhetorik verziert die Deichjel mit Gold und die Achje mit Blumen. Die Arithmetif liefert ein marmornes Rad, die Muſik ein ehernes, die Geometrie ein bleiernes, die Aftronomie ein goldened. Dabei wird auch der Hauptautoren ehrenvolle Erwähnung getan, bei der Grammatik des Donatus, Ariftarhus, Pris— cianus, bei der Logik des Porphyrius, Ariftoteles, Zeno, Boöthius, bei der Rhetorif nur des Cicero, bon dem es heißt, die Rhetorik fei nicht nur jeine Adoptivtocdhter, jondern feine wirkliche Tochter und könnte darum eigentlih Tullia genannt werden. Als Lehrer der Arithmetik figurieren Nifo- mahus, Gilbertus, Pythagoras, Chryfippus, als Lehrer der Mufit Gre- gorius und Mihalus, als Lehrer der Geometrie Euklid, ala ſolcher der Altronomie Albumafar (2). Nahdem Concordia die einzelnen Teile des

394 Vierzehntes Kapitel.

Magens ſchön aneinander gefügt, ſchirrt Ratio ala Pferde die fünf Sinne an, läßt Prudentia einfteigen und übernimmt dann die Leitung des Fünfgeipanns. Die Luftfahrt ins Jenſeits hat infofern einiges Intereffe, als fie zwiſchen

jener de3 Martian Gapella und derjenigen Dantes fih ungefähr in der Mitte hält und die kosmographiſchen Borftellungen jener Zeit mit Anklängen verbindet, die ſchon zu Dante überleiten. Prudentia madt ihre meteoro- logifhen Beobadtungen, denen zufolge die Wollen die Ausdünftung der ihtwigenden Erde, zugleih aud die Gläfer und Flaſchen bedeuten, in welchen fih der dunftige Phöbus die verjchiedenartigen Spriß:, Yand- und Plabregen bereit Hält; fie trifft in dem Luftraum aber aud Scharen unglüdjeliger Geifter, die zur Strafe ihrer Sünden dahin gebannt find. Vom Luftkreis geht's dann weiter in denjenigen des Feuers, des Mondes, des Merkur, der Venus, der Sonne, des Mars, des Juppiter, des Saturn und endlich in den Zodiafus. Über den Zodiatus fommen aber die fünf Sinne nicht mehr hinaus. Die Theologie ericheint Hier der kühnen Himmelsreifenden Prubdentia, ein Buch in der Rechten, ein Scepter in der Linken, und bietet fi ihr ala weitere Führerin an. Nur das Gehör (fides ex auditu) ift aber jekt noch braudbar; die übrigen vier Sinne müfjen ausgejpannt werden. So gelangt Prudentia weiter durch die Wunder des Hriftallhfimmeld oder das Primum Mobile in die Herrlichkeit des eigentlichen Himmels, wo die Seligen wohnen (Caelum empyreum.

Stätten ewiger Luft erflimmt fie, Stätten ber Gnabe,

Auserlefen von Gott, vom Allmächtigen felber erforen.

Keine Wolfe veriheucht das Licht, kein Trauern das Lächeln;

Ewig währet die Luft, und mangellos fprubelt bie Wonne.

Haß ift ewig verbannt, fein Mühen ftöret die Ruhe.

Ewig funkelt der Strahl der wahren Sonne; dem Aufgang

Folgt kein Untergang; ſtets währt ber lieblichfte Morgen.

Begeiftert wird nun der Himmel ſelbſt geidhildert, dann die Chöre der Engel, die Scharen der Heiligen und Seligen, vor allem aber die wunderbare Glorie der allerjeligiten Jungfrau und ihres göttlichen Sohnes. Die Didtung tritt Hier aus dem fünftlihen Bereich der philoſophiſchen Allegorie heraus und jchlägt die wärmften Töne religiöfer Myſtik an.

Für die irdiſche Prudentia ift aber folder Glanz und ſolche Schönheit zu viel. Unvermögend, fie zu ertragen, fintt fie wie ſtarr in Efftaje. Die Theologie Hilft ihr imdes ſchweſterlich, richtet fie auf, ſtärkt fie und ruft die Fides herbei, melde fie aus ihrer Efitafe erhebt und neu belebt und fie mittel$ eines Spiegel in die übernatürlihen Geheimniffe, wenn aud) nur dunkel, einweiht. Von Theologia und Fides geleitet, dringt Prudentia nun bis zum Throne Gottes vor, wirft fi anbetend vor ihm nieder und unterbreitet ihm das Geſuch der Natur. Voll Huld und Liebe willigt Gott

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in die Bitte ein und verſpricht ihr eine mit allen Tugenden geſchmückte Menſchenſeele. Alsbald wird auch das Verſprechen erfüllt, und Prudentia kehrt mit der herrlich ausgeſtatteten Menſchenſeele zur Natur zurück. Dieſe bereitet derſelben aus den Elementen einen würdigen Leib; Concordia ver— bindet ihn mit der Seele, Kunſt und Tugenden ſchmücken ſie verſchwenderiſch mit den höchſten Gaben aus.

Doch nun erhebt ſich Alekto in grimmigem Haß und Neid, ruft alle Laſter zum Kampfe auf, und der neue, gerechte Menſch ſieht ſich in einen Krieg auf Tod und Leben verwickelt. Mit Hilfe der Tugenden wird indes ein Laſter um das andere in die Flucht geſchlagen, und ein paradieſiſches Glück belohnt den glücklichen Sieger und vollendet den von der Natur fo hei eriehnten Triumph.

Der Epilog gefteht und mit naiver Offenheit, dak der Dichter viel Mühe und Schweiß auf fein Opus verwendet habe und dabei nun noch die Kritik fürdten müſſe; er habe es auch nicht den alten Dichtern gleich: tun wollen, jfondern begnüge ſich mit einem beſcheidenen Tamarisfenfranz. Trotz der oft froſtigen und lehrhaften Allegorie enthält das Gedicht doch mande ſchöne Stelle; die Philoſophie des Alanus jelbit hat einen entſchieden platoniihen, poetiſchen Zug, und religiöje Begeifterung belebt nicht jelten den jehulmäßigen Aufbau des Ganzen mit frifcher, Iebendiger Wärme.

Eine ähnlihe Verbindung von Poeſie und Philofophie ftellt der Liber de planctu naturae dar, welcher, mit elegischen Klagen über die Mißachtung des Sittengejeßes beginnend, nad dem Vorbilde des Boöthius zum Teil in Proja, zum Teil in Verjen gejchrieben iſt. Die eingeftreuten Gedichte find meift jehr gehaltvoll und ſchön, während die Allegorien des proſaiſchen Rahmens mitunter ins Barode hinüberjpielen !.

Peter von Blois (1130—1200), ein Schüler Johanns von Salisbury, Hinterließ außer wertvollen theologiihen Proſaſchriften auch einige Gedichte, darunter einen Traktat in Herametern über die „hochheiligen Ge: heimniffe der Eudariftie” (in 26 Sapitelden geteilt), ein gereimtes Lied über den „Kampf zwiſchen Fleiſch und Geiſt“, ein längeres gereimtes Klagegediht „Gegen die der Wolluft ergebenen Kleriker“.

Johann von Hantpille, ein Normanne, ſchildert in jeinem Archithrenius vorwiegend allegorifch die Nöten und Gefahren, welche dem Erdenpilger hienieden die verſchiedenen Leidenjchaften bereiten. An den Gärten der Wolluft, dem Berge des Ehrgeizes, dem Drachen des Geizes vorbei gelangt der jammernde Wanderer indes glüdlih nah Thule, wo er von

ı Migne, Patr. lat. CCVII 1127—1158. Über den Einfluß des Wilhelm von Conches, Alanus be Infulis, Johann von Salisbury auf einige Partien bei Thomafin von Zerlläre vgl. A. B. Schönbach, Die Anfänge des beutfchen Minne— fange, Graz 1898.

396 Vierzehntes Kapitel,

jämtlihen Philoſophen des Altertums anphilojophiert wird. Zuletzt kommt er zur Natur, melde ihm „Mäßigung“ als Univerfalmittel anempfiehlt und ihn glüdlich verheiratet !.

Die Geftalten der Natura, des Fatum und der Fortuna kehren au in andern Dichtungen diejer Zeit wieder. So in der Elegia de diversitate fortunae et philosophiae consolatione? des Heinrih von Setti- mello, eines Pfarrer in der Nähe von Florenz, den Ehrgeiz und Habſucht feines Biſchofs um alles brachten und der num ala unfteter VBerbannter (zwiſchen 1192 und 1194) in diefem Gedichte feine Leiden bejammerte. So aud in der Controversia Hominis et Fortunae® des Heinrid von Mailand, der wahrſcheinlich als Parteigänger der Nobili um 1259 von jeiner Heimat: ftadt vertrieben wurde und nun ebenfalld im Verſen über jein Schickſal philofophierte. Der jchmerzlih bewegte Tosfaner fommt nicht viel über bloße Klagen hinaus. Nah ihm ift die Fortuna wohl eine Göttin, aber recht eigentlih die Göttin der Ungerechtigkeit, der Gejehlofigkeit, des von feinem höheren Prinzip geleiteten Wechſels; der Menſch kann daher nichts Befleres tun, als fih ganz von ihr loszuſagen, von ihr weder zu fürchten noch zu Hoffen. Ziefer faßt Heinrih von Mailand die Sade auf. Nach ihm ift die Fortuna feine mwillfürliche Urjache, jondern eine gerechte, jedem treugefinnte Mutter. Nur den Namen hat fie mit der altheidniihen Glüds- göttin gemein, und darum hat die Maffe der Dichter ihr fälſchlich ein blindes Walten beigelegt. Sie ftammt nicht von den Geftirnen. Ihr Vater ift der göttliche Geiſt. „Als feine Tochter geht fie durch die Welt, die königliche, und erleuchtet, was lange verborgen war; fie führt den Willen des höchiten Künftlers aus und verkündet feine Beichlüffe. Die höchſte Vernunft ift un— geteilt und bei ſich jelber, durch die himmlischen Körper ergoffen, verſchmäht fie die jchwanfenden Wechſel. Dann von den höheren Kreifen auf das Wandelbare (die Natur) übertragen, ändert fie ihren Namen und wird Fatum genannt; Formen, Lagen, Zeiten, Bewegungen des Einzelnen leitet das Fatum in jhöner Ordnung und nad mweilem Gejeh. Und dieſes Geſetz überträgt auf den unterften Kreis (den irdifchen) wie ein treuer Dolmetſch die Fortuna; aus freiem Entihluß befolgt der Menſch ihre Gebote.“ *

ı Herauäögeg. von J. Badius Afjenfius, Paris 1517.

® Gedrudt bei Leyser, Hist. poetarum et poematum medii aevi, Magde- burgi 1721, 453—496. Separatausgabe von Domin. Maria Manni, Florenz 1730, mit italienifcher Überfegung aus dem 13. Jahrhundert. Biographiſches über den Berfafier bei Villari, Liber de civitatis Florentiae famosis civibus, ed. Galetti, Florentiae 1847, 31.

® Duo libri, ed. Cyprianus Popma, Coloniae 1570, 1584.

K. Francke, Zur Gefhichte der lateinischen Schulpoefie des 12. und 13. Jahr⸗ hunderts, München 1879, 53 54. Er vergleiht damit Dante, Inferno VII 79 ff und Purgatorio XVI 79 fi.

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts, 397

Wie die Briefe des Johannes von Saliebury, fo ift aud die reiche Brieffammlung des Beter von Blois ein ſchönes Denkmal echt kirchlicher Gefinnung, mweitreihender religiöfer Wirkjamkeit, hoher geiftiger Veranlagung und vielfeitiger Bildung. Sie gewährt einen überaus intereffanten Einblid in das ganze geiftige Leben jener Zeit, ihre verſchiedenen Strömungen und Intereffen, auch in den gelegentlihen Konflikt, in melden die bisherige humaniftiihe Studienritung mit der aufblühenden Scholaftif und deren vorwiegend ſpekulativer Richtung geriet.

Bemerkenswert ift in dieſer Hinfiht ein Brief des Peter von Blois an den Ardidialonus von Nantes, welcher ihm feine zwei Neffen zur Aus: bildung zugefandt Hatte, einen älteren Wilhelm, der mit Überfpringung der humanifliiden Studien ſchon philoſophiſchen Unterricht genofien hatte, und einen jüngeren Johann, der noch ein Knabe war und bislang nicht fudiert hatte. Der Oheim fnüpfte an die Vorbildung des erfteren die jtolzefte Hoffnung; Peter von Blois teilte aber feine Anficht nicht.

„Während Ikarus“, ſchreibt er, „ſich im jugendlichen Beichtfinn zum Himmel erhebt, geht er in den Meeresfluten unter. Auch joldhe, Die fih in den philojophifchen Studien (artibus) verwegen erheben, fommen zu Schaden. Einige werben, bevor fie no den nötigen Elementarunterridht genoffen, zu gelehrten Unterſuchungen angeleitet über Punkt, Linie und Flähe, über die Quantität ber Seele, das Schidjal, die Neigung der Natur, den Zufall unb ben freien Willen, die Materie und die Be: wegung, über die fonftitutiven Elemente der Körper, über die Progreffionen, über die Teilung der Größen, über Zeit, Raum und Ort, über Jdentität und Verſchieden— heit, über Zeilung, Zeilbarfeit und Unteilbarfeit, über Subftanz und Form bes Worts, über das Weſen ber Univerjalbegriffe, über Urfprung, Nutzen und Zweck ber Tugend, über die legten Urfaden der Dinge, über Ebbe und Flut, über ben Urſprung des Nils, fiber die verjchiedenen verborgenen Geheimniffe ber Natur, über die ver— fhiebenen Formen der Prozeffe, die in den Kontraften und Quafifontraften, Male: fijien und Quafimalefizien entftehen, von dem erften Urſprung der Dinge und zahl- reichen andern Saden, welche die Grundlage eines umfangreihen Wiflens und ſchon bedeutenden Verſtand erheifhen. In früheren Zeiten beichäftigte fih das zarte Alter mit ben Regeln der Grammatik, mit den Analogien, den Barbarismen und Solözismen, den Tropen und Figuren; der Theorie all diefer Dinge wandten Donatus, Servius, Priscianus, Jfidorus, Beda, Eaffiodorus den eingehendften Fleiß zu; das hätten fie wahrlih nicht getan, wenn man ohne fie eine wiffenihaftlihe Grundlage haben könnte. Denn auch Quintilian, der diejes Fach lehrt und für deſſen Betreibung einjteht, er— hebt es mit folchen Lobſprüchen, daß er öffentlich verfichert, ohne dasſelbe könne eine wiſſenſchaftliche Bildung nicht beftehen. C. Cäſar gab Bücher „von ber Analogie“ heraus, weil er wußte, dab ohne dieſe Wiſſenſchaft feiner Teicht zur Klugheit gelangen fanı, in welder er auögezeichnet war, noch zur Beredſamkeit, bie er gewaltig be— herrſchte. M. Tullius eifert feinen Sohn, ben er zärtlich liebte, aufs angelegentlichfte zur Grammatif an, wie aus feinen zahlreidhen Briefen hervorgeht. Und was hat es für einen Nutzen, bie Philofophiehefte abzublättern, die Auszüge wörtlich auswendig zu lernen, bie Schlicfe der Sophismen umzubdrehen, die Schriften der Alten zu ver: urteilen und alles zu tabeln, was nit in den Schulheften ihrer Magifter fteht? Es fteht geichrieben: bei ben Alten ift die Wiflenfchaft. Und Jeremias kommt nit aus

398 Vierzehntes Kapitel.

dem Gefängnis, bis ihm an Striden alte und abgetragene Kleiber hinabgelafien werden. Denn aus ben Tiefen der Unwiſſenheit fteigt man nit zum Lichte der Wiffenihaft empor, wenn man nicht mit eifrigem Studium bie Schriften der Alten

lieft. Hieronymus rühmt fi, viel Mühe und Fleiß auf die Schriften bes Origenes _

verwendet zu haben. Auch Horaz tut fi etwas darauf zu gute, wieder und wieder den Homer gelejen zu haben.

Qui, quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non, Plenius ac melius Chrysippo et Crantore dieit.

„Ich weiß, wie jehr ed mir genüßt hat, daß, als ich als Kleiner im Verſe— machen unterrichtet wurde, ih mir den Stoff, nad) Anweifung bes Lehrers, nicht aus Fabeln, jondern aus ber wirflihen Geſchichte nahm. Es nützte mir, dab ih als Knabe die durch Eleganz des Stiles und feine Höflichkeit hervorragenden Briefe Hildeberts, Biihofs von Le Dans, auswendig lernen und aus dem Gebädhtnis her- fagen mußte. Außer ben übrigen, in ben Schulen allgemein befannten Büchern nüßte es mir, häufig ben Trogus Pompejus, Jofephus, Suetonius, Hegefippus, O. Eurtius, Cornelius Tacitus, Zitus Livius anzufehen, welche in die von ihnen berichteten Geſchichten vieles verweben, was zur fittlihen Erbauung und zum Wort: ichritte höherer Bildung dient. Ich Habe auch andere gelefen, welde nicht über Geſchichte handeln, es find ihrer unzählige. Aus all diefen fann fi ber Fleiß ber Neueren wie in Gärten buftende Blumen pflüden und in feingewählter Anmut des Ausdruds fi Honig bereiten.“ !

Einen Theoretiter fanden Boefie und Rhetorik zugleih an dem Eng— (änder (oder Normannen) Geoffrey Vinſauf (oder de Vino Salvo), der, exit in Orford, dann in Paris und an italieniihen Schulen weiter ausgebildet, während feines AufentHaltes in Rom (1195) feinem Geringeren als dem Papſte Innocenz IH. jelbft feine in 2138 Herametern abgefaßte Boetit (De Nova Poetria)? widmete, mit der etwas überfchwenglichen Anrede;

Lux publica mundi, Digneris lucere mihi, dignissima rerum, Dulce tuum partire tuo. Dare grandia solus Et potes et debes et vis et seis. (Quia prudens Seis; quia elemens vis; quia magnus origine debes; Et quia papa potes.

In leichter, oft fehr eleganter Diktion führt er die Regeln für die

einzelnen Arten der Dichtung aus und belegt fie mit Beijpielen, Die ges fegentlih der Zeitgefhichte entlehnt find; vor allem erklärt er fi gegen

! Ep. CI ad R. Archidiac. Nannet, Petri Blesensis Epistolae I (ed. Giles) 316-317. H. Denifle, Chartularium Univ. Parisiensis I, Paris 1889, 28 29.

2 De Nova Poetria, gebrudt bei Leyser, Hist. poetarum et poematum medii aevi 863—978. In andern Handidriften führt das Werk bie Titel: Ars dietandi, Artificium loquendi, Enchiridion cum medulla grammaticae, Poetica novella. Bgl. Histoire litteraire de la France XVIII 305-312. j

Die Humaniften und die Schulpoefie bes 12. und 13. Jahrhunderte. 399

die gereimte rhythmiſche Poefie, welche durch die fahrenden Sänger damals allgemeine Beliebtheit erlangt hatte, und fordert die Zeitgenoffen auf, wieder zu den Versmaßen der Alten und zu der firengen Metril und Kritik des Horaz zurüdzufehren.

Die Poetik des geiftreihen, mwelterfahrenen Engländerd enthält mande feine, gewinnende Züge.

„Er verlangt, daß ber ganze Kreis der Dichtung erft ausgemeffen jei und be= reits als. deutliches Bild in der Vorftellung des Dichters ſchwebe, ehe mit der Aus» führung bes Einzelnen begonnen werde. Er vergleiht bie Dichtkunſt mit einem Ebdelfnaben, der am Anfang bed Gedichtes den zu Befingenden feierlich empfängt, dann im Verlauf besjelben als vornehmer Gaftgeber ihn an eine glänzende Tafel führt und jchlieglih mit Heroldston ihn ehrfurdtsvoll entläßt. Er fordert bie möglichſt hHarmonifche Übereinftimmung von Inhalt und Form und warnt dor der eiteln Tünche leeren Wortzierrats. Er redet der Vermenihlihung der Natur das Wort unb erklärt den Reiz einer ſolchen Vermenſchlichung daraus, daß wir uns gerne jelbft im Spiegel ber Natur erbliden. Er hält eine zarte Mifhung von Gegen- fügen, von Anmut und Würde, von Gewandtheit und Kraft für die höchſte Hunt. Er billigt das Wort der Alten, man müſſe ſprechen wie die Vielen und benfen wie die Wenigen.“ !

Biel handwerksmäßiger aufgefaßt erſcheint die Poefie in der Poetik des Eberhard von Bethune aus Artois (Eberhardus Betuniensis), welde den Zitel führt: Labyrinthus sive carmen de miseriis rectorum scholarum?, Der jog. Graecismus, eine von demjelben Lehrer abgefafte lateinifhe Grammatik (welche bejonders die aus dem Griechiſchen abgeleiteten Wörter berüdfichtigte), erlangte vom Jahre 1212 an eine fehr weite Ber: breitung. Der Berfaffer jelbft aber ſchildert fi als einen armen Schluder und das Schulmeifterhandwerf als das Fläglichfte von der Welt. Umſonſt fieht fih die Natur vor feiner Geburt um ein glüdliches Vorzeichen um, fein freundliches Geftirn will ihm leuchten. Wenn andere die Bücher des Alten und Neuen Zeftamentes leſen können, oder Ptolemäus, Euklid, Guido bon Arezzo, Bosthius, Cicero, Ariftoteles, Galen, Florus, Mafrobius, Platons Timäus, Gratians oder Juftinians Geſetzbücher, jo wird es ihm vorbehalten fein, die Fibel zu fudieren und die Donate und Gatone,

Es kann aljo fein Zweifel jein, daß die Grammatik an antifen Leſe— ftüden eingepauft wurde. Aus den Klagen des vielgequälten Schulmeifters aber zu folgern, dab alle die grammatiſche und rhetoriihe Schulmeifterei für die allgemeine Bildung ganz nutzlos gewejen, oder nad diejen Klagen

RR. Frande, Zur Geſchichte der lateiniſchen Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts, Münden 1879, 12.

2 Gebrudt bei Leyser a. a. ©. 796—854.

2C. Daniel 8. J. (deutih von J. M. Gaißer), Klaffiſche Gtabien in ber chriſtlichen Geſellſchaft, Freiburg i. B. 1855, 103.

400 Vierzehntes Kapitel.

den gejamten Bildungsftand überhaupt bemeſſen zu wollen, das wäre ficher zu weit gegangen.

Als Lejeftoff feiner Schule (um 1212) find bei Eberhard von Bethune (Tract. II 1 f) folgende Schriften und Autoren bunt zujammengeftellt:

Die Sentenzen des Cato, die Efloge des Theodulf (saec. X), Avian (saec. IV), Aeſop (wohl Phädrus), Marimians Elegien über bie Leiden bes Alters, Pamphilus de vetula, des Vitalis Blefenfis Amphitruo (saec. XII), Elaudians Raub der Pro- jerpina, Statius’ Adilleis, Ovid, Horaz' Satiren, Juvenal, Perfius, der Ardi- threnius des Johannes Hantvillenfiß (saec. XII), Bergil, bes Statius Thebais, Lucan, Walter Alerandreis, Claudians „Gegen Rufinus“ und „Preis bes Stiliho“, Dares Phrygius, der lateinische Homer, Sidonius, der Solymarius, Aemilius Macer (Marbod) de lapidibus et gemmis, bie Aurora bes Petrus be Riga, das Carmen paschale des Sedulius (saec. V), Nrator, Prubdentius, der Anticlaudian des Alanus, der Tobias des Matthäus Vindocinenſis, die Ars nova scribendi des Gaufredus, das Doctrinale des Nlerander de Billa- Dei, ber Gräcismus bes Eberhard, Proiper (saec. V), bes Matthäus Vindocinenfis Satire auf die Eurialen, die Synonymif bes Hohannes be Garlandia, Martianus Gapella, Bosthius, Bernhards von Ehartres Megalosmus und Mitrofosmus, die Allegorien des Phyfiologus, Paraklitus, Sibonius über das Alte und Neue Teftament.

Ein vollftändiges Bild damaliger Lektüre gibt dies nicht. Johann von Salisbury jhäßte den Terenz, Peter von Blois den Plautus, Alanus den Martial, den er in jeinen Epigrammen nachbildete.

Die Schätzung war eine eigenartige. Walter von Chätillon bevorzugte Lucan und Glaudian dor Bergil; Wilhelm der Bretone hielt Lucan hoch, Statius niedriger als Vergil; Bernhard von Ghartres bevorzugte Lucan und Statius vor Bergil und Terenz (weil ordo artificialis befler als naturalis). Derjelbe Bernhard und SHeinrih von Settimello ahmten Boethius nad !.

Eine außerordentliche Belejenheit in den altlateiniihen Schriftitellern, aber ohne bejondere Vorliebe zu einem derjelben, verrät der Schulmeifter Konrad von Mure (Muri), der 1259 Kantor an der Propftei in Zürich und Borftand der dortigen Schule wurde und bis zu feinem Tode 1281 die bejondere Gunft des Königs Rudolf von Habsburg genoß. -Wie fein Stil troß all diefer Erudition nichts weniger als muftergültig ift, jo tritt auch in feinem „Neuen Gräcismus” und in feinem „Fabularius“? ſchon

ı 8. Frande, Zur Gefhichte der lateiniſchen Schulpoefie bes 12. und 13. Jahrhunderts 23 24.

* Der „Fabularius“ wurde 1470 in Bafel gebrudt unter dem Titel Repertorium vocabulorum exquisitorum oratoriae, poösis et historiarum etc. Editum a doctissimo litterarum amatore Magistro Conrado, Turicensis ecclesiae cantore et completum anno Düi MCCLXXL. Bol. Gall Morel, Konrad von Mure (Neue Schweiz. Muſeum III, Bafel 1365, 29—62).

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 401

mehr die Neigung hervor, die Jugend mit Realtenntniffen zu bereichern, ala fie zu feinerem Sunftverftändnis heranzubilden.

Shan die lange Reihe von Autoren, welde Eberhard von Bethune aufführt, läßt es, bei der beſchränkten Zeit der humaniſtiſchen Studien, nahezu als unmöglich erfcheinen, dab fie in der Schule alle ganz gelejen und erflärt worden find. Man muß alfo notwendig an eine Auswahl denken. Die Gleihftellung des Prudentius, Profper, Juvencus, Sebulius, Arator, jogar zeitgenöffiicher chriftliher Dichter wie Peter de Riga mit den alten Klaffifern, ja die ganze Richtung der Erziehung bürgt genugſam dafür, da bei der Auswahl der Lektüre religiögsfittliche Geſichtspunkte, wenn auch nit ausschließlich, maßgebend waren. Wenn darum nod) bei Nikolaus bon Bibera (13. Jahrhundert) und Hugo von Trimberg (1280) die erotifchen Werke Ovids und die Elegien Mariminians (eines anrüchigen Elegifers des 6. Jahrhunderts) in den Verzeihniffen der Schulfeltüre vorlommen, fogar Scäuleinleitungen zu jolden bedenktlihen Werken erhalten find, jo wird man auch hier nicht ſofort verallgemeinern dürfen, fondern an Einfhränfung und pädagogiihe Schußmaßregeln denten müflen. Schon Konrad bon Hirſchau erklärte ih (um die Mitte des 12. Jahrhunderts) entjchieden gegen die Lejung Ovid. Um Mariminianus und defjen Nugae für immer aus der Schule zu verbannen, jchrieb Alerander de Villa-Dei (Villedieu in Mande), Lehrer zu Dol in der Bretagne, 1199 fein „Doctrinale“, eine lateiniihe Grammatik, die raſch allgemeine Verbreitung fand und bis zum Ende des Mittelalters eines der beliebteften Schulbücher geblieben if. Bei manden Humaniften des 12. und 13. Jahrhunderts tritt allerdings in Bezug auf erotifche Poefie eine Nahfiht zu Tage, welche fi ftarf der Ungebundenheit der Renaiffance nähert, manche unſchöne Produkte hervor: rief und öfters ftarfe Oppofition gegen die klaſſiſchen Studien überhaupt herbeiführte,

Auffallend ift, wie ſeit der Zeit Hildebert3 der Herameter faſt ganz durch das elegiiche Diftihon verdrängt wird. Nicht bloß mehr Epigramme und Elegien, jondern ſelbſt die mweitjchweifigften epiſchen Gedichte, wie Die „Aurora“ des Peter de Riga, find in folden Diftihen gejchrieben, nicht jelten mit Aufbietung der baroditen Künfteleien. In etwas befferen Diftichen ift au der „Troilus“ abgefaßt, eine Bearbeitung der jog. „Trojaniſchen Geihichte” des Dares in 5320 Berjen, welde der ald Annalift gejchäßte

ı Bol. D. Reihling, Das Doctrinale des Alerander de Villa-Dei (Monum. Germ. Paedagogica XI, Berol. 1893, xıx xx xxxvu xxxvın). F. A.Specht, Geſchichte bes Unterrichtsweſens in Deutihland von den älteften Zeiten bis zur Mitte bes 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1885, 99—101. R. Stölzle, Das Didaskalon bes Konrad von Hirſchau. Ein Beitrag zur Schulgeſchichte des Mittelalters („Der Katholik“ II, Mainz 1888, 413).

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 26

402 Vierzehntes Kapitel.

Albert von Stade, erſt Benediltiner, ſeit 1240 Franziskaner, nad) feiner eigenen Angabe in ſechs Monaten zu ftande brachte. Dieſe Bevorzugung des Diftihons rührt offenbar von den Schulen her, in welchen mehr die techniſche Fertigkeit als der Geſchmack gepflegt wurde.

So erklärt es ſich, daß auch die Bekanntſchaft mit Plautus und Terenz zu feinen Verſuchen in dramatifcher Form führte. Vitalis von Blois be: arbeitete gegen Ende des 12, Jahrhunderts den „Amphitryo“ des Plautus, aber nicht al$ Drama, jondern als Erzählung unter dem Titel „Geta“, in 262 folder Diftihen, mit vielen ſatiriſchen Seitenhieben gegen die damals aufblühende ſcholaſtiſche Philoſophie. Nicht unmittelbar nah Plautus’ „Aulu— laria*, fondern nad) einer jpäteren Bearbeitung derjelben, dem „Querulus“, dichtete er ebenfalls die Geihichte vom Geizhals in eine komiſche Epopöe (von 395 Diftihen) um, gleihfall® mit allerlei Anfpielungen und Ausfällen auf die Scholaftil. Sein Latein ift nit von erfter Güte, aber die Verſifikation gewandt, die Darftellung lebendig und reih an Witz!.

Schlimmer wirkte die Nachahmung der römischen Erotifer und Komödien— dichter bei andern, welden es an Sprach- und Formgewandtheit wie an Geihmad gebrah und bei welchen fih die Nachahmung deshalb auf die Mahl anftößiger oder verfänglicher Stoffe und die Ausführung derjelben in meift überlünftelten und gejhmadlojen Diftihen beſchränkte. Das ift mit drei längeren Gedichten des Matthäus von Vendöme (Vindocinensis) der Fall, welche jämtlih anrüchige Ehebruhsgeihichten behandeln. Das erfte (Comoedia Milonis oder De Milone Constantinopolitano)? behandelt eine jolche Gejchichte aus dem Syntipas; das zweite (Comoedia de glorioso milite)3 hat mit der gleichnamigen Komödie des Plautus jo gut wie nichts gemein, jondern erzählt nur in derb-naiver Weife die Abenteuer eines ver: wegenen Galan; das dritte, die Comoedia Lydiae, hat Aufnahme in den Decamerone + de3 Boccaccio gefunden. Es ift gleihfalls eine ſtark ges pfefferte Ehebruchsgeſchichte.

ı Geta, herausgeg. von Angelo Mai (Classici Scriptores e Vaticanis codicibus editi V, Romae 1828—1883, 463—478); F. Ofann, Darmitabt 1836; danah Th. Wright (Early mysteries etc.), London 1838; J. Geel, Leiden 1852; €. W. Müller, Bern 1840; U. de Montaiglon, Paris 1348. (uerolus, herausgeg. von KR. Rittershuis, Heidelberg 1595; F. Oſann, Darme jtabt 1836. gl. Histoire litteraire de la France XV, Paris 1820, 428—434; XXI ebd. 1852, 89-50. R. v. Reinharbftöttner, Plautus, Leipzig 1886, 124—129 270— 274.

® Serausgeg. von M. Haupt, Exempl. poes. lat. medii aevi, Vindo- bonae 1834,

» Serauögeg. von Ed. Dumeril, Origines du theatre moderne, Paris 1849, 285— 297,

* Decamerone, Giornan. 7, nov. 9.

Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderte. 403

Die Perjonen werden aljo bezeichnet: Pyrrhus, eques; Decius dux est et Lydia coniux; est ducis hic fidus; hie gravis; ista levis. Lydia ift ein Ausbund weiblicher Schledtigkeit. Sie tut alles, um Pyrrhus zu verführen. Dieſer macht feine Einwilligung von drei Bedingungen ab- hängig: daß fie dem Lieblingsfalten des Dur den Hals umdrehe, ihm fünf Barthaare ausraufe und ihm einen Zahn ausreiße. All das leiſtet fie. Pyrrhus mettet, Decius werde feinen eigenen Augen nicht trauen, wenn er jie in flagranti ertappe. Auch das wird noch geleiftet.

Der Verfaſſer, der den Titel Grammaticus führte, gehört dem Ende des 12, Jahrhunderts an und war ein jehr geachteter Schriftfieller, den ſowohl Eberhard von Bethune in feinem „Labyrinth“ als Walter von Ghätillon in feiner „Alexandreis“ lobend erwähnen. Seinen „Tobias“, eine weit: ſchweifige und geihmadloje Epopöde von 2200 Berjen!, widmete er feinem Landsmanne Bartholomäus von Bendöme, von 1174—1206 Erzbiſchof von Tourd. Es iſt nicht zu bezweifeln, daß er ein ganz anftändiger und frommer Mann war, aber aus übertriebenem Reſpekt vor den Alten meinte, in der Literatur fönne man ji ſchon allerlei Freiheiten verftatten 2.

Gewandter und feiner in der Form, aber noch weit Ihmußiger, teil: weife geradezu pornographiich ift die Elegie AIdas, nad der Ausfage des Dichterd einer Volkserzählung nadgebildet, die aus einem vielleiht damals no vorhandenen, jet verlorenen Stüde des Menander herrührte:

Venerat in linguam nuper peregrina latinam haec de Menandri fabula rapta sinn.

Vilis et exul erat, et rustica plebis in ore quae fuerat comis vatis in ore sui.

Der gehadte und oft dunkle Ausdruck, dad Hajchen nah Wortipielen und andern jchöngeiftigen Künfteleien, die chniſche Derbheit in Gedanten und Wort verleihen dem Gedicht große Ähnlichkeit mit jenen des Matthäus von Vendöme; die leichtere und geſchicktere Handhabung des Berjes ließe ih allenfall3 dadurch erklären, daß er es erft in fpäteren Jahren verfaßt hätte. Er wird indes nirgends als Verfaſſer genannt, wohl aber wird eine „Komödie“ Alda al3 Werk des Wilhelm von Blois erwähnt, in einem Briefe feines Bruders Peter, worin diejer ihm gratuliert, daß er mieder wohlbehalten aus Sizilien zurüdgelehrt jeid.

ı Gedrudt bei Ed. Dumeril, Poesies inedites du moyen-Age, Paris 1854, 353—373.

2 ®gl. Histoire litt. de la France XV 420—428; XXI 55—67. Er ift nicht zu verwechſeln mit Matthieu de Vendöme, dem berühmten Miniſter bes hl. Ludwig IX. Bgl. ebd. XX 1 2.

> Ed. Dumeril a. a. ©. 425—442. Guilelmi Blesensis Aldae comoedia ed. C. Lohmeyer, Lips. 1892. * Ed. Dumerila. a. ©. 422.

® Petri Blesensis Opera omnia I (ed. Giles) 290.

26*

404 Vierzehntes Kapitel.

„Denn jenes hölliſche Land,“ fchreibt er, „das feine Einwohner aufzehrt, ließ mid an Eurer Nüdfehr verzweifeln; jet aber trinkt Ihr durch Gottes Gnabe wieder die heimische Luft und bie Weine von Blois, während Euch Sizilien, wenn es Euch noch länger feftgehalten, vergifteten Wein gereicht haben würde. Ja, Bruder, Yhr läget jebt jchon in marmornem Grabe, auf dem vielleicht, zum Gewinn eitlen Ruhmes, bie Inſchrift fände: ‚Guilelmus Blesensis Matinensis abbas hie iacet.‘ Bruber, nad) bes Dichters Zeugnis ‚ift es leicht, das Grab zu mifjen‘ (levis est inctura sepuleri). Ein längeres empfehlenbes Andenken werben deinem Namen beine Tragödie über Flaura und Dtarcus, deine Verſe von dem Floh und ber Mücde, beine Komödie von der Alda, beine Predigten und deine übrigen theologifchen Werke gewähren; möchten fie nur weiter verbreitet und noch ruhmreicher befannt fein! Mehr Ehre ift Euch aus Euern Werfen erwachſen als aus vier Abteien 1”

Dana ift wohl faum zu zweifeln, dab Wilhelm von Blois das Gedicht verfaßt hat und daß ein allzufreier Humanismus ſchon im 12. Jahrhundert auf diefelben Abwege geführt Hat, welche eine übermäßige und jchranfenloje Berehrung der altklajfischen Poefie jpäter in den Tagen der Renaiflance zur Heerftraße der wahren Bildung rechnete.

Anftändiger ift die „Geihihte von Baulin und Polla“, etwa 500 Diftihen!. Sie ift einem Kaiſer Friedrich gewidmet, aljo Friedrich IL. (1212—1250) oder Friedrich III. (1452—1493), von einem Nichter Rihardus, der fih Venusinae gentis alumnus nennt. Es ilt eine Er: zählung, aber die Reden der handelnden Perjonen nehmen einen jo breiten Raum ein, daß fie, einige Übergänge abgerechnet, faft dramatijch wird.

Materiam nostri, quisquis vis, nosce libelli;

haec est: Paulino nubere Polla petit. Ambo senes: tractat horum sponsalia Fulco.

Die erfte Scene fpielt ſich zwiſchen Fulco und der überaus geſchwätzigen Polla ab, die erſt nad) langen Kreuz und Querwegen mit ihrem Heirat: projeft herausrüdt, gegen welches Fulco zuerft Einwände erhebt, aber dann gleich die Sache juriftiih anfakt und die Finanzbeftimmungen regelt. Polla bat nicht viel.

Sex ego pensa boni filati, brachia centum panni subtilis, binaque pepla dabo, septem gallinas cum gallo, quae generare non cessant; ovis sedulo dives erit. Hoc ego polliceor, sic ut sandalia, thecas

corrigiamque novam deferat ipse mihi.

Nachdem Polla endlich gegangen, überlegt Fulco, ob er nun erſt früh: ftüden oder nüchtern zu Paulin gehen ſollte. Ex entjcheidet fi für das

' De Paulino et Polla libellus, gedrudt bei Dumsril (Anecdota Poetica etc.) 374—416.

Fünfzehntes Kapitel. Satirifhe Dichtung. Die Goliarbden. 405

eritere, und wie er faum das Eſſen bereitet, fommt Baulinus und wird eingeladen mitzueflen. Er nimmt jedvoh nit an. Nach dem Effen geht Fulco zu ihm und wird nun feinerjeits zum Eſſen eingeladen, nimmt aber ebenfalld nicht an. Zurüdgelehrt findet er einen Dieb im Haufe, der ihm die Refte feiner Mahlzeit fortträgt. Er verfolgt ihn mit Steinen, wird aber jelbft von einem Wurf getroffen und ſinkt ohnmächtig zujammen. Nahdem er fih, wieder erwacht und noch ſchlimmer ausgeraubt, in einem langen Monolog zu tröften gefucdht, kommt Paulinus, um zu vernehmen, was er ihm denn zu jagen habe. Fulco glaubt zu träumen, und um ſich der Wirklichkeit zu verfichern, gibt er dem Beſucher eine Mauljchelle, welche diefer jofort erwidert. Nah längerem Wortwechſel richtet Yyulco endlich die ihm aufgetragene Brautwerbung aus, die erft abgewieſen wird. Bis es ihm endlich gelingt, die Heirat zu fliften, bricht die Nacht herein. Als Höfliher und umftändliher Mann begleitet er den alten Paulinus nad Haufe. Auf dem Rückweg wird er aber von Hunden angefallen, flieht, fällt in eine Grube, muß da die ganze Naht zubringen, wird am Morgen beinahe gefteinigt, weil die Leute des Hundelärms wegen meinen, es fei ein Wolf in die Grube gefallen. Nachdem er gerettet, wird er von einem Bauern als Dieb angellagt und vor Gericht gejhleppt, zum Tode verurteilt und erft auf jehriftlihe Eingabe vom Herzog befreit. Dann erft kann er die Sponjalienangelegenheit zu Ende führen, und Bolla erhält ihren Paulinus. Es ift ſchon eine rechte Bauernfomödie, mit viel baroder Schulmweisheit geipidt ein wirklicher Übergang der Schulpoefie zur Volkspoeſie.

Sünfzehntes Kapitel. Satirifhe Dichtung. Die Goliarden.

Wie die Kirche von ihren früheften Anfängen an mit Jrrtümern und Irrlehren zu ringen hatte, jo auch mit Fehlern und Mikbräuden, die ji infolge menſchlicher Gebrechlichfeit unter ihren Gläubigen und jogar unter ihren Hirten entwidelten. Von Jahrhundert zu Jahrhundert ertönen des: halb neben den gewaltigen Mahnrufen der Päpfte, der Biſchöfe, Heiliger Priefter und Mönde auch in der Literatur trübe Klagen der verjchiedenften Art, ſcharfer Tadel, herbe Sittenfhilderungen und auch wohl bittere Satire. Andere hinwieder nahmen die Dinge weniger ernft und ſuchten in der fomischen Seite derjelben Stoff zu leichtem Spott, Scherz und Humor. Dat ſich ſolche Stimmen erhoben, iſt nicht als Zeichen hoffnungsloſen Verfall, fondern vielmehr Träftigen inneren Lebens und gejunder Reaktion

406 Fünfzehntes Kapitel.

zu betradten. In diefem Sinne find unzweifelhaft die Satirifer aufzu- faſſen, welche unter der Regierung Heinrihs II. von England fi gegen die obwaltenden kirchlichen Mipftände erhoben.

Längft vor den ernften firdhenpolitifhen Kämpfen, welche fi unter diejem König abfpielten, war England zu einem hohen Grad literariicher Bildung gelangt. Die normännifche Eroberung hatte das Land in innigere Verbindung mit dem hochentwidelten Frankreich gebradt. Eine Menge Schulen waren, raſch emporgeblüht. Zahlreiche Gelehrte kamen vom Freiland herüber, während junge Engländer zu Bari und an andern fontinentalen Schulen ih ausbildeten. Männer wie Lanfranc, Anfelm von Canterbury, Osborn zu Gloucefter, Robertus Pullus, Hugo von Rouen und Robert von Melun vertraten die Theologie; Gerland, Roger Infans, Athelard von Bath und Robert de Retines pflegten Mathematit und Aſtronomie. Godfrid bon Windefter und Laurence von Durham zeichneten ſich als Epigrammatifer aus, Reginald von Canterbury als Legendendidhter. Bejonders blühte die Geihichte durh Ernulf, Eadmer von Canterbury, Odericus Vitalis, fpäter Wilhelm von Malmesbury, Geoffrey von Monmouth, Wilhelm Fititephen, Thomas von Ely, Wilhelm von Newburg, Radulphus de Diceto, Roger von Hoveden und den originellen Gerald du Barri (Giraldus Cambrenſis), deflen „Zopographie von Irland“, „Geſchichte der iriichen Eroberung” und „Reife durch Wales“ zu den intereffanteften Projawerfen jener Zeit gehören. Als Vertreter des Humanismus begegnen uns neben Johannes von Salisbury Joſeph von Ereter und Alerander Nedam!. Schon bei Johannes von Salis- bury jpielen Humor und Satire eine hervorragende Rolle; man braudt deshalb auch die andern Satirifer, die fih an ihn reihen, nicht allzu tragiſch zu nehmen. Sie ftanden auf entſchieden kirchlichem Boden, und ihre Satire galt darum nicht den Inſtitutionen, welde die Kirche geihaffen, jondern lediglich den Mißbräuchen, welche ſich im diejelben eingeſchlichen Hatten.

Der derbite derjelben, Nigel Wirefer, war Präcentor in dem Benediktinerftift zu Ganterbury und befreundet mit William von Longhamp, dem fpäteren Biſchof von Ely, welchem er einen Traktat „Über die Miß— ftände in der Kirche“ widmete. Sein Hauptwerk aber war Brunellus sive speculum stultorum, ein jatirijches Gedicht in 3800 elegiſchen Verſen?.

! Ex rerum Anglicarum seriptoribus (Monum. Germ. Hist. SS. XXVID. B. ten Brink, Geſchichte der engliſchen Literatur I, Berlin 1877, 159—170 228 bis 232.— H. Morley, A first sketch of English literature I, London 1873, 43—71.

® Brunellus seu speculum staltorum, Paris 1506. Nigaldi Wiroker Angli Bardi speculum stultorum, Paris 1601. Thom. Wright, Delectus poeseos medii aevi etc. Fasc. I Satyrica poemata loh. Hanvil, Nigelli Wireker et aliorum poetarum anglorum complectens, Paris 1836. Die Fabel benußt von Ehaucer, in The Tale of the Nun’s Priest (ber Efel heißt hier Don Bur- nells Ass). ®2gl. H. Morley a. a. ©. 55 56.

Satirifhe Didtung. Die Goliarben. 407

Die Satire ift hauptſächlich gegen diejenigen gerichtet, welche mit ihrer ſchlichten Herilalen Stellung nicht zufrieden, möglihft viele Prioreien und Abteien an ſich zu ziehen ſuchen. Diefe verfpottet er unter dem Bilde des „Brunellus“.

„Brunellus ift der Name eine aus Gremona gebürtigen Eſels, den ed grämt, einen gar fo kurzen Schwanz zu haben. Er wendet fih darum an den weilen Galienus (Galenus) mit der Bitte, ihm zu einem neuen zu verhelfen. Galen rät ihm von einem jo gefährliden Experimente ab und erinnert ihn an das Beiſpiel einer Kuh, der e& in ähnlichem Falle jehr ihlimm gegangen. Er richtet aber mit feinen Mahnungen nichts aus und gibt daher ſchließlich ſcheinbar feine Einwilligung zu dem Plane. ‚Geh nad) Salerno,‘ jagt er, ‚und kaufe dort folgende Medikamente: Marmorfett, ein wenig Gänjemild, etwas Schnedengejhwindigkeit und Wolfsfurdt, ein Pfund Pfauengeiang, friſchgefallenen Schnee aus der Johannisnacht uſw. Alles das verpacke wohl in Schadteln und Käftchen, nimm es auf die Schultern und fomm dann wieder zu mir. Und nun gehab did wohl! Möge es auf deiner Reife an Waſſer und Difteln nicht fehlen; möge die Erde dein Lager und Tau deine Dede fein; Hagel, Schnee und Regen mögen did) beihügen und dein Freund, der Bullenbeiker, dich überall begleiten.‘ Dantbar und vergnügt trabt der Ejel von dannen, läßt fi durch feinen Unfall be fümmern und erreicht nad zwölf Tagen fein Neifeziel. Hier gerät er einem engliihen Kaufmann! in die Hände und macht es diejem durch fein dumme ftolzes Auftreten leicht, ihn zu betrügen. Er kauft unbejehens eine ganze Menge von Töpfen und Schadteln und tritt froher Hoffnung jeinen Rück— weg an. Natürlich läuft er bei feiner Vaterſtadt vorbei, gerät über die Alpen und trabt eines Tages in der Nähe von Lyon querfeldein, als ihn bon dem nahegelegenen Kloſter aus ein Eiftercienjermönd erblidt und jeine Hunde auf ihn hebt. Wütend wird er vom diefen angefallen, der un: glüdlihe Schwanz beinahe ganz abgebiffen, die ganze Bagage geht in taufend Scherben. An dem rohen Mönd freilicd nimmt der Mißhandelte gebührende Rache, indem er ihn Hinterrüds in die Rhone wirft; was foll er jelbit jet aber anfangen? nah Haufe zurüdfehren? in diefem jämmerliden Zuftande und al3 ein Spott für die ganze Stadt? Nein, das will er nit, nur mit Ruhm will er wieder heimfehren. Darum will er jebt feine körperlichen Gebrechen durch geiftige Vorzüge erjegen, er will fudieren, Theologie und Jurisprudenz, und dann jollen fie fi zu Haufe jpäter wundern, wenn er als Magifter und berühmter Nechtögelehrter wieder fommt. Boll jhöner Zufunftsbilder macht er fih auf den Weg nah Paris, findet angenehme Begleitung und Unterhaltung an einem wandernden Scholaren, und bald

! Der Name des Kaufmanns trufator Gauner.

408 Fünfzehntes Kapitel.

ift ihr gemeinfames Ziel erreiht. Brunellus badet fih, läßt ſich fcheren, fauft fich beffere Kleider und beginnt nun mit aller Kraft dad Studium. Vorzüglich imponieren ihm die Engländer dur ihr vornehmes Betragen, ihre Freigebigfeit und ihr maßloſes Trinken; an fie ſchließt er ſich deshalb enger an und hofft von ihrem Umgang bejondern Gewinn. Doch joviel er aud mit ihnen verkehrt und foviel er ſich anftrengt, in jeinen Kopf will nichts hinein: fieben Jahre lang läßt er fi von den Lehrern bearbeiten, läßt fih an den Ohren zaufen und den Prügel auf feinem Rüden tanzen er wird nur immer älter und lernt nichts außer feinem alten Y:ah. Da geht er im fih und denkt: ‚Ach, wäre ich doch in Eremona geblieben. Nun bin ich Schon fo lange in Frankreich und kann noch nicht einmal ein Wort Franzöfifh, mein Kopf ift ſchwer wie Blei und in meinem ganzen Körper fein Blutstropfen. Jetzt erinnere ih mich, daß meine Mutter mich einft verflucht und mir hungrige Wölfe auf den Hals gewünjht Hat; ja ich werde gewiß noch ein fchredliches Ende nehmen. Doh wer kann jein Schidjal vorausfagen? Jeden erreicht es, wie es vorher beftimmt ift, und ift mie nicht vielleicht noch etwas Großes beftimmt? Warum jollte ich nicht noch einmal Bischof werden? Werden nicht Heutzutage viele Bijchöfe, die es nicht verdienen? Ich aber, wenn ich es einmal werde, ich will nicht fein wie die meiften, ih will ein wahrer Priefter und Hirt meiner Herde fein, mir foll auf der ganzen Welt feiner gleihen! O mas werben meine Mutter und mein Vater jagen, wenn mir der Klerus aus der Stadt ent- gegenzieht und in feierlihem Gepränge mich empfängt ?* Er jagt alfo feinen Freunden Lebewohl und verläßt Paris. Als er aber vor dem Tore auf die Stadt zurüdblidt, da ruft er aus: ‚Ja, was find denn das für Häufer? Iſt das niht Rom? Iſt Rom denn jo nahe? Oder wie heikt eigentlich) diefe Stadt?‘ Erft von einem vorübergehenden Bauern erfährt er den Namen, und nun ifl er freudenfroh; dieſes Wort Paris beſchließt er mit nah Hauje zu bringen, das werde gewiß großen Eindrud maden. Auf dem ganzen Wege jagt er diejes eine Wort leife vor fich her, dem Gruße der Borübergehenden antwortet er nicht; was ihm auch begegnen mag, er bleibt ftumm, um das Wort nicht zu verlieren. Doc aud) jet bleibt das Unglüd nicht aus; in der Nähe von Vienne muß er mit einem Rompilger zufammen übernadten und anhören, wie diefer fortwährend fein Paternofter herbetet; er ſpricht nun wohl in Gedanken die Worte desjelben mit, oder wie es ſonſt gelommen fein mag genug, plötzlich ift ihm fein einziges franzöſiſches Wort wieder entflohen. Anfangs ift er natürlich wieder niedergefchmettert, aber ebenjo raſch erholt er fih auch. Allzugroße Weisheit jei nur vom Übel, und was helfe dem Menſchen überhaupt fein Willen? Dem Tode fönne er doch nicht entgehen, die Zukunft nicht erkennen. Deren könne ung nur die Religion verfihern, und darum jei es für ihm das befte, jetzt in

Satirifhe Dichtung. Die Goliarben. 409

den Möndaftand zu treten. Er verſucht es nun der Reihe nach mit den verjchiedenen Orden; da er es aber in feinem derjelben aushält, jo verfällt er auf den Plan, fich einen eigenen, ganz neuen zu gründen. Dieſer joll eine Miſchung aller beftehenden Orden werden. Von den Templern will er die ſchönen Pferde aufnehmen, von den Hofpitalitern die Freiheit, zu lügen, von den Gluniacenjern, am Freitag Fettes zu effen!, von den Eiftercienjern, nachts ohne Hofen zu liegen, von den Grammontenjern die Ungebundenheit im Reden, von den Kartäufern die Beſchränkung der Mefje auf einmal im Monat, von den regulierten Chorherren die Erlaubnis des Fleiſcheſſens, von den Prämonftratenfern das mweidhe Hemd, und jo weiter. ‚So ift denn nicht3 mehr nötig als die Beftätigung des Papftes. Und wie follte mir diefe verweigert werden? Denn gerechte Bitten weiſt der Papft gewiß nicht zurüd; nad Rom alſo will id eilen und meinen Antrag vorbringen.‘ Armer Brunellus! Noch wiegt er fich in diefen Hoffnungen, da ſchießt ihm plötzlich ein Blutftrahl aus der Naje. Das ſcheint ein böjes Borzeihen; auch in der Naht, ehe ihm die Hunde den Schwanz abbiffen, war ihm dasſelbe begegnet; er jchredt daher zufammen und betet zu Gott, er möge dod die Gefahr, die ihm den nächſten Morgen drohe, abwenden und auf feine Feinde lenten. Raum aber hat er jo geſprochen, da tritt der Bauer, fein alter Herr, in den Stall, ſchließt die Türe Hinter fih, padt den unglüdlihen Ejel und wirft ihm die Halfter über. Auch die Ohren jchneidet er ihm ab, und jo treibt er ihn wieder nach Gremona zurüd und an jeine alte Arbeit. Brunellus aber gibt noch immer nicht die Hoffnung auf, daß er einft zu Ruhm und Ehren kommen werde.” ?

Das ift freilich eine veriwegene Hoffnung. Denn nad fiebenjährigem Aufenthalt in Paris Hat Brunellus noch nicht einmal den Namen der Stadt behalten, tröftet fi) indes damit, daß er in der Rhetorik gehört, es könnte wohl aud der Zeil für das Ganze (pars pro toto) gelten.

Derjelben Zeit gehört Walter Map (Mapus, aud wohl Mapes genannt) an, etwa um 1143 an der Grenze von Wales geboren; er ftudierte in Paris, fam dann an den Hof Heinrichs II., warb defjen Kaplan, wohnte 1179 dem Lateranenfifhen Konzil bei, wurde Kanonikus zu St Paul in London, ſpäter (1196) Erzdiakon zu Oxford und flarb im Beginn des nächſten Jahrhunderts (1210)3. In dem Kampfe zwiſchen dem König und ı Dies fteht im MWiderfpruh mit den Cluniacenjerregeln (Hurter, Inno— cenz III. IV 109).

"8. Francke, Zur Geſchichte der Lateiniihen Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts 83—86.

® Thomas Wright, The Latin Poems commonly attributed to Walter Mapes, London 1841, Camden Society; Gualteri Mapes De nugis curialium distinetiones quinque. Edited from the unique manuscript in the Bodleian library at Oxford by Thom. Wright, ebd, 1850. Phillips, Walter Map (Sikungs-

410 Fünfzehntes Kapitel.

dem hl. Thomas von Canterbury ftand Map auf feiten des Königs und ward zum bittern Verfolger des Giftercienjerordens, gegen den er jchon zuvor Abneigung gehegt hatte. Biſchof Gaufrid von Ely forderte ihn auf, dem „Polykratikus“ des Johannes von Salisburyg nachzueifern und ein Gediht über „die noch nicht beichriebenen Reden und Taten” abzufaflen. Walter wollte nun nachweiſen, dab ein ſolches Unternehmen ſich bei Hofe nit ausführen lafle, fam aber von diefem Plane ab und reihte eine Menge von Geihichten, Einfällen, Legenden und Anekdoten aneinander, twie fie ihm in den Jahren 1182—1189 in die Feder kamen, ohne einheitliche Durch— arbeitung in fünf Diftinktionen und diefe wieder in fleine Kapitelchen ge: teilt 1, Das bunte Quodlibet erhielt den Titel De nugis curialium; es ift für die Hulturgefhichte jener Zeit von höchſtem Intereſſe. Zuerſt ver: gleiht Map das Leben bei Hofe mit den Qualen de3 Tartaruß, daran fnüpfen ſich dann verſchiedene Hofanelvoten, Mönchsgeſchichten, eine er: greifende Klage über die Einnahme Jerufalems durch Saladin, Geihichtchen über verſchiedene Orden, bittere Ausfälle über die Giftercienjer, gegen die er einen unverſöhnlichen Groll trug, aud gegen den Hl. Bernhard, den er jehr giftig beipöttelt, Nachrichten über zeitgenöſſiſche Ketzereien, bejonders die Waldenſer, an deren offizieller Unterfuhung er beim Lateranenfiichen Konzil (1179) perſönlich beteiligt war, allerlei Mönds- und Einfiedlerlegenden, dann wieder wallifiihe Sagen und Märden, die jeltjamiten Liebesgeſchichten (befonders eine von Gerbert, dem fpäteren Papft Silvefter IL), endlich wieder geſchichtliche und Halbgefhichtlihe Züge aus der Geſchichte der Nor: mannenkönige. Sprade und Stil find jehr ungleih. Rhetoriſche Breite und geziwungener Stil jtören mitunter den Fluß der Erzählung; doch ſpricht aus allem ein feingebildeter und geiftreiher Mann, ein erfahrener Höfling und Menſchenkenner, voll Wit und Humor, aber troß feiner Schimpfereien auf die grauen Mönche, trob feiner Vorliebe für Abälard und Arnold von Brescia und troß mander Derbheiten ein tüchtiger, der Kirche ergebener Kleriler.

Offenbar feine Jovialität und freiere mweltlihe Richtung haben Anlaß geboten, eine Menge anonymer zeitgenöffiicher Satiren und Spottgedichte auf jeinen Namen zu fegen, ja ihn jogar zu einem der Häupter der jog. Goliarden zu maden. Die jhlimmften diefer Gedichte jcheint er indes, nad neueren Forſchungen, nicht verfaßt zu haben, und feine Autorſchaft ift auch für Die übrigen keineswegs verbürgt?.

berichte ber Wiener Akademie. Phil.hiſtor. Klaſſe X [1853] 819 ff); Vermiſchte Schriften III, Wien 1860, 115 ff.

ı Eharakteriftit ber Schrift bei Wright, The Latin Poems commonly attri- buted to Walter Mapes ıx—xı.

® As Walter Map, who was precentor, chancellor, and afterwards arch- deacon in the diocese of Lincoln, seems to have lived on more or less intimate

Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 411

Goliarden!, nah ihrem Patrone Golias, nannten fi vom 12. Jahrhundert an die vagabundierenden Studenten, welche teild an den Univerfitäten teil3 an Klöſtern und in Städten herumfchweiften, fi vom Bettel ernährten, und ſoweit e& ihre Zehrung erlaubte, ein feuchtfröhliches Dafein führten. Die Anfänge dieſes fog. Goliardenmwejens feinen ganz harmlos gemwejen zu fein. Arme Studenten erjangen fih ihr Almojen von Tür zu Tür, wie in dem folgenden herzbewegenden Bettellied :

Exul ego clericus Bin ein fahrend Schülerlein, ad laborem natus, Muß mi mühn und plagen; tribulor multotiens Sauer wird’ mir oft und viel, paupertati datus. Nur mich durchzuſchlagen. Literarum studiis Dem gelahrten Studium vellem insudare, Möcht' ich gerne leben;

nisi quod inopia Leider, daß der Mangel mid cogit me cessare. Zwingt, es aufzugeben.

Ile meus tenuis Ad, was ift mein Mäntelein nimis est amictus, Dünne zum Erbarmen,

saepe frigus patior Bittre Kälte fteh’ ih aus, ealore relictus. Kann oft faum erwarmen.

terms with St. Hugh (dem bl. Hugo, Biſchof von Lincoln), it is worth while to point out that nothing can be more uncertain than the authorship of much of the literary work commonly attributed to him. It is no doubt, true that he allowed himself a good deal of freedom in his criticisms of men and things, inveighing especially against the monks with much bitterness this we may learn from his undisputed work, the De nugis curialium and from Giraldus. But we may acquit him of any connection witl the scurrilous and ribald verse which has been fathered upon him. The famous drinking-song, in particular, Meum est propositum in taberna mori, though this perhaps is less open to ob- jection than some others amongst his supposed works, has no claim to be known as his. See Mr. H. L. Ward’s Catalogue of Romances in the British Museum, and the Article on Map in the Dictionary of National Biography (H. Thurston, The life of Saint Hugh of Lincoln, London 1898, 427 428).

1W. v. Giejebreäht, Die Baganten oder Goliarden und ihre Lieder (All: gemeine Monatsihrift für Literatur 1858, 10 ff 344 ff). O. Hubatſch, Die lateiniſchen Vagantenlieder des Mittelalter, Görlig 1870. Edelestand du M&ril, Poésies populaires latines anterieures au douziöme siöcle, Paris 1843; Poesies populaires latines du moyen-äge, ebb. 1847; Po6sies inddites du moyen-äge, ebd. 1854. J. A. Schmeller, Carmina Burana (Bibliothef des Titerarifchen Vereins XVI), Stuttgart 1847; 3. Aufl. ebd. 1894. Flacii Illyrici Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecelesiae statu poemata, Basileae 1556. R&. Frande, Zur Gejhichte der lateinischen Schulpoefie des 12. und 13. Jahr: hunderts, Münden 1879. Gaudeamus! Carmina vagorum selecta, Lips. 1379. 2. Laißner, Golias (Überjegt), Stuttgart 1879. Jaffé, Cambridger Lieder (Zeitichrift für deutjches Altertum XIV 491 ff).

412 Fünfzehntes Kapitel.

Interesse laudibus Nicht einmal beim Gottesdienft non possum divinis, Halt’ ih aus fo Lange,

nec missae nec vesperae, Bis bie Veiper oder Meſſ'

dum cantetur finis. Kam zum Schlubgefange,

Ergo mentem capite Bon Sanft Martins Vorbild laßt similem Martini, Euern Sinn erweden,

vestibus induite Reicht dem Fremdling ein Gewand, corpus peregrini. Seinen Leib zu beden.

Ut vos Deus transferat Daß in feinem Himmel einft

ad regna polorum, Gott euch Heike wohnen

ibi dona conferat Und mit ew’ger Seligfeit

vobis beatorum. Möge reihlih lohnen!

Wenn fi diefe Baganten aud fahrende Kleriker nannten, jo ilt dieſes Wort aber nicht in firengerem Sinne zu nehmen, fondern nur in einem weiteren, indem die größte Zahl der Studenten überhaupt an den Uni— verfitäten fi der Philojophie und Theologie widmete, eine Art geiftlicher Kleidung trug und Anftellung im kirchlichen Dienfte juchte oder im Auge hatte. Sie waren indes noch Studenten, nicht durch die ftrengen Pflichten des Prieftertums gebunden. Mit dem Beginn der Univerfitäten jelbit aber entitanden mande Mißverhältniſſe. Die Dom: und Kloſterſchulen ſanken von ihrer bisherigen Bedeutung herab, während fi an den Univerſitäten eine übermaſſe von jungen Leuten häufte, die, ohne genügende Zucht und Einſchränkung, vielfah die Studien vernadläffigten, fi dem Müßiggang, dem Lafter ergaben, planlos dies und jenes trieben, ihre Zeit in Streitereien und Slopffechtereien verloren oder auch wohl Halb und ganz verbummelten. In diefer Sphäre der Bummelei, bei Becherflang und Zitherjpiel ift größten: teil die ſog. Vaganten- oder Goliardenpoefie entjtanden; fie ſchloß indes keineswegs auch beſſere Elemente aus.

Als Ausgangspunkt der Goliardenpoeſie iſt Paris und überhaupt Nord— frankreich zu betrachten. Von hier verpflanzte fie ſich ſowohl nad England als nach Deutſchland, während ſie in Italien weniger Anklang fand. Abälard mit ſeiner freigeiſtigen, unkirchlichen Richtung, feinen Liebes— abenteuern, ſeinem erſtaunlichen Formtalent, ſeiner Beliebtheit, die ihm ſtets eine außerordentliche Menge von Schülern aus aller Herren Ländern zu— führte, dürfte auf das Entſtehen des Goliardenweſens nicht ohne Einfluß gewejen fein. Bemerfenswert ift, daß der hl. Bernhard in einem Briefe an Papft Innocenz II. Abälard als „Golias“ bezeichnet!. Heloiſe jchreibt

! Procedit Golias procero corpore nobili illo suo bellico apparatu circum- munitus, antecedente quoque eius armigero Arnaldo de Brixia (8. Bern, Epist. 189; Migne, Patr. lat. CLXXXI 355). Map erwähnt ben als Brief an Papit Eugen gerichtet, was irrig ift (De nugis curial. dist. I, c. 24; ed. Wright 41).

Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 413

gerade jeiner Verskunſt e8 zu, daß er alle Damenherzen zu gewinnen ver: ftanden und fie jelbft durch feine Lieder zu allgemeiner Berühmtheit gebracht habe!. In ihm ftedt ſchon zu gutem Teil der fpätere Goliarde. Wie er, jo ſchrieb auch fein Schüler Hilarius Gedichte im Stile der Vaganten. Abälards Name figuriert ebenfalls bedentjam in einem der größeren Goliardengedichte, der Metamorphosis Goliae Episcopi?.

Siteraturgefhichtlih ift diefe Metamorphosis wohl eines der merf- würdigften Goliardenlieder, wenn nit das bedeutjamfte, indem es die Stellung der Goliarden zu dem bisherigen Humanismus einigermaßen näher bezeihnet?. Es erinnert lebhaft an die Nuptiae Philologiae et Mercurü des Martianus Gapella. Man möchte es faft als eine Traveftie derjelben betradhten. Denn was dort hochpathetiſch, breitipurig und feierlich ab- gehandelt wird, erſcheint hier in einem leichten, leichtfinnigen, gedrängten, urfröglihen Miniaturbild. Bei Frühlingsanfang im freien träumend, fieht ih der Poet in einen wunderherrlihen Hain verſetzt, wo der Winter feinen Zutritt Hat, der Frühling ewig blüht. Im Rauſchen der Zweige, im Ge: jumme der Bienen, im taujendfahen Gejang der Vögel Elingt das ewige Lied der Liebe, die Harmonie der Sphären wieder.

Hic auditur avium vox dulcicanarum, quarum nemus sonuit voce querelarum ;

sed illa diversitas consonantiarum praefigurat ordinem septem planetarum.

Dort erklingen hell und ſüß trauter Vöglein Lieder, Bon ber Liebe Klageton hallt das Wäldchen wieder. Doch ein Nachklang find fie nur, unferm Ohr zu zeigen Himmelsiphärenharmonie und Planetenreigen.

Mitten in dem Haine öffnet ſich ein blumiges Gefilde, vom bunteften Blütenflor durchwogt, vom füheften Blütenduft erfüllt. Da erhebt fih auf

! Duo autem, fateor, tibi specialiter inerant, quibus feminarum quarumlibet animos statim allicere poteras, dietandi videlicet et cantandi gratia.... Cum me ad temporales olim voluptates expeteres, crebris me epistolis visitabas, frequenti carmine tuam in ore omnium Heloissam ponebas, Me plateae omnes, me domus singulae resonabant (Petri Abaelardi Opera; Migne a. a. DO. CLXXVII 185 188). Abälard jelbft ſchreibt an Heloife: Quorum (amatoriorum) etiam car- minum pleraque adhuc in multis, sicut et ipsa nosti, frequentantur et decan- tantur regionibus, ab his maxime quos vita similis oblectat (ebb. col. 128). Noch deutlicher jagt Heloife: Amatorio metro vel rhythmo composita reliquisti carmina quae, prae nimia suavitate tam dietaminis quam cantus saepius frequentata, tuum in ore omnium nomen incessanter tenebant, ut etiam illiteratos melodiae dulcedo tui non sineret immemores esse (ebd. col. 185 186).

® Th. Wright, The Latin Poems attributed to Walter Mapes 21—50.

’s TH. Wright fand das Gedicht nur in einer Handſchrift: Harleian Mss. 978, Fol. 121, Vo.

414 Fünfzehntes Kapitel.

hehren Säulen ein prachtvolles Königsſchloß, deſſen Boden von Jaſpis, deſſen Wände von Hyazinthen, deſſen Dad von Gold ftraflt. Innen und außen ift es mit den berrlichiten Bildern geihmüdt, wie fie nur Vulkans Götter: Hand zu ftande bringen fonnte, Da waren die neun Mufen und die Stern- zeihen und Mar und Adonis und Diana. Aber all das waren nur Sinnbilder, geheimnisvolle Allegorien. Das Haus ftellt die Schöpfung jelbft dar, das Werk des höchſten Künſtlers, der ewigen Güte, die alle Weien und Formen zum harmonischen Ganzen gefügt.

Ista domus locus est universitatis,

res et rerum continens formam cum formatis,

quam creator optimus qui praeest creatis, fecit et disposuit nutu bonitatis.

Diefer herrliche Palaft find des Weltalld Hallen

Mit den Wefen, mit dem Stoff, mit ben Formen allen, Die des Schöpfers ewige Huld, fo ob allem waltet, Hat mit einem mächt'gen Wink liebevoll geftaltet.

Damit ift dem antifen Mythos die heidniihe Anſchauungsweiſe ab: geftreift, und der Dichter wagt e8 darum, denjelben im folgenden mit ficht: fiher Liebe ſymboliſch weiter auszufpinnen. In Juppiter fieht er die unerihöpflihe Macht des Ewigen vorgebildet, in Juno die unermeßliche Fruchtbarkeit, in der jungfräulihen Pallas die erhabene Schöpferweigheit, die den gejamten Weltplan geftaltet hat und zur Durdführung bringt:

Haee mens est altissimi, mens divinitatis, quae naturae legibus imperat et fatis;

incomprehensibilis res est deitatis, nam fugit angustias nostrae parvitatis.

In ihr Iebt bes Höchſten Geift, lebt ber Gottheit Fülle; Schickſal und Naturgeſetz lenkt der ew'ge Wille. Unermehlih groß ift Gott, nimmerdar zu fallen:

Unjer winzig Sein verfhwimmt vor ben Riejenmaflen.

Es folgt nun die Hochzeit Merkurs mit der Phroneſis, der menſch— lichen Einfiht, durch welche das göttliche Willen fih mit dem menjhlichen verbindet, eine duch das ganze Mittelalter weiter vererbte volkstümliche Borftellung, ftatt in Herametern hier einmal in leiten, klingenden Rhythmen fur; und heiter ausgeführt. Bräutigam und Braut prangen im Schimmer der freudigften Jugend. Schöner als eine Roje am Morgen ftrahlt die Braut. Ihre lichten Gejchmeide bedeuten ebenfoviele Vorzüge der Erkenntnis— fraft. Das Gefolge des Brautpaar bilden zunächft die neun Mujen und die drei Grazien; dann gejellt ſich ihnen auch der fröhlihe Schwarm der Bachanten, Silenus mit den Satyen, Venus und Amor.

Satirifhe Dichtung. Die Goliarben. 415

Hier nimmt das Gedicht eine fichtlich leichtfertigere Wendung. Mit Behagen verweilt der Dichter bei diejem Teile des Hochzeitszugs, ohne indes das Bild durch einen unwürdigen Zug zu entjtellen. Die Macht der Sinnen- liebe ift vielmehr in dem kleinen Amor jehr treffend umd jehr artig ſymboliſiert. Der Venus wird aud die erhabenere Geftalt der Pallas gegenübergeftellt ; aber der Dichter wagt nicht zu entjcheiden, welche der beiden Göttinnen die größere Macht befigt.

Hie diversi militant et diversae vitae,

qui ab uno solito dissident invite;

quibus an plus valeat Pallas Aphrodite, adhuc est sub pendulo, adhue est sub lite.

Gegenüber ſtehn fich hier zwei verſchied'ne Leben, Die ihr Ziel verlaffen nur mit viel Widerftreben. Ob und wie ber PBallas ift Benus überlegen,

Das ift fraglich, Zweifel fann man darüber hegen.

Spieleriih und wohl nicht ohne ironische Bosheit läßt der Dichter nun

im Brautzug aud die Vhilojophen und Dichter des Altertums aufmarſchieren und gibt zu verfiehen, daß die letzteren alle mit Aphrodite und Amor zu ſchaffen haben:

Secum suam duxerat Cetam Ysopullus,

Cynthiam Propertius, Deliam Tibullas ;

Tullius Terentiam, Lesbiam Catullus;

Vates huc convenerat sine sua nullus.

Versus fingunt varie metra variantes, cothurnatos, lubricos, enedos, crepantes, hos endecasyllabos, illos recursantes, totum dicunt lepide, nihil rusticantes.

Jeder bracht' jein Schätzchen mit, Ceta Dfopullus, Cynthia Propertius, Delia Tibullus,

Zulliuß die Terentia, Catull auch fein Liebchen, Kurz, fein Dichter da erihien ohne Herzensdiebchen.

Verſe wurben da gemadt, traun, von allen Sorten, Hocherhaben, ſchlüpfrig leicht, Inapp und voll in Worten, Jetzt Elffilber, jegt ganz kurz, jet mit Wechjelreimen, Aber alles glatt und nett, ohne grob zu leimen.

Der alte Sittenernft ift gebroden. Bon Bergil ift nicht mehr Die Rede. Die römischen Elegiter ftehen als Dichtungspirtuofen und Mufter im Vordergrund. Der Gejhmad verfeinert ih. Die Versmaße werden mannig— faltiger, do Yorm und Wi drängen auch den Gehalt zurüd.

Das Gedicht, bis dahin hochpoetiſch, verläßt nun feinen allgemeinen Standpunkt und wird zum perfönlichen, boshaften Gelegenheitsgedidt. Offen:

416 Wünfzehntes Kapitel.

bar nur in fatiriicher Abſicht werden in langer Reihe auch die fcholaftiichen Philofophen aufgeführt: Jvo von Chartreg, Petrus von Poitiers, Adam von Betit-Bont, jogar Petrus Lombarbus, Jvo von Tours, Helyas Petrus, Bernardus (von Chartres?), zahlreihe Schiller Abälards, Reginaldus, Robertus, Manerius, Bartholomäus (von Ereter?) und Robertus Amiclas. Nur einer fehlt. Umſonſt fieht fih die Braut nad dem Philofophen von Palais ihrem Palatinus um. Abälard, der „göttlihe Seher“, iſt duch das „verderblihe Kuttenvolk“, die Mönde, verdrängt, und der Dichter, erboft darüber, verwendet deshalb die fetten Strophen zu den maßlofeften Ausfällen gegen die Mönde mit dem Schlußwort:

Cueullatus igitur grex vilipendatur et a philosophicis scholis expellatur.

Drum ben Kuttenträgern jei ewig Spott und Schande, Jagt aus Schul’ und Philoſophie fort die arge Bande!

Das, abgejehen vom Schluß, jo jchöne, formgewandte Gedicht ift alſo bon einem Schüler und Verehrer Abälards verfaßt, ein Racheakt gegen die Einjhließung des vielgefeierten Gelehrten, welche, auf Anregung des HI. Bern: hard, das Konzil von Sens über denjelben verhängt und Innocenz II. (16. Juli 1141) beftätigt hatte. Die Goliardenpoefie ſteht mithin in Beziehung zu Abälard und deſſen Schülern !.

Die Hauptmafje der Goliardengedihte ift in zwei Sammlungen er: halten, die aus dem 13. Jahrhundert ftammen. Die eine ift englijcher Ab- funft (das Harleian-Manuffript Nr 978 zu Oxford); die andere, deutjcher Abkunft (jet in München), rührt aus dem Kloſter Benediktbeuren her, wonach die darin enthaltenen Gedihte den Namen Carmina Burana erhielten. Die engliihe, 1839—1844 durch Th. Wright herausgegeben, enthält vorzugs— weile die ernfteren Gedichte, während in der deutſchen das joviale Element vorwiegt. Die Verfaffer auch nur der Hauptgedichte mit Sicherheit heraus: zufinden, iſt bisher nicht geglüdt. Wohl hat man verſucht, aus benjelben einen „Archipoeta“ zu Eonftruieren, der, alle übrigen an Geift, Wit und Formgewandtheit übertreffend, im Gefolge des Kölner Erzbiſchofs Rainald von Dafjel über die Alpen gezogen fein joll, um, bei unverfieglihem Durft, in ewig fröhlidem Saus und Braus das Deutihtum in Geftalt Friedrich Barbaroſſas und deſſen antipäpftliche Politik zu verherrlichen ?; allein dieſe burſchikoſe Lieblingsgeftalt mancher modernen Schriftfteller entbehrt noch gar

9. DenifleO.Pr., Ubälarbs Sentenzen und die Bearbeitungen feiner Theo« logie (9. Denifle O.Pr. und F. Ehrle S.J., Archiv für Literatur- und Kirchen— geihichte des Mittelalters I, Berlin 1885, 605 606).

® Uber die Vermutung, biefer „Archipoeta“ ſei Walter von Ehätillon (Lille), vgl. D. Hubatſch, Die Iateinifhen Vagantenlieber, Görlik 1870, 86 fi.

Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 417

ſehr der feften gefchichtlichen Unterlage, während ihr Doppelgänger, der eng: liche und franzöfiiche Golias oder Biſchof Golias der Phantafie einen ebenjo freien Spielraum gewährt. Denn wie fich die einzelnen Gedichte auf Frank— reih, England, Deutihland und Italien verteilen, ift noch ſehr wenig aufgehellt.

Wie in Bezug auf das nationale Element, fo ftellen die beiden Samm- lungen und was fi fonft noch an Goliardenliedern findet, ein funterbuntes Sammelfurium dar. Schüchtern-wehmütige Bettelliever begegnen ſich darin mit den unverjchämteften Ausfällen auf Bapft, Biihöfe und Prälaten, tief innige, lieblihe Minnelieder mit den kraſſeſten Nachklängen altrömiſcher Erotit, anmutige Frühlingsklänge mit dem milden Gejohle beraufchter Zechbrüder, denen alle vier Jahreszeiten längft in eine verſchwommen find, Elegien auf Dido und Aeneas mit latinifierten Schnadahüpfeln des ausgeſprochenſten deutihen Gepräges, fromme Sreuzfahrergefänge mit den giftigften Spott: weifen auf das chriftlihe Rom, das Lob der malellofen Jungfrau und Gottesmutter mit den gemeinften Zerrbildern des kirchlichen Gölibats.

Eine Scheidung hätte hier vor allem Not getan. Aus dem Gemwirr üppiger Sumpfpflanzen und ſtachlichter Dornen heraus hätte fi ein freund: licher Blütenſtrauß echt mittelalterliher Poefie gewinnen laſſen. Boll friſchen Lenzesduftes, eine wahre Perle des Minneſangs, ift 3. B. das tenzonen= artige Gediht „Von Phyllis und Flora” !, das folgendermaken beginnt:

In des Jahres Blütezeit, da ber Himmel ftrahlet, Bunt der reichſte Blumenflor alle Wiejen malet,

Als der Sterne Heer verſcheucht rofig ſchon Aurora, Wachten früh vom Schlummer auf Phyllis wie aud Flora.

Beiden Mädchen ſchien erwünfcdht eine Morgenrunde; Denn von beiden ſcheucht den Schlaf eine Herzenswunde. Alſo gleihen Schrittes ziehn hin fie auf die Auen,

Die zum Spielen laden ein und gar hold zu fchauen.

Beide waren Mädchen noch, königlich von Range.

Flora trug ihr Haar geziert, Phyllis frei und lange. Traum, nicht irdiſch, himmliſch find ihre Huldgeftalten, Traum, für Morgenfonnenihein magft ihr Bild du halten.

Adlig ift ihr Wuchs und Schmud, fürftlih ihre Mienen, Bon der Jugend Sonnenglanz minniglich beichienen. Eins nur trennet ihren Sinn, madt fie etwas bitter: Diele einen Dichter liebt, jene einen Ritter.

* Carmina Burana, Stuttgart 1847, Nr 65, ©. 155— 165; bei Wright, Poems attributed to Walter Mapes 258—267 ; englifche Überfegung ebd. 364371. Schon früher veröffentlicht von Docen in Aretins Beiträge IX 302—309.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 27

418 Fünfzehntes Kapitel.

Sonft find fie an Leib und Geift nirgendwie verfchieden, Zwiſchen beiden lebt und webt ſchweſterlicher Frieden. Wie die eine denft und finnt, auch die andre finnet, Nur daß jede fill für fi einen andern minnet.

Sie lagern fih nun in einer ſchattigen Laube, an einem Bädhlein, und jede judht in echt mäddenhaftem Geplauder das deal ihrer Liebe zur Geltung zu bringen. Da fie fih nicht einigen können, befteigen fie zwei prädtige Zelter und reiten zu Amors Schloffe, einem ganz wunderfamen Märdenpalaft. Hier wird ihnen nad feierliher Beratung der Beicheid zu teil, daß der gelehrte Poet vor dem Ritter den Borzug verdiene. Das alles it jo harmlos, gemütlich und zugleich echt künftleriih ausgeführt, dab fein vernünftiger Menih daran Anftok nehmen kann. Uber weil der gelehrte Poet in dem Gedichte nach mittelalterlihem Brauch „Klerikus“ genannt ift, das Stüd zwiſchen den häßlichſten Satiren fteht, wurde es ebenfalls als giftiger Hohn auf den Eölibat gedeutet und zu Skandal mikbraudt.

Das berühmtefte diefer Gedichte ift wohl die jog. Confessio Goliae, die parodiftifhe Beicht eines verlotterten Genies, das fi in kedem Jugend: übermut widerftandslos der Wolluft, dem Spiel und der Trunkſucht über: antwortet und darin die beiten Kräfte aufgezehrt hat, alle jeine Verirrungen aber nicht nur als unvermeidlich entſchuldigt, jondern fi geradezu derjelben rühmt, fidh den Tod im Wirtshaus wünjcht und die Weinjeligkeit als Haupt: prinzip der Poeſie erhebt, in leichtfertigftem Kontraft zum Schluß von Reue fajelt und um Buße und Verzeihung bittet. In einer engliihen Faſſung des Gedichts ift dieſes Schlußgebet an den Biihof von Coventry (Praesul Coventrensium), in einer deutſchen an einen erwählten Erzbiihof von Köln (Electe Coloniae) geridtet. Die leßtere Angabe wird auf Rainald von Daffel, den Erzlanzler Friedrich Barbaroffas, bezogen, der zwiſchen 1162—1165 erwählter Erzbiihof von Köln war und damals am Hoflager von Pavia meilte, das nah Strophe 8 und 9 derjelben Faſſung ala die Stadt zu betrachten wäre, wo das Gedicht entftanden iſt. In andern Faflungen ift jene Stelle mehr verallgemeinert und die Strophe über Pavia weggelaffen. Die fahrenden Sänger änderten das Gedicht je nad) Bedarf ab.

Giraldus Gambrenjis, der von 1147—1216 lebte, erwähnt das Gedicht in feinem „Sicchenfpiegel“ 2 mit Bezug auf ein anderes, das gegen die römische Kurie gerichtet ift, folgendermaßen:

„Item, bat in unjern Tagen ein gewiffer Schmaroger namens Golias, durch jeine Schlemmerei und Lieberlichkeit gleich berüdhtigt, der den Namen Goltas um fo

ıi Notice of Golias, from the Speculum Ecclesiae of Giraldus Cambrensis (Ms. Cotton. Tiberius B. XII, fol. 126, bei Th. Wright, Poems attributed to Walter Mapes xxxvuı ff).

Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 419

beffer verdient, weil er fi ganz und gar dem Freſſen und Saufen ergeben, bod) auch ziemlich literariſch gebildet, aber weder gut gefittet noch in ben befjeren Wiflens- zweigen bewandert ift, zu wiederholten Malen zahlreiche metriihe und rhythmiſche Spottgedichte gegen den Papft und bie römische ſturie ausgejpien.“

Nahdem Giraldus dann den größeren Teil eines ſolchen Gedichtes „nicht zu deſſen Gutheißung und Nachahmung, jondern zu deſſen Ver: abſcheuung umd Verurteilung“ mitgeteilt, fährt er fort:

„Was verdient ber Anfläger dafür, daß er fein Maul fo weit aufreiit? Wenn die römische Kurie gegen die Delinquenten leibliche Strafen verhängte, jo hätte diefer Menſch nicht nur den Strang, jondern aud den Scheiterhaufen verdient. Aber wie vermöchte ed einer, andere in feinen Schriften mit biffiger Mißhandlung zu ver- Ihonen, der es nicht über ſich bradite, in einem längeren rhythmiſchen Gedicht, das er über jein eigenes Treiben und erbärmliches Leben gleihjam als eigene Grabidrift verfaßt hat, fich jelbft zu ſchönen. Denn aus des Herzens Überfülfe jagt er darin:

Tertio capitulo memoro tabernam,

Illam nullo tempore sprevi neque spernam, Donec sanctos angelos venientes cernam, Cantantes pro mortuo requiem aeternam. Meum est propositum in taberna mori; Vinum sit appositum morientis ori,

Ut dicant cum venerint angelorum chori: Deus sit propitius huic potatori.

„Zwei Verje des Magifters Marbod, der die verjhiedenen rhetoriihen Stil» färbungen und ben Wort» und Sakihmud in trefflihen Verſen erläutert hat, mögen hier nicht unpafiende Anwendung finden:

Mer fich felber nicht ſchont, wie jchonte der deiner und meiner? Wer fich ſelber verhöhnt, wird deine Schmad er verichweigen ?

„Eine ungewöhnliche VBerwegenheit, eine ungewöhnliche Frechheit und Unklug— heit iſt es alſo, wenn es ein Menſch wagt, überhaupt den Nachfolger Petri, ben Statthalter Ehrifti, den höchften Seelenhirten auf Erden, in Wort ober Tat, mit Mund oder Hand zu beleidigen. Mag ein folder au der menſchlichen Strafe fi entziehen, jo wirb er doch keineswegs dem göttlichen Zorne entgehen, der feine Sünde ungerädht läßt, ſofern nicht volle Buße erfolgt ift.“

Einige Strophen (12—17) wurden au als eigenes Gediht aus dem Verband des Ganzen abgelöft und haben als Zrinklied die weitelte Ver: dreitung erlangt:

Meum est propositum in taberna mori: vinum sit appositum morientis ori, ut dicant cum venerint angelorum chori: „Deus sit propitius huic potatori.*

Poculis accenditur animi lucerna ; cor imbutum nectare volat ad superna: mihi sapit duleius vinum in taberna, quam quod aqua miscuit praesulis pincerna. 27°

420 Fünfzehntes Kapitel.

Loca vitant publica quidam poetarum, et secretas eligunt sedes latebrarum ; sudant, instant, vigilant, nec lahorant parum, et vix tandem reddere possunt opus celarum.

leiunant et abstinent poetarum chori, lites vitant publicas et tumultus fori; et ut carmen faciant quod non possit mori, moriuntur studio, subditi labori.

Unicuigue proprium dat natura munus; ego numquam potui scribere jeiunus; me jeiunum vincere posset puer unus; sitim et ieiunium odi tamquam funus.

Uniceuique proprium dat natura donum; ego versus faciens bibo vinum bonum ; et quod habent melius dolia cauponum: tale vinum generat copiam sermonum.

Tales versus facio quale vinum bibo; nihil possum scribere nisi sumpto cibo, nihil valet penitus quod ieiunus scribo; Nasonem post calices carmine praeibo '.

Die übrigen größeren Goliardenlieder, zumal diejenigen, die unter dem Namen des Golias jelbft zirkulierten, find faft jämtlih Satiren und In— veftiven auf die zeitgenöffiichen Mipftände in Kirche und Klerus. In der „Apotalypje des Biſchofs Golias“ nimmt die übermütige Läfterung geradezu die Form einer Parodie auf die bibliihe Apokalypſe an, die ſchon durd) ihre Frivolität abftoßend wirken muß, in vielen Zügen aber genugjam zu ertennen gibt, daß der Spötter an der dargeftellten Verkommenheit jeinen eigenen redlichen Anteil Hat und mit Behagen in dem Schmuße mwühlt. Ernfter gehalten ift die „Predigt des Golias“. Dagegen wird die römiſche Kurie in dem Gedicht Utar contra vitia carmine rebelli mit dem derbiten Schimpf und Spott übergofjen; ebenjo wütend fällt Golias in dem Gedicht Dilatatur impii regnum Pharaonis über die „gottlofen Prälaten“ her. Derjelbe Spott über die Habſucht, den Geiz, die Unenthaltfamteit, Schledhtig- feit und Lafterhaftigfeit des Klerus kehrt dann in einer Menge von Ge- dichten in den mannigfachſten Yormen wieder. Andere machen fid in wahrhaft cyniſcher Weile über den Cölibat und deſſen Verlegung Iuftig, im Tone eines Menſchen, der nicht nur den Glauben an die Jungfräulichkeit, jondern jedes ernitere, fittliche Gefühl über Bord geworfen. Flacius Jllyricus

! Th. Wright, Walter Mapes 73 74. Bgl. Edelestand du Meril, Poesies pop. lat. 205 206. Die Varianten desfelben Gedichts ebd. 206 207.

Satiriſche Dichtung. Die Goliarden. 421

hat fie jpäter mit fihtliher Vorliebe aufgegriffen und neu befannt gemadt, um gegen den kirchlichen Gölibat anzuftürmen.

Gar zu ernjt und tragiſch ift indes die Satire der Goliarden nicht auf: zufaffen. Sie trifft nicht die kirchlichen Inftitutionen und Würden als ſolche, ſondern nur den Mißbrauch derjelben durch unwürdige Inhaber und Träger der firhlihen Gewalt. In dem großen Gedicht De diversis ordinibus hominum bleibt die Klage durhaus nicht bei Papft, Kardinälen, Prälaten, Mönchen und Prieftern ftehen, jondern lieft aud dem Schreibervolf, den Bürgern, den Kaufleuten, den Bauern und jogar den Bettlern den Tert!. Bei allen wird zuerft der Stand und deſſen joziale Bedeutung gerühmt, dann der Abfall der Mitglieder von ihren Zielen und Pflichten gegeibelt, und zwar nit etwa in dem gereizten, heftigen, giftigen Ton, den die Satirifer der Reformationzzeit anſchlugen, jondern mit einer derben Nedlichkeit, Biederkeit und Gutmütigfeit, die, mit Gotte Gnade, an einer Beflerung der Verhält- niffe noch gar nicht verzweifelt, viel weniger alles Beftehende über den Haufen werfen will.

Von den Bürgern heißt e8:

Burgenses sunt otio valde mancipati; horum deus venter est et ciphi praelati;

in nugis et aleis sunt exereitati; sed graviora pati nequeunt istis curiati.

Den Kaufleuten wird angehängt:

Fides mercatoribus non est adhibenda, deiurant quotidie pro merce vendenda; decima non solvitur de iure solvenda;

est gravis haec menda, lucra talia sunt abolenda.

Die Bauern werden als Nährftand zuerſt glänzend herausgeftrichen:

Seminant agricolae, germinant frumentum,

et boves enutriunt et greges bidentum;

mundus ab hiis maxime capit nutrimentum, sunt fundamentum patriae, patres sapientum.

Ruralis conditio merito laudatur: nam sancta rusticitas iure veneratur: pater primus omnium sic conservabatur, Sic manifestatur quod in hiis mundus solidatur.

Aber wie treiben es nun die Bauern?

Sex dies agricola finit in labore,

panem suum comedit sedens in sudore,

bona sua subtrahunt, nati cum uxore, improbat in ore sibi coniux mota calore.

! Th. Wright a. a. D. 229-236.

422 Fünfzehntes Kapitel.

Et dies dominicus datus requiei ad gulam tribuitur, rubor faciei denotat facillime reos huius rei;

sie praecepta Dei deludunt ut Pharisaei.

Und erft die Bettler!

Pauperes in spiritu dieuntur beati;

verum nostri pauperes nimis sunt elati,

iuxta leges saeculi vix cedunt ingrati; si sunt pulsati, plangant quasi mortificati.

Pauper mavult hodie terram circnire, quam mercedem cupiens gregem custodire; non est elimosina tali subvenire,

non vult servire, malit namque fame perire.

Das weltlihe Hof: und Privatleben aber, welches bereits John von Salisbury in feinem „Polykratikus“ treffend gegeikelt hatte, erhielt gegen Ende des 12, Jahrhunderts einen neuen, wißigen Cenſor an Bernard von Get, jo genannt nad dem Dorfe bei Münfter in Weftfalen, jpäter Stifts- herr zu St Mauritius in diefer Stadt. In leoniniihen Verſen gibt jein Palponista (Betrüger) ſatiriſche Anweiſung, wie ein Streber bei Hofe ji) zu höherer Stellung und Einfluß emporſchwindeln fann!.

Lebhaft in die jpäteren goliardiihen Kreiſe verjegt uns die Parallele, welche der Ehronift Salimbene (zum Jahre 1247) zwiſchen den franzöftichen und den italienischen Weinen, zwijchen den Weißweinen und Rotmweinen zieht. Er teilt dabei einen franzöfiihen Sprud mit, demzufolge ein guter Wein drei t und fieben f haben muß:

El vin bon et bel sel dance Forte et fer et fin et france, Freits et fras et fromijant.

Daran fügt er ein goliardiiches MWeinlied des Magifter Morandus, der zu Padua Grammatik lehrte:

Vinum dulce gloriosum Pingue facit et carnosum, Atque pectus aperit.

Et maturum gustu plenum, Valde nobis est amoenum, Quia sensus acuit.

i Palponista, Dyalogus metricus magistri Berhardi palponiste de variis mundi statibus optime tractans, Coloniae A. D. post iubilaeum proximum (1501). Kurze Analyſe bei France, Zur Gedichte der lateiniſchen Schulpoeſie des 12. und 13. Jahrhunderts 75—80.

Sechzehntes Kapitel. Die geiftlihen Schaufpiele. 423

Vinum forte, vinum parum Reddit hominem securum Et depellit frigora.

Sed acerbum linguas mordet, Intestina cuncta sordet, Corrumpendo corpora....

Vinum rubeum subtile Non est reputandum vile, Nam colorem generat.

Auro simile eitrinum, Valde fovet intestinum, Et languores suflocat !.

Bereit im 13. Jahrhundert trieben es die Goliarden mit VBerhöhnung jeglicher Autorität, Spott mit allem Heiligen, Unfug aller Art und umfitt- lihem Lebenswandel jo arg, daß nicht nur von den Biſchöfen, jondern au von zahlreichen Konzilien gegen fie eingefchritten werden mußte. infolge der gegen fie erlafjenen Maßregeln verſchwanden fie in Frankreich jo ziemlich gegen das Ende diejes Jahrhunderts. In Deutſchland trieben fie ihr Un— meien bis ins 15. Jahrhundert weiter fort, jo daß fi noch zahlreiche Synoden genötigt fahen, gegen ſie aufzutreten. Der Literatur haben fie, troß ihrer Ausichreitungen, manchen nicht unerheblichen Dienst geleiftet. Sie haben die Poefie, welche in den ftrengen Schulformen ganz zu verfnödern drohte, wieder etwas in frischen, lebendigen Fluß gebracht, Luft an einfacher, natürlicher Lyrik geweckt, durch Pflege der äußeren Technik, leichte und ge: fällige Rhythmen, Anwendung des Reims, mannigfaltigen Strophenbau, jangbare Melodien, Verwendung der Tenzonen und anderer formen bor: teilhaft auf die Entwidlung der neueren nationalen Literatur eingewirkt. Selbit die kirchliche Hymnik ift von dem feinen Formgefühl nit unberührt geblieben, da8 manche diefer leichtſinnigen Poeten beſaßen. Mehr als einer bon ihnen jcheint, nad wild durdhtobter Jugend, wieder zur Beſinnung gefommen zu jein und gleich Abälard jein Talent mwürdigeren Zielen ge: widmet zu haben.

Schzehntes Kapitel. Die geiflliden 5chauſpiele.

Das antife Theater, das in der Zeit des Aeſchylus und Sophofles die höchſte Blüte Hellenifcher Bildung zum Ausdrud bradte, war in der römischen

' Fratris Salimbene de Adam Chronica. Monumenta historica ad pro- vincias Parmensem et Placentinam partinentia, Parmae 1857, 91 9.

424 Sechzehntes Kapitel,

Kaiferzeit zu einem ſolchen Pfuhl der ſchmachvollſten Unfittlichkeit herab— geiunten, dab von Tertullian an die Kriftliden Lehrer und Kirchendäter dasjelbe einftimmig aufs firengfte verurteilten und in den abſchreckendſten Mahnrufen davor warnten. Theater und Bergötterung der Unzucht waren gleichbedeutend geworden. Qui iocari voluerit cum diabolo, non poterit gaudere cum Christo „Wer mit dem Teufel ſcherzen will, der kann ſich nicht mit Chriftus freuen.“ Dieſes Wort des Hl. Petrus Chmfjologus von Ravenna (406—450) drüdt in kürzeſter Faſſung die Stellung der drift- lichen Kirche in ihren erften Jahrhunderten zum Theater aus. Diejes wohl— verdiente allgemeine Anathem hat aud in den nächſten Jahrhunderten mweiter- gewirkt und es unmöglid gemadt, dab fih, im Anſchluß an die Formen der alten Tragödie und Komödie, eine Hriftlihe Dramatik heranbilden konnte. Es verlor fih jogar allmählich die Vorfiellung des alten Theaters und wid der Meinung, ein einziger Rezitator hätte die Stüde, die fih handſchrift— lich erhalten hatten, vorgetragen. Selbſt Hrosmwitha dachte nicht an eine Aufführung ihrer Stüde; fie wollte nur der Leſung des Terenz ent— gegentreten.

So ift das lateinische Theater duch Jahrhunderte der ausſchließliche Anteil der verfallenden heidniſchen Gejellihaft geblieben und ſchließlich mit diejer audgeftorben. Nahezu ein Jahrtaufend hat die aufblühende chriftliche Welt ohne Theater gelebt. Einem modernen Theaterſchwärmer mag dies ganz ungeheuerlih erjcheinen; aber es ift jo. Die eigentlihe Kultur hat darunter nicht gelitten; an menjchenmwürdiger Erholung und Freude hat es auch in dieſer theaterlojen Zeit nicht gefehlt. Aus dem Leben der chrift- liden Völler aber ift jpäter eine dramatiſche Poeſie herausgewachſen, welche fih kühn der antiten an die Seite ftellen konnte und fie an Reichtum weit überflügelt.

An einen Erfah für das Theater Haben übrigens weder die Chriften der Katakomben noch die großen Lehrer der Väterzeit noch die Apoftel der germaniſchen Völker no die Mönche und Ritter des Mittelalters gedadht, aus dem einfachen Grund, weil fie den Mangel desjelben gar nicht emp— fanden. Sie hatten Wichtigeres zu tun, als fih zur Abſpannung von Volksverſammlungen, Kriegen und alltäglihen Gejhäften in ein Theater zu jegen, um ſich flundenlang an den Schauergefhichten mythiſcher Götter und Helden zu ergößen.

Für den Hellenen, dem feine Religion weder für Geift noch für Herz völlige Befriedigung bieten konnte, mochten jene Beripetien und Chorgejänge, in welchen die höhere Macht des Göttlihen zu dunklem, wenn auch erhabenem Ausdrud kam, erziehlih und veredelnd wirken, ihm einen geiftigen Genuß verihaffen, der über feine Religion hinauslag. Yür den Chriften mußte der Reiz der jhönften Mythen verblaffen, da ihm die Offenbarung nit nur

Die geifilihen Schaufpiele. 425

die erhabenfte Poeſie, die tieffte Philoſophie, jondern auch den innigften Troft, die mädhtigfte fittlihe Kraft, eine wirkliche Vereinigung mit Gott bot. Vor den großen Tatſachen der Erlöfung, vor dem Opfertode des Gottes- fohnes auf Golgatha, vor feiner glorreihen Auferftehung, vor der Verwirk— lichung jeines Gottesreiches auf Erden mußten die tieffinnigfien Erfindungen antifer Poefie in den Schatten treten. Was fie dunkel und rätjelhaft ahnend von den höchſten Problemen des Menſchendaſeins andeuteten, ward durd) Chriſti Perfon und Lehre wunderbar aufgehellt. Sein Leiden und Sterben, ſchon vorgebildet dur die Typen und Weisfagungen des Alten Bundes und fortwirkend in der Entwidlung des Neuen Bundes, in den Gejdiden der Einzelnen wie der Kirche, war unendlich ergreifender und tragijdher als die Sagen von Dedipus und Prometheus. Die Ratihlüffe ewiger Weisheit und Liebe, welche das antife erbarmungslofe Schidjal verdrängten, ließen den Kampf zwiſchen Gut und Böſe, Freiheit und Notwendigkeit, göttlichen und menſchlichen Intereffen, Sünde, Schuld, Leiden, Tod und Ewigkeit in einem neuen, wunderbaren Lichte ericheinen,

Schon die Predigt der evangeliichen Lehre wog weit die Weisheit eines Plato und Xriftoteles, die Poefie eines Neihylus und Sophofles auf. Was fie verfündete, war aber fein bloßer Hiftorifcher Bericht, feine bloße philo- jophiiche Lehre, durch die Myſterien des ChHriftentums lebte Chriftus felbft in jeiner Kirche und der einzelnen Menjchenjeele fort, pulfierte göttliches Leben dur die ganze Menſchheit. Durch die jieben Sakramente erneuerten fih täglich die Erweiſe der Gnade, die Chriſtus in feinem fterblichen Leben gewirkt, durch das Dpfer des Neuen Bundes erneuerte fi) täglich das Opfer, das er einft am Kreuze dargebracht. Dieſes Opfer ward zum Mittelpunkt eines liturgiſchen Gottesdienftes, der in jeinen Gebeten, Gejängen, Leſungen und fomboliichen Zeremonien die Ihönften Erinnerungen des Alten Bundes mit dem Leben des Neuen, das Andenken Chrifti mit dem feiner Heiligen verband und die Jahreszeiten der Natur zum religiöjen Feſtjahr verflärte,

Die Opferfeier jelbft Hatte dramatiihen Charakter, indem fie jih an höheren Feſten an den Priefter, die Altardiener, die Sänger und das Bolt verteilte. Die kirchliche Architektur, Skulptur und Malerei, Poeſie und Mufit, der würdevollſte Schmud, die ſchönſte ſymboliſche Gewandung, der Glanz der Kerzen und der Duft des Weihrauds wirkten zujammen, den erhabenften Alt der Religion auch für den finnlihen Menſchen mit dem Zauber eines feſſelnden Schauſpiels zu umgeben, das um jo tiefer wirkte, als jein innerer Wert von dem äußeren Gepränge völlig unabhängig war, alles Außere nur dazu diente, die Seele zu Gott emporzuheben und mit ihm zu vereinigen.

Die Mannigfaltigkeit der Feſte gab der Liturgie nah und nad die reichſte Verſchiedenheit und verkörperte fih nicht nur in den feierlichiten

426 Sechzehntes Kapitel.

Hymnen und Chorgefängen, jondern auch in dialogischen Formen, welche ein eigentlih dramatijches Gepräge hatten. In Bezug auf diefe hielt die Kirche indes ftrenge Schranten inne, um die Würde des Gottesdienftes zu wahren. Sie bilden aber gerade die Wurzel, aus welcher erft die Oſter— und Weihnachtsſpiele, jpäter das geiftlihe und meltlihe Schaufpiel der neueren Völker hervorgewachſen find 1,

Anſütze der Oſterſpiele laſſen fih bis ins 10. Jahrhundert zurüd- verfolgen. Eine St Galler Handſchrift aus diejer Zeit enthält einen Tropus, der die Begegnung der Frauen mit dem Engel am Grabe allerdings nur in bier Verſen bialogifiert:

Quem quaeritis in sepulchro, o Christicolae ? lesum Nazarenum crucifixum, o Coelicolae. Non est hie, surrexit, sicut praedixerat.

Ite, nuntiate, quia surrexit de sepulchro!?

Die erften drei Verje finden fih vom 10. Jahrhundert an in den liturgiſchen Büchern aller europäifhen Nationen wieder. Aus einer Gottes— dienftordnung für englifche Klöſter (von 967) erhellt, daß diefelben wirklich zu einer dramatiihen Ofterfeier dienten®. Das Kreuz wurde am Starfreitag in ein Tuch gehüllt und in feierliher Prozejfion zu einem Ort neben dem Altar gebradt. Hier blieb e& bis zur Nacht vor Oſtern. Nad der Matutin erichien ein Slerifer, mit der Albe angetan, einen Palmzweig in den Händen,

! Das Theater im Mittelalter und das Paffionsſpiel in Oberammergau (Hiftor.- polit. Blätter VI, Münden 1840, 1—37). 5.3. Mone, Schaufpiele des Mittels alter I, Karlsruhe 1846. 9. Alt, Theater und Kirche in ihrem gegenfeitigen Verhältnifje, Berlin 1846. -— €. Devrient, Geſchichte der beutihen Schaufpiel« funft I, Leipzig 1848, 10—74. Pichler, Über das Drama des Mittelalters in Zirol, Innsbrud 1850. R. Hase, Das geiftlihe Schauspiel. Geſchichtliche Uber— fiht, Leipzig 1858. E. de Coussemaker, Drames liturgiques au moyen-äge, Paris 1861. 9. Reidt, Das geiftlihe Schaufpiel des Mittelalters in Deutjch- land, Frankfurt a. M. 1868. A. Reville, Le drame religieux du moyen-Age jusqu’a nos jours (Revue des Deux Mondes LXXVI, Paris 1868, 84—119). E. Willen, Geihichte ber geiftlihen Spiele in Deutfchland, Göttingen 1872. Gallenberg, Das geiftlihe Schaufpiel des Mittelalters in Frankreich, Mühl- haufen i. Th. 1875. ©. Mildjad, Die Dfter- und Paffionsjpiele I, Wolfen: büttel 1880. L. Gautier, Histoire de la po6sie liturgique au moyen-äge. Les Tropes I, Paris 1886. ®. Ereizenad, Geſchichte des neueren Dramas 1, Halle a. S. 1898. R. Heinzel, Beſchreibung des geiftlihen Schaufpiels im deutſchen Mittelalter. Verzeichnis der erhaltenen Spiele bei K. Göbefe, Grundriß ber Geſchichte der deutjchen Dichtung I?, Dresden 1884, 200-202. W. Bäumer, Art. „Theater“, in Wetzer und Weltes Kirchenleriton XI*, Freiburg 1899, 1457 1473.

2 L. Gautier a. a. O. I 221.

sW. Creizenach a. a. O. J 48 ff.

Die geiftlihen Schaufpiele. 427

und febte fi) an dem leeren Grabe nieder. Dann kamen drei andere Kleriler in Chormänteln, mit Weihrauchfäflern, langjam berangejchritten, als ob fie etwas ſuchten. Sobald fie der Engel nahen jah, begann er den Wechſel— gejang: Quem quaeritis? Die drei antworteten: Iesum Nazarenum. Auf das Non est hie mwendeten fie fi zum Chor und fangen: Alleluia. Surrexit Dominus, Der Engel fang darauf: Venite et videte locum, ubi positus erat Dominus, bob die Dede auf, mit welcher das Grab bededt war und zeigte das darin befindliche Leinentuch. Die drei Kleriker breiteten dasfelbe dann vor dem Volke aus, indem fie fangen: Surrexit Dominus de sepulchro, worauf der Prior am Altar das Tedeum anftimmte.

Ein franzöfiihes Graboffizium aus Rouen! ftimmt Hiermit nahezu mwörtli überein, nur erſcheint hier ftatt des Klerikers, der den Engel darftellt, ein Knabe, und fügt der Schlußmahnung die Worte hinzu: Et euntes dieite discipulis eius et Petro, quia surrexit. Daran reiht fih dann eine weitere Scene.

Statt des Knaben laffen fi zwei Priefter in Alben an dem Grabe nieder, während drei andere von außen dem Grabe nahen. Der mittlere ftellt Magdalena dar. Die zwei Engel fingen:

Mulier, quid ploras? Magdalena antwortet: '

Quia tulerunt Dominum meum, et nescio ubi posuerunt eum.

Die zwei Engel erwidern:

(Quem quaeritis viventem cum mortuis, non est hic, sed surrexit; re- cordamini, qualiter locutus est vobis, dum adhuc in Galilaea esset vobis dicens: quia oportet fillum hominis pati et crucifigi et tertia die resurgere.

Die drei Marien füffen nun den Boden und jchiden fih an, das Grab zu verlaffen; da tritt ihnen von der linken Seite des Altars her ein Priefter in Albe, mit Stole entgegen, der ein Kruzifix trägt und fingt: Mulier, quid ploras? quem quaeris?

Die mittlere der Frauen antwortet:

Domine, si tu sustulisti eum, dieito mihi, et ego eum tollam. Der Priefter zeigt ihre das Kreuz und fingt:

Maria.

Sie fällt ihm raſch zu Füßen und fingt:

Rabboni.

! Offieiam Sepulchri (Migne, Patr. lat. CXLVII 139—142).

428 Schzehntes Kapitel.

Der Priefter winkt ihr und fingt:

Noli me tangere, nondum enim ascendi ad Patrem meum; vade autem ad fratres meos, et die iis: Ascendo ad patrem meum et patrem vestrum, Deum meum et Deum vestrum.

Darauf begibt er fih auf die rechte Seite des Altar und jingt, während die drei vor dem Altar vorübergeben:

Avete, nolite timere, ite, nuntiate fratribus meis, ut eant in Galilaeam; ibi me videbunt.

Jetzt tritt er zurüd, Die drei Frauen verneigen fi dor dem Altar und wenden fi dann zum Chor, mit voller Stimme:

Alleluia. Resurrexit Dominus, surrexit Leo fortis, Christus Filius Dei.

Sodann fimmt der Erzbiichof oder an jeiner Stelle einer der Priefter dad Tedeum an.

Ein Bamberger Troparium jchidt dem Geipräde der Frauen am Grabe den Saß voraus: Et dicebant ad invicem: quis revolvet nobis lapidem ab ostio monumenti? Am Schluß aber fingen die Frauen: „Seufzend ind wir zu dem Grabe gefommen, wir haben den Engel des Herrn dort fisen jehen, der jagte: Jeſus ift erftanden!“

In andern Bearbeitungen ift auch der Wettlauf der Apoftel Petrus und Johannes zum Grabe eingefügt; wieder in andern iſt mehr Chriſtus jelbft hervorgehoben, der als Befieger von Tod und Hölle in glänzenden Prachtgewanden erjcheint, die Kreuzesfahne in feiner Rechten. Im 15. Jahr: hundert wurde aud der Gang nah Emmaus in eigener Darftellung am Oftermontag vorgeführt. In das eigentliche Ofterjpiel aber führte der Volks— humor um dieje Zeit ſchon den Salbenträmer ein, bei welchem die frommen rauen ihre Spezereien faufen: eine Perfon, die bald mehr und mehr ins Komiſche gezogen, die würdevolle Haltung des Ganzen verdarb.

Ähnliche liturgiſche Scenen wie für Oftern kamen für Weihnachten auf. Eine Orforder Handſchrift des 11. Jahrhunderts verlegt eine ſolche vor den Anfang der dritten Meſſe. Zwei Diakonen in Dalmatiken fingen hinter dem Altar: „Wen ſuchet ihr in der Srippe, Hirten, jaget an?“ Zwei Sänger im Chor antworten: „Den Heiland, Chriftum den Herrn, als Kindlein, in Windeln gewidelt, nad den Worten des Engels.“ Darauf fingen die Diafonen: „Hier ift das Kindlein mit Maria, feiner Mutter, von der Iſaias der Prophet weisjagte: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und gebären. Und verkündet und faget es, daß er geboren if.“ Nun fingt der Kantor mit hoher Stimme: „Alleluja! Alleluja! Nun wifjen wir, daß Chriftus geboren ift auf Erden; von ihm finget alle: Ein Knabe ift uns geboren uſw.“ Daran jchließt fih unmittelbar der In— troitus der Meile.

Die geiftlihen Schaufpiele. 429

Rouen hatte im 13. Jahrhundert ein bereit$ ausgebildetes Krippen: ipiel. Hinter dem Altare wurde eine Krippe aufgeftellt nebft einer Statue der feligften Jungfrau. Vor dem Chor auf einer Erhöhung verkündete ein Knabe, al3 Engel, die Geburt ChHrifti. Darauf zogen fünf Kleriter als Hirten durch die große Türe des Chores ein, während vom Gewölbe her Kinderftimmen das Gloria fangen. An der Krippe wurden die Hirten von zwei Klerikern in Dalmatiten begrüßt, welche ihnen das Kindlein zeigten. Darauf erfolgte die bereits erwähnte Frage nebſt Antwort, worauf die Hirten fi entfernten und die Meſſe begann.

Ungemein lieblih und anmutig find aud die Scenen, mit welden man zu Rouen an Epiphanie den Hauptgottesdienft eröffnete!. Nach der Terz erichienen drei höhere Kleriker in Rauchmänteln und mit Kronen ge: ſchmückt als heilige drei Könige, der mittlere trug an einem Stabe den Stern. Ihnen folgten niedere Kleriker als Geleit. Noch hinter dem Altar beginnen fie zu fingen:

1. König. Der Stern flammt in herrlihem Glanz.

2. König. Er bedeutet, daß der König der Könige geboren. 3. König. Deſſen Ankunft bie Propheten verfünbdigten.

Bor dem Altar angelangt, umarmen und küſſen fi die Könige und fingen:

Darum ziehen wir aus und fuchen wir ihn auf, und bringen wir ihm Gaben, Gold, Weihraud, Myrrhen.

Mährend die Prozejfion dann in das Schiff der Kirche hinunterzieht, wird am Sreuzaltar ein Lichterfranz in me eines Sterne angezündet, und die Könige fingen:

Siehe! der Stern, den wir im Orient gejehen, zieht wieder leuchtend vor uns ber. Ya, dieſer Stern zeigt und den Neugeborenen, von dem Balaam fang: Aufgeht ein Stern aus Jalob und ein Dann aus Israel, und er wird zerichmettern alle Führer der fremden Völker, und die ganze Erde wird ihm zu eigen fein.

Darauf folgt die Anbetung des Kindes, die Darbringung der Gaben und die Rückkehr der drei Könige, alles in gedrängten, mweihevollen Morten. Dann hebt die Meſſe an.

Nahdem auch das Feſt der Unjchuldigen Kinder eine ähnliche liturgiſch— dramatiſche Feier erhalten, lag es nahe, die fämtlihen Weihnachtsgeheimnifie in einer Darftellung zujammenzufaffen. Ebenſo wurden die kurzen Ofter: jpiele erweitert, indem man auch die Gegenſätze, Judas, Pilatus, die Juden, die Soldaten hineinzog. Dies geſchah bereits im 11. Jahrhundert. Da fh die Vorftellungen aber dadurch zu fehr in die Länge zogen, jo wurden

' Officium stellae seu trium regum (Migne, Patr. lat. CXLVII 135—140),

430 Sechzehntes Kapitel.

fie als eigentlihe Spiele (Judus) vom Gottesdienft (officium) abgelöft und für ſich nachmittags nad der Veiper gehalten.

Wie bunt fih diefe Stüde nun geftalteten, zeigen ein MWeihnachtsfpiel und ein Ofterjpiel aus dem 13. Jahrhundert, welche unter den Carmina Burana in dem berühmten Goder von Benediftbeuren erhalten find!,

Bor der Kirche ift ein Thron aufgeichlagen, auf welchem der hl. Auguftinus gt, rechts don ihm Iſaias, Daniel und andere Propheten, links der Spnagogenvorfteher und andere Juden. Zuerſt treten die Propheten auf und verkünden ihre Weisfagungen: Iſaias, Daniel, die Sibylle, Aaron mit dem blühenden Stab, Balaam auf feinem Eſel. Die Juden wider: ſprechen. Es erhebt fih ein großer Tumult und Disput. Der „Bilchof der Knaben“ vermweilt die Streitenden an Auguftinus; an diefen wenden ih die Propheten, deſſen Entſcheid aber der Archiſynagogus unter lauten Gelächter abweift. Auguftinus ſucht ihm ruhig zu belehren, aber vergeblich. Die jungfräulice Geburt ift den Juden Res neganda, dem hl. Auguftinus Res miranda. In kurzen Wechjelverfen zeichnen die Propheten und Auguftinus die Herrlichkeit des kommenden Meſſias, und Auguftinus kündigt feierlich jeine Ankunft an.

Zwei ganz kurze Scenen führen die Verkündigung und den Beſuch Mariä bei Elifabeth vor. Dann wird die Geburt CHrifti verfündigt, der Stern erjcheint, und im längerer Darftellung folgt das Geheimnis der - Epiphanie, die Anbetung der Hirten, der Kindermord in Bethlehem, die Flucht nad Agypten und der Triumph des Chriftfindes über die heid— niſchen Götter, deren Bilder bei jeiner Ankunft zufammenftürzen. Durch Herodes, die Juden, den Teufel und den Antihrift kommt lebhafter Gegenjag in die legteren Scenen. Heidentum, Synagoge und Kirde er: ſcheinen in der Schluffcene als allegoriiche Perfonen, wie in den Autos des Galderon.

Vor der Ankunft der heiligen Familie in Agypten tritt der König von Ägypten mit großem Gefolge auf und hält eine Heidnijche Yrühlings- feier. Der Chor fingt:

Ab aestatis foribus Omnium prineipium amor nos salutat. dies est vernalis, Humus pieta floribus vere mundus celebrat faciem commutat. diem sui natalis. Flores amoriferi Omnes huius temporis iam arrident tempori, dies festi Veneris, perit absque Venere Regna Iovis omnia flos aetatis tenerae. haec agant sollemnia.

! Carmina Burana. Lateinifche und deutjche Lieder und Gedichte einer Hand- ihrift des 16. Jahrhunderts aus Benediftbeuren, Stuttgart 1848 (Bibliothek des Literarifhen Vereind XVI 80—107).

Die geiftlihen Schaufpiele. " 431

Bereint mit dem Chor fingt dann das königliche Gefolge:

Ad fontem philosophiae sitientes currite,

et saporis tripartiti septem rivos bibite,

uno fonte procedentes, non eodem tramite,

quem Pythagoras rimatus excitavit physicae,

inde Socrates et Plato

Während die Heilige Familie

honestarunt ethicae, Aristoteles loquaei desponsavit logicae.

Ab his sectae multiformes Athenis materiam

nactae hoc liquore totam irrigarunt Graeciam,

qui redundans infinite fluxit in Hesperiam,

auftritt, ftürzen die Götterbilder von ihren

Thronen. Die Ngypter ftellen fie aber wieder auf, zünden ihnen Weihraud;-

opfer an und fingen:

Hoc est numen salutare, euius fundat ad altare preces omnis populus. Huius nutu reflorescit,

si quandoque conmarcescit manus, pes vel oculus.

Honor Iovi cum Neptuno! Pallas, Venus, Vesta, Iuno mirae sunt clementiae,

Mars, Apollo, Pluto, Phoebus dant salutem laesis rebus insitae potentiae !.

Der Schluß des Ganzen ift aus einem älteren „Spiel vom Antichrift“ herübergenommen, das ſich überall, bis in den ſtandinaviſchen Norden, ber: breitete. Wird aud in dem Stüd das ernitsreligiöje Element ſchon etwas durch das weltliche, halb-komiſche zurüdgedrängt und ift auch in der ägyptiſchen ‚rühlingsfeier der Geift und Ton der Goliardendihtung leicht erkennbar, jo läßt fi) gegen das Ganze doh kaum ein ernftes Bedenken erheben.

Wieviel gemütlihen Humor das Mittelalter in religiöfen Dingen er: tragen fonnte, beweijen nicht nur die fomifchen Bildwerfe, mit welchen jo viele mittelalterliche Kathedralen geihmüdt find, fondern mehr noch, daß an dem allerding3 nur auf Frankreich beſchränkten „Narren“- oder „Eſels“- Feſt am Neujahrätage der „Herr des Feſtes“, der Praecentor stultorum, den feierlichen Feſtgottesdienſt (Veſper und Hochmeffe) abhalten durfte. Aus dem Gottesdienft jelbft war allerdings alles Profane und Unwürdige ber: bannt. Der Humor befchräntte fid) auf das Lied (die Proja), welde vor Beginn der Veſper mehrftimmig gejungen wurde, während man bon der Kirhtüre zum Chore zog. Das harmlofe Lied lautet:

Goldbeladen fam ah

Fernher aus Arabia,

Fern aus Saba hat beidafft

Gold und Weihrauch Ejelstraft. He, Herr Ejel, be!

Aus dem Dlorgenlande kam

Uns ein Ejel lobejam,

Eſel Ihön und tapfer ehr,

Keine Laft iſt ihm zu ſchwer. Se, Herr Eiel, hei

——

! Carmina Burana (ebd. XVI 91—93).

432 Schzehntes Kapitel.

Ruben zog auf Sihems Höhn Während er im Karren feucht

Auf dem Eifel ſtark und fchön, Und gar ſchwere Laften zeucht,

Durch des Jordans Bette tief, Mahlt jein ftarkes Badenbein

Er gen Bethlem hurtig Lief. Hartes Futter furz und Hein. He, Herr Eſel, be! He, Herr Eifel, he!

Alſo zierlic tanzt einher Gerftenftroh mit Adeln dran,

Nehlein, Zidlein nimmermehr, Difteln er verfnaufen fann,

Alfo hurtig traben kann Auf der Tenne mit Bedacht

Kein Kamel aus Madian, Drift von früh er bis zur Nacht. Se, Herr Ejel, he! He, Herr Ejel, be!

Amen ſpricht nun Efelein, MWirft wohl fatt vom Eſſen fein, Amen, Amen, früh und jpät, Alles Alte fei verſchmäht.

He, Herr Ejel, hei!

Die Grenzen zwijchen harmlojem und unzuläffigm Humor find indes nicht jo leicht zu ziehen. Das Urteil einzelner Individuen wie ganzer Völker und Zeiten geht darüber vielfach auseinander. Gewiß ift, daß nirgends jo leicht wie auf diefem Gebiete ſich Übermaß, Unfug, Mißbrauch einſchleichen fann. So ift e& nicht befremblih, daß ſich ſchon bald nad dem Auf- fommen der geiftlihen Spiele, vom 12. Jahrhundert an, nahdrüdliche Stimmen dawider erhoben. Gerhoh von Reichersberg verpönt fie geradezu als Zeufelserfindungen und Entweihung des Gotteshaufes?. Herrad von Landsperg urteilt, fie wären zwar in ihren Anfängen löblih und nützlich

ı lberjeßt von 6. M. Dreves, Zur Geſchichte der füte des fous (Stimmen aus Maria-Laach XLVII [1894] 571—587; daſelbſt reichhaltige Literaturangaben).

? (Juantum ad muros, magna erat ecclesia, sed nulla seu parva erat in ea disciplina ecclesiastica. Cohaerebat ipsi ecclesise (in Augsburg) claustrum satis honestum, sed a claustrali religione omnino vacuum, cum neque in dormi- torio fratres dormirent, neque in refectorio comederent, exceptis rarissimis festis, maxime in quibus Herodem repraesentarent, Christi persecutorem, parvulorum interfectorem, seu Iudis aliis aut spectaculis quasi theatralibus comportaretur symbolum ad faciendum convivium in refectorio aliis pene omnibus temporibus vacuo. Cogor hic reminisci propriae stultitiae in amaritudine animae meae dolens et paenitens, quod non semel talibus insaniis non solum interfui, sed etiam praefui utpote magister scholarum et doctor iuvenum, quibus ad istas vanitates non solummodo fraenum laxavi, sed etiam stimulum addidi pro affectu stultitiae, quo tam infeetus eram et in quo supra multos coaetaneos meos pro- feceram (Gerhohi praepositi Reicherspergensis Commentarius in Psalm. opera et studio B. Pez, Aug. Vindel. 1728, 2040). gl. Gerhohi De investigatione Antichristi lib. 1, n. 5. De spectaculis theatricis in ecclesia Dei exhibitis (Monum. Germ. Hist. Libelli de lite 1II, Hannov. 1897, 315 316). I. Bad, Propft Gerhod von Neichersberg, ein bayrifher Scholaftiter, über die Schulfefte in Augsburg im 12. Jahrhundert (bei Kehrbach, Mitteilungen der Gejelljhaft für beutfche Erziehungs und Schulgeſchichte VII, Berlin 1897, 15).

Die geiftlihen Schaufpiele. 433

geweien, feien aber jpäter ins lUngeziemende und Unwürdige ausgeartet. Gegen Mißbräuche bei dem Efelöfeft in Sens ſchritt 1199 der Erzbiſchof Eudes de Sully von Paris ein. Gegen ähnliche Mikftände ift ein Decretale Innocenz' ID. von 1210 gerichtet. Eine Synode von Trier (1226) ſprach fih gegen das Abhalten von. Schaufpielen in den Kirchen aus, ebenjo die Utrechter Synode von 1293. Aud in Spanien, England und Frankreich traten Verbote ein. Die geiftlihen Schaufpiele wurden aus den Kirchen auf die Öffentlichen Plätze verdrängt, wo fie ſich mit geringerer Gefahr der Profanation freier entfalten fonnten. Damit ward aud die Abfafjung der— jelben in lateinifher Sprache überflüjfig; fie wurden fürder in den jeweiligen Landesſprachen gedichtet.

Einen Übergang bezeichnet bereits das Ofterfpiel von Benediktbeuren, das mehrere deutihe Stellen aufweift, und zwar gerade da, wo der Stoff etwas weiter ausgeführt if. Denn der größte Zeil des Spieles ift völlig ſtizzenhaft.

Zuerſt treten Pilatus und ſeine Frau auf und gehen an ihre Plätze, ebenſo Herodes mit ſeinen Soldaten, die Hohenprieſter, der Krämer und ſeine Frau und Maria Magdalena. Nur in einigen wenigen bibliſchen Worten wird dann die Be—

rufung des Petrus und Andreas vorgeführt, die Heilung des Blindgeborenen, die Berufung des Zachäus, der Einzug in Jeruſalem.

Jetzt erſt folgt eine etwas mehr entwickelte Scene. Der Phariſäer ladet Jeſus zu Gaf. Während das Mahl bereitet wird, begibt fih Magdalena mit den Mädchen zum Krämer, der ihnen feine Schminke anpreift. Darauf fingt Magdalena auf deutſch eine Liebesarie, die einen Liebhaber herbeilodt. Dann kauft fie die Schminke und legt fi zum Schlummer nieder. Zweimal erj&heint ihre im Traume ein Engel und ruft fie zum Erlöſer. Das erfte Mal antwortet fie mit einigen Verſen voll Weltluft, das zweite Mal faht fie Reue über ihre Sünden; fie legt ihren Put ab und vertaufcht ihm mit Bupkleidern. Während der Liebhaber und der Teufel abtreten, Tauft fie bei dem Krämer eine köſtliche Salbe und geht zu Jeſus. Erſt in einer lateiniihen, dann in zwei deutfhen Strophen beweint fie ihre Schuld und fleht um Verzeihung. Der Phariſäer murrt. Jeſus belehrt ihn durch Die Parabel von den zwei Schuldnern und vergibt dann Magdalena ihre Sünden. Sie aber beweint nochmals jchmerzlih ihr Sündenleben.

Alles folgende ift wieder nur jfigziert: ber Tod unb die Erwedung bes Lazarus, der Verrat des Judas, das Gebet im Ölgarten, die Gefangennehfmung, die Ber: leugnung bes hi. Petrus, die Ratfihung über Chriftus, feine Verurteilung durch

Kaiphas, Herodes, Pilatus, die Verzweiflung des Judas, bie Kreuztragung und Freuzigung.

Erſt Hier ift wieder eine größere lyriſche Stelle eingeflodhten, die Marien:

Hage, zunächſt in vier deutſchen Strophen, dann in einigen lateinifchen Verſen. Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl, 28

434 Sechzehntes Kapitel.

Wieder ganz abgerifien folgen die Worte am Kreuz, der Tob Ehrifti und der Lanzenftih. Im einer deutſchen Strophe bittet dann Joſeph von Arimathäa um bie Erlaubnis, ben Herrn zu beftatten, welche ihm Pilatus, ebenfalls in einer deutſchen Strophe, gewährt.

Schlichter und einfacher hätte da3 moderne Drama faum beginnen fönnen; indes gilt von dieſen feimartigen Anfängen doch Hurters Wort: „So hat die Kirche auch Hierin etwas angeregt, was in jeiner erftaunlichen Entfaltung, nachdem es von derjelben fi) abgelöft hatte und häufig mehr als in einer Beziehung ihr und ihren Beftrebungen an den Menſchen gegen: über getreten if, unendlich viele Kräfte in Bewegung jebte, die erhabenften Geifter befruchtete und zum umentbehrlihen Bedürfniffe für Taufende ge: worden iſt.“ 1

Poetiſch weit bedeutender als die fih unmittelbar an die Weihnadts- und Oftergeheimniffe anjchließenden Spiele ift das bereits erwähnte, aus dem 12. Jahrhundert ftammende „Dfterfpiel von der Ankunft und dem Untergang des Antihrift”, das Hauptfählih dur eine Hand: ichrift des Kloſters Tegernjee weiter befannt geworden ift?. Es bringt in wahrhaft großartiger Weije die damalige religiös:politiihe Auffaffung des römiſchen Kaiſertums und des Kreuzzuges zur Darftellung.

Der Schauplak ift Jerufalem; gen Often liegt der wiederhergeftellte Tempel. Bor ihm fteht der Thron des Königs von Jerufalem und der Synagoge. Im Welten erhebt fi) der Thron des römischen Kaiſers; neben diefem fißen die Könige der Deutſchen und der Franzoſen. Südwärts fteht der Thron des Königs der Griehen; ganz nad Mittag derjenige des Königs von Babylon und des Heidentums,

Mie in den andern Stüden ift die Bühne anfangs leer. Die handelnden Perſonen erjcheinen in feierlihem Aufzug und nehmen unter Gejang ihre Pläge ein: erft der König von Babylon mit feinem Gefolge, dann bie Synagoge; die Kirche ala hehre Frau gekleidet mit Panzer und Krone, ihr zur Seite ebenfalls in weiblichen Koftüm die Barmherzigkeit mit dem Olkrug und die Gerechtigkeit mit Wage und Schwert; ihr folgen rechts der Papft mit dem Klerus, links der römische Kaiſer mit dem Heer, endlich die andern Könige mit ihren Scharen.

Das Heidentum und der König von Babylon fingen das Lob der Vielgötterei; die Synagoge mit den Juden feiert den Bundesgott Israels mit ſchroffer Wendung gegen Heiden und GChriften; die Kirche verfündet

uF. v. Hurter, Innocenz III. Bd IV, Hamburg 1842, 650.

? Herausgeg. von B. Pez, Thesaur. Anecdot. Il, 2, 185 f; danach bei Migne, Patr, lat. CCXIIT 949—960. Neuausgabe von W. Meyer, Der Ludus de Antichristo und über die lateinifhen Rhythmen (Separatabdrudf aus den Sigungs- berichten der Alabemie ber Wiflenichaften, Münden 1882).

Die geiftlihen Schaufpiele. 435

mit dem Hymnus Alto consilio die Lehre der Menſchwerdung, und die Ihrigen antworten mit der Wechſelſtrophe:

Haec est fides, ex qua vita,

In qua mortis lex sopita,

(Quisquis est qui credit aliter,

Hune damnamus aeternaliter.

Die drei Gejänge werden im Laufe des Stüdes mehrfach wiederholt. Das Ganze iſt überhaupt als Oratorium oder Oper gedaht und aus— geführt, nicht als Tragödie.

Die Handlung jelbft zerfällt in zwei Hauptteile: der erjte entwidelt prophetiih die Weltaufgabe des Kaiſertums, der zweite die Schidjale des Antihrift, jo jedoh, dab in der Charakteriſtik des erſten Teils das Ver— halten der einzelnen Mächte zum Antichrift wohl motiviert ift.

Fußend auf dem Boden der altrömishen Weltherrſchaft fordert der römische Kaiſer die durch Trägheit und Sorglofigfeit verzettelte Macht zurüd und jendet zu diefem Zmede Gejandte an die übrigen Potentaten. Der franzöfiihe König verweigert die Unterwerfung, wird aber jofort befriegt und bejiegt und Huldigt nun als DBajall dem römiſchen Weltmonarden. Die Könige von Griehenland und Jerufalem leiften ohne Widerftand die geforderte Unterwerfung. Wie aber der König von Babylon die ganze Chriftenheit unter einem Haupte vereint fiehl, rüftet er zum Vernichtungs— friege gegen diejelben und belagert zunächſt Yerufalem. Der König von Derufalem ruft die Hilfe des Reiches an. Der Kaijer jammelt ein Heer, führt es zum Kriege, überwindet den König von Babylon im Zweilampfe und zieht in den Tempel ein. Hier ſinkt er zum Gebete auf die Knie, nimmt die Krone vom Haupte und legt Krone, Scepter und Herrſchaft auf dem Altare nieder, indem er fingt:

Suseipe quod offero, nam corde benigno

Tibi Regi Regum imperium resigno,

Per quem reges regnant, qui solus imperator Diei potes et es cunctorum gubernator.

Während der Kaijer nad) diefem wahrhaft föniglihen Gebete auf feinen Thron zurückkehrt, bleibt die Kirche in Jerufalem zurüd und nimmt von dem Tempel Beſitz. Die Chorgejänge am Anfang werden nun wiederholt und leiten zum zweiten Teile über. Der große religiöfe Weltkampf zwiſchen Ghriftentum, Judentum und Heidentum beginnt.

Den neuen Kampf leiten die Heuchler ein, die unter dem Schein der Demut mit vielen VBerbeugungen und Komplimenten allüberall die Gunft der Laien zu gewinnen ſuchen. Zuletzt jchmeicheln fie fich bei der Kirche und dem König von Jerujalem ein, der fie ehrenvoll aufnimmt und ihrem

28*

4536 Sechzehntes Kapitel.

Rate lauft. Jetzt tritt im Panzerkleid der Antichrift auf, die Heuchelei zur Rechten, die Härefie zur Linken. Seine Zeit ift gelommen: er will die Herrschaft diefer Welt an fi reißen und finnt darum, Chriftus aus den Herzen der Menſchen zu verdrängen. Das ſcheint ſchwer, aber Heuchelei und Härefie flellen fih ihm zur Verfügung. Sein Tagesbefehl lautet an die Heuchelei: Tu favorem laicorum exstrue,

an die Härefie:

Tu doctrinam clericorum destrue.

So zieht er gen Jeruſalem. Die Heuchler dafelbft nehmen ihn freudig auf, entkleiden den König von Jerujalem feines Schmudes, rauben ihm, mit entblößten Schwertern, feine Herrſchaft, jegen den Antihrift auf feinen Thron und Huldigen diejem.

Der entthronte König von Jerufalem klagt dem König der Deutihen fein Leid. Solange der Kaiſer Schußherr der Kirche gewejen, blühte dieje in vollen Ehren; feitdem die Zwietradht eingeriffen, ift der Aberglaube ans Ruder gelangt. Inzwiſchen hält der Antichrift feinen feierlihen Einzug in den Tempel. Die Kirche wird unter Schmähungen und Schlägen daraus vertrieben und zieht fih auf den päpftliden Thron zurüd. Der Antihrift aber jendet der Reihe nad die Heuchler als Gejandte an die Könige der Griechen, der Franzoſen und der Deutjchen, um ihre Unterwerfung unter feine Oberhoheit zu fordern. Der Griehe und der Franzofe laffen fih von der trügerijchen Botihaft raſch gefangennehmen, nit jo der wadere, redlihe Deutſche. Er durhihaut die Schliche der Gefandten und meift fie ab. Ergrimmt ruft der Antihrift die übrigen Könige zum vereinten Kampf wider den deutfchen König auf; doch die deutjchen Waffen fiegen. Aber dem Antichrift ftehen noch Mittel zu Gebot, denen weder der redlihe Sinn noch der ftarte Arm des deutfhen Königs gewachſen if. Wieder erjcheinen die Heuchler als Boten vor ihm. Im Namen des Antichrift Heilen fie vor ihm einen Lahmen und einen Ausfäßigen; fie mweden jogar einen ſcheinbar Toten zum Leben auf. Seht wankt auch der deutjhe König in feinem Glauben an Chriſtus. Er hält den Antichrift für einen neuen Gottgejfandten, legt ihm feine Krone zu Füßen und nimmt fie als Lehen von ihm zurüd.

Es find nun bloß noch der König von Babylon mit dem Heidentum, die Synagoge und die Kirche übrig. Der König von Babylon weit die Geſandtſchaft des Antichrift ab, wird aber im Kampfe überwunden und zur Huldigung gezwungen. Die Synagoge dagegen läßt fi raſch betören, zieht dem Antichrift entgegen und begrüßt in ihm den verheißenen Mejfias und Erlöſer. Doch in diefem entjcheidenden Moment erjheinen die zwei Propheten Henoh und Elias, warnen die Synagoge vor dem bverhängnis- vollen Schritt und legen erhabenes Zeugnis für Chriftus ab. Da fällt die

Die geiftlihen Schaufpiele. 437

Binde von den Augen der Synagoge. Sie durchſchaut den Trug des Anti: chriſt und befennt feierlich die heiligfte Dreifaltigkeit. Sie wird mit ben Propheten vor den Antichrift geichleppt, der die Propheten zum Tode führen läßt. Während fie fterben, befehrt fich die Synagoge zu Chriftus, und die Kirche fingt: „Ein Myrrhenbüſchlein ift mir mein Geliebter!“

Siegesftolz prunft num der Antichrift und läßt fih von allen Königen zugleih als Gott der Götter anbeten. Doch feine Herrlichkeit dauert kurz. Unter ungeheurem Dröhnen trifft ihn ein Blitzſchlag. Er finkt tot zufammen. Alle fliehen. Die Kirche fingt: „Siehe den Mann, der Gott nicht zum Helfer nahm! Ich aber bin wie eine blühende Dlive im Haufe des Herrn!“ Alle kehren nun zum Glauben zurüd, und die Kirche fingt: „Singet Preis unferem Gotte!“

„Der Dichter Hat e3 im ausgezeichneter Weiſe veritanden, den Stoff auf feine wejentlihen Beftandteile zurüdzuführen, ihn einerjeit3 mit forg- fältigem Anſchluß an die Überlieferung, anderſeits mit Hoher Freiheit auf- zufaffen und fortzubilden, überall! Maß zu halten und die Geftalten, die er braudt, zu charatterifieren, wobei die gewandten, intrigierenden Heuchler, die tapfern, aber eiteln und ftolzen Franzoſen und die treuberzig-bejcheidenen, geradfinnigen und im Krieg unmwiderftehlichen Deutjchen befonders herbortreten.“

Sp urteilt W. Scherer, Wenn er es dem „geihmadvollen und patriotiihen Mann“ zu ganz befonderem Verdienfte anrechnet, daß er den Papſt entweder gar nit oder nur im Gefolge der Kirche auftreten läßt, ihn als ftumme Perſon behandelt, von der nicht die Rede ift, jo dürfte aber vielleicht gerade Hierin eine Schwäche der Dichtung zu erbliden fein. Die Kirche, melde im Papft ihren ſichtbaren welthiſtoriſchen Vertreter hat, ift fo ohne alle Not zur allegorifchen Figur verblaßt, die ſich nahezu völlig pajliv verhält, wo doc im großen Weltfampf mit dem Irrtum ihr, und nicht dem Kaiſertum, das entjcheidende Wort gebührte. Yür die rein melo- dramatijche Wirfung mag es günftig jein, daß gerade drei Frauengeſtalten: Ecclefia, Gentilitas, Synagoge, dem Antichrift gegenüber die drei religiöjen Hauptmächte vertreten; aber die dramatifhe Handlung und der Gehalt der Dichtung jelbft Haben darunter entſchieden gelitten, wenn aud das Ganze von innigem chriſtlichen Geiſte befeelt if.

Wie fih aus den Ofterfpielen aud) das Legendendrama entwidelte, davon geben drei Stüde des Hilarius Zeugnis, welder um 1125 ein Schüler Abälards war?, In dem einen, „Die Auferftehung des Lazarus“, ift dieſes Wunder, dad in dem Ofterfpiel von Benedittbeuren nur mit wenigen Worten jfigziert wird, zum jelbftändigen Stüde ausgeftalte. Ein dramaturgijcher

Geſchichte der deutſchen Literatur?, Berlin 1885, 79,

2M. Champollion-Figeac, Hilarii Versus et Ludi, Paris 1838. Bol. 3. 2. Klein, Geihichte des Dramas XII, Leipzig 1876, 301—312.

438 Siebzehntes Kapitel.

Vermerk bejagt, am Schluß folle das Tedeum gefungen werden, wenn die Aufführung am Morgen ftattfinde, dad Magnififat aber, wenn fie mit der Veſper verbunden würde. Die Aufführung fand alfo in der Kirche ftatt. Die zwei andern Stüde behandeln ſchon Stoffe, die mit den Oſter- umd Weihnachtsſpielen in feiner näheren Verbindung ftehen. Das eine, „Daniel“, führt das „Gaftmahl Balthaffars* vor, das andere, „Spiel vom Standbild des Hl. Nikolaus“, miſcht in echt mittelalterlicher Weiſe Ernſt und Scherz. Diebe ftehlen den Schab, den ein Heide (Barbarus) an der Statue des hl. Nikolaus verborgen hat. Erboft über den Raub, macht Barbarus den Heiligen dafür verantwortlih, jhilt und jchlägt fein Standbild. Darauf eriheint ihm der Heilige und gibt ihm den geraubten Schab zurüd. Das Wunder überwältigt den armen Heiden, und er befehrt ſich zum Ghriftentum.

An der Schule zu Dunftaple, welche zu der Abtei St Albans gehörte, lieg der aus Frankreich herübergefommene Kleriker Geffrey bereit3 1119 ein „Spiel von der bl. Katharina” aufführen, das ältefte Myſterienſpiel, das in England erwähnt wird, aber leider nicht erhalten if.

Siebzehntes Kapitel, Religiöſe Lyrik und Hymnenpoeſie.

Die ſchönſten Blüten zeitigte die lateinische Poefie zunädft auf dem Gebiete der firhlihen Hymnif, dann auf jenem der religiöfen Lyrik über- haupt. Es ift hier fogar in Sprade, Form und Technik ein Fortichritt bemerkbar, der auch den romanischen Volksſprachen zu gute kam, allerdings nicht in ftetiger Entwidlung, nod in deutlich geſchiedene Perioden zerlegbar, fondern in unregelmäßigen Anläufen und Unterbredungen, je nachdem be: gabtere oder minder begabte Kräfte fih daran beteiligten. Denn die Produktion wurde eine geradezu maflenhafte. Schon vom früheften Mittel: alter an wurden faft an allen Klöſtern und Stiften eigene Hymnen gedichtet ; jpäter traten ebenjo zahlreih die Tropen und Gequenzen hinzu; endlich famen förmliche NReimoffizien auf, d. h. Tagzeiten, in welden außer den Palmen, Lektionen und Gebeten alles übrige metrifche oder rhythmiſche Form erhielt. Bot nun auch das Wachſen des Heiligentalenders dabei neue ftoffliche Elemente, jo blieb doch der übrige religiöje Stoff im wejentlidhen derjelbe, und fo fonnte e8 nicht ausbleiben, daß diefelben Grundgedanken, Bilder und Stimmungen in hundertfadhen Variationen mwiederfehrten und Taujende von Hymnen ein mehr oder weniger glücklicher, oft ein jehr abgeſchwächter

Religidje Lyrik und Hymnenpoefie. 439

Widerhall früherer Hymnen wurden und mitunter das einzige Neue die allzu gefünftelte Form war!.

Im allgemeinen aber zeugt dieje Unmaffe religiöjer Lieder, die in ftet3 neuen Melodien und Variationen von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter: Hingen?, nit nur von einem mächtigen Geifte der Andacht, Liebe, Freude und Poefie zugleid, fie find auch vielfah ein Ausdruck dichteriſchen Könnens, wie es als Beftandteil allgemeiner Bildung von einem Geſchlecht auf das andere ſich vererben mag und gleich der techniſchen Schulung in den bildenden Künften im ftillen Revier der Klöſter fich wirklich meiterpflanzte. In der Hand genialer Künftler aber wird die erworbene und vererbte Fertigkeit in Heineren oder größeren Zwiſchenräumen zum Werkzeug neuen, wahrhaft föftlihen Sanges, und jo wächſt der alte Sangeshort zu einem Reichtum an, den der abgemefjene Rahmen der allgemeinen Firhlichen Liturgie nicht mehr zu bergen weiß. Diele meifterlihe Lieder find auf die bejondern Liturgien und Feſte einzelner Orden und Diözefen angewiejen, andere ber: hallen im Laufe der Zeit und find uns nur mehr handichriftlih erhalten. Bon den erhaltenen kennt man oft die Verfaffer nit; die fpätere Über— lieferung hat fie vielfach ganz andern Urhebern und ſogar andern Zeiten

! (uyet S. J., Heortologia, Venetiis 1729. J.B. Thomasius, Hym- narium (Opera II), Romae 1747. Rambad, Anthologie Hriftlicder Gefänge aus allen Jahrhunderten, 4 Bde, Altona und Leipzig 1817—1822, C. Fortlage, Geſänge hriftlicher Vorzeit, Berlin 1844. Daniel, Thesaurus hymnologicus, 5 3be, Halis et Lips. 1841—1856. Neale, Hymni Ecelesiae, London 1851/52. Norman, Hymnarium Sarisburiense, London 1851. Mone, Lateiniſche Hymnen bes Mittelalters, 3 Bde, Freiburg i. B. 1853—1855. Kehrein, Katholifche Kirchenlieder, Hymnen, Palmen, 3 Bde, Würzburg 1853—1865. J. F. H. Schloſſer, Die Kirche in ihren Liedern durch alle Jahrhunderte?, 2 Bde, Freiburg i.®. 1863. Simrock, Lauda Sion. Althriftliche Lieder (lateiniſch und deutſch), Köln 1850. Königsfeld, Lateinifche Hymnen und Gefänge aus dem Mittelalter, Bonn 1865. Gall Morel, Lat. Hymnen bes Mittelalters, 2 Bde, Einfiedeln 1866 1868. J. Kayser, Anthol. hym. lat., Paderb. 1865. R. C. Treneh, Sacred Latin Poetry ®, London 1874. C. Blume 8.J. et G. M. Dreves 8.J., Analecta hymnica medii aevi, 44 ®be, Lips. 1886—1904 (Umfafiendftes Hauptwerf. „Die bändereihen Analecta hymnica von Dreves und Blume können fih nunmehr getroft neben bie epochemadhende Hymnographie de l’Eglise grecque des Kardinals Pitra O. 8. B. ſtellen“ [JJ. €. Weis, Julian von Speier, get. 1285. Forſchungen zur Franziskus: und Antoniuskritik, zur Geſchichte der Neimoffizien und des Chorald, Münden 1900, 66]). Misset et Weale, Thesauri hymnol. supplementum amplissimum, London 1888 f. P. Julian, A Dictionary of Hymnology, Sheffield 1898. L&on Gautier, Histoire de la po&sie liturgique au moyen-äge, Paris 1886.

® Das von U. Chevalier im Anſchluß an bie Analecta Bollandiana ver: öffentlichte Repertorium Hymnologicum ift im Supplement (Anal. Boll. XXI, Fasc. III, Bruxellis 1900) bei Nr 34540 angelangt.

440) Siebzehntes Kapitel.

zugeteilt. So gleicht die Hymnik und religiöfe Lyrik des Mittelalter auch hierin noch einem in taujendfahem Blütenſchmuck prangenden tropiſchen Walde, der nod kaum gelichtet ift, dem Spezialforicher noch taufend ungelöfte Rätjel aufgibt. Um uns nit in diefem Gewirre zu verlieren, müflen wir uns begnügen, bon den herborragendften Sängern und Liedern einige namhaft zu maden, melde einigermaßen als leitende Typen oder RE Haupt- ericheinungen gelten mögen.

Haben wir auch der älteren Vertreter der Hymnik bereits ſo mag ed doch immerhin nützlich ſein, fie mit ihren Nachfolgern in eine über: fiht zufammenzuftellen :

4—7. Jahrhundert: Hilarius, Ambrofius, Paulinus von Nola, Prubentius, Sedulius, Victorinus Afer, Papft Gelafius J. Ennobius, Elpis, Flavius von Ehälons, Venantius Fortunatus, Papft Gregor db. Gr.

8. Jahrhundert: Beba Benerabilis, Paulus Diafonus, Alkuin, Paulinus von Aauileja.

9. Jahrhundert: Theodulf von Orleans, Sebulius Scottus, Paulus Albarus, Hrabanus Maurus,.

10. Jahrhundert: Notfer, Hartmann von St Gallen, Zutilo, bie Effe- harde, Obo von Elugnp.

11. Jahrhundert: Obdilo von Elugny, Hermann Contractus, Fulbert von Ehartres, König Robert von Frankreich, Heribert von Eichftätt, Petrus Damiani.

12. Jahrhundert: Anfelm von Canterbury, Sigebert von Gemblour, Baldrich von Bourgueil, Hilbebert von Lavardin, Rupert von Deuß, Bernharb von Morlas, Abälard, Bernhard von Elairvaur, Petrus Benerabilis (Abt von Elugny), Dtetellus von Zegernfee, Adam von St Bictor.

18. Jahrhundert: Guido von Bazoches, Papft Innocenz II., Robert von Lincoln, Julian von Speier, Thomas von Gelano, St Thomas von Aquin, St Bona- ventura, Engelbert von Salzburg, Jacopone da Zobi, John Pedham.

14. Jahrhundert: Papft Benedikt XIL, Johannes Gallicus zu Würzburg, Konrad von Gaming, Erzbiihof Johann von Jenſtein in Prag, Henricus Decanus, ber Mönd von Salzburg, Petrus de Blarovico, Adam Wernher don Themar, Konrad von Haimburg, Albert von Prag, Ulrih von Wefjobrunn.

Bis in die karolingiſche Zeit blühen die antiken metriſchen Vers- und Strophenformen noch neben den neuen rhythmiſchen weiter und beeinfluffen fihtlich die letzteren; von der karolingiſchen Zeit an erlangen die rhythmiſchen Formen in den Tropen umd Sequenzen entjhieden das libergewicht, wobei die Anwendung des Reimed immer mehr zunimmt und zu den reichften künſt— lichſten Geftaltungen führt. Mit der Einführung der großen Mendilanten- orden endlih (am Beginn des 13. Jahrhunderts) drängen die rhythmiſchen Berje mit Reim in den ſog. Reimoffizien die früheren formen völlig zurüd, jo daß fih danad drei Hauptperioden aufftellen ließen: 1. der Hymnen, 2. der Tropen und Sequenzen, 3. der Reimoffizien.

Beſondere Beachtung verdient aber wohl der Umftand, dab wir es hier nit mit einer Zunft profeifioneller Poeten zu tun haben, jondern daß an

Religiöje Lyril und Hymmenpoefie, 441

diejer religiöjen Poefie die geſamte Kirche beteiligt ift. Päpfte und Könige, Kardinäle und Biſchöfe, die größten Leuchten der Wiſſenſchaft und einfluß- reiche Politiker und Diplomaten, ſchlichte Mönche und einfache Lehrer werden uns als Hymnendichter genannt, und wenn die Autorfchaft fi auch nicht in jedem Falle nadhweifen läßt, fo bleibt die Überlieferung doch ein fprechendes Zeugnis des frommen Gemeingeiftes, der hier waltete. Man hat fich dieje religiöfe Hymnik aud nicht als eine Gegenftrömung zur Haffiihen Bildung zu denken, da mehrere der gewandteſten Rhythmendichter gerade am meiften Kenntnis der Alten und dieſelbe Gewandtheit in antifen Versmaßen an den Tag legen. Ebenfowenig bezeichnet diefe Hymnik irgend einen Gegenſatz zur damaligen Scholaftit, Myſtik oder biblifchen Forſchung; gerade die Viel: feitigfeit und Univerfalität der religiöfen Bildung, die Harmonie des Berftandes- lebens mit dem Gemütsleben verlieh der religiöfen Poefie jenen Reichtum und jene Tiefe, jene Yülle und Innigkeit, welche ſelbſt den Nichtgläubigen unwiderſtehlich anzieht!,

Eine wahrhaft erhabene Dichtergeftalt ift vorab der Hl. Petrus Damiani (geb. 1007, geft. 1072), der berühmte Kardinal von Oftia, vor und mit Hildebrand, dem heiligen Papft Gregor VII, die Seele der firhlihen Reform im 11. Jahrhundert, einer jener wahren Reformatoren, die den Kampf gegen jedwedes Böje bei fih beginnen und durchführen, dann mit wunderbarem Erfolg auf die Kirche, auf die gefamte Mitwelt ausdehnen und aus Trümmern neues Leben hervorzuzaubern wiſſen. Zahl: loſe Klöfter, ganze Bistümer hatte er ſchon mit neuem, religiöjem Leben bejeelt, al3 er 1070 als päpftlicher Legat auf dem Reichstage zu Frankfurt por Kaiſer Heinrih IV. trat, um ihn bon der geplanten unrechtmäßigen Eheſcheidung abzubringen. Der unermüdliche Seelenhirt und Sittenprediger, durch feine Strenge und Sittenreinheit jelbft jeinen Gegnern verehrenäwert, fand neben jeinen zahllofen Arbeiten noch Zeit zum Dichten?. Etwa jedhzig

„Die lateinifhen Rhythmen bes Mittelalters verdienen eifrige Erforſchung, nit nur um bes Inhalts, jondern auch um ber Formen willen. Dichtungen wie viele ber Carmina Burana, mande des Arhipoeta, jehr viele Hymnen und Sequenzen werben ftet3 zu den Perlen der Weltliteratur gehören. Dann haben die Inteinifhen Ahythmendichter befonders im 11. und 12. Jahrhundert mit feinem Gefühle für den inneren Bau ber Zeilen Geſetze aufgeftellt, welche auf die romanische Dichtung im Mittelalter großen Einfluß gehabt haben und zum Zeil noch jeßt fortwirten, wie 3. B. der romanifche Versbau noch heute auf bem damals gelegten Grunde ruht” (W. Meyer, Der Ludus de Antichristo und Bemerkungen über die lateinischen Rhythmen bes 12. Jahrhunderts [Situngsberichte ber königl. bayr. Afademie ber Wiſſenſchaften 1882, philofoph.-philolog. Klaſſe I 43]); vgl. ebd. 113.

® Petri Damiani Carmina sacra et preces (Migne, Patr. lat. CXLV 917-986). Gedichte ebd. 925 926 930 f 986. Über feine Stellung zu ben

442 Siebzehntes Kapitel.

Gedichte werden ihm zugejchrieben, von denen wohl mande nicht ihm an- gehören, die aber doch jehr anſchaulich feine Denkart jpiegeln!.

Das geihichtlih ſehr intereffante Gedicht „Gegen die Simoniften“ kann nicht von ihm fein, da es Anjpielungen enthält, die über feine Lebenszeit hinausgehen. Als höchſt zweifelhaft ift auch der Rhythmus „Von dem Elend der Übte* anzufehen, der aber auf die Zeitlage die merkwürdigſten Streif- lichter wirft und den ganzen Jammer zeichnet, mit welchem der gewaltige Reformator zu ringen hatte. Von echt poetifcher, zündender Lebendigkeit find die Betrachtungen über Tod, Gericht und Hölle, welchen als meifterhaftes Gegenbild der Herrlihe Rhythmus über „Die Glorie des Paradiefes“ folgt, das befanntefte und gefeiertfte der dem Heiligen zugejchriebenen Gedichte, das auch hier eine Stelle verdient.

Zu bes ew’gen Lebens Quellen ift ber durſt'ge Geift entbrannt,

Und bie eingeihlofj’'ne Seele jprengte gern des Körpers Band, Kämpft und ringt in der Verbannung, firebt empor zum Vaterland.

Während fie in Schmerz und Kummer aus dem Drude jeufzt empor, Muß fie ftets den Glanz betrachten, ben durch Abfall fie verlor; Des verjcherzten Glüds Gedächtnis ruft vorhand'nes Leid hervor.

Denn wer jhilbert das Entzüden in bes Friedens ew’gem Strahl, Wo fi aus lebend'gen Perlen hebet der Paläfte Zahl, Wo von Gold bie Tiſche Shimmern in dem hocdhgewölbten Saal?

Ganz aus Ebelfteinen fügt fich dieſer Häufer ftolger Bau, Reines Gold, kriſtallen Shimmernd, gibt der Straße Grund zur Schau, Aller Unrat und Berwefung ift verbannt von diefer Au.

Winters Kälte, Sommers Hitze wüten nie an diefem Ort, Wo im ew’gen Frühling blühen Purpurrofen fort und fort; Lilien fhimmern, Safran glühet, Balfam ſchwitzt aus Stauden bort.

Haffiihen Studien und Profanwiffenfhaften überhaupt vgl. F. Neufird, Das Leben des Petrus Damiani, Göttingen 1875, 14—16 31--833,

ı 85. 36. 37. 38. De 8. Cruce. 40. Rhythmus paschalis. 41. De ascensione. 44. In annuntiatione B. V. 47. In assumptione B. V. 48—60. Reimoffizium De B. V. 61. Rhythmus de B. V. 62—65. De B. V. 72, De 8. Petro. 74. De S. Paulo. 75. De Andrea apostolo. 76. Divisio. 77—79. De B. Ioanne B. 93. 94. De gestis apostolorum. 95. De S. Vincentio mart. 96. De S. Vitale mart. 97. In festum S. Anthimi. 98. In solemne 8. Ursieini. 102—116. Reim: offizium De B. Apollinari. 117. 118. De 8. Ruffino. 119—121. De S. Donato. 122. De 8. Fidele. 123. De S. Gregorio papa. 124—126. De 8. Benedicto abb. 218. Adversus Simoniacos rhythmus. 220. Rhythmus paenitentis monachi. 221. De abbatum miseria. 222. De omnibus ordinibus omnium hominum in hoc saeculo viventium rubrica. 223. De die mortis rhythmus. 224. In eos qui de regis ultione securi sunt, sed Christum evadere nequeunt. Rhythmus. 225. Hucus- que de adventu, hinc de poenis inferni. 226. De gloria paradisi. Rhythmus. 227. In mortem Widonis,

Religiöfe Lyrit und Hymmenpoefie. 443

Grüne Wiefen, reife Saaten, Honigbädhe weit und breit, Wo der Duft von eben Hölzern und Aromen fich verftreut, Wo in grünen Wäldern reifen Früchte der Unfterblickeit.

Sonn’ und Mond find hier erlojchen, wie auch der Geſtirne Heer, Denn bas Lamm taucht jelbft den Wohnort ein in feines Lichtes Meer; Ein nicht untergeh’'nder Tag iſt; Naht und Zeiten find nicht mehr.

Auch die Heil’gen glänzen, jeder wie die Sonne hell und Mar, Bringen nad) vollbrahtem Siege jubelnd Preis und Ehre dar, Überzählend ihre Kämpfe, der befiegten Feinde Schar.

Aller Fehl ift abgewaſchen, alle Lockung, aller Schmerz, Und das Fleiſch ift Geift geworden, Leib und Geift ift nur ein Herz; Sie geniehen ew’gen. Frieden, aller Streit ſank nieberwärts.

Und fie ziehn in ihren Urfprung, vom Beweglichen befreit, Schaun die gegenwärt’ge Wahrheit ohne Schein und ohne Kleid, Zrinfen aus lebend’gen Quellen urgeborne Süßigfeit.

Daher ihöpfen fie des Lebens ewige Erneuerung, Klar, lebenbig, Tieblih ohne jegliche Verminderung, Ohne Krankheit immer blühend, ohne Alter ewig jung.

| Daher ziehn fie unvergänglich's Dafein, denn es ftarb der Tod; Daher blühn fie hell und grünen, denn in Not Tam hart die Not; Und das Recht ift abgerungen, twomit lang der Tod gedroht.

Die den Shaun, ber alles jchauet, was bleibt denen unbekannt? In der Fremden Bruft Geheimnis dringt ihr heiliger Verftand, Und ihre Wollen und Nichtwollen ruht auf einem Gegenftand.

Und wenn jeder gleich ber eig’nen Arbeit Früuchte ernten muß, Streut die Liebe allen reich doch aus von ihrem Überfluß, Und jo wird, was einer erntet, allen andern zum Genuß.

Um den heil’gen Leihnam ſammeln fie wie Adler ſich entzückt, Wo mit Engeln und mit Heil’gen fi der Seelen Schar erquidt, Wo die Bürger zweier Welten find zu einem Mahl gerüdt.

Und Genuß bort und Verlangen quilit in unerſchöpftem Fluß, Denn Verlangen ſchafft nicht Qual dort, Sättigung nit Überdruß. Der Genuß treibt zum Verlangen, das Verlangen zum Genuß.

Stimmen dort voll Anmut fingen wechjelreihe Melodie, Inftrumente, füß den Ohren, tönen jaucdhzend Harmonie; Denn fie fingen Preis dem König, welcher ihnen Sieg verlieh.

Glücklich, glüdlich ift die Seele, die vor ihrem König fteht, Unter ber in tiefem Grunde fi) des Weltalls Achſe breht, Sonn’ und Mond mit den Geftirnen ferne nur vorübergeht.

Ehriftus, Palme tapfrer Kämpfer, die gefiegt im heißen Streit, Führe mi in diefe Ruh’ftatt nach gelöften Waffenkleid, Mache mich zum Mitgenofjen in der Stadt der Seligteit.

444 Siehzehntes Kapitel.

Stähle meine Kraft im Kampfe, auszubauern jeden Schlag, Und nad harter Kriegesarbeit, la mich ſchaun den Ruhetag. Wo als Siegeslohn ich deiner ewiglich mich freuen mag.

Dem Reichenauer Mönch und Ehroniften Hermannus EContractus! von Böhringen (geft. 1054) werden die Antiphonen Alma redemptoris mater und das Salve regina zugeidhrieben, dem Abte Petrus Vene rabilis von Elugny (gef. 1156) die Hymnen Inter aeternas und Claris coniubila auf den hl. Benedikt im Benediktinerbrevier.

Don Marbod, Biihof von Rennes (geb. 1035, geft. 1125), joll das ihöne Gebet Deus-homo, Rex caelorum, miserere miserorum, das Gebet an Gott den Vater Universae creaturae, das ergreifende Bußlied Cum recordor, quanta cura flammen?,

Den glängendften Dichtern des Mittelalters ift der ſchon erwähnte Hildebert von Lavardin, Erzbifhof von Tours (geb. 1055, geft. 1134), zuzuzählen 3.

Kaum ein anderer Hymmendichter hat es ihm darin gleihgetan, den ſchwierigſten jpelulativen Begriffen und Offenbarungsmwahrheiten eine fo forrefte und deutliche wie zugleich poetiiche Faſſung zu geben, wie dies j. B. in feinem Rhythmus an die heilige Dreifaltigkeit der Fall if. Das Abftrakte weiß er durch konkrete Umfchreibung und Bergleih den Sinnen näher zu rüden, die haarſcharfen Diſtinktionen der Scholaftif in jpielende Melodien umzuwandeln.

Alpha et O, magne Deus, A und DO, Gott, Weltgeftalter,

Heli, Heli, Deus meus, MWeltregierer, Welterhalter,

Cuius virtus totum posse, Deſſen Kraft nichts wiberftehet, Cuius sensus totum nosse, Defien Kenntnis nichts entgehet, Cuius esse summum bonum, Defien Sein das höchſte Gut ift, Cuius opus, quidquid bonum, Deffen Werk, was immer gut ift, Super cuncta, subter cuncta, Über, unter allem thronft bu,

Extra cuncta, intra cuncta: Außer, inner allem wohnft bu: Intra cuncta, nec inclusus, In dem All, nicht eingeenget,

Extra cuncta, nec exclusus, Draußen, nicht hinausgedränget, Super cuncta, nec elatus, Übern AU, doch nicht entrücket, Subter cuncta, nec substratus; Unterm AU, doch nie bedrücket; Super totus, praesidendo, Drüber ganz, beherrſchend, waltend, Subter totus, sustinendo, Drunter ganz, begründend, haltend, Extra totus, complectendo, Draußen ganz, das Al umfhlingenb, Intra totus es implendo; Drinnen ganz, bad All durchdringend;

ı Val, 9. Hausjakob, Herimann ber Lahme von ber Reichenau, Mainz 1875, 68-—93.

® Trench, Sacred Latin Poetry 280. Fortlage, Gefänge Kriftlicher Vorzeit 273 275.

® Sammlung feiner Gedichte bei Migne, Patr. lat. CLXXI 1177—1458. Proben hei Trench a. a. ©. 108; Fortlage a. a. O. 11 188 254 263 277.

Religiöſe Lyrik und Hymnenpoefie. 445

Intra, numquam coarctaris, Nicht im Drinnen eingejchlofien, Extra, numquam dilataris, Nicht im Draußen ausgegofien, Super, nullo sustentaris, Droben ohne Stüße ragend,

Subter, nullo fatigaris. Drunten nie belaftet tragend; Mundum movens non moveris, Regungslos die Welt erregend, Locum tenens non teneris, Ohne Zeit die Zeit bewegend, Tempus mutans non mutaris, Ohne Raum den Raum umſchließend, Vaga firmans non vagaris, Nie in Fluß, was fließt, ergiehend, Vis externa et necesse Kraft von außen, Zwang von innen, Non alternant tuum esse. Nichts beeinflußt dein Beginnen. Heri nostrum, cras et pridem Unfer Morgen, Heut und Nimmer Semper tibi nunc et idem, St vor bir ein ew’ges Immer, Tuum, Deus, hodiernum Ewiglich bein Jetzt verweilet, Indivisum, sempiternum. Unverändert, ungerteilet,

In hoc totum providisti, Drin du alles vorgejehen,

Totum simul perfecisti Alles riefeft ins Entftehen,

Ad exemplar summae mentis Nach der ewigen Weisheit Nornten Formam praestans elementis. Gabft dem Urftoff feine Formen !,

Sp wird im Vater hauptfählih die göttlihe Natur felbft mit ihren Attributen gezeichnet; nicht minder ſchön tritt im folgenden der Unter: ſchied der drei göttlihen Perjonen und ihre Wechjelbeziehung hervor, und dann geftaltet fi die poetische Beihauung zum innigften Gebete. In den anſchaulichſten Bildern, den herzlichften Tönen klagt der Betende dem dreieinigen Gott feine Not hienieden und die ewigen Gefahren, melche die Sünde in fi jchließt, wirft aber zulegt einen hoffnungsvollen Blid in die Wonne der ewigen Seligfeit und grüßt diefelbe ſehnſüchtig von ferne:

Urbs caelestis, urbs beata, Stadt der Himmel, werte, traute, Supra petram collocata, Auf den Felſengrund gebaute,

Urbs in portu satis tuto, Friedens hafen, Heimat, Türe,

De longinquo te saluto, Aus der Ferne ich dich grüße.

Te saluto, te suspiro, Ya, di grüß’ ich, dich umfang’ ich, Te affecto, te requiro! Nah dir ſeufz' ich, dein verlang’ ich!

Mährend ſcholaſtiſche Philofophie und Poefie im Leben Hildeberts in vollfter Harmonie ftanden, treten fie bei dem etwas jüngeren Abälard in jeltjamen Gegenſatz. Als Philoſoph und Theologe Hat er faft nur Ber: wirrung, Streit und Unheil angerichtet, als Hymnendichter ift er völlig orthodor. Als philoſophiſcher Oppofitiongmann Hat er die ganze Welt mit dem Lärme feiner feden Behauptungen erfüllt; als Dichter war er bis in die letzte Zeit völlig verſchollen. Sein poetifches Hauptwerk beſchränkt fich auf ein liturgifches Hymnarium, welches er feiner „in Chriſto ehrwürdigen und liebenswerten Schweiter Heloife“ und deren geiftlihen Töchtern im Kloſter

ı Überfegt von G. M. Dreves, Der Dreifaltigfeits-Hymnus Hildeberts von Lavardin (Stimmen aus Maria-⸗Laach XLIX [1895] 411—418).

446 Siebzehntes Kapitel.

Paraklet widmete umd welches denn aud nicht weit über die Mauern diejes Klofters hinausgedrungen zu ſein jcheint. Es ift ein durchaus einzeln ftehender Verſuch, an die Stelle der vorhandenen, im Laufe der Zeit langſam angewachjenen liturgiſchen Hymnenjammlungen eine einheitliche, neue zu ſetzen, welche alle dur die Tagzeiten und Feſte gegebenen Stoffe in völlig neuen, eigenartigen und künſtlichen Metren durcharbeitete, ein jubjektiviftiiches Unter: nehmen, das ganz dem feden Individualismus Abälards entſprach. Aller dings zeigt er in diefen Hymnen nicht nur herzliche Frömmigkeit, jondern auch poetifches Genie und ftaunenswerte Formgewandtheit; aber ein Einzelner fonnte unmöglich verdrängen, was im Laufe eines Jahrtaufends langjam herangereift war, und jo ift feine Dichtergabe für die Weltliteratur ziemlich erfolglos geblieben. Einiges in Abälards Hymnen ift auch entjchieden gejuht, barod und geihmadlos, jo wenn er 3. B. an die Stelle der er: greifenden alten Hymnen auf die „Unfchuldigen Kinder“ folgenden anefooten: haften Zug aus Macrobius jeßt:

Ad mandatum Est a caede. De immiti Prodest magis Regis datum Ad Augustum Digne lusit, Talis regis (enerale Hoc delatum Malum, inquit, Esse porcum. Nec ipsius Risum movit Est Herodis

Infans tutus Et rex mitis Esse natum

Jedenfalls war Abälard ein formgewandter Dichter. ALS joldhen weiſen ihn die Schon früher bekannten biblifchen Klagelieder aus!; meit mehr das Hymnenbuch, das er für Heloife und das bon ihr geleitete Kloſter Paraklet (in drei Zeilen) verfaßte?. Verkappte Liebesgedichte, wie Greith meinte, find die ſechs Trauerlieder nit, ſondern wirklich ergreifende, echt lyriſche Bearbeitungen der zu Grunde liegenden biblijhen Stoffe. Auch das Hymnen— buch und deffen Vorrede find durchaus religiös und würdig gehalten, ohne einen Zug, der an das alte Liebesverhältnis erinnert, al3 das Wort: Soror mihi, Heloisa, in saeculo quondam cara, nunc in Christo

' f. Planctus super Dinam. II. Planctus Iacob super filios suos. III. Planetus virginum Israelis super filia Iephtae Galaditae. IV. Planctus Israel super Samson. V. Planctus David super Abner, filio Ner, quem Ioab oceidit. VI. Planctus David super Saul et Ionathan (gedrudt bei Greith, Spieilegium Vaticanum, Frauen- feld 1838, 123—131). Guil. Meyer, Planctus virginum Israel super filia Ieptae, Monachii 1885; Plancetus I II IV V VI, Erlangen 1890. Bgl. E. du M&ril, Poésies popul. lat. anterieures au 12=* siecle 174; Poesies popul. lat. du moyen-äge 434—438,

® Petri Abaelardi, Peripatetici Palatini, Hymnarius Paracli- tensis (ed. G. M. Dreves 8. J., Paris. 1891). Weitere Literaturangaben ebb. 12. G. M. Dreves, Der Philofoph von Palais als Hymnopoet (Stimmen aus Maria-Laach XLI [1891] 426448). E. du Méril, Poesies d’Abailard; Poesies popul. lat, du moyen-äge 416—449.

Religiöje Lyrik und Hymnenpoefie. 447

earissima „Beloije, einft in der Welt meine liebe, jest in Chriſto aller- fiebfte Schwefter.“ Was die Hymnen auszeichnet, iſt befonders die Mannig- faltigleit und Neuheit der Rhythmen, d. 5. der Zeilenformen bei ziemlich einfahen Strophenformen. In Schönheit des Ausdruds, bei Tiefe des theo- logiſchen Gehalts fommt er oft Hildebert von Tours nahe, die bezaubernde Form: und Bilderfülle Adams von St Victor erreicht er jedoch nicht.

Eine weit erfreulichere Erjheinung für die Literaturgefhichte wie für die Kirchengeſchichte al3 Abälard ift fein geiftiger Antipode, der hl. Bern- hard, Abt von Clairvaux, der berühmte Prediger des zweiten Kreuzzuges, der Berater de3 Papftes Eugen IIL, der Ruhm und die Zierde des Gifter- cienjerordend. in bildihöner Jüngling, von allen Lodungen der Welt ummoben, ſagte er ihr Lebewohl, ehe ein Hauch ſündigen Treibens den lichten Spiegel feiner Seele getrübt hatte. Die ganze Minne feines liebeglühenden Herzens galt der ewigen Liebe, die fi in Bethlehem mit unjerem Fleiſch umkfeidet, die auf Golgatha in unnennbarem Schmerz fih auf ewig der Menjchheit angetraut. Diefe Minne machte ihn auch zum DVerlünder der Jungfrau, die den Welterlöfer auf ihren Armen trug und am Fuß des Kreuzes fein Leiden teilte. Kein Minnefänger hat jo innig, jo ſehnſüchtig, jo Tiebesjelig und mwonnetrunfen von irdiicher Liebe gefprodhen, wie Bernhard von der leidenden Liebe des Erlöferd, von dem Triumph der ewigen Liebe im Kreuze. Keiner der alten Kirchenväter hat jo ſüß, fo lieblid von den Wundern des Namens Yeju gepredigt wie er. Seine Reden über den Pſalm Qui habitat und über das Hohelied find mehr Triumphgejänge moftiiher Liebe und Gottbegeifterung als rhetoriihe Werke. Seine Feſt— predigten, boll der anmutigſten Bilder, in melodifher Sprache dadingleitend, wiegen die ſchönſten Rhythmen auf. Es ift darum ziemlich gleichgültig, daß ihm die moderne Kritik eine Anzahl Hymnen abgeftritten hat, welche bis in diefes Jahrhundert hinein unter feinem Namen gebetet, gelejen und ge— jungen wurden und Zaufende von Herzen erquidten. Wer immer fie ge- dichtet Haben mag, fie tragen die Züge feines Geiftes, fie find ein Widerhall feiner Predigten und werden darum auch in weiterer Überlieferung mit ihm ver- fettet bleiben, und Taufende werden auch fürder in feinem Geifte weiterfingen:

lesu duleis memoria, Jeſu, bein ſüß Gedächtnis macht, Dans vera cordis gaudia, Daß mir das Herz vor Freude ladt: Sed super mel et omnia Doch füher über alles ift,

Eius duleis praesentia. Wo du, o Jeſu, ſelber bift!,

Als Herold einer ſolchen religiöjen, dur und dur von übernatür- licher Weihe durdfättigten Poefie ſtand Bernhard nit allein. Als er 1153, ı 98, Bremme (Der Hymmus lesu dulcis memoria in feinen lateinifchen

Handſchriften und Nahahmungen jowie deutſchen überſetzungen, Mainz 1899, 111 bis 362) führt nicht weniger als ſiebzig deutſche Überſetzungen auf.

448 Siebzehntes Kapitel.

erft 62 Jahre alt, ftarb, fang jchon lange Adam von St Victor, der poetifche Vertreter der um die Theologie, beſonders die myſtiſche, hoch— verdienten Schule der Biltoriner, neben Hildebert von Tours der gewandteſte Hormkünftler mittelalterliher Humnik, eine echte Sängernatur, wie e8 nur je eine gab, dem gleichſam jedes Wort zu Reim und Melodie ward. Bielleicht wäre er in bloße Spielereien herabgefunten, aber tiefes theologiſches Willen und die innigfte Gottesliebe waren die Seele feines Liedes und gaben ihm mädtige Schwingen himmelan!.

Projawerke, von melden eines ſchwierige Worte der Bibel erflärt (die jog. Summa Britonis), ein anderes die jämtlihen Prologe des hl. Hie— ronymus zur Bibel behandelt, ein drittes, philoſophiſches, den Unterſchied bon anima, spiritus und mens befpricht, bezeugen, daß auch Adam zunächſt ein gelehrter Theologe war, und Wilhelm von St verfichert, daß die zwei erjten, eregetifchen Werke das höchfte Anfehen genoffen.

Aber auch feine Poefie fand ſchon während des Mittelalter hohe An: ertennung. Nach einer liberlieferung belobte und beftätigte Innocenz III. jelbft auf dem vierten Laterantonzil (1215) feierlih feine Sequenzen (ob=

His most zealous admirers will hardly deny that he pushes too far, and plays overmuch with, his skill in the typical application of the Old Testament. So too they must own that sometimes he is unable to fuse with a perfect success his manifold learned allusion into the passion of his poetry.... Sometimes too he is overfond of displaying feats of skill in his versification, of prodigally accumulating, or curiously interlacing, his rhymes, that he may show his perfect mastery of the forms which he is using, and how little he is confined or tram- melled by them. These faults it will be seen are indeed of them but merits pushed into excess. And even accepting them as defects, his profound acquaintance with the whole eircle of the theology of his time, and eminently with its exposition of Scripture the abundant and admirable use, with indeed the drawback already mentioned, which he makes of it, delivering as he thus does his poems from the merely swbjective cast of those, beautiful as they are, of St. Bernard the exquisite art and variety with which for the most part his verse is managed and his rhymes disposed their rich melody multiplying and ever deepening at the close the strength which often he concentrates into a single line his skill in conducting a story and most of all, the evident nearness of the things which he celebrates to his own heart of hearts all these and other excellencies render him, as far as my judgment goes, the foremost of the sacred Latin poets of the middle age. He may have no single poem to vie with the austere grandeur of the Dies irae, nor yet with the tearful passion of the Stabat Mater, although concerning the last point there might well be a question; but then it must not been forgotten that these stand well-nigh alone in the names of their respective authors, while from his ample treasure-house I shall enrich this volume with a multitude of hymns, all of them considerable, some of the very highest merit. Indeed were I disposed to name any one who might dispute the palm of sacred Latin poetry with him, it would not be one of these, but rather Hildebert, Archbishop of Tours (Trench, Sacred Latin poetry 59 60).

Religiöfe Lyrik und Hymmenpoefie. 449

wohl die Alten des Konzils dies nit ausweilen), und viele derjelben gingen in die Meßbücher der meiften Länder über!. Nur Deutjchland hing zähe an den älteren Eequenzen Notkers fett. Bon diejen unterſchieden ſich die— jenigen Adams durch ihren funftvollen Strophenbau. Die häufigfte Form der Strophe bietet das folgende DOfterlied, das zugleich Adams Vorliebe für die altteftamentlihe Typit zum Ausdrud bringt:

Zyma vetus expurgetur, Fort mit altem Sauerteige, Ut sincere celebretur Neu gereinigt alles fteige Nova resurrectio ; Mit dem Heiland aus dem Grab! Haec est dies nostrae spei, Diefer Tag trägt unfer Hoffen, Huius mira vis diei Seine Wunbderfraft liegt offen, Legis testimonio. Da der Bund ihm Zeugnis gab. Haec Aegyptum spoliavit, Er hat Mizraim zerftreuet. Et Hebraeos liberavit Der Hebräer Volt befreiet, De fornace ferrea: Don bes eh’rnen Ofens Glut, His in arctis constitutis Da fie in bedrängter Lage Opus erat servitutis Mühſam fronten alle Tage Lutum, later, palea. Und vom Ziegeln nie geruht. lam divinae laus virtutis, Drum fo fingt bes Höchſten Ehre, Jam triumphi, iam salutis Drum Triumph, drum Jubelchbre, Vox erumpat libera, Schallet laut, laßt nimmer nad. Haec est dies quam fecit Dominus, Diejen Tag hat felber ber Herr gemacht, Dies nostri doloris terminus, Diefer Tag hat Leiden ein End’ gebradt, Dies salutifera. Diejer Heil» und Freubentag!

Adam liebt es aber au, die Zahl derjelben Reime noch zu erhöhen und fo noch funftreichere und ſchwierigere Strophen zu bilden, die im mejent- lihen indes einen ähnlichen Charakter haben. So in der pradhtvollen Sequenz auf „Mariä Himmelfahrt“ :

Ave virgo singularis, Gruß, o Jungfrau, einzig Eine,

Mater nostri salutaris, Mutter Jeſu, allzeit reine,

Quae vocaris stella maris, Meeresitern von lichtem Scheine, Stella non erratica; Stern, ber nimmer täuſcht noch trügt;

ı 86 Sequenzen, zuerjt herauögeg. von Clichtoveus, Elueidarium ecele- siasticum, 2°, Basileae 1517; abgedrudt bei Migne, Patr. lat. CXCVI 1421 bis 1534, Stritifhe Ausgabe von L. Gautier, Oeuvres postiques d’Adam de Saint-Victor !, Paris 1858/59; ?1881; °1894. Eugöne Misset, Essai philo- logique et littraire sur les @uvres po6tiques d’Adam de Saint-Vietor. Les Lettres chretiennes II 76 ff 238 ff; 111 358 ff; IV 204 ff 371; V 344 ff. 6. M. Dreves, Adam von St Victor (Stimmen aus Maria-Laach XXIX [1835] 278—295 416—441). R. Ch. Trench, Sacred Latin Poetry®, London 1374, 55—85 113—115 125—128 155—158 168—173 179—183 189—196 204—207 214—218 221 222 232—288. Fortlage, Gefänge hriftl. Vorzeit 400 ff (Über: fegung von 16 Sequenzen).

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4 Aufl. 29

450 Siebzehntes Kapitel.

Nos in huius vitae mari

Non permitte naufragari,

Sed pro nobis salutari Tuo semper supplica,

Saevit mare, fremunt venti,

Fluctus surgunt turbulenti,

Navis corrit, sed currenti Tot oceurrunt obvia;

Hic sirenes voluptatis,

Draco, canes, cum piratis

Mortem paene desperatis Haec intentant omnia.

Post abyssos nunc ad caelum

Furens unda fert phaselum,

Nutat malus, fluit velum, Nautae cessat opera;

Contabeseit in his malis

Homo noster animalis,

Tu nos, mater spiritalis, Pereuntes libera.

Tu, perfusa caeli rore, Castitatis salvo flore, Novum florem novo more Protulisti saeculo; Verbum Patri coaequale Corpus intrans virginale Fit pro nobis corporale Sub ventris umbraculo.

Te praevidit et elegit Qui potenter cuncta regit, Nec pudoris elaustra fregit, Sacra replens viscera, Nec pressuram nec dolorem Contra primae matris morem Pariendo Salvatorem Sensisti, puerpera.

Maria, pro tuorum Dignitate meritorum Supra choros angelorum Sublimaris unice: Felix dies hodierna, (Jua conscendis ad superna! Pietate tu materna Nos in imo respice.

Daß nit in des Meeres Welle Unſer Lebensſchiff zerichelle, Unfre Bitten dem beſtelle,

Der da alles lenkt und fügt.

Schäumend bäumt, ein Spiel ber Winde, Sich bie Meeresflut, die blinde,

Und das Scifflein pfeilgeſchwinde Stürmt durch Fährlichkeit und Not; Ferneab Sirenen fingen,

Ungeheuer es umringen,

Räuber bräun es zu bezwingen,

Alles dräut umher den Tod.

Himmelwärts aus Abgrunds Rachen MWirft die Woge nun den Nadıen, Rahen knirſchen, Maſte krachen,

Und des Schiffers Arm, er finkt; Ach, das Leid iſt nicht zu zählen, Und ſchon will der Mut uns fehlen; O du Mutter unſrer Seelen,

Hilf, da Untergang uns winft!

Reich vom Himmelstau begofien, Blieb dein Lilienfeld verſchloſſen, Drin auf Wunderweije ſprofſen Jenes Wunberröslein ſollt'; Denn in deinem Schoß, o Reine, Als ein Menſchenkindlein kleine Sich des Vaters Sohn, der eine, Fleiſcheshülle nehmen wolll'.

Dein von Ewigkleit gedenket,

Der da mächtig alles lenket,

Der, ob reichſte Frucht er fchentet, Dod bie reinste Zucht nicht kränkt; Ohne Wehen, ohne Klagen, Unerhört jeit Evas Tagen,

Haft den Höchſten du getragen Und bas Beil der Welt gejchentt.

O Maria, hoch im Throne, Höchſter Tugend höchſte Krone, Prangeft du zunädft dem Sohne Über aller Engel Schar.

O bes Tages, hoch zu Toben,

Der dich alfo hoch erhoben! Wend' dein Auge au von droben Zu uns nieder mild und klar.

Religiöfe Lyrik und Hymnenpoefie. 451

Radix sancta, radix viva, Flos et vitis et oliva, Quam nulla vis insitiva

Iuvit, ut fruetificet, Lampas soli, splendor poli, Quae splendore praees soli, Nos assigna tuae proli,

Ne distriete iudicet.

In conspectu summi regis Sis pusilli memor gregis, Qui transgressor datae legis Praesumit de venia: Judex mitis et benignus, Iudex iugi laude dignus, Reis spei dedit pignus, Crucis factus hostia.

lesu, sacri ventris fructus,

Nobis inter mundi fluctus

Sis via, dux et conductus Liber ad caelestia.

MWürzlein fräftig, Würzlein reine, Rebitod, Ölzweig, Blümlein feine, Das aus Himmelstraft alleine

Frucht getragen, himmliſch ſchön; Himmelsleuchte, Licht der Erde,

Über Sonnenglanz Verklärte,

Wenn der Richter greift zum Schwerte, Deinem Sohne uns verſöhn'!

Vor dem höchſten König ſtehe

Und ber kleinen Herd' erflehe,

Daß für Recht ihr Huld geſchehe,

Ob fie gleich ſich ſchwer verging.

O des Richters, des geduld'gen,

Dem mit Dante ſtets zu huld'gen, Daß, ein Hoffnungspfad den Schuld’gen, Er am Kreuz ald Opfer hing.

Sohn ber Jungfrau, die wir loben, Sei uns in des Sturmes Toben Meg und Führer nad dem Droben Unb ein himmliſch Freigeleit.

Lent das Schifflein, leit’ fein Steuer, Meer und Winde mad geheuer,

Lent als Bootsmann, als getreuer, In den Port der Seligfeit.

Tene elavum, rege navem; Tu, procellam sedans gravem, Portum nobis da suavem

Pro tua clementia.

Es ift das gemeinjame Los aller bedeutfamen poetiichen Formen, daß fie, meift durch unvollkommene Verſuche vorbereitet, von einem glüdlichen Meifter endlich zur Vollendung gebradht, in die Hände von Epigonen ge- taten, melde diejelben wohl ftümperhaft, automatiih nadzubilden, aber nit mit zündendem Lebenägeift zu befeelen wiffen, bis, oft erft nad) langer Zeit, ein verwandter Künftler gleihfam unvermutet auch die geiftige Erb: Ihaft an fi) reißt und der zur handwerlämäßigen Schablone herabgejuntenen Form wieder neue Lebenskraft eingießt und mittels ihrer Schöpfungen von bleibendem Werte geftaltet. So ift es auch den melodiihen Strophen Adams von Et Victor ergangen. Hunderte von wohlmeinenden, aber ungeſchickten Sängern haben fie nadhgellimpert, Hunderte aber auch mit mehr oder weniger Glück nachgebildet und variiert. Alle Geheimniffe des Kirchenjahres, alle Heiligen des allgemeinen Feſtkalenders, alle Heiligen bejonderer Diözejen und KHlöfter find darin bejungen worden. Mikverftändnis und Ungeihmad haben fie zu den wunderlichſten Zerrgeftalten und zum ungenießbarften Sing- fang entftellt. Poetiſcher Feinſinn und Empfänglichkeit haben aber aud jehr ſchöne Nahbildungen geliefert, und ſchon im nächſten Jahrhundert find gerade in diefer Form, umd vielleicht angeregt durch ihre Eigenart, die ihönften Sequenzen entftanden, welche die geſamte abendländiiche Kirche in

29*

452 Siebzehntes Kapitel.

ihr Mepformular aufgenommen und bis auf den heutigen Tag bewahrt bat: das Lauda Sion Salvatorem des hl. Thomas von Aquin, das Stabat mater des Jacopone von Todi und das Dies irae des Thomas von Gelano.

Um übrigens jolde Meifterwerfe, wie die anderweitige unabjehbare Menge liturgifcher Poefie richtig zu mwiirdigen, muß man ftet3 vor Augen behalten, daß fie gleich der bildenden Kunſt des Mittelalterd und in innigfter Derbindung mit ihr aus derſelben gemeinſamen Wurzel hervorgegangen find: der tiefen, unerſchütterlichen, lebendig twirkenden Überzeugung, daß das unmittelbare Lob Gottes die erfte, jchönfte und erhabenfte Aufgabe ift, welche der Menſch ſich hienieden ftellen kann. Dieſe Überzeugung hat Zaufende und aber Taufende in die Klöfter geführt, den Gottesdienft zu ihrer Haupt: aufgabe gemadt, Baukunſt, Skulptur, Malerei, Kleinktunft, Poefie und Tonkunſt auf diejes eine Ziel bezogen und fo die Liturgie zu einem Kunſt— werk gejtaltet, da3 den Bund der Künſte unter fih und mit der Religion in erhabenfter Weiſe verwirkliht. Dieſer Bund verrät fi nicht bloß in großen monumentalen Werfen der mittelalterlihen Architektur, ſondern jelbit in den Miniaturen, mit welden ein unerſchöpflicher Kunſtfleiß mit Vorliebe die liturgijchen Gejangbücher geſchmückt Hat.

Den Mittelpunkt der Liturgie bildete, wie wir früher gejehen, einer: jeit8 das heilige Mekopfer, anderfeits das kirchliche Stundengebet; beide vereinten fi jeden Tag in der gemeinfamen Idee des Feſt- oder Tages- offiziums.

Was den Dichtern und Tonkünſtlern (ſehr oft in einer Perſon vereint) zumeiſt reichen Stoff bot, waren die beweglichen oder veränderlichen Teile des Meßritus, d. h. jene Teile, welche für jedes Feſt oder Offizium ihren eigenen Text hatten und vorzugsweiſe von den Sängern und dem Chore borgetragen wurden: Introitus, Graduale, Alleluja, Sequenz, Tractus, Offertorium, Communio und Boftcommunio; nur die nad den Feſten wechſelnde Präfatio wurde von den Prieftern jelbft gejungen. Dieje Gejänge vermehrten ſich mit der Zahl der Feſte und wurden in eigenen liturgijchen . Büchern (Troparien, Antiphonarien, Gradualien, Sequentiarien, Profarien und Prozejfionalien) geſammelt und meift prachtvoll ausgeftattet. Vor allem waren e& die Sequenzen, welde ſich im Laufe der Zeit zu längeren, aud für fi abgejhhloffenen und bebeutungspollen Kompofitionen entfalteten !.

8. Thalhofer, Handbuch ber katholiſchen Liturgik II, Freiburg i. Br. 1390, 70 ff 95—117 292 293. L. Gautier, Histoire de la possie liturgique au moyen-äge, Paris 1886. Dreves, Analecta hymnica. Prosarium Lemo- vicense VII (Projen von Limoges aus dem 10. bis 12. Jahrhundert); Sequentiae ineditae VIII IX X XXXIV XXXVII XXXIX XL XLI® (Ghriftan von Lilien» feld) XLII XLIV.

Religiöje Lyrik und Hymnenpoeſie. 453

Wie die Meſſe ihren unabänderlihen Kern in den eigentliden Opfer: gebeten beſaß, jo hatte das Stundengebet einen joldhen feften Kern in ben vorgeichriebenen Pjalmen und Lektionen eines jeden Feſtes oder Tages. Beränderlih waren dagegen die Antiphonen vor und nah jedem Pſalm, die Reiponforien zwifchen Palmen und Lektionen, der Verſikel vor der Dration, vor allem aber der Hymnus, der gewöhnlich für jede Gebetsitunde ein anderer war!. Auch Hier war nun wieder der Tätigfeit der Dichter und ZTonfünftler ein reiches Feld eröffnet. Ihre Leiftungen wurden ebenfalls in reihgeihmüdten Büchern, den Hymnarien und Antiphonarien, gejammelt ?.

In den älteften Zeiten war die eigentlihe Kunſtlyrik im Stundengebet allerdings auf Hymnen beichräntt; für die übrigen beweglihen Teile des Offiziums wurden Berje aus der Heiligen Schrift oder fürzere Projajprüde, jeltener eigentliche VBerje verwendet. Der unverfennbare Vorteil war, daß die einzelnen Teile des Offiziums dadurch größere Gleichartigfeit erlangten, und obwohl metriſcher Kunft entratend, beſitzen 3. B. die Offizien der Hl. Agnes und des Hl. Martin eine poetiiche Schönheit, welche von feiner jpäteren metriichen Umgeftaltung übertroffen oder auch nur erreicht wird. Bereit? vom 9. Jahrhundert an treten indes Offizien auf, deren Verfaffer es fih angelegen fein ließen, nicht nur die Hymmen, fondern aud die Antiphonen, Berfitel und Reſponſorien metriſch zu geftalten und jo gemiljer- maßen dem ganzen Offizium einen metrifchen oder rhythmiihen Rahmen zu verleihen. Dabei wurde aud) zugleich angeftrebt, die einzelnen Zeile zu einem möglichſt vollftändigen und treffenden Gejamtbilde des Feftheiligen oder des Freftgeheimnifjes zu machen. In den Antiphonarien wurden deshalb joldhe Offizien nicht unpafjend mit dem Titel Historia (rhythmata oder rimata) eingetragen. In neuerer Zeit ift ihnen aber der Name „Reimoffizien“ bei- gelegt worden. Auf die Offizien, die vom 9. bis zum Ende des 12, Jahr: hundert3 verfaßt wurden, paßt derjelbe weniger, da die Antiphonen nod) boriwiegend in antik-metriſchen Yormen oder in rhythmiſchen Verſen ohne Reim abgefabt wurden. Vom 13. Jahrhundert an hat der Ausdrud aber jeine volle Beredtigung, da die Offizien ganz im gereimten Strophen ge- dichtet wurden 8.

Bon mehr als fünfhundert Heiligen find bis jet jolde Reimoffizien befannt; auf die Hl. Anna find ihrer einundzwanzig, auf die Hl. Margareta

! Dreves, Analecta hymn. Hymnarius Moissiacensis Il; Hymnarius Se- verianus (Neapel) XIV®; Hymnodia Hiberica (ſpaniſche Hymnen) XVI; Hymnodia Gotica (mozarabifche Hymnen) XXVII; Hymni inediti IV XI XIX XXII XXIII XL (Ehriftan von Lilienfeld) XLI® (Boncore di Santa Vittoria) XLIII.

Thalhofer a. a. O. II 398.

Cl. Blume 8. J. Zur Poefie des kirchlichen Stundengebetes im Mittelalter (Stimmen aus Maria-Laach LV [1898)] 132—145).

454 Siebzehntes Kapitel.

fiebzehn, auf die hl. Barbara ſechzehn, auf die hi. Urfula vierzehn, auf andere Heilige ſechs bis zwölf folder Offizien vorhanden !,

Die große Verbreitung diefer Kunftform fcheint mit der Gründung und außerordentlih rajhen Ausbreitung des Franziskanerordens zuſammen— zuhängen, deſſen Heilige (Franziskus, Antonius, Klara, Elifabeth) bald nad ihrem Tode in allen Ländern zu hoher Volfstümlichkeit gelangten.

Zwiſchen 1228 und 1249 verfaßte der deutiche Franziskaner Julian bon Speier (Theutonicus), Chormeifter im Franziskanerkonvent zu Paris, Zert und Muſik zu den zwei Reimoffizien auf den hl. Yranzisfus von Aſſiſi und den Hl. Antonius von Padua, melde fi durch die zahlreichen Niederlaffungen des Ordens raſch in allen europäifchen Ländern verbreiteten ?. Dei dem erfteren Offizium bejchränft ſich jeine Autorſchaft allerdings auf die Antiphonen und auf die mufifaliihe Kompofition; die Hymnen dazu verfaßten Papft Gregor IX. umd die Kardinäle Thomas von Gapua, Rai: nerius Gappocius bon PViterbo und Otho Gandidus de Alerano. Julian bleibt indes das nicht geringe Verdienſt, die biographiichen Lücken, welche die Hymnen offen ließen, in den Antiphonen jo kunſtvoll ausgefüllt zu haben, dab das ganze Offizium gewiffermaßen ein poetiſch verflärtes Lebens: bild des Heiligen darftellt, wobei der überaus reiche Stoff mit vollendeter Meifterihaft in die knappſte Form gedrängt ift, die Hangvollen Rhythmen in ſchönem Ebenmaß fi unter fih und mit der mufifaliihen Kompofition verbinden, das Ganze von der innigften, weihevollſten Frömmigkeit durch— weht ift. Ein ebenjo harmoniſches Gebilde ftellt das Reimoffizium des hl. Antonius dar, nur daß hier, wo das epiſche Element weniger Mannig- faltigfeit darbot, das lyriſche um fo voller zu feinem Rechte fam. „Das metriihe Schema hält die rechte Mitte zwijchen Einförmigfeit und Regel: lofigkeit, und die Reime find anmutig verjchlungen und oft wieder: tehrend.“

Die von Julian begründete Kunftform wurde, mit bald engerem bald freierem Anschluß, in einer Menge anderer Reimoffizien auf bie verfchiedenften Heiligen ſowohl des FFranzisfanerordens als auch andere angewandt, jo auf bie hl. Klara (G.Dreves, Analeeta hymnica V 157 f XXV 209 ff), die fünf Franzisfanermärtyrer in Marotto (XXVIII 148 ff), ben hl. Bernhardin von Siena (XXV 152 ff 156), ben hl. Bonaventura (XXV 172 ff), die Wundmale des hl. Franziskus (XXVI 42 fi), die hl. Elifabeth von Thüringen (XXV 253 ff 260 ff), ben heiligen Einfiebler Antonius (V 123 ff), den hl. Ludwig (XIII 192 ff), den hi. Biltorin (XXIV 281 ff), den bl. Benedilt (XXV 149 ff), den hl. Eleazar (XVIII 58 ff), den heiligen Einſiedler

!Dreves, Analecta hymn. Historiae Rhythmicae V XII XVII XXIV XXV XXVI XXVII; Orricus Scacabarotius, Liber officiorum (Mailand) XIV»; Hymnodia Hiberica (Reimoffizien aus fpanifchen Brevieren) XVII XLI- (Ehriftan von Lilienfeld).

:%. €. Weis, Julian von Speier, Münden 1900.

Religidfe Lyrik und Hymnenpoeſie. 455

Paulus (XXVIII 121 ff), die HL. Urfula (XXVIII 249 ff), die Hl. Petronilla (XXIV 259 ff), den HI. Hieronymus (XXVI 117 ff) und anbere mehr.

Erzbiſchof Birger von Upfala feierte die hl. Birgitta von Schweden noch vor beren Heiligiprehung in einem ſolchen Reimoffizium (XXV 166 ff); ein ähnliches verfahte der Priefter Johannes Benehini auf die Übertragung ihrer Reliquien von Rom nad) Wadſtena (XXV 159 ff) und auf ihre Toter, bie hl. Katharina von Schweden (XXVI 219 ff).

Sohn Pelham, Erzbifhof von Canterbury (geft. 1292), verfahte ein ſolches Offizium auf das Feſt der allerheiligften Dreifaltigkeit, das fih durch Tiefe der Ge- danken, Majeftät der Sprade und Leichtigkeit des Rhythmus auszeichnet (V 19 ff); der engliſche Kardinal Adam Eafton (geft. 1397) ein liebliches Offizium auf das Feſt Mariä Heimfuhung (XXIV 89 ff), weldem ein anonymes Franzisfaneroffizium auf dasjelbe Feſt (XXIV 98 ff) durchaus ebenbürtig ift.

Mögen außer den Reimoffizien Julians von Speier auch noch mande andere Reimoffizien als Proben des „Wunderbaues der mittelalterlichen Kunftformen“ gelten, „in welchen Sänger und Dichter gemeinfam unüber: troffene Kunſtwerke geſchaffen haben“ 1, jo gehen viele andere doch ſchon über die Sceidelinie hinaus, wo die Kunſt zur Künftlichkeit, die Fertigkeit zur Bradour oder Routine, die Fülle des Reims zum Gingjang wird. Wie zuvor für den Aufbau des Hexameters fünfzehn verſchiedene Schablonen unterjhieden worden waren?, fo ftellt ein Theoretifer, Magifter Tybinus, für die gereimten Rhythmen nicht weniger als vierzehn verſchiedene Weiſen auf, die, wenn fie auch recht Hangvoll lauten, fi) doch bedenklich den Spielereien der Meifterfänger nähern®. Im ganzen dürfte die Kirche auch in fünftlerifcher Hinfiht das Richtige getroffen haben, wenn fie im römiſchen Ritus der älteren Entwidlung treu geblieben ift und den Reimoffizien nicht geftattete, da8 ganze Gebiet der liturgiſchen Hymnik mit ihren fünftlichen Gebilden zu überwuchern.

Der frommen Sangesluft der verfchiedenen Orden wie der einzelnen wurde dadurch fein weſentlicher Eintrag getan. Dies bezeugen die zahl: lojen Reimgebete und Lejeliever, welche zum Zeil ein Widerhall der litur: giſchen Poeſie find, zum Zeil auch jelbftändig weithin in allen chriftlichen Ländern des Mittelalter gedichtet wurden *.

MW. Meyer, Der Ursprung des Mottets (Nachrichten der k. Geſellſchaft der Wiſſenſch. zu Göttingen. Philologiich-hiftorifche Klafie. Heft 2, ©. 114).

® Retrogradi, Alternati, Dactyliei, Ianuarii, Tripodantes, Claudicantes, Con- iugati, Quadrigati, Leonini, Concatenati, Crucifixi, Reciproci, Caudati, Intereisi, Differentiales. Nad einer Handſchrift des 15. Jahrhunderts. Cod. Vatican. Pala- tinus 719, fol. 152’ ff bei Dreves, Analecta hymn. XVII 6—9.

® Cephalicus, Caudatus, Pyramidalis, Convolutus, Collateralis, Laqueatus, Catenatus, Triangularis, Excellens, Cruciferus, Cruciatus, Vehemens, Interstitialis, Laboriosus. Tractatus de rithmis vel rithmoram magistri Tybini. Nad) einer Handſchrift des Kloſters Seitenftetten. Cod. CVII bei Dreves a.a. O. V 13—15.

* Gefammelt bei Dreves, Analecta hymn. Pia Dietamina XV XXIX XXX XXXI XXXU XXXIU; Cantiones Bohemicae (Leiche, Lieder und Rufe des 13., 14.

456 Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel. Die Scolaftiker und Myſtiker.

Die gewaltige Geiftesarbeit, welche die Kirchenväter, beionder& Gregorius von Nazianz, Gregorius von Nyſſa, Hilarius und Auguftinus, in philo- ſophiſcher Durhdringung der Kriftlihen Offenbarung geleiftet hatten, blieb nicht unfruchtbar. Bereits Glaudianus Mamertus, Priefter zu Bienne (geft. 477), entwidelte in einer Schrift gegen den Semipelagianer Fauſtus bon Rhegium die wejentlihen Grundzüge der fpäteren Pſychologie mit be— wundernswerter Schärfe und Klarheit!. Auch der reihe Schatz philoſophiſcher Kenntniffe, welchen Boöthius durch feine Überfegungen und Erklärungen antiker Schriftfteller wie durch feine eigenen Werke den Zeitgenoffen eröffnete, fand vielfache und eifrigfte Verwendung. Durch Gaffiodor, Yfidor, Beda, Alkuin, Hrabanus Maurus und deren Schüler ward die Erbſchaft der antifen und patriftiichen Philojophie in reihlidem Umfang verbreitet und den folgenden Jahrhunderten überliefert. Wurden aud die ipefulativen Fragen der Philojophie und Theologie mehr mit Rüdjiht auf die Bibel, die religiöjen Sontroverfen des Tages und das kirchliche Predigtamt ftudiert, jo erihien nun doch aud die Zeit, wo die Dialektik auß den engeren Grenzen, welche ihr das Trivium gewährte, hinaustrat und fid an den Ordensihulen und Univerfitäten zur Scolaftit, d. h. zur ſyſtematiſchen Philojophie und jpefulativen Theologie, entfaltet. Der Name Scholaſtiker ging von den Lehrern des Triviums und Quadriviums auf die Lehrer diejer erweiterten Philojophie und Theologie über, welche entiprechend den Namen Scholaftif erhielt.

AB der erſte der Scholaftiter wird gewöhnlih Johannes Scotus (Erigena) genannt, den Karl der Kahle 843 an die Hofihule (Schola palatina) zu Paris berief und der wahrſcheinlich um 877 in Frankreich farb; doch fann ihm die Begründung der Scholaftif ſchon deshalb nicht zugefchrieben werden, weil er fi in jeinen Spekulationen vorzugsweiſe an die Neuplatoniker anlehnte und durch pantheiftiiche Irrtümer völlig von der firhlihen Lehre abwich. Auch die auf ihn Folgenden theologischen Gelehrten

und 15. Jahrhunderts) I; Reimgebete des Konrad von Haimburg und Albert von Prag II; bes Ulrih von Weſſobrunn III VI; bes Ehriftan von Lilienfelb XLI>; Cantiones et Muteti XX XXI; Psalteria Rhythmica XXXV XXXVI XXXVII (Psalteria Wessofontana).

: De statu animae, herausgeg. von P. Moſellanus, Bajel 1520; A. Barth, Eygn. 1655; Migne, Patr. lat. LIII 697— 780; U. Engelbredt, Wien 1885 (Corpus seript. eccl. lat. XT). gl. R. de la Broise, Mamerti Claudiani vita eıusque doctrina de anima hominis, Parisiis 1900.

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find noch eher ala Vorläufer denn als eigentlihe Begründer der Scholaſtik zu betradten; jo Hrabanus Maurus, Eri von Aurerre, Remigius von Aurerre, Gerbert (Papft Silvefter II.), Fulbert von Chartres, Berengar von Tours, Lanfranc, Roscellin, Wilhelm von Champeaux. Erft Anjelm von Canterbury (1033—1109) kann auf diefen Namen wirklih Anſpruch machen. Denn wenngleid auch er fein vollftändiges Syſtem der Theologie aufgejtellt Hat, jo Hat er doch in Behandlung der wichtigften und ſchwierigſten dogmatiſchen Fragen (Verhältnis von Glauben und Wiſſen, Gotteserfenntnis, Menjhwerdung des ewigen Wortes, Erlöfung) der kirchlichen Spekulation die grundlegenden Bahnen angewiefen. Der weiteren Entwidlung ging aber zunächſt eine Zeit unruhiger Gärung und lebhaften Kampfes voraus, haupt: ſächlich hervorgerufen durch den hochbegabten, aber eiteln und jfeptiichen Abälard, der, in den Jahren 1102—1136 öfter Profefjor in Paris, an den verſchiedenſten Dogmen und an der Offenbarung jelbjt rüttelte und darum nicht nur andere hervorragende Gelehrte, fondern auch die Firchliche Autorität jelber wider fih in die Schranken forderte. Gegen feine Irrtümer erhoben ſich zunähft Walter von Montagne (Mauretanien), Kanonikus von St Victor, dann die Theologen Albreht und Lothar von Reims, der Eiftercienfer Wilhelm in Ligny (früher Abt don St Thierry) und der hl. Bernhard, Abt von Clairvaux. Nah langem Kampfe widerrief Abälard jeine Irrtümer und ftarb (1142) im Frieden mit der Kirche. Weniger gefährlih war der Kampf, den der hl. Bernhard gegen Gilbert de la Porre (Borretanus), Profeſſor zu Paris, dann 1142— 1154 Biſchof von Poitiers, zu führen Hatte!,

Den weiteren ſyſtematiſchen Ausbau der Theologie förderte der Eng- länder Robert Pulleyn (Pullus), BProfeffor in Paris und Oxford, dann (1144— 1153) Kardinal und Kanzler der römischen Kirche, beſonders aber der Italiener Petrus Lombardus, ebenfalls Profeffor, dann 1159 Biſchof von Paris. Obwohl er zeitweilig Abälard Hörte, ſchloß er fih doch früh an den hf. Bernhard an, und feine vier Bücher „Sentenzen“ (um 1140 ab-

BA. Stöckl, Geſchichte der PHilofophie des Mittelalters, 3 Bde, Mainz 1864—1866. B. Hauréau, Histoire de la philosophie scolastique®, 3 Bde, Paris 1872—1880. P. Haffner, Grundlinien der Geſchichte der Philojophie, 2 Bde, Mainz 1881. 3. €. Erdmann, Grundriß der Geſchichte ber Philo- fophie. 4. Aufl. bearbeitet von B. Erdmann I, Berlin 1896. Überweg, Grunbriß ber Gefhichte der Philofophie. 2. TI: Die mitilere ober die patriftiiche und fcholaftiihe Zeit. 8. Aufl. herausgeg. von M. Heinze, Berlin 1898. M. de Wulf, Histoire de la philosophie medi6vale, Louvain 1900, 3. Rleutgen, Theologie ber Vorzeit IV? Münfter 1878. ©. Willmann, Gedichte bes Idealismus II, Braunfhweig 1896. F. Ehrle, Die päpftlie Encyklika vom 4. Auguft 1879 (Aeterni Patris) und bie Reftauration der katholiſchen Philofophie (Stimmen aus Maria-Laad XVII [1830] 13—28 292—317 388—407 485—498).

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gefaßt) wurden raſch das beliebtefte Handbuch der Theologie, die Grundlage der weiteren ſcholaſtiſchen Entwidlung.

Auch ihm blieb übrigens Widerſpruch nicht eripart. Petrus von Poitiers, Johannes von Cornwall, Walter von Montagne und Gerhoh von Reichers- berg beftritten mehrere feiner Säge, und jpäter einigten fi die Parifer Theologen über 16 Lehrmeinungen des Lombarden, welche nicht allgemeine Annahme fanden.

Wie der Hl. Bernhard, jo wandten fih aud die jog. Victoriner, Hugo bon St Victor (get. 1141), Rihard von St Victor (gef. 1173), Walter bon St Victor (geft. 1180), dann Petrus Gantor (1194 zum Bijchof von Zournai erwählt), Rupert von Deuß (geft. 1135), Wilhelm von Thierry (geit. 1152), mehr der praftiichen und asketiſchen Seite der Firchlichen Wiffenichaft zu, welche man oft als „Myſtik“ der „Scholaftit“ gegenüber: zuftellen pflegt, welche aber tatſächlich mehr als deren praftiiches Ergebnis und notwendige Ergänzung zu betrachten ift.

Ihre volle theoretiſche Entfaltung erhielt die eigentlihe Scholaſtik erit im folgenden Jahrhundert dur die zwei Franziskaner Alerander von Hales (geft. 1245) und den Hl. Bonaventura (geft. 1274) und die zwei Dominifaner Albert d. Gr. (geft. 1280) und den Hl. Thomas von Aquin (geft. 1274). Das höchſte Anjehen als nahezu vollendeter und jedenfalls forreftefter Aus: drud der Firhlichen Lehre erwarb fich die Lehre des letzteren, zuſammen— gefaßt in feinen zwei Summen, näher erflärt in zahlreihen Einzelichriften.

Dem Gegenftande nah umfaßt die jcholaftiihe Philofophie das geſamte weite Stoffgebiet der Philofophie überhaupt: Logik, Dialektik, Metaphyſik, Theodicee, Kosmologie, Piyhologie, Ethik, Staatslehre und Gejellichaftslehre mit allen ihren Unterabteilungen. Man kann wohl jagen, daß die fchmwierigiten und jubtilften Fragen dabei mit dem tiefften Scharffinn unterfucht worden find und eine Menge Irrtümer auf das gründlidhfte widerlegt wurden, welche ſpäter im Laufe der Zeit fich marktichreieriih als neue Errungen: ihaften des Menjchengeifles breit gemadt haben. Auch dem Erfahrungs: wiffen und jpeziell der Naturbeobadhtung wurde alle Berüdfihtigung zu teil, welche der damalige Stand der Forſchung ermöglichte ?,

In ähnlicher Weile umfaßte die jcholaftifhe Theologie das gefamte Gebiet der übernatürliden Ordnung: Gott, Schöpfung, Erlöfung, Gnade,

! Gefamtausgaben feiner Werle von Giuftiniani und Manriguez, Rom 1570/71; Benebig 1593/94; €. Moralles, Antwerpen 1612 ff; Paris 1636 bis 1641; B. M. de Rubeis, Rom 1745—1788; Parma 1852—1873; Paris 1871 bis 1882, Vives; meue Ausgabe angeordnet von Papft Leo XIII., bis jet neun Bünde (1882—1899). Weitere Literaturangaben bei Mausbadh, Art. „Thomas von Aquin“ in Weker und Weltes Kirchenlerifon XI? (1899) 1626—1661.

5. v. Hummelauer, Die Kriftlihe Borzeit und die Naturwiſſenſchaft (Stimmen aus Maria-Laach XVII [1879] 388 ff; XVIII 140 ff 281 ff 408 ff).

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Glauben, Tugenden, Sakramente. Fußend auf den Quellen der Heiligen Schrift und der apoſtoliſchen Überlieferung fuchte fie erftens die einzelnen Lehren wiſſenſchaftlich (durch Vernunftihlüffe) aus den Glaubensquellen zu entmwideln und nachzuweiſen, zweitens fie wider gegneriiche Einmwürfe zu ver— teidigen, drittens fie joweit möglich aud mit Hilfe der menſchlichen Wiffen- haften näher zu beleuchten und zu durchdringen.

Eine vernünftige, echt wiſſenſchaftliche Freiheit der Unterfuhung wurde durch die jcholaftiiche Methode nit nur im allgemeinen begünftigt, fondern auf die Behandlung der geringften Einzelfragen ausgedehnt. Denn wurde auch den Vorlejungen meift ein erprobtes Handbuch zu Grunde gelegt, jo war doch nit nur dem Profeſſor in defjen Erklärung ein jehr weiter Spielraum eröffnet, auch die Theſen jelbft wurden in Form von ragen gekleidet, der Antwort die gewichtigften Einwände entgegengeftellt und erörtert; nad der gegebenen Löjung des Profefford wurde duch die Disputationen die gefamte Frage nod einmal oder wiederholt der eingehendften Diskuſſion unterftellt, jelbit die frafjeiten und verfänglichiten Irrtümer als Einwände vorgebradt, durch— geſprochen, bis ins Heinfte unterfuht. Wenn die Kirche dann durd Verbote dafür forgte, daß ſolche gründlich widerlegte Irrtümer nicht die Wahrheit verdrängen und an ihrer Stelle verbreitet werden fonnten, jo bat fie fi damit um Freiheit und Wahrheit zugleih das höchfte Verdienft erworben.

Was aber die vielangefochtene Schulſprache der Scholaftit betrifft, jagt Paulſen mit Recht: „Wenn barbariſch reden andentet: anders reden, als die Römer zu Ciceros Zeiten redeten, dann ift das mittelalterliche Latein ohne allen Zweifel barbarijch, nicht viel weniger als Franzöſiſch und Deutſch. Wenn man dagegen unter barbarifch reden nicht diefe zufällige Abweichung verftünde, jondern allgemein: unangemefjen zum Inhalt reden, ohne Sprad: gefühl reden, mit überallher zufammengerafften, an diefem Ort unpaffenden und finnlojen Phrafen reden, dann dürfte der Vorwurf der barbarifchen Rede den Humaniften häufiger zu machen jein als den mittelalterlihen Philo— jophen und Theologen. Für die wilfenshaftlihen Unterfuhungen der letzteren ift ihre Sprache vielleicht nicht weniger paſſend und notwendig als ber ariftoteliihe Stil für die Vhilofophie. Alle die neugebildeten abjtratten Aus: drüde: substantia, essentia, existentia, quantitas, qualitas, identitas, quidditas, haecceitas, wie fie von humaniftiiden Schwäßern den Gaffern al3 monstra und portenta vorgeführt zu werden pflegen, waren ein augen= ſcheinliches Bedürfnis jener begrifflihen Unterfuhungen. Die meiften find in unmittelbarer Anlehnung an die ariftotelii hen termini gebildet, und daß fie nicht überflüffige oder finnlofe Bildungen find, wird am beften dadurch bewieſen, daß fie troß aller Anftrengungen der Humaniften fi erhalten haben, jei es indem fie direft oder in Überfegungen in die modernen Spraden übergingen. Lobe jagt einmal, einer Sprade müßten in etwas die Glieder

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gebroden, die Bänder erweitert werden, damit fie ganz ſchmiegſam werde, dem Gedanken ſich anzupaffen. Diefen Prozek hat das Latein des Mittel: alter8 durchgemacht: jo mar es völlig geeignet zu fein, was es war: Die Univerjalfpradde der Wiffenjchaft.“ !

Mas den Hl. Thomas por den übrigen Scholaftitern auszeichnet, ift die organische Einheit des Syſtems und der meije Cfleftizismus im einzelnen.

„Obwohl der engliiche Yehrer bei den meiften vorausgegangenen Spitemen Anleihen gemacht hat, ift jein Geift doch am meiften mit demjenigen bes Ariftoteles verwandt. Er hat die peripatetiiche Philofophie erweitert; er hat vor allem die Möglichkeit einer chriftlich = peripatetiichen Philoſophie dar: getan, indem er, ganz im Geifte der Peripatetifer, jene Zeile der ariftote- liihen Lehre verbeiferte, wo Ariftoteles Hinter feinen eigenen Leiſtungen zurüdblieb oder fih von den fihern Wahrheiten des katholiſchen Glaubens entfernte.“ ?

Seine Summa, das großartigfte ſyſtematiſche Lehrgebäude der chrift- lichen Weltanfhauung, das bis dahin je entworfen worden, wurde mit vollem Recht mit herrlihen Domen vergliden, in melden um eben dieſe Zeit die gotiſche Baukunft ihre jchönften Triumphe feierte. Es ift ein und derjelbe riftliche Geift, aus dem beide hervorgegangen, der materielle Bau, der, im munderbarer MWeije den Erlöſer beherbergend, in allem Reichtum irdiſcher Pracht gleihjam Menſch und Schöpfung Huldigend in die Höhen emportrug und der geiftige Bau, der, alles profane Willen der Offen: barung unterordnend, die gejamte Welt der Ideen von der Erde empor auf das letzte und höchfte Ziel, die ewige Wahrheit und Liebe, richtete.

In der Form gleiht Thomas vollftändig feinem großen Lehrer Ariftoteles, dem er aud auf philojophiichem Gebiete folgt, joweit es möglih if, wie er nüchtern, ruhig, klar, von der fihern Erfahrung zum ſcharfen Begriff, von ſcharfen Begriffen zu feſten Prinzipien auffteigend, das Zuſammengeſetzte mit Adlerblick bis in feine Hleinften Beftandteile zergliedernd und wieder zu höheren und immer höheren Kategorien verbindend, jcheinbar aller Poeſie und Phantafie fremd, die Organijation der Wejen wie ein kalter Anatom zerjegend, die großen faufalen und teleologischen Fragen des Kosmos wie ein froftiger Rechenmeifter erwägend, ja die Menjchenjeele und das Göttliche ſelbſt nad) unbeftehlihen bialektifhen Formeln unterfuhend und doch, aus diefem ſcheinbar mechaniſchen, formaliftiichen Syſtem zahllojer Fragen und Ant: worten, Ginwürfe und MWiderlegungen, erhebt fih nad und nad ein Welt:

ı 5. Paulfen, Gedichte des gelehrten Unterrichts an den deutſchen Schulen und Univerfitäten, Leipzig 1885, 27 28. ®’M. de Wulf, Histoire de la philosophie medisvale, Louvain 1900, 290.

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plan, der die Lüden der ariftoteliihen Philoſophie ausfült und fih in erhabener Jdealität weit über die ſchönſten Träume Platos erſchwingt; aus diejem jcheinbar minterlihen Gerippe eines Riejenbaumes erblüht Dantes Himmeldrofe und umftrahlt Gott, Welt und Menih, Zeit und Emigteit mit dem Lichte der Verklärung.

Sp wenig die ſcholaſtiſche Methode und nüchterne Terminologie dazu angetan waren, unmittelbar die Literatur zu begünftigen, jo fruchtbar und ſegensvoll war der mittelbare Einfluß der ſcholaſtiſchen Doktrin die Klarheit, Schärfe und Kraft, welche fie dem Geifte verlieh, das Gefühl der Sicherheit, das ihre fefte Syftematif herborrief, die Harmonie, welche fie zwiſchen Wiſſen und Glauben herftellte, und die Univerjalität, mit welcher fie alles Erfennbare in ein großes, einheitliches Syftem ordnete. Der Dichter, der ihr folgte, brauchte fih nicht erft mühjam eine eigene Weltanihauung zu zimmern; er konnte fih ganz und gar feinem fünftlerijchen Stoffe Hin- geben, ohne von quälendem Zweifel und innerem Kampfe hin und her ge: trieben zu werden.

Wir finden daher unter den Vertretern der Scholaftit von ihren erften Anfängen bis an den Schluß des Mittelalter durchaus feine Abneigung oder feindliche Stellungnahme zur Poefie, vielmehr find zahlreihe von ihnen, und darunter einige der berühmteften, jelbft als Dichter zu verzeichnen, aller: dings ihrem geiftlihen Stande gemäß nicht als weltliche Poeten, fondern als Verfafjer kirchlicher Hymnen, von welchen manche bleibend in den litur: giihen Gebraud übergegangen find, oder anderer Iyrifcher und didalktiſcher Gedichte von vorwiegend ernflem, religiöfem Gehalt. Wie aber in dem bunten und freien Leben und Treiben des Mittelalter, in feinen kirchlich-politiſchen und religiöfen Kämpfen der Klerus nicht immer ausnahmslos feinen hohen Idealen entſprach, fo läuft neben der erhabenen kirchlichen Hymnik, der tief- innigen myſtiſchen Lyrik, der mohlgemeinten Didaktit auch vieles Weltliche, Leihtfinnige, mitunter entſchieden Tadelnswerte in der Geltalt der fog. Bagantenpoefie einher, oft in harmloſer Komik und Lebensluft, oft auch mit parodiſtiſchem Beigeſchmack, oft aud das Erzeugnis von hämiſcher Spott: ſucht und ſittlicher Verkommenheit. Unter den Bertretern der höheren und würdigeren Poefie aber begegnen uns ſowohl ſolche, melde die bisherigen Hormen der firhlichen Hymnik weiter pflegen und noch funftvoller ausbilden, al3 auch ſolche, welche größere Vertrautheit mit den altklaffiihen Dichtern und deren poetiichen Formen verraten. Alle diefe Elemente finden fih vom 11, Jahrhundert an faſt beftändig nebeneinander, jo daß fie fih aud im der Darftellung kaum auseinander halten laffen, wenn man nicht das bunte Bild zerflören will, das aus ihrer Gleichzeitigfeit ſich ergibt.

Sehr bezeichnend ift es auch, dab dem größten der mittelalterlichen Päpfte, Innocenz III., ebenfalls Hymnen zugefchrieben wurden, wenn

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jeine Autorſchaft auch nicht kritiſch nachgewieſen if. Der ſchlichte, Fromme Hymnus Ave mundi spes, Maria! hat jogar Eingang in feine geſammelten Schriften gefunden !.

Denn einige Verehrer den Aguinaten für den größten Dichtergenius des Mittelalters erklärt haben, jo ift dies wohl des Guten etwas zu viel. Jedenfalls aber verdient e& Bewunderung und ift al3 ein Ausdrud der fernigen, geiftigen Gejundheit und der harmonischen Bildung des Mittel- alter3 zu betradhten, daß jein größter Theologe und Philoſoph poetiſches Gefühl und fünftleriihe Sprachgemwandtheit genug beſaß, um das römiſche Miffale und Brevier mit einem feiner jchönften Feftoffizien, demjenigen des Fronleichnamsfeſtes und jeiner Feltoltav, zu bereichern. Die „Lektionen“ ſprechen nicht nur in klarer Deutlichkeit, jondern auch mit ergreifender Salbung die neuteftamentlihe Grundlage und die patriſtiſche Überlieferung des Felt: geheimniffes aus; die „Pjalmen und Antiphonen“ rüden fie in die poeſie— volle Beleuchtung altteftamentlicher Typik; die prachtvollen Hymnen endlich Lauda Sion, Sacris sollemniis, Pange lingua, Verbum supernum prodiens verbinden all jene Elemente voll zündender Begeifterung mit dem himmliſchen Wunder der jaframentalen Gegenwart Ehrifti, das triumphierend dur die gefamte Welt: und Menſchengeſchichte Hinzieft und, wiederum typiſch, die Wonne ewiger Seligteit vorbedeutet. Dabei klingt da® Verbum supernum nod an die jchlichten, fraftvollen Hymnen des Ambrofius an, da3 Pange lingua an die alten Rhythmen des Prudentius, das Lauda Sion und das Sacris sollemniis an die reidheren, volleren und belebteren Formen mittelalterliher Hymnif. Jeder diefer Hymnen ift für fich ein Juwel lyriſcher Poeſie. Ihren Vollwert erlangen fie jedoch erjt in dem überherrlichen Kranze des liturgischen Tyeftgebetes, in weldem aller Jubel, alle Andacht, alle Liebe, alle Seligkeit des Fronleihnamsfeftes ihren adäquaten künſtleriſchen Ausdrud gefunden haben. Es weht hier derjelbe Geift, der die mittelalterlichen Dome geihaffen. Wer nicht an die jaframentale Gegenwart Chriſti glaubt, dem wird das Feltoffizium des hl. Thomas, wie der Kölner Dom, mehr oder weniger als eine Verirrung jpielender Phantafie erjcheinen, wenn aud der Eindrud faum zu bermeiden fein wird, daß beides jhön, großartig, von himmliſcher Infpiration getragen ift.

Den Schlußftein des Liturgifchen Gewölbes bifden die monumentalen Verſe, denen in der gefamten Hymnik faum etwas Gleihwertige: am Die

! Innocentii lIl. Papae Hymnus De Christo et beatissima Virgine Maria dignissima Matre eius. Ad quem certas et magnas contulit remissiones et in- dulgentias (Migne, Patr. lat. CCXVII 917—920), Auch bei Mone, Hymni latini II (1854) 324-826, nad) einer Handichrift zu Mainz (Aug. n. 438, Bl. 63) mit dem Vermerk: Innocentii Papae, habens XL dierum indulgentias. Eine andere Mainzer Handſchrift aus gleicher Zeit gibt aber Papft Cöleftinus als Verfaſſer an.

Die Sholaftifer und Moftiter. 463

Seite gejeßt werden kann, meil fie die gejamte chriſtliche Heilsordnung, in tieffter Igriicher Empfindung, auf die fürzefte Form zufammendrängen:

Se nascens dedit socium,

Convescens in edulium,

Se moriens in pretium,

Se regnans dat in praemium,

mit der ergreifenden Bitte, die im Leben und im Tode des Chriften Hoffen und Sehnen zujammenfaßt:

O salutaris hostia,

Quae caeli pandis ostium;

Bella premunt hostilia,

Da robur, fer auxilium !

Um aber den vollen Jubel des Fronleichnamsfeſtes, einen Vorgeſchmack des ewigen, himmlischen Zriumphes Chrifti auszudrüden, hat Thomas von Aquin zu der reicheren, volleren Strophenform Adams von St Victor ge griffen und den herrlichen Hymnus angeftimmt, der heute noch die Prozeifion des heiligen Sakramentes durch alle Länder des Erbfreifes Hin begleitet:

Lauda Sion Salvatorem, Lauda ducem et pastorem

In hymnis et canticis. (Quantum potes, tantum aude, Quia maior omni laude,

Nee laudare sufficis.

In derjelben Strophe hat gegen Ende des 13. Jahrhunderts, nad ziemlich verbreiteter liberlieferung, Jacopone da Todi jene tief ergreifende Sequenz gedichtet, welche die Marienklagen früherer Zeiten in die fchönfte, ihlichtefte Form brachte und duch Aufnahme in das römiſche Meßbuch das marianiſche Paſſionslied der abendländiihen Kirche geworden if. Die ge: feiertften Mufifer haben geweiteifert, dem unübertrefflihen Text einen eben- bürtigen muſikaliſchen Ausdrudf zu verleihen. Tauſende, die der Kirche nicht angehörten, haben ji daran erbaut. Walter Scott hat fi auf dem Todes- bette daran getröftet. Jeder kennt es, und es ift überflüffig, etwas zu feinem Lobe zu jagen. Keine Pieta fann in Marmor die Teilnahme der Gottes- mutter am Kreuzwege des Welterlöſers erjchütternder vergegenmwärtigen als dieſes wunderfame Lied,

Dasjelbe Versmaß, wenn aud) in etwas anderer ftrophiicher Anordnung, wandte um die Mitte des 13. Jahrhunderts der Franzisfaner Thomas de Gelano an, der erite Biograph des hi. Franziskus und zeitweilig Oberer jeines Ordens in den Rheingegenden, um, voll des innigften Reuejchmerzes und Bußgeiſtes, ſich in die Schreden des künftigen Weltgerichtes zu ver—

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jenfen und in demütiger Zerknirſchung zu dem einftigen Richter empor- zuflehen. Das monumentale Gedicht Dies irae, das noch jebt in jeder feierlihen Trauermefje erfhallt und das ebenfalls die größten Komponiſten beidhäftigte, hat felbft einen Goethe zu erjhüttern vermodt ; die Erinnerung daran hat in feinem „Fauſt“ auch die Runde durch die moderne, vom Chriſten— tum ganz oder teilweiſe abgefommene Welt gemacht und gemahnt fie noch heute, daß die poetiiche Kunft des Mittelalters den Vergleih mit der Poeſie jpäterer Zeiten nicht zu ſcheuen braucht, ja dab diefe noch im hohem Mae von ihrer Erbſchaft zehrt.

Mit diefen großartigen Sequenzen haben wir den Höhepunkt kirchlicher liturgiſcher Hymnik erreicht. Unzweifelhaft ftehen fie nicht Hinter dem Schönften und Erhabenften zurüd, was antike Lyrik hervorgebracht. Mit ihnen ift aber der Schatz der kirchlichen Hymnik nod lange nicht erſchöpft. Nicht äſthetiſche, ſondern praftifche Gefichtspunfte nötigten die Kirche, eine Menge der herr: fichften religiöfen Gefänge, welche ſchon weite Verbreitung gefunden hatten, wieder aus dem engeren liturgijchen Gebiet zurüdzudrängen und der poetijchen Tätigkeit fpäterer Geſchlechter ebenſo Zutritt umd Spielraum zu gewähren wie jener der vorausgegangenen Jahrhunderte. Seine einfeitige Geſchmacks— rihtung wird fi darum von der allgemeinen Liturgie wohl völlig befriedigt fühlen; aber die fcheinbar widerftreitenden Erzeugniffe verjchiedener Zeiten wachſen doc zu einem höheren Ganzen zufammen, das durch feine ehrwürdige geihichtlihe Vergangenheit, feine Mannigfaltigteit der Formen, feine Einheit des Geiftes auch der äfthetiichen Schönheit nicht entbehrt.

Die fromme Sangezluft hielt fih aber nicht in den engen Schranfen des liturgifchen Gejanges, jondern flutete weit darüber hinaus in den ber: ſchiedenſten Formen religiöfer Lyrik, und wenn auch die Volksjeeljorge, welder die beiden großen Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner fi vorzugs⸗ weiſe wibmeten, mehr die Entwidlung der Volksſprache und deren Literatur begünftigen mußte, haben fie fih doch auch vielfah an der lateinifchen Dichtung beteiligt.

Wie der hl. Thomas von Aquin, ift aud) der hl. Bonaventura, der größte Theologe des Tyranzisfanerordens, den Dichtern beizuzählen. Ein ergreifender „Lobgejang auf das heilige Kreuz“ ift ihm ziemlich ficher zu— zufchreiben. Außerdem haben zwei Liederfränze auf das Leiden Chriſti und auf die feligfte Jungfrau, ein Gedicht auf die fieben Worte Chriſti am Kreuze und ein langes myſtiſches Gedicht, „Philomena“ betitelt, in feine Werke Aufnahıne gefunden. Jedenfalls atmen fie feinen Geift und ent- ſtammen dem Kreiſe feines Ordens, diejer fruchtbaren Schule des geiftlichen Minnefangs. Das gilt zumal von dem „Nachtigallenlied“, der „Philomena“. Der Inhalt läßt feinen Zweifel übrig, daß mit diefem Namen der lieblichite aller Frühlingsfänger gemeint ift. Denn an die Imigkeit und Glut des

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Nachtigallengeſanges knüpft fih offenbar die Vorftellung, daß die Nachtigall vor Anftrengung eigentlih de3 Sängertodes fterbe, eine Vorftellung, melde der Dichter dann allegoriih auf die Ffirhlihen Tagzeiten und auf das Gebetäleben der gottliebenden. Seele überträgt, im jehr myſtiſcher, aber zu- gleih auch in fehr poetifcher Weife.

Benzesbotin, Nachtigall, die du, wenn hernieber

Nicht mehr trüber Regen raufcht, wenn es Frühling wieder, Dringen läßt in jede Bruft beine weichen Lieber,

Lente, finnig Vögelein, zu mir bein Gefieder!

Komm, o fomm! Wohin zu ziehn mir nicht würb’ gelingen, Zu dem fernen Freunde follft, Vöglein, du dih ſchwingen, Scheuchen feines Herzens Gram dur dein fühes Singen,

Da mein Wort zu feinem Ohr nicht vermag zu dringen.

MWoll’ denn, frommes Vögelein, diefen Mangel heben Und dem Freund mit fühem Gruß davon Kunde geben, Wie die Wünfche meiner Bruft immerdar mit Beben Nach des lieben Angefihts Wiederfehen ftreben.

Früge einer, warum id) grad’ bein fühes Lallen Mir zum Boten auserjehn, wiſſ' er, daß erſchallen Ich von bir Hört’ eine Hund’, die gewiß von allen Unferm höchſten Herrn und Gott ſonderlich gefallen.

Höre benn, Geliebtefter, was ich dir erzähle:

Werden Fannft du jelber auch, birgft bu in ber Seele, Ihn nahahmend, den Geſang diefer Liederkehle,

Mit bes Geiftes Hilfe zur Himmelsphilomele.

Fühlt das Vöglein feinen Tod nahn fo geht die Sage —, Fliegt's auf einen hohen Baum, auf daB, eh’ es tage,

Der melodiſche Geſang, der mit lautem Schlage

Seinem Schnäbelein entftrömt, himmelan e3 trage.

Holde Lieder fingt ed Schon vor Aurorens Schimmer, Doch zur erften Stunde bei frühjtem Sonnenflinmer Tönet immer lieblicher fort fein jüh Gewimmer,

Denn im Singen tennet es Raft und Ruhe nimmer.

Um die dritte Stunde, da fih’s nicht mehr bezwinget,

Map zu halten, weil die Freud’ ganz fein Herz burddringet, Ihm das krankgewordene Kehlchen fat zeripringet,

Weil’s bei immer höh’rer Glut hoch und höher finget.

Aber wenn der Mittagszeit Sonnenftrahlen ſprühen,

Dann zerreißt fein Eingeweid’ heiß'res Liebesglühen,

„Ozi! Ozi!“ ruft es aus jeßt wie in der Frühen,

Bis die Sinne ihm vergehn vor Gejangesmühen. Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 30

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Zudend mit dem Schnäblein nod, als ihr Lieb verflungen, Sintet Philomena hin, die nun ausgefungen ;

Um die neunte Stunde find ihr ans Herz gebrungen Zodesihaner und bes Leibs Adern aufgefprungen.

So ift dieſes Vögleins Art; und wenn du daneben Ob’ger Meldung bift gedenf, wirft, geliebtes Leben, Du verftehn, wie im Gefang biejes Vögleins eben

Wunderbar von Ehrifti Bund Kunde wird gegeben.

Denn ein Sinnbild ift, wie mich bünfet, Philomele Einer tugendreichen und liebevollen Seele,

Die, des ew'gen Baterlands eingeben, ber Kehle Des Gejanges Strom entlodt rein und ohne Fehle.

Höher ihre heilige Hoffnung nod zu heben,

Ward ihr der geheime Sinn eines Tags gegeben:

Was der Menſch aus Gottes Hand hier empfing im Leben, Stellen vor bie heiligen Tageszeiten eben.

Frühſte Morgendämmerung, Zeit der Matutinen,

Zeigt, wie Gott ben Menſchen ſchuf treu nad feinen Mienen, Prima, wie den Menſchen er drauf im Fleiſch erichienen, Tertia, wie er alsdann lebte unter ihnen.

Wie er dann fo zeiget bie jechite diefer Stunden Ward gegeikelt und gehöhnt, angeipien, gebunden, Wie er ward gefreuzigt, wie Nägel ihn verwunden, Ad, und um fein heilig Haupt Dornen find gewunden.

Um die neunte Stunde dann haudt er aus fein Leben, Da am Ziel des Kampfes nun angelangt fein Streben; Überwunden fiehet fih Satanas mit Beben;

Und der Gruft wird Ehrifti Leib abends übergeben.

Diejed Tages eingebenf möchte in Gedanken

Hoch empor am Kreuzesftamm fi die Seele ranfen, Dran ber ftarfe Leu gebradt feinen Feind zum Wanken, Er, vor deſſen mächt'ger Hand Todespforten janfen.

Gleih aufs neue find geftimmt ihres Herzens Saiten, Wieder läßt im Dämmerlicht fie Gefang entgleiten Ihrem Buſen und bes Lieds holde Lieblichkeiten,

Dem, der wunderbar fie ihuf, Lob und Preis bereiten,

„Guter Schöpfer“, fingt fie, „als du mid riefjt ins Leben, Deiner Güte reihftes Maß haft du mir gegeben,

Die du ohne ihr Verdienſt Liebteft, wollt'ſt du eben

Zur Genoffin deines Lichts Tiebend and erheben.

O wie wurden mir zu teil wunderbare Ehren,

Da der Herr nad jeinem Bild mich erſchuf, und mehren Würd’ fich noch des Glüdes Maß, wenn die ew'gen Lehren Und Gebote Gottes nicht Üübertreten wären!

Die Scholaftifer und Myſtiker. 467

Denn dein Wille war, daß ich ganz mich dir verjchriebe, Daß es ſtets zum Heimatland himmelwärts mich triebe; Nähren, lehren wollteft bu mid, o höchſte Liebe,

Wie ein Kind, damit id auf ewig mit dir bliebe.

Seitdem in der Engel Schar ganz mid; einzureihen, Haft du gar beſchloſſen, dich ſelbſt mir zu verleihen; Wie laſſ' ih für ſolche Huld Dank dir angebeihen? Andres nicht als meine Lieb’ hab’ ich dir zu weihen.

D du einz’ge Süßigfeit, o bu einz’ge Labe, Weide aller liebenden Herzen bis zum Grabe! Was an Leib und Seel’ ich bin, alle meine Habe Din zu Füßen leg’ ich fie dir als Opfergabe!“

„Ozi!“ fingt ein folches Herz, jelig no in Plagen, Singt, wie der Geſchöpfe feins je ſich dürf' verfagen, Einen ſolchen Schöpfer in reinfter Bruft zu tragen, Deffen Herz für fein Geihöpf alfo warm gejchlagen ',

In den übrigen 66 Strophen führt der Dichter dann nod eingehender das Gebetäleben der gottliebenden Seele und deſſen Berbindung mit dem Leben und den Geheimniffen Ehrifti aus, mit einer bezaubernden Innigkeit und Schönpeit, wie fie nur dem gotterfüllten Herzen eines Heiligen ent— ftrömen konnte. Die liebevolle Auffaffung der fihtbaren Natur, das findliche Berjenten in die Jugendgeheimniffe Chriſti und das begeifterte Umfangen der Demut, Armut und des Kreuzes Chrifti gemahnen aber nicht minder an den Geift des Hl. Franziskus felbft, den, wenn einer, gewiß der hl. Bona— ventura ganz und ungeteilt in ſich aufgenommen batte?.

Bon den berühmten Seherinnen, welche durch ihr Tugendbeiſpiel tie durch ihre Brivatoffenbarungen einen mädtigen Einfluß auf die Myſtik und das religiöfe eben des Mittelalter ausübten, haben die meijten ihre Gefichte in ihrer Zandesipracdhe niedergejchrieben, die HI. Gertrud und die hl. Mechtild deutih, die Hl. Birgitta ſchwediſch. Auch die Hl. Hildegarbis, Abtiffin zu

! Strophe 1—24 überjeßt von 8, Dreves, Des hl. Bonaventura Nachtigallen— lied, Einfiebeln 1865. Bol. M. v. Diepenbrod, Geiftliher Blumenftrauf t, Sulzbah 1862, 302—333,

® In die neue Bonaventura-Ausgabe VIII (Ad Claras Aquas 1898) find aufgenommen: I. Laudismus de sancta cruce, Il. Philomena, III. De septem verbis Domini in eruce, IV. Meditatio de passione lesu Christi, V. Corona B. Virginis Mariae (S. 667—678), Die Herausgeber bemerken (©. 667): Opinamur primum hymnum de sancta eruce („O erux, frutex salvificus“) esse dignissimum, qui Bonaventurae certo possit attribui, tum propter eius pretium, tum propter auctoritatem plurium codicum, quorum duo sunt saec. XIV; de aliis quattuor proxime sequentibus carminibus non ita certi sumus, Dreves (Anal. hymn. XXXV 188) jhreibt die „Philomena“ John Peckham zu.

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468 Neunzehntes Kapitel.

Rupertsberg bei Bingen (1097—1179), war des Lateinifhen nur ſehr un: vollfommen fundig und mußte ihre Aufzeichnungen von fremder Hand ftilifieren und korrigieren laffen!. Doch Hinderte dies nicht, daß ihre geift: lien Schriften das höchſte Anjehen erlangten, ihr Briefwechjel ſich von den Niederlanden bis nah Rom und Jerufalem erftredte, felbft der hl. Bernhard, die Päpſte Anaftafius IV. und Hadrian IV., die Kaiſer Konrad II. und Friedrich Barbarofja mit ihr in Verkehr traten. So hat fie überaus mädtig auf ihre Zeitgenoffen eingewirft und jelbft in theologifhe Kontroverjen be: deutiam eingegriften. Stiller und unſcheinbarer jpielte fih das Leben ihrer frommen Zeitgenoffin Herrad von Landsperg ab, welche 1195 als Abtiffin von Hohenburg ftarb?. Bon ihr ftammt der „Luftgarten“ (Hortus deli- ciarum), eine anmutige Blütenlefe aus der Heiligen Schrift und den heiligen Vätern, verbunden mit einer Auswahl religiöfer Dichtungen, zum Teil mit deren Singweijen, mit wertvollen Miniaturen verziert. Wenn aud die meiften der darin enthaltenen Gedichte von andern herrühren, jo bleiben ihr dod einige wenige, jchlihte, wahr und warm empfundene Gedichte gefichert und „laffen fie uns als eine Frau von gleich edler Bildung des Geiltes wie des Herzens erkennen, welche die lateiniſche Sprade mit Gewandtheit handhabte und diejelbe zum durchfichtigen und angenehmen Gewande ihres Gedankens und ihrer Gefühle zu maden mußte“ ®,

Neunzehntes Kapitel, Ein mittelalterliher Encyklopädiſt.

In Iſidor von Sevilla wie bei dem ehrwürdigen Beda, Hrabanus Maurus und Honorius von Autun tritt deutlid) das Streben hervor, das

ı Hhre gefammelten Werte (bei Migne, Patr. lat. CXCVII) umfaffen: 145 Briefe, zwei große Sammlungen von Bifionen und Revelationen (die erjte unter bem Titel: Scivias, bie andere: Liber divinorum operum simplicis hominis), ferner: XXXVIII Quaestionum Solutiones; Explanatio symboli 8. Athanasii; Vita 8. Disi- bodi; Subtilitatum diversarum naturarum ereatarum libri IX (1. Bon den Pflanzen; 2. Bon den Elementen; 3. Bon den Bäumen; 4. Bon den Steinen; 5. Bon ben Fiſchen; 6. Bon ben Bögeln; 7. und 8. Von ben Zieren; 9. Bon ben Metallen). Bol. Schmelzeis, Das Leben und Wirken der hl. Hildegarbdis, Freiburg i. ®. 1879. Card. Pitra, Analecta S. Hildegardis, Monte Cassino 1882. P. Kaifer, Die naturwiffenihaftliden Schriften der Hildegard von Bingen. Progr., Berlin 1901. Hildegardis causae et curae. Ed. P. Kaiser, Lipsiae 1903.

* Chr. M. Engelhardt, Herrad von Landsperg und ihr Werk Hortus delieiarum, Stuttgart und Zübingen 1818.

G. M. Dreves, Herrad von Landsperg (Zeitjchrift für katholiſche Theologie XXI, Innsbrud 1899, 632—648).

Ein mittelalterliher Encyllopädiſt. 469

Studium nicht einjeitig auf Theologie und Philoſophie abzugrenzen, jondern auch die Naturwiffenihaften und die gefhichtlihen Studien im weiteften Umfang zu pflegen und zu einem encyklopädiichen Wiffen zu erweitern. Wie der fleißige Reihenauer Mönch Hermannus Gontractus eifrig die Beziehungen der Mathematik zur Muſik verfolgte, jo widmete ſich Gerbert von Aurillac (der jpäter von 999 bis 1003 ala Papft Syivefter II. die geſamte Kirche feitete), wohl der univerjellfte Gelehrte feiner Zeit, als Lehrer zu Reims niht nur den humaniſtiſchen Disziplinen, fondern ebenjo eingehend dem Studium der Arithmetik, Mufit, Geometrie und Aftronomie, arbeitete jelbit an der Anfertigung und Vervollkommnung aſtronomiſcher Inſtrumente und hinterließ eine Schule, welche diefe Wiſſenszweige eifrig weiterpflegte!. Einen viel größeren Auffhwung nahmen diefe Studien, als in ber Zeit der Kreuzzüge die arabifchen Ariftotelesüberfegungen dem Abendland zugänglich wurden. Beſonders waren es Albert d. Gr. (geft. 1280)? und der Fyranzis- faner Roger Baco (geft. nad 1292)3, welche die ariftoteliiche Methode des Beobachten und Sammeln: im weiteften Umfang und mit großem Erfolge zur Anwendung brachten.

Legte auch die jugendlich-poetiiche Fabulierſucht der mittelalterlichen Völker, welche an den allegorifchen Märchen des „Phyfiologus“ ein Findliches Gefallen fand, eine vom religiöfen Gebiet allzu naid auf das natürliche Gebiet übertragene Autoritätsgläubigkeit und vorab der Mangel an wiſſen— ihaftlihen Inftrumenten den induktiven Wiſſenſchaften große Schwierigfeiten in den Weg, fo ift jenes naturwiſſenſchaftliche und enchklopädiftiiche Streben doch nie erlojchen.

Noch während der hl. Thomas und der Hi. Bonaventura an ihren umfafjenden theologiſchen Werten arbeiteten, der jel. Albert d. Gr. das Natur- erfennen jpefulativ wie experimentell zu erweitern firebte, verwirklichte ein ſchlichter Mönd wie fie den Niefenplan, das gejamte Wiffen jener Zeit in einem Sammelwerte überfihtlih und geordnet zufammenzuftellen. Es ift Vincentiuß von Beauvais, Vincentius Bellovacenfis, wohl aud Burgundus oder nad jeinem großen Werfe Speculum maius oder tripartitum der Speculator genannt.

"RR. Werner, Gerbert von Aurillac, die Kirche und Wiſſenſchaft feiner Zeit, Wien 1881, 58—79.

2 %. Sighart, Albertus Magnus, fein Leben und feine Wiſſenſchaft, Regens- burg 1857. €. Meyer, Gejhichte der Botanik IV, Königsberg 1857, 8— 84. G. v. Hertling, Albertus Magnus. Beiträge zu feiner Würdigung, Köln 1880; Albertus Magnus in Gefhichte und Sage, ebd. 1880. Fr. Ehrle, Der jelige Albert der Große (Stimmen aus Maria-Laach XIX [1880] 241 ff 395 ff).

® E. Charles, Roger Bacon, sa vie, ses ouvrages etc., Paris 1861. 8. Schneider, Roger Bacon, Augsburg 1873.

470 Neunzehntes Kapitel.

Was über jeinen Lebenslauf berichtet wird, iſt faft alles unfiher. Nach der Ordensüberlieferung der Dominitaner farb er zehn Jahre vor dem hl. Thomas von Aquin, alſo 1264, und, da feine literarifchen Arbeiten ein ziemlich langes Leben vorausſetzen, wird mit einiger Wahrſcheinlichleit angenommen, daß er ſchon etwa 1184— 1194, jedenfall® unter der Regierung des Königs Philipp Auguft (1180—1223), geboren wurde. Er ftudierte zu Paris, trat hier in das 1218 gegründete Dominifanerflofter St Jacques, ward Lektor (d. h. Profeflor) und trat in nähere Beziehung zu dem König Zudwig IX., dem Heiligen (1226—1270).

Das gewöhnlihe Schulcurriculum der fieben freien Fünfte, der Philo- jophie und Theologie genügte feinem Wiffensdrange nicht. Er war un: erjättlih im Lejen, Schreiben, Erzerpieren. Er fammelte fi Notizen und überfihten aus allen Zweigen geiftliher und profaner, alter und neuer Literatur. Wahrſcheinlich ift e$ auf Anregung des Königs zurüdzuführen, daß dieſe unbegrenzte Lejewut (einer jeiner Biographen nennt ihn einen helluo librorum) und dieſer Sammelfleiß auf das Unternehmen gelenkt wurden, das ihn zu einem der merkwürdigſten Polyhiſtore und Encyklopädiften aller Zeiten gemacht hat. Nur die Schäße der königlichen Bibliothek, die jpäter an mehrere Klöfter und nftitute verteilt wurden, die Unterftügung des Königs und die Hilfe feiner Ordensbrüder ermöglichten es dem eimen Manne, ein Stüd Arbeit zu leiften, das bis dahin fo ziemlich einzig dafteht und das bei jpäteren enchklopädiſchen Unternehmungen fih auf eine ganze Schar von Gelehrten verteilte. Denn nad) annähernder Schägung fußt feine Encyklopädie auf der Kenntnis von mehr als 450 Autoren, von mehr als 2000, zum Zeil jeher umfangreiden Werfen in lateinifcher, griechiſcher, bebräiicher, arabifdher und franzöfiicher Sprade. Wenn ihm nun aud beim Erzerpieren und Abjchreiben andere hilfreih zur Seite ftanden, jo hat er doch nicht nur diefe Hilfsarbeiten überwadht und geleitet, jondern den Löwen: anteil am der ganzen Arbeit jelbft getragen, den umabjehbaren Stoff jelbit durchgeſehen, gefichtet, geordnet und zum einheitlihen Ganzen verbunden. Schon die genauen Angaben über die Herkunft feiner Mitteilungen widerlegen die gegen ihn erhobene Antlage des Plagiats; Anordnung und Verbindung der einzelnen Teile aber weifen ihn als einen wirflihen Enchklopädiften im großen Stile aus, der die gewaltigen Stoffmaffen wirklich beherrichte.

Speculum maius nannte er fein Werf!. Denn von allem, was die fihtbare und unfihtbare Welt an Reden und Taten bietet, jollte e& das,

! Ausgaben: Straßburg 1478; Nürnberg 1483—1486, Koberger; Venedig 1484 1493 1591; Douay (4 fol.) 1624. Fr. Chr. Schlofjer, Bincentius von Beauvais’ Hand» und Lehrbuch, Frankfurt 1819. Histoire litt. de la France XVII 449-519. M. E. Boutariec, Vincent de Beauvais et la connaissance de Vantiquit& classique au XIII siöcle (Revue des quest. hist.) XVII (1875) 1 ff.

Ein mittelalterlier Encyklopädiſt. 471

was der Unterfuhung, der Bewunderung, der Nahahmung wert wäre (quidquid fere speculatione, admiratione, imitatione dignum est ex his, quae in mundo visibili et invisibili facta vel dieta sunt), in einem großen Spiegelbilde vereinigen. Speculum tripartitum, den „drei: fahen Spiegel“ nannte er das Werl, weil es in drei Zeilen: 1. die Be- ſchreibung der Natur und der Eigenfhaften aller Weſen, 2. eine vollftändige Überfiht aller Künfte und Wiſſenſchaften, 3. eine vollftändige Gefchichte enthalten jollte!,

Diefer Plan ift in wahrhaft großartiger Weife durchgeführt. Schon die zehn FYolianten, welche das Werk in jeinen älteften Ausgaben umfaßt, zeugen bon dem großen Maßftab, dem riefigen Fleiß und der Arbeitsenergie, welde bei der Ausführung zur Geltung famen. Daß er frühere Sammel: werke benußte, mindert jein Berdienft nicht.

Der erfte Zeil, das Speculum naturale, aud) Speculum in Hexa- emeron betitelt, gibt in 32 Büchern (3698 Kapiteln) eine Üüberſicht des gejamten damaligen Naturwiffens, aber im Geijte jener Zeit, nit nad) den Kategorien unjerer modernen Methodit, auch nicht nad den Geſichts— punften der ariftoteliichen Philojophie, jondern vom Standpunft des hriftlichen Katehismus aus und nad der Teilung des bibliihen Sechstagewerkes.

Er füngt mit Gott an, befien Weſen, deſſen Attributen, deſſen Dreifaltigkeit (Lib. I), beſpricht dann fein Verhältnis zu den Geihöpfen und führt den Grund» plan der chriſtlichen Meltanihauung aus, dab nämlich das „Buch der Kreaturen“ ein Spiegel der Weisheit, Mat und Güte Gottes ift, des Schöpfers, Erhalters und Lenkers aller Dinge? (II-XXIN). Im Anflug an das erfte und zweite Tagewerk behandelt er die allgemeine Phyfit und Aftronomie (II—IV); mit dem dritten fommen bie Umriffe ber allgemeinen Erbbeihreibung (Erde, Wafler ufw.) an die Reihe (V—XIV), mit dem vierten die beſchreibende Aftronomie und Chronologie (XV), mit dem fünften Die Ornithologie und Ichthyologie (XVI XVII), mit dem jechiten bie übrige Zoologie, Phyfiologie, Piyhologie und Anthropologie (XVIII-XXVIII), mit bem fiebten die Lehre von der göttlichen VBorfehung und Weltregierung, Freiheit und Prädeſtination, Fortpflanzung, Verbreitung und Entwidlung des Menſchengeſchlechts, Weltende und Welternenerung (XXX—XXXI).

Der zweite Zeil, da8 Speculum doctrinale, bietet eine überſicht der MWiffenihaften und Künſte in 17 Büchern (2374 Kapiteln). Auch bier geht Vincenz wieder vom übernatürlichen, religiös-adtetiihen Standpuntte aus. Während die ganze Schöpfung Har und unverhüllt vor Gottes Augen liegt, muß ſich der Menſch jein Wiſſen ſtückweiſe, mühſam, unter großen

v. Lilienceron, Allgemeine Bildung in der Zeit der Scholaftif, Münden 1576. Holdber-&gger in Monum. Germ. Hist. SS. XXIV 154 ff.

! Pars prima prosequitur naturam et proprietatem omnium rerum, secunda materiam et ordinem omnium artiam, tertia seriem omnium temporum.

? Sapientia, potentia, bonitas creatoris, conservatoris et gubernatoris omnium Dei.

472 Neunzehnies Kapitel.

Schwierigkeiten erwerben. Er ift nicht in volllommenem, jondern in gefallenem Zuftande. Infolge der Sünde haften ihm die drei großen Übel der Un: wiſſenheit, der Begierlichkeit, der körperlihen Schwäche (ignorantia, con- cupiscentia, infirmitas corporis) an. Um ihn zu heilen und wieber- herzuftellen, müflen Weisheit, Tugend und des Lebens Notdurft (sapientia, virtus, necessitas) zufammentirten. Der erfteren entfpricht die theoretifche, der zweiten die praktiiche Wiſſenſchaft, der dritten die mechanischen Künſte.

Da Vincenz einen beträdtlihen Zeil der Theologie ſowie die Fächer des Quadriviums ſchon in dem Speculum naturale untergebracht hatte, blieben ihm hier für die theoretiſche Wiffenihaft nur die Zweige des Triviums: Grammatif, Logik und Dialeftif, Rhetorik und Poetik, denen er einen kurzen Überblict der Geſchichte ber Philoſophie vorausſchickt (I—II). Die prattiihe Wiſſenſchaft gruppiert er eben« falls in drei Unterabteilungen: 1. Monaftit, d. 5. individuelle Ethit oder die Kunſt, fich jelbjt zu regieren, 2. Okonomik, d. h. die Kunft, Familie und Haus zu leiten, 3, Politik, d. h. die Kunſt, Völker, Staat und Kirche zu regieren (IV—X). Die mechaniſchen Künſte endlich umfaffen die Architektur, die Kriegsfunft, die theatrifchen Künfte, Jagd, Fiſchfang, Aderbau, Alchemie (XI). Weit ausführlicher ift die Medizin behandelt (XII—XV). Endlich folgt noch ein Bud über bie mathematiihen Wiflen- ſchaften (XVI) und feltfamerweife eines über Theologie (XVII), das offenbar nicht mehr zum vollen Abſchluß gelangt ift.

„Nach der Metaphyfit”, jo jagt er hier, „und nach den übrigen untergeorbneten Wiſſenſchaften, ſowohl praftifchen als theoretifchen, weldhe von ben Heiben und Moham— medanern erfunden find, bleibt uns zulett nod ausführlicher von der Theologie zu ſprechen.“ Im erften Teil widerlegt er num nad) einer ſchon bei Barro vorfommenden Zeilung die drei falſchen Religionen: die poetifche, die rein philoſophiſche und die politiſche. Im zweiten Zeil geht er dann zu den Quellen der Offenbarung über, zählt bie einzelnen Bücher bes Alten und Neuen Zeftamentes auf und gibt dann Notizen über achtunddreißig Kirhenshriftfteller von Clemens Nomanus bis auf Richard von St Victor, deren Leben und Werke; von fehsundvierzig andern gibt er nur bie Namen an. Die Dogmatik fommt nicht mehr zur Behandlung. Das Werk hat hier offenbar eine Lücke, wahrfheinlih weil Vincenz biefen Zeil zulegt ausführen wollte und nicht mehr dazu fam. Die Lüde ift dadurch weniger empfindli, da die Summa bes Aquinaten fie in glänzendfter Weife ausfällt und von Vincenz felbft theologiſche Abhandlungen (befonders über die Gnade) vorliegen, welche fein großes Lebenswerk nad) diejer Seite hin ergänzen.

Der dritte Teil, Speculum historiale, gibt in 31 Büdern (3793 Ka— piteln) eine vollftändige Welt» und Kirchengeſchichte bis auf das Pontifitat Innocenz' IV. (1243—1254) einſchließlich.

Davon fallen ſechs Bücher auf die Zeit vor Chriſtus, neunzehn auf die Zeit von Chriſtus bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, vier auf das 12. Jahrhundert und die legten zwei auf den Anfang bes 13. Jahrhunderts, Der Epilog behandelt die legten Weltzeiten, das Erjcheinen bed Antichrifts, den Kampf besfelben wider Henoch und Elias, die Belehrung der Yuben, bas jüngfte Gericht und das Weltende nad den Offenbarungen der hl. Hildegardis!.

! Bincenz von Beauvais (geft. 1264) verfaßte nur ein Speculum naturale, doetrinale, historiale, nit aber ein Speculum morale. Das ihm unter diefem Namen

Ein mittelalterliher Encyflopäbift. 473

„So gliedert fih aud der Geſchichts- wie der Naturfpiegel nad dem bibliihen Schema des Sechstagewerkes; da aber beide gleihmäßig mit der Meltihöpfung beginnen, mit der MWelterneuerung ſchließen, und da endlich auch der zweite Teil oder der Lehrfpiegel von dem Gedanken der restitutio hominis lapsi feinen Ausgang nimmt, jo ift es im Grunde das einfache Schema der göttlihen Weltihöpfung, Welterneuerung und Weltvollendung, das dem ganzen folofjalen Werk und jeiner vielgliederigen Einteilung zu Grunde liegt und in weldem da3 Speculum oder Weltbild des großen mittelalterlihen Encyflopädiften fi abjchliept.“ !

Mag der moderne Forſcher die naiv-kindlichen Naturauffaffungen und Naturerflärungen belächeln, welche Bincenz noch aus Plinius und den Sammelwerfen des früheren Mittelalters herübergenommen hat, mag er die Leihtgläubigkeit und Wunderſucht verwerfen, melde ſchon Melchior Canus an feinem Ordensgenoſſen getadelt hat, jo bedeutet die große Encyklopädie doch immerhin einen gewaltigen Fortſchritt gegen ähnliche Verſuche, die Iſidor von Sevilla, Hrabanus Maurus, Honorius von Autun, Hugo von St Bictor unternommen hatten. Es gibt feinen Zweig des Willens, den die Scholaftit in dieſem ihrem hervorragenden Vertreter irgendwie geringſchätzig zurüd: gedrängt oder vernadhläffigt Hätte. Was ihm nur aus talmudijchen oder rabbiniſchen Schriften, aus den alten Autoren der Griechen und Römer, aus arabiſchen Philofopgen, Naturforfchern und Ärzten zugänglid) war, hat er für fein großes Wiſſensgebäude zu verwerten geſucht. Bis in bie materiellften, technologischen ragen hinein umfaßt jein Wert ſchon den Plan eines tüchtig durchgearbeiteten Konverjationgleritons, mit dem ficht- lien Streben, das Errungene weiter auszubreiten und neuer Forſchung als Stüße zu dienen. Dabei zeigt er für das pofitive und hiſtoriſche Willen ein nicht geringeres Intereſſe ala für das philoſophiſche und fpefulative, und weder dem einen noch dem andern gereicht es zum Nachteil, daß der letzte, maßgebende Geſichtspunkt der religiöfe ift.

Nah einer allerdings unvollftändigen, aber immerhin interefjanten Überſicht benußte Bincenz für fein Speculum folgende Autoren:

zugefchriebene Wert ift eine Kompilation, bei weldher auch bie Secunda secundae des hl. Thomas ſtark benußt wurbe, nach dem Tode beider verfaßt, da Vincenz 1264, ber hl. Thomas 1274 ftarb, das Speculum morale aber (1. 3, pars 10, dist. 9 ad 3) eine Bulle Martins IV. vom 22. Februar 1282 (ad uberes fructus) anführt. Bol. Echard, S. Thomae Summa suo auctori vindicata, Paris. 1708, und De Secrip- toribus PP, unter den Namen bes Bincentius Bellovac, und St Thomas. De Rubeis, Dissert. 14. Biltor Frind, Die theol. Summe bes hl. Thomas von Aquin (Pastor bonus XI [1899] 258 259).

Wagenmann, Art. „Bincentius von Beauvais“, in Herzogs Real: Encyklopäbie XVI? (1885) 503—508.

474 Neunzehntes Kapitel,

1. In orientaliſchen Spraden: Außer der Bibel den Talmub und ver- ſchiedene rabbinifhe Schriften; dann die Araber: Alfragan, Albumazar, Rafi, Alfarabius, Aldabitius, Johannitius, Hali, Avicenna, Algazel, Altindbi, Averrhoes.

2. In griedifher Sprade: Hefiod, Homer, Altman, Aeſop, Thales, Anarimander, Pythagoras, Altmäon, Heraklit, Parmenibes, Anarimenes, Empebotles, Dfellos Lukanus, Aeſchylus, Anaragoras, Protagoras, Gorgias, Archytas von Zarent, Herodot, Sopholles, Euripides, Sokrates, Demofrit, Hippofrates, Kenophon, Ktefias, Platon, Speufippos, Euborios, Pytheas, Ariftoteles, Demofthenes, Xenofrates, Menander, Theophraft, Metrodbor, Epilur, Zenon, Diokles, Praragoras, Erafiftrates, Heraflides, Euflid, Aratus, Eratofthenes, Hipparch, Polybius, Panätius, Nilander, Pofidonius Aus nadhriftliher Zeit: Andromachus, Dioskorides, Flavius Jojephus, Ptolemäus, Secundus, St Polylarp, St Yuftin, Hegefipp, Galenus, St Irenäus, Clemens Alerandrinus, Origenes, Alerander von Aphrodifia, Plotin, Porphyrius, Eufebius, St Athanafius, St Ephrem, St Bafilius, Gregor von Nazianz, Evagrius, Gregor von Nyſſa, Themiftius, Johannes Chryfoftomus, die Geſchicht- ichreiber Sofrates und Sozomenos, Theodoret, Heiyhius, Johannes Damascenus, die Ärzte Theophil und Serapion.

3. In lateinifher Sprade: Plautus, Ennius, Cäcilius, Accius, Terenz, Eato den Älteren, Julius Cäfar, Cicero, Nigidius, Cornelius Nepos, Varro, Gallus, Tibull, Bergil, Horaz, Ovid, Manilius, Vitruvius. Aus naächchriſtlicher Zeit: Columella, Balerius Marimus, Phädrus (doch' ohne ihn zu nennen), Yucan, Perfius, Seneca, Plinius den Älteren, Mucian, Dionyfius Areopagita, Statius, Papft Et Clemens, Plinius den Jüngeren, Juvenal, Quintilian, Quintus Curtius, St Ignatius, Cajus (den Juriften), Scaurus (den Grammatifer), Sueton, Juftinus, Aulus Gellius, Apulejus, Diontanus, Julius Paulus, Bapinian, Ulpian, Modeftinus, Solinus, Galpurnius, Gorgias Martialis, Tertullian, St Eyprian, Chaleibius, Fir: micius Maternus, St Hilarius, St Damaſus, Macarius, St Ambrofius, Prubdentius, St Paulinus, Rufus, Begetius, Avienus, Claudian, Macrobius, Orofius, Palladius, Symmachus, Sulpicius Severus, St Dieronygmus, St Auguftin, Eaffian, Papit St Leo J., St Profper, Sedulius, Sidonius Apollinaris, Martianus Eapella, PBapit Gelafins, Gennabdius.

Bon den bedeutenderen Klaſſilern fehlen nur wenige, wie Anakreon, Ariftophanes, Thukydides, Dionyfius von Halifarnak, Diodor von Sizilien, Strabo, Yucian, Paufanias, Athenaios, Dio Gaffius, Prokop, Lucretius, Gatullus, Livius, Tacitus, Mela und Silius Jtalicud. Für ein weiteres Studium des Altertums war ſomit der Weg in reihhaltigiter Weiſe gewieſen, um jo mehr, als eine Menge diefer Schriftfteller als Autoritäten für die verjchiedenften wiſſenſchaftlichen Aufftellungen verwertet wurden. Den huma— niftifchen Studien, Grammatif, Rhetorik und Poetik, wies das Speculum doctrinale allerdings feine bevorzugtere Stellung an al& früher das alte Trivium; fie erſcheinen lediglich als Vorbereitung für die Höheren Disziplinen; allein im Speculum historiale nehmen die alten Klaſſiker wie aud die Kirchenſchriftſteller als Quellen und Gewährsmänner einen breiten Raum ein. Zu einer vernünftigen Weiterausbildung des Humanismus war damit genugiame Anregung gegeben, wenn das ganze Syſtem auch einigermaßen

Zwanzigftes Kapitel. Anfänge der ſog. NRenaifjance in Italien, 475

die Tatjadhe betätigt, dak das Aufblühen der Scholaftit die eigentlich humaniftiiden Studien zu Gunften der philoſophiſchen und naturmwifien- ſchaftlichen zurüdgedrängt hatte.

Zwanzigſtes Kapitel, Anfänge der fog. Renaiſſance in Italien.

Die glänzendfte Berbindung und harmonische Ausgleihung der theologiich- Iholaftiiden und der klaſſiſch-humaniſtiſchen Bildung ftellt Dante dar, der mit jeinem großartigen Weltgedicht der Divina Commedia allerdings aus der lateiniſchen Dichtung Hinaustritt, um in bedeutfamfter Weiſe die italie- niſche Literatur zu inaugurieren, aber feiner ganzen Schulung nad) jowie in mehreren feiner Eleineren Schriften dem lateinischen Mittelalter angehört. Wir müflen darum auch hier ſchon feiner in Kürze gedenfen.

Vor allem widerlegt feine monumentale Dichtung, die gefeiertite des Mittelalters, das Vorurteil, als hätte die lateiniſche Geiftesihulung und der firhliche Einfluß den Menſchengeiſt hemmend danieder gehalten. Seit den homerishen Epen Hat die Weltliteratur feine Schöpfung aufzumeijen, die jo weit und tief gewirkt hat wie dieſe. Sie ift aber nicht das zufällige Werf eines glüdlihen Augenblids, fie ift die unerwartet aufgegangene Blüte einer Bildung, die durch Jahrhunderte langjam herangereift war. Sie ift nit denkbar ohne die Lebenskraft des chriſtlichen Glaubens, wie ihn die Kirche von den Zeiten der Apoftel unverändert bis in jene Tage bewahrte, ohne die reihe Entfaltung, welche die Theologie durch die Kirchenväter und die großen Scolaftiter gewonnen hatte, undenkbar ohne die humaniftiiche Bildung, melde fih ſchon in der altchriftlihen Zeit mit dem Lehrgehalt der Bibel und der kirchlichen Überlieferung verihmolzen hatte. Nicht nur die Grundlinien der ſcholaſtiſchen Philofophie und Theologie, jondern auch die ganze KHulturentwidiung des chriſtlichen Mittelalters fpiegeln ſich in diejem grandiofen Weltgedicht.

Die Rolle, welche Dante dem Bergil bei jeiner Höllenfahrt zuteilt, hätte ein geiftlicher Dichter der früheren Zeit, etwa ein Cluniacenjer oder Giftercienfer, ficher eher einem Engel oder einem altteftamentlihen Patriarchen zugewiejen. Die ehrenvolle Stellung, welche dem alten Gato von Utica am Beginn des Purgatorio beſchieden ift, hätte der ſtoiſche Selbitmörder in einer ſolchen Klöfterlihen Höllenvifion wohl faum gefunden. Bon den allegoriſch-⸗ſymboliſchen Helldunfel der Dichtung begünftigt, konnte Dante das heidniſche Altertum mit freierem, wohlwollenderem Blid an fi heran: treten laffen als etwa Prudentius und die altchriftlihen Apologeten, welde

476 Zwanzigites Kapitel.

noch die ganze Entlittlihung des heidniſchen Roms der Gäjaren vor ſich hatten. Nachdem Plato der Lehrer eines Auguftin und Anſelm, Arifioteles der Lieblingsmeifter eines Thomas von Aquin und der gejamten Scholaſtil getvorden war, mochte auch Vergil den chriftlihen Dichter in eine Hölle führen, die zwar ganz nad der Auffaffung hriftlicher Dogmatik gedacht war, aber doch in der Ausmalung die Namen und Bilder des antifen Tartarus nicht verihmähte. Ein Mikverftändnis war hier ebenjogut aus: geichloffen, al3 wenn John von Salisbury oder Manus ab Inſulis Gott den Tonans nannten oder andere Ausdrüde antiter Dichter auf ihn bezogen.

Ebenſowenig ift Dante zu tadeln, daß er aus dem engen Kreis heraustrat, welchen Prudentius und die fpäteren geiftlihen Dichter, mit verhältnismäßig wenig Ausnahmen, der Poeſie gezogen hatten, daß er nicht bloß die Heiligen bejang, jondern die ganze bunte Welt der legten Jahrhunderte und jeiner Zeit in den Rahmen jeines Gedichtes aufnahm, das Jrdiiche, Weltliche im jeiner bunteften Fülle mit der unfichtbaren Welt zu einem großen Gejamtbild ver: einigte und fo das großartigfte geiftlichsweltliche Gedicht des Mittelalters ſchuf!.

Es ift hier mit Händen zu greifen, daß weder der firchliche Glaube noch die jcholaftiihe Theologie, noch ein dur und durch kirchlicher Huma— nismus der erhabenften Entwidlung der Poefie, harmoniſcher Geiftesbildung, nationaler Yiteraturgeftaltung entgegenfteht. Aus der Lateinſchule des Mittel- alters ift der größte italieniſche Dichter hervorgegangen, den fein jpäterer an Schaffenskraft mehr erreicht hat?.

Der einzige Mißklang, welder die Harmonie des Gedichtes in ſich und mit der gejamten chriftlihen Weltanfhauung des Mittelalters ſtört und welcher es möglih machte, dab Dante von manchen als Vorläufer der „Reformation“, ja der „Revolution“ und des modernen Liberalismus an: gejehen werden fonnte, ift feine politifche Richtung, fein Ghibellinismus, der jwar nad den Begriffen jener Zeit jeine Rechtgläubigkeit nicht antaftete, ihn jedoch gegen mehrere verdienftvolle Päpſte ungerecht gemacht und jeiner Auffaffung des päpftlihen Primats eine ſchiefe Richtung gegeben hat. Weit ihärfer al& in der Divina Commedia tritt diefer GHibellinismus in jeiner

* On peut dire, et ce sera le resume de ce travail: que la Divine Comedie est la somme litt£raire et philosophique du moyen-äge; et Dante, le saint Thomas de la poesie (A. F.Ozanam, Dante et la philosophie catholique au XIII* siöcle, Louvain 1847, 209). 2gl. F. Hettinger, Die göttliche Komödie des Dante Alighieri?, Freiburg 1889. G. Gietmann, Die göttlide Komödie und ihr Dihter, Freiburg 1885. F. X. Kraus, Dante, Sein Leben und fein Werl, Berlin 1897. Scartazzini, Dante-Handbuch, Leipzig 1892. Grauert, Zur Danteforfhung (Hiftor. Jahrbuch der Görres-Geſellſchaft), Münden 1895, 510 ff.

? Die lateinifhen Schriften Dantes: De vulgari eloquio, De monarchia, Quaestio de aqua et terra, Epistolae, bei P. Fraticelli, Opere minori di Dante’, Firenze 1873.

Anfänge der fog. Renaiffance in Italien. 477

lateiniſchen Schrift De monarchia hervor, gegen welche denn auch kirchliche Verbote ergangen find. In enthufiaftiihem Studium der Alten war Dante von der wirklichen hiftoriichen Bedeutung des damaligen Kaifertums fo meit abgefommen, daß er auf die Eroberungen der alten Römer hin den Jtalienern jeiner Zeit ein ummittelbar göttliche Recht der Weltherrfchaft zufprechen zu fönnen wähnte und feine phantaftifchen Beweisverfuche mit den Worten ſchloß:

Et iam sufficienter manifestum esse arbitror, Romanum populum sibi de iure orbis Imperium adseivisse. O felicem populum, o Ausoniam te gloriosam,

si vel numquam infirmator ille imperii tui natus fuisset, vel numquam sua pia intentio ipsum fefellisset''.

Dies geht auf Kaiſer Konftantin, dem Dante die mweltlihe Macht und die Vermeltlihung des Papſttums irrigerweije zujchrieb.

Sn der Divina Commedia ift dem weltlihen Humanismus feine untergeordnete Stellung zu den höheren Jdealen, zur chriftliden Ordnung völlig gewahrt. In feiner Schrift De monarchia aber hat Dante un— zweifelhaft diefe Ordnung verlaffen und dem weltlihen Humanismus eine Stellung angemwiefen, die mehr oder weniger auf Abmwege führen mußte. Wenn er in der Politik das altrömiihe Imperium als rechtsgültig, als Baſis und Spige der gefamten Weltpolitif wieder aufleben ließ, was lag da näher, als auch die altklaffiiche Poefie unabhängig von der hriftlichen Ordnung wieder neu aufleben zu laffen? Er jelbft hat dieje Folgerung nicht gezogen, aber andere zogen fie mande nur teilweife, ſchüchtern, mit Vorbehalt, ohne Poefie und Wirklichkeit ftreng zu fondern, manche aber auch entſchieden, rüdfichtslos und realiſtiſch bis an die äußerſten, gewagteſten Grenzen. Zwiſchen dem frommen, ſtrengen Humanismus eines Prudentius, der von der Antile nur Sprache und Metrik an ſich zog, und einem völligen Neuheidentum entiwidelte fih der weltlihe Humanismus fortan in allen nur denkbaren Scattierungen. Zum völligen Abfall von Glauben und Kirche kamen nur jehr wenige; aber überaus groß war die Zahl derjenigen, welche in Poeſie und Literatur fat ganz von Kriftlichen Vorftelungen und Sittenbegriffen abjehen zu dürfen vermeinten und vor lauter fünftlerifcher Verehrung und Nahahmung des Hafftiihen Altertums undermerft aud in deſſen praftiiches Fahrwaſſer gerieten, berauſcht von feiner Formſchönheit auch jeine fittliche Ungebundenheit und Entartung mit in den Kauf nahmen und in Poeſie und Leben ftarf den alten Göttern Huldigten?. Das war Ihon bei Dantes Lehrer Brunetto Latini der Fall.

Lib. 2, $ 11 (in fine).

2% Burdhardt, Die Kultur ber Nenaiffance in Stalien. 3. Aufl. von 8. Geiger, Leipzig 1877/78. G. Voigt, Die Wiederbelebung des klaſſiſchen Altertums oder das erfte Jahrhundert des Humanismus. 8. Aufl. von M. Lehnardt, Berlin 1893. 2. Geiger, Renaiffance und Humanismus in Jtalien und Deutſch-—

478 Zwanzigites Kapitel.

Wie fern Dante einer jolden Rihtung fand, zeigt am deutlihften die Schrift De vulgari eloquio.. Wenn er darin beftrebt ift, aus dem Wirrſal der verihiedenen Dialekte heraus zu einer einheitlichen italienischen Nationalfprade zu gelangen, jo bat er damit allerdings mit der bisherigen Alleinherrſchaft des mittelalterlihen Lateins in Literatur und Bildung gebrochen, aber keineswegs ein altklaſſiſches Latein, jondern die neue Vollks— ipradhe an deſſen Stelle gejeßt. In Stoffgehalt und Anſchauungsweiſe ift er ein mittelalterliher Theologe geblieben !.

Unter den lombardifhen Dichtern, welche noch mit Dante oder bald nah ihm lebten, bewahrte der Humanismus diejelbe Färbung wie bei ihm. Die Hauptformen waren Elegie und Efloge. In diefen behandelten Bona- tino, Benvenuto de’ Campeſani (geft. 1313), Matteo Plega: ferro da PVicenza und Giovanni di Birgilio eigene Erlebniffe und allgemeine Tagesfragen. Ferreto da Vicenza bverherrlichte die Ahnen des Ban Grande della Scala von Verona in einer Epopde; Albertino Muſſato, Ratsherr der Republit Padua (1261—1330), dagegen warnte feine Mitbürger vor demjelben Tyrannen, indem er fie in jeiner Tragödie Eecerinis an die Gewalttaten des Ezzelino da Romano erinnerte. An dramatiiher Handlung war das Stüd arm, aber der Neihtum an kräftigen Sprüden und die patriotische Begeifterung jhlugen dur, und die Paduaner frönten 1314 den Verfaſſer feierlih zum Dichter, was jeit der römischen Kaiferzeit ganz außer Gebraud gelommen war. Neben frommen Soliloquien hinterließ Muffato übrigens auch ſehr ſchlüpfrige Verſe, und der noch lebende, verbannte Dante hätte auf den Lorbeerfranz doch ganz andere Anjprüche erheben können ala er?.

land (W. Onden, Allgem, Geſchichte in Einzeldarftellungen II 8), Berlin 1382. 6. Körting, Die Anfänge der Renaiffanceliteratur in Jtalien (Gejhichte der Literatur Italiens im Zeitalter der Renaiffance III 1), Leipzig 1884. G. Tira- boschi, Storia della letteratura Italiana V VI, Modena 1775. 2. Paftor, Ge ihichte der Päpfte I*, freiburg 1901. J. Guirand, L’Eglise et les origines de la Renaissance, Paris 1901. €. Steinmann, Rom in ber Renaiffance von Nilo— laus V. bis Leo X.?, Leipzig 1902.

! Seine Rechtgläubigkeit verteidigte ſchon Kardinal Bellarmin gegen Ber: dächtigungen von proteftantijcher Seite (Responsio ad librum quemdam anonymum, eui titulus est Ariso piacevole dato alla bella Italia. Cap. 12—19. Opp. VII, Colon. Agripp. 1617, 542—553), bemerft aber über jeine Politit: Dantes enim, factione Gibellinus, non modo non domesticus, sed etiam hostis Pontificum fuit.

® Albertino Mussato Opera, Venetiis 1636, zum Zeil abgedrudt bei Graevius-Burmann, Thesaur, antiqu. Ital. VI, Leiden 1722, 2; bie Eccerinis und die hiftorifhen Werle bei Muratori, Script. rer, Ital. X. Bgl. 3. Wyd- gram, A. Muffato, Leipzig 1880. ©. Körting, Geſchichte der Literatur Italiens im Seitalter der Renaifjance III 302-370. 3.8. Klein, Geihichte des Dramas V, Leipzig 1874, 235— 251.

Anfänge ber jog. Renaiffance in Italien. 479

Ziemlid) unabhängig von Dante, aber ungefähr auf derjelben Grundlage, wenn auch etwas freier, entwidelte fi der Humanismus bei Francesco Petrarca, der nächſt Dante an der Spige der italienischen Literatur fteht, aber gleichzeitig mehr al3 er den Nenlateinern beizuzählen ift.

Sein Vater war ein Partei und Leidensgenofje Dantes. Am jelben Tag (27. Januar 1302) wurde Ser Petracco mit jenem aus der gemeinjamen Vaterſtadt Florenz verbannt. Zu Arezzo wurde ihm (20. Juli 1304) der Sohn geboren, der feinen Namen verewigen follte. Er nahm ihn mit nad Piſa und nad Avignon, mo Papft Glemens V. feinen Hof aufgeſchlagen hatte. Mit ungewöhnlicher Begeifterung verlegte fih Francesco auf die Lateinische Literatur; in Montpellier, wo er fih dem Studium des Rechts widmen jollte, fuhr er fort, ſich vorzugsweiſe mit Vergil, Cicero und Livius zu be ihäftigen. Vergeblich jandte ihn der Vater nad) Bologna; auch hier blieb er feiner Neigung treu und fand bald an Giacomo Golonna, Biſchof von Lomby, und an Kardinal Giovanni Golonna, deſſen Bruder, wohlgewogene Gönner, welche ihm durch Unterftügung und geiftliche Pfründen die Mittel verſchafften, fi ganz der Literatur zu widmen und dabei ein ziemlih un: gebundenes Leben zu führen. Die höheren Weihen empfing er nidt; all das Geſchrei, das mit Bezug auf ihr wider den kirchlichen Gölibat er: hoben worden ift, entbehrt deshalb eines tatſächlichen Anhaltspunttes und fällt auf die Ankläger jelbft zurüd. Seine berühmten Sonette auf Yaura von Noves, die er 1327 zum erftenmal jah und dann jahrelang nad) Art der Troubadours befang, tragen ein durchaus edles, ideales Gepräge; ebenjo tritt in feinem umfangreihen Briefwechſel, bei manden menſchlichen Schwäden, doch eine weſentlich ernfte, hriftliche und kirchliche Lebensauffaffung klar und deutlich zu Tage!.

Eine lange Reife führte ihn 1333 nad Paris, durch die Niederlande nad Lüttich, Nahen, Köln und durd den Ardennenwald zurüd nad Avignon. Im Jahre 1337 beſuchte er Italien und hielt fich längere Zeit in Rom

! Tommasini, Petrarca redivivus? (Sammlung der älteften Biographien), Patavii 1650. De Sade, M&moires sur la vie de Pötrarque, Amsterdam 1797. Baldelli, Del Petrarca e delle sue opere, Firenze 1797. %. 6. Blanc, Urt. „Petrarca* bei Erfh und Gruber (1844), Sekt. 3, TI 19, 204-254. Mezieres, Pötrarque, Paris 1868; ?1873. 2. Geiger, Petrarca, Leipzig 1874. G. Körting, Petrarcas Leben und Werfe (Geſchichte der Literatur taliens im Zeitalter der Renaifjance I), Leipzig 1878. Bartoli, Storia della letteratura italiana VII, Firenze 1884. P. de Nolhae, Pötrarque et !’'hu- manisme, Paris 1892. Levati, Viaggi del Petrarca in Francia, in Germania, in Italia, Milano 1820. Malmignati, Petrarca a Padova, a Venezia e ad Arqua, Padova 1874. 5. X. Kraus, fr. Petrarca in feinem Briefwechjel (Deutiche Rundihau LXXXV [1895] 345 ff; LXXXVI 55 ff 249 ff). 9. Morf, Die Bibliothek Petrarcas (Aus Dichtung und Sprade der Romanen, Straßburg 1903, 172—184); Francesco Petrarca (Deutihe Rundihau CXX [1904] 103—115).

480 Zwanzigſtes Kapitel.

auf. Die vom Papfte verlaflene ewige Stadt machte einen unauslöſchlichen Eindrud auf jeine Seele, einen der tiefften feines Lebens. All die glorreichen Erinnerungen des Haffiihen Altertums, der hriftlihen Vorzeit, der mittel- alterlihen Herrlichkeit und Größe Roms lebten da gleichzeitig vor ihm auf, und der traurige Verfall der Königin der Städte erfüllte fein Gemüt mit tieffter Ergriffenheit und Trauer. Mit ſchwärmeriſcher Begeifterung umfaßte er den Gedanlen, den Papft wieder nah Rom zurüdzuführen, die Pracht und Schönheit des mittelalterlihen Roms wieder hHerzuftellen, die Macht, den Ruhm und die Freiheit der alten Römer unter päpftlihem Patronat neu aufleben zu lafjen, jelbft als lateinischer Dichter mit Vergil um die Palme zu ringen und fi den Lorbeerfranz auf dem Stapitol zu erwerben. Sein ganzer literariicher Ehrgeiz verſchmolz mit jenen religiös-patriotiichen, poetiich-dumaniftiihen Idealen.

Er hatte im Grunde noch nicht fehr viel geleiftet eine Anzahl italienifcher Sonette und Kanzonen, einige fleinere lateinische Gedichte, den Anfang eines lateiniſchen Epos „Afrika“ —, als fih ſchon der kühnſte jeiner Träume erfüllen follte: er wurde auf dem Kapitol zu Rom feierlich zum Dichter gekrönt, allerdings nur von einem Stellvertreter des Königs Robert von Neapel, durch den er ſich zubor in der Poefie hatte eraminieren lafjen, aber unter raufhendem Beifall des römischen Volles, deifen Lofal- patriotismus er in neuen Reden und Gedichten jchmeichelte, doch keineswegs in einem unkirchlichen oder antikirchlichen Sinne. Er legte jeinen Lorbeer- franz am Altare des Hl. Petrus nieder.

Bor und nad) diefer Ehrung, welche für ihn mehr einen Lohn künftigen als bereit3 erworbenen PVerdienftes bedeutete, zugleih aber ein Triumph lateinifcher Poefie und Bildung war, lebte Petrarca als literariſcher Einfiedler in jeiner malerifhen laufe Vauclufe an den Quellen der Sorgue, mit dem Studium der Alten und der Abfafjung poetifcher wie profaischer Werke beihäftigt, im ganzen heiter und zufrieden, bis das Jahr 1347 das von ihm lebhaft begrüßte Regiment des Gola di Rienzo zu Rom ftürzte, Die furchtbare Belt von 1348 Laura und mande Freunde dahinraffte. Nachdem er 1350 zum Jubiläum nah Rom gewallfahrtet war, verließ er 1353 Bauclufe für immer umd ließ ih, nah kurzem Aufenthalt zu Mailand, erit in Venedig, dann in dem Dörflein Arqua bei Padua nieder. An all diefen Orten unterbradhen indes dDiplomatifche Sendungen und andere Reifen jeinen Aufenthalt. Am 28. Juli 1374 ftarb er zu Arqua friedlih an jeinem Studiertiſch, nad einem im ganzen raftlofen Leben, im Frieden mit der Kirche, in feinen fpäteren Jahren au immer mehr den Übungen crift- liher Frömmigkeit zugewandt.

Mit dem ungeheuren Anjehen, welches Petrarca bei den Zeitgenofjen bejaß, ſtehen feine Leiftungen feineswegs in entjprechendem Verhältnis. Eitel-

Anfänge der fog. Renaifjance in Jtalien. 481

feit, Ruhmſucht, fteted Vordrängen feines lieben Jh, Wantelmut, Undant gegen Wohltäter und Freunde, Höfifche Untertänigkeit gegen unwürdige Gewalthaber umbdüftern die freundlichen Lichtjeiten feiner Perjönlichkeit, fein tiefes Gemüt, feinen hohen, Iyrifhen Jdealismus, feinen Studieneifer und feine anſehnliche humaniſtiſche Gelehrfamkeit. Als Politifer war er geradezu Phantaft, als Diplomat mehr Paraderedner denn ein gewandter und wirklich einflußreicher Unterhändler. Seine ethiihen und religiöfen Traftate („Von den Heilmitteln gegen Glüd und Unglüd“, „Vom einfamen Leben“, „Bon der Muße der Slofterleute”), mehr von Seneca als etwa von Auguftin beeinflußt, find nicht tief und fromm genug, um fi) irgendwie mit den Meiſterwerken patriftiiher Astefe meſſen zu können, anderjeit$ doch noch jo Hriftlih und mittelalterlih gedadht, dab fie ein modernes Weltkind ſchwer— lich befriedigen. Auch feine Heinen Abhandlungen „Über die befte Staats- verwaltung“, „lber das Amt und die Tugenden eines Feldheren“, „Über den Geiz“, „Über die wahre Weisheit” tragen mehr das Gepräge humaniſtiſcher Stilübungen als tiefdurchdachter philoſophiſcher Leiftungen. Ähnlich tritt in jeinen „Vier Büchern über die dentwürdigen Dinge“ und feinen Biographien berühmter Männer (De viris illustribus), in welden außer Alexander d. Gr., Porrhus und Hannibal nur adhtundzwanzig alte Römer Aufnahme gefunden haben, das eigentlich hiſtoriſche Intereffe Hinter dem antiquariihen, philo— logifhen und ftiliftifchen zurüd. Die wenigen erhaltenen Reden find vor: wiegend Prunk- und Schauftüdet,

Am intereffanteften von feinen lateinischen Proſaſchriften find feine in vier Sammlungen zufammengeftellten Briefe, in melden er wohl aud ge: fegentlih eine künſtliche Poſe annimmt und ftark dellamiert, aber doch meiftenteil3 feine Jdeen, Stimmungen und Erlebniffe in treffender, bezeich- nender Weiſe mitteilt, und die darum ein vieljeitiges Bild feiner ſtets beweglichen Individualität gewähren. Ergänzt werden fie durch mehrere Streitſchriften, beſonders diejenige gegen einen Franzofen und diejenige gegen einen Arzt, dann den „Brief an die Nachwelt“ (Ad posteros), „die drei Geſpräche über die Weltveradhtung“ (De contemptu mundi) und drei Bücher poetiiher Epifteln, welche wohl al3 das Befte feiner lateiniſchen Poeſie bezeichnet werden dürfen. Denn jein Bucolicon (zwölf

ı F. Petrarca, Opera (ed. I. de Amerbach), Basileae 1496; Opera, Venetiis 1503; Opera omnia, Basil. 1554. Seritti inediti (publ. da A. Hortis), Trieste 1874. Epistolae de rebus familiaribus et variae (ed. Fracassetti), Florent. 1859—1863. Lettere senili (ed. Fracassetti), Firenze 1869/70. Poemata minora (ed. Rossetti), Mediol. 1829—1834. Africa (cur. Cor- radini), Padova 1874. De viris illustribus (cur. A. Razzolini), Bologna 1874 1879. Historia Iulii Caesaris (ed. Schneider), Lips. 1827. Italie— nische Überfegungen der „Africa von 2, B. Gando, Oneglia 1874 und X. Paleſa, Pabua 1874.

Baumgartner, Weltfiteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. öl

482 Zwanzigſtes Kapitel.

Eklogen umfaffend) ift ſchon ſtark gefünftelt, und fein unvollendetes Epos „Afrika“, das er anfänglich als fein poetiſches Hauptwerk betrachtete, jan in jeinen eigenen Augen fpäter zu einer ziemlich mißglüdten Schöpfung herab!. Sie bringt das Schiefe und Mißliche feiner ganzen humaniſtiſchen Rihtung am deutlichiten zum Ausdrud?, Ein Römer der altrepublikaniſchen Zeit hätte aus dem Stoffe ein glänzendes Nationalepos geftalten können; aber anderthalb Jahrtaufend jpäter konnte in der Hand eines Kriftlichen Dichters nur ein fünftlihes Schulepos daraus entfliehen. Als ſolches ift das Werk immerhin eine bedeutende Leiftung.

„Es befigt die ‚Afrila‘ eine große Anzahl von Epifoden, welche geradezu Meifterwerfe der poetiſchen Kunſt genannt werden müſſen; fie weift eine Hülle von Naturfhilderungen und Gleihniffen auf, deren fih aud der bedeutendfte Epiter nicht zu ſchämen Haben würde. Jedenfalls war der Dichter der ‚Afrifa‘ ein hochbegabter Dichter, wenn aud eben nicht ein Epiker erſten Ranges, und die ‚Afrifa‘ ift troß der Fundamentalfehler ihrer Kompofition doc eine bedeutende und des Leſens wohl würdige Dichtung; ja e& wird fie ein jeder leſen müffen und übrigens aud mit vielem Genuß lejen können, dem daran gelegen ift, fih ein Gejamturteil über Petrarcas poetiſche Be: fähigung zu bilden.“ 3

Seine Auffaffung der Hafftihen Studien und des Lebens jelbit hat er am ſchönſten in einem Briefe zufammengefaßt, der an einen jungen Ordensmann gerichtet ift.

„Folge alſo, wie Cato bei Tullius fagt, unferem beiten Führer wie einem Gott, ja dem Bater der Natur und aller Dinge, Gott felbft, der mit lauter Stimme zu dir und zu allen Menſchen ruft, die er erichaffen und erlöft hat, nit nur vom Himmel, wo er in Ewigkeit berricht, fondern auch von dem ſchmerzlichſten Sieges- zeichen, das er für uns nadt, mit Dornen gefrönt als Triumphator beftieg. Ja, alle ruft er; wenige hören ihn. Sei du einer der wenigen; fonft wäre es dir befier, gar nicht zu fein. Höre und erhöre ihn, von dem du Leib und Seele und Zalent erhalten haft, durch den du fo bift, wie wir dich gern haben, und noch fo werden wirft, wie wir es wünſchen und hoffen. Ich will dich heute nicht weiter drängen; ih bin gewiß, daß dir dies und auch weit weniger genügt, da du, auch wenn ich ſchweige, aus dir felbft erfennit, was ih wünſche und auch andere, die dich Lieben. Eines will ich indes nicht übergehen: fchenfe denjenigen weber Ohr noch Herz, welche di unter dem Borwand des theologiihen Studiums von ber Pflege der literarifchen Bildung abzumahnen fuhen. Um von den andern zu jhweigen, wenn Qactantius und Auguftinus derielben entbehrt hätten, jo hätte weder jener den Aberglauben ber Heiden jo leicht untergraben, noch diefer bie Stadt Gottes mit fo viel Kunft und in fo gewaltigen Maſſen aufgebaut.

Es ift dem Theologen nützlich, außer der Theologie noch vieles zu wiflen, ja wenn es möglid wäre, nahezu alles, um gegen die Angriffe ber Fleifchlichgefinnten

! Analyje bei Körting, Petrarca 656—672. ? Voigt, Die Wiederbelebung des Haffiihen Altertums I 151 152. ® Körting aa. O. 676.

Anfänge ber ſog. Renaifjance in Italien. 483

gewaffnet zu fein. Gewiß, wie nur ein Gott ift, dem alles unterworfen ift, fo gibt es nur eine Wiſſenſchaft über Gott, ber alle andern guten Wiſſenſchaften untergeordnet find. Hierüber handelt übrigens derfelbe Auguftinus im zweiten Buche von ber riftlichen Lehre. Lies alfo gemäß feinem Rate, was du kannſt ohne Nachteil für dein Hauptvorhaben, und lerne jo viel, als es ohne Schaden für beinen Berftand und bein Gebädtnis möglich ift und bebenfe immer, dab du Theologe, nicht Dichter ober Philoſoph bift, außer injofern der wahre Philojoph auch ein Liebhaber ber wahren Weisheit ift. Die wahre Weisheit des Vaters aber ift Chriftus, Das eine will ich hinzufügen: das möge dir befonders am Herzen liegen, daß die Dinge, auf welche du deine Aufmerffamteit lenkſt, nicht verborgen und dunkel, jondern wahr und klar jeien. Denn es gibt Leute, die fi eitel mit dem brüften, was weder fie noch andere verfiehen, ein törichtes Geichledht. Denn wie die Wahrheit der Gegen ftand des DVerftandes, jo ift, wenn ich nicht irre, die Klarheit deſſen Beglüdung. In aller Heiligkeit und Tugend aber verlag nie jenen leiten und kurzen Weg bes Sofrates zum Ruhm: daß du nämlich das zu jein dich beftrebft, wofür bu gelten willſt. Denn es gibt ſehr ſchlimme Leute, die für bie beften gelten wollen, als ob fie gleich den andern aud Gott und ihr Gewifjen betrügen fünnten. Auf dieſem doppelten Wege haft bu viele Führer, für beide mag dir indes ber eine Auguftinus dienen, bein gewohnter Führer: du fiehft, wie er gerabe in deinem Alter mit Irr— tümern und Laftern in edlem Anfturm jo Herrlich gefämpft hat. Gab es bei ihm je einen Jrrtum in Leben oder Lehre, jo wurde der erftere durch das Leben gehoben, der zweite mit eigener Hand dur das forgfältigfte Werk ausgerottet, jo daß es nichts Sicheres gibt, als Leben und Lehre diefes Mannes zu folgen. Das follft bu nie aus dem Gedächtnis verlieren.

Endli bitte ich di, jobalb du dahin gefommen fein wirft, wohin bu dich ſehnſt, und ich will hoffen, das wird bald gejchehen, ſammle gegen jenen tollen Hund Averrhoes, der von unfäglider Wut getrieben, gegen jeinen Herrin Chriftus und gegen den Fatholiihen Glauben bellt, von überallher feine Läfterungen. Du weißt, ich hatte das bereits begonnen, aber meine allzeit ungeheure und jet noch mehr als fonft angewachſene Beihäftigung und nicht geringerer Diangel an Wifjen als an Zeit hielten mid davon ab, Wirf dich mit aller Kraft und Anftrengung deines Geiftes auf diefe von vielen großen Männern unfrommerweije vernadhläffigte Auf: gabe und fchreibe ein kleines Werf und wibme es mir, ob id) dann noch am Leben bin oder inzwifdhen von bannen gehe. Denn es ift immer Zeit für alle, und id unter andern bin jchon gewöhnt, daran zu denken. Zweifle nicht daran, daß es dir etwa an Geift oder Stil fehle, wenn es auch bei manchen der deinigen gewöhnlich fehlt. Chriftus, der dir ſchon bei der Geburt beigeftanden, wirb dir beiftehen, wenn du feine Sache führt.“ !

Der junge Mann, an welden Petrarca diefe Mahnung richtete, war Yuigi de’ Marfigli, ein Florentiner aus alter und vornehmer Familie, ! Francisei Petrarchae Lib. Epistolarum sine titulo. Ep. XXII (Opp. ed. Ioa. de Amerbach), Basileae 1496, fol. M. 45. Vgl. Fracassetti, Lettere senili II 246 ff. Eine ebenfo tiefreligiöfe, echt chriſtliche Lebensanſchauung bekundet der ſchöne Brief an Johann Eolonna a ©. Bito (Epist. Famil. VI 2, bei Fracassetti, Epist. de rebus familiaribus I 310 f). Vgl. Körting, Petrarca 408 ff. Über jeine Lirhlihe Gefinnung vgl. auf Bellarmin, Responsio ad librum quemdam anonymum etc., Opp. VU, 553—558.

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484 Zwanzigſtes Kapitel.

der damals etwa zwanzig Jahre zählen mochte, aber ſchon feit einiger Zeit dem Auguftinerorden angehörte. Er ftudierte noch weiter in Paris, erlangte dafelbft den Doktorgrad der Theologie, ward nah feiner Rücklehr ein gewaltiger Wollsprediger und Provinzial feines Ordens. Man begehrte ihn fogar zum Biſchof von Florenz. Ganz nad) Petrarcas Wunſch verband er mit echt religiöfem und kirchlichem Wiffen und Wirken das Iebhaftefte Intereſſe für die Haffiischen Studien und gründete mit feinen Ordensbrüdern Martino de Signa und Pietro de Gaftelletto in dem Stlofter San Spirito eine Art literarifher Akademie, mit welcher die hervor— tagendften Literaten von Florenz in Beziehung traten!, Diefelben Männer, unter ihnen Salutato, der Kanzler der Republit (mit vollem Namen Goluccio di Piero de’ Salutati), der eifrige Humanift und Mufifer Francesco Landini, der Phnfiler und Mediziner Marfilio di Santa Sofia, dann der gelehrte Biagio Pelacani von Parma, verfammelten ſich auch in der Billa Paradiſo und in den Gärten des reihen Kaufheren Antonio degli Alberti und deflen Sohnes Yeone Battifta. Da murden die anmutigften, anregendften Gartenfefte des Morgens mit einer heiligen Mefje begonnen, dann mit literarifdhen und gelehrten Unterhaltungen gewürzt. Es wurden Novellen vorgetragen, philo— jophiiche Disputationen und literariiche Geſpräche gehalten, Werke der alten Klaffiter und Kirchenväter beſprochen, geihichtlihe und ſprachliche Fragen erörtert, Gedichte vorgetragen, von der Jugend auch mufiziert, geſungen und getanzt. Jung und alt, geiftlih und meltlih, ernfte Theologen und lebenäluftige Weltkinder, frommgläubige Seelen und jteptiih angehauchte Philoſophen und Altertümler begegneten fih Hier in gemeinfamer Pflege der Literatur.

Entſchieden meltliher als Petrarca lebte und wirkte fein Zeitgenoffe und Freund Giovanni Boccaccio?, al Sohn eines Kaufmanns aus

ı L. de Marsigli, Comento a una canzione di Francesco Petrarca, Bo- logna 1863. L. Colueii P. Salutati, Epistolae (ed. I. Rigaccio), Florent. 1741/42 (italienifh überfeßt von F. Novati, Nom 1891); jeine Invec- tiva in A. Luschum (ed. D. Moreni), Florent. 1821. L.B. Alberti, Öpere volgarı (ed. Bonucii), Firenze 1844. Opuscoli morali (trad. da Bartoli), Venezia 1568; L’architettura (trad. da Bartoli), Venezia 1565.

® J. Boccacii, De genealogia Deorum, Venet. 1472 1547; De montibus, sylvis ete., ebd. 1473; De claris mulieribus, ohne Drudort 1473, Bernae Helv. 1539; De casibus virorum illustrium, Aug. Vindel, 1544; Compendium Romanae historiae, Colon. 1532. ®gl. Att. Hortis, Studj sulle opere latine del Boc- caccio, Trieste 1379. Baldelli, Vita di Giov. Boccaccio, Firenze 1806. M. Landau, G. Boccaccio, fein Leben und feine Werke, Stuttgart 1877. G. Körting, Boccaccios Leben und Werke (Gefchichte der Litteratur Staliens II, Leipzig 1880).

Anfänge der fog. Renaiffance in Italien. 485

Gertaldo im Jahre 1313 geboren. Bergeblih wollte der Vater erjt einen Kaufmann, dann einen NRechtsgelehrten aus ihm maden; die angeborene Neigung zu Poeſie und Literatur war nicht zu überwinden, wenn fie auch erft nach des Baterd Tode zur vollen Entfaltung kommen konnte. Als Vorbild jchwebt ihm Petrarca dor, obwohl er ſelbſt ganz anders geartet war, fein befhaulicher Einfiedler, Lyriker, Jdealift, ſondern ein Iebensluftiger Weltmenſch, Epiler und Realift. Wie Betrarca ſchwärmt er aber für die Alten, für die Schönheit der altklaſſiſchen Literatur, für Dichterruhm, Poefie, Beredſamkeit. Sein gefeiertftes Werk, der „Decamerone“, gehört wie Pe— trarcas „Rime“ und „Zrionfi“ der italienischen Literatur an!. Er hat aber zeitlebens aud die lateinische gepflegt, und an diefem lebenslangen Studium fih zum höchſten Meifter des italienischen Proſaſtiles herangeſchult. Seine lateinifhen Werte jelbft ftehen weit unter denjenigen feines Freundes Petrarca, aber fie find nicht nur die Grundlage feiner italienischen Leiftungen, fie haben wejentlih mit beigetragen, Intereſſe und Begeifterung für das Haffiihe Altertum in Florenz und hierdurch in ganz Italien zu weden. Dies gilt befonders von jeinem lateinischen Hauptwerf Genealogia Deorum, welches zwar den ungeheuren mythologiſchen Stoff weder fünftleriih noch wiflenjhaftlid verarbeitete, aber denjelben in die weiteſten Kreiſe trug. So ift es auch mit dem Buche „Über die Berge, Wälder, Quellen, Seen, Flüffe, Sümpfe und Meere“, das als geographiiches Handbuch für die Lejung der alten Dichter dienen konnte. Durch feine allegorifche Deutung der Mythologie trug er auch nicht wenig dazu bei, fie der Neigung feiner Zeitgenoffen näher zu rüden.

Menn auch nit ein großer Gelehrter im umfaflendften Sinne des Wortes, beſaß Boccaccio doch eine ſehr ausgedehnte Kenntnis der altklaffiihen Literatur, bormwiegend der römischen, zum Zeil auch der griehijhen. Am vertrauteften war er mit Livius, Balerius Marimus, Pomponius Mela, Bergil, weit weniger mit Gicero, Horaz, Ovid. Auch Tacitus, den Petrarca noch nicht fannte, taucht bei ihm auf?. Die Griehen kannte er nur durch Überfegungen ; näher vertraut wurde er bloß mit Homer, den Petrarca und er duch den falabrefiihen Griechen Leonzio Pilato (um 1360) ins Latei— niſche überjegen ließen. Auf feine dichteriſche Tätigkeit konnte die Bekannt:

! Auch feine Ausbeutung zu Angriffen auf die Kirche hat ſchon Bellarmin treffend zurücgewiejen (a. a. O. Opp. VII 558—560) ; befondere Beadhtung verdient fein Wort: „Wenn Boccaccio au in feinen Novellen häufig die Lafter der Mönche und Nonnen hernimmt, jo zieht er daraus durchaus nicht den Schluß, daß ber Möndsftand überhaupt zu verdammen jei, vielmehr tadelt er diejenigen, welde durch ihr schlechtes Leben bie Heiligkeit und den Ruhm des Ordensftandes verbunfeln“ (a. a. ©. 559).

® Körting, Boccaccio 385 ff. s Ebb. 260 ff 379 fi.

486 Einundbzwanzigftes Kapitel.

ſchaft mit Homer nicht mehr einwirken, da er die noch übrigen Lebensjahre (bis 1375) faft ausſchließlich gelehrten Studien widmete. Auch für die weitere Entwidlung des Humanismus ift die römijche Literatur borherr- ſchend und beftimmend geblieben!. Es war indes immerhin von ungeheurer Tragweite, daß durch dieje erfte Überjegung Homer erſchloſſen, das Intereſſe für griehifche Literatur gewedt, das Studium derjelben angebahnt mar. Niht minder widhtig war es, daß Boccaccio, durch jeine novelliftiichen Schriften in italieniiher Sprache der Liebling der höfiichen Kreiſe geworden, diefe Kreiſe aud in das Intereſſe feiner humaniftifchen Studien hineinzog und, wie vor ihm Dante und PBetrarca, die Pflege der Hafliichen Literatur zur Baſis der nationalen nahm, die gleichzeitige Förderung beider zum Hauptziel der allgemeinen Bildung machte.

Einundzwanzigites Kapitel.

Die ifalienifhen und deutſchen Humaniflen des ausgehenden Mittelalters.

Wie Petrarca wandte fih auch Boccaccio in reiferen Jahren einem ernjteren Lebenswandel zu und verurteilte jelbit die Leichtfertigkeit und Un— jittlichkeit, welche feinen Jugendwerfen anhaftete. Er war durhaus kirchlich gefinnt, vermadhte das Liebfte, was er hatte, feine Bibliothek, dem Auguftiner: mönd Martino da Signa und ftarb im volliten Frieden mit der Kirche. Die Gunft der Päpfte von Benedikt XII. bis Gregor XL, welcher Betrarca jeine unabhängige Stellung und literariihe Muße dankte, ward, wenn aud) nit in gleihem Make, doch gelegentlih auch Boccaccio zu teil. Von dem Bedenklihen, das ihrer literariihen Zätigkeit anhing, wurde abgefehen, ihre humaniftiihen Studien als etwas GSelbftverftändliches gebilligt und unterftüßt.

Tatfählih war eine ſolche Förderung der klaſſiſchen Studien vom firhlihen Standpunft aus durchaus wünſchenswert. Untichtig ift zwar die jpäter von den Humaniften weitverbreitete Anſchauung, als wäre durd) die Scholaftit vom Ende des 13. Jahrhunderts an alles geiftige Leben in unabänderlihem Formelkram, gehaltlofen Disputationen und unfrudtbaren Spekulationen erftarıt. An den berühmten Franzisfaner Johannes Duns

ı „Homer ftand aber ſchon damals (1860-1537) und noch mehr in ben traurigen Zeiten von 1550 bis 1750 gegen Vergil zurüd, weil man an ihn nad dem Vorgang ber Franzoſen den Maßſtab des Kunftepos anlegte und ihn bemgemäß ganz falſch beurteilte” (Sittl, Gefchichte der griechiſchen Literatur I 161).

Die italienischen und beutfchen Humaniften bes ausgehenden Mittelalters. 487

Scotus, der fih nicht ſcheute, die Doktrin feiner Vorgänger im meiteften Umfang der ftrengiten Prüfung zu unterziehen und der 1308 als Lehrer zu Köln farb, reiht fih eine ganze Schule, aus der Petrus Aureolus, Antonius Andreas und Richard von Middleton ala bedeutende Koryphäen hervorragen. Eine durdaus originelle Gejtalt ift Raymund Yull, des Arabiſchen fundig, hauptfählih mit der Belehrung der Mohammedaner be: ichäftigt, in feinen Schriften nad Anlage und Form völlig abweichend von allem Hergebradten. Nikolaus von Lyra zeichnete ſich als Schrifterklärer aus, der Dominilaner Colonna und der Minorit Franz Mayron ala Dogmatifer. Als princeps thomistarum und vorzügliher Erflärer des hl. Thomas wird der Dominikaner Johannes Gapreolus heute noch geſchätzt. Im Kampfe gegen die Waldenjer zeichnete fich der Deutjche Peter von Pilichs— dorf aus, im Kampfe gegen Wiclif der englifhe Karmelit Thomas Waldenfis. Auf dem Konzil von Konftanz glänzte der Pariſer Kanzler Johannes Gerjon durch feine umfaflende Kenntnis der |pefulativen wie praftiichen Theologie. Ein nit minder außgebreitetes Wiſſen bezeugen die Werfe des Dionyſius Garthufianus, welche in einer früheren Ausgabe 21 Foliobände füllen und an deren Neuausgabe gegenwärtig eifrig gearbeitet wird. Die Moral: theologie des hl. Antoninus fand weite Verbreitung, und Gabriel Biel, der 1495 al& Profeffor in Tübingen ftarb, jchließt mit Ehren die lange Namenlifte der älteren Scholaftiter ab!.

Es Tann indes fein Zweifel fein, daß das große Schisma nachteilig auf die höheren Studien eingewirft hat, indem die Gelehrten gezwungen waren, ihre Hauptaufmerkjamfeit den brennenden Streitfragen zuzuwenden. Selbft in Paris litt die Pflege der Theologie einerfeit3 unter dem Mangel an patriftiihen Studien, anderjeit3 unter dem Vorherrſchen des Nominalismus?.

' H. Hurter 8. J., Tbeologia catholica tempore medii aevi (Nomenclator literarius recentioris Theol. Cath. IV), Oeniponte 1899, Sp. 363 ff.

? Ein unmittelbar aus den Urkunden gejhöpftes Bild von den wiſſenſchaftlichen und literarifchen Zuftänden ber Univerfität Paris von der Mitte bes 14. Jahrhunderts an gibt H. Denifle, Chartularium Universitatis Parisiensis III, Parisiis 1894, Introduetio vi—xvı. Bom Studium ber Theologie heißt es dafelbft: Jamdiu theo- logi, paucis exceptis, fontem egregium theologiae neglexerant, Patrum ecclesiae studium. Revera catalogi manuscriptorum illius tempestatis non continent apo- grapha operum sanctorum Patrum, nisi brevium tractatuum, generatim de vita spirituali agentium; si quid adhuc de Patribus noverant, id ex anterioribus theologieis operibus hauserant vel ex Collectaneis per alphabetum digestis, ubi sententiae Patrum collectae erant. Una ex antiquis institutis superfuit ratio scholastica. Sic theologia sterilis evasit ac sterilior quam umquam, Nominalismo in philosophia dominante (S. IX). Höchſt intereffant in literaturgeichichtlicher Hin- fiht ift eine im Appendieulus (S. xxxı—xxxvun) mitgeteilte Satire, welche gegen ben jeiner Behrmeinungen wegen ſtark angefochtenen Dominikaner Johannes de Mlonte- fono gerichtet ift. Der Verfaffer, in welchem P. Denifle mit größter Wahrſchein-

488 Einunbzwanzigftes Kapitel,

Die Scholaftit hatte die Hajfiihen Studien mehr, als nötig geweien wäre, zurüdgebrängt. Die Terte der Autoren felbft, auf melde Philofophie und Theologie fih ftüßten, befanden fi in höchft verwahrloftem Zuftande, die griechifhen waren nur zum geringen Teil, in ungenügenden lÜberjegungen zugänglid. Die geſchichtliche und äfthetiihe Würdigung des Wltertums lag völlig danieder. Etwas Kenntnis des Griechiſchen war zur größten Seltenheit geworden; das Latein, dad man im den ſcholaſtiſchen Hörſälen ſprach und jhrieb, war von der Sprade Ciceros und Livius’ ganz abgelommen. Nur wenige hatten nod eine Ahnung von der alten Metrif, von der Schönheit der antiken Poeſie überhaupt. Es mußte hier Wandel gejchafft werden, wenn nicht völlige Geihmadlofigfeit und Formloſigkeit einreißen jollte.

Das ift der Grund, weshalb die humaniſtiſche Richtung Petrarcas und Boccaccios gerade in kirchlichen Kreiſen jo günftige Aufnahme, jo lebhafte Förderung und Weiterentwidlung fand. Zunächſt in Florenz. Hier bildete fih um den Auguftinermöndh Luigi Marjigli (geb. 1342, get. 1394), den Freund und Schüler Petrarcas, im Klofter Santo Spirito eine Art literariicher Akademie, in der fich jüngere und ältere Gelehrte zur Pflege antifer Yiteratur und Philoſophie vereinigten. Ein anderer Bereinigungs- puntt war die Villa Paradijo des reihen Tylorentiner Kaufmanns Antonio degli Alberti (geb. 1358, geft. 1415), eines vielfeitig gebildeten und tätigen Mannes, wo die gemeinfamen Literaturbeftrebungen mit allem Zauber eines fröhlichen Yandaufenthalts und angenehmfter Unterhaltung verbunden wurden. An die beiden ſchloß Fih Hier Eolluccio Salutato, ein gewandter lateiniſcher Stilit, von 1375 bis 1406 Sanzler der Republik Florenz, dann der Bolititer Guido Tommafo di Nero di Lippo, der Dichter und Mufiter Francesco Zandini, der Komiler Biagio Sernelli, der leichtfertige Novellift Franco Sacdetti.

Zum eigentlich bedeutenden Literaturmittelpuntt für ganz Italien ward Florenz aber erft im folgenden Jahrhundert durch die Familie der Mediceer, deren großartiges Patronat mit Coſimo de’ Medici (1389—1464) begann, unter Zorenzo il Magnifico, der jelbit Dichter war, fi von 1469 bis 1492 in glänzendfter Weiſe mweiterfpann, in Papft Leo X. (1513—1521) fid mit jenem der Päpfte verſchmolz und hauptſächlich auf dem Gebiete der Fünfte feinen höchſten Glanzpunkt erreichte !.

lichkeit Nikolaus de Clamengis vermutet, zeigt ſich zugleih als ein gutgefchulter Theologe und als ein in der antiken Literatur tücdhtig bewanderter, ftilgewanbter, von Geift und Witz jprudelnder Humanift, voll Begeifterung für den alten, wohl- begründeten Ruhm der Univerfität Paris,

"A. Fabroni, Magni Cosmi Medici Vita, Pisa 1789. Vite di uomini illustri del secolo XV scritte da Vespasiano da Bisticci (herausgeg. von A. Mai [Spicilegium Romanım 1839] und W. Bartoli [Firenze 1859)).

Die italienischen und deutichen Humaniften des ausgehenden Dlittelalterd. 489

Bon dem Beifpiel der Mediceer angeregt, wandten fid) auch die übrigen Kleinherriher Italiens der Förderung der Literatur und Kunſt zu, die Pisconti und Sforza in Mailand, die Gonzaga in Mantua, die Efte von Ferrara, die Bentivoglio in Bologna, Federigo von Urbino, Gismondo Malatefta von Rimini, nicht minder Alfonſo von Aragonien, König von Neapel (1442— 1458), weniger dagegen defjen Nachfolger Yerrante (1458 bi3 1494). Zahlloje Bauten, Bildwerfe und Gemälde Haben dieje kunſt— liebenden Fürften und Yürftenhäufer und das prunfvolle Bild ihrer Zeit in lebendigem Andenken erhalten. Ihr Intereffe für Kunſt und Literatur läßt einigermaßen den politifchen Hader und Kleinkrieg vergefjen, der in diefem und dem folgenden Jahrhundert die Schöne Halbinjel zum fteten Zummelplag einheimischen und fremden Ehrgeizes machte; ja wenige Epoden der Geihichte hat der Zauber des Schönen mit ſolch berückendem Glanze umgeben.

AU diefe Mäcenaten überflügelt indes an Bedeutjamfeit und Einfluß die lange Reihe der Päpfte, welche von der Beilegung des großen Schismas an den Stuhl des hi. Petrus innehatten und melde in der Kunſtgeſchichte die Päpfte der Renaiffance genannt zu werden pflegen. Sie haben fi in jehr verjchiedenem Grade an dieſem Mäcenatentum beteiligt; aber ſeit Perikles und Auguflus gab es fein Fürftengefchleht, unter welchem Literatur und Kunft zugleich eine ſolche Blütezeit gefeiert Hätten, wie unter den Päpſten diefer Periode. Ein größerer Anteil fiel allerdings der Kunſt zu und gehört jomit der Kunftgejchichte an. Die Künftler und ihre hohen Gönner ftanden indes nicht wenig unter dem Einfluffe der Literatur und des zeitgenöffijchen Humanismus, und dieſer hat weniger durch hervorragende Literaturmwerfe als durch feinen Geift die ganze Periode beherrſcht.

Nicht wenige der bedeutendften Humaniften waren kirchlich gefinnte, in ihrem Privatleben unbejholtene Männer. Einige ragten jogar durd tiefe Religiofität und Tugend hervor. Andere mochten in ihrer Jugend etwas der Sinnlichkeit die Zügel haben ſchießen laffen, kehrten aber in reiferen Sahren zu Vernunft und Zucht zurüd. Auch von jenen, melde eine ſchwärmeriſche, nahezu abgöttijche Begeifterung für das Altertum zur Schau trugen, bemwahrten die meiften ihren Chriftenglauben unverjehrt; ihre Be— geifterung hatte durhaus nicht den Charakter einer Kunſtreligion, fondern höchſtens den eines wohlberechtigten Eifers für ein Fach, das den ſchönſten Zeil an Zeit und Kraft in Anſpruch nahm, ohne der hriftlichen Überzeugung irgendwie den Boden zu entziehen, wie man ja auch heute nicht feinen Chriftenglauben zu verleugnen braudt, um ein tüchtiger Sprachforſcher oder Altertumsforfher zu werden. Übertreibungen in diefer Begeifterung find großenteils auf Rechnung individueller Lebhaftigkeit, poetiiher Anlagen und jüblihen Temperament3 zu jeßen.

490 Einundbzwanzigftes Kapitel.

Schon der Gelehrtenfreis, welcher fih in Florenz um Gofimo de’ Medici jammelte, ftand auf dem Boden des mittelalterlihen Katholizismus. So der Kaufmann Niccolo Niccoli, der zwar jelbft nichts von Be— deutung fchrieb, aber als Bücherabjchreiber durch feine Genauigkeit und Zertkritif, als Bücherſammler durd feine Findigkeit, Sachkenntnis und Mitteilfamkeit den andern Humaniften die größten Dienfte erwies und bei feinem Zode (1459) eine Sammlung von adihundert der mertvollften Werte hinterließ. Auch fein Biograpp Gianozzo Manetti war fein Dichter noch angefehener Projafchriftfteller, brachte e3 aber zu ungewöhn— licher Kenntnis des Lateinischen, Griehiichen und Hebräifhen und erwarb fih dur feine zahlreihen mehr gelehrten als formgewandten Schriften einen hoben Ruf von Gelehrſamkeit. Sein Lehrer im Griedhifchen, der Kamaldulenfer Ambrogio Traverjari (1386—1439), feit 1431 fogar General jeines Ordens und überaus tätig für deſſen Reform, verwandte jeine Gewandtheit im Griechiſchen nicht bloß in den Unionsverhandlungen mit den Griehen in Ferrara und Florenz, fondern aud auf Überfegung griechiſcher Profanjchriftfteller und Kirchenväter, bradte in Venedig allein 238 griechiſche Handichriften zufanımen und pflegte auch den ciceronianijchen Stil mit dem größten Eifer.

Leonardo Bruni, erft Hauslehrer bei den Medici, jpäter (1405) Apoftolifcher Sekretär, endlih von 1427 bis zu feinem Tode 1444 Staat: fanzler der Republif Florenz, wie faum ein anderer mit den griechiichen Philojophen vertraut, jchrieb auf griehiich über den Urſprung und die Ber: faffung der Republif, in antikem Latein die Geſchichte derjelben!. Der Haupt: förderer aller griechiſchen Studien war der gelehrte Kardinal Bejjarion (1403— 1472), von melden jpäter noch die Rede fein wird, Der Floren- tiner Marjiglio Ficino (1433 1499), der auf Coſimos Anregung die Schriften Platos überjeßte und fi dabei jelbft mit platonifchen An— jhauungen erfüllte, geriet dadurd zwar in mannigfadhe Gegenſätze zur ariftoteliichen Philofophie, ſchrieb aber auch ein verdienftliches Wert über die Unfterblichleit der Seele und eine elegante Apologie des Chriftentums, und fam troß feiner allzu großen Vergötterung Platos nicht in Konflilt mit den kirchlichen Autoritäten ?.

!A. Traversarius, Hodoeporion, Florentiae 1680; Latinae Epistolae (ed. L. Mehus), Florent. 1759. Mehus, Specimen historiae litterariae, Florent. 1747. L. Bruni, Aretini epistolae (ed. Mehus), Florent. 1742; Historiarum florentini populi libri XII, Argentor. 1610 (Muratori XIX); Hepi rolreias Diwpsvrevöv (herausgeg. von 2. W. Hasper, Leipzig 1861).

® Marsilii Ficini Opera, Basil. 1561. L. Galeotti, Saggio intorno alla vita e agli seritti di M. Ficino (Archiv. stor. ital. N. Ser. IX 25—91; X 4—55).

Die italienifchen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Mittelalterd. 491

Der fleikige Bibliothefar Giovanni Tortello (F 1466), der Dante: erflärer Eriftoforo Landino (1434—1504), der als lateinischer Gram— matifer und Gräziſt hervorragende Erzbiihof Niccolo Perotti (1430 bis 1480), der vielfeitige Künftler und Kunſtſchriftſteller Leon Battifta Alberti (1404—1477), der ausgezeichnete Profefjor und Latinift Maffeo Begio (1406—1458), der gelehrte Topograph und Antiquar Flabio Biondo (1388—1463) waren ſämtlich gläubige, zum Teil jehr eifrige und gute Chriften!t., Ja aus der Reihe diefer Gelehrten find zwei zur höchſten Würde der Chriftenheit emporgeftiegen: Tommajo PBarentucelli als Nikolaus V. (1447—1455), Enea Silvio Piccolomini als Pius I. (1458 1464).

Nitolaus V., vom armen Schulmeifter zu Sarzana erft zum Schreiber des Kardinal Albergati, dann zum Erzbiſchof von Bologna, endlid zum Papſt erhoben, hat das durh das Avenionenfiſche Exil vermwüftete und heruntergefommene Rom wieder zur herrlihen Hauptftadt der Chriftenheit, zur merkwürdigſten Sunftmetropole der Welt gemadt. Die Gelehrten, welche er um ſich jammelte, haben feine großen Werke zu ftande gebracht; doch duch ihr Mitwirken ward die Handihriftenfammlung des Papftes, die Vatikaniſche Bibliothek, zur foftbarften aller Bücherfammlungen, zum lebendigen Mittelpunkt eines wiſſenſchaftlichen Strebens, das Bibelmifjen- ſchaft, Patriftit, pofitive und ſcholaſtiſche Theologie, Philofophie, Recht und Kirchenrecht, die humaniſtiſchen Fächer in grobartigfter Weife umfaßte und all diefen Zweigen vorab eine Eritifch genaue und gefiherte Grundlage zu geben juchte?,

Enea Silvio de’ Piccolomini (geb. 1405), der Sprößling einer verarmten Adelsfamilie in Siena, verlegte ſich erſt in feiner Vaterftadt auf das Studium der Literatur und Boefie, trat dann in den Dienft des Kar— dinal® Gapranica, begleitete denjelben 1432 zum Konzil von Bajel und brachte die folgenden dreiundzwanzig Jahre in Deutſchland zu. Nur vor: übergehend kam er im Gefolge des Kardinal Albergati nah Arras und richtete Aufträge desſelben in Schottland aus, verfah dann mehrere Be- amtungen beim Basler Konzil, trat in die Kanzlei des Gegenpapites Felix V. und faßte für denfelben die wichtigſten Aktenftüde ab, ging 1442 in den Dienjt des Kaiſers Friedrich III. über, der ihn in Frankfurt zum Dieter Frönte, trat in die faiferlihe Kanzlei, vermittelte zwifchen Eugen IV.

! Commento di Crist, Landino sopra la commedia di Dante, Firenze 1481. N. Perotti, Epist. ad I. Constantium de ratione stadiorum suorum (bei Mai, Classic. Auct. II). Mapheus Vegius, Opuscula sacra (Magna bibl. Vet. Patr. XV), Colon. 1622.

2 8. Pastor, Geſchichte ber Päpfte I®, 351—680. E. Müntz etP. Fabre, La bibliothöque du Vatican au XV* siöcle, Paris 1887.

492 Einundzwanzigftes Kapitel.

und den deutſchen Fürften und brachte zwifchen denjelben (1448) ein Kon— fordat zu ftande, erhielt das Bistum Trieft, dann dasjenige von Siena, ward 1456 Kardinal, 1458 Bapft und regierte als Pius IL. die Gejamt- firhe bis zu feinem Todesjahre 1463. Cein bewegtes Leben gewährt einen tiefen Einblid in die firhliden Wirren, welche es ermöglichten, daß neben Theologen und Juriſten auch die federgewandten Humaniften eine jo große Rolle fpielen konnten. Weder an dem lodern Literatenleben, an dem er ih noch als Laie, wie einft Petrarca zu Avignon, beteiligte, noch an jeinen nit minder lodern Gedichten, Novellen und Komödien, die er verfahte, wurde Anſtoß genommen. Auch feine Haltung auf dem Basler Konzil gewinnt duch die Zeitverhältniffe eine Erklärung, welche mande herbe Ürteile über ihn zum Schweigen bringt. Nachdem er 1445 Prieſter ge- worden, ſchlug er im perfönlicher wie firdhenpolitiicher Hinficht eine durchaus tadelfreie Richtung ein. Er ftreifte die leichtfertigen Auswüchje des damaligen Literatentumsd gründlid ab, ohne indes das Intereffe an den humaniſtiſchen Studien aufzugeben. Noch als Papſt erweiterte er fein geographiidhes Werk über Europa zu einer großen allgemeinen Kosmographie, von der indes nur nod) der Zeil über Alien zu ftande fam, und verfaßte Memoiren über fein Pontifilat mit einem einleitenden Abriß feines früheren Lebens 1,

Auch im übrigen Jtalien tritt der Humanismus durchaus nicht als Abfall vom Autoritätsglauben, Oppofition gegen die Kirche, feindjelige Richtung gegen das Ordensleben auf. Antonio Loschi (1370—1450), der lange in Mailand, Berona und Neapel, zulegt in Rom lebte, war der Kirche ganz ergeben und erwarb ſich ein befonderes Verdienft dadurch, daß er ein Formelbuch für den Epiftolarverkehr der römischen Kurie verfahte. Wie er waren auch Gasparino da Barzizza (1370—1431) und deffen Sohn Guiniforte (1406—1459), in Padua, Venedig und Mailand tätig, Antonio da Rho in Mailand und Pier Candido Decembrio (1399 —1477), der gelehrte Präfident der mailändifhen Republit, chriſtlich gefinnte Männer. Bittorino da Yeltre (1378—1446), der angejehene Lehrer und Erzieher des Markgrafen von Gonzaga zu Mantua, führte, obwohl Laie, das ftrenge Leben eines Mönches und begann das täglide Studium nie ohne Anhörung der Meffe, lange Gebete und Bußübungen. Battifta Mantovano (1448—1516), Dichter am Hofe von Mantua, war zugleich

! Aeneas Silvius, Opera, Basil. 1551; Historia Friderici III Impera- toris bei Kollar, Anal. monum. omnis aevi. Vindobonensia II, Vindob. 1762; De rebus Basileae gestis bei C. Fea, Pius II, Romae 1823; Pii II P. M. Com- mentarli rer. memorabil., Francof. 1614; Orationes politicae et eccl. (Ed. Mansi.) Lucae 1755. G. Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini als Papft Pius II., Berlin 1856—1863. 2. Paftor, Geſchichte ber Päpfte I? 327 ff 475 ff 654; 1I®5 bis 289.

Die italienifhhen und deutſchen Humaniften bes ausgehenden Mittelalters. 493

Mönd des Karmeliterordend, von 1513 an General dieſes Ordens, voll von Begeifterung für die fittlihe Reform der Kirche mie für die Unter: ordnung der humaniftiihen Studien unter die Höhere chriftlihe Bildung. Gleich Pittorino da Feltre war auh Battifta Guarino (1370—1460) ein ausgezeichneter, gewiſſenhafter Lehrer in yerrara und Verona, der mit innigfter Hochſchätzung des Altertums die eifrigfte kirchliche Gefinnung verband 1,

Nur eine verhältnismäßig kleine Schar von Humaniften hat an dem altehrwürdigen Bande gerüttelt, da8 den Humanismus bis dahin mit der hriftlihen Bildung verband, und jo Anlaß gegeben, den Humanismus und die gejamte Renaiffance als eine Art Vorjpiel und Vorbereitung des Abfalls aufzufafien, der im 16. Jahrhundert das nördliche Europa von der Kirche losriß. Auch diefe wenigen haben fi indes von dem äußeren Verbande mit der Kirche keineswegs losgejagt, fondern ihr meift während des größten Teils ihrer Lebenszeit, wenigſtens aus zeitlihen Rückſichten, ald Beamte gedient und in ihren leichtfertigen Traltaten, Satiren, Pasquillen mehr einzelne kirchliche Perjönlichkeiten, KHörperfchaften und Vorkommniſſe als die firhlihen Inftitutionen oder Dogmen felbft angefochten. Es waren nicht ftolze, eigenfinnige Ketzernaturen, melde ihre Privatmeinungen bis aufs Mefler verteidigten und fi dafür verbrennen ließen, wie Hus und Hieronymus bon Prag, jondern höchſt bewegliche und oberflächliche Schöngeifter, welche, eines tieferen philofophiichen und theologiſchen Wiffens bar, ihre Mund» und Federgewandtheit grenzenlos überſchätzten, voll der aufgedunfenften Eitelkeit, im Schlamm der gröbften Lafter wateten und ſich frivol über alles luſtig machten, was fie an eine höhere Lebensauffaffung erinnerte. Da fie nur duch kirchliche Stellen und Pfründen die erwünfchte literariſche Muße und Einfluß erhofften, traten fie in den Dienft der Kirche, doch nur in unteren Graden, melde ihnen die Möglichkeit einer Ehe nicht verſchloſſen, lebten aber meift offen im SKontubinat und verrieten ihre Gemeinheit ebenjo offen in lasziven und unzüchtigen Schriften, verhöhnten die Mönche, welche fie deshalb angriffen, zankten aber aus Eiferfuht und Neid faft noch mehr untereinander und bewahrheiteten das alte Sprihwort: „Pad ſchlägt ih, Pad verträgt fi.“ Es findet ſich unter diefer Gruppe von Humaniften fein einziger Hochftehender Charakter, fein einziges irgendwie bahnbrechendes Genie.

! A. de Luschis, Carmina quae supersunt, Patavii 1858. G. Bar- zizius, Opera, Romae 1723. P.C. Decembrius, Vita Philippi Mor. Vice- comitis bei Muratori, Seript. rer. ital. XX. F. Prendilacque, Vita Vietorini Feltrensis, Patav. 1774, italienifh$ von Brambilla, Como 1871. C. Rosmini, Idea dell’ ottimo precettore nella vita e disciplina di Vitt. da Feltre, Bassano 1801. B. Mantuani opera omnia, Antverp. 1556. B. Guarinus, De modo docendi et discendi, Argent. 1514.

494 Einundzwanzigftes Kapitel.

Sie galten indes als die beften lateinischen Stiliften, die gewandteſten Grammatiter, Rhetoren, Bücher: und Literaturfenner. Die Päpfte hielten es für ein geringeres Übel, diefe ihre Talente im Dienfte ihrer Kanzlei zu berwerten, als die jhimpfjeligften Streithähne von ganz Europa durch firenges Einjhreiten gegen die Kiche zu erbittern. Manches Böfe wurde jo ver- hindert, mandes Gute erreiht. Mit Nüdfiht auf das Geſamtwohl der Kirche wurden die ſchlimmen Eigenſchaften dieſer verlotterten Schöngeifter wenigitens zum Zeil unſchädlich gemacht, wenn aud ihre Frivolität und ihre Standale den weltlichen Ruhmesglanz der Renaifjancepäpfte mit be: denklichen Schattenzügen Yurdwoben haben.

Der berühmtefte von ihnen, Poggio Bracciolini (1380— 1459), arbeitete fast ein halbes Jahrhundert im Dienfte der Päpfte, ſchrieb zahlloje Altenſtücke für fie, entriß Quintilian, Lucretius, Silius Jtalicus, Ammian Marcellin, wahrſcheinlich auch die erften Bücher des Zacitus jahrhunderte langer Vergeſſenheit, überjegte Lucian, Diodor Siculus, Xenophon; wenn er in feinem Skandalbuch der „Facetien“ ſich nod als Siebziger über Priefter und Mönde, Biihöfe und KHardinäle, aud über einzelne Päpfte luftig madte, jo Haben ſchon zu feinen Lebzeiten kirchlich-geſinnte Gelehrte und Literaturfreunde dieſe Schrift nicht ernfter genommen als jeine Schmäh— ihriften gegen Filelfo und Balla, in welchen er nad) Voigt „wie ein Gaſſen— bube mit den mwütendften Schmähungen und den niederträdtigiten Ber: leumdungen über feine Gegner herfällt“, und von welchen Billari jagt: „Ber: laffen wir diefes mit Kot erfüllte Gebiet!” Nachdem er jein ganzes Leben lang die Bettelmönde mit Schmuß beworfen, erlebte er e8 noch, daß einer jeiner Söhne Dominilaner ward; er felbjt wollte bei den Minoriten in ©. Eroce begraben werden, ftiftete jich bei ihnen hundert Seelenmeffen und eine eigene Kapelle. Es erfordert deshalb ungewöhnlih viel Geift, um in ihm eine leuchtende Fadel der nahenden modernen Aufklärung zu erbliden !.

Auch die pornographiicen Gedichte, die Antonio Beccadelli, genannt Panormitano (1394—1471), in feinem Hermaphroditus um 1426 ver- öffentlichte, find nicht ald eine der Hauptoffenbarungen des Humanismus zu betrachten, jondern als Jugendſünden eines verfommenen Boeten, der etwa wie Byron durch feine Formgewandtheit mandem fonft anftändigen Literaturfreunde imponierte, aber von feiten ernfterer Kritifer die verdiente Abfertigung erhielt, ſpäter ein philifterhafter Hofhiftoriograph geworden und als Poet völlig vertrodnet ift. Sein obizönes Schandbud wurde übrigens ihon durch Eugen IV, unter Strafe der Erfommunilation verboten. Kardinal

ı]J. F. Poggius (Braceiolini), Opera, Basil. 1538; Epistolae (ed. Th. de Tonellis) I, Florent. 1832; II 1859; III 1861; Historia populi Flo- rentini (Muratori, SS. XX); Dialogus contra hypocrisin (ed. E. Brown), Londini 1690; Historiae de varietate fortunae (ed. D. Georgius), Parisiis 1723.

Die italienischen und deutichen Humaniften des ausgehenden Mittelalters. 495

Gejarini, fonft ein eifriger Gönner der Renaiffance, vernichtete e&, wo er es nur traf. Leonardo Bruni und andere berühmte Humaniften verurteilten es ftrenge. Der Hi. Bernardin don Siena und Roberto von Lecce, die gefeiertften Prediger jener Zeit, warnten in den beredteften Worten davor und verbrannten es auf öffentlihem Plate. Konnte auch der Verbreitung desjelben nicht wirkſam gefteuert werden, jo hat fi der gemeine Dichter doch mwenigftens in Rom unmöglid gemadt '!.

Am weiteſten ift wohl in ſchamloſer Erneuerung des Heidentums Lorenzo Balla (della Valle) gegangen (1407 zu Piacenza geboren, 1457 in Rom geftorben). In feinem Traftat De voluptate (1431) wagte er es geradezu, Ariftoteles wie Plato, Thomas wie Scotus beijeite zu jchieben und die Lehre Epikurs als die höchſte Errungenihaft der Philojophie, die Wolluft, wenn nicht ganz offen, doch verblümt als das höchſte Gut zu proffamieren. Das hat manden imponiert; man darf die Jahreszahlen aber denn doch nicht überſehen. Daß ein feder Klopffehter von 24 Jahren, der fich keineswegs des beften fittliden Rufes erfreute, jo philojophiert, ift Doch wohl jo auf: fallend nit; viel auffallender ift es, dab man diefe Mifgeburt, die Valla ſelbſt jhon 1433 bedeutend abzuändern ſich genötigt ſah, nebft feinen Streit- ſchriften: „Gegen die Konſtantiniſche Schentung“ (1440), „Über die Pro: fejfion der Religiofen”, „Gegen den Juriften Bartolus“, ebenfalld wieder zu einer der großartigften Offenbarungen der Renaiffance aufgebauſcht hat ?. Die Wahrheit ift, daß Balla mit diefen petulanten, fnabenhaften Angriffen auf die chriſtliche Wiſſenſchaft, die kirchliche Autorität und die Orden fid nur den Weg erfchwerte, feine wirklichen SKenntniffe auf dem Gebiete der Philologie allgemein nugbar zu machen. Auch feine „Elegantien der lateinischen Sprade“, in welchen er jeine große Gelehrfamkeit auf diefem Gebiete offen: barte, litten darunter, daß er in grenzenlofer Eitelteit alles allein wiffen wollte und geradezu erklärte, bis auf ihm habe noch niemand wahrhaft Haffiiches Latein gejchrieben. Trotz diefer lädherlihen Selbftüberhebung und Anmaßung des allwiffenden Kritifus, der Donat und Priscian wie Cicero und Livius, Plato und Ariftoteles über den Haufen werfen mollte, verfannten die ge: lehrteften Kardinäle jener Zeit, Beffarion und Eufa, nicht fein Talent nod) die ſprachwiſſenſchaftlichen Kenntniffe, die er befaß, und fuchten ihm die Wege zu ebnen, als er nad Rom fommen und in päpftliche Dienfte treten wollte ®.

A. Beccatellius, Epistolae et Orationes, Venetiis 1553; De dictis et factis Alfonsi regis Aragonum (ed. D. Chytraeus), Wittenb. 1585.

? „Ungeftraft hatte ber Kritiker die altehrwürdige Tradition angegriffen, der Grammatiter Die Theologen gemeiftert, der Hofdichter die Inquifition verhöhnt. Zum Ärger der Ketzermacher beihäftigte fi ber gelehrte Philologe nun gar mit dem Neuen Teſtament“ ujw. (Boigt, Die Wiederbelebung des Hajfischen Altertums I 475).

® I. Valla, Opera, Basil. 1540; Opuscula tria (ed. Vahlen), in Sitzungs- berichte ber phil.-hiftor. Klaſſe der Wiener Atademie der Wiſſenſch. LXI LXII, Wien 1869.

496 Einundzwanzigftes Kapitel.

Denn nad all dem gewaltigen Lärm gegen die päpftlihe Macht ſchlich ih Valla nad Rom und dudte ſich und leiftete Abbitte und erklärte ſich zu jedem Widerruf bereit, ließ ſich als Striptor anftellen, ftieg unter Calixt II. fogar nod zum päpftlien Sefretär und Kanonikus der Laterankirche empor und ftarb als folder (1457) im Frieden mit der Kirche.

Zu ftrengeren Mapregeln ſah fih Papft Paul II. gegen die Alademie des Pomponio Leto, des Platina und ihrer Freunde genötigt, welche in ihrer halbverrüdten Begeifterung für das Altertum fi als Heiden ſowohl wie als Verſchwörer gegen den Papft verbädtig machten. Die Strenge wirkte indes mwohltätig und brachte felbft die Rädelsführer zur Beſinnung, jo daß fie vom Verdacht der Ketzerei freigefprodhen, ihre Haft auf den päpft- lihen Palaft und bald auf Internierung in der Stadt Rom befchräntt wurde, Pomponio unter Sirtus IV. jeine Vorlefungen wieder aufnehmen fonnte und Platina (1481) als Bibliothelar der Baticana ftarb.

ALS ftarrlöpfige Freigeifter werden eigentlih nur Codro Urceo (1446 bis 1500), der in Bologna lehrte, und Carlo Marfuppini von Arezzo (Aretino, 1399—1463) erwähnt; von dem letzteren wird berichtet, daß er „ohne Beiht und Abendmahl, nicht wie ein guter Chriſt“ geftorben fei.

So gern und jelbfigefällig fih die Humaniften „Poeten“ nannten und nennen ließen, jo wenig haben die meiften von ihnen auf dem Gebiete der Poeſie geleiſte. Wie ihre Projawerke, jo leiden auch ihre Gedichte an Phrajenhaftigkeit, Froftiger Nahahmung, ungeniegbarer Schmeichelei und jehr oft an widerwärtiger Lüfterndeit.

Die größte Fruchtbarkeit entwidelte Francesco Filelfo, 1398 ge: boren, zu Padua gejhult, Hauslehrer in Venedig, fünf Jahre in Dieniten des Kaiſers Johannes VII. Paläologus zu Konftantinopel, dann mit der Tochter des gelehrten Manuel Chryſoloras vermählt, Lehrer der alten Spraden zu Venedig, Bologna, Florenz, Siena, Neapel, Mailand, zulegt wieder in Florenz, wo er 1481 ftarb. Nah dem Tode feiner zweiten Frau wäre er gern Kardinal getvorden; da dies aber nicht ging, heiratete er eine dritte. In Streitſchriften der bitterften Art befehdete er Niccoli, Marfuppini, vor alleın aber Boggio und die Mediceer, deren Schmeichler und Lobredner er aber zulegt ward, In einem Epos von bierundzwanzig Gejängen auf Francesco Sforza wollte er die Heldentaten dieſes Mailänder Fürftenhaufes befingen, machte aber die Ausführung von barer Bezahlung abhängig, und jo ſank es von ſechzehn auf zehn, zulegt auf acht Gefänge mit etwa 6400 Verſen herab, zu denen er jpäter noch drei weitere Gejänge fügte. Seine Satiren, dem König Alfonfo von Neapel gewidmet, umfaffen 10000 Berje, feine Oden (Carmina) in verjchiedenen Strophenmaßen ebenfoviel; nicht weniger feine Elegien und Epigramme (De iocis et seriis); endlich veröffentlichte er noch einen Band griechiſcher Gedichte mit 2400 Verjen. Der großen Leichtigkeit

Die italienifhen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Dkittelalterd. 497

und Gewandtheit entjpricht der Gehalt, oft auch der Geihmad nicht. Ge: drudt wurde nur das Bud der Satiren!.

In jungen Jahren faßte Maffeo Begio den fühnen Plan, zu Vergils „Aeneide“ ein dreizehntes Buch hinzuzudidhten, worin König Turnus feierlich begraben wurde, Aeneas mit Lavinia Hochzeit hielt und flarb. Da er fih ganz in Bergils Ideen, Sprade und Ton bineingelebt hatte, fand die Ausführung vielfadhen Beifall. In ähnlihem Stil bearbeitete er dann den „Tod des Aftyanar“ und in vier Büchern das „Goldene Vließ“. In vorgeſchrittenem Alter aber wandte er fih den „Vätern der Wüſte“ zu und bejang, ebenfalls in vier Büchern, das Leben des Hl. Antonius bis zum Begräbnis des Hl. Paulus. Einen glüdlihen Gedanken hatte der Ungar Sohannes von Ejezmicze, Janus Pannonius, 1434 geboren, im Haufe Guarinos zu Verona zum Latiniften und Gräziften herangebildet, ſchon mit fünfundzwanzig Jahren zum Bischof von Fünfkirchen ernannt, ein wirklich poetijher Kopf, mit vorzüglichem Yormtalent, der mehr zum Literaten als zum Bischof taugte: er wollte die Türkenkämpfe des älteren Hunyadi im einem Epos verherrlihen; aber nad dem Tode des Helden blieb die ge plante Dichtung leider fteden?. Die „Meleagris“, die „Argonautila“ und die „Heiperis“ des Homerverehrers Baſini find Verſuche im Stile der alten alerandriniihen Schulepif®.

Zum eigentlihen Dramatiter bildete fich feiner der Humaniften aus, doch verſuchten fi mandhe gelegentlich in einem Trauerſpiel oder Luftjpiel. Beim Trauerjpiel nahmen fie ih Seneca zum Vorbild, wie ſchon Muffato in jeiner „Eccerinis“. So ſchrieb Loschi einen „Achilles“, Gregorio Eorraro eine „Progne“, und Leonardo Dati, ein armer Briefter in Florenz, einen „Hiempfal“ ; Anerkennung fand aber bloß die „Progne“ des Gorraro, die im Wechſel des Dialogs und der Chöre einen blühenden Reichtum der Sprache entfaltete.

Für die Verfuche in der Komödie war bald Terentius maßgebend bald Plautus. Einen lehrhaften Anflug Hat der „Baulus“ des Pier Paolo Ber: gerio; burlesfer war der Lusus ebriorum (oder De lege Bibia) des Stadtſchreibers Secco Potentone von Padua. Biel Beifall ernteten die „Poly: rena” des Lionardo Bruni, eine joviale Liebestomödie, die nad) Terenz feiner gehaltene „Philodoris“ des Leon Battifta degli Alberti und die nad Plautus gearbeitete „Filogenia“ des Ugolino Piſani. Erwähnt wird aud) eine „Chriſis“ des Enea Silvio und eine „Afrodifia” des Decembrio. Biel

ı F, Philelphus, Epistolarum familiarium libri XXXVII, Venetiis 1502; Cent-dix lettres grecques (publ. par E. Legrand), Paris 1892; Orationes cum aliis opusculis, Venet. 1492; Satyrarum Decades X, Venet. 1502; Convivia Mediolensia, Spiris 1508.

® Janus Pannonius, Poemata. Opuscula, Traiecti ad Rhenum 1784.

® Basinius, Opera praestantiora, Arimini 1794.

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 32

498 Einundzwanzigftes Stapitel,

gefündigt wurde von den Humaniften aber auf dem Gebiete der eigentlichen Bote nicht blo durch Beccadelli und Poggio, fondern aud durch Lionardo Bruni, Filelfo und viele andere.

Die ausgedehntefte Maffenproduftion fand auf dem Gebiete der Elegie und des Epigramms ftatt. Hier treffen wir die meiften der Genannten wieder: Filelfo, Loshi, Maffeo Begio, Enea Silvio, Corraro, Bafinio Bafini, Janus Pannonius, dann aud die beiden Guarino, Vater und Sohn, Agapito Eenci de’ Ruftici, Aurifpa, Marjuppini. So viel dichterifchen Geift auch dieje Männer bejaßen, ift es doch den meiften nur jelten geglüdt, fich aus der Yormaliftif der mühjam erlernten Schuliprade und der Nachahmung zu eigenartiger Geftaltung durdhzuarbeiten. Heiden und alte Römer waren fie nun einmal nicht; neue Formen und Wendungen fonnten fie faum bringen, wenn fie nicht das höchſte Lob der KHlaffizität verfcherzen oder gefährden wollten, und jo lejen ſich ihre elegijchen und epigrammatischen Diftichen meift wie ein Nahhall einer fremden, längft überwundenen Zeit.

Dennoch find all diefe Leiftungen durchaus nicht geringſchätzig abzu— weilen. Sie haben mädtig dazu beigetragen, das halb oder ganz erlofchene Intereffe für die altklaffiiche Literatur wieder zu erweden, den Sinn für poetiihe Formſchönheit neu zu beleben, durch praltiſche Kenntnis der Alten jomohl der Lateinischen wiſſenſchaftlichen Literatur als den aufblühenden Nationalliteraturen einen neuen Aufſchwung, muftergültige Normen und einen weiteren Horizont zu verleihen. Während die Humaniften viel von fi) reden zu machen wußten, oft bevor fie noch ihre Werke vollftändig zu Papier gebracht hatten, ift ein Dichter ziemlih unbeadhtet geblieben, der in Bezug auf die Haffiichen Studien nod den älteren Anſchauungen des Mittel: alters Huldigte. Es ift Johannes Gerjon (Eharlier)!, der durch Wiſſen— ihaft und Frömmigkeit gleich ausgezeichnete Kanzler der Univerfität Paris und deren Vertreter auf dem Konzil zu Konftanz (geb. 1363, geft. 1429). Gleich Nikolaus von Elemanges (Glamengis), der damals als der würdigfte Repräjentant der klaſſiſchen Studien in Frankreich galt?, war er mit den alten Slaffifern in weitem Umfang und jehr gründlich vertraut,

1I. Gersonius, Opera omnia (ed. L. E. Du Pin), 5 Bde 2°, Antverp. 1706. J. B. Schwab, Johannes Gerjon, Profeffor der Theologie und Kanzler ber Univerfität Paris, Würzburg 1858. über feine literarifhen Stubien vgl. ebd. Taf 8741 758 ff. P. Feret, La Facult6 de Theologie de Paris IV, Paris 1897, 223—273.

2 Nicolaus de Clemangiis, Opera omnia (ed. Lydius), Lugd. Bat. 1613. Durch Nikolaus de Elamengis nahmen die humaniſtiſchen und rhetorifchen Studien auch an der Univerfität von Paris, allerdings nur für kurze Zeit, einen fehr erfreu- lichen Aufſchwung; doch blieben die franzöſiſchen Humaniften weit hinter ben italie- nifchen zurüd. Vgl. H. Denifle O.Pr., Chartularium Universitatis Parisiensis III, Paris. 1894, Introductio x f.

Die italienifhen und deutſchen Humaniften deö ausgehenden Mittelalters. 499

hegte aber für diefelben nicht jene überſchwengliche Begeifterung, an welcher Petrarca krankte, fondern ordnete fie den Höheren religiöjen Zielen und dem theologiihen Wiſſen unter. Sit procul ethnica, Mendax musa strepat his quibus est Venus Aut Mars deliciae, vanaque numina, Noster solus amor lesus, !

jagt er in einem Gedichte kurz dor jeinem Tode. Das mar fein literarischer Standpunkt. Außer einer Anzahl Eleinerer Gedichte hat er auch eine Epopöe in zwölf Gejängen hinterlaffen, welde den Zitel „Joſephina“ führt. Sie ift in den Eingangsverjen dem heiligen Nährvater des Erlöſers gewidmet, ſchließt ſich aber ſachlich, gleich einer ähnlichen Dichtung Hroswithas, an die apofryphen Legenden des fog. Jalobusevangeliums an. Während ji indes die Nonne von Ganderöheim begnügte, die gegebene Profaerzählung ſchlicht und einfah in Verſe umzujegen, hat der gefeierte Theologe und Myſtiker die einzelnen Züge derjelben mit tieferer Beihauung durchdrungen und zum Ausdrud der großen Geheimniffe der Menſchwerdung geftaltet, gewiſſer— maßen der jeligfien Jungfrau nadeifernd, von der er fingt: Virgo divinius intrat

Mentis in arcanum, sustollit seque super se,

Alta super rapitur, caelos super evolat omnes;

Cuncta creata silent, fruitur caligine diva;

Nullum interturbat tantam phantasma quietem;

Excedit mens acta Deo, loquiturque silenter

Intus ?,

„Man fühlt”, jagt Saint:Marc Girardin von der lieblihen Dichtung, „daß die Kriftlihe Epopde hier nicht eine bloß literarijche Arbeit und ein Traum der Phantafie ift; fie ift ein Werk des Glaubens und der Andadt; der Dichter widmet fie weniger den Menjhen, um bewundert zu werben, als Gott, um zum ewigen Seile zu gelangen.“ 3

Da Gerjon, durch feinen Freimut dem Herzog von Burgund verhaßt geworden, nad dem Schluſſe des Konzild (1418) nicht nah Paris zurüd- fehren fonnte, verfaßte er auf dem Schloffe Rattenberg, das ihm der Herzog von Bayern als Zufludtsftätte angewieſen hatte, ein Seitenftüd zu dem Troftbüchlein des Boöthius, das ihm ſchon von Jugend auf als Mufter der Dihtung vorgeſchwebt hatte: „Vier Bücher vom Trofte der Theologie“, ein höchſt interefjantes Gegenftüd zu den Betradhtungen, womit der alte Betrarca fi tröftete. Trotz der freundlihen Aufnahme, welche ihm Herzog Friedrich

! Gerson, Opp. IV 540. » Ebd. IV 743 f. > Saint-Marc Girardin, De l’6popee chretienne depuis les premiers temps jusqu’a Klopstock (Revue des Deux Mondes III [1849] 646). Dal. 642 ff. 32*

500 Einundzwanzigftes Kapitel.

von Ofterreih aud in Wien gewährte, empfand Gerſon doch tief die eigene Verbannung und all das Leid, das der Herjog von Burgund über feine Freunde in Paris verhängte. So Hagt er in einem Gedichte von Wien aus:

Heu pietas, heu prisca fides, coguntur alumni Francigenae montes exiliumque pati, Summe Deus, pro lege tua, quam sub decachordo Mentibus impressam scribis et in tabulis. O quot theologi, quot pontifices periere Carcere quos clausos dira necat rabies. Effugit altera pars alienis incola terris Tutior exilio sed spoliata bonis. Inter quos unus, qui cancellarius almi Parisiis studii est, cedit et advena fit. Austria tu felix, felix studiosa Vienna Dux quibus est talis traditus in regimen, Zelo qui fidei fervens ob eum fugitivo Huie miserans offert ultro refrigerium, Assignatque locum cum libertate suique Patribus egregii commoda collegii. Sis sua magna lesu merces, pro cuius honore Doctorem reeipit discipulumque tuum !.

Im Gegenfab zu den oft jo unmürbigen Schmeicdheleien und Speichel: ledereien der Humaniften fpricht Hier die fchlichtefte Fromme Dankbarkeit. Seine innige Frömmigkeit war es vor allem, welche jo viele veranlaßt hat, Gerfon für den Verfaſſer der „Nachfolge Chriſti“ zu halten. ft dies auch nicht der Fall, jo ragt er doch durch feine dogmatiſchen, moraliiden und fichenrechtlihen Werte, bejonder8 aber duch feine myftiichen Schriften hoch über den Schwarm der damaligen Schönredner hinaus, welche über der glatten Form nur allzuoft des wahren und dhriftlihen Gehalts vergaßen.

Zu bedauern bleibt indes, daß Gerjon die ſchöne Form nicht höher angeihlagen und die Hafliihen Studien nicht höher geihäßt hat. Indem zahlreiche Vertreter der Theologie und Philofophie feinem Beifpiel folgten, trennte und entfernte fi der Humanismus immer mehr von den höheren Studien. Der naturgemäße eigentlihe Charakter der Bildung loderte und löſte ſich. Scholaftif und Humanismus wurden aus harmoniſchen Ver— bündeten immer mehr zu zwei ſich gegenfeitig befehdenden Mächten.

Nah Deutſchland verpflanzten ſich die erften Keime des italieniichen Humanismus duch Petrarca, welcher 1356 als Gejandter der PVisconti zu Kaiſer Karl IV. nad Prag kam und dafelbft die liebenswürdigfte Auf: nahme genoß. Er blieb fortan mit dem Kaiſer jelbft wie mit deffen Kanzler Johann von Neumarkt in brieflihem Verkehr und regte den Iebteren nicht

! Gerson, Opp. IV 527.

Die italienischen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Mittelalters. 501

nur zur Pflege lateinischer Rhetorik, ſondern aud zu Verſuchen in lateiniſcher Berfififation an. Das Konzil von Konftanz bradte Poggio nad Süd: deutſchland, mo er zahlreiche Bibliothefen durchſtöberte, um alte Klaſſiker— bandjchriften aufzufinden. In Konftanz ward Kaiſer Sigismund mit dem Humaniften Pier Paolo Bergerio befannt und nahm ihn mit nad Prag, two derjelbe Arrian überjegte. Auf dem Konzil zu Bafel verbreitete Enea Silvio das Intereſſe für Humaniftifhe Studien, noch wichtiger aber ward jein Einfluß in diefer Hinficht, als er 1442 in die Reichäfanzlei des Kaiſers Friedrich III. trat. Manche junge Talente jchlofjen fich Hier ihm an; er fand aber auch zahlreiche Gegner, unter welchen der papftfeindlihe Gregor Heimburg hervorragt. Auch diefer war humaniſtiſch gebildet, gab aber mehr auf reelles Willen und Gehalt, als auf „tullianifhe Eloquenz oder die Redeblümchen Quintilians“!, und ließ fid) durch feine kirchenpolitiſche Abneigung auch zu jchroffer und ungerechter Beurteilung des Humanismus hinreißen. Liebensmwürdiger als in diefem troßigen und herausfordernden Juriften zeigte fich die deutfche Eigenart in dem gelehrten Kardinal Nilolaus bon Eue3, der mit einem theologifhen, philofophiihen und naturwiffen- ihaftlihen Wiffen von großartigfter Bieljeitigfeit auch die tüchtigſte Schulung in den Haffiihen Spraden verband und als jpradhgewandter Unterhändler in Konftantinopel jelbft die Vereinigung der Griechen mit der Kirche betreiben fonnte, einer der merfwürdigften Männer jener gefamten Epode?. „Eufa war”, wie Tritheim von ihm jagt, „ein Mann des Glaubens und der Liebe, ein Apoftel der Frömmigkeit und der Wiflenihaft. Sein Geift umfaßte alle Gebiete des menjhlihen Wiſſens, aber all fein Willen ging von Gott aus und hatte fein anderes Ziel ald die Verherrlihung Gottes und Die Erbauung und Beſſerung des Menfchen.“ Erſt 1448 mit dem Kardinals— purpur geihmüdt, ift Cuſa ſchon 1454 geftorben. Der Geilt, in welchem er die Studien betrieb, lebte unter zahlreichen Gelehrten weiter, namentlich in den von Gerhard Groot (1340—1384) geftifteten „Brüdern de3 gemeinfamen Lebens“ und in der 1395 gegründeten Windesheimer Kongregration. An der Schule zu Deventer hatte Cuſa jelbft einft feine erfte Begeifterung für bie Haffiihen Studien geſchöpft. Aus der Schule zu Zwolle gingen die tüchtigen Humaniften Rudolf Agricola (Huysmann, 1445—1485), Alerander

! Voigt, Die Wiederbelebung bes Haffifhen Altertums II 288.

® N. Cusanus, Opera (ed. Faber Stapulensis), Paris. 1514; ed. Petri, Basil. 1565. 5. A. Sharpff, Des Kardinals und Biſchofs N. v. €. wichtigfte Schriften im deutjcher Überfekung, Freiburg 1862; Der Kardinal und Biſchof N. v. C. Mainz 1843.

> Trithemii De vera studiorum ratione, Fol. 2. Bgl. Paftor, Ge Ihichte der Päpfte I? 472—474. Janſſen, Geſchichte des deutichen Volkes 1" = 18 4—6. Geiger, Renaiffance und Humanismus 332.

502 Einundzwanzigftes Kapitel.

Hegius (1433—1498), Rudolf von Langen (1438—1519), Moriß bon Spiegelberg (geft. 1485) und Ludwig Dringenberg, um 1450 als Magifter nah Schlettftabt berufen, hervor. Demjelben Ktreiſe gehörten auh Jakob Wimpheling von Sclettftadt (geb. 1450) und Joh. Mur: mellius von Roermond (1480—1517) an.

In diefem echt chriſtlichen Humaniftenfreife entjproßte um die Mitte des 15. Jahrhunderts die legte herrliche Blüte mittelalterliher Myſtik, das Büchlein „Bon der Nachfolge Ehrifti“ des Thomas (Hemerfen) von Kempen (1380 bis 1471). Das naive Deutih-Latein, in welchem es gejchrieben, ſcheint aller humaniſtiſchen Schönrederei jpotten zu wollen, es Hingt wie der dia: metrale Gegenjat der Schriftjtellereitelteit, welde die Schriften eines Poggio und feiner Zunftgenoffen durchweht; doch tatjählih hat diefer tiefreligiöfe Geift die tüchtigften, einfihtigften Pädagogen des ausgehenden Mittelalters herangezogen ?.

Unter dem Einfluß des Enea Silvio ftanden die Öfterreihiidhen Juriſten Hartung von Kappel, Ulrih Riederer und Ulrih Sonnen: berg, ebenjo der Geſchichtſchreibee Johann Hinderbad, Biſchof von Trient. Georg Peuerbach, der große Mathematifer und Aſtronom, wohnte zu Rom im Haufe des Kardinal® Cuſa; nad feiner Rüdkehr hielt er (1454 und 1460) Borlefungen über Bergil, Juvenal und Horaz. Sein Schüler Johann Müller von Königsberg (Regiomontan) las über Vergils Bucolica, Zerentius und Ciceros Buch De senectute. Als der Augsburger Bürgermeifter Sigismund Goſſembrot (um 1458) ſich allzujehr von der italiſchen Woetenherrlichkeit einnehmen ließ und fogar dem verlotterten Peter Quder unverdiente Sympathie ſchenkte, wahrte der Theologe

!R. Agricola, Opera, Colon. Agripp. 1539. A. Hegius, Opuscula, Daventriae 1503. 9. Parmet, Rubolf von Langen, Leben und gef. Gedichte, Meünfter 1869. 3. Anepper, Jakob Wimpheling, fein Leben und jeine Werte, Freiburg i. Br. 1902. D. Reidhling, Joh. Murmellius, jein Leben und feine Werke, Freiburg 1880; Ausgewählte Gedichte und überſetzungen, ebd. 1881.

® Auch der gottfelige Thomas vonKempen hat es nicht geicheut, Verfe zu machen, bie allerdings von jenen ber Humaniften weit abftehen. Es find fromme Sinnſprüche und Nachklänge aus der Firdlihen Hymnif, Siehe Thomae Mal- leoli aKempis Opera omnia (ed. H.Somalius S.J.). Ed. V*, Duaci 1635, 802—821. Thomae Hemerken a Kempis Opera omnia (ed. M. J. Pohl) II IILV. Friburg. 1904. Ein tiefpoetifhes Gemüt verrät Dionyfius der Kartäufer in feiner Abhandlung De venustate mundi, in welder Zödler (Studien und Kritiken 1881, Heft 4, S. 648) ben Verfaffer als einen Vorläufer der modernen Äüſthetik be- grüßt. Die in älteren Verzeichniffen erwähnten Carmina find bis auf eines ver— loren; aber die als Profa gebrudte Abhandlung De laudibus superlaudabilis Dei hat fich als ein wirkliches Gedicht von 1950 Strophen herausgeftellt. Vgl. D. A. Diougel, Dionyfius der Karthäufer (Aus dem Franzöfifhen), Mühlheim a. d. Nuhr 1898, 35. Dionysii Carthusiani Opera omnia, Monstrolii 1896 f.

Die italienifhen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Mittelalters. 508

Konrad Säldner, der einft ſelbſt zu Wien alte NKlaffiter erklärt hatte, gegen ihn den maßbollen Standpunft des älteren Humanismus, nicht ohne überflüffige Seitenhiebe gegen Enea Silvio, der um diefelbe Zeit Papft wurde und als folder das frühere Übermaß feiner Klaffiterbegeifterung jelber dämpfte.

Diefen gediegenen Männern, bei melden fich die klaſſiſche Bildung im alten Sinn und Geift der Kirche der chriſtlichen unterordnete, fteht eine verhältnismäßig Heine Zahl von „Poeten“ gegenüber, welche von diefer normalen Ordnung ganz oder teilweiſe abgekommen war und in einjeitigem Treiben jowohl den guten Geſchmack als Religion und Sitte gefährdete. Am Schroffften ftellt fich der Gegenjat in dem literariichen Abenteurer Peter Luder aus Kißlau dar, der ald armer Student in Heidelberg nicht über den Kurs der Logik und Dialektif hinaus gelangte, bettelnd nad Rom kam, bon dort vertrieben, nad Illhrien, Albanien, Macedonien, Kleinafien ver: ihlagen ward, al Bettelftudent dann Italien durchzog und ſich auf Poefie, Rhetorit und Medizin verlegte, darauf fi) ala Lehrer der Poeſie an den Univerfitäten Heidelberg, Erfurt und Leipzig herumtrieb, wieder nad Padua zurückkehrte, in Bafel auftauchte und endlich in Öfterreich verbuftete, überall den Leumund eines unfittlihen Menſchen und eines zudringlichen Bettlers zurüdlaffend. Ein ähnlicher, noch armfeligerer Lump als diefer „erfte deutſche Poet“ war der VBagabund Samuel Karoch von Lichtenberg, der an mehreren Univerfitäten, zulegt in Ingolſtadt (1472), die unflätigften Verſe erklärte, ji nirgends lang halten konnte und ſchließlich ebenfalls verſcholl.

Nicht unberührt von den Schattenfeiten des italienischen Humanismus blieben Heinrih Sterder und Hartmann Scedel, die beide 1462 die Zerenz-Vorlejungen des Peter Luder in Leipzig hörten. Schedel jammelte jpäter mit unerſchöpflichem Eifer nit nur Schriften Ciceros und Ovids, fondern aud die humaniftiiche Modeliteratur feiner Zeit. Einem Teicht- finnigen Humanismus Huldigten ebenfalls Lauren; Blumenau und Nikolaus von Weil, erft Schulmeifter zu Zürich, dann Ratſchreiber in Nürnberg, 1449 Stadtſchreiber in Ehlingen, endlih von 1469—1479 Kanzler des Grafen Ulrih von Württemberg.

Die Gemeinjamfeit der lateinischen Sprade und Bildung hatte den großen Vorteil, daß ſich nicht bloß die germanischen und romanischen Völker an dem Aufblühen des Humanismus beteiligen konnten. Schon Dante und Petrarca intereffierten fich für die edle ungariihe Nation. Ungariſche Stu: denten bejuchten die Hochſchulen zu Padua, Ferrara, Bologna. Johann Witez bon Zredna verpflanzte die Begeifterung für humaniftiihe Studien an den Hof des Johann von Hunyad und zog ſelbſt als Biſchof von Wardein und jpäter als Erzbiſchof von Gran zahlreiche Gelehrte, unter ihnen Peter Paul Vergerio, in feine Nähe. Sein Neffe Johann von Scemicze metteiferte ala

504 Einundzwanzigftes Kapitel.

Janus Pannonius mit den italienifhen Dichtern. Die reihe Bibliothel des Erzbiſchofs regte aud) König Matthias Corbinus (1458 1483) zu ähnlichen Beftrebungen an, und da der König an Freigebigkeit nicht Hinter den kunſt— liebenden Fürſten Italiens zurüdftand, gelangten die Corviniſche Bibliothef und der Mujenhof von Dfen bald zu einem Weltrufe!,

Ein ähnliches Kunſt- und Literaturpatronat übte in Polen? der erfte Prälat des Landes, Shignew Dlesnidy, Kardinalerzbiihof von Krakau, während jein Sekretär Johannes Diugosz die Geihichte Polens in alt- klaſſiſchem Latein jchrieb und Gregor von Sanof an der Univerfität Krakau Bergil, Plautus und Juvenal erklärte, auch felbft lateiniihe Epitaphien und eine Komödie dichtete,

1W. Fraknöi, Mathias Corvinus, König von Ungarn, Freiburg i. B. 1891, 290-802. * Boigt, Die Wiederbelebung bes Elaffifhen Altertums II 327—330.

Drittes Bil.

Die byzantinifhe Literatur.

Erftes Kapitel, Die byzantinifhe Yrofaliteratur.

Ars Organ der helleniſchen Poefie und Philofophie, als internationale Verkehrsſprache zwiſchen Orient und Occident hat die griechiſche Sprache die zwei ſchönſten Aufgaben erfüllt, welche bis dahin einer Sprache be- jhieden waren: die Verbreitung der höchften antiken Kultur und die erfte Verbreitung des Chriftentums über alle Länder des altrömiſchen Weltreichs biß tief in den Orient hinein. Auf Grundlage und nad dem Vorbild der chriſtlich-griechiſchen Literatur ift die chriſtlich-lateiniſche emporgewachſen und hat ſich faſt gleichzeitig und in innigfter Lebensgemeinſchaft mit ihr zur höchſten Blüte entfaltet. Nachdem indes das römiſche Reich zertrümmert war, germaniihe Völfer die Herrſchaft des Abendlandes an ſich gerifjen hatten, die Kirche zunächſt vor die Riefenaufgabe geftellt war, diefen neuen Völlern die Schäße der lateinisch:hriftlihen Bildung zu übermitteln und jie zu Hriftlihen Nationen heranzuziehen, Macht und Einfluß der oſtrömiſchen Kaiſer vollftändig aus dem Abendlande verdrängt worden waren, mußte naturnotwendig aud) das Band ſich lodern, das bis dahin griechiſche und lateinifhe Bildung zuſammenhielt.

Die Kenntnis der griehiihen Sprade nahm in den Ländern des Weſtens raſch ab. Die Griehen vernadläffigten das Lateinische und begannen ed zu beradhten!., In den Wirren der Völkerwanderung wurde es den Lateinern Schon ſchwer, den Bildungsihab zu retten, den ihre großen Väter und Kirchenſchriftſteller aufgejpeichert hatten. Was Hilarius, Ambrofiug,

In der älteren Zeit blieb das Lateiniſche zu Byzanz noch für manche offizielle Alte vorgefährieben, jo für richterliche Urteile: decreta a praetoribus latine interponi debent (L. 43 de re iudicata [Dig. 42, 1]). Zur Zeit des Photius bezeichnet Kaifer Michael III. dagegen bas Latein als eine barbarifche und ſtythiſche Sprache, wogegen Papft Nikolaus I. es verteidigt und unter anderem jagt, daß an ben hödften Feſt— tagen zu Byzanz einige Teile der Liturgie in lateinifher Spradhe vorgetragen würden (Migne, Patr, lat. CXIX 932). Umgefehrt wurde auch im Abendlanbe mitunter das Evangelium griechiſch verlefen (Zeitichrift für kath. Theologie XII, Innsbrud 1889, 359). Gregor I. Hagt, daß er keine guten Überſetzer griechiſcher Bücher babe (Epist. X 21 [Monum. Germ. Epistulae II 258]). Steinader, Die römiſche Kirche und die griechiſchen Sprachkenntniſſe im Frühmittelalter in Feftihrift, Th. Gom- perz dbargebradt, Wien 1902, 324—341.

508 Erftes Kapitel.

Hieronymus, Auguftinus und Leo d. Gr. boten, ftand Hinter den Leiftungen der griehiichen Kirchenpäter nicht zurüd. Der Primat des Biſchofs von Rom verlieh der lateinifhen Theologie ein entjcheidendes Übergewicht, der lateinifhen Bildung Die begünftigte Stellung. In den religiöfen und kirch— lichen Streitigteiten des Abendlandes war den Patriarchen des Orients fein entjcheidendes Wort gewährt, während die Päpfte den lebten jchiedsrichter- lichen Entſcheid in allen wichtigen Fragen, auch des Orients, beſaßen. Wie in Bezug auf die Theologie, jo machte fih das Abendland aud in Bezug auf das kirchliche Recht, die Liturgie, das Ordensleben, Kunft und Sitte nah und nad) felbjtändiger und unabhängiger vom Orient. Die Römer, Franken, Weftgoten, Angelſachſen, Iren hatten ihre eigenen Heiligen, Feſte, Orden, Klöſter, kirchlichen Gebräude, von denjelben Jdeen und Grundjähen geleitet, aber vielfad abweichend von den Formen der Griechen. Unter den neuen Völfern waltete ein gewiſſer Geift der freiheit, der korporativen Selb: fändigkeit, der Beweglichkeit vor; in dem griechiſchen Kaifertum und der griechifchen Kirche ſetzten fich fefte Überlieferungen von Jahrhunderten allen Umgeftaltungen entgegen; unter der Einheit der cäjariftiihen Macht ge wannen Patriarchen und Biſchöfe nie jenen felbftändigen Einfluß, deſſen ſich die großen Kirchenhirten der Germanen erfreuten. Aus all diefen Verfchieden- heiten und Gegenfäßen mußte allmählich ein gewiffer Antagonismus zwiſchen Lateinern und Griehen erwachſen. Verfhärft wurde derjelbe durch die Herrihjuht der Kaiſer, melde den Abfall des Abendlandes nicht ver: Schmerzen konnten, und dur die Eiferfudht der Vatriarhen von Son: ftantinopel auf die Weltftellung des römiſchen Papites.

Troß aller Bemühungen der Päpfte, die kirchliche Gemeinihaft nicht nur aufrecht zu erhalten, jondern auch neu zu beleben, jchlofjen ſich die Griechen immer mehr gegen das Abendland ab. „Die lateinifhe Theologie blieb für Byzanz ein verfiegeltes Bud, und der größte Theologe des Abend: landes, Auguftinus, hat dort niemals feften Fuß gefaßt.” Erſt im 14. Jahr: Hundert fing man an, ihn zu überſetzen, als e& viel zu fpät war, ihm eine tiefere Einwirkung zu gewähren.

So hat fih die griehiihe Welt vom 5. Jahrhundert an zujehends ioliert und allmählich jenes Wejen herausgebildet, das man „Byzantinismus“ zu nennen pflegt.

Der Name ift längft zum vielgebraudhten Spott: und Schimpfwort geworden; man darf fi aber dadurd nicht abhalten laffen, die verjchiedenen Elemente, welche der „Byzantinismus“ wenigſtens in Bezug auf die Literatur einjhließt, forgfältig zu unterfcheiden und das Gute daran verdientermaßen anzuerfennen.

Wie die byzantiniihe Baukunſt eine großartige Weiterbildung der griechiſch⸗römiſchen zu chriſtlich-kirchlichen Zweden bedeutet, jo ift auch die

Die byzantiniſche Profaliteratur. 509

byzantiniſche Literatur in ihren erften Jahrhunderten nur die Yortjegung der altchriftlihen und patriftifhen Literatur der Griechen, eine Vermählung der criftlihen Ideen mit den Spradmitteln und Stilformen der älteren helleniſchen Literatur. Niemand wird feine Bewunderung der Agia Sophia, der Kirche San Vitale zu Ravenna, dem Vorbild des Aachener Oltogons, nod den herrlichen Bauten verfagen, mit welchen der pradhtliebende Juftinian die Städte Griechenlands und Syrien! gefjhmüdt hat. Mögen die feier: lihen Mofaiten auf ihrem Goldgrund uns fteif und ſtarr erſcheinen, fie ftehen in vollendeter Harmonie zu den Bauwerken, melde fie jhmüden, und zu dem ernften liturgischen Zwed, dem fie dienen jollten; fie find, nächſt den Malereien der Katakomben, die älteften und ehrwürdigſten Leiftungen kirchlicher Kunſt. Wie fie uns ehrwürdig fein müfjen, jo dürfen wir aud) die Theologen, Hagiographen, Asketen, Geſchichtſchreiber, Ehroniften und Hymnendichter nicht mißachten, welche die geiftige Erbſchaft der griechiſchen Kirchenväter pietätvoll bewahrt, nad ihrem beften Vermögen benußt, an: gewandt und meitergeboten haben !,

Wenn feiner der byzantinischen Theologen die originelle Fruchtbarkeit und geiftige Bedeutung der großen Kirchenväter erreicht hat, fo ift in Be— trat zu ziehen, daß diefe in mander Beziehung erjhöpfende Leitungen binterlafjen Hatten, die großen chriftologischen Kämpfe duch die Beſchlüſſe der allgemeinen Konzilien entjchieden worden waren. Nach dem jahrhundert- langen Wirrjal, das die Arianer, Manichäer, Neftorianer und Eutychianer im ganzen Orient angerichtet hatten, mußte es als eine wahre Erlöjung ericheinen, einmal die Früchte zu genießen, welde aus jenen Kämpfen her: Dorgegangen waren,

Auch das Höfterlihe Leben, das in dem Oſtreiche die meitefte Ver: breitung gefunden hatte, begünftigte mehr den ruhigen Sammelfleiß als das Streben nad neuen Forfchungen und Kämpfen. So find die zahlreichen „Katenen“ und „Parallelen“ entftanden, in welden emjige Sammler die ihönften Ausſprüche der Väter über die einzelnen Gegenftände der Theologie

1. P. Migne, Patrologiae cursus completus. Series Graeca. A S. Bar- naba ad Photium, 104 ®be, Paris. 1857—1860; Ab aevo Photiano ad Concilii usque Florentini tempora voll. CV—CLXI, Paris. 1862—1866. Historiae Byzan- tinae Scriptores (begonnen von Phil. Labbe 8. J., fortgefet von Fabrotti, Dufresne u. a.), 86 Bde, Paris. 1654—1711; nachgedruckt in 28 Bon, Venedig 1727. Corpus sceriptorum historiae Byzantinae, 49 Bde, Bonnae 1829—1878. K. Krumbader, Geſchichte der Byzantiniſchen Literatur von Juſtinian bis zum Ende bes Oſtrömiſchen Reiches (Jw. v. Müllers Handbuch ber Hajfifchen Altertumswifjenih. IX 1); 2. Aufl. unter Mitwirkung von A. Ehrhard und 9. Gelzer, Münden 1897. Byzantiniſche Zeitfhrift, herausgeg. von K. Krum: bacher, Leipzig 1891 ff. K. Dietrich, Geſchichte der byzantinifchen Literatur, Leipzig 1902,

510 Erftes Kapitel.

vereinigten. Man darf diefelben durchaus nicht als finftere Denkmäler der „Erftarrung“ und „Verknöcherung“ betrachten; durch fie ift der eigentliche Kern der chriftlichen Überlieferung, das Lebensmark der chriſtlichen Lehre, von Geſchlecht zu Geſchlecht weitergepflanzt und als Grundlage des Unterrichts und der Predigt fruchtbar gemacht worden.

Noch lange mußte übrigens der Kampf gegen die Neſtorianer und die Monophyſiten, die einen großen Zeil des Orients an ſich geriſſen hatten, weitergeführt werden, und wo neue Jrrtümer auftauchten, bat e3 nidht an mannhaften Kämpfern gefehlt, welche für die Wahrheit in die Schranten traten, wie in dem langwierigen Kampfe wider die Monotheleten und in dem Streite über die Verehrung der Bilder. Auch andere Aufgaben der Theologie haben tüchtige Vertreter gefunden.

So haben fih Leontios von Byzanz und Ephräm von Antiodien durch chriſtologiſche Schriften gegen die alten rrlehren des Neftorius und Eutyches verdient gemadt!. In die Streitigkeiten über Origenes wie über die Drei Kapitel hat Kaiſer Juftinian I. jelbft mit theologischen Schriften eingegriffen, während Anaftafios, Patriarh von Antiochien, im ftreng methodiſch gehaltenen Abhandlungen der jpäteren Scholaftif vorarbeitete.

So Hat Maximos Eonfejjor (6 öuodoryrig, geit. 662), der tüchtigfte Vorkämpfer der kirchlichen Lehre gegen die Monotheleten, zeitweilig Geheim— ſchreiber des Kaiſers Herallios, auch ala Bibelerklärer, Asket und Myſtiker Wertvolles geleiftet und bejonders die Schriften des jog. Dionyfios Areopagita mit der überlieferten Kirchenlehre in Einklang gebracht und fo der griechiſchen Theologie einverleibt, dur melde fie dann aud auf die abendländijche Scholaſtik eingewirkt Haben?. Noch mächtiger wurde der Einfluß des hi. Jo: Hannes von Damaskus, der, gegen Ende des 7. Jahrhundert3 in diejer damals jhon mohammedanifhen Stadt geboren, durch einen Friegägefangenen Mönd Kosmas aus Sizilien im Chriftentum unterrichtet wurde, gleich jeinem Bater ein Amt am Hofe der Omajjaden bekleidete, dann aber in das Kloſter des hl. Sabbas in Paläftina trat und ſich dort ganz der heiligen Wiſſenſchaft widmete. Er ift nicht bloß der größte Verteidiger der Bilderverehrung gegen Kaiſer Leo den Bilderftürmer, jondern madte aud in feiner Hauptichrift „Duelle der Erkenntnis“ (Any yvooewg) den erſten umfafjenden Verſuch, die geſamte chriſtliche Dogmatik von der Lehre über Gott bis zu jener über die legten Dinge in ſyſtematiſcher Folge durchzuarbeiten. Vorausgeſchickt find derfelben die nötigen philoſophiſchen Begriffäbeftimmungen und ein Verzeichnis von Hundert Härefien, das aus früheren Theologen zufammengeftellt if. Durch die Überfegung des Burgundio von Pifa wurde dieje Schrift ſchon im

ı Migne, Patr. gr. LXXX 1267-2100. 2 Ebd. XC XCI.

» Ebb. XCIV—XCVIL 3. Langen, Johannes von Damaskus, Gotha 1879. K. Holl, Die Sacra Parallela des Johannes Damascenus, Leipzig 1896.

Die byzantiniſche Profaliteratur. 511

12. Jahrhundert dem Abendlande zugänglich gemacht, und Petrus Lombardus wie Thomas don Aquin legten fie ihren bahnbrechenden Werfen zu Grunde.

Tapfere Genofjen im Kampfe wider die Bilberftürmer fand Johannes von Damaskus an dem beredten Germanos, Patriarchen von Konftantinopel, an dem Mönde Theodoros Studita und an dem verbienftvollen Hiſtoriker Nitephoros, Patriardhen von Konftantinopel (806—815). Anaftafios Sinaites, Mönd im Sinaiklofter, ſchrieb außer ſcholaſtiſchen Traftaten auch eine umfangreihe Erklärung des Heraemeron und eine Schrift wider die Juden. Als Erflärer der heiligen Schriften find außer ihm hervorzuheben : Profopios von Gaza, Dlympiodor von Alerandrien, Gregorios von Agrigent (in Sizilien); als geiftliche Redner: Gregorios von Antiodien, Modeftos, Patriarch von Yerufalem, und Andreas von Kreta. Aller: dings leidet ihre Beredſamkeit an einer Breite, Überfülle und Überſchweng— lichkeit, die dem Wbendländer wenig zufagt.

Wie in den Ländern des Weftens, jo fand aud im oftrömijchen Reiche das Ordensleben in reichfter Blüte. Es gab zahllofe Klöfter auf der Balkan: Halbinjel, und bis zur arabijchen Eroberung auch in Paläftina, Syrien und Ägypten. Unter den vielen Klöſtern der Reichshauptſtadt ragte dasjenige von Studion Herbor, unter den entlegeneren das gefeierte Sabbasklofter bei Jeruſalem, das auch unter der Herrſchaft der Araber fortbeftand, und dasjenige auf dem Sinai. Aus diefen Klöftern ftammt eine unabjehbare asfetiihe und hagiologiſche Literatur, welche zumeift auf die Erbauung und Beihäftigung ihrer Inſaſſen berechnet war, bon welcher indes doch mande Erzeugnifje bis ins Abendland gedrungen find und bis in jpätere Zeiten weitergewirkt haben. Als klaſſiſch-asletiſches Buch gilt „Die Himmelßleiter“ (xAtuaf) des Johannes Klimax, der erfi als Mönd im Sinaiflofter, dann bierzig Jahre als Anachoret in einer Höhle am Fuße des Berges lebte und um 600 ftarb. Das Bud fußt hauptſächlich auf den heiligen Schriften und jeinen eigenen Erfahrungen im geiftlichen Leben, ift fchlicht und ohne den gejuchten Redeprunf der Byzantiner abgefaßt und zeichnet ſich durch ſchöne Kerniprüdhe aus,

Berühmt als Asketen find ferner: Symeon Stylites der Jüngere, der Arhimandrit Dorotheo3 aus PBaläftina, Antiochos aus dem Sabbas- Hofter bei Yerufalem und Thalaſſios, Vorfteher eines Klofters in der Libyſchen Wüſte. Zugleih astetifher, liturgifcher, dogmatifcher und kano— niftiiher Schriftfteller und dazu noch Dichter mar der bereits erwähnte Theodoros Studita. Er wurde 759 als Sohn eines faiferlihen Zoll: einnehmers geboren, erhielt erjt eine jorgfältige allgemeine und dann klöſter—

! Ausgaben von M. Raberus S. J., Paris 1633; Migne (a. a. O. LXXXVII 596—1209).

512 Erftes Kapitel.

lihe Bildung, ward Mönd, Priefter und Abt in dem Klofter Sakludion, trat mit feinen Mönden in das Klofter Studion in der Hauptftadt über und brachte diejes durch heilfame Reformen zu hoher Blüte. Zweimal wurde er verbannt, weil er mutvoll gegen die unredhtmäßige Ehe Kaiſer Kon: ftantins VI. aufgetreten war; eine dritte Verbannung traf ihn, als er ebenjo unerſchrocken die Bilderverehrung gegen Leo den Iſaurier verteidigte. Auch diefe Verfolgung überlebte er noch, fonnte aber nur für kurze Zeit wieder in fein Stlofter zurüdfehren. Er farb 826. Seine aslketiſchen Schriften ſchließen ſich denjenigen des hl. Bafilios an und halten diefelbe von überfchwenglicher Myſtik freie Richtung ein. Überaus wertvoll ift feine Brief- fammlung, die noch jegt 550 Briefe umfaßt, befonders feine Paftoralbriefe !. „Mit feinftem pſychologiſchen Takt weiß hier Theodor einem weiten Kreife Worte des Troftes, der Aufrihtung im Leid, der Mitfreude im Glüd zu jpenden. Unter diefen Troft:, Empfehlungs- und Freundſchaftsbriefen finden fi wahre Perlen der byzantinischen Epiftolographie; alle aber erweiſen fih als der Niederichlag eines von Gottegliebe und wahrer Humanität be berrihten, reichen Geiftes: und Gemütslebens. Zugleich offenbaren fie die zwei großen Triebfedern feiner Tätigkeit: eine leidenſchaftliche Liebe für die Hreiheit der Kirche und einen jelbftlofen Eifer für die Erhaltung der kirch— fihen Einheit zwifchen Morgen: und Abendland. Dadurch wurde Theodor einer der leten großen Gegner des byzantiniſchen Cäſareopapismus; dies führte ihn auch zur energiſchen Behauptung des römischen Primates, die feinem Anjehen in der griehijchen Kirche keinen Eintrag getan hat.“ ? Unter den hagiographiihen Schriften verdient die „Geiftlihe Wieje“ des Johannes Moſchos Erwähnung, mwelder von dem Sabbaätlofter bei Jerufalem aus auf weiten Reifen (zwiſchen 578—602) die Klöſter in Baläftina, Ägypten, der Sinaihalbinjel, Syrien, Kleinafien und verſchiedenen griechiſchen Inſeln bejuchte und dabei die Erlebniffe, Charakterzüge und Aus» ſprüche zahlreiher Mönde jammelte. Die bunte Sammlung erſchien ihm als eine mit mannigfaltigen Blumen gejchmüdte Wiefe, und fo erhielt fie ihren Zitel®. Sein Reifebegleiter Sophronios, der jpäter Patriarch von Serufalem wurde, jchrieb die Leben der zwei ägyptiſchen Nationalheiligen Kyros und Johannes und der berühmten Büherin Maria bon Agypten. Zahlloſe Akten von Märtyrern, befonders aus der Zeit des Bilderftreits, fomwie Leben von Heiligen wurden in allen Klöſtern gejchrieben und gefammelt. Die berühmtefte umfaffende Sammlung ift jene des Symeon Meta: phraftes, der in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gelebt zu haben

t Migne, Patr. gr. XCIX 509—1669. ® A. Ehrhard bei Krumbader, Geſchichte ber Byzant. Literatur 150. ® Migne.a. a. DO. LXXXVU.

Die byzantinifche Profaliteratur. 513

iheint!. Aus ihr find eine Menge Erzählungen in die Legendenbücher des Ubendlandes übergegangen. Wegen bes ftiliftifch-rhetoriihen Aufputzes feiner Heiligengeſchichten ftand er bei den ftrengeren Hiſtorikern bis jet in ungünftigem Rufe; doch jcheint fein großes Sammelwerk aus jehr verſchieden— artigen Beltandteilen zufammengewadjen zu fein und eine nähere Unter: fuhung feiner Vorlagen und Quellen eine teilweije günftigere Beurteilung herbeiführen zu können. Schon Leo Allatius ift jehr warm für ihn eingetreten.

Auch die freier ausgeführten Legenden des Metaphraftes und der übrigen griechiſchen Hagiographen verdienen es übrigens nicht, geringihäßig ab— gelehnt zu werden.

„Sie bieten wertvolle Ergänzungen zu ben althriftlihen und byzantiniichen Kirchenhiſtorilern, Geſchichtſchreibern und Chroniſten; fie gewähren einen vielfad überrafchenden Einblid in das Kulturleben weiter chriftlicher Kreife, das in ben dogmatiſchen Abhandlungen des chriſtlichen Altertums und in den trodenen theo— logiſchen Erörterungen ber byzantinifchen Zeit nur zu oft ganz aus dem Gefichtäfreis ſchwindet; fie befunden eine Friſche, Naivität und belebende Macht des religiöfen Sinnes, deſſen Offenbarungen in den Kreifen ber gelehrten Theologen als unpafienb und volfstümlich der Nichtbeachtung anheimfielen; fie ſprechen endlich oft eine eble und echte Vollsſprache, die von der Klaffizität der fteifen Gelehrten nit angekränkelt ift.“ ?

Das gilt auch von dem berühmten Legendenbuh „Barlaam und Joſaphat“, welches durd zahlreiche Überfegungen weit in den Orient gedrungen und eines der beliebteften Volksbücher bei allen mittelalterlichen Nationen des Abendlandes geworden if. Es ift lange dem hl. Johannes von Damaskus zugejchrieben worden. Der griehifche Titel lautet: „Er- bauliche (duzwgpeirs) Geſchichte aus dem inneren Lande der Athiopen, das Indien genannt wird, in die heilige Stadt gebradt dur den Mönd No: hannes, den gottesfürdtigen und tugendfamen Mann, aus dem Slofter des hl. Sabba, worin das Leben der Heiligen und jeliggepriefenen Barlaam

ı Migne a. a. ©. CXIV—CXVI 4 Ehrhard (bei Arumbader a. a. D. 200-203); Die Legendenfammlung des Symeon Mtetaphraftes und ihr ur— fprünglicher Beftand (Feſtſchrift zum elfhundbertjährigen Jubiläum bes deutſchen Campo Santo in Rom, Freiburg 1897, 46—85); Forihungen zur Hagiographie ber griechiſchen Kirche (Möm. Quartalfhrift XI, Rom 1897, 67—205); Symeon Meta— phraftes in der griechiſchen Sagiographie (ebd. XI 531—5583). H. Delehaye, Les menologes grecs (Analecta Bollandiana XVI, Bruxellis 1897, 311—829); Le menologe de Mötaphraste (ebd. XVII [1898] 448—452). Nah Ehrhard läßt fih ber urfprünglide Beftand unb die urfprünglie Ordnung noch feftftellen. Symeons Arbeit erfreute fih ber größten Beliebtheit; aber die älteren meta- phraftiichen Heiligenleben find darüber doch nicht vollftändig zu Grunde gegangen. Ein Vergleich diejer älteren Legenden mit ber Bearbeitung bed Mtetaphraftes läßt bes letzteren Tätigkeit in viel günftigerem Lichte erſcheinen, ald man bisher an« zunehmen geneigt war.

2A. Ehrhard, Die Legendbenfammlung des Sym. Metaphraftes 32.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 33

514 Erſtes Kapitel.

und Joaſaph (enthalten iſt).“! Nur einige jüngere Handſchriften bezeichnen diefen Mönch Johannes näher als denjenigen von Damaskus. Ziemlich allgemein wird angenommen, daß er nicht der Verfaffer war, daß das Wert wohl aus dem Sabbaskloſter bei Jerujalem herrührt, wo er einen jo großen Teil feines Lebens zugebraht, aber von einem andern Mönde Johannes, der lange vor ihm, ſchon in der erften Hälfte des 7. Jahrhunderts, dajelbft lebte, um diejelbe Zeit, als Johannes Moſchos nad) weiten Reifen durd Baläftina, Syrien, Agypten, ja bis nah Rom feine „Geiftliche Wieſe“ ſchrieb, auch Kyrillos von Skythopolis jeine Heiligenbiographien verfaßte.

Die Erzählung beginnt mit der auch in andern Legenden enthaltenen Nachricht, daß der bl. Thomas bei der Zeilung der Apoftel nah Indien gelommen jei und viele Heiden zum Glauben an Chriftus betehrt habe; jpäter feien von Ägypten aus auch Mönde nad Indien gedrungen, hätten das Mönchsleben dafelbit begründet und zu hoher Blüte gebradt. Ein friegögewaltiger und ebenjo mächtiger, ganz ins Irdiſche verfunfener König, Ubenner mit Namen, leiftet dem Chriſtentum beharrlihen Widerftand, ver- folgt die Chriften und jucht die Mönche auszurotten. Die Verfolgung wird eine noch graufamere, da ihm nad langer Kinderloſigkeit ein Sohn geboren wird, ein Aftrologe ihm aber verfündigt, der Sohn werde zwar ebenfalls ein großer und mächtiger Herrjcher werden, aber in einem andern Reiche, indem er das verhaßte und verfolgte Ehriftentum annehmen werde. Um dies zu verhindern, läßt der König den Prinzen in eine abgelegene Stadt bringen, in einem ftreng ifolierten Palaft erziehen, mit allen Genüfjen der Erde umgeben, jede Erinnerung an Tod, Alter, Krankheit, jeden Ausblid auf ein jenfeitiges Leben, jede Kunde von einer hriftlihen Religion von ihm fernhalten. Er ſucht den leßten Reft von Mönchtum in feinem Reiche zu erftiden. Auf die Dauer reichen indes all diefe Borfihtsmaßregeln nit aus.

! Ausgaben von Fr. Boiſſonade (Anecdota graeca), Paris 1832; Migne, Patr. gr. XCVI 886—1260. J. Dunlop, Geſchichte der Proſadichtungen, überſetzt von F. Liebrecht, Berlin 1851, 27 ff 462 ff. Mar Müller, Effays III (deutſch), Leipzig 1872, 322 ff. F. Liebrecht, Die Quellen des Barlaam und Joſaphat (Eberts Jahrbuch für roman. und engl. Literatur II [1862] 314—834); Zur Vollskunde, Heilbronn 1879. E. Cosquin, La lögende des saints B. et J. (Revue des quest. hist. XXVII [1880] 579—600). H. Zotenberg, Le livre de Barlaam et Josaphat, Paris 1886. €. Kuhn, Barlaam und Joaſaph (AbhandL der bayr. Akademie XX, Münden 1894, 1—88). I. Jacobs, Bar- laam and Josaphat, London 1896. E. F. Conybeare, The Barlaam and Josaphat legend (Folklore VI, London 1896, 101—142). Saints Barlaam and Josaphat (The Month XX, London 1881, 187—143). St. Beiffel, Akt. „Sofaphat“ in Wetzer und Weltes Kirhenleriton VI?, Freiburg 1889, 1880 bis 1882,

Die byzantiniſche Profaliteratur. 515

Trotz der ftrengften liberwahung trifft Prinz Joaſaph erft mit einem Kranken, dann mit einem Blinden, einem Greife und einem Toten zujammen. Je neuer ihm alle diefe Erjcheinungen menſchlicher Armfeligkeit, Hinfälligteit und Bergänglichkeit find, deito tiefer ift der Eindrud, den fie in feinem Gemüte Hinterlaffen. Die erften Gedanken, die fih daran knüpfen, löſchen allen Zauber irdiſchen Genuffes und irdiſcher Güter in ihm aus. Wie er nun vollends mit dem dhriftlihen Einfiedler Barlaam befannt und von ihm in die Geheimniffe des Glaubens eingeführt wird, hat die Gnade leichten Sieg, er wird nicht nur Chrift, jondern weiht fi Gott in ewiger Entjagung und Jungfräulichkeit. Die Belehrung läßt ſich natürlich nicht geheim halten. Der erbofte König bietet alles auf, um fie rüdgängig zu maden. Joaſaph aber zeigt eine hefdenmütige Feſtigkeit. Durd eine öffentliche Disputation joll das Chriftentum widerlegt und moraliſch vernichtet werden; aber an Stelle Barlaams, der fih durch Flucht dem Zorne des Königs entzogen, übernimmt ein Aftrologe, Nachor, deffen Verteidigung, begründet es in fieg- reicher Rede und wird felbft jo davon ergriffen, dab er ſich befehrt. Der Verfaffer hat (wie erft neuere Forfhungen ergaben) ihm eine der älteften Apologien, die des Ariftides, in den Mund gelegt!.

Auf den Rat des Theudas, eines andern Magierd, ſucht der Bater nun den heldenmütigen Sohn dur finnlihe Zodungen von feinem Glauben abjpenftig zu maden. Dämoniſcher Einfluß unterftügt die Macht der Ber: ſuchung; aber auch jetzt fiegt Joaſaph durch demütiges Gebet, und fein ernſtes Mahnwort bekehrt jogar Theudas, den Anftifter des Verführungs— planes, zum Chriftentum,. Nachdem alle feine Pläne vereitelt, teilt König Abenner fein Reich in zwei Hälften und überläßt die eine feinem Sohne. Joaſaph nimmt die dargebotene Krone an, legt fie aber bald nieder, um in völliger Weltentjagung zu leben. Er befehrt die Gejandten, die Abenner an ihm ſchickt und zulett diefen jelbft. So ift feine große Sendung erfüllt; er zieht num in die Wüfte und ftirbt als frommer Einfiedler. Barlaam wird mit ihm beftattet; an ihrem Grabe wird ein herrlicher Dom erbaut, und zahllofe Wunder verherrlihen den Namen beider,

Einige Züge der Erzählung ſtimmen auffallend mit jolden der Buddha— Sage überein und legten den Gedanfen nahe, dieſe als Quelle der griechiſchen Legende aufzufaffen. Obwohl weder eine Pehlewi- noch eine altiyriidhe Be: arbeitung die Geſamtreihe der orientalifhen Überſetzungen als Mittelglied verbindet, wird die Benutzung buddhiſtiſcher Überlieferung doch heute faft allgemein angenommen. Gharakteriftit und Erzählung find indes in der griehiichen Bearbeitung vollftändig von chriſtlichen Anſchauungen getragen,

Boissonade a. a. ©. 289-255 (Migne, Patr. gr. XCVI 1105 bis 1124). 33*

516 Erftes Kapitel.

und das Ganze ift dur) die eingefügten Reden zu einer meifterhaften Apologie des Chriftentums und des chriſtlichen Ordenslebens aud gegen den Bubd- dhismus geftaltet.

Die ganze Anlage iſt natürlich, ſpannend, wohl gruppiert, die Charakteriftit mit ihren Gegenjägen treffend und lebendig, die Sprache rein, edel und gewählt, die Darftellung künftlerifch, ohne gefuchtes Pathos und Überladung, der theologiſche Gehalt rihtig und auch richtig gefakt, zugleih aber von inniger poetijher Begeifterung getragen. Das Werk mit dem vielfach ge ſchmackloſen, ungenießbaren Lalita-Biftara vergleihen hieße ihm ſchon unrecht tun. Die gläubigen Völfer des Mittelalter haben ſich durchaus nicht ge: täuscht, wenn fie es als eine herrliche Apologie hriftliher Weltanihauung beiradpteten und empfanden. Böllig irrig ift jedenfalls die Auffaffung, al3 wäre in dieſer fittenreinen, erhabenen Legende der Stifter des pefli- miſtiſchen Buddhismus von frommen Chriften verherrlicht und gefeiert worden.

Es iſt nicht möglih, Hier den ganzen Prozeß der Entfremdung zu Ihildern, durch welchen das griechiſche Geiftesleben fih immer mehr von der Gemeinschaft mit der katholiſchen Kirche ablöfte, bis es endlih unter Photius (857—891) zum völligen Brud mit Rom fam und derjelbe durch Michael Gärularius (1054) zum bleibenden Schisma führte. Daran muß aber doc erinnert werden, daß die Griehen, mit Ausnahme einiger weniger Unterſcheidungspunkte, auch nad) der Trennung an dem gejamten Lehrgebäubde der altchriftlichen Überlieferung mit bemwundernswerter Anhänglichleit und Pietät feftgehalten Haben. Hierin fann man nicht wohl eine „Verknöcherung“ und „Erftarrung“ erbliden, wenn man nicht aud die Feftigfeit der katho— lichen Überlieferung mittreffen will. Dagegen hat die Lostrennung von der kirchlichen Einheit die Griechen wirklich der lebendigen Entwidlung der abendländiihen Völker entzogen und fie dem Gäfareopapismus überant: wortet, der mit bleierner Wucht auf ihrem Geiftesleben mwaltete und durch jeine politiide Ohnmadt deſſen enge territoriale Grenzen immer enger werden ließ.

Photius, der unfelige Begründer des griechiſchen Schiamas, Tann fi ala Theologe weder mit Leontios don Byzanz noch weniger mit Marimos Eonfeffor und Johannes von Damaskus meſſen. Dagegen zeichnete er ſich durch eine ungemein vielfeitige Beleſenheit in weltlichen wie geiftlihen Büchern aus. Das Hauptdentmal diejes gelehrten Willens ift außer einem Lexikon (Aedewv ovvaywyr,) feine jog. „Bibliothef“ oder das „Myriobiblon“, eine Sammlung von 280 Aufjäben über je ein bon ihm gelefenes Bud. Sie ift feinem Bruder Tarafios gewidmet, der ihn noch vor feiner Erhebung zum Patriarchen erjucht Hatte, ihm Mitteilungen über die Bücher zu: fommen zu laffen, welche in feinem Sreife vorgelefen und beſprochen worden wären. Photius gibt ihm nun bald kürzere Notizen, bald längere Auszüge

Die byzantiniſche Profaliteratur. 517

nebit Beurteilung in Bezug auf Inhalt und Form. Was dem Werk den höchften Wert verleiht, find die Abfchnitte über zahlreiche hiſtoriſche Werte, welche either ganz oder größtenteil3 verloren gegangen find, wie die Be: richte des Kteſias über Perfien und Indien, Theopomp, Diodor, Dionyfios von Halifarnaffos, Appian, Arrian, Dio Caſſius, die Diadochengeſchichte des Agatharchides, die Literaturgejhichte des Hefychios von Milet und andere.

Die Maſſe des nicht etwa flüchtig durchblätterten, jondern beherrfchten Wiſſensſtoffes ift ſtaunenswert. Alle Fächer find darin in bumntefter Ab» wechſlung und reichfter Fülle vertreten, am reichften Theologie und Geſchichte. Kaum berührt dagegen find die größten Klaffiter des Altertums, Philo— jophen, Hiftorifer und Dichter, die Photius offenbar als ſchon befannt voraus- ſetzt. Auch die jpätere Poefie ift nur dürftig erwähnt.

Es ift dies zu bedauern, da Photius meifterlih zu harakterifieren wie zu fritifieren verſteht. Köftlih find 3. B. (128) die Dialoge Lukians harafterifiert!, mit ihrem fein ſatiriſchen, fomifchen Gehalt, ihrem ſtkeptiſchen Geift, ihrer wunderbar ſchönen Darftellung und Sprache, weldhe die Sprache jelbft gewiffermaßen zum Gedicht macht. Nicht minder vorzüglid ift die Einleitung eines Epithalamiums aus den Dellamationen des Sophiften Himerios (243)2. Eine ganz ausführliche, treffende und fefjelnde Analyſe gibt er von dem Roman „Üthiopita” (Theagenes und Charikleia) des Heliodor, von welchem er bemerkt, daß derjelbe jpäter Biſchof geworden jei (73)8. Ziemlih ausfügrlid find aud die Auszüge aus dem Liebesroman des Jamblichos (94)+ „Bon den Erlebniffen der Sinois und des Rhodanes“ und aus dem Abenteuerroman des Antonios Diogenes „Von den unglaub- lihen Dingen auf der Inſel Thule“ (166)5. Nur kurz ift dagegen ber Roman „Leufippos und Kleitophon“ des Mlerandriners Achillens Tatius vermerkt, mit ſcharfem Tadel über deffen Objzönität (87)8. Ebenjo die „Metamorphojen“ des Lukios von Paträ (129) und die „Bier Bücher unglaublider Dinge“ des Damaskios (130)7. Bei Beiprehung der Chreſto— mathie des Helladios Bejantinoos® werben nur vorübergehend Gedichte dieſes Helladios ſelbſt, des Hermiad von Hermopolis, des Grammatikers Serenos, des Andronikos von Hermopolis, des Grammatikers Horapollon, des Kyros von Antipolis erwähnt.

Nah Photius beſchäftigte ſich ein Teil der theologiſchen Literatur mit der Verteidigung des Schismas und mit dem Kampfe gegen die Lateiner; ein viel anjehnlicherer Teil derjelben hütete und erklärte die altehrwürdige

ı Migne, Patr. gr. CIII 412. ® Ebd. CIII 1805 f. s &bd. CIII 231—238. * Ebd. CIII 323— 840. s Ebd. CIII 465478, ° Ebd. CIII 289 290.

? Ebd. CIII 413 414. s Ebd. CIV 323 324.

518 Erftes Kapitel.

Erbſchaft der patriftiichen Überlieferung und kam dadurch den wiederholten Unionsverfucdhen entgegen, welde von Rom aus gemacht wurden.

Bon der Profanliteratur hat ſich die Hiftorifche verhältnismäßig am reihlichiten entwidelt, von der Kirchengeſchichte häufig kaum zu trennen, da mande Kaiſer gern die Theologen fpielten, theologifhe Fragen im Vorder: grund des Intereſſes ftanden, der Cäfareopapismus Kirchliches und Staat- lihe8 bunt durcheinander miſchte. Den alten Klaſſikern zunächſt fteht Profopios, der Geichichtihreiber der Zeit Juftinians I., als Reiſe— begleiter Beliſars in die wichtigſten Ereigniffe der Zeitgefhichte eingeweiht, in Bezug auf anderes ein forgfältiger Quellenforfcher, in Geift und Stil ein wirklicher Meifter!. Die von Eufebios jo glänzend begründete Kirchen— geihichte fand Fortjeger an Theodoros Anagnoftes (Lektor) und Zacharias Rhetor, bejonders aber an dem Rechtsanwalt Euagrios, der, in aus: drücklichem Anſchluß an Sokrates, Sozomenos und Theodoret, die Zeit von 431—594 in ausführliher Darftellung behandelte?. Allgemeine Welt: bronifen verfahten Johannes von Antiohien, Heſhchios und in fehr an— ſprechender, vollstümlicher Darftellung Johannes Malalas. Hödft wertvolle Aufjhlüffe über den Orient enthält die „Chriſtliche Topographie“ des Kosmas NIndilopleuftes, eines Kaufmanns aus AWlerandrien, der auf weiten Reifen Arabien und Dftafrifa beſuchte, die erfte Hunde von Geylon (dem Eiland Taprobane) nah Europa bradte und feine Reiſe— erfahrungen bunt mit andern Stoffen gemiſcht in zwölf Büchern niederlegte 3.

Bon andern Hiftorifern feien erwähnt: Agathias (Die Zeit Juftinians 1. von 552—558), Menander (Fortſetzung des Agathiad von 558—582), Johannes von Epiphania (Die Zeit von 572-593), Theophylaftos Simofattes (Die Regierung bes Kaifers Maurikios 582—602, ſchon jehr gefuht und geihmadlos blumig), Saifer Konftantinos VII. Porphyrogennetos (Geſchichte bes Kaiſers Bafilios I.; Abhand—⸗ lungen über bie Staatsverwaltung und die Einteilung des Reiches wie über bas Zeremoniell des byzantinifchen Hofes), Joſeph Genefios (Vier Bücher Königsgeſchichte, bon 813—886), Johannes Kameniates (Die Eroberung von Theffalonife durch kretiſche Korjaren 904), Beon Diafonos (Die Zeit von 959975), Michael Attaliates (Geſchichte feiner Zeit 1084—1079), Nilephoros Bryennios (Gejchichte des Alerios Kommenos 1070— 1079), Anna Komnena (Alexias, Geſchichte ihres Vaters Alerios Komnenos, 10691118), Johannes Kinnamos (Zeit von 1118—1176), Niletas Akominatos (Zeit von 1180—1206), Neophytos, Mönch auf Cypern (Über bie traurige Lage Eyperns um 1191), Georgios Akropolites (Chronik von der Beſtürmung Kon: ftantinopeld durch bie Lateiner bis zur byzantiniſchen Reftauration 1203—1261), Georgios Pachymeres (Fortſetzer des vorigen, 1261—1308), Nifephoros Kalliftos Kanthopulos (Kirdhengeihicdhte bis 610), Nikephoros Gregoras (Römiſche Geſchichte,

! Gefamtausgaben von C. Maltretus 8. J., Paris 1662 1663; G. Din- dorff, Bonn 1833—1838.

®2 Migne, Patr. gr. LXXXVI 2405—2906.

s Ebd. LXXXVIII 10—476. .

Zweites Kapitel. Die byzantiniſche Hymnilk. 519

1204—1359), Kaiſer Johannes VI. Stantafuzenos (Reichögeihichte von 1320-1356), Johannes Kananos (Belagerung von Ktonftantinopel durch Murad II. 1422), Johannes Anagnoftes (Eroberung von Theffalonife durch die Türken 1430), Laonikos Chalkon—⸗ dylas (Geichichte des Reichs von 1298—1463), Dulas (Zeit von 1341—1462), Georgios Phranges (1258— 1476), Kritobulos aus Ambros (Geſchichte des Sultans Mohammed II., 1451—1467)-'. j

Große Denker gleih den abendländiſchen Scholaftilern hat Byzanz nicht aufzuweiſen; doch wurden die Schriften des Ariftoteles wie des Platon, haupt: fählih mit Rüdfiht auf theologiſche Zwede, gelefen und fommentiert. Durch den vieljeitigen Michael Pſellos (1018— 1078) wurde in Konftantinopel die platonijche Akademie wieder Hergeftellt, doch ohne mweitiragende Erfolge.

In Bezug auf humaniftiiche und rhetoriſche Leiftungen haben die Byzan— tiner zwar viel Rührigkeit, aber jelten reinen, klaſſiſchen Geihmad entwidelt. Die höfiſchen Kreiſe liebten das Künftliche, Gezierte, Steife, Prunthafte und Geſchraubte, das ſich jchon bei den jpäteren Sophiften ausgebildet hatte und bon dem ſich auch mehrere der Kirchenschriftfteller nicht frei zu erhalten wußten. Dieje Rihtung wucherte in allen Produftionsarten weiter. Der befte Dienft, den die Byzantiner der Weltliteratur erwiejen haben, liegt deshalb nicht in ihren eigenen Hervorbringungen, fondern darin, daß fie an ihren Schulen die bedeutendften Klaffiter des Altertums und die ſchönſten Werte der patriftiihen Zeit in lebendiger Überlieferung erhalten und jener Epoche aufbewahrt Haben, welche die abendländiiche Bildung an denjelben neu auffriichen follte.

Zweites Kapitel. Die byzantinifhe Hymnik.

Ungejehene Kritiker haben den Byzantinern früher alle und jede Poefie abgejprodhen?. Die neuere Forſchung ift von diefem harten Urteil abgelommen und droht jogar teilweife in das entgegengejehte Extrem zu verfallen, indem fie bereit3 einen byzantiniſchen Hymnendichter al& den größten religiöjen Lyriker aller Zeiten erllärt. Die Wahrheit dürfte, wie jo oft, in der Mitte liegen.

Schon während der alerandrinischen Zeit ift unter den Griechen fein Pindar und Sophofles mehr erftanden; aber der poetijche Geift ift unter

ı fiber die zahlreihen Chroniften vgl. Krumbader, Geſchichte ber Byzant. Literatur 319—408,

2 ‚Poefie im wahren Sinne des Wortes kannten die Byzantiner nicht, und fie bat unter ihnen niemals beſtanden“ (Bernhardy, Grundrik der griechiſchen Literatur II 2 [1880] 771).

520 Zweites Kapitel.

ihnen doch nicht ganz erloſchen; er hat manche freundliche Nachblüte getrieben, beengt allerdings durd eine erdrüdende gelehrte Atmoſphäre und politiiche Verhältniffe, welde von der alten Glanz und Ruhmeszeit eben grund— verſchieden waren. Das griehijche Geiftesleben aber, wie es mit dem jugend- lihen Ghriftentum zujfammentraf, war zu jehr von den bedenklichſten Eile: menten religiöfen und fittlihen Verfall, Zweifel, Unglauben, Lüge und Immoralität durchſäuert, als daß fi die chriſtlichen Ideale wie ein himm— liſches Edelreis auf eine noch unverdorbene, natürliche Pflanze hätten propfen lafien. Wie im Abendland, war aud) hier ein längerer Prozeß der Yäuterung nötig. Mit dem Heidentum, wie es beitand, mußte aufgeräumt, eine neue Ideenwelt und Poefie gejchaffen werden. Sie wuchs in der Einſamkeit der Klöfter, im Dienfte der heiligen Geheimniffe heran. Sie war, wie die ältefte heidnifche Poefie, wieder religiög-liturgijch.

Bereitö bei dem Hl. Gregorius von Nazianz begegnen uns neben religiöfen Dichtungen, welche in den quantitierenden Metren des Altertums abgefaßt find, andere, in welchen nur der Wortaccent die Versform beherricht, ohne Rüdfiht auf Kürze und Länge der Silben. Dieſe rhythmiſche Form verdrängt die andere vom 5. Jahrhundert an allmählich aus der Liturgie; jehr wahrſcheinlich im Anſchluß an die ſyriſche Hymnil, melde ſich bereits etwas früher zu reicher Blüte entwidelte. Hiermit war das Mittel geboten, ſich von der althelleniihen Lyrit ganz frei zu maden und auf der Bafis der bibliihen Sprache in Form und Gehalt völlig Neues zu geftalten. Ähnlich wie ein großer Zeil der mittelalterlihen lateinischen Hymnik hat auch diefe griechiſche bis vor wenigen Jahrzehnten faum Beadhtung gefunden. Erft in neuerer Zeit hat man begonnen, fie zu fammeln, zu fichten, kritiſch heraus: zugeben und nad den verjchiedenften Seiten zu ftudieren!. Diefe Arbeit ift aber noch lange nicht zum Abſchluß gediehen, und wir müffen uns des— halb mit einigen vorläufigen Hauptergebniffen begnügen.

Mit den ſchlichten und fernigen Hymnen des Hl. Ambrofius wie mit denjenigen der jpäteren Lateiner haben die byzantinifhen wenig Ähnlichkeit. „Während dieje in ſehr einfachen Formen fih bewegen und an beflimmte

! Bahnbrehenb wirkte hier Kardinal J. B. Pitra durch feine Hymnographie de l’Eglise grecque, Rome 1867; Analecta sacra Spicilegio Solesmensi parata 1 Paris. 1876; Sanctus Romanus veterum melodorum princeps, Romae 1888 (Anno Iubilaei Pontifieii). Ihm folgten W. Christ et M. Paranikas, Antho- logia graeca carminum christianorum, Lips. 1871. H. Stevenson, L’hymno- graphie de l’öglise grecque (Revue des questions historiques XX [1876] 482 bis 543. R. Krumbacher, Geſchichte ber Byzantiniſchen Literatur, München 1891, 308 ff. Edm. Bouvy, Poötes et Mélodes, Nimes 1886. F. Cabrol, L’hymnographie de l’6glise greeque, Angers 1898. 9. Grimme, Der Strophen: bau in ben Gedichten Ephräm bes Syrers, mit einem Anhang über ben Zufammen- bang zwiſchen ſyriſcher und byzantiniſcher Hymmnenform, Freiburg i. d. Schw. 1893.

Die byzantiniſche Hymnik. 521

überlieferte Versfüße und Zeilenarten ſich binden, find bei den Griechen alle Schranken gefallen. Selten find einfahe Strophen, häufiger umfang- reihe, die bis zu zwanzig und mehr Kurzzeilen fteigen, von denen wieder jede mwechjelnden Zonfall haben fan, jo daß man dieje Formen mit den freien Strophen der Iyrifchen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts, manden Dpernarien oder auch Goethes dithyrambenartigen Dichtungen wie ‚Örenzen der Menſchheit‘ oder ‚Der Strom‘ vergleihen möchte. Der Schöpfer der Melodie wollte nicht beftimmte Füße und Zeilen wiedergeben, ſondern er folgte frei dem muſikaliſchen Gefühle; dies allein beftimmte den Tonfall und die Länge der Kurzzeilen und die Gruppierung dieſer Kurzzeilen zu Lang— zeilen oder Abjägen und zum ganzen Gebäude (olxog) der Strophe.“ 1

Da die Griehen von den Zeiten des Altertums her gewohnt waren, nur die antifen, ſtreng metriſchen Vers- und Strophenformen als eigentlich poetifhe Formen zu betrachten, jo kann es nicht befremden, daß die byzan— tiniſchen Kommentatoren jelbft die neuen firhlicen Hymnen geradezu als Profaterte bezeichneten?. Manche derjelben find in Wirklichkeit nichts anderes al3 frei verfifizierte Homilien, Betrachtungen und Gebete, und felbft bei den größten Meiftern der byzantinischen Hymnif finden fi Stellen, in melden weder die Sünftlichleit der Strophengebäude noch der melodiſche Wohlklang der DVerje den eigentlich projaiihen Charakter des Tertes völlig überwindet. Trotz diefer gelegentlihen Schwächen ftellt aber die byzantiniiche Hymmit im ganzen umd großen doch unzweifelhaft eine eigenartige neue Kunftform dar, die fih in ſehr vielen Fällen zu hohem poetischen Werte erhebt.

Eine gewiffe Schranke fand die willfürliche Geftaltung neuer Strophen: formen und Melodien an der praftiiden Aufführbarkeit. Es wurde nad): gerade unmöglih, all die wechjelnden Gebilde im Gedächtnis zu behalten, und jo fam denn die Sitte auf, neuen Hymnen ſchon vorhandene Strophen und Melodien zu Grunde zu legen. Dieje Normalftrophen wurden „Hirmos“ (eippög) genannt und in einem eigenen Buche, dem „Dirmologion”, ges fammelt, in den liturgiſchen Gejangbücern aber bei jedem Liede der zus gehörige Hirmos vermerft.

Die liturgiſchen Gejänge zerfallen in zwei Hauptarten: die „Kontatia” und die „Kanones“. Die erfteren beftehen aus zwanzig biß dreißig und

"Wilh. Meyer, Anfang und Urfprung ber lateinifhen und griechiſchen rhythmiſchen Dichtung (Abhandl. der bayr. Akademie XVII 2, Münden 1885, 328 f).

? Karaloyddyy nennt Suidas (s. v. /Jwdvwmc 6 Janasznvig) die nicht pro- ſodiſchen Verſe bes hI. Johannes Damascenus, diya nsrpou nennt Theodor Prodromos ben rhythmiſchen Weihnahtsgefang des Kosmas, ebenfo Gregor von Korinth: zelw köyw, ro dusrow Inladh. Ebenjo Leo Allatius, der gelehrtefte Grieche feiner Zeit. Es ift alfo wohl erflärli, wenn auch die gelehrten Abendländer durch Jahrhunderte jene Hymnen als Profaterte betradteten. Vgl. Stevenson a. a. O. XX 487.

522 Zweites Kapitel,

mehr gleihgebauten Strophen, welden eine oder zwei fürzere Strophen als Einleitung vorangehen und welche jämtlih mit dem gleihen, aus ein bis zwei Kurzzeilen beftehenden Refrain (Epuuvıov oder dxporeisdriov) fließen. Die „Kanones* dagegen find aus acht bis neun Liedern zujammengejeßt, von welchen jedes feinen eigenen, verjchiedenartigen Strophenbau befikt; am häufigſten ift die durch hriftliche Überlieferung geheiligte Neunzapl.

Der Reim tritt in diejen rhythmiſchen Gejängen ziemlich Häufig auf; doch ſchon die ftete Verjchiedenheit der Verszeilen gewährt ihm nicht diejelbe Wirkſamkeit, welche er in den modernen Spradhen erlangt hat; er tritt nur gewiffermaßen als rhetoriiche Figur auf, um gelegentlih den Eindrud ber Darftellung für das Ohr zu heben. Faft allgemein ift dagegen der Gebraud) der Afroftihen, d. h. die Benugung der Anfangsbudhftaben, um die Ans ordnung der Berje, der Strophenglieder oder der Strophen hervorzuheben, mobei die Reihe der Anfangsbuchftaben bald das Alphabet, bald kurze Angaben über das Gediht oder den Verfafler darftellt. Obwohl fie ge- meinigli den Fluß der Darftellung nicht hemmt, macht fie, graphiſch hervor- gehoben, doch leiht den Eindrud einer überkünftlihen Spielerei, bejonders im Berein mit den unendlid langen Strophen, von melden faum ein Vers dem vorigen gleicht.

Als der größte der byzantiniſchen Hymnendichter wird Romanos „der Sänger” (6 ueimdög) genannt, von welchem es aber lange völlig unficher war, ob er unter Kaiſer Anaftafios I. (491— 518) oder Anaftafios II. (713—716) nad Sonftantinopel gefommen und unter die Kleriker der Blahernentiche aufgenommen worden ift. Erſt in neuefter Zeit neigt fich die Wagichale zu Gunften des erfteren Datums!. Die Menäen berichten, daß er, in Syrien geboren, erft Diakon in Berytus war, jpäter dann nad) Konftantinopel gelommen fei und ala Priefter an der Theotokoskirche gegen taufend Hymnen (Xovraxıa wc zept ra yikıa) verfaßt habe. Es find aber nur etwa adhtzig derjelben erhalten, allerdings jämtliche jehr lang, da wenige unter 24 Strophen zählen. Bon den meijten find wenigftens einzelne Strophen in Gebraud) geblieben. Die größte Beliebtheit erlangte ein Weihnachtshymnus, der alljährlih bis ins 12. Jahrhundert an der faiferlihen Tafel mit groß- artigem Feſtgepränge aufgeführt wurde. Denn in Muſik gejegt, von Chören und Wechſelchdren geſungen, ſtellen dieſe langen Hymnen mehr dramatiſche

ı Für das 6. 6. Jahrhundert entjchieden ih Pitra, Stevenfon, 9. Grimme, anfängli auch Krumbacher (Geihichte ber Byzant. Literatur 664—669), für das 8. Jahrhundert erflärten fih Ehrift, Funk, Jacobi und Gelzer, während Bouvdy ſchwankte. In ber Schrift „Umarbeitungen bei Romanos* (München 1899) gab Krumbacher (142—152) feine frühere Anfiht auf. Dagegen weit G. de Boor (Die Lebenszeit des Dichters Romanos [Byzant. Zeitfchrift IX, 1900, 633—640]) nah, dab bis jet nichts Durchſchlagendes gegen bas 6. Jahrhundert Ipriht und das Problem der Datierung noch nicht endgültig gelöft ift.

Die byzantinifhe Hymnik. 523

DOratorien dar, al3 was wir gemeiniglid unter Hymnen verftehen. Der berühmte Weihnachtshymnus beginnt alſo:

H rapdEvos | ahnızpov | röv brepoumov rixrer, zal h ya To | omylarov | r@ drpoottw mpogdyat* Äyyslkoı | uerd | moruEvov | dofoloyodaew * ndyor di | nerd derepog | Ödorrnopoünv* di Anäs yap | Eyavındn | raudiov veor ö rpö alwvmv Beög.

Die Jungfrau | heute | den Höchften gebärt; Die Erbe eine | Höhle | dem Unermeßnen gewährt; Die Engel | mit den Hirten | felig Tobpreifen; Die Magier | mit dem Sterne | gehen auf Reifen; Denn für uns | geboren | als Kindlein ift heut

Der Gott von aller Ewigfeit.

Romano verbindet mit der dogmatiichen Klarheit und Beftimmtheit eines guten Theologen wirklich das innige Gefühl und den erhabenen Schwung eines großen Lyriker; ja die Natur und Anlage der weitläufigen Gejänge bringt es mit fih, daß er auch gelegentlich ein nicht minderes epifches und dramatiiches Talent entfalten fanı. Manchmal freilich geftaltet ſich die Gliederung von jelbft in einfachlter MWeife, wie in dem ſchönen Pjalm auf die Apoftel, wo er zuerft alle miteinander anredet, dann den einzelnen bejondere Strophen weiht und endlid wieder das ganze Apoftelfollegium zufammen feiert!. Eine gewiffe dramatifche Lebendigkeit erhält auch diejes Gedicht dadurch, daß die Anreden fämtlih in den Mund Chriſti gelegt find, mit dem Refrain:

6 aövog yırıaxav ra dyxapdıa.

Wie ergreifend ift die Anrede an Petrus:

Petrus, Liebft bu mih? Zw, was ich fage:

Weide meine Herbe,

Und Liebe, bie ich liebe, mitleidend mit den Sündern, Eingebent meines Meitleids mit dir,

Daß ih dich, der mich dreimal verleugnet, wieder aufnahm; Du haft den Räuber, den Türhüter bes Paradiefes, ber dich ermutigt; Schide ihm, wen bu willſt.

Durch euch fehrt Adam zu mir zurüd

Aufihreiend: Schöpfer, du gibft mir

Den Räuber zum Türhüter und ben fhlüffelführenden Kephas, Der bu allein die Herzen durchſchauſt.

In der „Berleugnung Petri“? hat Romanos diefen einen Zug nad) dem lurzen Bericht des Matthäus-Evangeliums durch geſchickte Dispoſition

Christ, Anthologia 131—138. 2K. Krumbacher, Studien zu Romanos (Abhandl. ber k. bayr. Akademie der Wiflenjchaften [Münden] 1898, 202 ff).

524 Zweites Kapitel.

der Erzählung, hübſche Ausmalung einiger Einzelheiten und beſonders durch die Einführung lebhafter Dialoge zu einem Heinen Drama der menjhlichen Überhebung und Schwäche geftaltet, das durch die Verzeihung Chrifti einen berjöhnenden Abſchluß erhält. Auch das antike Element des Chores fehlt nicht ; ihm vertreten die Sänger der Lieder, die wiederholt (in Strophe 14, 16, 17) wie al Richter dem Petrus gegenübertreten und ihm in einer für unfer Gefühl faft zu kühnen und anmaßliden Weile Vorwürfe mahen. So Ihön die ganze Ausführung ift, findet Kardinal Pitra doch mande Stellen ſchleppend, kalt und überladen!. Dies hängt indes mit der Breite und dem rhetoriihen Geihmad der Byzantiner zujammen.

Die Geſchichte des äghptiſchen Joſeph, dieſes Lieblingsthema des chriſt— lichen wie ſpäter des mohammedaniſchen Orients, hat Romanos in drei größeren Gedichten behandelt, von welchen das erſte die Jugendgeſchichte des Patriarchen (feine Träume und feinen Verkauf durch die Brüder), das zweite jeine Berjuhung duch Putiphars Weib?, das dritte fein ganzes Leben, bejonders aber die Wiedervereinigung mit Vater und Brüdern ausführt. Im dritten Liede hat Romanos den dankbarſten Zeil des Stoffe in den Vordergrund gerüdt. Durch wirkſame Hervorhebung der jpannenden Momente, die lebhaften Dialoge und Monologe, die anjhauliche Detailſchilderung, wie 3. B. die Reife des alten Jalob nad Ägypten (Strophe 38), wird eine förmlich dramatiſche Wirkung erzielt. Dagegen ftört der regelmäßige Kehr— vers den natürlihen Gang der Erzählung und ſteht oft nur in jehr ge jwungener Verbindung zu den übrigen Strophen ®.

Der Hymnus auf „Mariä Lichtmeß“ Schlägt mande freundliche Klänge der Mariologie an, der „Yüngfte Tag“ die gemwaltigften Atlorde der Apoka— lypſe. Als Probe mögen aus letzterem Gedichte einige Strophen folgen. Die Einleitungsftrophe hat* ein eigenes kürzeres Schema:

10

Nimis plura impedita, frigida, turgida.

? Das zweite publiziert von Pitra, Analecta sacra 67—77.

Bol. Arumbader, Studien zu Romanos (Abhandl. der k. bayr. Akademie der Wifjenfchaften [Münden] 1898, 217 ff). «Nah Krumbacher ebd. 109,

Vorſtrophe.

Die übrigen Strophen ſind nach folgendem Schema gebaut:

Die byzantiniſche Hymnif.

Denn bu kommeſt, großer Gott, zuhmgefrönt auf bie Erbe, und zittern wird das Weltenall ; wenn ein Strom von Feuersglut deinem Throne vorauszieht; wenn Bücher werden aufgetan und das Berborgne wirb geoffenbart: bann errette mid bom unauslöſchlichen Feuer; woll' dich wurdigen, dir mich zur Rechten zu ſtellen, gerechteſter Richter mein!

Hirmus: To @oßepöv aov.

TE TRRIIER RLE: RERENN

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3 u Ka u a aa EL ea 4 a ae Eee 5 er ——

6 —— 7 a a Aa u ae

9 ——— nn eh ante

(9

Strophel. bei mir eingedent, übergütiger Herre mein

| | ee 9 een REN RE

Deines jo furdtbaren Richterftuhls

und jenes Tages bes Enburteils:

525

526 Zweites Kapitel.

Schauer faßt und Angft mid, von ber eignen Gewifjenspein überwiefen der Sündenſchuld. Wenn bu nieder dich laſſen wirft auf deinem Throne bort und beginnen das Schuldverhör: dann noch zu leugnen feine Vergehen, nit einer wirb e8 fönnen; benn die Wahrheit überführt ihn, und die Furt hält ihn befangen. Furchtbar wird erbraufen dann das Höllenfeuer, mit Zähnen knirſcht die Frevblerbrut: drum meiner erbarme dich vorm Ende und jhone mid, gerechteſter Richter mein!

Strophe 2. Als zum erftenmal gelommen und erſchienen ben Menſchen ber Herr, nicht getrennt vom Erzeuger, fiberging er die obern Mächte und Kräfte und die Orbnungen ber Engel und ift Menſch geworden, wie es wollte, ber da gemadt hat ben Menſchen, und er ward aufgenommen zum Bater, ber ihn nicht verlaffen hatte, Unerforſchlich ift dein Geheimnis, o mein Erlöfer: benn nicht entfernteft bu dich gänzlih von deinem Vater und gingft dod vom Bater, ber bu don ihm nicht zu trennen bijt und aud das Weltall erfüllft, gerechteſter Richter mein!

Strophe 3. Bon den Engeln gelobpriefen, ift wieder aufgefahren in Serrlichleit der Herr vor den Augen feiner Jünger: indem fo vor ihm berziehn die Engel, wird er kommen im Glanze, wie geſchrieben fteht. Wenn ſowohl die Himmliſchen als auch die Irdiſchen und zugleich die unter der Erbe

Strophe 4.

Strophe 5.

Die byzantiniſche Hymnik.

loben werden und anbeten Chriſtus den Gekreuzigten und laut bekennen werden, daß er Gott iſt und Schöpfer: dann werden die Juden ſchauen in Tränen auf den, welchen fie durchbohrt haben; bie Gerechten aber werben leuchten, indem fie jubelnd rufen: Ruhm bir, gerechtefter Richter mein!

Vor der erften Ankunft unſeres Gottes ging Johannes ber, predigend allen die Buße: Vorläufer wird fein Elifias bei der zweiten Erſcheinung, ber gerechte, Malachias der Prophet bat ihn vorherverkündet,

indem er fagte: es wird entfenbet werben

vor dem Tage bes Herrn Elias ber Thesbite; und aud Matthäus jchreibt, wie du Iehrteft, mein Erxlöfer, über Johannes, ſprechend: Dieſer ift es, wenn ihr annehmen wollt, der da kommen ſoll, jener Elias, dich zu verkünden, gerechteſter Richter mein!

Anderes, Großes, Geheimnisvolles, hat überliefert und weislich gelehret in ſeiner Offenbarung auch der Theologe Johannes und hat gezeigt, daß Elias kommen wird. Zugleich damit hat er verkündet, daß auch fommen wirb Henoch, der Glüdfelige: dieje beiden, jagt er, fende ih aus als Propheten in die Welt, in Säcke jollen fie fi hüllen und mid alfen verkünden.

527

528 Zweites Kapitel.

Dieſe jollen taufend und zweihundert ſechzig Tage, ſchrieb er, dir vorhergehen vor deiner Ankunft, gerechtejter Richter mein!

Strophe 6. Alles hat deutlich vorhergejagt, was da kommen wird, Daniel, der Göttlicdes verkündet, wenn wir's genau unterſuchen: In einer Woche, jagte er, werde ich ben Bund fließen, unb alsbald fügte er bei: In der Hälfte der Woche wird hinweggenommen ber Ruhm des Gottesdienftes. Und er erflärt, dab durch brei Jahre und ein halbes verfünden werde das Paar jener Heiligen die zweite Ankunft. Durd) eine andere ebenfo lange Zeit wird herrichen der ruchlofe Antichrift, ſchrecklich verfolgend die, welche auf dich harren, gerechteſter Richter mein!

Strophe 7. Es wird aber eine bittere Wurzel finden

der Antichriſt und aus dieſer geboren werden, indem er Chriſti Menſchwerdung

nachäffen will, der Schändliche, ganz Unreine, der Haſſer der Wahrheit.

Seiner eigenen Bosheit

ein würbiges Werkzeug wird er fih vom fFleifche nehmen;

aus einem unreinen Weibe in trügerifhem Spiel wird er hervorgehen ;

die Gottlofen aber wird er täufchen, als ob eine Jungfrau ihn geboren hätte.

Wunderbare Dinge wird er tun

mit Gaufelfünften, ber Lügner und Ruchloſe,

dem bie Frevler anhängen werben; und dich werden fie verleugnen, gerechtefter Michter mein!

Die byzantinifhe Hymnik. 529

Strophe 8. Menn aber fo erfcheinen wirb ber fluchbelabene und abjcheuliche Verleumber, der allem Guten wiberfirebt, er, bes Berberbend übermütiger Sohn, wie ein Gott verehrt von ben Getäuſchten durch feinen Zug unb Trug, wirb er auch von ihnen aufgenommen werben, welche bie Liebe zur Wahrheit Ehrifti nit aufgenommen Gaben, fonbern mehr vertrauten auf bie Lüge bes Betrügers. Worte wird er ausſtoßen gegen den Allerhöchſten, der Drache, ber ungezähmte, und auf alle wird er losgehen, die beiner harren, gerechtefter Richter mein!

Strophe 9. Dann wird er fi auch einen bauen, einen großartigen, das Volk der Hebräer täuſchend und andere, ber Übeltäter, wann er erbichtete Gaufelbilber bahingaubert und Zeichen, ber Gewaltmenjd. Aus einer Geftalt in die andere Geftalt wird er fi verwandeln; in die Quft wird er fliegen, und er wirb gejtalten wie Engel die Dämonen, frevelhaft, um zu gehordhen feinen Befehlen mit Eifer. Drangjal und Not wirb über die Menſchen kommen, groß und unermeßlich, durch Die geprüft werden alle beine Diener, gerechtefter Richter mein!

Strophe 10. Die Hungersnot wird groß werben, und es wirb verweigern auch bie Erde ihre Früchte, und Regen wirb gänzlich mangeln. Alles Gewädhs wird miteinander verborren, und Kräuter werden nicht fprofien. Baumgartner, Meltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl, 34

530 Zweites Kapitel.

Don Ort zu Ort werden bie Menſchen fliehen und weinen ohne Aufbören. Die Verfolgung aber wird gewaltig werben gegen bie Heiligen, Unb in die einfamen Berge, auf bie Hügel und in die Schludten werben fie fliehen aus Furt vor bem Gewaltmenſchen, um dem Draden zu entgehen, rufend: Sieh’ gnädig an und rette beine Diener, gerechtefter Richter mein

Die folgenden Strophen (11—19) entwideln das Bild des Antihrift und des Weltgerichtes weiter!,

Strophe 20. Wenn wir ber gerechten Unterfuhung

vor dem Richterſtuhl bes Ehriftus und unterziehen müfjen, Sünder ſowohl als Geredte,

dann werben zur Rechten bie Wohlgefälligen ftehen, wie bas Licht ftrahlend,

bie Linke aber werben einnehmen,

welche gefündigt haben, in Betrübnis und Kümmernis;

benn nicht wird eine Gelegenheit der Verteidigung jenen gegeben werben,

weil alles genau erforſcht wurde, was jeber getan hat.

Denn ber Erlöfung

Vermittlerin ift gewejen beine erfte Ankunft,

die zweite aber bes Gerichtes, das du allen angebroht haft, gerechtefter Richter mein!

Strophe 21. Es werben dann aber unvermweslich fein

und unfterblich

nad der Auferftehung alle,

benn jede Verweſung ift entſchwunden. Furcht aber wird nicht fein

in Zukunft, dab fi nahen könnte

ſei es ein Wandel, ſei's auch ber Tod;

! Bol. Pitra, Analecta sacra 39—42 (Strophe 12—20) = Krumbader, Studien zu Romanos 1711= bis 173W.

Die byzantinifhe Hymnik.

Sondern ewig ift für immer ihre Lage, ohne Ende, ohne Wendung. Die, welche in die Finfternis, bie äußerſte, geworfen wurben, nad) Gerechtigkeit, werben für ewig von ber Strafe umſchloſſen in Tränen. Die Gerechten hinwieder werden dein Königreich, das unvergängliche, erhalten und ohne Ende beſitzen Wonne und Herrlichkeit, gerechteſter Richter mein!

Strophe 22. Wie gewaltig und ſchrecklich werden jammern

die Verdammten in der Stunde des Gerichtes, deren einer und erſter ich bin,

wenn ſie den Richter ſchauen, den furchtbaren, ſihend auf dem Throne, den Allerhöchſten

(ſchauen), der Gerechten und

der Heiligen Scharen in Freude ſtrahlen,

die Sünder aber in Beihämung und ewiger Berwerfung!

Und vergeblich werden fie Reue zeigen, indem fie rufen:

O daß wir in der Welt

ber Buße Frucht gezeigt hätten,

und wir hätten wohl Erbarmen gefunden und Gnabe und Vergebung, gerechtefter Richter mein!

Strophe 283. Das ift der Hergang bed Gerichtes.

O, jo fliehen wir

bie ewige Strafe!

Das Bergängliche laßt und verabſcheuen, an das Ewige

und Zufünftige labt uns benfen,

damit wir Erbarmen finden!

Laßt uns nicht meinen, daß,

dba wir nun gefündiget,

wir gänzlich verworfen jeien, wir werden ja die Wunde

ber Sünde

durch die Arznei der Buße

84 *

31

532 Zweites Kapitel.

in furzer Zeit heilen, wenn wir, natürlich, wollen! Und nun laßt den Erlöfer uns alle anflehen, rufend: Gib Zerknirſchung ben Knechten bein, o Serr, damit wir Nachlaffung finden, gerechtefter Richter mein!

Strophe 24. Heiland ber Welt, allheiliger, wie bu erichienen bift und die Natur aufgerichtet Haft, bie in ihren Sünden daniederlag, fo, wie ein Erbarmer unfihtbarerweife erfcheine auch mir, Bangmütiger! Den in vielen Vergehungen immer Daniederliegenben richte auf, bitte ich, damit, was ich ſage und id rate ben andern, ih auch jelbjt beobachte! Ad, dic flehe ih an, gib Zeit mir zur Buße. Und auf die Fürfprade der immerwährenben Jungfrau und Gottesgebärerin verſchone mid und verwirf mich nicht vor beinem Angefichte, gerechtefter Richter mein!

Zu no höherem Anfehen als die Dichtungen des Romanos gelangte in der griechiſchen Kirche der jog. (Hymnos) „Akathiſtos“, jo genannt, weil während desjelben Klerus und Volk ftanden (wie bei unjerem Tedeum), ein Danklied an die Mutter Gottes für die dreimalige wunderbare Errettung der Stadt Konftantinopel und des Reiches aus den Händen der Avaren in den Jahren 626, 677 und 717, welche ihrer Fürbitte zugefchrieben twurde!, Zur dankbaren Erinnerung daran wurde bon 626 an der Vigil des fünften Faftenfonntags ein eigenes Felt begangen und an demjelben der Hymnus „Akathiſtos“ ftehend gefungen. Wer denfelben verfaßt, ift zweifelhaft?. Jeden:

Christ et Paranikas, Anthologia 140 141. Der ganze Hymnus (Georgios Pifides zugefchrieben) bei Migne, Patr. gr. XCII 1335—1348. Kom- mentar von J. M. Querci (ebd. XCII 1347—1372). Der ganze Hymnus bei Christ et Paranikas, Anthologia 140—147. N. Nilles 8. J., Kalen- darium manuale utriusque Ecclesiae Orientalis et Occidentalis II?, Oeniponte 1897, 156—183.

° Die Berfafferihaft bes monotheletifhen Patriarhen Sergios ift durch neuere Forſchungen ausgeſchloſſen, diejenige des Photios fehr zweifelhaft, die bes

Die byzantiniſche Hymnik. 533

falls iſt der umfangreiche Geſang ein großartiges Zeugnis für die Ver— ehrung, welche die ſeligſte Jungfrau in der griechiſchen Kirche genoß, wie für die anregende, zündende Gewalt, welche die Marienverehrung auch bei den Griechen auf die Poefie ausübte. „Was Enthufiasgmus für die heilige Jungfrau, was Kenntnis biblifcher Typen, überhaupt religiöfer Gegen: ftände und Gedanken zu leiften vermodten, was Schmud der Sprade, Gewandtheit des Ausdruds, Kunſt der Rhythmen und der Reime Hinzu: fügen fonnte, das ift hier in unübertroffenem Maße bewirkt... So urteilt 3. 2. Yacobi?.

Der höchſten Engel einer vom Himmel ward gefanbt, Der Gottesmutter zu bringen den Avegruß,

Und mit der förperlofen Stimme Schauend verkörpert, dich, o Herr,

Stand er und ftaumte, rufend alfo zu ihr:

Ave, durch die die Gnade erftraßlt, Ave, durch die ber Fluch entweicht,

Ave, des gefallnen Adams Auferftehn, Ave, der Tränen Evas Sühne,

Ave, in der Höhe menſchlicher Betrachtung unzugänglich, Ave, in ber Tiefe Engelaugen unerreihbar,

Ave, weil bu bift bes Herrſchers Königsthron, Ave, weil bu erhebft ihn, ber alles erhebet.

Ave, o Stern, ber bu die Sonne verfündigft, Ave, o Leib göttliher Fleifhwerdbung ;

Ave, durch die neugeſchaffen wird bie Schöpfung, Ave, durch bie zum Kindlein wirb ber Schöpfer;

Ave Yungfrau, immer jungfräuliche.

Die Heilige ſchauend fi in Reinheit Sprach zu Gabriel voller Zuverfidt: Das Wunderbare beines Wortes Scheint meiner Seele ſchwer zu faffen. Der reinften Empfängnis Fruchtbarkeit, wie fafjeft bu fie, rufend: Alfeluja. Die unerfennbare Erkenntnis zu erkennen, fuchte die Jungfrau ?, Und rief alfo zu dem heiligen Boten: Wie ift es möglich, aus keuſchem Leibe Einen Sohn zu bilden? fag mir bag! Romanos unbewiejene Bermutung. (Bol. Byzant. Zeitfchrift XIII [1904] 252 ff; „620 621). In einem lateiniſchen Bericht über den Hymnus wird ber Patriarch Germanos als Verfaffer genannt, bie Abfaffung in das Jahr 717 gefekt. P. dv. Winterfelb, Rhythmen- und Sequenzenftudien IV (Zeitſchrift für deutſches Altertum XLVII [1908) 73—88). 3.82 Jacobi, Zur Geſchichte des griehifhen Kirchenliedes (Zeitſchrift für eg V [1881/82] 228—232).

Ivoov dyvworov yrüvar | h rapdEvog Inroüsa,

534 Zweites Kapitel.

Zu ihr fprad jener in Furcht, doch rufend, aljo Ave, unfagbaren Rates Eingeweihte,

Ave, heil’gen Schweigens treue Wahrerin, Ave, du der Wunbdertaten Ehrifti Anbeginn,

Ave, feiner Lehren erftes Hauptftüd, Ave Himmelsleiter, bran Gott nieberftieg,

Ave, Brüde von ber Erd’ empor zum Himmel; Ave, der Engel vielgefeiertes Wunber,

Ave, der Dämonen vielbetrauerte Wunde, Ave, die das Licht wunderbar geboren,

Ave, die das „Wie“ niemandem mitgeteilt’, Ave, bie bu ber Weifen Erkenntnis überfteigft,

Ave, die bu ber Frommen Seele erleuchteft,

Ave Jungfrau, ſtets jungfräuliche,

Die ſchönſten Lobpreifungen und Ruhmestitel jpäterer Madonnenpoefie finden fih hier alle ſchon vereint, meift in wirklich großartiger Faflung, doch mitunter duch Wortjpiele, gefuchte Gegenſätze, fünftlihe Wendungen manieriert und wohl auch zu jehr litaneiartig gehäuft, was notwendig eine gewiſſe Eintönigfeit hervorruft. Die Vorzüge überwiegen indes die Mängel; der plaftiihen Schönheit der Bilder entipricht die Melodie des Rhythmus und der funftvolle Bau der Etrophen; Gedanke und Gefühl aber find von innigfter Begeifterung getragen.

Durch die Mannigfaltigkeit feiner Beftandteile und Formen, die finnige Anordnung des Ganzen und der einzelnen Zeile entwidelte fih aud das griechiſche Brevier zu einem literarijchen Kunſtwerk, das mit Recht die Auf: merfjamfeit neuerer Forſcher auf ſich gezogen hat, obwohl der Geihmad der Griehen mehr jenem der Orientalen als ihren eigenen helleniſchen Vorfahren entſpricht und deshalb auch jelten mit jenem der Abendländer übereinftimmt ?,

Spophronios, von 634—638 Patriarch von Jerufalem, der große Vorkämpfer der tatholifhen Lehre gegen die Monotheleten, dichtete ana= freontiihe Dden (Avaxpesvrera) in der Art des Syneſios, deren zarte Frömmigkeit, melodiſchen Wohlklang und künſtleriſche Eleganz Leo Allatius ſehr hochſchätzte, die aber, vielleicht ihres vorwiegend dogmatiſchen Gehaltes wegen, bei den neueren Sritifern weniger Gunft gefunden haben. Etwas jpäter dichteten Andreas PHrrhos, Byzantios und Kyprianos, bon denen aber wenig erhalten if. Mit Andreas, Erzbiihof von Kreta (650— 720), deifen großer Kanon nicht weniger ala 250 Strophen zählte,

a To pas dppitwg yawıjoaca 1) ‚mög‘ undeva dıddfaca.

% fiber die verfchiedenen Zeile und Arten der Hymnen fowie beren techniſche Namen und Bebeutung vgl. N. Nilles, Kalendarium manuale I?, Oeniponte 1897, wvi—ıxıx. Christ, Anthologia Lıv—oxri. Krumbacher, Geſchichte ber Byzantiniſchen Literatur 690— 705.

‚Drittes Kapitel. Die mit liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 535

fam die neue Form der jog. Kanones auf. Die Technik wurde dadurch noch fünftlicher als zuvor; allein zugleih nahm auch ermüdende Breite über- Hand, und mit ihre alle Arten von Antithefen, Wortipielen und andern Künfteleien, welche den Eindrud des Großen und Erhabenen entweder jehr beeinträchtigten oder faum auffommen ließen.

Den höchſten Ruhm in Bezug auf Yormvollendung erwarben ſich der jhon erwähnte große Dogmatifer Johannes von Damaskus und fein Halbbruder Kosmas der Melode, der mit ihm zugleidh den Unterricht des gefangenen Möndes Kosmas genoffen Hatte. Johannes wurde bis berab in die neuere Zeit der fog. „Oktoechos“ zugejchrieben, eine heute noch gebrauchte Sammlung von Kirchengeſängen für den ſonntäglichen Gottes: dienft; doch wird jeine Autorfhaft neuerlich beftritten. Jedenfalls hat er wie Kosmas wieder auf Gregorios von Nazianz zurüdgegriffen, zu deſſen Gedichten Kosmas Erklärungen ſchrieb; Johannes nahm aud die quantis tierende Metrit wieder auf und verband fie mit der rhythmiſchen, ftrebte aud in Ausdrud und Form überhaupt größere Mannigfaltigteit und Künft: lihfeit an!. Schwung und Klarheit mußten darunter leiden; allein bei feinen Zeitgenofjen wie bei den fpäteren Byzantinern wurde er um der Form willen dor den übrigen Meloden bevorzugt und am eifrigften nahgeahmt.

Drittes Kapitel. Die nicht liturgifhe Dichtung der Ryzantiner.

Weniger eigenartig entfaltete ſich die byzantinishe Poeſie außerhalb der Firhlihen Liturgie. Die rhythmiſchen Formen fanden in derjelben an= fänglich geringe Verwendung. Dagegen wurden die verjchiedenften antiken Versmaße nachgebildet, bejonderd der jambiſche Trimeter, weniger häufig der Hexameter, das elegiſche Diftihon und der anafreontifche Dimeter. Eine ganz auffallende Verbreitung erlangte im Laufe der Zeit der ſog. „politifche Vers“, ein fünfzehnfilbiger Ber, der nad den erften vier Füßen eine Cäſur hat, urfprünglid jambiſch, aber jpäter jo frei behandelt, daß man nur no die Silben zählte. Soweit die Dichter in den hergebrachten Geleifen ſich bewegten, neigten fie, wie ſchon die Mlerandriner, allzufehr zu Künfteleien und geſuchtem Schmud; foweit fie aber dem Volksgeſchmack Huldigten und

! Ein ergreifendes Kommuniongebet bei G. Dreves, Blüten bellenifcher Hymnodie (Stimmen aus Maria-Laach XLVI [1894] 532—533). „Kanones” auf Ehrifti Geburt, Epiphanie, Pfingften, Oftern, Himmelfahrt bei Christ a. a. O. 205—236. .

536 Dritteß Kapitel.

fi frei in politiſchen Verſen ergingen, fielen fie meift unerträglicher Breite und Formloſigkeit anheim. Schon daß in den mehr als elf Jahrhunderten, melde von der Gründung bis zum Fall von Konftantinopel vergingen, feine eigentliche Neublüte erftand, ift bezeichnend genug; der Niedergang vollzog fi übrigens ſehr langjam und nicht ohne Schwankungen zum Beſſeren. Noch unter Arkadios (395—408) dichtete der Heide Palladas, ein armer Schluder, der, von einem böfen Weib gequält, au Armut fogar feinen Pindar und Kallimachos verkaufen mußte, aber in feinem Elende ſcharfe und wißige Epigramme zu ftande bradte. Die einhundertfünfzig, die ſich erhalten, gehören zu den beiten Produkten des untergehenden Heidentums. Intereffant für die Kunſtgeſchichte und felbft künſtleriſch wertvoll ift die Beihreibung, welde ein anderer Epigrammatiter, Chriſtodoros aus Koptos unter Kaiſer Anaftafios I., von dem Gyinnafion des Zeurippos zu Kon— ftantinopel und den darauf befindlichen Statuen entwarf, die bald hernach (532) eine Feuersbrunſt vernichtete. Nachläſſiger in der Form, aber jehr fruchtbar find die Epigrammatifer Agathias aus Myrina und Paulos Silen- tiarios!, ein angejehener Hofbeamter Juftinians, der Chef feiner Staats: fanzlei. Ein Teil ihrer Gedichte dreht jih um Liebeständeleien, in andern teitt Stark die Neigung zum befchreibenden Element hervor. Vorzüglich in ihrer Art ift die Beichreibung, welche Paulos Silentiarios in einem Feſt— gedicht für die zweite Einweihung der Agia Sophia (563) von dem herr: lihen Bau entwarf. Das Proömium (da aus 134 jambifhen Trimetern befteht) trug der Dichter ſelbſt im Kaiſerpalaſte vor, das eigentliche Haupt: gediht (1029 Herameter) in der großen Halle des Patriarhats, vor dem Kaijer und dem Patriarchen, dem gefamten geiftlihen und weltlichen Hofftaat. Dem Archäologen tommt die Schilderung nicht immer mit erwünjchter tech— niſcher Klarheit und Genauigkeit entgegen; aber fie ift hochpoetifch, von der vollen Weihe des Augenblids getragen, würdig der erhabenen Freier, welche nicht nur den Höhepunkt von Juftinians Regierung, fondern aud den glänzenditen bisherigen Triumph hriftliher Bildung und Kriftliher Kunſt bedeutete.

Das eigentlihe Feſtgedicht hebt aljo an:

Nicht iſt's Heute der Schilde Gellirr, was ben Geift mir befeuert, Nicht die Triumphe im Weſten erheb’ ich noch libyſche Siege,

Nod die Trophäen, errichtet vom Raub der gefchlagnen Tyrannen. Auch mit den Medern ber glorreiche Kampf bleibt heut unbefungen.

Segenverbreitender Friede, bu Echirmer und Nährer ber Städte,

Heißer dem Herrſcher erfehnt als der Sieg in ſchimmernder Helmzier. Auf denn! und rühmen wir laut die Werke zum Heile der Stabt jept!

'Merian-Genast, De Paulo Silentiario Byzantino, Lips. 1889.

Die nit liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 537

Laßt uns im heiligen Hymnen bem Haufe, bas jeglihen Kampfpreis Hoc überftrahlt, Iobfingen, bem Haufe, vor welhem nun jedes Einft hochherrlich gepriefene Werk im Schatten verſchwindet.

Du aber, prangende Roma, befränze ben Spender bes Heiles, Ihn, deinen Kaifer, den Hymnen bes lauterften Lobes umtönen; Nicht, weil unter dein Joch die Völker der Erd’ er gebeugt hat, Nicht drum, weil unermehlih die Marken bes Reichs er erweitert, Bis an das fernjle Gewälbe, bis an bes Oleanos Süften,

Sondern weil hier dir im Schoß er den riefigen Tempel errichtet, Daß hell ftrahlend bu felbft num die Mutter am Tibris verbuntelft. Weiche nun, Roms Kapitol, o weiche dem höheren Ruhme!

Denn mein Kaifer hat, traun, bies Wunder jo weit überboten,

Als der allmächtige Gott dem Gößen von Stein überlegen '.

Darum will id, dab du, goldglängende Halle, dem Herrſcher,

Ihm, dem fceptergeihmücdten, hellihallend fein Loblied zurüdtönft. Nicht bloß Hat der Gebieter, die Hand nur erhebend, im Kriege Mit ſchildbrechendem Speer Barbaren in Unzahl bewältigt,

Daß nun ihr nie no bezwungener Stolz deinem Zügel fi beugte, Daß fie erzittern vor beinen Geſetzen; ber knirſchende, ſchwarze Neid auch erlag vor den Waffen des unwiberftehlichen Kaifers,

Bor ben Gewalt’gen ber Stadt, vom Hagel ber Pfeile getroffen, Ziſcht er verendend und ftürzt in den Staub, ber tief ihn nun einhüllt.

Di jetzt ruf’ ich herbei, uralte Latiniſche Roma! Komm und vereine dein Lied dem Gefange ber jüngern Genoffin; Komm! frohlode, daß fie, dein blühendes Kind, ihre Mutter Weit überragt; benn bag ift die Freude ber Liebenden Eltern.

Ihr aber, würdige Männer, geehrt durch die heilige Sorge Für die Gefege des Höchſten, verſcheuchet die finftere Trauer; Hüllet euch freudig zumal in feftlihe weiße Gewänber; Wiſcht aus den Augen die Tränen, dad Naß fünfjährigen Kummers; Weihevoll laßt hochtönende Hymnen ben Lippen entftrömen.

Siehe! ber jceptergewwalt’ge Beherrfher ber Römer entriegelt Schon auf Erben bie Pforten des Himmels; Glücdjeligkeit baut er Jeglichem Feit und entlaftet die Herzen von nagenden Sorgen ?.

Toooov Znös Fanlsıs brspylaro Vanfos äxsivo, Orbaov eldwloro Beög neyas doriv dpsiwr.

2 DB. 1241 überſetzt von Elliffen, Verfuc einer Polyglotte der europäiſchen Poefie I, Leipzig 1846, 187--189. Daß ganze Gedicht (Ekphrasis) mit ber latei- nifchen Überfegung von Du Gange bei Migne, Patr. gr. LXXXVI 2111—2158; Kommentar von Du Gange, ebd. LXXXVI 2159—2252. Sonberausgabe von Gräfe, Leipzig 1822 und Imm. Better (Bonner Ausgabe der Byzantiner 1837). Metrifche Überjegung von Kortüm und Kommentar bei W. Salzenberg, Althriftlihe Baudentmale von Konftantinopel, Berlin 1854.

538 Drittes Kapitel.

Manche übertriebenen Huldigungen an den Kaiſer erjcheinen durch die Umftände bedreiflih; wenn aber der Dichter fogar die „göttlihe” Roma dankbar die „Laiferlihen Füße“ küffen läßt, jo flreift dies doch ftarf an orientalifche Hofpoefie. In einem befondern Gedicht von mehr ala 300 Hera- metern bejchreibt Paulos aud den „Ambon“ der Sophienkirche; ein anderes in furzen Jamben gilt den „pythiihen Bädern“ (wahrſcheinlich in Bithynien), an melde fih Juſtinian einen eigenen Palaſt bauen lieh !.

Einen Übergang von der Schule des Nonnos zu den jpäteren Byzantinern bildet Georgios Pijides, unter Kaiſer Herallios (610-641) Diakon an der Sophienfirhe und Arhivar (Chartophylar) zu Konftantinopel?, Seine Verſe find korrekt und fließend, jeine Darftellung einfah und verſtändlich; er nimmt unter den nichtliturgiſchen Dichtern unzweifelhaft die erfte Stelle ein und wurde in der Folgezeit viel nadhgeahmt, ſogar mit Euripides ber: glihen. Nur in einem feiner kleineren Gedichte: „Auf das menſchliche Leben“ (Eis thu dvdpwrwov Ptov), hat er den Herameter in der bon Nonnos beliebten Form angewandt. Seine übrigen Gedichte find im jambijchen ZTrimeter geſchrieben. Einen wirklih großartigen Vorwurf boten ihm die fiegreihen Sämpfe, welche Kaiſer Heraklios nad langer, tiefer Demütigung des Reiches gegen die Perſer führte. Er hat dieſelben in drei Gedichten mit großer Begeifterung verherrlicht, Freilich nicht eigentlih epiſch, ſondern wie es jeit Statius längft üblih war, im gehobenen Pathos eines panegy- riftiihen Feſtgedichtes. Die Taten des Kaiſers werden dieſem jelbft erzählt, er jelbft zum Mittelpunft der ganzen Darftellung gemadht und demgemäß mit Lobpreis überjhüttet, faft jo mie dies in den epiihen Hofdichtungen der Berjer und Araber zu geichehen pflegte. Die Kunſt leidet darunter; aber den Dichter darf man deshalb doc nicht allzu ftrenge beurteilen, der jelbft mit bei der Armee war und fpäter als hiftorifcher Zeuge des Feldzugs betrachtet wurde.

Die Beihreibung der Schlacht, in welcher die Macht des Khosru (Chosroes) den erften entjcheidenden Stoß erhielt®, beginnt folgendermaßen:

Beforgt und voll Verzagtheit jah fi der Barbar i Zu drohend fühnem Ratſchluß mit Gewalt gedrängt.

Wie oft es zu geichehen pflegt, gebar vom Schred

Der Lage Not furdtbare Unternehmungen.

! Migne, Pair. gr. LXXXVI 2251— 2268. Beffings Abhandlung über das lektere Gedicht (Werke [Hempel] XIII 194—231).

? Seine Werfe herausgeg. von I. M. Querei, Opera Georgii Pisidae etc., Romae 1777; von 3. Betfer, Bonn 1836; danach abgebrudt bei Migne a. a. O. XCIH 1161—1754. Nachleſe bei L. Sternbach, G. Pisidae carmina inedita (Wiener Studien XIII [1891] 1—63; XIV [1892] 51—68).

> Yın Jahre 622, an der Nordgrenze Perſiens. Die Beſchreibung ſelbſt weift auf die FFelfenpäfle von Armenien.

Die nicht liturgiſche Dichtung ber Byzantiner.

Nachdem er nun in folder Zeit des ftrengen Zwangs Die Stunde, bie am günftigften ihm ſchien, erharrt, Die Stunde, wo, auftaudend aus der Tiefe, ſich Der Morgenftern, bes Tages Bote, glänzend zeigt, So ftellt er in brei Abteilungen fo fein Heer Dir auf, bat deinen Scharen feine ganze Macht Das Antlik zuzuwenden ſchien; aus Lift geichah's. Schlagfert'ge Krieger, feines Heers erlefnen Kern, Hatt’ er in Krümmungen bes Hohliwegs rings verteilt, Damit fie, unvorbergefehn und unverhofft Aus dem Verſteck vorbrechend, in der Deinen Reihn Furdt und ber Ordnung Auflöfung verbreiteten. Denn dba die Zeit des Zagens jebt vorüber war, Betrog die Hoffnung jenen, wie ſchon früher oft; Bald, wähnt' er, werde die Verwirrung eines Teils Des Heerd zur allgemeinen Flucht die Lofung fein. Sedo wohlvorbereitet war bein Feldherrngeiſt Zur fräft'gen Abwehr aller Lift, die er erſann.

Denn eh’ die Nacht noch halbverftrichen, hatteft bu Des Feindes ſchlaue, wohlverhüllte Pläne all,

So wie bu pflegft, duch rege Wachſamkeit erjpäbht. Mit eines Gottes Weisheit ordnet'ſt du das Heer Und führteft in bie Schlacht es, ala der Sonne Licht, Der Feinde Abgott, ihnen wiederum den Blick,

Wie es am Horizont erfhien, verbunfelte,

Und eine Schar, nit allzu zahlreich, fandteft bu, Vom Heere ab, Gewaltiger; bu rüfteteft

Pit Waffen fie, doch mehr mit gutem Rat noch aus.

Kaum waren beine Krieger wie zur Schlacht ins Yelb Hinausgerüdt, fo heucheln fie Verzagtheit ſchon Und wenden fi in trügerijher Flucht; da ftürzt Der Perjer Heer, vor allem aus dem Hinterhalt Der auserlefnen Krieger dichte Wolle, ſich Zum wilden Angriff auf bie liftig Weichenden. Raſch aber wiber jene führteft bu nunmehr Die Zapferften der Deinen in das Feld, und bald, So ſcharfen Treffens nimmermehr gewärtig, zeigt Den Rüden deinen Treuen der beftürzte Feind.

O nie verlegner Geift, fharfblidender Berftand! Der tiefften Einfiht immer rege Flamme bu! Doch nein! die Flamme, die des Feuers, brennt und ſchwärzt, Dein Geift dagegen, Befter, macht ja alles weiß Und lauter, wärmt und glüht, dody nie als wilder Brand.

Da ber Barbar nun inne ward, daß feine Lift Zum böfen Falftrid feinem andern ward als ihm, Befahl er allen Kämpfern feines Hauptheers, raſch Den Borbern beizufpringen, die zur Flucht gewandt.

539

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Drittes Kapitel.

Doch als er biefe Helfer von Entſetzen auch

Und bleiher Furdt ergriffen ridwärts ſtürzen ſah, Da gegen feinen Schugheren wütet er zuerft;

Mie jüngft mit Ehren, überhäuft er fie mit Schimpf; Er löſcht das heil’ge Feuer, giebt das Wafler aus. Gewalt’gen Dampfs verworrnen Nebel drauf erregt Er, mit ber bunteln Wolfe die verftohlne Flucht Zu beden, künftli wandelt er den Tag in Nacht. So über Schludten und durch manden engen Paß, An fteilem Felsabhang, auf ungebahntem Pfab Trieb er die finfternis-umhüllten Scharen bin, Samt ihrer unglüdfeligen Genoſſenſchaft,

Auf Ihroffe Höhn und in bie jähfte Tiefe dann.

Hieraus erwuchs des mannigfahften Mißgeſchicks, Des Falls, des Mordes, der Verſtümmelung Gefahr Für fie, doch jene der Zerquetihung allyumeift. Und in Verzweiflung wünſchte mehr ald einer wohl, Don eines ſchärfern Schwertes Schneid’ erreicht zu fein. Bon feines Rofſſes Rüden fühlt’ ein anderer fi Durch dad Gebräng hoch in bie Quft emporgerädt; Und manden macht der harten Lage Drang ſogar Zur Mauer des Kameles weidhbehaarten Leib. Nah Art der wilden Tiere fpähten alle fie Nach Bergesſchluchten als den Ausgängen zur Flucht. Doch beines Heeres ſämtliche Genoſſenſchaft War hocherfreut, wie ſie durch göttlichen Beſchluß So deines Feldzugs Wunder ſich entfalten ſah. Denn unfre Streitmacht war vom Heer bes Feindes noch Nicht um den Raum des rafhgeworfnen Speers entfernt, Und jeder unfrer Krieger unterſchied gar leicht Die falichen Felfen-Bollwerfe und Schanzen bort, Wohinter ausgegofien ber Barbaren Heer So dicht fi drängte, ohne fi zu regen nur.

Sie aber ſchwankten nun in foldem Sturm ber Not Und ängftliger Bekümmernis, gleihwie bie Flut, Wo eine Woge wild die andere drängt und treibt, Die eine aus der Tiefe jäh empor ſich hebt, Die andere in den Abgrund ftürzt, dann neu fi wölbt. So fluteten der Feinde ordnungslofe Reihn, Dom Wafjer fern, im rauhen, bürren Felsgeklüft. Die einen firebten aus ber Tiefe jäh empor, Die andern ftürzten unter jene aus ber Höh', Verwirrung furdtbar jo erregend und Gedräng, Sinnlos ein jeder, wie er unglüdjelig war. Nur wer da fiel, galt allen für beneibenswert, Denn für glüdjelig hielten fie den Dann allein, Der hart ſchon an des Todes Schwelle hoffend ftand.

Die nicht liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 541

Bei uns war aber alles Heiterkeit unb Luft; Die Wonne herrfcht’ in aller Seelen ftatt der Furcht, Und zum Gebet bob jeder mit ben Händen auch Sein Herz zu Gott, dem Herrſcher aller Welt, empor.

Das Gedicht führt den Titel „Über den Feldzug des Kaiſers Heraklios gegen die Perfer”, umfaßt 1093 Verſe und ift in drei Abjchnitte (dxpouaeıg) eingeteilt. Ein zweites hiſtoriſches Gedicht jchildert den Angriff der Abaren auf Konftantinopel und die Rettung der Stadt dur die wunderbare Hilfe der Gottegmutter im Jahre 626. In einem dritten Hiftorifchen Gedicht, „Heraklias“, behandelte Georgios endlich den völligen Sturz des Königs Khosru Parviz (628). Daran fließt ſich ein begeifterter Gejang an das von Heraklios wiebereroberte heilige Kreuz (in 116 Zrimetern).

Wahrſcheinlich im folgenden Jahre, no in volliter Siegesfreudigfeit ſchrieb Georgios fein „Heraömeron oder Schöpfungswert" (Hiajuepov 9 xoonovpyta [1910, bei Hercher 1894 Trimeter]). Es ift nit, mie der Titel vermuten läßt, eine Schilderung des Sechstagewerkes im einzelnen, fondern eine religiös=philofophiihe Schilderung der Schöpfung überhaupt. Der Grundton ift durchaus lyriſch. Der Dichter ift hingeriffen bon der Majeftät und Größe, der Meisheit und Liebe, der väterlihen Güte und Fürſorglichkeit Gottes, wie fie fih im fihtbaren Weltall darftellt, in den großen Naturerjcheinungen des Weltgebäudes, wie in den Wundern der Heinften Pflanzen und Tiere. Was er aus eigener Beobachtung geichöpft oder aus Theophraft und Nriftoteles erkundet, vereint er liebevoll zum lebendigen Bilde, um am Schluß bei der Herrlichkeit des göttlichen Wejens jelbft zu verweilen und Gottes Segen auf Kaifer und Reich herabzuflehen.

Wunderſchön ift 3. B. die Hleinfhilderung der Biene (Ber 1165), der Ameiſe (B. 1214), des Pfaus (B. 1245), der Heufchrede (B. 1250), der Metamorphoje des Seidenwurms al3 Bild der Auferftehung (B. 1293); aber nicht minder gewandt und farbenprädtig find aud die großen Züge al fresco ausgeführt: das Bild der Sonne (B. 217 f), der Jahreszeiten (B. 259), des Meeres (B. 383), der Lebeweſen (V. 686 ff).

Auch andere Gedichte, wie dasjenige „Auf die Eitelkeit des Lebens“, „Gegen den gottlofen Severus von Antiochia“, „Auf Chriſti Auferftehung“, „An Heraklios“ (bei beffen Thronbefteigung 610) und zahlreihe Jamben weijen Georgios als einen nicht bloß frommen, fondern auch geiftreichen, gewandten und fruchtbaren Dichter aus. Seine Bildung ruht noch ganz wejentlih auf jener des Hl. Gregor von Nazianz.

Eine nicht minder würdige und liebenswürbige Dichtergeftalt ift der bereit3 erwähnte HI. Theodoros Studita, geb. 756, geft. 826, Abt des Kloſters Studion in Konftantinopel, einer der mutvolliten Verteidiger der Bilderverehrung. Bedeutend find feine poetiſchen Leiftungen allerdings

542 Drittes Kapitel.

nicht, aber fie zeigen wenigftens wieder den Zuſammenhang religiös-Köfterlichen Sinnes mit dem künftlerifch-literariichen Beftreben!. Seine zierlihen Epi— gramme auf Chriſtus und die Heiligen find frei von der fonftigen Breite wie von den höfiſchen Schmeicheleien der übrigen Byzantiner. In einer andern Reihe von Epigrammen hat er ebenfo fromm als finnig, kurz und gemütlich ein freundliches Bild des Klofterlebens entworfen, indem er an alle Infaffen des Klofters ein kurzes, ſpruchartiges Gedicht richtet, an die heiligen Märtyrer, denen das Kloſter geweiht ift, an die Novizen, an den Abt, den Prior, den Ökonomen, den „Mahner“, den „Aufpaffer“, den Chorvorjteher, den Prozeifionsordner, den Stellermeifter, den Aufjeher des Speifejaals, den Koh, die Schneider und Kleiderbewahrer, die Aufmweder, die Krankenwärter, die Kranken, den Pförtner, die Ausgehenden, die Heimkehrenden, die weltlichen Beſucher, die Vorübergehenden. Der Eyflus in feiner ſchlichten, gemütlichen Einfalt ift eine wahre Apologie für das vielgefhmähte Mönchtum. Den Krankenwärter mahnt er beijpielämweije:

Ein göttlih Werk, der Kranken Leiden mitzutragen, Nimm mutig es auf dich, mein liebes Kind. Warmberzig, freudig wandle deinen Pfad!

Beim erjten Licht eil Hin zu ihren Betten:

Bor allem tröfte fie mit deinem Wort,

Dann bringe jebem ſchön bes Leibs Erquidung, Wie er fie braucht, mit Liebe und Verſtand.

Dein Glied ift er; drum lab ihn darben nicht. Ein großer Lohn harrt deines treuen Dienftes, Erhabnes Licht, des Himmels ew’ger Ruhm!

Der Sprud an den Kod lautet:

Wer gönnte bir, dem Koch, nicht deinen Franz, Der du den ganzen Tag dich mühft und plagſt? Dein Amt ift knechtlich, doc der Lohn ift groß, Die Arbeit ſchmutzig, aber tilgt die Sünde, Sept brennt das Feuer bi, einft dich zu ſchonen. Drum fpute di, geh munter in die Küche, Zünd früh das Feuer an und waſch die Teller, Und fo für deinen Bruder wie für Gott, Salz mit Gebet das Mahl wie mit Gewürzen, Damit des alten Jakob Segen dich begleite Und freudig du vollenbeft beine Bahn.

Ein merkwürdiges Seitenftüd zu dem ernften Dichter des Mönchslebens bildet die Dichterin Kaſia, auch Kaſſia, Kaſſiana, Eikaſia und Ikafia?

2 Nach der Ausgabe von Sirmond, Paris 1696 bei Migne, Patr. gr. XCIX 1779-1812. ? Die Shreibungen Aaonavy, Eixania und /Ixacia find ohne Gewähr.

Die nicht liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 543

genannt. Sie ftand eben in der Blüte der Jugend, als 830 die Kaiferin- Mutter Euphrofyne aus allen Provinzen des Reiches die jhönften Mädchen nad Byzanz berief, damit ihr Sohn Theophilos fih aus ihnen eine Braut erwählte. Derjenigen, melde er bevorzugte, follte er einen goldenen Apfel ipenden, den Euphrojgne ihm zu diefem Zwecke übergab. Kaſia gefiel ihm vor allen übrigen; den Apfel in der Hand, konnte er aber den boshaften Vers nit unterdrüden:

Ds dpa da yuvamos Ehhin ra pabla Mie ift do durch das Weib uns das Böſe zugelommen!

Die freimülige Jungfrau bot ihm den Gegenvers:

Alla xal dea yuvarög mmydfsı ra xpeirrova

Allein dur das Weib aud das Gute ift entiproffen.

Der flolze Prinz ertrug diefen edeln Freimut nit. Er ging an ihr borüber und gab den Apfel einer Theodora aus Paphlagonien. Kaſia aber, melde durch ihr mutiges Wort das Diadem verfcherzt, gründete ein Kloſter und widmete fih, wie Hroswitha, der Poefie. Außer liturgiſchen Gejängen ! find vom ihr Sentenzen und Epigramme erhalten, welche zarte Frömmigleit, tiefe Empfindung, aber auch mutige Offenheit und mitunter einen fein jatirifhen Zug befunden, Geiftreih und anmutig äußert fie fi über die Stellung des Weibes, Glück, Anmut, Schönheit, Ruhmſucht, Reihtum, mit Wärme und Begeifterung über die Vorzüge des Ordenslebens, mit Wi über die „Dummköpfe“ und über die ſchlimmen Eigenfhaften der Armenier?.

Auch die Dichter der folgenden Zeit haben faum größere Leiftungen aufzuweifen. Die intereffanteften des Johannes Kyriotes, gewöhnlich Geometres genannt, find Epigramme gefhichtlihen und literaturgeſchicht— lichen Inhalts, von denen einige Ereigniffe der Jahre 975, 986 und 989 betreffen. Chriftophoros aus Mptilene, der zwifchen 1000 und 1050 dichtete, zeitweilig faiferliher Hypographeus (Sekretär) und fpäter Statt: halter von Paphlagonien war, bewegt ſich ebenfalls am glüdlichften in Gelegenheitägedihten und kleineren Spielereien®, wie z. B. dem artigen Rätjel auf den Schnee:

1 Die befanntejten: die drei Idiomela auf die Geburt Chrifti, auf die Geburt Johannes’ bes Täufers und auf ben Mittwoch der Karwoche bei Christ et Pa- ranikas, Anthologia 103 104.

? Krumbader, Gejhichte ber Byzantiniſchen Biteratur 715 716. Derſ., Kafia (Situngsberichte der kgl. bayr. Akademie, philof.-hiftor. Klaſſe 1897, Heft 3, 8305—370). A. Ludwich, Animadversiones ad Cassiae sententiarum ex- cerpta, Königsb. 1898. English Hist. Review XIII, London 1898, 340.

s Die Gebichte bes Chriftophoros Mitylenaios, herausgeg. v. €. Kur, Leipzig 1908.

544 Drittes Kapitel.

Du padteft mich, und bod floh id;

Du ſiehſt mich fliehn und fannft mich nicht fefthalten, Du bdrüdteft mid in die Hand,

Aber ih entrinne beine Fauſt bleibt Teer,

und feine jambijche Anklagejhrift gegen die Mäuje, mworin fie jogar ala Frevler an der Literatur verfehmt werden:

Sie freffen alle Nahrung an im Haus, Sie nagen an ben Schriften felbft und an ben Büchern.

Johann MauropoS, der etwa um 1027 Metropolit von Eudaita wurde, berfaßte außer liturgifchen Hymnen ebenfalls jambiſche Gelegenheits- - gedichte und Epigramme im Stile der Alten, auf Bilder, Bücher, Kunſt— werke, Schriftiteller, Ereigniffe der Öffentlichkeit und des eigenen Privat: lebens!, Recht gemütlich ift das Abſchiedsgedicht an das bon ihm verfaufte Wohnhaus, etwas „byzantiniſch“ das Gedicht über feine erfte Begegnung mit dem Saifer, allzu künſtlich, wortſpieleriſch die Spottverje auf die „Poetafter“ (Hoög tobg dxatpws arıylfovrag).

Vortrefflih ift ein jeglih Map! fprad einer einft. Auch ich weiß, daß man Tat und Worte mißt, Und grenz’ mit Maßen bie gemefine Rebe ab. Ich mein’ faft, Maß bedeutet Symmetrie,

Und unbemefines Map ift nicht mehr Maß. Erwäg ben Sprud und faffe, was er fagt:

Denn aus dem mweifen Pindar ftammt er her.

Und miß nur, Liebfter! aber mi mit Maß,

Und geh vernünftig mit den Worten um, Gebrauch das Gute nicht auf ſchlechte Art. Mablofigkeit ift allzeit wohl gar ſchlimm,

Am fhlimmften, wenn des Metrums Weſen fie verdirbt ?.

Daß ſich poetiiher Geift, künſtleriſcher Geihmad und Titerarifches Intereſſe wenn nicht im großen Stil, fozufagen al fresco, wohl aber in Heineren Zeiftungen, gleichſam Miniaturwerten bis tief ins Mittelalter hinein erhielten, bezeugen am beiten die Anthologien oder Blütenlefen bon Epigrammen, melde von verjhiedenen zu verjhiedenen Zeitpunkten ge- jammelt und herausgegeben wurden. hr früheſtes Mufter war jene des Meleagrod von Gadara (60 dv. Chr.). Es folgte dann jene des PHilippos von Thefjalonife (40 n. Ehr.), Straton von Sardes

! Johannis Euchaitorum Metropolitae quae in codice Vaticano graeco 676 supersunt, loh. Bollig descripsit, Paulus de Lagarde edidit, Goetting. 1882, Jambiſche Berfe bei Migne, Patr. gr. CXX 1114—1200. G. Dreves, Johannes Mauropus (Stimmen aus Maria-Laach XXVI [1884] 159—179).

2 Migne.a. a. ©. CXX 1150 f.

Die nit liturgiſche Dichtung ber Byzantiner. 545

und Diogenianos aus Heraklea (2. Jahrhundert n. Ehr.). Während der Zeit der großen Kirchenväter zurüdgedrängt, erwachte die Liebhaberei für die epigrammatifche Poefie und Kleinkunſt wieder im 6. und 7. Yahr« hundert, noch lebhafter vom 9. bis ins 14. Jahrhundert.

Die zwei reihhaltigften Sammlungen, in welden diefe Erzeugniffe zufammenftrömten, find die fog. Anthologia Palatina, von Konftantinos Kephalas im Anfang des 10. Jahrhunderts angelegt und nur in einem Eremplar der Bibliotheca Palatina (zu Heidelberg) erhalten und die Anthologia Planudea, von dem Mönd Marimos Planudes gegen Ende des 13. Jahrhunderts oder im Anfange des folgenden veranftaltet. Aus der erfteren finden fih eine Menge Zitate bei Suidas. Marimos Planudes nahm auf die fittlihe Reinheit mehr Nüdfiht als auf die bloße äfthetiiche Form und ließ deshalb die erotiſchen Epigramme mweg!.

Die Anthologie des Planudes ift in fieben Bücher geteilt. Das erfte umfaht in 91 Kapiteln die epideiktifchen Epigramme (Inſchriften), das zweite in 53 Kapiteln die Spottgebdichte, das dritte (32 Kapitel) die Grabgebichte, das vierte (33 Kapitel) die Auffhriften von Bildwerfen und Beichreibungen von Ländern und Xieren, bas fünfte die Beſchreibung des Bymnafiums des Zeurippos von Ehriftodoros, bas ſechſte (27 Kapitel) Widmungsgedichte, bas fiebte die Liebesgedichte. Mit fichtlicher Vor— liebe nahm er Stüde aus den erften Jahrhunderten ber bygantinifchen Zeit auf, mit Vernachläſſigung althellenischer Produkte, die fich dann um fo reichlicher in ber Samm- fung des Kephalas finden.

Als ein Blütenfranz, der die Haffiihe Periode des Hellenismus in bunteftenn Wechjel mit der alerandriniichen Periode, der römischen Kaijerzeit und den Dichtungen der griehiihen Kirchenväter und der hriftlichen Byzan- tiner verbindet, ift die Anthologie eines der merfwürbigften Denkmäler der gefamten griehiichen Literatur. Wenn auch nur faleidojtopiih, in niedlichen Miniaturgebilden, gibt fie doch ein ſchwaches Nahbild von dem reichen, mannigfaltigen Geiftesleben zweier Jahrtaufende. Sie vergegenmwärtigt auch das Zuſammenwirken, teilmeife die wirkliche Vermählung der alttlaffijchen mit der chriſtlichen Bildung zum driftlihen Humanismus, und zwar in doppelter Richtung: die Anthologie des Planudes eine ernftere, firengere

! Die Anthologia Planudea wurde duch Janos Laskaris 149 in Florenz herausgegeben, dur 9. Stephanus 1566 in Paris, Fr. Phil, Brund und Fr. Jacobs ergänzten und verbefferten die Ausgabe, zogen auch bereits bie Anthologia Palatina zu deren Studium heran. Weitere Verbreitung erlangte diefelbe durch die lateiniſche Überjekung bes Hugo Grotius (heramsgeg. don H. de Boſch 1795— 1822), durch die ſchönen Überfegungsproben Gottfr. v. Herders (1785 1786, „Blumen, aus der griehijhen Anthologie gefammelt*. Herders Werte [Hempel] VII 15—198) und Fr. Jacobs’ (1824) und endlich mehrere Geſamt— überjegungen in neuere Sprachen.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 35

546 Viertes Kapitel.

Richtung, melde die fittlihen Forderungen des Chriftentums unerbittlich geltend macht, die Anthologia Palatina eine freiere, weldhe an das Spiel heidniſcher Phantafie feinen jo ftrengen Maßſtab anlegt.

Viertes Kapitel. Das Drama „Der feidende Ehriflus‘.

Die Poefie im großen Stil erftand nicht wieder. Das Bolf, vor dem einft ein Aeſchyſos, Sophokles und Euripides mit ebenbürtigen Theater: dichtern um die Palme rangen, hatte die Überlieferung der antiten Tragödie ganz verloren. Selbft die mittlere und neuere Komödie war jhon in der jpätrömifchen SKaiferzeit durhd Mimus und Pantomime verdrängt worden, d. h. Schauftellungen, die ohne jeden Fünftleriichen Wert der bloßen Augen: mweide, dem höfiſchen Gepränge, der gemeinften Sinnenluft und Lachluſt dienten. An Kaiferin Theodora, der Gemahlin Juftinians, der Tochter des „Bären: führer“ und vormaligen Tänzerin, hat Prokop anſchaulich das „Künftler”: Volk gezeihnet, das an die Stelle der alten Dramatiker getreten war und fih der Gunft der höchſten wie der niedrigften Kreiſe erfreute. Wie die abendländiihe Kirche, mußte auch die griehifche dem „Theater“, d. h. den vorwiegend obizönen Pantomimen, als einem öffentlichen Ärgernis, einer Schule der Unzudt und Entfittlihung entgegentreten. Die trullaniſche Synode von 691 wie andere Synoden richteten ſtrenge Vorjchriften dagegen. Den Prieftern war das Beimohnen derjelben verboten, ja jogar die Beteiligung an Hochzeiten, bei denen Komödianten eingeladen waren. Ebenſo war der Zirkus verpönt. Theatermelodien wurden aus der Kirche verbannt. Den Anwälten wurde unterfagt, fih mit dem Theater zu befaffen und Theater: foftüme zu tragen. }

Das Bedürfnis nad theatraliichem Vergnügen war lange nicht jo groß wie einft im alten Hellas, weil das Chriſtentum an ſich eine ernftere Lebens— auffafjung lehrte und einprägte, dann aud in feiner herrlichen Predigt und Liturgie, mit Zuziehung aller Künſte, Geift und Herz die erhabenften Genüffe bot. Dabei fam auch wohl die dialogiihe Form zu glüdlicher Bollendung, in geiftlichen Reden? wie in den großen, auf Chöre verteilten Hymnen. Als

Vergeblich hat der griechifche Gelehrte K.N. Sathas bie Fortdauer bes eigentlichen Theaters nachzuweiſen verjudt (/orop. doxiuov zepl ro Wedrpou xal züs novanfig tüv Bufavrwav), Venedig 1878. Bol. Wilh. Eloetta, Beiträge zur Literaturgefhichte des Mittelalters und der Renaiffance 1, Halle 1890—1892. W. Ereizenad, Gejhichte des neueren Dramas I, Halle 1893.

? Siehe die Rede des Patriarhen Proflos auf die jelige Jungfrau (Migne, Patr. gr. LXV 786 ff).

Das Drama „Der leidende Ehriftus”. 547

Anſätze zu einer chriſtlichen Dramatik ift aber dergleichen kaum zu betrachten, ebenfowenig die Nachahmung des platoniishen „Sympofion“ durch den Hl. Methodios!, Ein paar vereinzelte Nachrichten bei Theophylattos Simo- fattes über die Zeit des Kaiſers Maurifios (591) und bei Liutprand deuten wohl auf das Vorhandenſein von Mopfterienjpielen Hin, geben aber über deren wirklichen Beftand und Art feinen näheren Aufſchluß. Auch daß die Bilderftürmer das Theater begünftigt, der Hl. Johannes Damascenus ihren Borftellungen ein Drama „Suſanna“ entgegengeftellt Haben ſoll, ift nicht mehrfah und einläßlicher beftätigt.

Das einzige chriſtliche Drama aus byzantiniſcher Zeit, dad uns er: halten ift und das darum lebhaftes Jntereffe erwedt hat, ift „Der leidende Chriſtus“ (Apıorög zdoywv), ein Paſſionsſpiel von 2640 Berfen (faſt nur ZTrimetern), von denen etwa ein Drittel aus antiten Dramen, meiſtens folchen des Euripides, entlehnt ift?,

Im Prolog drüdt der Dichter jehr ſchön aus, daß er von mehr gleich— gültigen Stoffen zu einem eigentlich heiligen übergehen, das Erlöjungswert im Stile des Euripides behandeln und die jungfräuliche Gottesmutter zur Hauptperjon feines Dramas madhen wolle, indem ihre Muttergotteswürde aufs innigfte mit dem Sündenfall Adams, mit der Menjchwerdung und dem DOpfertode Chriſti zufammenhänge.

Nachdem den Poerfien du fromm gelaujät, Willft du poetiih nun das Fromme hören.

' s. Meihodios, Sympofion der zehn Jungfrauen. (Iuuronov 9 nept äyvsias) Ed. Leo Allatius, Romae 1656 (Migne a. a. ©. XVIII 27—219). Bol. oben 22—29,

? Gedrudt in der Mauriner-Ausgabe der Opera 8. Gregorii II (ed. A. B. Cail- lau), Paris. 1840; danach beiMigne a.a. O. XXXVIII 131338 mit wörtlider und metrifchelatein. Überfegung. Kritifhe Ausgabe von Fr. Dübner, Paris 1846; 3. ©. Brambs, Leipzig 1885, Teubner. Deutiche Überfehung bon A. Ellifjen (Analelta der mittel- und neugriehifchen Literatur I, Leipzig 1855) und €. 9. Pullig (Programm, Bonn 1893). Die Philologen haben es vor— zugsweife für „Euripides“Fragmente u. dgl. ausgebeutet und es fehr geringſchätzig behandelt. Heinrih Karl Abraham Eichſtädt, Profeffor der Poefie in Jena (Drama christianum, quod Aptorös rdeyuv inscribitur, num Gregorio Nazianzeno sit tribuendum [Programm), Jena 1816), findet feine Spur von Poefie darin. IT. Hilberg (Kann Theodor. Probromus ber BVerfafler des Aprarös zdeywv fein? Wiener Studien VIII [1886] 282—814) rechnet den Berfaffer zu den „Stümpern*, d. h. jenen, welche das auslautende a, ce, » unbeichräntt als Länge behandeln. oh. Dräſeke (Jahrbuch für proteftantifche Theologie X [1884] 689—704) Hält wie Baronius ben Apollinarios von Laodikea für den Verfaffer und jeßt es vor das Jahr 363. Der einzige Berfuh einer wirklich äſthetiſchen Würdigung bei J. 8. Klein (Gefhidte des Dramas III [1874] 598—635) ift wohl etwas zu lobend ausgefallen. ®gl. A. Döring, De tragoedia christiana, quae inscribitur Apıorös rdoywv, Programm, Barmen 1864.

85*

548 Viertes Kapitel.

So horhe wohl. Nah Art Euripibes’

Sing’ ich das Leiden, das die Welt erlöfte. Da wirft die meiften der Geheimnisreden

Du hören aus ber Mutter-Jungfrau Mund, Sowie bes Lieblingsjüngers, des gemeihten. Denn fie zuvörderſt ftellt die Rede bar,

Wie mütterli in Leidenszeit fie trauert

Und tief des Todesloſes Grund befeufzt

Bon Anfang an, der wirflih Grund aud war, Daß fie zur Mutter ward des Worts erforen, Und ihn nun leiden fieht fo viel des Unrechts.

Das Stüd ſoll alfo nit einfah ein Paſſions- oder Ofterjpiel fein, fondern ein ſolches im Rahmen einer Marienklage, und zwar in den Formen der Euripideiſchen Tragödie (xat' Eöperiöyv). Um den Dichter nicht unbillig zu beurteilen, muß man in Betracht ziehen, daß die Bühnenüberlieferungen der attifchen Tragödie längft erloſchen waren, der Dichter jeinen Euripides nicht vom Theater, fondern nur aus Buchrollen kannte. Als Theologe und geiftlicher Redner aber fühlte er ſich hauptſächlich von dem religiöjen Ernſt, der hinreißenden Rhetorik, dem erjchütternden Pathos, der jhönen und reichen Sprade des Euripides angezogen, war aber nicht in die eigentliche Theorie und Praris der Dramatik, noch weniger in die Geheimniffe der dramatijchen Bühnentechnik eingedrungen. Er Hatte ſich tief in die Tragik des Kreuzes— todes Chriſti Hineingelebt; er fühlte es, daß die Klage der Gottegmutter um ihren Sohn alle Klagen Hekubas an Tiefe des Schmerzes, der Liebe, der Trauer überträfe; aber er hatte noch fein Mufter vor fih, wie der größte tragische Vorwurf der Weltgefhichte, nach dem jchlichten Bericht der Evangeliften, zum Drama geftaltet werden könnte. Das war eine Aufgabe, die vielleicht jelbft die größten Meilter der attiichen Bühne nit auf den erften Wurf völlig befriedigend gelöft haben würden.

So ift der Aufbau des Stüdes jehr naiv und ſchlicht, aber doch nicht gerade linkiſch und ungeſchickt; denn es zeigen ſich dabei großes Verftändnis für dramatiſche Situation, ergreifendes Pathos, Bühnenwirkung im einzelnen, d. h. mannigfadhes dramatiſches Talent.

Das Stüd beginnt mit einem Monolog der „Gottesgebärerin“ (Beoröxag), wie Maria im Perjonenverzeihnis echt-theologiſch genannt wird, und bleibt bis weit über die Mitte hinaus vorwiegend Monolog, bis zu Bers 727 jogar nur durch drei Botenreden und einige Chorpartien unterbrochen. Der erfte Vote ift einer der Jünger, der bei der Gefangennahme Ehrifti geflohen iM und der Mutter Chrifti nun Nachricht von den Ereigniffen des Abends, dem letzten Paschamahl, dem neuen Abendmahl, der Abjchiedsrede, dem Gebet am Olberg, dem Verrat, der Gefangennehmung Chrifti, der Verleugnung Petri, bringt (VB. 180—266). Der zweite Bote, einer der geheilten Blinden,

Das Drama „Der leibende Ehriftus*. 549

erzählt kurz den Prozeß Chrifti vor Pilatus und feine Verurteilung zum Kreuzestod (B. 367— 418). Der dritte Bote fommt ſchon vom Sal: varienberg und jchildert die Kreuzigung (B. 639—681). Bis dahin reduziert fih aljo die Handlung auf epiſchen Bericht und lyriſche Affekte. Denn allen Raum vor und zwiſchen den Botenberichten füllt die Marien: lage aus.

65 folgt nun eine ergreifende, mwirkfih dramatiihe Scene Maria und Johannes unter dem Kreuz. Die Mutter jchüttet Hier ihr Leid un— mittelbar dem Sohne aus, der Sohn tröftet fie, übergibt ihr Johannes als Sohn, fie dem Johannes als Mutter und nimmt dann Abjdhied von ihr (8. 727—837). Sie bleibt aber unter dem Kreuze und wohnt unter den erihütterndften Klagen dem Opfertode des Sohnes bei. Ahr Weheruf nad dem Tode Chrifti bezeichnet den Höhepunkt des erſten Teils.

Sp einfadh die ganze Anlage ift, jo ift fie doch einheitlih, wohl— durchdacht, natürlih und tief empfunden. Das ganze innige Verhältnis von Mutter und Sohn, die erhabene Beziehung der Gottesmutter zum großen Werte der Erlöfung fommt dabei nad) allen Seiten zum jpredendften Ausdrud. Das unfaßbare Leiden des Gottesfohnes wird uns menſchlich näher gerüdt, indem es ſich im Mitleiven feiner gebenedeiten Mutter jpiegelt, die nur Mensch ift wie wir. Die wunderbare Reinheit wie die innige Liebe der jungfräulihen Gottesmutter ſchlägt die zarteften, ergreifendften Saiten des Geheimniffes an, ohne der Tragik des erhabenen Sühnetodes Eintrag zu tun. Mande haben fih daran geitoken, dat Maria mehr in lage und Schmerz zerfließt, als es mit ihrer Würde vereinbar jcheint, aber wohl nicht beadtet, daß das nötige Gegengewicht in vielen Zügen ihon vorhanden ift, der Dichter die ganze Kraft auf das natürliche Pathos entfalten wollte, um im Lejer und Hörer das volle Herzeleid der jehmerz- haften Mutter, ſoweit möglid, anklingen zu lafjen. Dies gejchieht aber durch die drei Botenreden, die daran ſich knüpfende Marienklage, die teilnehmenden Worte des Chors und Halbchors, endlich in der Kreuzesſcene in ſtets wachſender, wahrhaft erjhütternder Steigerung.

Mit Vers 931 beginnt ein zweiter Akt, der ſich zum erften etwa verhält wie ein Bild der Hreuzabnahme zu jenem der Kreuzigung. ine Steigerung des Schmerzes der Intenfität nad ift nicht möglid), aber der Strom des Leidens und der Trauer verbreitet und vertieft fi) gewiffermaßen in milderem, aber nicht weniger ergreifendem Pathos. Der Verſuch des Johannes, Maria zu tröften, eröffnet einen Blick in die unermeßliche Tragweite der Welt: erlöfung. Eine Wechjelrede zwiihen Maria und dem Chore läßt die Hoff: nung auf Auferftehung mit dem Schmerz des Augenblides ringen. Schöne Scenen zwiſchen Johannes und Joſeph von Arimathäa, zwiſchen Maria und Johannes bereiten die Kreuzabnahme vor. Dann wird der heilige

550 Viertes Kapitel.

Leichnam auf den Schoß der trauernden Mutter gelegt, und Schmerz und Liebe entloden ihr abermals die jhönften, in jedem Herzen anklingenden lagen:

So faß ihn denn, den Toten, unglüdfel’ge Hand!

Weh! Weh mir! Was erblid’ ih? Wen berühr’ ih hier? Wer ift es, der als Leiche mir im Arme Liegt?

Wie drück' ich, heil'ger Scheu und Ehrfurcht voll, ihn an Die Mutterbruft? Wie mach’ ih meinem Kummer Luft? Vergönne mir, did) Toten anzgureben, Sohn,

Mit Küffen zu bededfen den geliebten Leib.

Sei mir gegrüßt, zum Iehtenmal Gefehener,

Den ich gebar, den von ben Frevlern jet erwürgt

Zu jehn, mir das Berhängnis graufam vorbehielt!

O lab mich deine heil’ge Nechte küſſen, Sohn!

Geliebte Hand, die oft ich fahte, dran ih mich Emporbielt wie der Epheu an des Eihbaums Kraft! Erloſchnes Licht des Auges, vielgeliebter Mund, Holdſel'ge Züge, edles Antlig meines Sohns!

O biefer fanften Lippen anmutreiche Form!

Hauch Gottes, der den gottentftammten Leib bed Sohns Wie Himmelsduft ummwitterte und der mein Herz,

Spürt’ ich nur feine Nähe, jedem Gram enthob.

Warum doch wollt’ft du fterben dieſen Tod der Shmad ? Was läſſeſt du die Mutter dein beraubt zurück?

O bürft’ ich dich begleiten in des Todes Haus!

Wieviel ift beffer fterben, denn dich fterben jehn!

Bringt Troft mir dein geichlofi'nes Auge? fpendet ihn Dein ſtummer Diund? Wie trag’ ich’3, hier zu weilen noch? Don Himmelsduft umhauchter Leib, umfonft hat did

Als zarten Säugling alfo meine Bruft genährt? Vergebens zehrt’ ich mid in Müh’ und Sorgen auf

Seit deines Dafeins wunderreihem Anbeginn?

Diel Leid trug ich bei deinem Leben, vieles jetzt,

Sohn bes Allmädht’gen, dbeinetwillen, da du ftarbft. Zuerft der erften Schickungen gedenk' ih nun,

Es folgt nun die Einbalfamierung und Grablegung Ehrifti, mit einem wunderſchönen Sceidegruß der allerjeligften Jungfrau, in welchen ſchon Lihtftrahlen des nahenden Triumphes hineinfhimmern. Sie ſchaut den glorreihen Einzug der Seele Chrifti in die Unterwelt, fie hofft für die ver- mwaifte Erde feine baldige Wiederkehr, fie ruft ihn um Hilfe für das verblendete Volk an, fie fieht ſchauernd das Gottesgeriht nahen, weldes der gottes- mörderiihen Stadt droht. Johannes und Joſeph ſpinnen diefe erhabenen Gedanken in einem bedeutfamen Dialoge weiter, mit großartigem Ausblicke

19. 1308—1349. Daß einige Stellen aus Euripides’ „Ballen“, „Medea“, „Hekuba“, „Iroaden” herübergenommen , zerftört weder die Würde no die Schön- heit bes ebenjo natürlichen als weihevollen Ausdruds.

Das Drama „Der leidende Ehriftus“. 551

auf das Erlöfungswerf. Joſeph fcheidet beruhigt. Nur Maria kann noch feine Ruhe finden. Leid und Hoffnung ftreiten noch mächtig in ihrer Seele. Ein Bote bringt Nahricht, dab das Grab verfiegelt worden und von Soldaten bewadt jei. Das belebt in Maria die Hoffnung auf den verheißenen Sieg. Still und friedlich dämmert endlich der DOftermorgen heran.

Der dritte Teil des Stüdes (von V. 1904 bis zum Schluß) ift ein freundliches Oſterſpiel, das die Ereigniffe des erften Dftertages von dem Grabesbejuh der frommen Frauen in der Morgendämmerung bis zur Er- ſcheinung Chrifti vor den verjammelten Apofteln im Cönaculum, nad der Erzählung der Evangelien, dramatifiert. Auch hier bleibt Maria wieder der Mittelpunkt. Sie jendet in der Morgenfrühe die frommen frauen zum Grabe; fie geht dann jelbft mit ihnen dahin; an fie kommt die Botjchaft von der Flucht der Wächter und der Verlegenheit des Hohen Rates, an fie die Nachricht von den andern Ericheinungen im Laufe des Tages; fie ift endlih mit dabei, wie Chriſtus dem verfammelten Apoftelkollegium fich zeigt und ihm die Gewalt der Sündenvergebung überträgt.

An dieſe Rede Chriſti reiht fih unmittelbar ein Gebet des Dichters an Chriſtus und ein ebenjo inniges an Maria. Das ift der Schluß, der deutlich darauf hinweift, daß das Ganze nicht als Bühnenfpiel, fondern nur als Lejedrama gedaht war. Damit fallen ſchon manche Vorwürfe weg, die man gegen das Stüd erhoben hat. In die Rede des Boten, welcher die Flucht der Wächter meldet, ift übrigens eine ganze Scene eingefchadtelt, welche zwiſchen Pilatus, den Hohenprieftern und den Wächtern ſpielt und die Not des Hohen Rates mit komiſchem Anflug ſchildert. Wie diefe Scene, jo ſcheint auch anderes diefem dritten Teile erft jpäter eingeflidt worden zu fein. Der Schluß aber fteht wieder in ſchönem Verhältnis zum Ganzen.

Das Stüd hat lange als ein Werk des Hl. Gregor von Nazianz ge: golten und wurde deshalb meift defien Schriften beigedrudt. Schon Baronius, Bellarmin, Voſſius, Tillemont, Baillet, Rivet, Labbe, Ceillier jpradhen ihm das Stüd ab, da die meilten alten Handfchriften feinen Namen nicht tragen, das Stück mande Züge aus den Apokryphen bringt und anderweitig die theologiſche SKorreftheit und Genauigkeit des „Theologen“ von Nazianz, ebenfo deſſen literarifche Feinheit in Bezug auf Ausdrud, Metrif und Sprade vermiffen läßt. Die neuere Kritik mweift e&$ dem 11. oder 12. Jahrhundert zu; ja einzelne rechnen den Berfaffer jogar zu den „Stümpern”. Die Frage fann hier nicht einläßlicher diskutiert werden. Bei allen philologifhen Sünden befigt dag Stüd einen hohen Grad von Poefie und wird für die Gefchichte des riftlichen Dramas allzeit bedeutſam bleiben, wer immer der Berfafjer gewejen jein mag. In der griechiſchen Literatur ift e& leider eine ver: einzelte Oaſe geblieben.

552 Fünftes Kapitel.

Sünftes Kapitel. Erik und Kleindichtung der fpäteren Byzantiner.

Sp wenig wie das Drama gedieh auch die Epif im größeren Stil. Wie jeher unter der byzantiniihen Großmannsſucht und politiihen Klein— främerei das eigentlich fünftleriihe Verftändnis dafür abhanden gelommen, bezeugt das an ſich guigemeinte Gedicht, das der Mönd Theodofios in Konftantinopel auf die Eroberung von Kreta (Alwars räc Konrng) im Jahre 961 in fünf Alroafen mit 1039 jambiichen Trimetern verfaßte und dem Kaiſer Nitephoros Photas (963— 969) widmete!. Er fieht in dieſem militärischen Unternehmen, das den Islam auf feinem Siegeslauf durch Orient und Occident faum wejentlih aufhielt, ein Weltereignis, das alle Taten des Ecipio, Sulla, Cäfar und Pompejus verdunfelt; ja er macht ſogar den guten alten Vater Homer herunter, dab er einen Liliputkrieg befungen Habe, der fi mit der Eroberung von Kreta nicht entfernt meſſen könne.

Du aber, Schlahtenraßler, lärmender Homer, Der zum Erhab’nen du das Winzige aufblähft, Mach uns nichts vor! Sprid ruhig und bejdeiben. Klein ift bei uns ber Ruhm, der Lügenvolle, Der traum zehn Jahre dauernden Belagerung. Denn da das turmbewehrte Ilion wir kennen Aus den Palaftruinen, die noch ftehn,

Faßt uns Bewunderung zugleich und Lachen, Da wir belächeln diefes Ne von Lügen

Und Beifall klatſchen dem durchtriebnen Wort. Doch, Feldherrn⸗Miſchkrug, der zureht du braueft Erbärmliches zum hohen fyeierliede,

Nun richte felbft; entfag der alten Sünde

Der Menſchenfurcht, wäg mit gerechter Wage, Erfenn bes toten KHaijerd Weisheit an

In Sendungen und Kriegen allenthalben, Denn Hein kommt der Hellenen Heer uns bor, Klein die Phalangen, Shwählid ihre Führer, Ajar, Achill', Odyſſeus, Diomebes,

Die Ehrgeiz und erlogner Götter Streit

In langer Zwietraht auseinandertrieb

Und enbli gar um alle Hoffnung brachte. Willſt Lieber du ber Wahrheit Ruhmespfad Als außer ihm der Schande Pfade wandeln, Dann halte ein mit deinem Troermorben

Und fing den Blutftrom, ber auf Kreta floß?.

'N.M. Foggini, Histor. Byzant. Append. nova, Romae 1777. Danad abgebrudt bei Migne, Patr. gr. CXIII 993—1060. Acroasis I 19-44.

Epif und Kleindichtung der jpäteren Byzantiner. 555

Nur ſelten gelingt es aber dem Dichter, einmal den epiſchen Ton wirk— licher Erzählung zu treffen; jelbft da ift er gewöhnlich noch geſucht und ge fünftelt, wie bei der Anekdote von dem lebendigen Ejel, den der Maſchinen— meifter den Kretern mit der Wurfmaſchine zufchleudern lieh:

Der Wurfmafchine Leiter fpielte jegt, o Herr,

Den Kretern einen wahrhaft lächerlichen Streid. Denn einen trägen Efel lieh er lebend in

Die Schleuber ſetzen und den Eſel Ejeln fo Zuwerfen. Feſtgebunden jchleuberte man ihn,

Den unglüdfel’gen Himmelsläufer, in das Blau. Mit ausgeftredten Beinen felbft fortrudernd, ſchritt Der bäurifche Gefell gar zierlich dur die Luft; Der jonft fo tief veradhtete war ftolz erhöht,

Er, fonft am Boden fchnedenfühig träge, jagt

Als Woltenläufer jet den Kretern Graufen ein, Xerxes verwandelte, was damals unerhört,

Das Land in Meer zu aller feiner Feinde Schred; Dein Heer, erhabenfter Romanos, aber madt,

Als Falken ohne Flügel faule Efel flügge!.

Selbft hier übertönt der Friehende Ton der Huldigung das bißchen Humor der Erzählung. Weitaus der größte Teil der fünf Akroaſen ift aber gar nicht epiſch, fondern find überfchwengliche oratoriſche und bombaftifche Lobpreiſungen des Kaiſers. Bon feinem Feldzug und von Kreta ſelbſt erhält man nirgends ein klares, plaftiiches Bild.

Wohl der fruchtbarſte der jpäteren byzantinischen Dichter ift Theodor Prodromos, der fih jelbft wegen jeiner Armut „Bettelprodromos“ (Ptochoprodromos) nannte und deffen Leben in die erfte Hälfte des 12. Yahr- Hundert3 fallen muß, da er ſich jchon vor 1143 als Greis bezeichnete, feines jeiner datierbaren Gedichte über 1159 hinausreiht. Er hat einen langen Roman „Rodanthe und Dofikles“ (in 4614 jambiſchen Trimetern) geſchrieben, bei dem ihm die „Aethiopika“ des Heliodor als Vorbild dienten, der aber ziemlich langftielig und ungenießbar ausgefallen ift. Es find aud religiöfe Gedichte und Epigrammme von ihm vorhanden, kunſtgeſchichtlich merkwürdige Berje auf die vier Jahreszeiten, ein aſtrologiſches Gedicht, ein anderes auf ein allegorifche Bild des Lebens, eine Menge Gelegenheitsgedihte und namentlich Bettelverje. igenartiger find aber feine jatirischen und komiſchen Gedichte, in welchen er jeinen ziemlich proletariichen und urwüchligen Humor losläßt: wie fein „Katzenmäuſekrieg“, feine „Satire gegen eine lüfterne Alte”, die „Freundfchaft in der Verbannung”, die „Satire gegen den alten Langbart”, die „Slageverfe über die Beichimpfung der Vernunft“,

ı Ebd. III 173—187.

554 Fünftes Kapitel.

„Amarantos oder des Greiſes Liebe“, „Verfteigerung von poetifhen und politiijchen Gelebritäten”, „Ignorant oder Privatgrammatifer“, „An den Kaiſer oder für das Grüne“ 1,

Wie jeine Romantif unerträglich breit, bald mweinerlih, bald pomphaft und graufig, jo ift fein Humor meift ziemlich dürftig und plump.

Den Roman „Rhodanthe und Dofikles“ ahmte Niletas Eugenianos während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in einem ebenjo meit- ihweifigen Roman nad, der in neun Büchern (3641 Trimetern) von der „Liebe der Drofilla und des Charifles” handelt. Im ganzen ift er weibifcher und jentimentaler als Prodromos, verwechſelt aber gelegentlich wie dieſer Humor mit Ungezogenheit und finft dann zu bedenkliher Roheit herab. Wenn er auch gern in die antifhelleniichen Zeiten zurüdgreift, hat er fi doch daran weder feineren klaſſiſchen Geſchmack noch Selbftändigkeit erworben ; jeine Ausftattung ift faft ganz aus fremden Muftern zufammengerafft. Noch) ſchlimmer gefünftelt und gewunden, ein wahrer „filiftifcher Eiertanz“ ift der Profaroman „Hysmine und Hysminias“, den Euftathiog Makrembolites um diejelbe Zeit fchrieb.

Bon andern Dihtern ift nicht viel zu berihten. Johannes teros ſchrieb ein aſtrologiſches Gedicht von 1351 Trimetern, der Patriarch Lukas Chryſoberges von Konſtantinopel (1156—1169) ein Lehrgedicht über die Faſtendiät, Nikephoros Proſuchos kleinere jambiſche Gedichte, Konſtantinos Stilbes ein Gedicht über die Feuersbrunſt, welche die Kaiſerſtadt 1198 verheerte Manuel Holobolos Hymnen und jambiſche Gedichte, Konſtantinos Anagnoſtes etliche Gelegenheitspoemata, Jo— hannes Katrares ein verſifiziertes Pamphlet gegen den Rhetor Neophytos, Georgios Lapithes ein moraliſches Lehrgedicht in 1491 politiſchen Verſen.

Ein kleines „Dramation“ in 122 Trimetern, von Michael Hapu— chleir verfaßt, worin ein Weiſer mit der Tyche und den Muſen hadert, während es dem Bauer gut gebt, ift faſt ohne Handlung, aud nicht ſonderlich reich an Gedanken, aber artig ausgeführt.

Ein Seitenftüd zu Theodoros Prodromos bildet Manuel Bhiles aus Ephejos, der etwa zwiſchen 1275—1345 in Sonftantinopel lebte, ohne öffentliches Amt, fih mit einer ziemlich bettelhaften Literatentätigfeit durch— ſchlug, aber dabei das anſpruchsvollſte Selbftgefühl behauptete. In 2015 Tri: metern beſchrieb er die Eigenjchaften der Tiere (Ileot Gov lduörmrog), in 381 Trimetern den Elefanten. Dazu fommen Gedichte auf verſchiedene Kunft: werfe (Malereien und Skulpturen), auf Kirchenfeſte, eine Maſſe Lob-, Bitt- und Dankgedichte, oft mit guten Einfällen und poetiſch ausgeführt, endlich drei dialogiſche Gedichte, welche man aber mit Unrecht als dramatiſche bezeichnet.

ı Proben bei A. Ellifjen, Verſuch einer Polyglotte I 219—223.

Sehftes Kapitel. Literatur in der Vulgärſprache. 555

Das allegorifhe Gediht „Meliteniotes“ (in 3060 politischen Werfen) ift ein Berdungeheuer, das weder wirkliche Poefie enthält noch in feinen grotesfen Aufzählungen (der „fieben Hinderniffe“, aller Steine und Mineralien, aller alten Götter ufw.) verläßlihe antiquariiche Aufichlüffe bietet. Der byzantiniſche Alerandrinismus geftaltete fich weit troftlofer und unfruchtbarer al3 der ältere am Nil.

Sechſtes Kapitel. Fiterafur in der Bulgärfprade.

Wie fih neben dem altklaſſiſchen Latein das Bulgärlatein heranbildete, das die Grundlage der romaniſchen Spraden ward, jo entmwidelte ji neben dem altklaſſiſchen Griehiijh und der ala Schriftiprache wenigftens teilweife firierten Ave ein bewegliches Volks-Griechiſch, das immer mehr von der funftvoll ausgebildeten Literaturfprahe abwih und vielfadh fo verbauerte, daß der gemeine Mann die Schriftwerfe der Klaſſiker und Kirchenväter nicht mehr veritand. Die Verjchiedenheit wurde aber nicht etwa dur Verſetzung mit fremden, morgen: oder abendländiichen Sprachbeftandteilen herbeigeführt, jondern lediglich durch nachläſſige und fehlerhafte Ausſprache, Vernachläſſigung der grammatiſchen und ſyntaktiſchen Regeln, Verwechſlung ähnlider und ſynonymer Worte, willfürlihe Neubildungen mit und ohne Analogie. Zum Vorteil der literarifchen Bildung, aber nicht zu jenem der Religion gereichte es, daß die höhere Geiftlichleit durchweg fireng an der alten Würde und Reinheit der Sprache feithielt. Die liturgiſche Poefie wie die geiftliche Be— redjamkeit und Theologie Haben ſich jo einigermaßen auf der alten Höhe behauptet. Es fehlte aber an einer entipredhenden religiöjen Volksliteratur, und flatt einer jolden ward das Volk mit einer Maffe profaner Erzeugniffe Proſa und Poefie im neueren Vollsjargen überflutet !.

Nur jehr wenige Schriftitellee haben, wie Theodoros Prodromos, in beiden Spraden gejchrieben. Als Dichter in der Vulgärſprache erjcheinen ferner Michael Glykas (mit einem Gedichte über feine Gefangennehmung), Stephanos Sachlikis (mit einer fehr unerbaulihen Selbitbiographie),

ı Über den Zeitpunft, in welchem die Umbildung des Altgriehifchen zum Mittel» und Neugriehifchen als abgeichloffen zu betrachten ift, wird geftritten, „Ebenfo falfh wie die Annahme, das Neugriehifche habe fih erfi nad) dem 10. Jahrhundert entwidelt, wäre daher bie umgelehrte, es fei im 3.—4. Jahrhundert ſchon aus gebildet geweien, und bie nad der alten Grammatik richtigen Formen ſeien bereits tote, Tünftliche gewejen und nur aus bewuhter Ablehnung bes Neuen zu erflären“ (KR. Dietrich, Unterfuhungen zur Gejhichte ber griedh. Sprade [Byzant. Archiv, Heft 1], Leipzig 1898, 142).

556 Schftes Kapitel.

Georgios Chumnos (mit einem Auszug aus dem Alten Teſtament in 2800 gereimten politiichen Berjen), Johannes Pikatoros (mit dem „Zraum einer Hadesfahrt”), Marino Falieri (mit einem religiöjen Mahngedviht), Markos Depharanas (mit einem derben Lehrgebicht und einer „Sujanna”), Leonardos Phortios (mit einem Gedicht über das Militärwejen) und Theologetos Moſcholeos (mit einem Leben des hl. Nikolaos) !.

Bon anonymen Gedichten mögen erwähnt werden: „Die Geſchichte von Ptocholeon oder von dem weiſen, beohrfeigten und gejchorenen Greije“, die angebliden „Orakelſprüche Leons des Weiſen“, „Die Meffe des Bart: loſen“ (eine unflätige Satire), „Die ſüfiſchen Sentenzen“ (melde in dem perfiihen „Rabäbnäme“ des Sultans Valad erhalten find), „Das Mahn: gediht an einen alten Bräutigam“, „Die Reimerei dom Mädchen und Jüngling“ (eine ziemlih wüſte Verführungsgefhichte), „Das Leben in der Fremde“, „Die Zeit nah der Arbeit” (Ansxonog), „Das Opfer Abrahams“ (eine Art Myſterienſpiel). Dichteriſch am bedeutendften jind die jog. „Khodiſchen Liebeslieder“, eine Heine verfifizierte Liebes— novelle, in welche eine Sammlung von Liedern eingejhaltet ift, die nad Zahlen akroſtichiſch geordnet ift. Alles trägt das Gepräge wirklicher Vollks— dichtung.

An die Stelle der antiken Epen, an denen ſich einſt Hellas gebildet und an denen ſich noch ein Baſilios und Gregorios von Nazianz erfreut, traten jetzt romantiſche Bearbeitungen derſelben, „von ſchwierigen Wörtern frei und in eine klare, verſtändliche Sprache übertragen“, ſo die in 8799 achtſilbigen reimloſen Trochäen abgefaßte „Ilias“ des Konſtantinos Har— moniakos, die nicht einmal nach Homer ſelbſt, ſondern nach den Alle— gorien und Carmina Iliaca des Tzetzes und der Verschronik des Konſtantin Manaffes gearbeitet ift; dann „Der trojaniſche Krieg“, der nad Fränkifcher Vorlage ausgeführt ift; die in zwei Bearbeitungen vorhandene „Achilleis“, worin Adilleus mit zwölf Nittern auf QTurniere außreitet, um die Hand der Schönen Polgrena zu gewinnen; endlich der „Aleranderroman“ ?, nad Pieudo » Kalliftdenes in zwei metriihen Bearbeitungen verfifiziert, zu denen fi eine noch weit volfstümlichere Projabearbeitung gejellte.

Sehr beliebt und daher mit romantischen Ausihmüdungen wiederholt behandelt ift die Geſchichte Beliſars. Die Sagen, welche fih an die Kämpfe der Afriten, einer Art Markgrafen an den öftlihen Reichsgrenzen, knüpfen,

! Eingehendes bei Krumbacher, Geſchichte der Byzant. Biteratur 800—910. Ellifjen, Verſuch einer Polyglotte I 243—323. U R. Rangabe und D. Sanders, Gejhichte der neugriechiſchen Literatur, Leipzig 1884, 1—15.

? Bgl. Kroll, Der griechiſche Alerander-Roman (Beilage zur Allgem. Zeitung 1901, Nr 38).

Literatur in der Vulgärſprache. 557

find im „Bafilios Digenis Akritas“ zu einem förmlidhen National: epos zufammengefloffen, das in verjhiedenen Bearbeitungen bis zu 3094, 3749, ja ſogar in einer jpäteren auf der Inſel Andros 4778 Berje zählt, ein höchſt merkwürdiges Seitenftüd zum „Eid“!. Demjelben Kreis gehört auch „Der Sohn des Andronikos“ an, mährend die Chronif von Morea die nah dem vierten Kreuzzug gegründeten Feudalherrſchaften im Pelo— ponnes befingt.

Poetiſch ziemlich wertlos ift die „Eroberung (AAwarz) von Konftan: tinopel“, ein Aufruf an die hriftlihen Mächte in 1044 politischen Verſen; wirklich ergreifend ift dagegen der „Slagegefang auf den Fall von Kon— ftantinopel“ (118 politifche Verſe), dem wahrſcheinlich ein eigentlihes Volls— lied zu Grunde liegt.

Andere geihichtlihe Gedichte behandeln den Tod Zimur Lenks, die Schlaht bei Barna (1444), die Eroberung von Athen durch die Türken (1458), die Peſt von Rhodos (1498 und 1499), das Erdbeben von 1508, die Heldentaten des Albanefen Merkurios Bua, der 1527 in kaiſerlichen Dienften zu Treviſo ftarb, die Taten des Grafen Tajapiera, eines Griechen von Korfu, der ſich als venezianisher Hauptmann im Anfang des 16. Jahr: hunderts durch Beftrafung von Piraten verdient machte,

Ungleih mehr zeigt ſich der durch die Kreuzzüge völlig umgeftaltete, mittelalterliche Volksgeift in den zum Zeil umfangreihen Versromanen, in welchen NRittertum und Märdenpoefie in buntefter Phantaftit ſich durch— kreuzen, wie „Sallimahos und Chryjorrhoe“, „Belthandros und Chryfantza”, „Lybiſtros und Rhodamne“. Aus dem Kreis der Tafelrunde ftammt „Der alte Ritter”; in „Phlorios und PBlatziaphlora” find Flore und Blandhefleur leicht erfenntlich, ebenjo die jhöne Magelone in „Imberios und Margarona“, Das romantifhe Epos „Erotofritos” des Vincent Cornaro, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts auf Kreta lebte, umfaßt nicht weniger als 11400 gereimte politiiche Verſe.

Auf Kreta wurde fpäter, unter italieniihem Einfluß, auch die Dra- matif wieder gepflegt. Die bedeutendfte Leiftung derjelben ift die „Erophile” des Georgios Chortatzes (zwifchen 1581 und 1637 gedichte). Sie lehnt ih an das Drama „Orbecche“ des Giod. Batt. Giraldi, genannt Einthio, während die vier Zmwijchenjpiele dem „Befreiten Jeruſalem“ Taſſos ent: nommen find.

! A. Rambaud, Une Epopse Byzantine au X* siöcle (Revue des Deux Mondes IV [1875] 922—946.

2 0 zpeofvs irrörms. Ein griechiſches Gedicht aus dem Sagenkreis der Tafel⸗ runde, in neuer Zertrevifion und zum erflenmal in vollftändiger Verdeutſchung von U. Elliifen, Leipzig 1846,

558 Siebtes Kapitel.

Der aud) bei den Griechen jehr beliebte „Phyfiologus“ ! regte zu mannig= fachen Ziergefhichten an, mie der „Kindergeſchichte von den Vierfüßlern“, dem „Pulologos“ (Bogelbuh), dem „Pſaralogos“ (Fiſchbuch) und der „Legende vom ehrjamen Ejel“, welche unter dem Titel „Die ſchöne Gedichte bom Ejel, Wolf und Fuchs“ eine zweite Bearbeitung fand. Die Pflanzen: welt findet fi mit drolligen Perjonifitationen in dem „Obſtbuch“ (Pori- fologo8) verherrlicht.

Der Zahl der Bolfabücher find endlich, wenngleih in Proſa gejchrieben, ebenfalls „Syntipas“ ſowie „Stephanites und Ichnelates“ beizuzählen, welche, Indien entftammt, fi auf verſchiedenen Wegen weithin im Morgen: und Abendland eingebürgert haben.

Siebtes Kapitel. Die griedifhen Humaniſten im Abendland.

Die gegenfeitigen Beziehungen zwiſchen der byzantinifchen Literatur und den wefteuropäilchen Literaturen des Mittelalters find nod wenig erforicht. Einen für die allgemeine Weltfultur bedeutjamen Einfluß erlangten die byzantiniſchen Griechen jedenfall erft, ald die Macht der Türken immer näher an Byzanz heranrüdte und endlih das oftrömijche Reich völlig in Trümmer jhlug. Seht firömten gelehrte Griehen in Menge nad Italien, wurden die Lehrmeifter des Abendlandes und ließen hier die nahezu völlig abhanden gelommene Kenntnis griechiſcher Sprache und Literatur neu auf: erftehen. Borbereitend dafür Hatten die wiederholten kirchlichen Unions— verfuche gewirkt, welche auf den zwei allgemeinen Konzilien von Lyon (1274) und Florenz (1439), wenn aud nur für furze Zeit, eine wirkliche Union erzielten. Beſonders durch die Uniondverhandlungen zu Florenz hatte der aufblühende Humanismus mit Bezug auf die griechiſchen Studien nicht nur die mädhtigften Anregungen, ſondern auch die fruchtbarſte Förderung erhalten. Unter den griehiihen Humaniften jelbft findet fi fein Dichter von größerer Bedeutung. Es bleiben deshalb nur noch einige Züge nadhjzutragen, welde die Verdienfte diefer nach Italien verjchlagenen Griechen beleuchten ?.

ı 8, Goldftaub, Der Phyfiologus und feine Weiterbildung in der latein. und byzant. Literatur (Philologus, Supplementbd VII 3), Leipzig 1901. K. Krum— bader, Das mittelgriehiiche Fiſchbuch (aus Situngsber. der bayr. Afabemie ber Miflenih.), Münden 1903.

2 F. Legrand, Bibliographie Hellönique ou description raisonnée des ouvrages publi6s en Grec par des Grecs au XV* et XVI* siöcle, 2 Bde, Paris 1885. 6. Bernhardy, Grundriß ber griedhijchen Literatur, Halle 1876. 4. Ber

Die griechiſchen Humaniften im Abendland. 559

Der launische Leontios Pilatos, bei welchem Petrarca und Boccaccio ihren erften griehifchen Unterricht erhielten, ftarb ſchon 1364, als er, voll ehrgeiziger Pläne, aus Italien nah Griehenland zurüdtehren wollte. Ein Blisftrahl traf ihn am Fuße des Maftbaumes, an den er fih im Sturm geflüchtet hatte. Mehrere Jahrzehnte fanden die von Petrarca ausgegangenen Anregungen wieder feinen namhafteren Vertreter. Manuel Chryſoloras, um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Konftantinopel geboren, ward 1393 vom Kaiſer Manuel Palaeologos nah Venedig gejhidt, um Hilfe gegen die Türken zu werben, folgte 1396 einer Einladung nad Florenz und eröffnete hier einen Kurs für griehifhe Sprade nnd Literatur, beſuchte in diplomatischen Angelegenheiten mehrere Höfe, ward von Johann XXIII. an das Konzil von Konftanz gefandt und ftarb in diefer Stadt 1414. Lionardo Bruni, Guarino, Aurispa waren feine Schüler, Franz Filelfo ward jogar jein Schwiegerſohn. Bon ihm ging die erfte Wiederbelebung der griehiihen Studien aus. Der Eifer, den er medte, trieb Guarino wie Filelfo und Aurispa nad) Konftantinopel, um fi noch mehr in das Griechiſche hineinzuleben. Theodoros Gaza aus Theffalonih ward um 1430 dur die türfiihe Eroberung noch im jungen Jahren nad) Italien verjchlagen, wohnte dem Konzil zu Florenz bei, wurde Profeffor zu Ferrara, dann von Nikolaus V. nah Rom gezogen, ging nad deffen Tod nad) Neapel, mard von Paul II. nad Rom zurüdberufen, fand aber bei Sirtus IV. nicht diefelbe Huld und flarb in Kalabrien 1475, drei Jahre nad dem Tode feines Freundes und Gönners, des Kardinals Beſſarion (F 1472). Er war ein ebenfo bejheidener wie gründlicher Gelehrter, deſſen wiſſenſchaft— lihe Tätigkeit weite reife 309.

Ein glänzendes Jrrlicht war dagegen der aus dem Peloponnes ftammende Georgios Gemiftos Plethon, welcher 1438 Vorträge über platonijche Philoſophie in Florenz hielt und Coſimo de’ Medici die Anregung zur Stiftung feiner platonifhen Akademie gab. Angejehene Männer hörten ihn gern; allein der Kern feiner Lehre war ein bermorrener Neuplatonismus, der ihn jelbft zu allen Torheiten einer heidnifhen Theoſophie hinriß, eben— fall3 unter den übrigen Mitgliedern der Akademie großes Unheil anrichtete. Auch nachdem er (1455) geftorben, dauerte der von ihm angeregte Streit zwiſchen Ariſtotelikern und Platonikern fort. Georgios von Trapezunt (7 1486) ftand mit leidenſchaftlicher Heftigkeit, Theodor Gaza ruhiger und ſachlicher für die Philoſophie des Ariftoteles ein. Mihael Apoftoliog, der, nach längerer Gefangenihaft aus feiner Heimat vertrieben, fih in Stalien niederließ und an Kardinal Beſſarion einen wohlwollenden Gönner

arbeitung I 731—733 739—752. C. F. Boerner, De doctis hominibus Graeeis litteraturae Graecae in Italia instauratoribus, Lips. 1750.

560 Siebtes Kapitel.

fand, erhob fi gegen die beiden Xriftotelifer, ward aber nicht nur von Andronikos Kalliftos, einem tücdtigen Kenner des Ariſtoteles, be- fämpft, jondern aud von feinem Gönner Beſſarion mit väterlicher Ent- ſchiedenheit zurechtgemwiejen.

Beijarion, um 1395 in Trapezunt geboren, war jelbft einft im Peloponnes ein Schüler des Plethon geweſen. Als Erzbiihof von Niläa wohnte er 1438 mit dem Kaiſer Johann Palaeologos dem Konzil zu Florenz bei, vereinigte fih mit der Kirche von Rom und ward vom Papſte zum Kardinal, zum päpftliden Legaten und Patriarchen von Sonftantinopel ernannt. Er war der liebreihjte und treuefte Wohltäter feiner nad Italien flüchtenden Landsleute, ein nicht geringerer Förderer der Wiſſenſchaft. Seine Handicriftenfammlung ward der Grundftod der berühmten Marfus-Bibliothef bon Benedig. Obwohl jelbit jehr für Platon eingenommen, wollte er doch bon dem neuerungsſüchtigen Sturmlauf wider Ariſtoteles nichts willen, jondern bewährte in den philoſophiſchen Streitigfeiten feiner Yandaleute eine hohe geiftige Überlegenheit, indem er die Hadernden zu ruhig» fachlicher, wahrhaft wilfenjhhaftliher Behandlung mahnte.

„Es hat mir leid getan“, fchrieb er an Michael Apoftolios, „dab bu einen fo gelehrten Mann wie Theodoros (Gaza) der Unwiffenheit angellagt haft. Aber daß bu in ebenjo unwürdiger Weiſe Ariftoteles jelbjt behandelt haft, Ariftoteles, unfern Führer und Meifter in jeder Art der Gelehriamfeit, dab du gewagt haft, ihm grobe Beleidigungen zuzufchleudern, ihn unwiſſend, ertravagant und undanfbar zu nennen, ihn fogar übeln Glaubens anzuflagen, geredter Himmel, wie kann man das tun? Ich für mid glaube, daß es feine größere Bermeffenheit gibt. Kaum kann id Plethon ertragen, ober befjer gefagt, ih kann ihn micht ertragen, fo große Rückſicht auch ein folder Mann verdient, wenn ihm ähnliche Worte gegen Ariftoteles ent- wifchen. Wie fönnte ich denn das von dir leiben, der du noch feinen dieſer Gegen- ftände gründlich ftubiert haft? Glaube mir, betrachte fünftig Platon und Ariftoteles als zwei Männer der höchſten Weisheit. Studiere fie Schritt für Schritt; nimm fie dir zu führern; jtudiere fie mit Muße; erwäge fie gründlih und ſuche mit Hilfe eines gründlichen Lehrers die Tiefe ihrer Argumentationen zu durchdringen. Denn dieje zwei Schriftfteller fprechen nicht immer fo leicht verftändlich für alle, die fie gern verftehen möchten, ferner, wenn fie verfchiedener Anſicht find, verdädtige fie nit gleih der Unwiffenheit; nähre nie dieſen Gedanten! Betrachte vielmehr diefe Meinungsverſchiedenheit als ein Zeichen ihres Genies fowie ber dunkeln und problematifchen Natur ber Fragen, die fie behandeln. Bewundere ihr tiefes Wiſſen und Lohne ihnen durch das Gefühl einer demütigen Erfenntlichkeit all bad Gute, das fie uns erwiejen haben. Das ift das Beſte, was du tun kannſt. Du wirft dabei beinen Borteil finden und mir unb allen vernünftigen Leuten Freude machen.” !

! Brief aus Viterbo vom 19. Mai 1462. Hacke, De Bessarionis vita et scriptis, Harlem 1840, 117 f. Migne, Pair. gr. CLXI 685—692. Legrand, Bibliogr. Hellönique. Introdustion I uxı f. R. —— Beſſarion, Leipzig 1903.

Die griehifchen Humaniften im Abendland, 561

Hätten die Humaniften dieje vernünftigen Mahnungen de3 greifen Kardinals zu ihrem Programm gemadt, jo wäre der Wiſſenſchaft wie der Religion und Kirche eine Unmaffe vergeblihen und ſchädlichen Haders erſpart geblieben; Platonismus und Wriftoteliamus, Humanismus und Scholaftif wären zu einem vernünftigen Ausgleich gelommen und hätten fich gegenjeitig gefördert, anftatt gegenfeitig ihr Werk zu fören und ſchließlich Chriftentum und Kirche jelbit in ihren unjeligen Hader hineinzuziehen. Allein der „ort: ſchritt“ lag nun einmal in der Luft. Der phantaftifche Reiz neuer Syſteme, die im Grunde nur ein Abklatſch alter, Heidnijcher Irrtümer waren, riß manche glänzende Talente auf faljhe Bahn. So blieben viele nüßlihe, ja die notwendigften Arbeiten jahrzehntelang aufgefhoben und ward der wirkliche Fortſchritt erft auf langen Zidzadlinien erreicht.

Mehr als fünfzig Jahre vergingen nad) jenen Kontroverfen über Blaton und Xriftoteles, ehe 1513 aus der Druderei des Aldus Manutius die erfte gedrudte Gefamtausgabe der Werke Platons hervorging; ja die einfachften Lehrmittel zum Studium des Griechiſchen Tießen nod geraume Zeit auf fih warten, obwohl die Buchdruckerkunſt bereits erfunden mar.

Wie langjam überhaupt die griechiſche Literatur zum Drud gelangte, mag folgende Tabelle veranihauliden. Es erihien

1476. Die griehifhe Grammatik des Konftantinos Laskaris. 1484. Die Erotemata des Manuel Chryfoloras. 1486. Die Batrahomyomadie, heransgeg. durch Lakonikos. Der Pialter, herausgeg. von Georgios Alerandros. 1488. Die fämtlihen Werke Homers, herausgeg. von Demetrios Chalkondylas. 1498. Die Werfe des Iſokrates, herausgeg. don demjelben. Die Erotemata bes Ehalkondylas, 1494. Die Galeomyomadhie, herausgeg. von Ariftobulos Apoftolios. Des Mufäos Hero und Leander. Die Anthologie, herausgeg. von Janos Lasfaris. Die Hymnen bes Kallimachos, von bemielben. Vier Tragödien des Euripibdes, von demijelben. Hero und Leander, von demſelben. 1495. Die griehiihe Grammatik des Theodoros Gaza. 1496. Die Argonautifa bes Apollonios von Rhodos, herausgeg. von Yanos Laskaris. Die Werke Lukians, von demſelben. 1498. Neun Komödien bes Ariftophanes, herausgeg. von Markos Mufuros. 1499. Griechiſche Brieffanmlung, von demſelben. Die große Etymologte von Mufuros, Kallergi und Vlaſtos. Simplicius (der Ariftotelifer), berausgeg. von Kallergi. Suidas, herausgeg. von Demetrios Ehaltondylas. Der Raub ber Helena, Gedicht des Demetrios Moſchos. 1500. Ammonios, berausgeg. von Kallergi. Die Argonautila des Orpheus, herausgeg. von Konft. Laskaris. Die Therapeutit bes Galenos, herausgeg. von Kallergi. Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 36

562 Siebtes Kapitel.

1502. Die Tragödien bes Sophofles. Albin. Ausg. 1503. Die Tragödien des Euripides. Aldin. Ausg. 1508—1509. Die griehifchen NhHetorifer, herausgeg. von Demetrios Dukas.

1509. Die ethiſchen Schriften des Plutarch, von demfelben.

1513, Alerander von Aphrodifias, herausgeg. von Mark. Dtufuros. Die Werte Platons, herausgeg. von demſelben.

1514. Das Neue ZTeftament, mit Hilfe von Demetrios Dufas !, Die Werke des Athenaios, herausgeg. von Mark. Muſuros. Das Lerifon des Heſychios, von demfelben.

1515. Die Idyllen des Theofrit, von bemjelben. Die Halieutifa des Oppian, von bemielben. Pindar, herausgeg. von Zacharias Kallergi.

1516. Paufanias, herausgeg. von Marf. Mujuros.

Im Verlauf des Jahrhunderts überwog der Drud alerandrinifcher, byzantiniſcher und vulgärgriehiicher Schriften noch weit mehr denjenigen der klaffiſch-helleniſchen; dieje verſchwinden zuleßt nahezu in der Maſſe der übrigen.

Das erſte griehifche Werk, die Grammatik des Konftantinos Laskaris, wurde 1476 zu Mailand gedrudt. Die nächſten Drude jcheinen in Florenz zu ftande gekommen zu jein. Die erfte Homer-Ausgabe erſchien unter Zeitung des Demetrios Chalfondylas 1488 zu Florenz, von dem Druder Bernardo Nerli dem Pier de’ Medici gewidmet. Im Berein mit dem gemwandten Geſchäftsmann Vlaftos gab der Kalligraph und Buchdrucker Zaharias Kallergi (aus Rethymno auf Kreta) 1499 zu Venedig die „Große Etymologie“ heraus, unterftüßt von der vornehmen Byzantinerin Anna Notaras, die, aus Konftantinopel vertrieben, erft in Rom, dann in Benedig eine Zuflucht fand. Der größte und verdienftvollfte Förderer griehiicher Drude aber ward der gelehrte Aldo Manuzio (mit vollem Namen Aldus Pius Manutius Romanus), ein ebenjo des Griehiihen und Lateinischen kundiger Humanift wie tüchtiger Gejhäftsmann, dabei religiös und firhlich geſinnt. Er bejorgte im Berein mit den gelehrteften Griehen von 1502 an die beiten Ausgaben der griechiſchen Klaſſiker, welche durch ihre Sorgfalt eine der Grundlagen der neueren Philologie bilden.

Troß der großen Vorteile, welche die Buchdruckerkunſt bot, blieben ihön ausgeführte Handidriften, kalligraphiſche Meifterftüde mit Initialen und Randverzierungen ein beliebter Qurusgegenftand der höheren Geſellſchaft.

Als Lehrer der griechiſchen Sprache madten fih Johannes Argy ropulos, der jhon erwähnte Andronifos Kalliſtos und Sonftantinos Lasfaris verdient. Der erftere wurde bereits 1456 von Coſimo de’ Mebdici nach Florenz berufen und als öffentlicher Lehrer der griehiihen Sprade

ı in der Polyglotte des KHarbinald Ximeneds. Bol. Legrand, Bibliogr. Hellönique I 117.— Tischendorf-Gregory, Nov. Test. Graece, Prolegomena. Ed. 8 III, Lips. 1884, 205 206.

Die griehifhen Humaniſten im Abendland. 563

angeftellt. Fünfzehn Jahre genoß er hier die perjönlihe Gunft und Freund: Ichaft der Mediceer, zog fi aber dann nad Rom zurüd und ftarb daſelbſt in hohem Wlter. Er erklärte vorzüglich Ariftoteles umd Thukydides. Zu jeinen Schülern zählte er unter anderen Angelo Boliziano und Reudlin. Als er einmal Reuchlin den Thufgdides erklären hörte, joll er ausgerufen haben: Graecia transvolavit in Italiam.

Andronifos Kalliftos taudt urkundlich erft 1461 in Italien auf. Er lehrte erft in Padua, dann in Bologna und Rom, wo ihn Kardinal Beſſarion mit offenen Armen aufnahm. Es jcheint, daß derjelbe ihn jedoch dem Elend und der Armut, in die er geraten war, nicht zu entreißen ber- mochte. So verſuchte der ausgezeichnete Gelehrte fein Glück in Florenz, wo er einige Jahre Homer, Ariftoteles und Demofihenes erklärte. Später jeßte er jeinen Wanderftab weiter nad Mailand, nad Paris und endlich (1476) nad) London, wo er geftorben zu fein jcheint.

Konftantinos Laskaris fam um 1454 nah Mailand und unter: richtete hier Hippolyta, die Tochter des Francesco Sforza, welche fi jehr für das Griechiſche interejfierte und damals ſchon mit Alfons, dem künftigen König von Neapel, verlobt war. Später lehrte er in andern Städten Italiens, zulegt in Mejfina, wo er hochangeſehen 1493 ftarb. Unter feinen Schülern zählte er den Gräziſten Urbano und den jpäteren Kardinal Bembo. Seine „Erotemata“, die er Hippolyta widmete, find die erfte griechiſche Grammatit, welche die Ehre des Drudes erlebte. Zahlreihe Handſchriften von ihm befißt die Bibliothek des Eskorial.

Bon dem Lafevämonier Johannes Moſchos iſt nur befannt, daß er ebenfall3 Unterricht im Griechiſchen erteilte. Sein älterer Sohn Georgios wurde Arzt und Lehrer auf Korkyra, der jüngere Demetrios Moſchos fam um 1470 nad Jtalien und gab Unterriht in Benedig, jpäter in Ferrara, wo er mit Pico della Mirandola in Beziehung trat. Auf feinen Wunsch ſchrieb er eine Erklärung zu den „Lithifa“ des angeblihen „Orpheus“. Dem Ludwig von Gonzaga widmete er jeine Komödie „Neära” (die aber erit 1845 zu Athen gedrudt worden ift)!. Zahlreihe Elegien und Epi- gramme, jowie daS bereit3 1499 gedrudte Epyllion „Der Raub der Helena“ (To xa®” "ElEuyv zal AltZavdpov) machten ihn bereits zu feinen Lebzeiten als Dichter berühmt.

Wohl auch andern der griehifchen Flüchtlinge hätte es nicht an poetifcher Geftaltungstraft gemangelt; die humaniftiiche Richtung der Zeit drängte fie jedoch der für die Zukunft viel beveutfameren Aufgabe zu, die Klaſſiker von Hellas ihren Zeitgenoffen wie der Nachwelt leichter zugänglich zu machen.

Griechiſch und deutſch von A. Elliſſen, Hannover 1859. 36*

564 Siebtes Kapitel.

Dem Athenienfer Demetrios Chalkondylas danken wir den erſten glänzenden Drud de Homer, dann Iſokrates und Suidas. Der Kretenſer Markos Mujuros beforgte die Aldinifhen Ausgaben des Ariftophanes, de3 Platon, des Athenaios, Heſychios, Paufanias und der griehijchen Brief: fammlung. Der Bithynier Janos Laskaris veröffentlichte die Anthologien, die Hymnen des Kallimachos, vier Tragödien des Euripides, Moſchos' Hero und Leander, die Urgonautifa des Orpheus, die Scholien zu Homer, die Reden des Yiofrates, die Tafel des Kebes, die homerifchen Fragen des Porphyrios, die Kommentare zu Sopholles. Ihm widmete Aldus 1502 feine Sophotles- Ausgabe, dem Demetriod Ehalfondylas feinen Euripides, an deſſen Heraus: gabe Markos Mufuros in hervorragender Weiſe mitbeteiligt war.

Demetrios Chalfondylas, der, 1424 zu Athen geboren, 1447 nad Rom fam, 1450 in Perugia, um 1463 in Padua dozierte, 1471 als Nachfolger des Johann Argyropulos nad Florenz berufen wurde und bier etwa zwanzig Jahre lehrte, fiedelte zulegt (1492) nah Mailand über und ftarb Hier 1511 im Alter von fiebenundadtzig Jahren. Durd feinen un— bejholtenen Lebenswandel wie durch die Gründlichkeit feines Wiſſens und eine liebenstwürdige Bejcheidenheit zeichnete er fich vorteilhaft vor vielen feiner Kollegen aus; das Lateinische beherrjchte er faft wie das Griechiſche und in diefem beſaß er eine ſtaunenswerte Belejenheit.

Ebenjo tadellos in feinem Leben tie ausgezeihnet durch fein Wiſſen war Marko Mufuros, der um 1470 zu Rethymno auf Sreta geboren wurde. Janos Laskaris z0g ihn nad Florenz, von wo er 1499 als Lehrer zu dem Grafen Alberto Pio von Garpi fam. Am Jahre 1503 wurde er zum Profeffor des Griehifhen in Padua ernannt; während der Kriegs: läufte, von 1509 an ſetzte er feine Lehrtätigkeit in Venedig fort. Im Yahre 1513 widmete er feine große Platon- Ausgabe mit einem jchönen Weihegedicht dem Papfte Leo X., der ihn 1516 nad Rom begehrte und erft zum Biſchof von Hierapetra, dann zum Erzbiſchof von Mombafia ernannte. Im folgenden Jahre ſchon raffte ihn ein frühzeitiger Tod in Rom hinmweg.

Janos Laskaris flammte aus einer bithynifchen Familie, von welcher bier Mitglieder die kaiſerliche Würde bekleidet hatten. Um 1445 in Konftantinopel geboren, flüchtete er mit feinem Water erft in den Pelo— ponnes, dann nah Italien. Kardinal Beflarion ließ ihn auf feine Koften in Badua ftudieren, wo er Demetrios Chalkondylas zum Lehrer hatte. Nach Beſſarions Tode ziemlich verlaffen, fuchte er Hilfe in Florenz und fand fie auch. Er lehrte erft mit großem Erfolg griehiihe Sprade und Literatur und ward dann bon Lorenzo de’ Medici in die Levante gefandt, um griechijche Handſchriften aufzujpüren und zu faufen. Er fam mit reihen Schäßen zurüd, fand fogar beim Sultan Bajazet günftige Aufnahme und übernahm nad) feiner Rückkehr wieder die Leitung der von Lorenzo il Magnifico bes

Die griechiſchen Humaniften im Abendland, 565

gründeten Bibliothef. Um die Zeit, als Savonarola mit feinem einfeitigen und maßlofen Belehrungseifer alle weitere Fortbildung des Humanismus bedrohte, verließ Janos Laskaris die Arno- Stadt und trat als Diplomat in den Dienft Karls VII. von Frankreich. Hier unterftüßte er die Be: ftrebungen des Budeus!, an welchem die griechiſchen Studien bereit einen eifrigen Pfleger gefunden hatten. Diplomatifche Berhandlungen führten ihn bald (1503) wieder nah Italien zurüd, und der Aufenthalt dafelbft bot ihm reiche Gelegenheit, fi wieder an der Pflege des griehiichen Humanismus zu beteiligen. -

Durd die Türkenherrſchaft waren inzwiſchen alle Schulen in Griechen: land jo herabgejunfen, daß die Kenntnis des Haffiichen Griechiſch unter den Griechen jelbft mit völligem Erlöſchen bedroht war, da die gelehrten Griechen in Italien allmählih ausftarben und Griechenland feinen Nachwuchs mehr fiefern fonnte. Um dies abzumehren, beſchloß Papft Leo X. die Errichtung eined griehijchen Kolleg in Rom, ließ durch jeinen Sekretär Bembo Janos Laskaris nad) Rom einladen und mit der Gründung eines ſolchen Kollegs betrauen. Zwölf oder mehr talentvolle griehijhe Knaben jollten darın Unterkunft finden, Janos Lasfaris und Markos Mufuros Unterridt und Leitung übernehmen. Der Papft ftellte den Quirinalpalaft jelbft zur Ber: fügung. Schon im folgenden Jahre wurde das Kollegium eröffnet, ging indefjen nad dem Tode des Papftes (1521) wieder ein. Immerhin jind aus demfelben bedeutende Gräziften, wie Nikolaos Sophianos, Matthias Devaris, Chriftophoros Kontoleon und andere hervorgegangen, welche noch für geraume Zeit die Pflege griechiſcher Sprade und Literatur förderten und erhielten. Janos Laskaris felbft benußte weitere diplomatishe Sendungen an Franz I., an den Sultan von Ägypten, an Karl V. in ähnlichem Sinne, gründete eine griehiihe Schule in Mailand und fuhr fort, bis zu feinem Zode (1535) ſich perjönlih an der Förderung der griehiihen Studien zu beteiligen.

„Das Studium des Griechiſchen unter den Italienern ſelbſt erſcheint, wenn man die Zeit um 1500 zum Maßſtab nimmt, gewaltig ſchwunghaft; damals lernten diejenigen Leute griehifch reden, welche es ein halbes Jahr: Hundert jpäter noch als Greife konnten, wie 3. B. die Päpfte Paul II. und Paul IV, Gerade dieje Art von Teilnahme aber jeßte den Umgang mit geborenen Griechen voraus.“ ?

Die Sorge der Päpfte für griechifche Literatur und Bildung ift übrigens mit Leo X. nicht auögeftorben; fie hat auch Janos Laskaris und jeine

ı A. Tilley, Humanism under Francis I. (English Historical Review XV, London 1900, 456—478). 2%, Burdharbt, Die Kultur der Renaiffance in Italien? 155.

566 Siebtes Kapitel.

Schüler überlebt. Im Jahre 1577 gründete Gregor XI. das griechijche Kollegium in Rom, das die literariihen Abfichten Leos X. mit jenen der Unionspäpfte vereinigte und das noch bis auf den heutigen Tag fortbefteht. Wie jonft nirgendwo haben ſich bier die Erinnerungen und liberlieferungen der griehiihen Humaniften lebendig erhalten. Aus diefer Schule find die berühmten Bibliothefare der Baticana, Nikolaus Alemanni (1583—1626) und Leo Ullatius (1586— 1669), hervorgegangen, wohl der größte Kenner der griechiſch-kirchlichen Literatur im 17. Jahrhundert, zugleih mit der griechiſchen Profanliteratur in umfaffendfter Weiſe vertraut, fo daß die Klein— fritit wohl viel an ihm herumgenörgelt hat, ein ebenbürtiger Gegner ihm aber nicht erftanden ift!. Wie kein zweiter hat er die lbereinftimmung der griechiſchen Überlieferung mit der römiſchen dargetan und das Unglüd auf: gededt, das auch die griechiiche Literatur und Bildung dur den Abfall von der kirchlichen Einheit mitbetroffen bat.

Das Leo Allatius auch reihlih zum Dichter veranlagt war, zeigt Die prächtige Elegie „Hellas“, welche er 1638 dem Kardinal Richelieu widmete, um dieſen mädtigen Staatsmann für die Rettung und Befreiung feiner Landsleute von dem Tyrannenjoh der Türken zu gewinnen. Sie ifl aber fein bloßes politisches Gelegenheitsgedicht; fie ſtrömt aus innerftem, vollitem Herzen, wohl der ergreifendfte Wehe: und Hilferuf, der, vor den Tagen des Befreiungsfampfes, aus der Seele des unglüdlihen Griehenvolfes heraus an das neuere Europa ergangen ift, zugleich ein meifterhaftes Gejamtbild deſſen, was „Hellas“ für die europäiſchen Völker bedeutet ?.

Mit Zügen von echt griechiſcher plaftiicher Schönheit führt Allatius jeine „Hellas“ vor, eine Frauengeſtalt von erhabener Würde, gleihjfam eine chriſtianiſierte Pallas Athene, von einem glänzenden Gefolge der edelſten Jungfrauen umgeben. Feierlich, Liebevoll begrüßt fie den Occident und er- zählt ihm ihre jo ruhmreihe und zugleih jo namenlos traurige Gejdhichte. Sie hat durch Geſetze und Rechte, Aderbau und Schiffahrt, Gewerbe und Handel die Kultur des Abendlandes begründet, fie hat durch Baukunſt, Bildnerei und Malerei, Muſik und Poefie fie mit undergänglihem Glanze umgeben, fie hat durch die Pflege der Wiſſenſchaft die Nacht der Barbarei verſcheucht umd die reichſten Schäbe des Wiſſens aufgeipeihert. Dafür ward ige in dem Faiferlihen Scepter von Byzanz die Weltherrihaft zu teil, und Myriaden dantten ihr Glüd, Wohlitand und Heil.

ı £. Legrand, Bibliographie Hellönique ou description raisonnde des ouvrages publi6s par des Greces au XVII* siöcle III, Paris 1895, 435—471l. Kardinal J. Hergenröther, Art. „Allatius, Leo“ in Wetzer und Weltes Kirchenleriton I?, Freiburg 1882, 546—551.

® Der griedhiiche Tert nebft deutſcher Überfegung bei Ellifjen, Verfuch einer Polyglotte I 304-328. Die folgende Probe ift vom Verfaſſer ſelbſt neu überfegt.

Die griehiihen Humaniften im Abendland. 567

Doch im Wechſel der Herrſcher rafften auch Unwürdige, Frevler die höchſte Macht an ſich, entweihten den alten Ruhm, häuften Schuld und Schmach auf Hellas und gaben es dem Verderben preis. Mit hinreißender Gewalt wird nun der Einbruch der Türken, der Fall Konſtantinopels und die Berwüftung des gejamten Oftreiches geſchildert von den Küften Klein: afiens und Syriens bis hinüber nad) Argos, Korinth, Aegea, Lesbos, Paros, Keos, Chios. Der Glanz der einfligen Herrlichkeit erleuchtet tieftragiſch das grauenvolle Bild der Zerftörung. Zum Schluſſe fommen noch Athen und Byzanz.

Hin ſank, was hehr uns war, ruhmreich und heilig, Hin ſank Athen, die gotterlorne Stabt,

Die Zeus gegründet, Ares hat ummallt,

Der Iſthmier mit Turm und Zinne frönte;

Die Straßen ftedte Pallas felber ab,

Die Häufer ſchuf Hephäftos, ftolge Hallen

Erbaute Hermes, Phöbos malte fie, Jungfrauentempel ftiftet! Artemis,

Indes für Bäder Aphrodite jorgte,

Balhos für Gärten, für Protanenfäle

Des Rechts Schußherrinnen, Themis und Dike. Mit Fug beherrichte die ruhmreiche Stadt,

Ein Werk der Götter, alle andern Städte.

Dod auch fie fiel. Des tollen Hundes Wut

Dat fie zerfleifcht, fie von Grund aus zertrümmert; Gott hat dem Sturz die Ärmfte preisgegeben.

Der Nede Macht, die bunte Pracht der Sprade, Der Mufen Labſal, des Geſanges Zauber, Gewandter Hände Schrift und frohen Geiftes Huldbvolles Spiel ah! Alles ift dahin!

Kein Reft ift mehr zu jehn von all dem Schönen; Dem Jammer und dem Spott fiel fie anheim.

Nun fommt die Kunde, die mir tiefer noch Einſchneidet fchmerzlih in das wunde Herz. Denn au die Stadt Byzanz, der Kaiſerſitz, Die zwei der Meere, hier dem Bosporus, Dem Pontus dort zum Gruß bie Arme reicht; So viele Städte Helios wandernd ſchaut,

Ob er den Menſchen oflwärts bringt den Tag, Ob weftwärts er die Erde jenkt in Duntel, Ob mitten in ber Bahn er flammend glüht, Ob feine Fackel trifft die Antipoden:

Wer könnte leugnen, daß fie alle andern

An Kunft und Herrlidhkeit, an Pracht und Schönheit Weit, ohne Maß und Grenzen, überftrahlt ? Ihr hat des Himmels Herrſcher auch verliehen Der Herrſchaft Scepter feit uralter Zeit,

568 Siebtes Kapitel.

Des Rechtes Norm für alle andern Herrſcher, (Nimmt du das einzige des Petrus aus) Das hehrſte, höchſte Scepter unter allen.

Auch diefes ift erlofhen nit nad Recht, Verſchlungen von der nimmerfatten Gier

Des Unheils, und bie frühern Weltbeherricher, Des Baterlands, des Heimatherbs beraubt, Verbannt aus den berühmten Heiligtümern, Verbringen unftet, ohne Zroft und Heil

In fremdem Land ein drangfalvolles Leben, Das nur von eitler Hoffnung noch fi nährt.

Was mir der Feind getan, vernahmft du, Fürft! Welch neue Schreden jeder Tag mir bringt, Verkünd' ein andrer. Mir verfagt die Zunge, So mannigfahen Unheils Wandelung

Bon Menſchen zu erhoffen, wag’ ich nicht.

Zu helfen bier geht über Menſchenkräfte.

Viertes Buch.

Die lateiniſche Literatur der Neuzeit.

Erftes Kapitel. Die deutfhen Humaniften und die Glaußenstrennung.

Mas die Neuzeit am gründlichften und tiefften vom Mittelalter jcheidet, das ift weder der Fall Konftantinopels, noch die Erfindung der Buchdruder: kunft, nod die großen Entdedungen am Ende des 15. Jahrhunderts. Durch all das ſanken jahrtaufendalte Schranken, eröffneten jih neue Horizonte, Doch viel tiefer griff es in das Herz der Menſchheit, dab das heiligite Band ſich löfte, das bis dahin die hriftliche VBölkerfamilie zufammengehalten, dasjenige des einen heiligen katholiſchen Glaubens, derjelben Kirche und hierarchiſchen Ordnung, derjelben Lehre und derjelben Gnadenmittel, des— jelben religiöfen Yyamiliengeiftes, der die Staaten und Völker Europas troß aller politiihen und nationalen Kämpfe zu einem fichtbaren reli- giöfen Ganzen verband, Wie das gefommen, ift hier nicht zu unterfuchen. Religiöfe und fittliche, politiiche und joziale Urſachen, kirchliche Mikftände, nationale Gegenſätze, geſellſchaftliche Mikverhältniffe, Fürftenehrgeiz, Laien: habſucht, anardiftiiche Auflehnung und daneben edlere, wohlmeinende, aber übelberatene Reformbeftrebungen haben in bunteftem Gewirr und vielver- ihlungenen Wechjeleinflüffen dabei mitgewirkt. Uns können hier nur die literarifhen Bewegungen und Richtungen beihäftigen, die dabei mit ins Spiel famen, vorab der Humanismus der Nenaiffance.

Der Humaniämus an fih und feiner Natur nad ftand mit der ge mwaltigen kirchlichen Ummälzung nit in unmittelbarem urfähliden Zu: jammenhang. Die Erbihaft der griechiſch-römiſchen Bildung war von den Kirchenvätern der abendländiſchen Welt erhalten und überliefert, durch den Einfluß der Kirche zumeift dur die Stürme der Völkerwanderung und die Kataftrophen der folgenden Jahrhunderte, zwar nicht immer in gleichem Umfang und mit gleihem Eifer, aber doc in ihrem wertvolliten Beſtande weiter gepflanzt worden. Dem Intereſſe dafür hatten die Päpfte des 15. Jahrhunderts nicht nur fein Hindernis entgegengefeßt, ſich vielmehr an die Spitze der Bewegung geftellt, welche ein neues Aufblühen der zwei klaſſiſchen Spraden, ihrer Kenntnis, ihres Studiums, dev Pflege ihrer Literaturſchätze und die Erneuerung der Literatur und Kunſt auf ihrer

572 Erftes Kapitel.

Grundlage zum Ziele hatte, naturgemäß innerhalb der Grenzen, welche die höhere hriftlihe Bildung einem ſolchen Unterfangen zog, welche aber nie und damald am menigften ängſtlich, Heinlih, engherzig abgezirfelt wurden. Wie die Päpfte Nikolaus V. und Pius IL., die Far: dinäle Beffarion und Cuſa um die Mitte des Jahrhunderts glorreich diejen Standpuntt vertraten, jo ftanden an der Wende desjelben und am Be ginn des folgenden die Päpfte Wlerander VI., Julius II. und Leo X., Kardinäle wie Ximenes, Bembo, Sadolet, Wolſey nit minder entjchieden dafür ein. Man mochte über Bermweltlihung des päpftlihen Hofes Hagen: über Einſchrünkung der humaniſtiſchen Studien zu lagen lag fein Grund vor.

Bon den nambhafteften Bertretern der Wiſſenſchaft in diejer gejamten Übergangsperiode hat denn aud) feiner der Gemeinſchaft der Kirche entjagt oder nach Luthers Auftreten fi diefem angejhlofieen. Johannes Reuchlin (1455—1522), der Bahnbreder des hebräiſchen Studiums in Deutſchland, ift im Frieden mit der Kirche geftorben!. Konrad Geltes (1459— 1508), der begabtefte und frudtbarfte „Poet“, welchen Deutſchland in diefer Zeit hervorbrachte, wurde nicht vor die kritiſche Entſcheidung geftellt, welche Luthers Auftreten an jo viele richtete, und niemand fann mit Beftimmtheit jagen, wie er ſich dabei gehalten hätte. Allerdings führte er ein ziemlich loderes Leben, dichtete vier Hödhft unerbauliche Bücher Amores, Ihimpfte viel auf die Geiltlihen, äußerte öfters jchroffe Abneigung gegen Rom; er ward dafür von den Proteftanten als einer ihrer Vorläufer belobt, und jeine Schriften find jpäter auf den Inder gelommen, indes wohl mehr wegen ihrer Unfittlichkeit al3 aus religiöjen Gründen. Er hatte jedoch auch befjere Tage und Stunden, wallfahrtete, nahm jeine Zuflucht zu den Heiligen und bejang fatholifche Glaubenswahrheiten, wie das Lob der Heiligen in durdaus warm empfundenen Gedichten. Wenngleih er die griechifchen Klajfiter den römischen vorzog, jo wußte er doch auch diefe zu würdigen und jah feineswegs mit jouveräner Verachtung auf die Poeſie des Mittel-

! I. Reuchlin, Mupozardeia (griediihe Grammatif, Orleans 1478); De verbo mirifico (tabbaliſtiſch, Bafel 1494) ; De arte praedicandi (1504) ; Dietionarium hebr. (1506); Grammatica hebr. (1510); Progymnasmata scenica (Pforzheim 1507); Der Augenspiegel (gegen Pfefferforn, Bajel 1510; herausgeg. von Mayer: hoff, Berlin 1836); De arte cabbalistica (Hagenau 1517); De accentibus et orthographia linguae hebraicae (Haag 1518); Interpretatio in septem psalmos poenitentiae (Tübingen 1512); Ausgaben von Werfen des Kenophon, Demojthenes und Aeſchines, Hagenau 1520 1522; Briefwechiel (herausgeg. von 8. Geiger, Stuttgart 1875 [PBublifation bes literar. Vereins CXXVI]). A. Horamik, Zur Bibliothek und Korrefpondenz Reudlins, Wien 1872. Mayerhoff, Reudlin und feine Zeit, Berlin 1830. Lamey, oh. Reudlin, Pforzheim 1855. 8. Geiger, J. Reuchlin, Leipzig 1871.

Die deutſchen Humaniften und bie Glaubenätrennung. 573

alters herab !. Wie er zuerft den Ligurinus ans Licht zog, fo hat er auch zuerft die Dramen der Hroswitha herausgegeben, jo daß fi im ihm der Humanismus nod mit der mittelalterlichen Überlieferung und der fpäteren Romantik berührt. Er felbft hat Hroswithas Schriften wieder einer Äbtiſſin übermittelt, welche er al3 „leuchtenden Stern der Frauen, als Zierde der deutichen Gaue, als ähnlid den Römertöchtern“ pries, der feingebildeten Charitas Pirkheimer, geb. 1466, feit 1503 Äbtiſſin zu Nitenberg 2, Sie dankte ihm freundlih, daß er fih der fonft überall zurüdgejegten rauen angenommen: „Fürwahr, ich muß geftehen, Ihr habt folches gegen die Gewohnheit vieler Gelehrten oder vielmehr Hoffärtigen getan, welche ſich unbillig bemühen, alle Worte, Taten und Ausſprüche der Frauen fo gering zu ſchätzen, als wenn das andere Geſchlecht nicht denſelben Schöpfer, Erlöfer und Seligmader hätte, und ohne zu beadten, daß die Hand des höchſten Werkmeiſters noch keineswegs verkürzt ift. Er Hat den Schlüffel der Kunſt und teilt einem jeden aus nad feinem Wohlgefallen, ohne Anjehen der Perſon.“ Sie jcheute fih aber auch nicht, dem ſonſt frivofen Liebesdichter ernft zu Herzen zu reden, um ihn von „der Verherrlihung der unziemlichen Sagen von Yuppiter, Venus, Diana und andern heidniihen Geſchöpfen“ abzulenfen und auf die einzig wahrhaft beglüdende Weisheit hinzuleiten, die in der Heiligen Schrift verborgen iſt. „Dort finden wir die foftbaren Perlen; denn auf dem Ader des Herrn zieht die Gotteswiſſenſchaft aus ber Schale den Kern, aus dem Buchftaben den Geift, aus dem Felſen das DI, aus den Dornen die Blumen.“

Wilibald Pirkheimerd, der Bruder der Äübtiſſin (geb. 1470, geft. 1528), Huldigte in jeinen Gedichten einem ähnlichen Teichtfertigen

ıC, Celtes, Epitoma in utramque Ciceronis Rhetoricam (Dedilation an Kaifer Moarimilian, von Ingolſtadt 1492); L. Apuleii Platonici et Aristotelici philosophi Epitoma divinum de mundo seu cosmographia (Wien 1497); Ausgabe der Hroswitha, Nürnberg 1501; Ausgabe bes Ligurinus, Augsburg 1507; Amorum libri IV (Nürnberg 1502); Ludus Dyanae (aufgeführt von ber Sodalitas litteraria Danubiana in Binz, 1. März 1501); Odarum libri IV. Liber Epodon. Carmen seculare (Straßburg 1513); Epigrammatum libri V (herausgeg. von R. Hart« felder, Berlin 1881). E. Klüpfel, De vita et scriptis Conradi Celtis (Parti- cula I—XI, herausgeg. von J. C. Ruef und K. Zell, Freiburg 1813—1827). I Aſchbach, Die früheren Wanberjahre des C. Eeltis (Sikungäberichte der philoſ.⸗ biftor. Klaſſe der Wiener Afabemie LX 75 ff); Die Wiener Univerfität und ihre Humaniften im Zeitalter Marimilians I., Wien 1877. Huemer, Art. „Eeltes* in ber Allgem. Deutſchen Biographie IV 82 ff.

2 %. Binder, Charitas Pirkheimer, Äbtiffin von St Clara zu Nürnberg ®, Freiburg i. ®. 1878.

5 Seine Werfe herausgeg. von Golbaft, Frankfurt 1610; Historia belli Suitensis (deutih von Münch, Bafel 1826). Marfwart, Wilibald Pirkheimer als Gefhichtfchreiber, Züri 1886. Roth, Wilibald Pirkheimer, Halle 1887.

574 Erftes Kapitel.

Geihmad, wie ihn feine Schweiler an Geltes rügte, verjpottete in einer Satire, „Der gehobelte Et“ (Eccius dedolatus), den angejehenen Ingol- ftädter Theologen, der damals durd Verteidigung des Zinsnehmens, noch mehr aber dur fein Auftreten gegen Luther auf der Leipziger Disputation ſich viele Feinde gemacht hatte!. Geraume Zeit hoffte Pirkheimer von der lutheriichen Bewegung große Dinge, fand ſich aber nad der religiöjen wie nad der wiſſenſchaftlichen Seite hin jehr enttäufht und verharrte gleich Abreht Dürer u. a. im Schofe der alten Kirche.

An der 1460 von Bius II. durch päpftlihe Bulle beftätigten Univerfität Bajel förderte Johann Heynlin a Lapide (von Stein; 1425—1496), obwohl noch ein eifriger Verteidiger der ariftoteliihen PhHilofophie gegen den immer mehr ſich ausbreitenden platoniſchen Idealismus, doc eifrig die humaniftiiden Studien?. Einer feiner Schüler, der Buchdruder Johannes Amerbad (1444— 1514), und deffen Zunftgenofje Joh. Froben beichäftigten mande Humaniften als Herausgeber und SKorreftoren und leifteten der Sache des Humanismus durch zahlreiche Publikationen weſentlichen Vorfhub. Der Schweizer Heinrih Loriti Glareanus, Geſchichtſchreiber, Geograph und der bedeutendfte Mufiltheoretifer diefer Zeit, hielt fih zweimal länger in Bafel auf, war anfänglich ein lebhafter Gönner des neuen Evangeliums, wandte fi von demjelben aber immer mehr ab, je genauer er deffen Wejen und Früchte fennen lernte, und fiedelte mit andern Gelehrten, welche diejelben Erfahrungen madten, nah Freiburg i. B. über®,

In Wien, nähft Paris und Bologna der älteften Univerfität, jchon 1365 gegründet, bildete ſich noch am Ende des 15. Jahrhunderts eine ge— lehrte Gefellihaft, die Donaugejellihaft, die 1497 gemeinfam die Kosmo— graphie des Lucius Apulejus herausgab. Das Widmungsgedidht ift von achtzehn Mitgliedern unterfchrieben. Im Jahre 1501 errichtete Kaifer Mari: milian dann ein bejonderes Kolleg „der Dichter und Mathematiker”, dem das Ziel vorgeftedt war, die Beredjamfeit der früheren Zeit wiederherzuftellen, und das die Befugnis erhielt, die Erprobten mit dem Didhterlorbeer aus— zuzeihnen. Von den Mitgliedern diefes Kolleg und der Donaugefellicaft wurde der Mathematiker Georg Tunftetter (1482 —1536) von Bapft Leo X.

! Eckius dedolatus, herausgeg. von &. Szamatölsti, Berlin 1891 (Latein. Biteraturdentmale des 15. und 16. Jahrhunderts I). 3. Schlecht, Pirfheimers zweite Komödie gegen Ed (Hiftor. Jahrbuch XXI, Münden 1900, 402—413).

2F. Fiſcher, oh. Heynlin genannt a Lapide, Baſel 1851.

> H. Glareanus, Helvetiae descriptio (Bajel 1514); Isagoge in musicen (ebd. 1516); De geographia (ebd. 1527); Chronologia in omnes T. Livii decades (ebb. 1531); Annotationes in Livii decades (ebd. 1540); Dodecachordon (ebd. 1547); Ausgabe bes Bosthius (1570). 9. Schreiber, H. Loriti Glareanus, Breiburg i. B. 1837.

Die deutihen Humaniften und die Glaubenstrennung. 575

mit Aufträgen für eine SKalenderrevifion betraut; Johann Crachenberger (Gracceus) dichtet; Johann Spießmaier (Euspinian, 1473—1529) war der eigentliche Repräjentant der Rhetorif an der Univerfität, zugleich verbienftvoller Hiftorifer und Diplomat, ein treu anhängliher Diener des Kaijerd Marimilian und bis zum Tode ein frommer, innig ergebener Anz bänger des alten fatholiihen Glaubens!. Mit ihm befreundet und geiftes- verwandt war der fleißige und geſchickte kaiſerliche Sekretär Joſeph Fuchs— mag, der eine Blütenleſe der damaligen deutihen Poeten jammelte, zu welcher manche angejehene Männer, wie Reuchlin, beifteuerten. Einer der tüchtigſten Schüler Cufpinians, Joahim von Watt (Badianus), 1484 in St Gallen geboren, wurde 1514 von Kaiſer Marimilian zum Dichter gekrönt, 1516 zum Profefjor der Rhetorik und zum Neltor der Univerfität ernannt. Er erwarb ſich durch Herausgabe alter Autoren (Salluft, Sedulius, Dpid, beſonders Pomponius Mela) jowie durch geographiſche Studien hohe Berdienfte, verließ aber 1518 plößlih die Univerfität, man weiß nicht warum, fehrte in feine Heimat zurüd und wurde hier, jeit 1526 an der Spitze ded Rates, einer der Hauptführer und Hauptförderer der zmwinglia- nijhen Bewegung ?.

Ein Seitenjtüd zu der Wiener Donaugejellihaft war die Rheiniſche Geſellſchaft (sodalitas litteraria Rhenana), die ihren Sit in Heidelberg hatte und an dem Pfalzgrafen mwenigftens einen offiziellen Gönner fand. Ihr Haupt war Johann von Dalberg, Biihof von Worms (1445 bis 1503)3. Augsburg war darin durch Konrad Peutinger vertreten, Nürn— berg, Regensburg und Freiburg durch weniger bedeutende Perjönlichkeiten. Sohann von Dalberg ftand mit Agricola und Reudlin in Verlehr, ebenjo mit Johannes Trithemius, dem gelehrten Abte von Sponheim (1462 bis 1516), welchem man eine Menge literaturgefchichtliher Nachrichten über diefe Zeit danttt. Ähnlich wie Kardinal Eues verband Trithemius eine tüchtige asfetiiche und theologiſche Schulung mit dem vieljeitigften Intereffe für Geſchichte, humaniſtiſche Bildung und Naturwiffenihaft. Wenn ihn die legtere auf die abenteuerlihen Pfade der Nekromantie führte, jo iſt dies aus dem damaligen Stand des Naturwiffens wohl einigermaßen entſchuldbar.

!I. Cuspinian, De Caesaribus atque Imperatoribus a Iulio Caesare ad Maximilianum I. commentarius, Argentorati 1540; deutſch ebd. 1541.

® AUrbenz, Die Vadianiſche Brieffammlung der Stabtbibliothet in St Gallen (Mitteilungen zur vaterländ. Geſchichte XXIV), St Gallen 1890. E. Gößinger, Joachim Badian, Halle 1895.

Mrornemweg, Johann von Dalberg, ein deutſcher Humanift und Biſchof, Heibelberg 1887.

+ Silbernagl, Joh. Trithemius?, Landshut 1868. W. Schneegans, Abt Johannes Trithemius und Klofter Sponheim, Kreuznach 1882,

576 Erftes Kapitel.

Ihm eiferte in der Sammlung literarifher Nachrichten auh Johann Butzbach, Mönd in Laach, nad (1477— 1526), ein Schiller des Alerander Hegius und fleißiger Poet !.

Bom 13. Jahrhundert an, two die größten Meifter der Scholaftit, wie Albert d. Gr., Thomas bon Aquin, Duns Scotus, an der Univerfität Köln gelehrt hatten, war diejelbe eine Hochburg der ſcholaſtiſchen Theologie ge: blieben. Nicht bloß aus Deutſchland, auch aus den Niederlanden, dem flandinavishen Norden, von Böhmen, Polen und der Schweiz ftrömten ihr Schüler zu. Auch Hier bürgerten fi indes die humaniftiichen Studien ein. Ein Italiener, Wilhelmus Raimundus Mithridates, Iehrte jeit 1484 Griechiſch und orientaliihe Spraden. Bon 1487 an mirkte Andreas Gantor für Hebung der lateiniſchen Studien, feit 1491 Johann Cäſarius als tüchtiger Lehrer des Griehiichen, Bartholomäus von Köln zugleid als Philoſoph und Humanift, der gründlich gebildete Ortwin Gratius (de Graes) al& Grammatifer und Erklärer der alten Klaffiter. Der hriftliche Humanismus erfreute ſich längft der ſorgſamſten Pflege, als der weſtfäliſche Ritter Hermann von dem Busch, ein Anhänger der jüngeren Huma— niſtenſchule, welche ihre Vorbilder in Poggio, Beccadelli und Balla juchte, fih 1494 zum erftenmal dajelbit niederließ. Er hielt es nicht lange aus. Als ruhelofer, ehrgeiziger und händelſüchtiger Streber durchwanderte er ganz Norddeutihland, nirgends feften Fuß fallend. Im Jahre 1507 kam er wieder nah Köln und eröffnete Vorlefungen. Anfänglih dudte er ſich und berherrlichte in feinem bombaftiihen Feſtgedicht zur Maifeier 1508 jogar die Theologen und Philoſophen. Als er indes, wahrſcheinlich wegen fpärlihen Beſuchs feiner Vorlefungen, ſich gekränkt fühlte, griff er in ver— legendfter Weife die ganze Univerfität an. Ortwin Gratius wies feine Angriffe in durchaus ſachlicher, würdiger Weiſe zurüd?, Und nun zeigte ih, daß hier nicht bloß perfönlihe Rüdfihten im Spiele waren, daß es neben dem harmloſen riftlihen Humanismus einen andern gab, der, von heidnifchen Anſchauungen, Stolz wie Sinmenluft erfüllt, gegen die bisherige Stellung der Theologie und der Kirche anlämpfte, in allem Ernſt den Glauben jelbjt bedrohte,

Zeichen dieſes Geiftes der Auflehnung regten fih ſchon lange durd ganz Deutichland Hin. Sein Hauptquartier fand er in Sachſen und Thü—

3. Butßbach, Wanderbüdlein (Chronika eines fahrenden Schülers), herausgeg. bon 3. Becker, Regensburg 1869. Verzeichnis der noch ungebrudten Schriften Butzbachs (darunter viele Gedichte) bei J. Beder, Art. „Butzbach‘“ in Wetzer und Weltes Kirchenlexikon II? 1623—1627.

® Liessem, De Hermanni Buschii vita et scriptis, Bonnae 1866. D. Reichling, Ortwin Gratius, fein Leben und Wirken, Heiligenftabt 1884; Petrus

von Ravenna und die Univerfität Köln (Lit. Beilage der Köln. Volkszeitung 1900 Nr 26); Hermann v. d. Bush und die Univerfität Köln (ebd. Nr 28).

Die deutſchen Humaniften und die Glaubenstrennung. 577

tingen. Während der gute alte Jodocus Trutfetter in Erfurt, Quthers Lehrer (1460— 1519), noch ariftoteliihe Philofophie und Theologie vor: trug, lief ein beträchtliher Zeil der lniverfitätsjugend dem Konrad Mutianus Rufus (1471—1526), Kanonikus im benadbarten Gotha, zu, der, nad frommer Schulung zu Deventer, fi in Italien der kabbaliſtiſch— platonischen Richtung des Pico von Mirandola zumandte, eine durchaus pejfimiftiiche Auffaffung der Kirche gewann, nach feiner Rückkehr immer freidenferifcher ward und nicht mehr bloß die kirchlichen Mißſtände, fondern die ehrwürdigſten kirchlichen Inftitutionen angriff und befehdete, alle Bildung und Vollkommenheit nur mehr in den humaniſtiſchen Studien ſuchte?. Einer ähnlichen übertriebenen Verehrung der lateinischen Poeterei huldigten jeine Freunde Heinrich Urban und Petrejus Eberbad oder Aperbah. Der Haupt: poet von Erfurt aber war Eoban Heſſus (1488—1540), färfer im Trunk als in der Poefie, aber immerhin ein gewandter Verſemacher, der noch 1514 nad) Ovids Heroiden fromme Epifteln Hriftlicher Heldinnen herausgab, dann jedoch Luther und Sidingen verherrlihte und jpäter als echter Bettel- poet jeden befang, von dem er in jeinen teten häusliden Nöten etwas Unterftügung erhoffte. Ein mehr Humoriftiiher Spottvogel, der nicht in Erfurt jelbft wohnte, aber viel mit Mutian und den Erfurtern verkehrte, war Crotus Rubeanus (eigentlih Johann Jäger aus Dornheim bei Urnftadt, 1480— 1551), der zeitweilig die lutheriiche Bewegung fördern half, aber fie nicht fonderlich ernft nahm, von Luther jelbft als „Dr Kröte“ und ala „Epikureer“ gejcholten wurde und ſich jpäter enttäujcht von dem neuen Chriftentum abmwandte.

Reihlih mit Spott verfolgte die Mönche der erotiſche Poet der Uni— verfität Tübingen, Heinrich Bebel (1472—1518)*. Begeifterter für Luther dichtete der Arzt Euricius Cordus (1486— 1535). Als eigent: ı Blitt, od. Trutvetter von Eiſenach, Erlangen 1876. Kampſchulte, Die Univerfität Erfurt in ihrem Verhältniffe zu dem Humanismus und ber Re- formation, Trier 1858.

? Seine Briefe herausgeg. von B. Seibel (Libellus novus epistolarum, 1586), W. €. Tentel (Supplementum histor. Gothanae I), Jena 1701; voll« ftändiger von K. Kraufe (Der Briefwechſel des Mutianus Rufus), Kaflel 1885.

°* Eobanus Hessus, Operum farragines duae, Halae Suev. 1539; Psal- terium, Marp. 1537; Ilias, Basil. 1540; Epistolae familiares, Marp. 1543; brei Brieffammlungen, herausgeg. von Gamerarius, Leipzig 1557 1561 1568; Nori- berga illustrata (herausgeg. von %. Neff), Berol. 1896. Camerarius, Nar- ratio de Eob. Hesso, Norimb. 1553. Biographie von G. Schwertzell, Halle 1374, 8. Rraufe, Gotha 1879. J

Am berühmteſten waren feine Facetiae. Uber ſeine übrigen Schriften vgl. Zapf, Heinrich Bebel nad) ſ. Leben und f. Schriften, Augsburg 1802.

5 Seine gejamten Werfe erſchienen zuerft ohne Drudort und Jahr unter dem Titel: E. Cordi, Simesusii Germani, Poetae lepidissimi, Opera

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 37

578 Erftes Kapitel.

licher Sturmbod des antitirhlihen Humanismus aber ift der fränkische Ritter Ulrich von Hutten zu betradten.

Auf Schloß Stedelburg in Franken 1488 geboren, ward der ſchwächliche, aber reihbegabte Knabe von den Eltern der Klofterfchule zu Fulda anvertraut. Die ſtrenge Höfterlihe Zudht war ihm zumider. Er entfloh und nahm aus der ehrwürdigften Bildungsftätte Deutihlands, vom Grabe des hl. Boni- fatius, nur eines mit: einen unauslöfhliden Haß gegen das Möndtum und gegen die Ideale des religiöfen Lebens. Als abenteuernder Bettelftudent zog er dann in ganz Deutſchland und Norditalien herum. Bon Erfurt, Köln, Frankfurt a. O. wanderte er nah Greifswald und Noftod, nad Wien, Padua und Bologna. Schon mit zwanzig Jahren erkrankte er in— folge jeiner Ausihweifung an der Luſtſeuche, von der er fi nie mehr erholte und die ihn ſchon im fünfunddreißigften Lebensjahr dahinraffte. Reizbarleit, Ungebundenheit, Troß, Haß und leidenſchaftlicher Zorn bezeichnen den Charakter jeines unfteten Treibens wie feiner Schriften. Er ſpielt fid mit fichtlicher Vorliebe als deutſchen Patrioten, ja als den deutſcheſten aller Deutihen auf; aber dieſes Deutichtum beftand nur im einem ewigen Ge: ſchimpf gegen Venetianer und Franzoſen, gegen Italiener und vor allem gegen den Papſt. Bon 1514 bis 1519 lebte er abwechjelnd als literari- ſcher und kriegeriſcher Straudhritter; 1517 wurde er von Kaiſer Marimilian in Augsburg zum Dichter gekrönt und vom Kurfürften Albrecht von Mainz in deffen Dienft genommen; 1519 nahm er an dem Kriege des Schwäbi- ihen Bundes gegen Ulrih von Württemberg teil; von da ab lebte er nahezu ausfchließlih dem Kampfe gegen den Papft und die katholiſche Kirche, beteiligte fih auch an der Adelsverſchwörung des Franz von Sidingen wider Kaifer und Reich und erlag endlih 1523 auf der Inſel Ufenau im Süricherjee feiner Ihimpflihen Krankheit 1.

Unter allen Brandiriften, die Hutten in die Welt gejchleudert, hat wohl feine jo tief gewirkt wie die vielgenannte Satire, welde er im Berein mit Grotus Rubeanus gegen die Theologen und Humaniften von Köln richtete.

Der befehrte Jude Johannes Pfeffertorn in Köln Hatte nach feinem Übertritt alles aufgeboten, um durd Wort und Schrift feine Glaubens: genofjen ebenfalls für den chriftlihen Glauben zu gewinnen. In feinen Schriften mahnte er fie beſonders, dem wucheriichen Geldgewinn zu entjagen,

po&tica omnia, dann neu herausgeg. von H. Meibom, Helmftabt 1616. Bal. K. Krauſe, Euricius Eordus, Hanau 1868. Euricius Cordus, Epigram- mata (herausgeg. von K. Kraufe) Berol. 1892.

! Ulrichi Hutteni opera quae reperiri potuerunt omnia (ed. E. Böcking), 5 Bde, 2 Suppl., Lips. 1859— 1870. D. F. Strauß, Ulrid von Hutten, 2 Bde, Leipzig 1858; 21871. Jarde, Studien und Skizzen zur Geſchichte der Refor- mation, Schaffhaufen 1846, 134—149.

Die deutſchen Humaniften und bie Glaubenstrennung. 579

fih durch ehrliche Arbeit ihr Brot zu verdienen und die dem Chriftentum feindlichen talmudiſchen Bücher aufzugeben. Ein Mandat Kaiſer Marimilians ermädhtigte ihn 1509, derartige Bücher in Gemeinfhaft mit der geiftlichen und weltlichen Ortsobrigkeit einzuziehen. Ein zweites Mandat des Kaijers beauftragte den Erzbifhof von Mainz, diefe Bücher unterfuhen zu laffen und darüber das Gutachten der Univerfitäten Mainz, Köln, Erfurt und Heidelberg, des Glaubensinquifitors Jalob von Hochftraten, des Prieſters Biltor von Garben, eines befehrten Rabbiners, und Johann Reudlins ein- zuholen. Sämtlide Gutahten jpraden für Wegnahme der talmudiichen Schriften, nur Heidelberg kam zu feinem Entſcheid, Reuchlin allein verteidigte die Schriften und verunglimpfte dabei Pfefferforn in empfindlichfter und zugleich ungerechtefter Weife. Als diefer in feinem „Handjpiegel” jehr gereizt antwortete, griff ihn Reudlin in jenem „Augenjpiegel“ mit noch größerer perjönlicher Leidenjchaftlichkeit an und bverftieg fi dabei zu „irrigen, un— firhlihen“ Behauptungen 1.

Die theologiſche Fakultät von Köln ſah fi dadurd genötigt, ein= zufchreiten. Auf den maßvollen Beriht, den ihr Referent Arnold von Zongern dem Kaiſer einfandte, wurde Reuchlins „Augenſpiegel“ im Auguſt 1512 beſchlagnahmt. Reudlin erließ darauf eine noch heftigere „Verteidigung gegen jeine Kölnischen Verleumder“ voll der wütendſten Ausfälle und Be— feidigungen. Aud fie wurde duch kaiſerliche Verfügung (Juli 1513) mit Beihlag belegt. Wie die Univerfität von Köln, verurteilten auch diejenigen von Löwen, Mainz, Erfurt und Paris Reuchlins „Augenſpiegel“. Jakob von Hochſtraten lud den Verfaſſer vor jein Tribunal, Reuchlin appellierte an den Papſt, welcher dem jugendlihen Biſchof von Speyer die Unter: juhung der Sade übertrug. Diefer wies fie an den Domherrn Thomas Truchſeß, der, als Schüler und begeifterter Anhänger Reuchlins, denjelben von jeder Schuld freiſprach. Seht appellierte Jakob von Hochſtraten an den Papft und begab fich jelbft nah Rom. Ehe man indes - hier zu einem Entiheid kam, entfeffelten Reuchlins Freunde in Deutjchland einen allgemeinen Sturm gegen feine theologijhen Gegner.

Reuchlin ſelbſt veröffentlichte die zahlreichen beifälligen Zufcriften, die er erhalten hatte, 1514 unter dem Titel: Clarorum virorum epistolae latinae, graecae et hebraicae variis temporibus missae ad I. Reuchlin Phorcensem. Dies genügte aber jeinen Freunden noch nit. Erasmus gab 1515 eine neue Ausgabe feines „Lobes der Narrheit“ (Encomium moriae) heraus, worin er Papft, Ordenzftand und Scholaſtik aufs bos—

! Yanfien, Geihihte des deutfchen Volkes IT’, Freiburg 1897, 40—56. D. Reihling, Der Reuchlinſche Streit (Liter. Beilage der Köln. Volfözeitung 1900, Nr 34); Die Briefe der Dunfelmänner (ebd. Nr 36).

37*

580 Erftes Kapitel.

baftefte angriff. Seinen feinen Spott aber verarbeiteten die übrigen An— bänger Reuchlins noch im jelben Jahre zu einer derberen, durch und dur fomifhen Spottihrift, indem fie eine Sammlung von Zuftimmungsbriefen fingierten, welche bei Ortwin Gratins, dem bumaniftifchen Vertreter der Theologenpartei, eingelaufen fein follten.

Die Schrift führte den Titel: Epistolae obscurorum virorum ad venerabilem virum Magistrum ÖOrtuinum Gratium Daventriensem, Coloniae Agrippinae bonas litteras docentem, variis et locis et temporibus missae et demum in volumen coactae. Al Drudort wurde Venedig angegeben, der wirklihe Drudort war aber bermutlid) Hagenau. Die erfte Sammlung enthielt einundvierzig Briefe, eine dritte Auflage (1516) ſchon adtundvierzig; ein zweiter Band, der zweiundjechzig neue Briefe enthielt, wurde in der zweiten Auflage auf fiebzig vermehrt. Unter burlesfen Spottnamen, wie Langſchneiderius, Hafenmufifus, Strauß: federius, Sceerjhleiferius, Buntemantellus, Eitelnarrabianus, Dolltopfius und Tileman Qumplin, werden die Theologen und Dominikaner von Köln recht eigentlih in die Narrenjade geftedt und in den Kot gezogen und nun eine Komödie mit ihnen aufgeführt, die Quther ſelbſt als bloße Hansmwurfterei veradhtete. Dabei beuteten die feuchtfröhlichen Poeten reichlich die mohlfeile Komik aus, welche fih mit der Halb: oder gar nicht verftandenen Ter- minologie der Scholaftif treiben läßt, dichteten ihren Gegnern ein Deutſch— Latein an, das von den tollften Grammatikverftößen wimmelt, wie e8 faum das talentlofefte Schülerlein geftottert Hätte, und kneteten in diefe Sprache den gröbften Unverjtand und Shmuß hinein. Dazu bängten fie den ver— haßten Theologen alle Fehler, Schwächen und Lafter an, die nur den ber: fommenften Kleriker entwürdigen konnten, verpfefferten diefe ſchmählichen Berleumdungen mit dem baroditen Anekdotenquark und dem lächerlichiten Mummenjhanz, hoben ihnen mit der gehäffigiten Ketzerriecherei und Ver— folgungswut die abgründlidhfte Geihmadlofigkeit und Dummheit unter und gaben jo die theologiſche Fakultät mitfamt dem Dominilanerorden dem Gefpött der Menge preis.

Das Pasquill hatte einen ungeheuren Erfolg. Es zerftörte in weiten Kreifen, beionders unter den Studierenden, das Anjehen der jcholaftischen Theologie und ihrer Vertreter. Ein großer Zeil der heranwachſenden Gene: ration gewöhnte fih, in den katholiihen Theologen nur „Dunfelmänner“ zu jehen. Es fand fi fein katholiſcher Humorift, der die leichtfertigen Pazquillanten mit der verdienten Münze, mit Spott, Wih und Salz nad Haufe geihidt hätte Die Lamentationes obscurorum virorum, in welden Ortwin dies verjuchte, entjpradhen diefem Zwecke nicht. Ebenſo mißglüdte der Verfuh, das Pasquill durch ein Exkommunikationsbreve ge: waltjam zu unterdrüden. Bald machte allerdings Quthers Kampf gegen

Die deutfhen Humaniften und die Glaubenstrennung. 581

den Papſt dies frivole Gelächter verftummen, und über dem allgemeinen kirchen— politiihen Umfturz wurde die Reuchliniche Fehde fo gut wie vergeffen. Aber die Hochſchule von Köln erholte fih nicht mehr von dem Schlage, den ihr die Humaniftenpartei von Erfurt angetan hatte. Dieſe erntete allerdings geringen Lohn. Denn unter der Herrſchaft des neuen Evangeliums janfen die humaniftiiden Studien bald in Beratung. Hutten jelbft vertaujchte die Rolle des Satirifers mit jener des politiihen Agitators, die Sprade Latiums mit dem gröbften und urwüchſigſten Deutih. Manche der ge— bildetften Männer kehrten reuig zur alten Kirche zurüd. Nah ein paar Jahrzehnten betrauerten Luther und Melanchthon jelbft den jammervollen Zujammenbrucd der geiftigen Bildung. Längft vor ihnen wandte jih Erasmus enttäufcht von den Umfturzmännern ab, von denen er ein neues Geiftesleben erwartet hatte, die fi aber im Aufbau ebenfo unfähig erwiejen als un erjättlih im Zerftören.

Dejiderius Erasmus, 1467 zu Rotterdam geboren, von jänt: lichen Zeitgenofjen ala der bedeutendfte und univerjellfte Repräjentant des Humanismus angejehen und gefeiert, hängt durch feine erfte Erziehung noch mit der frommen Schule von Deventer zujammen. Natur und Gnade, MWeltluft und religiös=ideales Streben, Neigung zu bloß weltlicher Gelehr- jamkeit und ein Ruf zu höherer Vollkommenheit kämpften jhon frühe in dem ungewöhnlich begabten Jüngling. Er kam zu feinem Haren, feiten Entſcheid und hat ihn während feines ganzen übrigen Lebens nicht gefunden. Erft unglüdlih im Kloſter, dann ebenjo unbefriedigt in der Welt, hat er fein lebelang den ſchimmernden Phantomen literariichen Ehrgeizes nach— gejagt, iſt durch feine unermüdliche Tätigkeit und feine ausgebreiteten per- ſönlichen Beziehungen zum Orakel Europas geworden, hat das innere Gleihgewicht eines großen Charakters jedoch nie gewonnen und ift darum in den entjcheidendften Kriſen unentjchloffen hin und her geihwantt. Er, der dur Geift und Willen, Anjehen und Einfluß wohl einer der ſegens— reichſten Vorlämpfer der Kirche hätte werden fönnen, entzog fi dem Kampfplage, um bald das Möndtum und deffen Unwiſſenheit hoch— mütig zu bejpötteln, bald die Klofterflüchtigen Eheftandsfandidaten des „reinen Evangelii“ jarkaftiih auszulahen oder die don ihnen herbei: geführte Barbarei zu betrauern. Er hätte ein Iſidor und Beda fein fönnen und hat e& ſtatt deſſen dahin gebracht, daß er der „Voltaire“ jeiner Zeit genannt worden if. Das war er nit. Er war durchaus feine bloß zerjegende, bloß negative mephiftopheliiche Spötternatur, Er gleiht Voltaire nur in feiner lebendigen Redegewandtheit und oberfläch— lichen Geiftreihigkeit, in dem großen Umfang jeines Einfluffes, in einem gewiſſen jfeptiihen Rationalismus, der zu den wichtigſten Fragen lächelte, ohne fie zu löjen. Aber abſichtlich planmäßig zerftört hat er nicht; er

582 Erites Kapitel.

bat vielmehr das Werk der Zerftörung und Auflöfung in nicht geringem Umfang verzögert und aufgehalten !.

Seine Jugendſchriften, Gefänge zur Ehre Chriſti und Mariens, Elegien und Oden, die Leichenrede auf feine Wohltäterin und „zweite Mutter” Bertha von Heijen, Reden über das Glüd des Friedens und das Unglüd der Zwietradht, eine an Petrarca erinnernde Abhandlung „Bon der Ver: ahtung der Welt“ find noch fämtlih von dem Geifte eines frommen Humanismus getragen. Auch die Aufmunterung zur Tugend (De virtute amplectenda), die er für Adolf von Burgund ſchrieb, weicht nicht davon ab. Erft fein Enchiridion militis christiani enthält, unter frommer Hülle, Angriffe gegen firhlid approbierte und feit Jahrhunderten geübte Formen des dhriftlichen Lebens. Er machte ſich viele Feinde damit?, ohne indes zu den kirchlichen Autoritäten in eine fchiefe Stellung zu geraten. Auf jeinem unjteten Wanderleben befreundete er fi vielmehr mit den hervor: ragenditen kirchlich geſinnten Gelehrten jener Zeit. In England ward er 1498 Hausfreund de3 ebenjo glaubenstreuen als frommen Thomas Morus und jeiner gelehrten Freunde John Eolet, Thomas Linacre, William Latimer und William Grochn. In Löwen verkehrte er trauli mit Hadrian Florisfon, dem Dehanten von St Peter, dem Erzieher Karls V. und dem künftigen Papſt Hadrian VI.; die Univerfität trug ihm 1502 fogar eine Profefjur an. Auf feiner italienischen Reife bewarben fih die Kardinäle Grimani und Giovanni de’ Medici (bald Leo X.) um feine Freundihaft, und Julius II, wollte ihn zum Bönitentiarius machen, mit Anwartihaft auf den roten Hut. Bei einem zweiten Aufenthalt in England verſchaffte ihm Biſchof John Fiſher, Kanzler der Univerfität Cambridge, die Profeffur des Griechiſchen an diejer Univerfität.

Um den franten Morus zu erheitern, ftellte er damals in fieben Tagen die zerftreuten Blätter einer Satire zufammen, die er unterwegs auf der

! Erasmi Roterodami Opera omnia (herausgeg. von Beatus Rhe— nanus, 9 Bde 2%, Baſel 1540/41; von Le Elerc, 11 Bde 2%, Beiden 1703 bis 1706). Ältere Biographien von Burigny, Paris 1757; Knight, Cambridge 1726; 4. Müller, Hamburg 1828; neuere: Durand de Laur, Erasme, pre- curseur et initiateur de l’esprit moderne, Paris 1872. Drummond, Erasmus, his life and character as shown in his correspondence and works, London 1873. Feugöre, Erasme, étude sur sa vie et ses onvrages, Paris 1874. P.de Nol- hac, Erasme en Italie. Etude sur un &pisode de la renaissance, Paris 1888. J. A. Froude, Life and letters of Erasmus, London 1895. F. van der Haeghen, Bibliotheca Erasmisna. Röpertoire des @uvres d’Erasmus, 2 Bbe, Gand 1893 (enthält Verzeichniffe: 1. der von Erasmus verfaßten Schriften, 2. ber von ihm herausgegebenen Autoren, 3. ber über ihn handelnden Schriften).

2 So wurde 3. ®. der hl. Ignatius von Loyola, der die Schrift während feiner Studienzeit zu Barcelona las, durch biefelbe gründlich gegen Erasmus ein— genommen (I. A. de Polanco, Vita Ignatii Loyolae I, Matriti 1894, 33).

Die deutſchen Humaniften und die Glaubenstrennung. 583

Reife geſchrieben hatte und die im bitterfter Schärfe der Reihe nad die Torheiten und Lafter der verſchiedenen Stände geißelte, und gab dem feden Sittenbilde den pilanten Titel: "Fyxwmov Moptag seu laus stultitiae. Die Schrift erlebte in wenigen Monaten fieben Auflagen. Nicht nur Thomas Morus, jondern aud Leo X. faßten fie ald eine geiftreihe Satire auf und lajen fie mit Vergnügen. Es war noch nicht lange her, daß Brants „Narrenſchiff“ erſchienen und unbeanftandet ins Lateinifche, Nieder: ländiiche, Franzöſiſche und Engliſche überjeßt worden war, und doch fiel Brant über die Geiftlichkeit nicht weniger ſcharf her ala über andere Stände. Morus meinte, die Satire des Erasmus könnte ebenfo zu einer heilfamen Reform anregend wirken. Erſt jpäter überzeugte er fi, daß fi Zeit und Umftände völlig verändert hatten, und daß darum die Satire alle Wir: fungen einer aufrühreriichen Läfterfchrift und Brandſchrift entwidelte. Diefe volle zerjegende Wirkung erlangte die Schrift auch erft dur den Som: mentar, mit welchem Gerhard Liftrius fie 1515 herausgab und melder die boshafteiten Angriffe auf das Papfttum, die religiöfen Orden und die Scholaftif enthielt. Sie verftärkte nun nicht wenig den Eindrud, den die „Briefe der Dunfelmänner” hHervorriefen. Die Führer des kirchlichen Um: ſturzes erhoben jegt Erasmus als einen der Jhrigen auf den Leuchter, und Erasmus hatte in den nädften Jahren nicht den Mut, fih klar und ent- jhieden gegen die Neuerung auszuſprechen. Doc wies er Hutten von fich, als diefer 1522 geädhtet und von allen verlaffen, ihn zu Bafel um eine Unterredung bat, und fertigte die erzürnte Expostulatio des enttäujchten Ritters mit feinem kräftigen „Schwamm“ ab (Spongia Erasmi adversus aspergines Hutteni. 1524).

Als aber im jelben Jahre (1524) Luther feine Rechtgläubigfeit in Zweifel zog, und er in Gefahr fam, e& mit beiden Parteien zu verderben, trat Eradmus endlich in der Schrift De libero arbitrio diatribe offen gegen Luther auf und zog ſich dadurch deſſen umverjöhnlichen Groll zu. Hauptjählih dur Luthers Borwürfe fam er in den Ruf eines gegen Chriſtus und Religion gleihgültigen Freigeiftes und Spötterd, während Kaijer Karl V. e& feinem Einfluß zufchrieb, daß das Umfichgreifen der lutheriſchen Lehre zeitweilig eine große Einbuße erlitt. Als eigentlicher Kämpfer für die angegriffene kirchliche Lehrautorität und Einheit wie für die angegriffenen Dogmen trat Erasmus aber auch jetzt noch nicht auf. Er blieb von 1521—1529 in dem proteftantijch gewordenen Bafel und führte hier ein emfiges Gelehrtenleben, wie einft Petrarca in feinen Einfiedeleien. Er bejorgte eine neue Auflage feiner Colloquia, gab die Werfe des älteren Plinius und des Seneca, der Hl. Jrenäus, Hilarius und Ambrofius heraus, überjegte einzelne Schriften de3 Origenes und der Hi. Athanaſius und Sohannes CHryfoftomus aus dem Griechiſchen und verfaßte allerlei Kleinere

984 Erftes Kapitel.

Abhandlungen, die nicht ahnen laffen, dat damals die ganze Welt in Flammen ftand, und dab es fih für die kirchliche Einheit Europas, die bisherige MWeltftellung. des Papfttums und des Haifertums um Sein und Nidhtjein handelte. So ſchrieb er eine Theorie des Briefftild, über den ciceroniani- ihen Stil überhaupt, über die Art und Weiſe zu beten, über die Pflichten der chriſtlichen Witwen und über die Einfegung der hriftlihen Ehe. Trotz diefer an fi großartigen literariihen Tätigkeit gewann Erasmus jeine frühere Bedeutung nicht mehr und fühlte das wohl. Der Humanismus hatte durch den religiöfen Umfturz einen tödlihen Schlag bekommen; das öffentliche Intereſſe wandte fih faſt ausjchließlih dem Firchenpolitiichen Hader zu, und die Schreden des Bürgerfrieges zerftörten immer mehr die Grundlagen einer literarifhen Blütezeit. Auch das Emporblühen des Hu- manismus in England, an dem er vor dreißig Jahren fo freudig mit- gewirkt, ſah der greife Erasmus durd den Abfall von der Kirche, durch Ihnöden Kirchenraub und Gemalttat gefnidt und zertreten.

Die humaniftifhe Bewegung war gleich in ihren erften Anfängen nad) England gebrungen. Richard von Bury ward 1333 in Avignon mit Petrarca befannt und teilte deſſen Leidenschaft für Bücher, wenn aud nicht jeine Begeifterung für die antife Literatur. Der noch in Konftanz zum Klar: dinal ernannte Henry Beaufort, Oheim Heinrichs V., nahm Poggio Bracciolint ſelbſt 1420 nad England mit, wo derjelbe allerdings nur bis zum Herbſt 1422 verweilte. Doc) verfehrte Poggio jpäter brieflih mit Nicholas Bild: one, Rihard Pettworth und John Stafford (feit 1443 Erzbiſchof von Ganterbury). Im näherer Beziehung zu Leonardo Bruni, Titus Livius aus Forli, Pier Candido Decembrio, Pier del Monte und Lapo da Eaftigliondio ftand der Herzog Humphrey von Glocefter, Sohn König Heinrichs IV., welcher in den Jahren 1439 und 1443 eine Sammlung von 264 Büchern (dat: unter viele Klaſſiker, Dante, Petrarca, Boccaccio, die Briefe des Nikolaus de Glamengis u. a.) zufammentaufen ließ und der Univerfität Orford zum Geſchenke madhte!.

Faft nirgends waren die Theologen den humaniftiihen Beitrebungen jo beionnen und freundlich entgegengefonmen mie an den Univerfitäten Orford und Cambridge. Eine ganze Schar bedeutender Männer hatte

ı 1. Pits, De illustribus Angliae scriptoribus, Paris. 1619. I. Leland, Commentarii de Seriptoribus Britannicis, Oxon. 1709. 6. Boigt, Die Wieder: befebung x. II 248—261. Zanoni de Castiglione, episcopi Baiocen., epistola ad Humfredum ducem Glocestriae, bei H, Denifle, La dösolation des eglises ete, en France pendant la guerre de cent ans I, Paris 1897, 520—526. R. Pauli, Geſchichte von England V, Gotha 1858, 666—678. N. Zimmer: mannS.J., Die Univerfitäten Englands im 16. Jahrhundert (Ergänzungäheft zu den Stimmen aus Maria-Qaah XLVI, Freiburg 1889, 7—30).

Die deutfhen Humaniften und die Glaubenstrennung. 585

in Italien jelbft mit jenen Studien Belanntihaft gemadt. Robert Fleming, Dedhant in Orford, war mit Platina befreundet gemejen, hatte in Ferrara (1477) ein epiſches Gedicht, Lucubrationes Tiburtinae, ver- öffentlicht und ſpäter ein griechiſch-lateiniſches Wörterbuch verfaßt. William Grey, Biihof von Ely, und John Free waren gleih ihm Schüler Guarinos gewejen und hatten den regiten Eifer für die klaſſiſchen Studien in ihre Heimat mitgebradt. John Gunthorpe und John Ziptoft, Earl of Worcefter, hatten aus Jtalien ebenfalls die reichſten Bücherſchätze mit nad England genommen, Tiptoft feine foftbare Handſchriftenſammlung der Univerjität Orford hinterlaffen. Die Benediktiner William Selling und Thomas Milling, jpäter Abt von Weilminfter, hatten die griechische Sprade erlernt. William Grochn lernte wahrſcheinlich jchon 1491 bis 1493 am Ereter Kolleg zu Orford das Griechiſche, ging dann aber noch nah Italien und ftudierte zwei Jahre zu Florenz, Griechiſch bei Demetrios Chalkondylas und Lateiniſch bei Politian, bevor er es wagte, felbit als Lehrer des Griehifhen in Oxford aufzutreten. Thomas Linacre wurde in Florenz mit Lorenzo de’ Medici und deifen Sohn Giovanni, dem jpä- teren Bapfte Leo X., befannt, ward zu Padua Doktor der Medizin und fehrte dann mit einem großen Schat von Büchern und jelbfttopierten Hand: ſchriften nach Oxford zurüd. Die Schrift De Temperamentis, die er herausgab, war das erfte Buch, das in England mit griehifchen Lettern gedrudt wurde. Bei ihm und bei Grochn lernten Erasmus und Thomas More das Griehiihe. Auh William Latimer, William Lily und John Eolet, mit welden Erasmus in England zufammentraf, hatten längere Zeit in Italien fudiert!, Zu ihnen geiellte fih noch Charnod, der Prior des Auguftinerklofters, der ebenfall® für einen der herborragenditen Gelehrten von Oxford galt. Diefe Männer waren faft ausnahmslos Geift- ide, meift Männer von ebenjo entſchieden kirchlicher Gefinnung als fitten- firengem Wandel, und betrieben die klaſſiſchen Studien nicht einfeitig für ih, jondern mit Rüdfiht auf Philofophie und Theologie, und jo ift es wohl möglih, dap Erasmus bei ihnen auf das Studium der Bibel und der Patriſtik hingelenkt worden: ift.

wJohn Eolet (geb. 1466, Sohn bes Lorbmayor von London, feit 1498 Priefter, 1505 Dekan von St Paul) begründete 1510 die berühmte St Paulsjchule, an welder er William Lily anftellte, der, ebenfalls um 1466 geboren, in Rhodus und in Rom Griehiih ftudiert hatte, Überjeßungen griehiiher Epigramme von Lily erſchienen vereint mit ben Progymnasmata Thomi Mori, Basileae 1518. Poemata varia von ihm erjhienen zugleih mit feinem In aenigmatica Bossi (Robert Whitynton) antibossicon, Lond. 1521. Er fhhrieb auch De laudibus Deiparae virginis und ein Feſtgedicht auf den Beſuch Kaifer Karls V. in London (1522). ®gl. Biographia Britannica II, London 1748, 1402 f; VIII (1760) 2968 f.

986 Erftes Kapitel.

Als den liebenswürdigften und innigften feiner englifchen Freunde hat Erasmus wiederholt Thomas More gejildert. Auch diefer war ein frommer, tiefernjter Mann, der jelbft daran gedacht hatte, Priefter und jogar Ordensmann zu werden, aber mit dem gediegenften Mannescharakter auch die gewinnendften Formen eines Weltmannes verband, voll köftlicher Heiter: feit, Geift, Wi und Humor. Er war ein Londoner Kind, in der City jelbft 1478 geboren!. Noch als Knabe trat er in den PDienft des Kar— dinal3 Morton, Erzbiſchofs von Ganterbury, fudierte dann in Orford Rhetorik, PHilofophie und Theologie, in London die Redhte, ward Advokat, 1504 Mitglied des Unterhaufes, 1510 Unterfheriff von London, trat 1517 als Mitglied des Geheimrats in den königlichen Dienft über, wurde 1521 geadelt und 1529, nad dem Sturze Wolſeys, Lordkanzler von England.

Seine widhtigen öffentlichen Amter und die Sorge für eine zahlreiche Hamilie gönnten ihm nicht viel Muße für literarifche Arbeiten. Nur neben: her und zur Erholung fonnte er die humaniſtiſchen Studien weiter pflegen, die er als Student in Oxford liebgewonnen. Die Iateinifchen Überjegungen einiger Dialoge Lukians zeigen feine Luft an Satire und Wik und zugleich feinen freien, gejunden Geift, der nicht bei jedem Scherz eine Ketzerei witterte. Eine Biographie des Pico von Mirandola bezeichnet feine freundſchaftlichen Beziehungen zum italienifhen Humanismus. Wegen einer freimütigen Par: lamentsrede (1504) bei Heinrich VII. in Ungnade gefallen? und genötigt, fi vier Jahre lang in die Kartaufe von London zurüdzuziehen, jchrieb er das Leben König Rihards IT. Im Jahre 1518 erjdhien von ihm eine Sammlung lateinifher Epigramme, die jhon 1520 eine vermehrte Auflage erlebte. Etwa ein Viertel davon find lberfegungen aus dem Griechiſchen, die Übrigen nicht alle Epigramme im ftrengften Sinn, jondern aud font fürzere Gedichte, meift aus feinen früheren Jahren, voll Wit und wirklich poetiihem Sinn? Sein originellftes literariſches Werf aber,

t Die gewöhnlihe Angabe, 1480, ift nach neueren Forſchungen zu verbeſſern (T. E. Bridgett, Life and Writings of Sir Thomas More®, London 1892, 2 ff).

2 Er verweigerte bie erorbitante Ausfteuer, welche der König für feine Tochter Piargarete bei deren Bermählung mit dem König von Schottland forderte.

3 Unvollftändige Sammlungen der Jateinifhen Schriften: Bajel 1518 1563; Löwen 1566; vollftändigfte: Thomae Mori Opera omnia, Francof. et Lips. 1689. Sie enthält außer der Biographie von Th. Stapleton: 1. Historia Richardi II; 2. Responsio ad convitia Martini Lutheri; 3. Expositio passionis Christi (1535 im Tower geichrieben); 4. Quod pro fide mors fugienda non sit; 5. Precatio ex Psalmis collecta; 6. Utopia; 7. Poemata; 8. Dialogi Lucianei; 9. Epistolae. Biographien von W. Roper, Oxford 1716, London 1731; Th. Stapleton, Douay 1588; Thomas More, London 1627, deut von Th. Arnold, Leipzig 1741; ©. Th. Rudhard, Augsburg 1852; R. Baumſtark, Freiburg i. ®. 1879; T. €, Bridgett, London 1892.

Die deutſchen Humaniften und bie Glaubenstrennung. 587

die „Utopia“, fam 1515 während einer Gejandtidhaftsreife nah Flandern zu Stande und wurde im Dezember 1516 zu Löwen gedrudt. Es ift ein jozialphilofophifher Roman, wie der Name „Nirgendheim” befagt, mit gelegentlihem didaktiſchen und ſatiriſchen Anflug, aber nicht als eigentliche Satire aufzufaffen, jondern als das harmloſe Phantafiejpiel eines ebenjo gemütlichen als witzigen Humoriften, der über die Streitereien des Tages weit in die großen Entdeckungen der Neuzeit und die allgemeinften Fragen der Menſchheit hinausblidt !.

Während feines Aufenthalts in Flandern, jo fingiert er in der Ein- leitung, habe ihm fein Freund Peter Giles einen gewiffen Raphael Hythloday (Kleinigteitäträmer, von Blog und Hdiog) vorgeftellt, einen im Lateinischen wie Griechiſchen bejchlagenen Mann, einen Portugiefen, der fi ganz der Philoſophie ergeben, fein Erbteil feinen Brüdern überlaffen habe, um fremde Länder fennen zu lernen. So habe er Amerigo Veſpucci auf feinen drei legten Reifen begleitet, über die ein Beriht anno 1507 erjchienen ſei. Von der letzten Reife ſei er aber nicht mit Veſpucci zurüdgelehrt, fondern habe fh die Erlaubnis erbeten, fih den dreiundzwanzig Leuten anzujchließen, die in Gulife zurüdblieben. Bon da ſei er dann weiter nah Galicut gereift und habe unterwegs die Inſel Utopia erreiht, die bis dahin völlig unbekannt geblieben; er habe fih fünf Jahre auf derjelben aufgehalten und deren Sitten und Gebräuche gründlih fennen gelernt. In Galicut habe er endlid ein Schiff feines Landes getroffen, das ihn mit nad Haufe genommen habe.

Damit ift nun das bunte Hulturbild eröffnet, das bald eine Art von Naturzuftand ohne hriftliche Offenbarung, aber auch ohne erflärtes Heiden- tum ſchildert, gelegentlich Anfpielungen auf die Gegenwart madt, allgemeinere oder bejondere Schäden des jozialen Lebens kritifiert, dann ſich wieder in idealen Träumereien ergeht, Wirklichkeit und Traum fo mifcht, daß man nie fiher ift, wo der Ernft aufhört, der Scherz anfängt. So gibt More 3. B. gelegentlih eine treffende Charakteriftit feines erften Gönners, des Kardinalerzbiihofs Morton, und lobt defjen gute Zeiten, two oft zwanzig Diebe auf einmal ald Zeugen richtiger Juſtiz am felben Galgen baumelten ; dann jpricht er fich ziemlich deutlich gegen eine fo ftrenge Juftiz „aus, madt verblümte Angriffe auf die Kriegsluſt Heinrichs VIII. und redet jehr gefühlvoll dein ewigen Frieden das Wort.

Aus den religiöfen Schilderungen von Utopia oder Nusquama-Land hat man fogar latitudinarifche und indifferentiftiihe Grundjäbe herausleſen

! De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia, Basileae 1518; neue Ausgabe von V. Michels und Th. Ziegler, Berlin 1895 (Latein. Literatur: bentmale des 15. und 16. Jahrhunderts XI); deutſch von Öttinger, Leipzig 1846, Kothe, ebd. 1874, Kautsky, Stuttgart 1887.

588 Erftes Kapitel.

wollen. Thomas More hat indes anderwärts feine religiöfen Anſchauungen jo Har und offen belannt, daß es töridht ift, dieſe Spielereien dagegen geltend maden zu wollen, in melden der gute Humor eines Gerbantes waltet!. Wie diefer, war More ein wirkfid origineller, erfindungsreicher Kopf, der hoch über der platten Komik der „Dunlelmännerbriefe“ ftand.

Auch in den ernfteften Kämpfen hat ihn diefer edle Frohmut nicht verlaffen. Doc gewichtigere Aufgaben drängten feine literariiche Tätigteit pöllig zurüd. Zuerft riefen ihn die Angriffe Luthers, Tindales u. a. in die Schranken, zur Verteidigung der katholiſchen Lehre. Dann ſagte ſich Heinrih VIII. felbft von Papft und Kirche los und ließ feinem treuen Kanzler feine andere Wahl, ala Verräter an der Wahrheit oder Märtyrer zu werden. Am 6. Juli 1535 wurde More als angeblider Hochverräter auf Towerhill enthauptet.

Noch vor ihm (am 21. Juni) traf die Wut des mollüftigen, entmenjchten Tyrannen feinen ehrwürdigen Freund, den fat adhtzigjährigen Biſchof John Fiſher, der ſich nicht nur als Verteidiger der Kirche gegen das Luthertum, ſondern auch als unermüdlicher Freund und Förderer der Wiſſenſchaft un: vergängliche Verdienſte um die englifhe Bildung erworben Hatte.

Erasmus hatte fi längft aus dem proteftantifch getwordenen Bajel zurüdgezogen, als die Trauerbotihaft aus England fam, daß jein treuer Freund, der liebenswürdigfte und geiſtreichſte Mann Englands, der Lord: fanzler Thomas More, und John Fiſher, der Kanzler der Univerfität Cam— bridge, blutige Opfer der jog. Reformation auf Towerhill geworden waren. Da fühlte auch er ſich des Lebens überdrüflig. Seine Gedanfen waren fürder nur auf den Tod gerichtet. Er ift am 12. Juli 1536 fromm und reuig geftorben, ob mit priefterlihem Beiftand und nad formeller Aus- jöhnung mit der Kirche, ift nicht ausdrüdlich berichtet. Der vollftändige Bruch mit der gelamten NReformationsbewegung war jedenfalls längft voll: zogen. Bon Papſt Paul III. fogar zum Kardinal auserjehen, ift er in feiner lebten Periode unbedentlih den fatholiihen Humaniften beizuzählen, wenn auch nicht in vollem ungetrübten Sinn, wie die ehrwürdigen Märtyrer und Glaubenshelden Fiiher und More. Während des Jahres, das ihm noch zu leben blieb, Hat er in einer ergreifenden Elegie? den Heldentod des edlen

! Bridgett, Life and Writings of Sir Thomas More? 101—107,

® Incomparabilis doctrinae, trium item linguarum peritissimi viri D. Erasmi Rotherodami, in sanctissimorum martirum Rofensis Episcopi, ac Thomae Mori, iam pridem in Anglia pro Christiana veritate constanter defensa, innocenter passorum Heroieum Carmen tam elegans quam lectu dignissimum etc. Anno MDXXXVI mens. Sept. (herausgeg. von Hieron. Gebmwiler, Hagenau 1536). Abgedrudt von K. Hartfelder, Ein unbekannt gebliebenes Gedicht des Defiderins Erasmus von Rotterdam (Zeitjchrift für vergleichende Literaturgeſchichte VI, Berlin

Die deutſchen Humaniften und die Glaubenätrennung. 589

Lordkanzlers gefeiert, ihm als einem Seligen gehuldigt, ihm mit poetijchem Seherblid den Triumph kirchlicher Verehrung vorausgefagt und gewiſſer— maßen feinen Seligſprechungsprozeß eingeleitet :

Schmerzlich beflagen wir heut den graufam gemorbeten Morus Unb bes KHöniges Wut und die blutbefudelte Wolluft Und der Buhlerin Zorn und des Schidjals traurigen Wechſel. Lehret ihr Muſen mich felbft, Pieriden, ein würbiges Grablied, Trauert jelber mit mir um den jchnöbe gejchladhteten Sänger, Der fo oft und fo jchön zur lieblich klingenden Laute Bon ben äoniſchen Höhn euch lockte mit ſchmeichelnden Verſen. Und du, Kalliope, ſo gewandt der Könige Taten Wie der Unglücklichen Los in erhabenem Lied zu befingen, Auch nicht blutigen Mords dich ſcheueſt ernft zu gedenken, Steheft mir bei, du, wahre Erato, bu, holde Thalia." Legt den enthaupteten Leib im Grab indeflen zur Ruhe, Feiert den Zotendienft und beftreut mit Blumen die Urne, Und ber heiligen Gruft bes gefrönten Dichters entfteige Keufh und rein des Lorbeers Duft, den er würdig getragen. Um dich trauern wir auch, der Gottheit erhabener Priefter, Nocefters Water und Hirt, der du für des heiligen Glaubens Schu und Schirm zuvor das hHärtefte Schiefal gelitten. Aber, o Dichter, dir gilt das Lied! Was du Großes vollbrachteft, Merden andere einft in gefeierten Werfen verkünden Und erheben den Ruhm deines Namens bis zu den Sternen.

Alt war geworben die Welt und neigte dem Sturze entgegen, Bebend wankte das Recht, e8 war untergraben die alte Heilige Religion, die jo viele Jahre gedauert,

* Ganz aus dem Herzen geſcheucht die Sterblichen hatten ben Glauben; Aber ber gottloje Stolz und die Wolluft jahen verſchmäht noch Amors beflügelten Pfeil und ber Venus trügriiche Herrſchaft. Knirſchend ſannen fie drum auf andere, graufere Untat.

In der Kebſe Gemüt fie träufeln Gift und Verderben, Rauben dem König Verftand und jeglihe Ruh’ und Befinnung. Sein Verbrechen wagt er zu ftüßen mit ärg’rer Gewalttat, Häuft zum Verbrechen Verbrechen und fpottet troßig des Papftes Mahnung, das buhlende Weib aus feinen Gemädern zu jagen Und mit geheiligter Lieb’ zu ehren die rechtliche Gattin. Macht fi jelber zum Papft und fordert päpftliche Ehren, Soweit reichet fein Land, und untergräbt und zerwühlet Mit jakrilegiiher Hand der Väter Heilige Sakung. Aber die Buhlerin jeßt, wie wird fie froh bes Genuffes ?

* Men zu morben nicht treibt fie an den betörten Geliebten ?

1893, 461—464). Eigentlih „unbefannt* war es denn doch nicht. Erhard (bei Erſch und Gruber) fowie Kämmel (Allgem. deutiche Biogr. VI 179) führen es auf, und Stapleton hat es bereits 1588 irrtümlicherweife dem Johannes Nicolai Secundus zugefchrieben (Thomae Mori Opera, Francof. 1689, 77—79).

590

Erftes Kapitel.

Tugend ift ihr verhaßt, und des Schlimmiten ift ihr verbädtig Reblider Sinn. So warb bir zum Fall beine Zugend, o Morus, Ward dir zum Falle die Schmach und Schande zugleih des Jahrhunderts.

Du warft einfiens die Zier bes Reiches, dem Konig ber liebfte Freund und Berater dazu; es fällte kein anderer Richter Jemals gerechteren Spruch. Und nun, wie lohnt dir das Schidfal Sorgen und Müh’! Du Lönnteft in Ruh’ des Lebens genieken, Wäreft du minder gerecht. Wie hart doch war die Bedingung, Dem Schuldiofen geftellt! Belennt er mannhaft die Wahrheit, Muß er beugen den Hals, ben weißen, dem mördriſchen Beile; Wollt’ er mit nichtigem Trug verfuhen das Leben zu retten, Beifall zollend der Unzucht Schmad und dem jhändlichen Ehrgeiz, Würd’ er befubeln jein Herz und ſchänden fein früheres Leben Und flatt menſchlichen Grimms den Zorn des Allmädtigen weden. Aber Gott und dem Recht furdtlos und ftandhaft ergeben, Beugt er dem Stahle fein Haupt und, finfend hin an den Boben, Bringt er als Opfer fih bar und läßt hinftrömen fein Herzblut. Glücklich gearteter Greis! Des Himmels hehre Paläfte Öffnen fi weit vor dir, und es reicht dir der Seligen König Selber den ftrahlenden Kranz, umdrängt von den jubelnden Scharen. Did als Sieger begrüßt der Chor der geflügelten Boten, Schön wie der ewige Lenz, in ſchimmernd weißen Gewanben. Wie an dem Spiegelfriftall maändriigen Fluſſes die Schwäne, Schweben viel Taufend einher unb fingen die jüheiten Lieber, Und burdfreifen das Blau der Lüfte mit fhimmerndem Fittich. Drunten ftarret indes bein Rumpf, ein Leib ohne Namen, Rohem Bolke zur Schau, und um voll zu machen bie Untat, Wird das greife Haupt, mit friihem Blute befudelt, Hoch auf bie Lanze geitedt, es vor aller Augen entehrend.

Das, blutfhändrifcher Fürft, find das der Venus Trophäen ? Meint du, du könnteft mit Blut dir gewinnen die weihlide Göttin, Deine Göttin? Sie wirb mit bitterem Zorne dich treffen;

Selber als Räderin wird bein Liebesfpiel fie verderben,

Andre und andre Flammen in deinem Herzen entfachen,

Bis dich Efel zuleht erfaßt an dem ſchmählichen Leben.

Dann wirft des greulihen Mords bu gedenfen und bitterlih weinen Und dich rächen ergrimmt an deiner trügrijhen Metze.

Alerander einft auch, von der Furien Stadel getrieben,

Plöglih aufwallend vor Zorn und erhigt von reihlidem Weine Stieß dem geliebteften Freund beim Mahl vor den ftarrenden Gäften Wütend das Schwert in den Leib, dab jein Blut die Tafel befprigte. Aber nachdem fi) gelegt der Sturm der Seele, bes Weines

Dunſt verflogen war und wiebergefehrt Die Befinnung,

Wollt’ er töten ſich jelbft und folgen zum Reiche der Schatten Seinem gemorbdeten Freund und ergoß fi in fruchtlofen Klagen, Trauernd drei Tage lang und trauernd drei fhredlihe Nächte,

Voll der bitterften Qual, fein Ende findend der Tränen.

Alles umfonft, feine Trauer vermag zurück fie zu bringen,

Zweites Kapitel. Weiterblühen der neulateinifchen Literatur in Italien. 591

Die, verblihen im Tod, durch bie büfteren Fluten der Fährmann Eharon hat entführt zu dem unerbittlichen Orkus,

Du aud wirft umfonft ben treueften Freund dann beweinen, Wenn bu reiner jühlft, wenn der Rauſch der Liebe verflogen. Unterbeffen im Traum wird der Schatten be3 Mannes dich fchreden, Und mit entſetzlichem Blick jein Haupt, vom Blute noch triefend. Wende, wohin du bi willft, das Schredbild wird dir begegnen, Harrend des Nadegerichts, das beine Taten verbienen.

Denn jolange du nicht der Krone beraubt, ald Berbannter,

eben Beſitzes entblößt, ald Bettler den Ewigen anruft,

St Morus nicht gefühnt. Gewalttat dauert nicht lange;

Zögert ber ftrafende Gott, fo wird die Strafe nur ſchwerer, Denn er waltet gerecht, und feiner entgeht feinen Hänben.

Wir aber, Morus, wir werben dich ewig ſchmerzlich betrauern, Meinen endlos um dich, du Lieber, herrlicher Sänger! Für die Religion, die heilige, haft bu gelitten Blutigen Tod; als Held verdieneft du himmlifhe Ehren, Tempel müſſen dir weihn die Sterblichen, Heil’ge Altäre. Leb, ehrwürdiger Greis, denn wohl, jei ewiglich jelig, Ob im Elyfium du weilft, ob im ftrahlenden Himmel! Nimm auch diejes mein Lied mit mildem Antlif entgegen!

Zweite Kapitel. Weiterblühen der neulateinifhen Literatur in Italien.

Bei allen Schattenfeiten, welche die Regierung der Päpfte Alexander VI., Julius II, Leo X. aufzumeifen bat, bei allen Schmähungen, welde man auf fie gehäuft, fpielt fie doch in der Geihichte der Kunft und der ge jamten Bildung eine Rolle, die feine Läfterung um ihren Ruhmesglanz zu bringen vermochte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ift das ge bildete proteftantiihe Europa, die deutichen Klaffiter an der Spitze, nad) Stalien gepilgert, um nicht etwa bloß die KHunftihäge des alten Rom, jondern aud das Rom der Renaiffance in feinen erleſenſten Kunftihöpfungen fennen zu lernen. Goethe hat für die Männer der Renaiſſance geradezu eine gewiſſe Vorliebe, ein Gefühl von Geiftesverwandtfchaft an den Tag gelegt. Noch Heute vermögen ſich eingefleifchte Gegner des Papfttums dem Zauber nicht zu entziehen, mit welchem Raffael und Michelangelo den Namen jener Päpſte umgeben.

Im päpftlihen Rom bat aber nicht nur die Kunft der Renaifjance ihre höchſten Triumphe gefeiert; aud der Humanismus ift Hier zu jemer Vollblüte gelangt, welche die Wirren der Glaubenstrennung jenjeitS der Alpen großenteils im Keime erftidten.

592 Zweites Kapitel.

Wir find weit entfernt, den Wert diefer humaniſtiſchen Literatur zu überjhäßen. Sie hat ſich vielfach über die Schranken hinausgefegt, welche die hriftlihe Bildung und das natürlihe Sittengefe ihr hätten ziehen follen, und duch Förderung heidnijher oder halbheidniicher Lebensanſchauungen die ſchweren Mißſtände herbeigeführt, welche das kirchliche Leben dieſer Periode entjtellen, jelbit ihren künſtleriſchen Glanz verdunteln und den großen Abfall don der Kirche zwar nicht zu rechtfertigen und zu entichuldigen vermögen, aber doch nad) mander Seite hin begreiflicher erfcheinen laffen. Der gewaltige Ruf nah Reform innerhalb der Kirche trifft nicht zum wenigften die Ver: meltlihung und die übertriebene Prachtliebe der höchſten Tirchlichen Kreiſe ſowie jene mehr antil-heidniichen als chriftlihen Neigungen, welche das immer gefteigerte Studium der Antike in Kunſt und Literatur hervorgerufen hatte. Dod wäre es ungerecht, ausjhlieglih den Humanismus für alle jene Miß— fände verantwortli zu machen. Politiſche und religiöje Verhältniſſe haben dazu ebenjo mitgewirkt, wie zu der großen Ummälzung jenjeits der Alpen. Wie die große Kunſt eines Raffael und Michelangelo im wejentlihen von den hriftlichen Ideen beherricht blieb, jo hat auch die Literatur im großen und ganzen den Boden derfelben keineswegs verlaſſen. Durch Zügellofigfeit und Sittenlofigfeit hat fie vielfah arg gefündigt; aber fie hat die Glaubens: {ehren nicht geleugnet, welche diefe Ausjchreitungen verurteilten, umd mit geringen Ausnahmen find jelbft die leichtfertigften Dichter in fpäteren Jahren zu den frommen und ernjten Gefinnungen des greifen Michelangelo zurüd: gefehrt. Vieles, worin man mitunter Heidentum witterte, ift weiter nichts als poetiiche Spielerlei, und damit fällt aud) der Vorwurf der Heuchelei gegen jene, welche in ihren Gedichten bald den antilen Olymp zur Ber: wendung bringen, bald wieder die hriftlichen Heiligen befingen. Weder das eine noch das andere war Gößendienft fjondern eben Poeſie.

Dies gilt von der italieniihen Dichtung diefer Zeit wie bon der lateiniſchen. Daß dabei die letztere von der erfteren nicht völlig verdrängt wurde, hält Jakob Burdhardt für einen entjchiedenen Vorteil.

„Einen ftärferen Zwang hat es in Titerarifhen Dingen nie gegeben; allein die Poefie entwifchte demfelben größtenteils, und jebt können wir wohl ohne allzu großen Optimismus fagen: es ift gut, daß die italienifche Poeſie zweierlei Organe hatte, denn fie bat in beiden Vortreffliches und Eigentümliches geleiftet, und zwar fo, daß man inne wird, weshalb hier italienifh, dort lateiniſch gedichtet wurde. Vielleicht gilt ähnliches auch von der Proja; die Weltftellung und ber Weltruhm der italienischen Bildung hing davon ab, dab gewifje Gegenftände lateiniſch Urbi et orbi behandelt wurden, während die italienifche Profa gerade von denjenigen am beften gehandhabt worden ift, welchen es einen inneren Kampf Eoftete, nidt lateinisch zu jchreiben.” !

3. Burdharbt, Die Kultur ber NRenaiffance in Italien 196 197.

Weiterblühen ber neulateinifchen Literatur in Italien. 593

In einem literaturgefhichtlihen Gediht an Paulus Jovius vergleicht Franz Arfilli das mediceifche Zeitalter Leos X. mit jenem des Auguſtus und führt über achtzig lateinische Dichter auf, welche durch zeitweiligen Auf: enthalt Rom angehören und die er deshalb poetae urbani nennt!, An ihrer Spihe ftehen Sabolet und Bembo. Beide wurden als ausgezeichnete lateiniihe Stiliften von Leo X. als päpftliche Sekretäre angeftellt.

Jakob Sadolet, als Sohn eines Rechtögelehrten 1477 zu Modena geboren, jollte fih des Vaters Wunſch gemäß ebenfalld der juriftiichen Lauf: bahn widmen, war aber ein wirklicher Dichter und fühlte ſich weit mehr zu den Humaniftiihen Studien hingezogen und widmete ſich denjelben in Rom, wo er raſch angejehene Gönner und Freunde fand, doch jeder Streberei fremd blieb und durch jein tadellofes Leben den Beweis lieferte, daß ſich der Humanismus mit einer durchaus frommen und riftlichen Lebensführung vereinigen ließ?. Bon Leo X. zum Biſchof von Garpentras erhoben, zog er fih nad) des Papftes Tod in diefe Stadt zurüd, ward aber von Klemens VII. wieder nah Rom berufen, von Paul III. (1535) zum Kardinal ernannt, betätigte ſich daſelbſt lebhaft für die kirchliche Reform umd bejonders für die Vorbereitung eines allgemeinen Konzils, als ihn 1547 der Tod aus diejem Leben rief. Als ein Mufter feinfter ciceronianifcher Proſa gilt fein Dialog Phaedrus sive de laudibus philosophiae, durch mwelden er den gleihnamigen verlorenen Dialog Eiceros zu erjegen verſuchte. Von jeinen formvollendeten Gedichten wird befonders eines auf die Gruppe des Laokoon und eines auf den Heldentod des Curtius gerühmt.

Aetas nulla tuum minuet, Sadolete, decorem, Gloria nec longo tempore vita cadet, Laocoontei narras dum marmoris artes, Conecidat ut natis vinctus ab angue pater, Curtius utque etiam patriae succensus amore, Et specie et forti conspiciendus equo, Fervida dum virtus foret in iuvenilibus annis, Praecipitem sese tristia in antra dedit®,

Weniger erbaulich ift das Vorleben des venetianischen Patrizierd Peter Bembo, der, 1470 in der üppigen Lagunenftadt geboren, zum ausgezeich— neten Latiniften und Kenner des Griechiſchen Herangebildet, ſich in allerlei Liebeshändel einließ und noch als päpftliher Sekretär in unerlaubtem Ber:

ı Abgedrudt bei Tiraboschi, Storia della letteratura Italiana VII, TI 3, Modena 1779, 425—442.

2 Hauptausgabe: I. Sadoleti Opera quae extant omnia, 4 Bde 4°, Veronae 17387. Die meiften feiner Werfe find theologifchen, kirdenpolitifhen und pädago— gifhen Inhalts. Die bedeutenderen Gedichte find: De Caio Curtio, De Laocoontis Statua, Ad Octavium et Fredericum Fregosios.

® Arsilli bei Tiraboschi a. a. ©. 426.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4 Aufl. 38

594 Zweites Kapitel.

hältnis lebte, fi indes um Wiſſenſchaft und Literatur jo hohe Berdienfte erwarb, dab Paul III. ifn 1539 mit dem Kardinalspurpur ſchmückte. Er Hatte inzwijchen jeinen Lebenswandel geändert, empfing nun die heilige Priefterweihe und weihte die legten Jahre feines Lebens vorzugsweiſe pa— triftiichen Studien. Als er 1547 farb, wurde er in S. Maria jopra Minerva zwiſchen den mediceiihen Päpften Leo X. und Klemens VII. be: fattet. In feinen italienifhen Rime ahmte Bembo zu jehr Petrarca nad und verfiel darum in Manieriertheit; in feinen lateinischen Elegien dagegen wetteiferte er in Formſchönheit mit den antiten Muftern, die er fih zum Vorbild nahm, leider aber auch mit der Lizenz und Lüſternheit, welche diefen anhaftete!.

Der Vorwurf, nit nur die antile Mythologie neu aufleben zu laſſen, jondern fie noch weiter au&zufpinnen und ganz Italien mit Göttern, Nymphen und Genien bevöltert zu haben; trifft Bembo nicht allein, jondern faft alle Poeten der Renaiffance von Petrarca und Boccaccio an. Mit Recht macht 3. Burdhardt geltend, daß dies als poetifches Spiel aufzufaſſen ift, und daß die alten Götter den Renaiffancedihtern einen doppelten Dienft leifteten, indem fie ihnen für allgemeine Begriffe ftatt froftiger Allegorie plaftijche, poetiſche Geftalten boten und indem fie zugleich ein freies, jelbjtändiges Element der Poefie darftellten, das ſich jeder Dichtung beimifhen und fie in den mannigfachften Kombinationen beleben fonnte. Als ein „Meifterftüd“ diefer Urt bezeichnet er den „Sarca” des Pietro Bembo: „Die Werbung des Alußgottes jenes Namens um die Nymphe Garda, das prächtige Hochzeits— mahl in einer Höhle am Monte Baldo, die Weisfagungen der Manto, der Tochter des Teirefias, von der Geburt des Kindes Mincius, von der Gründung Mantuas und vom künftigen Ruhme des Vergil, der als Sohn des Minctus und der Nymphe von Andes, Maja, geboren werden wird. Zu dieſem ftatt: Iihen humaniftiiden Rofolo fand Bembo jehr ſchöne Verſe und eine Schluß— anrede an Bergil, um melde ihn jeder Dichter beneiden kann. Man pflegt dergleihen als bloße Deklamation gering zu achten, worüber, als über eine Geſchmacksſache, mit niemanden zu rechten ift.“ ?

Dem ftrengfien Standpunkt eines katholiſchen Humaniften entſpricht Martus Hieronymus Vida, 1490 (mit ſchon 1470) zu Cremona geboren. Arfilli reiht ihn unmittelbar an Sadolet und Bembo. Er fam früh nah Rom, ftudierte dajelbit ernftlih Philoſophie und Theologie und

! Gefamtansgabe feiner Werte von Seghezzi, 4 Bde 2°, Benebig 1729; unter den lateinifchen find hervorzuheben: 1. Rerum Venetarum historiae libri XII; 2. Epistolarum Leonis X. P. M. nomine scriptarum libri XVI; 3. Epistolarum familiarium libri VI; 4. De Virgilii Culice et Terentii fabulis (Dialog); 5. De Aetna (Dialog); 6. Carmina.

2% Burchhardt, Die Kultur der Renaiffance in Italien 202.

MWeiterblühen der neulateinifhen Literatur in Italien, 595

ward Kanonikus zu St Johann im Lateran, fand aber auch ſchon mit jeinen erften poetijchen Verfuchen großen Anklang. Sadolet nennt ihn Magni- loquum Vidam et cuius proxime ad antiquam laudem carmen ac- cederet!. Leo X. ſelbſt las feine Gedichte, fand Geſchmack daran und ehrte den Dichter in freigebigfter Weife. Leo iam carmina nostra Ipse libens relegebat: ego illi carus et auctus Muneribusque opibusque, et honoribus insignitus,

erzählt Vida jelbft in dankbarfter Erinnerung. Inter anderem verlieh ihm der Papſt das Priorat St Silvefter bei Tivoli, damit er in herrlicher Land— einjamfeit fi ungeftört der Poeſie widmen könnte. Leo jelbft forderte ihn auf, in einem größeren Epos daS Leben und Leiden Chrifti zu befingen, erlebte aber die Vollendung diefer Chriftiade nit. Klemens VII. fchentte dem Dichter nicht geringere Gunſt und erhob ihn 1532 zum Biſchof von Alba. Als folder vollendete Vida die Dichtung, die fein Hauptwerk bildet und 1535 gedrudt wurde; er betrachtete indes die bijchöflihe Würde durch— aus nit als Sinekure für literariihe Zwecke, fondern widmete ſich feiner Diözefe mit aller Sorgfalt eines treuen Oberhirten, nahm eifrig an der lirchlichen Reform teil, verband ſich zu dDiefem Zwede auch mit dem Hl. Karl Borromäus und ftarb nach fegensvolliter Wirkfamfeit 1566 auf jeinem Bilhofsfig?.

Vida ift eine freundliche, Tiebenswürdige Dichternatur, voll Empfäng- lichkeit für das Schöne, voll Freude daran, begabt mit einem zarten Form— gefühl, das fih an den Werfen des Altertums zu noch größerer Yeinheit ausgebildet. Wie Raffael die erhabenen Schöpfungen der Loggien mit dem wunderbaren Phantafiejpiel der reizendften Arabesten umwoben, jo hat auch Vida jeine Freude daran, feinen Geift in harmloſem Spiel ergehen zu laſſen. Manche Krititer haben feine Gedichte über den „Seidenwurm“ (Bombycum libri duo) und über das „Schadjipiel” (Scacchia ludus) denn aud als jeine vollendetften Leiftungen erklärt. Es ift jpielende Kleinkunſt, wie fie Bergil in feinen „Georgica“ zum beiten gegeben, aber eine jolde, in welder nicht nur die Formgewandtheit, jondern auch poetiicher Geift und Geſtaltungs— fähigkeit fih im vollften Make bewähren. Einige Oden und Elegien (Car-

! Epist. I 311.

? Moetiihe Schriften: Christiados libri VI, Cremonae 1535; Scacchia ludus, Romae 1527; Poeticorum libri III, Romae 1527; Bombycum libri II, Lugd. et Basil. 1537; Hymni de rebus divinis, Lovan. 1552. ®gl. Tiraboschi, Storia della lett. Ital. VII, Z{ 3, Modena 1779, 242—257. Latour, La Christiade de Vida, Paris 1826. Lancetti, Della vita e degli scritti di Vida, Milano 1840. Novati, Sedeci lettere inedite di M. G. Vida (Archivio storico Lom- bardo, Milano 1898).

38*

596 Zweites Kapitel.

minum liber) weiſen ihn auch als Lyriker aus. In einer größeren Samm- [ung (Hymni de rebus divinis) fteigt er daun zu den erhabenften Stoffen religiöfer Poeſie empor, die er aber nicht etwa in der firdlihen Hymnenform behandelt, jondern in antifer Weife, die an die jog. homerifchen Hymnen und an Hefiod erinnert. Sehr früh hat er auch ſchon eine Poetik ge- jhrieben (Poeticorum libri tres), fie aber in reiferen Jahren twiederholt gefeilt und umgearbeitet. Der franzöfiihe Bearbeiter Batteur fand nicht an, fie den drei Poetiken des Ariftoteles, Horaz und Boileau als vierte an die Seite zu jeßen. Julius Scaliger zog fie derjenigen des Horaz vor. Schon um des feinen Gejhmades willen verdient fie jedenfalls noch heute Beachtung, dann aud als literaturgefchichtlicher Ausdruck dichterifcher An— ſchauungsweiſe, wie fie im Literatenfreife Leo X. und Klemens' VII. die vollſte Anerkennung fand.

Wie den Humaniften des Mittelalters ſchwebt allerdings aud ihm Vergil als das unerreichte Vorbild eines Dichters dor; aber was er von ihm jagt und was er von ihm gelernt, bekundet ein ganz anderes Durddringen des Haffiichen Altertums, als es die borausgegangenen Jahrhunderte gekannt. Das Studium anderer lateinischer Dichter will er nur für die Jugend aus pädagogifdhen, und zwar vollkommen richtigen Gründen zurüdgedrängt wiffen:

Tempus erit, tibi mox cum firma advenerit aetas, Spectatum ut cunctos impune accedere detur!.

Homer war damal3 allgemein no nicht genug befannt und zugänglich gemadt, als dat Vida jhon feine Vorzüge vor Vergil Far hätte durd- ſchauen können. Nicht&deftoweniger empfiehlt er jehr das Studium der griechifchen Literatur? und insbejondere des Homer:

Haud multus labor auetores tibi prodere Graios, Quos inter potitur sceptris insignis Homeraus. Hune omnes alii observant, hine pectore numen Coneipiunt vates, blandumque Heliconis amorem. Felices quos illa aetas, quos protulit illi Proxima: divino quanto quisque ortus Homero Vieinus magis, est tanto praestantior omnis. Degenerant adeo magis ac magis usque minores Obliti veterum praeclara inventa parentum.

Wohl wie fein zweiter der Humaniften jener Zeit war Vida don dem Wert und der hohen idealen Aufgabe der Poefie erfüllt:

Ingredior vates idem superumque sacerdos Sacraque dona fero teneris comitatus alumnis ®.

! Marci Hieronymi Vidae Cremonensis Albae Episcopi Opera, Ant- verpiae 1607, 449. ® Ebd. 447. ® Ebd. 461.

Meiterblühen ber neulateinifchen Literatur in Italien. 597

Als Priefter des Schönen ift er denn auch an die große Aufgabe ges gangen, die Leo X. ihm geftellt, daS Leben und Leiden Chrifti in einem Epos von altklaſſiſchem Gepräge zu befingen. Diele werden dieje Aufgabe bon vornherein als eine unlösbare ablehnen. Unmöglich ift es allerdings, die wunderbare Schönheit, welche in der Einfachheit und ſchlichten Größe der evangeliichen Berichte liegt, in einer noch fo kunſtvollen Dihtung zu erreichen oder gar zu übertreffen. Unmöglich ift e& au, den biblifchen Stoff und die hriftlih-dogmatifhen Anſchauungen in volle Harmonie mit dem alt- Haffiihen Vokabular zu bringen. Unmöglich ift es ebenfalls, bei einem jo ernten, ehrwürdigen, feftumfchriebenen Stoff jene poetiſche Erfindungs: und Geftaltungskraft zu entwideln, wie fie heidniſche Dichter an den religiöfen Mythen des Altertums entfalten fonnten. Wenn nicht3deftoweniger chriftliche Dichter von den älteften Zeiten an die heidnifhen Epen durch eine Ehriftiade zu verdrängen und zu überflügeln juchten, jo war es nicht nur echt poetijche Liebe und Begeifterung für den erhabenften Stoff der gejamten Welt: und Menſchengeſchichte, fondern auch die Überzeugung, daß fich derjelbe im Rahmen der altklaffiihen Kunſtform epiſch geftalten laſſe. Viele ſolche Verſuche find an uns borübergezogen. An eigentliher künſtleriſcher Vollendung übertrifft die Ehriftiade Vidas unftreitig fie alle. Ohne Vergewaltigung des bibliſchen Tertes ift der überreihe Stoff in einen fnappen, einheitlihen Plan ge— drängt, kunſtvoll gruppiert, in würdiger und majeftätifcher, zugleich an— mutiger und ergreifender Darftelung ausgeführt, mit allem Schmud der ihönften lateiniſchen Diktion behandelt. Ein Vergil jelbft Hätte es kaum beſſer machen können.

Wird man nun aud allzu oft an Vergil erinnert, jo befteht die Dichtung doc keineswegs aus vergilianifhen Gentonen; fie ijt ein jelbftändiges, von echtem Dichtergeift durchwehtes Werk, das Schönheiten erften Ranges auf: zumeifen hat. Nicht umfonft ift es ins Spanische, Italieniſche, Englifche, Deutſche und Franzöfiiche überfegt worden und hat ſchon im 16. Jahr: hundert an Bartholomäus Botta einen Kommentator gefunden. Milton jcheint es gekannt und mande Stelle nachgeahmt zu haben. Es verdient herbor- gehoben zu werden, daß, mährend Luther noch lebte und unaufhörlich die Anklage wiederholte, daß das Papſttum ſich zwiſchen den Erlöſer und die Erlöften dränge, no unter dem Papſt, den er als den Antichrift verfchrie, auf Anregung eben diejes Papftes das ſchönſte Kunſtepos der Renaiffancezeit gerade den Erlöjungstod Chrifti verherrlihte, wie Raffaels Kunft in der „Verklärung Chriſti“ gemwilfermaßen ihren Höhepunkt fand. Die „Briefe der Dunfelmänner” haben hier in Farben und Verſen die jchönfte und treffendfte Antwort gefunden. Vidas „Ehriftiade” ift zugleich das Denkmal einer feinen klaſſiſchen Bildung, wie fie Hutten und feine Genofjen nicht erreichten, und einer innigen Liebe zum Erlöfer und zu feiner Kirche, welche

598 Zweites Kapitel.

Lutherd Vorwürfe jchlagend widerlegt. Herrlich ſchließt das Gedicht mit ben Wundern des Pfingfttages und mit der Ausbreitung der Hriftlih-apoftolifchen Lehre dur die ganze Welt!,

Ergo abeunt varias longe lateque per oras Diversi, laudesque canunt, atque inclyta vulgo Facta ducis, iamque (ut vates cecinere futurum Antiqui) illorum vox fines exit in omnes. Audiit et si quem medio ardens aethere iniquo Sidere desertis plaga dividit invia terris, Quique orbem extremo eircumsonat aequore pontus: Continuo ponunt leges moremque sacrorum Urbibus; infectum genti lustralibus undis Eluitur scelus, et veteris contagia culpae, Religioque novas nova passim exsuscitat aras, Protinus hine populos Christi de nomine dicunt Christiadas. Toto surgit gens aurea mundo, Saeclorumque oritur longe pulcherrimus ordo.

Ganz am Schluß aber hat Bida in römischer Lapidarfrift die Mahnung binzugejeßt:

„Wer immer du bift, ber Verfafler will dich erinnert haben, daß er ein fo gewagtes Werf nicht um des Lobes willen gierig unternommen, ſondern wifle, dab es ihm, mit ber Ausficht auf ehrenvolle Belohnung, von zwei Päpften aufgetragen worden ift, von Leo X. zuerft, dann von Klemens VII., beide aus der erlaudten etruriichen Familie der Medici: beren fFreigebigfeit und Sorgfalt diejes Zeitalter es dankt, daß bie Literatur und die ſchönen Künſte, bie völlig erlofhen waren, zu neuem Leben erwedt worden find. Das jollte dir nah meinem Wunſche nicht unbelannt bleiben.” ®

Vida verſchob die Ausgabe feiner „Ehriftiade“, weil, als Diejelbe ungefähr vollendet war, um 1527 ein ähnliches hriftliches Epos in klaſſiſcher Form erſchien, mit dem Titel De partu Virginis. Der Dichter Jacopo Sannazaro wurde als Sohn einer urſprünglich jpanifchen Familie 1458 zu Neapel geboren, trat der gelehrten Alademie des Pontano bei, in welcher er den Namen Actius Sincerus annahm, folgte 1501 dem König Federigo in die Verbannung nad Frankreih und fehrte erft nach deſſen Tod, mit manden koſtbaren Handſchriften antiker Schriftiteller, nad Neapel zurüd, wo er 1530 ftarbd. Schon mit Heinen Feſtlomödien, von welchen eine die Eroberung von Granada behandelte, mit Sonetten und Kanzonen erwarb

i Marci Hieronymi Vidae Cremonensis Albae Episcopi Opera 439.

® Ebd. 440.

>], Sannazar, Arcadia, Venetiis 1502 (im Laufe des 16. Jahrhunderts etwa jechzig Ausgaben); De partu Virginis. Eclogae. Salices et lamentatio de morte Christi, Neapoli 1526. Opera omnia, Frankf. 1709.

Meiterblühen der neulateinifchen Literatur in Italien. 599

er ſich große Beliebtheit. Mehr Einfluß erlangte feine zuerft 1504 ver: öffentlihte, italienisch gejchriebene Arcadia, eine Sammlung von Eflogen mit verbindendem Zert, in welchen er zuerft eine Art daktylijcher, leichter Verſe, die jog. versi sdruccioli, anmwandte und duch melde das Hirten: gediht nad) Art Theofrit3 und Vergils wieder allgemeine Beliebtheit erlangte. Seine lateiniſchen Gedichte, bejonders feine Eflogen, zeichnen fich durch ihre Feinheit und Eleganz aus. Für eim einziges Epigramm zahlte ihm der Senat von Venedig 600 Zedhinen; er drüdt auch das Lob der Lagunenitadt mit wahrhaft Haffiiher Kraft und Schönheit aus: Viderat Adriatis Venetam Neptunus in undis Stare urbem et toto ponere jura mari. Nunc mihi Tarpeias quantumvis, Iuppiter, arces Obiice, et illa tui moenia Martis, ait. Tibrim Oceano praefers, urbem aspice utramque: Illam homines dicis, hanc posuisse deos.

Am feiteften begründete Sannazar jedod) feinen Ruhm mit feiner Epopöde De partu Virginis, an welcher er zwanzig Jahre arbeitete und feilte, bis Ausdrud und Vers, Metrum und Wohlkang auch den jtrengften Forderungen alttlaffiicher Poetit entjprahen. Es war aber durchaus fein gezwungenes Schulererzitium, feine mühſam erſchraubte Kunftleiftung, es war eine wahre Herzensfadhe, ein Werk echten Künſtlerſchaffens nah der inhaltlichen wie nad) der formellen Seite hin. Sannazar war ein kindlih frommer Mann, voll des innigften Glauben: an die Geheimniffe der Erlöfung, voll der zärtlihften Andacht zu der hochheiligen Jungfrau, die und den Erlöfer gebracht. In dieſem Geifte verſenkt er fih in den großen Ratidhluß der Menſchwerdung, ſchildert dann die Engelöbotihaft an Maria und ihre wunderbare Verwirklichung, den Beſuch Marias bei Elifabeth, die Reife nad Bethlehem, die Geburt Ehrifti in der armen Grotte, den unendliden Jubel, mit welchem die erfte Weihnacht Himmel und Erde erfüllt. Sein mittel- alterliher Moftiler könnte das alles wahrer und liebevoller empfinden. Aber mit nicht geringerer Lebhaftigfeit und Innigkeit hat fi der Dichter auch ganz in die Form und in die Sprade Bergils hHineingelebt. Mögen diefe Heinen Züge an Juppiter und Merkur, jene an Aeneas oder Dido erinnern, die Hölle ganz das Gepräge der antiken Unterwelt tragen, der Jordan feine MWeisfagungen dem Proteus in den Mund legen: für den Dichter haben dieſe Reminiszenzen ihre heidnifchen Beziehungen völlig verloren; ihm find fie nur ſchöne Formen, in denen er lebt und mebt, ein zierlicher Schmud, mit dem er dad Erhabenfte und Ehrwürdigfte würdig zu er: heben glaubt. Nur in diefem Sinne kann man bei ihm von Heidniſchem reden; nur in diefem Sinne ift dad Lob zu nehmen, das Burdhardt ihm jpendet:

600 Zweites Kapitel.

„Sannazaro imponiert durch den gleihmäßigen gewaltigen Fluß, in welden er Heidnifches und Chriftliches ungejcheut zufammendrängt, durch bie plaftifche Kraft ber Schilderung, dur die volllommen jhöne Arbeit. Er hatte fi nicht vor ber Vergleihung zu fürdten, als er die Berje von Bergils vierter Efloge in den Gefang der Hirten an ber Krippe verflodt. Im Gebiet bes Jenſeitigen hat er da und dort einen Zug bantesfer Kühnheit, wie 3. B. König David im Limbus der Patriarden fih zu Gefang und Weisfagung erhebt, ober wie ber Ewige thronend in feinem Diantel, der von Bildern alles elementaren Dajeins ſchimmert, die himmlischen Geifter anredet. Andere Diale bringt er unbedenklich die alte Mythologie mit feinem Gegen— ftande in Verbindung, ohne doch eigentlich barod zu erſcheinen, weil er die Heiden götter nur gleihjam als Einrahmung benußt, ihnen feine Hauptrolfe zuteil. Wer das Fünftlerifche Vermögen jener Zeit in feinem vollen Umfange tennen lernen will, darf fi) gegen ein Werk wie diejes nicht abjchließen. Sannazaros Verdienft erjheint um fo viel größer, da fonft die Bermiihung von Ehriftlihem und Heidniſchem in ber Poefie viel leichter ftört als in der bildenden Kunſt; Iektere kann das Auge dabei beftändig durch irgend eine beitimmte, greifbare Schönheit ſchadlos halten und ift überhaupt von ber Sahbedeutung ihrer Gegenftände viel unabhängiger als die Poefie, indem die Einbildungsfraft bei ihr eher an ber Form, bei ber Poefie eher an ber Sade weiterfpinnt....

„Sannazaros Ruhm, die Menge feiner Nachahmer, die begeifterte Huldigung der Größten feiner Zeit dies alles zeigt, wie ſehr er feinem Jahrhundert nötig und wert war. Für bie Kirche beim Beginn ber Reformation löfte er das Problem: völlig Haffifh und doch Hriftlich zu dichten, und Leo ſowohl als Klemens fagten ihm lauten Dant bafür.“ !

Noch als Biſchof von Garpentras gedachte Sadolet mit Freude der Zeiten, wo die Mitglieder der Römifchen Alademie, noch jugendlih und munter, in großer Zahl ſich zu heitern Mahlzeiten zu verfammeln pflegten, bald bei dem Dichter Angelo Collocci in den Suburbaniſchen Gärten, bald bei ihm jelbft auf dem Quirinal, bald am Circus Marimus, bald am Tiber— ufer beim Herkulestempel. Diefe Mahlzeiten waren weniger durch reich liche Gerichte als durh Witz und Scherz gewürzt, und nad denjelben wurden Gedichte vorgetragen und Reden gehalten, zum höchſten Genuß aller Anwejenden?. Den Vida nennt er erhaben und jagt von jeinen Verſen, daß fie der Eleganz der Alten ziemlih nahelämen. Als geiſtreich lobt er die Kompofitionen des Caſanova, als breit und wohltönend die des Gapella; an Beroaldo lobt er die Teile und die Korrektheit, an Pierio Valeriano, Lorenzo Grano, Mateleno, Blofio Palladio Reihtum und Anmut. Er erwähnt noch andere Profaiften und Poeten, wie Hieronymus Negri, einen glüdliden Nahahmer der ciceronianischen Beredſamkeit, Antonio Venanzi

ı Burdhardt, Die Kultur der Renaifjance in Italien? 202 208. Bgl. Geiger, Renaiffance und Humanismus in Italien und Deutſchland (bei Onden, Allgem. Gejhichte in Einzeldarflellungen), Berlin 1882, 260 261.

® Sadolet, Epist. famil. I, ep. 106 (ed. Romana 309). Tiraboschi, Storia della lett. Ital. VII, ZI 1, 114 ff. Geiger a. a. O. 292 298.

Meiterblühen der neulateiniſchen Literatur in Italien. 601

und Gianfrancesco Bini, in beiden Spraden küchtig, die ſcharfen und finn- reihen Sritifer Ubaldino Bandinelli und Antonio il Computiſta. Auch ein Deutſcher, Corycius, Johann Gorik aus Luxemburg, päpftlicher Referendar, ein mwohlhabender Mann, gehörte der Geſellſchaft an, gab alljährlih am St Unnentag ein glänzendes Feſtmahl und gehörte zu denen, die viel gemedt mwurden!. Als er 1514 die St Annalapelle in der Kirche St Auguſtin mit einem berrlihen Altar von Sanfovino, die Hl. Anna mit Maria und Jeſus daritellend, ſchmücken ließ, verherrlichten die Freunde das Feſt mit einem ganzen Album von Gedichten, das unter dem Titel Coryciana gedrudt wurde und einen Einblid in da3 fromme und gemütliche Treiben de3 dich— teriſchen Freundeskreiſes gewährt?. Während der Plünderung Roms (1527) hatte die Akademie traurige Zeiten; fie erholte fih von dem Schlage nicht mehr; aber an ihre Stelle traten jpäter mehrere ähnliche Kreiſe.

Können wir aud) hier noch nicht den mächtigen Einfluß ſchildern, welchen die Pflege der lateiniſchen Poeſie auf die gleichzeitige italienische ausübte, jo mögen do ala Beijpiele davon zwei Dichter erwähnt werden, die ebenfalls dem reife Leos X. angehörten und die Frucht ihrer humaniſtiſchen Studien borzugsweife in italieniſcher Sprade verwerteten.

Giovanni Ruccellai, ein Vetter des Bapftes Leo X. (1475 bis 1526), verfaßte nad) Vergils Vorbild ein ausführliches Lehrgedicht über die Bienen, das mit unendlicher Sorgfalt ausgearbeitet ift und viele interefjante Seitenblide auf die Türkenfriege, auf die Unbotmäßigkeit der Schweizer, auf die Thronbefteigung Klemens’ VII. enthält. Er ſchrieb auch Tragödien: 1515 eine „Rosmonda”, nad einer Erzählung des Paulus Diaconus, und 1524 einen „Oreſt“, beide mit ſchönen lyriſchen Chören. Giangiorgio Triffino (1478—1550), ein überaus frommer, waderer Mann, den Leo X. vielfach im diplomatischen Dienft verwendete, bejchäftigte ſich ebenfalls mit dramatijcher Poefie; er jchrieb eine „Sophonisbe“ und mehrere Komödien, in italienifher Spradhe eine Epopöde, L’Italia liberata dei Goti, melde

! Er ftand mit Reuchlin und Erasmus in freunbfchaftlicher Beziehung. Kle- mens VII. jelbit erwähnt ihn höchſt ehrenvoll in einem Breve an die Luremburger vom 8. April 1524: Ex dilecto filio magistro Ioanne Corysio cive vestro, notario et familiari nostro, cuius opera assidue utimur et fide iuvamur, relatu, pietas ad nos vestra perlata est, digna quidem illa vobis vestrisque olim maioribus, sed hoc tempore vehementer necessaria ac nobis valde iucunda et grata (P.Balan, Monumenta reformationis Lutheranae, Ratisb, 1884, 3825). Bol. 3. Burd- hardt a. a. ©. 210 211.

2Herausgeg. von Bloffius Palladius, Nom 15%4. Auch Hutten und andere deutſche Humaniften fleuerten Epigramme auf ben St Annenaltar bei. In einem berfelben fleht der unglüdliche Ritter Yefus, Maria und Anna um Heilung feines franfen Fußes an. Siehe D. F. Strauß, Hutten I 161 162. 8. Geiger, Art. „Goriß“ in der Allgem. Deutſchen Biogr. IX 375.

602 Drittes Kapitel.

aber wenig Ankllang fand und ihm den Wunſch abpregte: hätte er nur fieber den Roland befungen. Denn der Feldherr Belifar ſtand feinem Publikum ebenſo fern als die Goten.

Unter den Gelehrten, welche die verdienftvolle Aufgabe fortjegten, Die alten Klaffiter neu herauszugeben, ragen der venetianiſche Buhdruder Aldo Manuzio (1449—1515) und fein Freund, der gelehrte VBenetianer Andrea Navagero (1483—1529), hervor, der in Aldos Offizin den Drud des Cicero, Terenz, Lucretius, Vergil, Horaz, Tibull, Ovid und Quintilian leitete!. Er dichtete au, zwar nicht viel, aber feine Oden zeichnen ſich durch Schwung und Gehalt wie durch die feinfte Form aus. In fittlihen Dingen war er fireng. Er wollte „jeine Gamönen“, wie er jagte, „rein bewahren“. Deshalb pflegte er jedes Jahr ein Eremplar des Martial zu verbrennen. Den Eatull ließ er noch zur Not pajfieren. Auch die eigenen „Wäldchen“, die er nah Statius’ Vorbild in jungen Jahren verfaßt hatte, übergab er den Flammen. Bei einem Bejuh mit Pietro Bembo in Rom lernte er Raffael fennen, der ihn gemalt hat.

Das Beijpiel Vidas und Sannazard regte noch mande Dichter zu größeren epiichen Verſuchen an. So verfaßte Riccardo Bartolini eine Auftriade (De bello Norico), ®irolamo FFalletti eine Sicambriade (De bello Si- cambrico), Lorenzo Gambara eine Columbiade, Taſſos Zeitgenofje Pietro Angelo de Barga eine Syriade (Syrias, 1591). Der Arzt Girolamo Fracaſtoro von Berona (1483— 1553) dichtete einen „Joſephus“, der faijerliche Leibarzt Paulus Fabricius (1529— 1588) einen „Abraham“ und ein Weih- nachtsidyll, Andreas Nefende aus Evora (1493—1573) einen „Vincentius“.

Drittes Kapitel. Weiterleben des Humanismus außerhalb Italiens.

Auch jenfeitS der Alpen vermochte der gewaltige Sturm der religiöjen Umfturzbewegung das humaniſtiſche Leben nicht fofort zu lähmen, das von Italien aus nad allen Ländern gedrungen war. Merkwürdig genug, dab uns hier im fernen Polen der bahnbredende Aſtronom der Neuzeit als katho— licher Humanift entgegentritt: Nilolaus Copernicus und mit ihm fein Freund Dantiscus.

Johannes Dantiscus, 1485 in Danzig geboren, bereiſte ſchon in jungen Jahren Paläſtina und Italien, war 1508 Geheimſchreiber des

A. Naugerius (Navagero), Opera (ed. I. A. et Caj. Vulpii [Pabua 1718]); Orationes duae carminaque nonnulla (Venedig 1530).

MWeiterleben des Humanismus außerhalb Italiens. 603

Königs Sigismund I. von Polen, fam als Diplomat, Krieger und Höfling in ganz; Europa herum und ward mit den herborragendften Größen jeiner Zeit befannt. Endlih 1533 trat er noch in den Priefterftand, ward Biſchof von Kulm, 1538 Biſchof von Ermeland und ftarb 1548. Die Dichtung war für ihn nur Zufpeife zu einem Leben voll der mannigfaltigften Tätigfeit, aber fie ift e& doch in Hinreihendem Grade, um mit der edeln Gefinnung des Mannes auch defien feine Bildung erkennen zu laſſen.

Ein größeres Gedicht (gegen fünfhundert Verſe) ift feine „Paräneje an Conſtantius Alliopagus“. Es ifl eine Antwort auf den poetiihen Gruß, mit welchem ihn, als er Biichof von Ermeland geworden war (1538), beim Einzug in feine Refidenz Heilsberg Euftadhius von Knobelsdorf, der Sohn des Bürgermeifters, willlommen hieß. In anmutigen, leicht dahinfliegenden Diftihen lenkt er zuerft das ihm gefpendete Lob von fih ab und teilt dann dem angehenden Schüler der Weisheit anſpruchslos und jhliht, belehrend und mahnend, die Schidjale des eigenen Lebens mit: mit welcher Begeifterung er einft der Zukunft entgegenjah, wie er dann gen Baläftina pilgerte und dort den Entihluß faßte, fortan nur der MWiffenihaft und Frömmigkeit zu leben, wie manche Gefahren und Berirrungen an den Höfen der Fürſten ihn von diefem Vorſatz abgelenkt, wie jchwere Arbeiten und Leiden jebt jeiner harren, wie er diejelben aber, als Sühne für die Vergehen feiner Jugend, in Demut und Reue zu ertragen gedenfe. Ungeſucht flechten ſich der Erzählung in innig väterlich-freundlidem Zone die Shönften Ermahnungen an den jungen Freund ein: Zrägheit, Sinnenluft und Neuerungsjudht zu fliehen, fidh begeiftert dem Studium zu widmen und dem Glauben und der Kiche der Väter unverbrüdlich treu zu fein. Zwei andere Gedichte, „Üüber den verlorenen Sohn” und „Qucretia”, zirkulierten nur handſchriftlich im Kreife jeiner Freunde und find nicht zum Drud gelangt. Dagegen ift eine Sammlung von dreißig geiftlihen Liedern erhalten, ganz im Geifte und Stile der Älteren Hymnen des Brevierd gedichte, ohne Einmifhung klaſſiſcher Reminiszenzen, voll berzlider Frömmigkeit, Liebe zur Kirche und Andadt zur jungfräuliden Himmelsfönigin !.

Nikolaus Eopernicus, 1473 zu Thorn geboren, erhielt jeine dumaniftiihde Ausbildung an der Univerlität Krakau, an welcher damals (1491) nicht weniger als fiebzehn Profefforen über Bergil, Ovid, Horaz und andere alte Klaffiter lajen. Manches Jahr brachte er dann in talien zu, wo damals die humaniftiichen Studien in vollfter Blüte ftanden, ftudierte von 1496 an die Rechte in Bologna, pilgerte im Jubiläumsjahr 1500 nad) Rom, fudierte dann in Padua und Ferrara wahrſcheinlich auch noch Medizin

ı $ranz Hipler, Bibliotheca Warmiensis oder Literaturgeſchichte des Bis— tums Ermland I, Braunsberg und Leipzig 1872, 105—111.

604 Drittes Kapitel.

und ward an leßterer Univerfität 1503 zum Doktor des kanoniſchen Rechts promoviert. Bewegten fich feine Studien aud auf andern Gebieten al3 auf jenem der Poeſie, jo waren doch die Fachſtudien noch lange nicht jo getrennt und zerjplittert wie heute. Die fyafultäten an der universitas literaria ihloffen fi) ebenjfowenig gegeneinander ab, wie gegen Schüler und Hörer fremder Nationen. Das ganze wiſſenſchaftliche Leben hatte noch etwas fosmopolitifches, und jo lebte fih Gopernicus nicht nur ganz in die wiljen- ihaftlihe, lateinische Proſa jener Zeit hinein, jondern erwarb ſich aud jo viel Verätehnif, daß er fieben Oden von je fieben Strophen auf die Jugend: geheimniffe des Erlöfers verfaffen fonnte.

Wie poetiſch begeiftert er die Aftronomie auffakte, bejagt ſchon die Einleitung zu feinem großen Wert:

„Was könnte es Schöneres geben als den Himmel, den Inbegriff alles Schönen: haben ja jelbft Weltweife ben geftirnten Himmel feiner Erhabenheit wegen gerabezu als Gottheit verehrt. Die Wiflenichaft der Sternfunde haben viele der Alten mit bem Namen „Bollendbung” belegt, weil fie, die Krone aller freien Künfte, vor allem eines freien Diannes würbig iſt. Die Arithmetif, Geometrie, Optik, Geodäſie, Medanit und wie fie fonft heißen mögen, alle dienen ihr, alle finden in ihr Mittel- und Gipfelpuntt. Wenn es jeder Wiffenihaft eigen, bes Menſchen Gemüt zu adeln und von allem Niedrigen loszufhälen, fo gebührt wiederum diefer Borzug ganz befonders ber Aftronomie, abgejehen von dem Hochgenuß, dem vielfahen Nußen, den ihr Stubium dem Geifte gewährt. Wie wäre ed auch anders möglih? Wie könnte jemand bie herrliche Ordnung des von Gottes Hand geleiteten Weltalld erforſchen, ohne dadurch fich ſelbſt zu einem geordneten Leben, zu allem Guten, ja zum Schöpfer des MWeltalls jelbit, dem Urquell alles Guten, Hingeriffen zu fühlen?“

Überaus ſchön und rührend ift es, wie der geniale Aftronom, der größte jeit Ptolemäus, einer der Pfadfinder der modernen Naturwiflenfhaften, fih und jein Wiffen in dem poetifden „Siebengeftirn“ dem Chrifttind zu Füßen legt, glei den MWeifen aus dem Morgenland, die einft dem Stern zur Krippe gefolgt. Von den fieben in asklepiadeiſchen Verſen abgefakten, Ihlihten und finnigen Oden zeichnet die erfte das Bild, das die Propheten von dem fommenden Meſſias entwerfen, die zweite drüdt ihr Sehnen nad ihm aus, die dritte befingt Chriſti Geburt im Stalle von Bethlehem, die vierte feiert in der Beichneidung den Namen Yeju, die fünfte das Ge heimnis der Epiphanie, die ſechſte die Darftellung im Tempel, die fiebte endlich das Zurüdbleiben und Lehren des zwölfjährigen Jeſukindes im Tempel zu Jerujalem 1.

! Fr. Hipler, Des ermländiichen Bifhofs Johannes Dantisfus und feines Freundes Nikolaus Kopernikus geiftlihe Gebihte, Münfter i. W. 1857. A. Müller 8. J., Nikolaus Copernicus, der Altmeifter der neueren Aftronomie (Ergänzungsheft zu den Stimmen aus Maria-Laach LXXII) 9—11.

Meiterleben des Humanismus außerhalb Italiens. 605

Wie das entlegene Polen, jo fand aud Ungarn einen tücdhtigen Ber- treter der humaniftiichen Beftrebungen in katholiſchem Sinn. Es ift Niko— faus Dläh (Dlähud), der Abkömmling einer walachiſchen Fürftenfamilie, 1493 zu Hermannftadt in Siebenbürgen geboren, 1543 zum Biſchof von Agram, 1553 zum Erzbiihof von Gran erhoben. Er ftand mit den ans gejehenften Humaniften feiner Zeit, bejonders mit Erasmus in Beziehung, dem er in einem Briefe (vom 12. Februar 1532) den mohlbegründeten Vorwurf macht, dab er eigentlich gar nichts zum Ruhme und zum Wohle jeines Baterlandes getan, dasfelbe (in jo jchwerer, gefahrvoller Zeit) ganz im Stich gelaffen habe. Mit großem Eifer pflegte er das Studium des Griechiſchen. Seine ftiliftifhe Fertigkeit bezeugt feine „Chorographiſche Beihreibung Ungarns”, die aber erft 1763 zum Drude kam.

Der junge Knobelsdorf, der Dantiscus bei feinem Einzug im Heiläberg bejungen, bezog bald darauf (1540) die noch dur und durch fatholifche Univerfität Löwen und dann das gemaltige Paris, noch immer die größte Univerfitätsftadt der Welt. Seine geiftvollen und inhaltreichen Briefe an Dantiscus wiſſen nicht genug zu erzählen von der Univerfität, ihren 66 SKollegien und Wohnungen für 40000 Studenten, von den zahl: loſen PBrofefforen und ihren Vorlefungen, von der Gelehrtheit eines Latomus, Galandus, Zuffanus und befonder3 des großen Drientaliften Vatablus. Der junge Dichter felbft pflegte die lateinische Poefie jo eifrig weiter, daß jeine Elegie auf die Stadt Paris (von ca 1500 Verſen) den lebhaften Neid der Parifer Studenten erregte. Sie ſchließt mit den Worten:

Si reducem patrio me forte remiseris orbi, Tu mihi materies, tu mihi carmen eris, Uvida te residens ad flumina divitis Allae Oreades inter te Dryadesque canam. Dantiscus teneri soeium se carminis addet, Dantiscus vatum pontificumque decus. Interea exiguo faveas urbs aequa labori In terris breviter non habitura parem '!.

Schon unter Ludwig XII. Hatte der Humanismus in Frankreich fefte Wurzeln gefaßt, unter Franz I. (1515—1547) gelangte er raſch zu hoher Blüte. Sein erfter Bannerträger war Wilhelm Budeus, ein Jahr nad Erasmus (1467) geboren. Ziemlich autodidaftiih, wenn aud mit Beihilfe des Georg Hermonymos don Sparta und des Janos Laslaris, lernte er Griechiſch, ward 1497 königliher Sekretär und begleitete 1503 eine Geſandt— ihaft an Julius IE. nah Rom, wo er mit den italieniſchen Humaniften in Verbindung trat. Ein großes Werk über die Pandelten (1508), ein

! $r. SHipler, Bibliotheca Warmiensis I 150 151.

606 Drittes Kapitel.

Traktat über die Münzen, Gewichte und Maße der Alten (De asse et partibus eius 1514), eine Brieffammlung und ein griedhijches Lexikon er— warben ihm europäifhen Ruf; er galt bald al& der größte Gelehrte nächfi Grasmus. Franz I. machte ihn 1522 zu feinem Bibliotdelar und begünftigte die hHumaniftiiden Studien in freigebigiter Weije!.

Der bedeutendfte Gräzift neben Budeus war Germain de Brie (Germanus Brixius), föniglider Almojenier und Kanonikus von Notre Dame in Paris, Er hatte in Venedig bei Janos Laskaris und in Padua bei Markos Mufuros Griechiſch gelernt, ftand mit Erasmus im Verlehr und überjegte einen Zeil der Werke des hl. Johannes Chryjoftomus ins Lateiniſche. Er mwetteiferte auch in lateinischen Verfen mit Thomas Morus.

An Budeus und de Brie fchloffen fi als tüchtige Latiniften Ludwig de Ruze, Richter des Zivilhofes, und Franz von Luines, Präfident bes Parlaments, Nikolaus Beranld von Orleans und die beiden Ärzte Johann Ruel und Wilhelm Cop. Als einflußreiher Gönner ihrer Beſtrebungen bewährte fid) Stephan Ponder, Biſchof von Paris, ſpäter Erzbiihof von Sens. Tätigen Anteil an ihren Studien nahmen ber Dominikaner Wilhelm Petit, jpäter Erzbiihof bon Troyes, Jakob Colin, Abt zu St Ambrofius in Bourges, Franz du Bois, Nektor des Kollegs von Tournai, und Johann de Pins, Biſchof von Rieur.

An mehreren Kollegien der Univerfität Paris wurden Borlefungen über griehiihe Sprade und Literatur gehalten, jo an denjenigen von Xifieur, Le Moine und Burgund. Den Hauptmittelpunft der humaniſtiſchen Studien bildete aber das Kollegium Sainte-Barbe, welchem der Portugiefe Jakob de Govea und nah ihm jein Neffe Andreas de Govea vorftand. Etwas Eiferſucht hatte zwiſchen der theologischen Fakultät und der artiſtiſchen immer geherrſcht, und jo kann es nicht befremden, daß, zumal nad dem Auftreten Luthers, ein Teil der Theologen das Wachſen der humaniftiichen Bewegung mit einigem Verdacht und Mikgunft betrachtete. Der Führer diefer Oppo— fition war der Borftand des Kolleg: Montaigu, Noel Beda. Obwohl jeine Anhänger ſehr zahlreih waren, vermodten fie indes wenig auszurichten. Einfihtigere Theologen jahen in den zwei Studienrichtungen feinen wirklichen Gegenfaß?, und unter den Schülern Goveas befanden fi jogar Ignatius

' A, Tilley, Humanism under Francis I. (The English Historical Review XV, London 1900, 456—478). P. Feret, La faculté de Theologie de Paris. Epoque moderne I, Paris 1900, 49-55. Budaei Opera, 4 ®be, Basil. 1557. Rebitte, G. Bude, restauratenr des études grecques en France, Paris 1846.

® Prinzipiell war bie Kirche ihon viel früher für die Pflege der Spraden eingetreten, deren Kenntnis ein tieferes Bibelſtudium erheiſcht. Das Konzil von Vienne (1311) verordnete, dab am „Studium“ an ber römifchen Kurie fowie an ben Univerfitäten Paris, Orford, Bologna und Salamanca je zwei Profefforen ber hebräifchen, arabiſchen und chaldäiſchen Sprache angeftellt werben follten (Clement.

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bon Loyola und defien erſte Freunde und Genoſſen. Paris blieb von dem unjeligen Zwift verfdhont, der in Köln Scholaftif und Humanismus in feindliche Yager auseinanderriß und beide unjäglih ſchädigte.

Im Jahre 1529 legte Franz I. den Grund zu dem neuen College de France, indem er auf dad Drängen feines Bibliothefars Budeus einige neue Profeſſuren an der Univerfität errichtete. Diejelben wurden im fol: genden Nahr auf fünf vermehrt. Als Profeſſoren des Hebräiichen wurden Franz Batablus und Agatho Guidacerio, als folde des Griechiſchen Peter Dans und Jakob Touffain, als folder der Mathematit der Spanier Sohann Martin Boblacion angeftellt. Noel Beda erhob 1534 im Namen der theologiihen Fakultät Einfprade gegen die Neuerung, mit Rückſicht auf die Gefahren, die daraus für die Erklärung der Heiligen Schrift erwachſen fünnten. Die Sade gelangte an das Parlament, deſſen Entſcheidung nicht erhalten if. Doch muß fie für die neue Einrihtung günftig ausgefallen jein, da nicht nur die ernannten Profefforen in Tätigkeit blieben, jondern nod im jelben Jahr ein eigener Lehrftuhl für Latein errichtet wurde. Den- jelben befleidete zuerjt der Luxemburger Bartholomäus Maſſon (Latomus). Im Jahr 1539 kamen nod drei neue Profeffuren Hinzu, eine zweite für Mathematik, eine für Philoſophie und eine für Medizin.

Budeus’ Nachfolger als königlicher Bibliothefar wurde 1540 Peter du Ehaftel, der fi lange im Orient aufgehalten hatte, jpäter Biſchof von Mäcon, Tulle und Orleans wurde, ein überaus bvieljeitiger Gelehrter. Er vermehrte die königliche Bücherei namentlih mit anjehnliden Sammlungen griechiſcher Bücher, die teild in Venedig teils in Rom für hohe Preife auf: gelauft wurden. Die griehiihen Handſchriften zu Fontainebleau beliefen ſich 1545 auf hundertneunzig und leijteten große Dienfte, da fie den Gelehrten leicht zugänglih waren. Im Jahr 1528 begann man aud in Paris griechiſche Bücher zu druden; an der Sorbonne erſchienen ihrer 1530 nicht weniger ala elf.

Eifrige Pflege fanden die humaniftiihen Studien ebenfalls in Bordeaur, Nimes, Bourges, Orleans, Touloufe, Montpellier und vor allem Lyon.

Als Dichter werden erwähnt Johann Salmon (Salmonius Mtacrinus), den man jogar den franzöſiſchen Horaz nannte, Anton de Govea, Gilbert, Ducher, Simon Ballambert, Claudius Rouffelet und Johann Voulté. Am bebdeutenbften nächſt den 1519 erjhienenen „Carmina“ bes Bririus bürften die „Poemata* des Theodor Beza fein, welche 1548 herausfamen.

Bon den Schuldramen des Tirier de Raviſi (Ravisius Textor), welcher von 1500-—1524 am Kollegium von Navarra lehrte, find nur einige Dialoge erhalten,

e. 1, lib. 5, tit. 1). Hefele, Konziliengeſchichte VI?, Freiburg 1890, 545. Ein tüchtiger Kenner des Hebräifhen war ſchon der deutiche Dominikaner P. G. Schwarz (Niger), ber, 1434 geboren, um 1483 jtarb.

608 Drittes Kapitel.

welde fi ganz den mittelalterligen Dtoralitäten anfchhließen!. Die handelnden Per- fonen find: ber Menih, bie Erbe, bie Weltfinber, bie Kirche, der Reichtum, die Sünbe, der Tod, bie Srankheit, der freie Wille ufw.; die Scenen find mehr oder weniger bialogifierte Predigten, aber Tebenbiger und friſcher als viele biblifche Stüde ber fpäteren Zeit. Bon Bartholomäus be Loches, Prior in Orleans, erichien 1537 ein Paffionsfpiel, Christus Xylonicus, das gegen bie mittelalterliden Stüde Thon einigen technischen Fortſchritt aufweiſt?.

Die franzöfiihen Humaniften diefer Zeit taten fih übrigens ſchon weniger durch Poefie hervor als durch philologishe und antiquarische Ge: lehrſamleit. Jacques Touſſain (Tussanus) wurde als Grammatiter und Lerilograph berühmt. Sein Schüler Henry Eftienne (Stephanus) gab etwa 170 alte Klaffiter heraus; feinen Hauptruhm bildet der riefige Thesaurus linguae graecae, eine der grundlegenden Arbeiten der neueren Sprachwiſſenſchaft, die aber dem verdienftvollen Unternehmer zwölf Jahre angeftrengtefter Arbeit und ſchließlich auch jeinen Wohlftand koftete. Adrien QTurnebe, der 1547 von Touloufe an die Stelle des geftorbenen Touffain nad Paris berufen wurde, machte ſich ebenfalls vorzugsweiſe durch Heraus- gabe, Erklärung und Überfegung der Mlaffiler verdient. Marc-Antoine Muret (1526—1585) erwarb ſich den von vielen angeftrebten und über: mäßig hoch angeihlagenen Ruhm, in feinem lateinishen Stil durch Reichtum wie Genauigfeit und Wohlflang beinahe Eicero zu erreihen. Als ihn un- geheuerliche, wie es jcheint, verleumderifche Anklagen 1554 aus Frankreich vertrieben, fand er in Jtalien die glänzendfte Aufnahme, nicht nur bei den Humaniften wie Bembo, Aldo Manuzio, fondern auch bei dem kunftliebenden Kardinal Hippolyt von Eſte und bei Pius V. ſelbſt. Trotz all des hohen Ruhmes find feine Reden ziemlich froftig, und feine geledten und korrekten Gedichte ermangeln noch mehr des inneren poetifchen Lebens ®,

Keine geringere Formgewandtheit, aber dazu wirklich eine gute Dofis poetiſcher Infpiration befaß Georg Buhanan (1506—1582), der zwar jeiner Abftammung nad Schottland, feinem religiöfen Bekenntnis nach dem Galvinigmus angehört, aber die beften Jahre feiner humaniftiich - poetijchen Tätigkeit in Portugal und Frankreich zubradtet. Er madte ſchon einen

! Massebiau, De Ravisii Textoris comoediis, Paris. 1878. Faguet, La tragedie frangaise au XVI* siöcle, Paris 1883.

® Nicolai Bartholomaei Lochiensis Christus Xilonicus, Tragoedia cum ob romani sermonis puritatem, tum ob sanctissimi argumenti dignitatem in theatra, in scolas, in bibliothecas ultro accersenda, Coloniae, excudebat Joannes Gymnicus, anno 1537.

» M.A. Muretus, Orationes XXIII (Benebig 1575); Opera omnia (Berona 1727—1750); ed. D. Ruhnkenius (Leiden 1789); ed. H. Frotschner (Leipzig 1831—1841); Opera selecta (Pabua 1740/41).

*G. Buchanan, Franeiscanus et Fratres (Schmähſchrift), Basilene (ohne Datum); Iephthes seu Votum (Paris 1554); Baptistes sen calumnia (Edinburg

Weiterleben des Humanismus auberhalb Italiens. 609

Zeil feiner Studien in Paris, war dann drei Jahre Profeffor am Kollegium Sainte:Barbe. Wegen Angriffen auf die Mönde 1539 in Schottland ein- geferfert und zur Flucht genötigt, Hielt er ſich in Paris jelbit nicht für ficher, jondern folgte dem Rufe des gelehrten Portugiefen Andreas Govea, der ihn nad Bordeaur einlud. Nachdem er hier drei Jahre doziert hatte, wagte er ih nad) Paris, lehrte und dichtete während der Jahre 1543 und 1544 dajelbft an der Seite Murets und Zurnebes, folgte dann wieder Andreas Govea, der ihm eine Brofeffur in Goimbra verſchaffte. Nah einem Jahre ftarb indes Govea, und da die von Buchanan ſchwer gefränkten Mönche es erwirkten, daß er in einem Kloſter eingefperrt wurde, floh er nad Frank— reih und Piemont, wo ihn der Marihall Briffac zum Erzieher feines Sohnes ernannte. Im Jahre 1560 kehrte er endlih nad Schottland zurüd, ward von Maria Stuart zum voraus zum Erzieher ihres zu erwartenden Sohnes ernannt, erwiderte aber diefe Huld damit, daß er eine Penfion bon 100 Pfd. St. von der Königin Elifabetd annahm und fid auf die Seite der Feinde Marias ftellte. Ihren tragiihen Tod erlebte er nicht mehr. Ihr Andenken hat er im feiner fchottiihen Geſchichte mit größter Parteilichkeit beihimpft. Seine Heineren Gedihte (Dden, Epigramme, Elegien) und jeine Dramen „Jephthe“ (1554 dem Marſchall Briffac gewidmet) und „Baptiftes” fanden zahlreihe Leer und wurden mehrfah neu aufgelegt. Charakteriſtiſch für feinen fittlihen Standpunkt ift e&, wenn er in einem Gedichte es aufs innigjte betrauert, daß der Magiftrat von Bordeaux die „ſchlechten Häuſer“ geſchloſſen.

Gemütlich blühte der Humanismus in Belgien und in den Niederlanden weiter, die ſich nur zum Teil um 1566 von Spanien und von der Kirche losriſſen. Wohl wenige Italiener haben die Formſchönheit der altrömiſchen Elegiker in dem Grade erreicht wie der jugendlich Johannes Secundus (Jan Nicolai Everaerts) in ſeinen Elegien, Basia, Epigrammen, Oden, Epiſteln und vermiſchten Gedichten!. Im Jahre 1511 im Haag geboren, zeigte er Schon als Knabe das außergewöhnlichite Talent für lateinische Poeſie, verſuchte fih mit Glück au in Skulptur und Malerei, erhielt mit zwei— undzwanzig Jahren zu Bourges den Doktorhut der Rechte, ward Selretär des Erzbiihofs von Toledo, begleitete Karl V. 1534 auf feiner Fahrt nad Zunis, trat nad) feiner Rückkehr in den Dienft Georgs von Egmond, Biſchofs

1578; London 1578); De Maria Scotorum regina (London 1572); Poemata quae extant (Beiden 1628, Elzevir); Rerum Scoticarum historia (Edinburg 1582); Opera omnia (Edinburg 1715; Leiden 1725); Autobiographia (Frankfurt 1608; Edinburg 1702). D. Irving, Memoirs of the life of B.?, Edinb. 1817. Vauthier, De Buchanani vita et scriptis (1886).

"IN. Secundus, Opera omnia, ed. P.Scriverius (Leiben 1619 1631; Paris 1748; ed. P. Bosscha, Leiden 1821).

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4 Aufl. 39

610 Drittes Kapitel.

von Tournai, erlag aber ſchon 1536 einer Krankheit, die er fih auf dem afrikaniſchen Kriegszuge geholt. Leider hat er die römiſchen Erotifer nicht blok in der Anmut der Form, ſondern aud in einer ungebundenen, leiden- Ihaftlihen Lüfternheit nachgeahmt, die ſich mit firengerer Zucht und Sitte nicht vereinbaren läßt. Wenn er dennoch auch in den höchſten Firdplichen Kreifen die größte Gunft fand, jo zeugt dies dafür, daß man gegen Kunſt und Künſtler eine gewilfe Milde und Nachſicht walten ließ, jedenfalls weit von jenem funftfeindlichen Fanatismus entfernt war, weldher dem ſpaniſchen Epiftopat jo oft vorgeworfen worden ift.

Ernfter und würdevoller ift der niederländiihe Humanismus durd den gelehrten Juſtus Lipfius (eigentlich Joſt Lips) vertreten!., Er wurde 1547 in einem Dorf zwiſchen Brüffel und Löwen geboren und erhielt feine höhere Ausbildung von 1563 an im Sefuitenkollegium zu Köln. Vermöge einer auberordentlihen Begabung machte er jo glänzende Fortſchritte, daß er ald Zmwanzigjähriger 1567 den Kardinal Granvella als Sekretär nad Rom begleiten fonnte. Dort blieb ihm Muße, zugleih die alten Denkmäler und Inſchriften wie die koftbarften handjchriftliden Schätze der ewigen Stadt zu fludieren. Nah feiner Rüdkehr lehrte er mit Glanz an zwei proteftantifhen Univerfitäten, von 1572—1574 zu Jena, von 1579 bis 1590 zu Leiden, und gelangte hier, bejonder& durch feinen ausgezeichneten Kommentar zum Tacitus und andere philologiich-antiquariiche Werke, zu einem europäifhen Ruf. Die Anhänglichkeit an den alten Glauben fiegte indes über alle irdiihen Lodungen und Rüdfihten. Er verließ Leiden und nahm von dem vielen Anerbieten, welche nun katholifcherjeits an ihn ergingen, bon Papft Klemens VIIL, König Heinrih IV. von Franfreih, Herzog Wilhelm von Bayern, dem KHurfürften von Köln, der Republit Venedig, den Biihöfen von Würzburg, Salzburg und Breslau, der Univerfität Löwen, den legteren Ruf an und wirkte an dieſer Hochſchule bis zu feinem Tode 1606, auch jetzt als einer der größten Gelehrten feiner Zeil anerfannt. Am meiften Verdienſt erwarb er ſich durch jeine Erläuterungen zu Tacitus, den beiten Kommentar, der bis dahin zu einem römiſchen Schriftiteller erſchienen

! I. Lipsius, Opera omnia quae ad criticam proprie spectant (Antiverpen 1585, Leiden 1596 u. ö.), Politicorum libri VI (Zeiben 1589), Adversus dialogistam (Leiden 1590), Diva Virgo Hallensis (Antwerpen 1604), Diva Sichemensis (ebd. 1605), De ceruce libri III (ebd. 1593), Manuductiones ad Stoicam philosophiam (ebd. 1604), Physiologiae stoicorum libri III (ebd. 1604), Epistolarum select, Chilias (Avignon 1609), Epistolarum praetermissarum decades VI (Offenbad 1610), Opera omnia (yon 1613, Antwerpen 1614 1637, Wejel 1675). Del- prat, Lettres inddites de Juste Lipse, Amsterdam 1858. F. de Reiffen- berg, Comm. de I. Lipsii vita et scriptis, Bruxellis 1823. Räß, Die Kon- bertiten feit der Neformation III 159 ff. Allgem. Deutſche Biographie XVII 741 ff. Bibliographie Lipsienne, Gand 1886.

Meiterleben be Humanismus außerhalb Italiens, 611

war. Für feinen eigenen Stil war die anhaltende Beihäftigung mit Tacitus und Seneca nit günftig. Beſonders jein Briefmechjel, 805 Nummern ftarf, leidet an geſuchtem und gejchraubtem Stil. Seine vielen und ſcharf— finnigen Unterfuhungen aber bedeuten eine wichtige Etappe in der Weiter- bildung des älteren Humanismus zur neueren Philologie.

Die mädtigfte Stüße hatte der Fatholiihe Humanismus in den Nieder: landen an den Brüdern des gemeinjamen Lebens, aus deren Schulen während des 15. Jahrhunderts die tüchtigſten Schulmänner und Gelehrten, ein Wimpheling und Hegius, ein Nikolaus von Cues, ein Thomas bon Kempen, ein Erasmus, ein Rud. Agricola, hervorgegangen waren und deren unmittelbarer und mittelbarer Einfluß fi noch tief in das 16. Jahrhundert hinein erftredte!. Von den erften Anftalten zu Deventer und Zwolle breiteten fie fih über die ganzen Niederlande aus. Sie hatten Schulen in Hoorn, AUmersfoort, Doesburg, Harderwijt, Hülsberg, Herzogenbuſch, Gouda, Lüttich, Gent, Albergen, Groningen, Brüffel, Utreht. In Deutſchland hatten fie Niederlaffungen zu Münfter, Köln, Wejel, Osnabrüd, Kulm, Roftod, Emmerih und Hildesheim.

Hauptfählih durch die „Fraterherren“ Hat die katholiſche Pädagogik jene Geftaltung gewonnen, welche der nım bald auftauchenden Jeſuitenſchule al3 Grundlage diente. Durch fie erhielt ſich eine echt chriſtliche Auffaffung des Haffiihen Unterrichts, eine maßvolle Betreibung desfelben, zugleih mit großer Begeifterung für die alten Literaturen bis tief in die Kämpfe des Jahrhunderts hinein. Durch fie ift auch ſchon das Schultheater zu einem wichtigen Bildungsmittel erhoben worden, defjen jih dann die proteftantijchen wie die fatholiihen Pädagogen, unter diefen namentlid die Jefuiten, mit größtem Eifer bemädhtigten, und das auf die Entwidlung des Schaujpiels in ganz Europa feinen unerheblihen Einfluß gehabt hat?.

Das früheſte jelbftändige Schuldrama dürfte der „Stylpho“ des Jakob MWimpheling jein, der während feines Aufenthaltes in Heidelberg (1469 bi3 1483) zur Aufführung kams. Ebenfalls in Heidelberg wurden um 1496 Reuchlins Stüde Henno und Sergius gegeben.

G. H.M. Delprat, Verhandelingen over de broederschap van Geert Groote en over den invloed der fraterhuizen, Arnhem 1856. K. Grube, G. root und feine Stiftungen, Köln 1883.

2 M. D’Huart, Le theätre des Jösuites. I* Partie: Les exercices dramati- ques dans les 6tablissements d’instruction au moyen-äge et au seiziöme siöcle, Luxembourg 1891. ®. Bahlmann, Die Erneuerer des antilen Dramas unb ihre erjten dramatifchen Verſuche 1314—1478, Münfter 1896. Bibliographie bei P. Bahlmann, Die lateinifhen Dramen von Wimphelings Stylpho bis zur Mitte bes 16. Jahrhunderts, Diünfter 1893.

° Herauögeg. von 9. Holftein, Berlin 1892.

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612 Drittes Kapitel,

Als den vorzüglichften der neulateiniſchen Schuldramatifer bezeichnet Goedefe mit Reht Georg Mafropedius (d. h. Lankveld oder Langhveldt), der nit nur Katholif, fjondern jogar Ordensmann war, Hierongmitaner oder Mitglied der Brüderfchaft vom gemeinjamen Leben. Er galt als der größte Grammatifer feiner Zeit, verftand außer den zwei Haffiihen Spraden aud Hebräiih und trieb ebenfalls Mathematik. Wahrſcheinlich um 1475 zu Gemert bei Herzogenbuſch geboren, trat er jung der genannten Genoflen- Ihaft bei und ward zuerjt Vorſtand der ſtarkbeſuchten Brüderjchule zu Herzogenbuſch, welche um jene Zeit als die befte aller Brüderſchulen galt. Bor 1539 bis fiber 1552 war er Rektor in Utrecht und ftarb 1558 in Herzogenbujh. Eine Sammlung feiner Stüde von 1552 und 1553 enthält in zwei Bänden elf Komödien: I. Aotus, Lazarus, Joſephus, Hekaſtus, Adamus, Hypomone; II. Aluta, Rebelles, Petriscus, Andrisca, Bafjarus. Dazu jchrieb er noch eine Passio Christi (vor 1545), einen Iesus Scho- lasticus (1556), eine Susanna und eine Dimulla. Die nicht bibliſch— hiſtoriſchen Stoffe find frei erfunden, Sittenbilder, dazu angetan, die Jugend von moralifhen Gebrehen und Laftern abzujchreden.

„Ein entſchiedener Sinn für fünftlerifhe Kompofition tritt hervor. Er verfährt nicht, wie fo oft jene frommen aber unfähigen Dramatiker feines Jahrhunderts, welche zur abgeblabten Allegorie wie zu langen Gitaten aus der Bibel ihre Zuflucht nehmen, um den Mangel an Geftaltungsfraft zu verhüllen, welde uns bejtändig erinnern, daß ihre Perfonen nichts ald Drahtpuppen find. Er darakterifiert lebendig, anihaulih, nad ber Natur; oft find die Perfonen mit wenig Stridhen gezeichnet. Makropedius kennt die Pflicht des Dramatifers, die Menſchen auf der Bühne ihrem Charakter und der Situation gemäß ſprechen zu laſſen, jehr gut. Er hat einen ſcharfen Blick für die Geftalten des bürgerlihen und wirklichen Lebens. In der Darftellung bes Hausweſens gleicht er mandem Maler ber niederländiſchen Schule hinſichts der rüdfichtslofen realiftiichen Treue. Seine Erfindungskraft ift freilich nicht jehr groß; nur wenige Typen finden fi im ganzen. Seine urfprünglie Begabung aber für das Drama zeigt fi in dem geſchickten Scenenbau, in den bühnenmäßigen Wirkungen, bie er zu erzielen weiß. Er verfteht zu ſpannen, zu fleigern, zu fon- traftieren, abzutönen. Der Dialog ift lebhaft und frifh, der Witz meift wortipiel- artig. Dft erzielt er eine komiſche Wirkung durch die Parodie der tragiſchen Sprade. Das Latein ift in den erften Stüden, befonders in den ‚Rebelles‘, noch wenig flüffig und korrekt, jpäter zeigt Mafropedius größere Leichtigkeit und hütet fi mehr vor ganz unklaffiihen Wendungen. Bei Reudlin ift der Chor noch ganz prinzipienlos behandelt und ohne rechten Rhythmus; bei Makropedius ift er funftvoller, und neben jambijchen und trochäiſchen Verjen wendet er bejonders Strophen des Horaz an.“ !

Auch ein anderer der fruchtbarften und beliebteften Schuldramatiker gehört noch der alten Kirche und ebenfalls den Niederlanden an: Gornelius

1D. Jacoby, Macropedius (Allgem. Deutfhe Biographie XX 21 22). Bibliographiihe Angaben über die einzelnen Stüde bei Goedele, Grundriß II*, Dresden 1886, 135 186.

MWeiterleben bes Humanismus außerhalb Italiens. 613

Schonaeus, der 1540 zu Gouda geboren, in Löwen fludierte und 1611 als Rektor zu Harlem ftarb!. Sein Terentius Christianus (seu Comoediae sacrae, tribus partibus distinetae, Terentiano stylo conscriptae) um: faßt fiebzehn meift bibliihe Stüde: Naaman, Tobias, Nehemias, Saulus, Zofephus, Daniel, Sufanna, Judith, der Triumph Chrifti, das Pfingftfeft, Ananias, dazu mehrere moralifierende Komödien (Dyscoli, Vitulus, Pseudo- stratiotae). Die Komik der letzteren ift mitunter ziemlich derb und volks— mäßig. So wird 3. B. im Vitulus ein Bauer in eine Kalbshaut eingenäht und als Kalb verfauft, von einem Schlächter für bejejfen gehalten, von einem Geiftlihen erorzifiert ꝛc. Sprade und Ausdrud find gewandt, fließend und meift forreft. Was aber feinen Stüden einen bejondern Vorzug verlieh, war, da er alle „Amores” vermied und jo eine der Hauptſchwierig— feiten der Schulkomödie bejeitigte.

Ebenfalls in Löwen ftudierte Jakob Schöpper, der 1514 zu Dortmund geboren, 1554 dafelbit als Latbolifcher Geiftlicher ftarb. Von ihm find fünf biblifche und ein allegorifhes Stüd gebrudt: „Die Enthauptung bes bl. Johannes“, „Der Zweilampf Davids mit Goliath“, „Das verlorene Schaf”, „Die Verfuhung Abrahams”, „Euphemus oder ber beglüdwünichte Jakob“ und „Der Kampf der Wolluft und der Tugend“.

Der Minorit Levin Brecht aus Antwerpen jhrieb außer einem „Wäldchen frommer Gedichte" auch einen Euripus, eine hriftliche Tragödie von der Unbeftändig- feit bes menſchlichen Glüdes (1549); Gregor Holonius, wahrſcheinlich ein Ordensgeiftliher aus Lüttih (1556), drei Märtyrerdramen: „Katharina”, „Lam— bertus“ und „Zaurentius*. Eine „Dido“ verfaßten um bdasjelbe Jahr (1559) ſowohl Gerardus Dalanthus als Petrus Ligneus (van ber Haute) aus Flandern.

CorneliusLaurimanus, Schüler und (1554) Nachfolger des Mafropebius an der Schule zu Utrecht, jehrieb einen Exodus, eine „Efther”, eine „Ihamar”, einen „Tobias“ und einen Miles christianus.

Peter von Dieft bearbeitete das engliſche Moral play (Sittenjpiel) Every man in niederländifcher Sprade, der Geiftlihe Ehriftian Iſchyrius (Öterd) zu Maeftriht Iatinifierte dasjelbe 1536. Cornelius Erocus, ber 1550 als Jeſuit in Rom ftarb, Hinterlieg ein Drama ‚„Joſeph“. Jakob Zovitius von Drieichar, Rektor zu Breda, fchrieb drei Dramen: Ruth, Didascalus, Ovis perdita. Andreas Fabricius, ber 1520 bei Lüttich geboren, 1581 als Propft zu Altötting jtarb, jchrieb ebenfalls drei Dramen: Religio patiens, Samson, leroboam rebellans, Bom Jahre 1580 batiert find die Stüde des Jakob Vivarius De Petro paenitenti und De redemptione nostra.

Petrus Papaeus aus Flandern jchrieb 1539 einen Samarites, Comoedia de Samaritano Evangelico; Petrus Philicinus, Lehrer zu Binde in Hennegau 1544 eine Comoedia tragica, quae inseribitur Magdalena Evangelica und 1546 einen Dialog De Isaaci immolatione. Libertus ab Hauthem aus Zongern, gefrönter Dichter und Profeffor zu Mons, ließ zu Lüttid (1574) ein Theatram vitae

!C. Schonaei Terentius christianus seu Comoediae sacrae (vollftändigfte Ausgabe: Amfterdbam 1629, andere Ausgaben verzeichnet bei Goedeke a. a. O. II 143).

614 Viertes Kapitel.

hitmanae, (1575) bie Tragilomödie Gedeon erfcheinen. Andreas Hojus aus Brügge, Rektor zu Arras und Bethune, gab (1587) zwei geiftliche Tragödien Matthaeus und Machabaeus heraus. Der Benebiltiner Cornelius a Marca zu Gent (geft. 1629) verfahte einen „Jephthe“ unb andere bibliihe Stüde.

Builielmus Gnaphaeus (Willem van be Volbersgroft ober be Volder), 1492 im Saag geboren, 1568 in Norben geftorben, genoß feine Erziehung ebenfalls noch in ben Kreifen bes katholiſchen niederländifhen Humanismus, fiel dann aber zur Neuerung ab und mußte 1580 nad Deutſchland fliehen. Er ſchrieb mehrere Komödien: Triumphus Eloquentiae, Morosophus, Hypoerisis, Misobarbus, Am meijten Erfolg hatte fein Acolastus, eine dbramatifierte Bearbeitung der Parabel vom verlorenen Sohn. Sie wurde von 1520—1581 breißigmal net aufgelegt.

Biertes Kapitel. Der Humanismus im Dienfle der neuen Tehre.

Nachdem Luther das allgemeine Prieftertum verkündet und die deutjche Sprade zur liturgiſchen, zur Kirchenſprache erklärt hatte, wäre es folgerichtig gewejen, nicht bloß mit der kirchlichen Überlieferung, mit dem beftehenden Kirhenreht und mit der jcholaftifhen Theologie, jondern auch mit der patriftiihen Literatur, mit dem hergebrachten Humanismus, mit dem Latein als Sprade der Theologie und der Wiſſenſchaft überhaupt zu brechen. Das vielgepriefene Zurüdgehen auf die „unverfälſchten“ griechiſchen und hebrätichen Terte des „Gotteswortes“ in feiner Bibelüberfeung kann nit ala ein Schritt in diefer Richtung betrachtet werden. In der großen Polyglotte des Sardinal® Ximenes war bderjelbe bereit3 getan, in einer viel um: fafjenderen, gründlidheren, für Glauben und Wiſſenſchaft ausgiebigeren Weiſe. Die alte Kirche fürchtete weder Sprachwiſſenſchaft noch Bibelkritik: ihre Überlieferung ftand mit den Sprachen beider Teftamente in ununterbrochener Beziehung; ihre Lateinische Yulgata war die ehrwürdigſte und erprobtefte aller Überſetzungen, wenn fie aud der Berbefjerung fähig war. Ziefer ſchnitt Luthers Bibelüberfegung dadurd ein, daß er die Bibel an die Stelle des firhlichen Lehramtes fehte und fie in diefem Sinne dem gemeinen Mann in die Hand gab, damit diefer fürder weder des Papftes nod des Biſchofs noch des Priefters bedürfte.

Der Spielraum, den er in Bezug auf die Offenbarung dem Privat: urteil überließ, führte indes alsbald einen ſolchen Wirrwarr herbei, daß er ihn wieder einzudämmen ſuchen mußte!. Der große Bauernaufftand, das

ı In Bezug auf Luther hat Döllinger die treffende Bemerkung gemadt, „dab zwijchen feinen Iateinifhen und feinen deutſchen Schriften ein großer Unterſchied ift. In den letzteren Liegt feine Stärke und (teilweife) das Geheimnis feiner auber:

Der Humanismus im Dienfte ber neuen Lehre. 615

ſchauerliche Treiben der MWiedertäufer in Münfter, die jelbftändigen neuen Lehren Zwinglis, Galvins u. a. drohten die ganze Herrlichkeit des neuen Evangeliums in vollftändige politiiche, foziale und religiöje Anardie auf- zulöjen. Wenn die auseinanderftrebenden Elemente nit dem Widerftand der noch lebensfräftigen alten Kirche und ihrer Anhänger erliegen jollten, mußten fie fi) mwenigftens äußerlih auf eine faßbare Glaubensformel, auf beftimmte Belenntnisfhriften vereinigen, ihr Syftem theologiſch verteidigen, der alten Kirche ein jelbftändiges Kirchentum, ein eigenes höheres und niederes Schulwejen, eine felbftändige Wiſſenſchaft entgegenftellen. Bauern: frieg und Bilderfturm hatten fi auf deutſch machen laffen. Zu all jenen erhaltenden oder aufbauenden Arbeiten aber konnte man wenigſtens vor- läufig des Lateiniſchen nicht entraten. Lateinifh wurden die zahlreichen Glaubensgejpräde und Disputationen gehalten, lateiniſch wurden die erſten und bedeutenditen Bekenntnisſchriften abgefaßt, lateiniſch wurden diefelben bon den gelehrteften Anhängern der neuen Lehren erläutert, begründet und verteidigt. Lateinisch Forrefpondierten die theologiihen Häupter unter fi, zum Zeil auch mit ihren Landesherren und mit ihren Gegnern. Lateinisch blieb die Sprade der Wiſſenſchaft und des gelehrten Unterrichts. Me— lanchthon, der Praeceptor Germaniae, tat alles, um den Humanismus auf den neuen Boden zu verpflanzen und bon der Grammatif auf bis in die Dogmatik alles in erträgliden Einklang mit der neuen Lehre zu bringen .

Durch dieſes Einlenfen von der Bahn des jchroffften religiöfen Um— fturzes hat ſich der fanfte, humaniſtiſch wohlgefhulte Melanchthon um die deutſche Bildung BVerdienfte erworben, die allgemeine Anerkennung verdienen. Er Hat zahlreiche der abgeriffenen Fäden wieder angelnüpft und die nun— mehr Getrennten fo gut als möglich mit der bisherigen wiſſenſchaftlichen und literarifhen Entwidlung der europäifhen Welt in Berührung erhalten.

ordentlichen Erfolge, während die Theologen in Frankreich, England, Italien, Spanien, welche bloß jeine lateiniſchen Schriften lafen und in denfelben weder befonbere Be- rebjamfeit noch glänzenden Scharffinn oder imponierende Erudition fanden, vielfach ihre Berwunderung darüber äußerten, daß biefer Mann in Deutihland jo vergöttert werde und jelbft unter den Gelehrten jo viele Anhänger und Verehrer habe“ (Döl: linger, Art. „Quther” in Weber und Weltes Kirchenlexikon VIII?, Freiburg 1893, 345).

i Melanchthonis Opera (ed. Bretschneider et Bindseil, Corpus Reformatorum I—XXVII, Lipsiae 1834—1860); Epigrammata (Wittenberg 1560 1562 1575; Frankfurt a. M. 1583; überjeßt von Oberhey, Halle 1862). l. Camerarius, De Ph. Melanchthonis ortu ete., Lips. 1566. 2%. Schmidt, Phil. Melanchthon, Leben und ausgewählte Schriften, Elberfeld 1861. K. Hart: felber, Ph. Melanchthon als Praeceptor Germaniae (Monum. Germ. paedagog. VIT), Berlin 1889.

616 Viertes Kapitel.

Wie fih die einzelnen Wiſſenſchaften auf der neuen Grundlage ent- faltet haben, können wir hier nicht eingehender verfolgen. Am meiften litt die von Luther jo bitter gejhmähte und veradtete Philoſophie, die denn auch bis auf Leibniz feinen namhafteren Vertreter fand, d. h. bis auf einen Denker, der ſich von der altproteftantifhen Dogmatik völlig losgemacht hatte und fih auf allen Punkten der fatholiihen Lehre näherte, ja eine Wieder: vereinigung der Getrennten lebhaft betrieb. Die Zerfahrenheit der ver- ſchiedenen Selten und Lehrigfteme ließ den Proteftantismus zu feinem ab- geſchloſſenen dogmatiſchen Lehrgebäude fommen, das der katholiſchen Dog- matit und deren Repräfentanten gegenüber einen imponierenden Eindrud machen könnte. Selbft in den biblifchen Studien vermochten fie die Katholiken nicht zu überflügeln. Auf allen andern Gebieten ftehen den proteftantiichen Leiftungen gleichwertige und oft bedeutendere der Katholiken gegenüber. Namentlih find die Naturwiffenfchaften der neuen Lehre zu geringem Dank verpflichtet; denn fie wurden durch diefelbe mehr gehemmt als gefördert. Die großen Bahnbreder auf dem Gebiete der modernen Erfindungen ftehen meift auf fatholiihem Boden, wie Gopernicus, Galilei, Descartes, oder näherten fi ihm, wie Kepler.

Jene Neubelebung antifer Kunſt und Literatur, jenes Neid der voll: endetſten Harmonie und Schönheit, wie es die Humaniften am Anfang des 16. Jahrhunderts erträumt hatten, blieb im Norden der Alpen ein bloßer Traum, und nad unfäglihem Kampf und Hader endigte die furdtbare Ent: täufhung in den Schredniffen und Verwüſtungen des Dreikigjährigen Krieges.

Die unbefangene Freude und Begeifterung, mit welcher die italieniſchen Künftler und Dichter der Renaifjance fih dem Studium der Alten ergaben und deren Formſchönheit in allen Arten von Stoffen, chriſtlichen wie antiken, nahzubilden ſuchten, ward den Deutihen durch unaufhörliches politiiches und religiöjes Gezänfe vergält. Auch fie wurden in den Hader und die Polemik des Tages Hineingezogen. Wie Cranach Handlangerdienite leiſten mußte, um die alte Kirche zu verhöhnen, mußten die Poeten und Magiftri der ſchönen Künſte vor allem in Vers und Proſa den „Antichrift” befämpfen, das neue Evangelium verherrlihen und den Fürſten lobfingen, die ſich aus dem geraubten Kirchen- und Kloſtergut neue Schlöffer und Paläfte bauten, der Mehrzahl nah aber auf Zafelfreuden und andere materielle Genüffe mehr Geld verwendeten als auf die ſchöne Kunſt. Köche wurden befjer bezahlt als Profefjoren und Dichter. Die meiften Poeten hatten darum mit jehr widrigen Lebensihidjalen zu ringen, wenn nicht eine Anftellung als Prediger fie der drüdendften Sorgen überhob, dann aber aud mehr oder weniger nötigte, ſich vorzugsweiſe religiöfer Dichtung zuzumenden, innerhalb des engen Rahmens, den das „vergeiftigte“ Chriftentum und fein verödeter Kultus der Poeſie noch gönnte.

Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 617

Unter den neulateinischen Poeten begegnet und deshalb vor allem eine unabjehbare Menge von Predigern, Schulreftoren, Univerfitätg:- und Gym: nafialprofefjoren, welde die Pfalmen in horaziſche Versmaße bringen, das Neue Teftament oder vereinzelte Bücher und Erzählungen des Alten in Herametern bearbeiten, kirchliche und erbauliche Lieder aller Art in die ver: Ichiedenften antifen Strophenmaße umjegen, endlid in einer Unzahl von Gelegenheitägedihten Fürften und Potentaten, geiftfihe und weltliche Feſte, Kichweihen, Taufſchmäuſe, Hochzeiten, Beerdigungen, Inftallationen, all: gemeine Freuden und Sataftrophen befingen.

Melanchthon befak noch Geihmad genug, um fi mit Epigrammen zu begnügen; aud die Elegien jeines Schwiegerſohns Georg Sabinus, de3 erjten Rektors der Univerfität Königsberg, verraten nod den Humaniften der älteren Schule!. Ebenfo zeigt Jakob Micyllus (Molger 1503—1558), Rektor zu Frankfurt a. M., in feinen Elegien und Sylben wie in jeiner Mojelreife noch den eigentlich humaniftiihen Poetentrieb?. Joahim Game: rarius fteigt ſchon mehr ins Praktiihe und Alltägliche hinab; ebenjo Johannes Spangenberg, der Generalfuperintendent von Eisleben. Bincentius Opfopoeus, der feine geiftlihe Anftellung bejefien zu haben jcheint, erging ſich dagegen ſtudentiſch im drei Büchern bon der „Kunft zu trinfen“, in vier Büchern von der „Kunſt zu ſcherzen“ und in einem Buch don der „Kunſt zu lieben” und andern „Erheiterungen“. Das bodhfeierlihe Pathos des Prediger mit jenem des höfiichen Feſtdichters verbindet dagegen Johannes Stigelius, der 1562 als Profeſſor in Wittenberg ftarb. Luthers Schwager aber, Georg Demler (Aemilius), Superintendent zu Stolberg, ift in noch höherem Grade der eigentliche Prediger-Dichter, der jogar die Sonntagsperitopen in „heroifhe Versmaße“ umjchmiedete.

Georg Fabricius (1516—1571), der verdienftvolle Rektor der Meikener Fürſtenſchule, verfaßte gemandte Oden, Hymnen, religiöfe und Gelegenheitägedichte aller Art (je ein Bud; epithalamiorum, vietoriarum caelestium und itinerum, dazu 25 Bücher poematum sacrorum), gab lateinische Slajfifer und Kommentare zu denjelben heraus und ſuchte auch ernftlih Fühlung mit der älteren chriftlihen Poeſie. Aus dieſem letzteren Streben ging jein Sammelwerf hervor: Poetarum veterum ecclesiasti- corum opera christiana et operum reliquiae ac fragmenta (Bajel 1562), ein unbeabfihtigter Rüdzug zur patriftijchen Überlieferung und zur

!G. Sabinus, Poemata, Lips. 1563 1578 1581 1589 1597 1606; Elegiae, Lips. 1560; Witteb. 1551. M. Zöppen, Die Gründung der Univerfität Königs— berg und das Leben ihres erjten Rektors G. S., Königsberg 1844.

2 J. Micyllus, Hodoeporicon ete. (Wittenberg 1527); Elegia de duobus alconibus (ebd. 1539); Sylvarım libri V (Frankfurt 1564).

618 Viertes Kapitel.

fatholiichen Literatur, dem fih im Laufe der Zeit noch mande mwadere proteftantiiche Forſcher von ernft religiöfer Gefinnung ebenſo unabſichtlich angeihloffen haben, befonders fein Namensvetter Johann Albert Fabri- cius in der großen Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis (1734 —1736)1,

Johann Posfel (1582—1591), Profefior zu Roftod, bradte das Neue Zeftament in Iateinifche Verſe; Georg Bersmann (1588— 1611), Gymnafialreftor zu Zerbft, ſetzte die Pjalmen in lateinifche Oden um, was Kaſpar Barth aus Küftrin (1587—1658) ſchon als Knabe von zehn Jahren verſucht haben ſoll. Lauren; Rhodomannus aus Stolberg (1546—1606), ein ausgezeichneter Philo- loge, befonders Gräzift, begnügte fich nicht, in griechiſcher Sprache „Argonautifa“, „Thebaika“, „Zroifa* und fogar eine „Kleine Ilias“ zu dichten, welche von vielen für wirkliche antife Gedichte gehalten wurden, ſondern machte aud ben bemerfens- werten Verſuch, die Quther-Legende zu einem lateiniſchen Epos zu, geftalten und bamit der katholiſchen Legende eine proteftantifche gegenüberzuftellen. Schon Johannes Pollicarius aus Zwidau hatte übrigens 1549 in einigen Gedichten die „Wohl- taten“ befungen, „weldde Gott durch Lutherus dem Erbfreis erwiefen hat”,

Zu ben frudhtbareren und vielfeitigeren Poeten find zu reinen: Johannes Major (1583—1600), Profeffor in Wittenberg; Johannes Clajus aus Herz berg (1535—1592), zuleßt Pfarrer in Bendeleben bei Franfenhaufen; Johannes Lauterbach (1531—1593), Rektor in Heilbronn; Anton Moker (1540—1607), Profefior und Ratsherr in Hildesheim; Valentin Shred (1527—1602), Schul« reftor in Danzig; Nilolaus Neusner (1545—1602), Rektor ber Univerfität Yena; Konrad Ritterhaus (1560—1613), Profefior ber Rechte in Altorf: Friedrid Taubmann (1565—1613), Profeffor der Poefie zu Wittenberg *.

Taubmann ſtand mit einer Menge von Gelehrten und Schöngeiftern feiner Zeit in Briefwechſel und wurde von manden als eine Autorität in humaniftifchen Studien angejehen; mit ben gleichzeitigen nieberlänbifhen Philologen konnte er fich nicht meflen, und Scaliger foll von ihm gejagt haben: Taubmann est un fou, un pauvre prestre, son Plaute ne sera pas grand cas. Die meiften feiner Jugenddichtungen (Lusus duo iuveniles, Martinalia et Bacchanalia [1592] und Columbae poeticae [1593]) vereinigte er mit vielen andern Gedichten zu einem 614 Seiten ftarfen Bande, ber den Titel führt: Melodaesia sive Epulum Musaeum. In quo, praeter recens apparatas lautiores iterum apponuntur plurimae de fugitivis olim columbis poeticis. Et una eduntur Ludi iuveniles. Martinalia et Bacchanalia cum pro- ductione Gynaecei. Die Gedichte find weniger barod ala ber Titel: fie zeigen große Leichtigkeit in Sprade, Ausdrud und Vers und eine gewifie Gewanbtheit, alltägliche Stoffe friſch und originell zu behandeln; aber hoch erheben fich dieſe Versübungen nirgends, oft find fie mit unfaubern Schnurren verbrämt.

!G. Fabricius, Ad Deum omnipotentem odarum liber unus (Witten: berg 1545), Epithalamiorum (Leipzig 1551), Vietoriarum coelestium (ebd. 1553), Itinerum (ebd. 1560), Poematum sacror. libri XV (Bajel 1560), Poematum sacror- libri XXV (ebb. 1567), Paeanum angelicorum libri III (Leipzig ohne Datum).

®2 F, Taubmannus, Columbae poetieae (Wittenberg 1594), Melodaesia seu Epulum Musaeum (Leipzig 1597 ff), Schediasmata poetica (Wittenberg 1610), Posthuma schediasmata (ebd. 1617). F. W. Ebeling, Friedr. Zaubmann, Ein KAulturbild, Leipzig 1884.

Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 619

Ein talentvollerer und gewandterer Formklünftler war Paul Meliſſus (Schede), 1539 zu Melrihftadt in Franken geboren!. Er jtudierte in Erfurt, Jena, Wien, wurde von Kaifer Ferdinand I. ald Dichter getrönt und 1564 fogar geadelt, lebte dann in Wittenberg und Yeipzig, in Würzburg und wieder in Wien, durchreiſte Italien und Frankreich, überreichte 1582 perjönlih feine Gedichte der Königin Elifabeth zu Richmond, blieb aber nit, ſondern fehrte über Frankfurt nach Heidelberg zurüf, wo er 1602 ftarb, ein verjpäteter Wandervogel der älteren Humaniftenzeit, ohne ſpezifiſch fonfejfionelle8 Gepräge.. Die antiken Formen, von den einfachften Jamben bis zu umfangreihem pindariihen Strophengebäube, handhabt er gewandt; aber jeine Sprache zehrt allzufehr von feinen antilen Muftern; Phrajen- ſchwall und Wortgeklingel übertönen oft den dünnen Gehalt. Am beiten find ihm feine Meletemata pia, frommserbaulidhe, häusliche, bibliſch-epiſche Stüde, gelungen? Sein Wunjd, neben Geltis, Hutten und Lotichins als der vierte der fränkischen Sterne am poetiihen Himmel zu ftrahlen, ſchien fi zu jeiner Zeit zu erfüllen, da er mit einer Menge von Gelehrten wie Scaliger, Stephanus, Muretus, Sturm, Lipfius, Stigel, Doufa, Eamerarius, Orlandus Laffus und Tyco de Brahe in Beziehung ftand und einige dieſer Männer feine Lobgedichte auf fie dankbar erwiderten; doch hat diefer Ruhm jpäter nicht ftandgehalten.

Als der bedeutendfte Neulateiner der proteſtantiſchen Kreiſe gilt nächſt Hutten Betrus Secundus Lotichius, 1528 zu Niederzell bei Schlüchtern geboren, ein Neffe des Abtes Petrus Lotihius zu Schlüchtern, dur den das Gebiet dieſes Klofter® der neuen Lehre anheimfiel. Er ftudierte in Marburg, Leipzig und Wittenberg, machte den Schmaltaldifchen Krieg mit, ward 1550 Magifter in Wittenberg, durchzog als Führer junger Adeliger Frankreich und Italien, ward in Padua Doktor der Medizin, nahm in Bologna duch ein Berjehen Gift ein, das jeine Gejundheit untergeub und 1560 jeinen Tod herbeiführte®. Mit der Begeifterung eines wirklichen Dichters hat er fi in Italien in die Dichtungen Vergils und Ovids hinein: gelebt und die tiefen Eindrüde dieſes lebendigen Humanismus in jchön abgerundeten Dichtungen wiedergegeben, dabei aber aud die fromme Ge: finnung eines chriſtlichen Humaniften bewahrt und diejelbe in würdigen Gedichten über die Geburt Chrifti und andere Geheimniffe betätigt.

'E Shmibt, „Melifjus* (Allgem. Deutiche Biographie XXI 293— 297). D. TZaubert, Paul Schebe, Torgau 1864. Höpfner, Reformbeftrebungen auf dem Gebiete ber deutſchen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1866, 26 fi.

2 P. Melissus, Schediasmata poetica (Frankfurt a. M. 1574), Schedias- matum reliquiae (ebd. 1575), Meletematum piorum libri VIII ete. (ebd. 1595).

> P, Lotiechius Secundus, Poemata (Leipzig 1563 1577 1580 1586),

Opera omnia (ebd. 1586 1608 1609), Poemata, ed. P. Burmannus (Amfterdam 1754), Elegien (deutih von €. ©. Köftlin, Halle 1826).

620 Viertes Kapitel.

Einen feiner mädhtigften Helfer fand Philipp Melandthon an dem borzügliden Pädagogen Johann Sturm in Straßburg, der, 1507 ge— boren, feine Erziehung noch zu Lüttich bei den Brüdern des gemeinjamen Lebens erhalten hatte umd die dort gewonnenen Anihauungen und Er— fahrungen älterer Schulüberlieferung von 1538 an mit viel Geidid an dem neugegründeten Gymnafium im Eljaß zur Geltung bradte!. Unter anderem brachte er eine große Hochſchätzung der lateiniſchen Konverſation und deshalb aud des lateiniihen Schultheaterd mit und erinnerte fih als Greis nod mit Vergnügen daran, wie er einft als Fünfzehnjähriger den Stlaven Gela im „Phormio“ des Terentius gejpielt. Von Quarta an ließ er täglich theatraliihe Übungen Halten, und das Theater blieb feine Woche unbenugt. Es wurden nit nur Scenen aus Zerenz, Plautus, Ariftophanes und den griechiſchen Tragikern eingeübt, jondern auch ganze Stüde auf einer im Hofe der Akademie errichteten Holzbühne gegeben.

Aus diefen Übungen wuchs dann im letzten Viertel des 16. Jahr: hunderts ein mehr jelbjtändiges Schuldrama hervor. Im Jahre 1576 führte man ein Krippenſpiel auf: Carmius sive Messias in praesepi, von dem Schlefier Georg Röhrig (Galaminus, 1547—1595), wirklich fromm und poetiih im Stil der italienifchen Weihnachtseklogen gedichtet.

Sm Jahre 1583 wurde der „Tobias“ des Harlemer Rektors Gor: nelius Schonaeus (1540 —1611) gegeben, 1596 eine „Ejther“ von Cornelius Laurimanus, 1597 „Der Verkauf Joſephs“ (Comoedia sacra Iosephi venditi) von Negidius Hunnius, 1598 die „Medea“ des Euripides im griechiſchen Tert, 1599 eine „Lucretia“ des Samuel Junius, eines Schleſiers, 1603 der „Jeremias“ des Thomas Naogeorgius (Kirchmayr), 1604 die „Alceſtis“ des Euripides, 1605 deſſen „Hecuba“ und der von dem Wittenberger Profeffor Daniel Cramer (1568—1637) verfaßte „Sächſiſche Prinzenraub“ (Plagium), 1607 „Der Brand Sodomas“ von Andreas Saurius aus Frankenberg, 1608 der „Amphitruo” des Plautus und der „Ajax“ des Sophofles, 1609 der „Baltaffar” des Heinrih Hirtzwig und der „Prometheus“ des Aeſchylos, 1611 der „Eröfus“ des Straßburger Profeffors Joh. Paul Erufius (1588—1629), 1613 die „Andromeda” des Magifters Kaſpar Brulow und ebenfo deffen „Elias“, ferner die „Wolten“ des Ariftophanes, zu denen Iſaak Fröreiſen eine freie Überfegung lieferte.

ı Ch. Schmidt, La vie et les travaux de Jean Sturm, Strasb. 1855. Fr. 8. Kaifer, Joh. Sturm, fein Bildungsgang und jeine Verbienfte, Köln 1872. 8, Küdelbahn, Johannes Sturm, Leipzig 1872. €. Laas, Die Pädagogif des J. Sturm, Berlin 1872. J. Erüger, Zur Straßburger Schulfomödie (Feſt⸗ Ihrift zur Feier des 350jährigen Beſtehens des proteftantifhen Gymnafiums zu Straß- burg [1888] 305—854). 5. Pauljen, Geſchichte des gelehrten Unterrichts, Leipzig 1885, 193 ff 252 ff.

Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre, 621

In den folgenden Jahren erjcheint dann noch eine „Chariclia“, ein „Julius Cäſar“ und ein „Mojes“ von Brulow, ein „Nebuladnezar” von Grufius und ein anonymer „Heliodor”. Nach dem „Mojes“ des Brulow (1621) jcheint der Dreißigjährige Krieg den regelmäßigen Lauf diefer Jugend: bühne unterbroden zu haben.

Ihr Vorbild ſchuf die proteftantiihe Schuldramatif aber nicht aus fi, fie fand dasſelbe jhon bei den Höfterlihen Pädagogen der alten Kirche, beionder& bei Makropedius.

Wie die lateiniſche Sprache an fi, fo hätte auch die lateinische Schul- dramatik, bejonders die biblifhe, ein Annäherungsmittel der Konfeffionen werden können; allein das erlaubte der reformatorifhe Eifer nicht. „Geift- lihe und Lehrer verbreiteten mit diefen Spielen, von denen die Mehrzahl bibliſche Stoffe behandelt, reformatorifche Lehren.“ 1

„Mit der Zeit machte fih ein Unterſchied zwifchen ber proteftantifchen und fatholiihen Schulkomödie geltend, da erftere immer mehr und mehr zur bloßen Form für allerlei politiſche und kirchliche, beſonders gegen den Papismus gerichtete Kontro- verjen, bie oft mit geiftvoller (2?) Satire gewürzt waren, herabjanf, während bie

Jeſuiten in aller Stille in ihren Schulen wirkten und ihre bibliſch-hiſtoriſchen Stüde aufführen ließen.“ ?

Die polemifche Tendenz und der rohe, jchimpfjelige Ton Hat einen großen Teil diefer Stüde wirklich unrettbar verdorben und dem künſtleriſchen Geſchmack unfäglihen Schaden zugefügt ®.

Die Namen all der löblihen Magiftri anzuführen, die auf der lateiniſchen Schulbühne den römischen Antichriſt befämpften, ift hier nicht möglid. Von

Goedeke, Grundriß II 131.

® Otto Francke, Terenz und bie lateinifhe Schulkomödie in Deutſchland, Weimar 1877, 62. Bl. R.v. Reinhardftöttner, Zur Gejchichte des Fefuiten- dramas in Münden 8,

® Die Verantwortung dafür trifft in erfter Linie Luther felbft, ber in feinem leidenfchaftlichen Eifer auch den Humanismus aufs grimmigfte befehdete, wenn er jeinen Abfichten irgendwie in die Quere fam. Es genügte ihm, daß Simon Lemnius feine zwei Bücher Epigramme dem Kurfürften Albredt von Mainz gewidmet batte, um ben barmlofen Humaniften als „ehrlojen Buben und Schandpoetafter” zu de— nunzieren, welcher wegen feiner Verje „billig den Kopf verlieren müßte‘. Lemnius, zur Flucht aus Wittenberg gezwungen und feiner ganzen Habe beraubt (1534), jchleuderte dann gegen Zuther die ſchneidende Satire Lucii Pisaei Iuvenalis Monacho- pornomachia. Erſt in feiner Heimat, zu Chur, fand Lemnius freie Muße zu ruhiger, humaniftifcher Tätigkeit, überjegte mehrere griechifche Autoren ins Lateinifhe und vollendete feine vaterländifche Epopde Libri IX de bello Suevico ab Helvetiis et Rhaetiis adversus Maximilianum Caesarem 1499 gesto (herausgeg. von P. Plattner, Chur 1874, überjeßt von Demfelben, ebd. 1882). Für feine „Eklogen“ unb feine lasziven, aber formgemwandten Amorum libri quattuor erhielt Lemnius den Poeten- lorbeer von Bologna.

622 Viertes Kapitel.

den hundert Schuldramatikern, welche Goedele zuſammengeſtellt, find über ein Viertel, darunter die mwidtigften, Katholiten, einige ſogar Jejuiten, zahfreihe andere gehören dem Auslande an, nur etwa die Hälfte find deutſche Proteftanten. Bon diefen haben die meiften nur ein oder das andere Stüd gejchrieben, feiner reiht an die Bedeutung des Makro: pedius heran.

Als harakteriftiihe und bedeutendere mögen von den proteftantijchen Schuldramatikern Stymmel, Sirt Birk, Naogeorg und Friſchlin hervor: gehoben werden !,

Chriftophorus Stymmelius (Stymmel), 1525 zu Frankfurt a. O. geboren, dankt feine Berühmtheit einer Komödie, die er als neunzehnjähriger Student im feiner Baterftadt verfaßte?. Sie trägt den Titel Studentes. Comoedia de vita studiosorum. Sie jdhildert das unfäglich rohe, platte und unfaubere Studententreiben jener Zeit mit dem ungejchminkteften Realismus und ebenſo roher Komik und Ausgelaffenheit. Gervinus ver: gleicht diefes Studententreiben mit den roheften Nußerungen des Narren: weiens im auägehenden Mittelalter; er ift geneigt, für ihre Narrenfreigeit Duldung zu beanjpruchen.

„Wenn fie an ber Einfalt und Philifterei, an Füchſen und Pennalen ihren Prutwillen üben, ſchwankt man zwifchen Lachen und Ärger. Die Reziprozität unter ihmen jelbft, ihre Verfpottungen und Streiche, die fie ſich jelbft fpielen, verweift ihnen niemand und fie jelbft fi auch nit. Die Freude an Objzönitäten, an Gemein- beiten, an Unflätigfeiten ift hier auch die befte Würze; gewöhnlich tragen die natür- lihen, die allgemeiner menſchlich empfindenden Burſchen diefen berben Gegenfaß bes Eynismus gegen die äußerlich glatten Corps öffentlih zur Schau, obwohl alle bie Narrenfappe und Schärpe tragen. Dieſe Vergleihung ift gar feine äußerliche, es ift eigentlich gar feine Bergleichung, ſondern die Sade jelbfi. Das öffentliche Leben in Deutihland zur Reformationszeit ift das wahre Studentenalter der Nation; das Heraustreten aus fich felbft, die Aufklärung in Religionsjahen, die erjte Bekanntſchaft mit dem Öffentlichen Leben (!) und der Wifjenichaft, teilt jedes Individuum in feinen Stubdentenjahren mit der Nation in der Reformationszeit.* ?

ı %.Yanfien, Gejhichte des deutjchen Volkes VIL, Freiburg 1893, 106—118. R. Prölß, Gejhichte der dramatiſchen Literatur und Kunft in Deutihhland 1, Leipzig 1883, 27-34. H. Holftein, Die Reformation im Spiegelbilde ber dramatiihen Literatur, Halle 1886. €. Schmidt (Die Bühnenverhältnifie des deutſchen Schuldramas ufw. im 16. Jahrhundert, Berlin 1903) berührt nur bie äußeren materiellen und technifchen Beziehungen der Schulbühne; man darf daraus aber keineswegs folgern, es hätte die fonfeffionelle und polemiſche Seite dabei nur eine untergeordnete Rolle geipielt.

? Chr. Stymmelius, Studentes. Comoedia de vita studiosorum (Frant« furt a. d. O. 1549 1550; Köln 1552 1561; Straßburg 1562 u. ö.; überjeßt von F. 9. Meyer, GStubentica, Leipzig 1857); Isaac (Stettin 1579).

»6.6. Gervinus, Geſchichte der poetifchen Nationalliteratur ber Deutſchen II?, Leipzig 1842, 354 355.

Der Humanismus im Dienfte ber neuen Lehre, 623

Stymmeld „Studenten“ fanden ungeheuern Beifall, wurden an den verfchiedenften Orten, Magdeburg, Köln, Leipzig, bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts immer und immer wieder neu aufgelegt, während jein

x „Opfer Iſaaks“ nur ein fümmerliches literariſches Daſein friftete,

Sirt Birk (xyſtus Betuleius), 1500 in Augsburg geboren, von 1536— 1554 Reltor an der Annaſchule dajelbft, fchrieb faſt ausschließlich biblifhe Stüde, die er dann auch deutſch bearbeitete: Susanna, Eva, Sapientia Salomonis, Herodes sive Innocentes, Beel, Zorobabel, Iudith!, Er wollte die fittlih bedenllichen Stüde des Terenz an den Schulen zurüddrängen und dur andere erjegen, melde geeignet wären, gute Bürger heranzubilden (qui administrandae Reipublicae aliquam imaginem prae se ferunt). Seine „Judith“ war darauf gemünzt, Be— geifterung für den Türkenkrieg zu weden; in feinem „Beel“ aber wurde unter dem Bilde der Baalspfaffen mweidlid die „Latholifche Abgötterei“ bekämpft.

Ein ungleich heftigerer Zelot war aber der Abenteurer Georg Kirch— mait, genannt Naogeorgus, der, 1512 in Straubing geboren, fi in Kahle, Augsburg, Kaufbeuren, Kempten, Stuttgart, Baſel umbhertrieb und endlich ald Prediger in Wisloh (1563) farb. Seine Tragödien: Pammachius, Mercator, Incendia, Hamanus, Hieremias und Iudas Iscariotes, find voll des Haffes gegen die alte Kirche, zum Teil geradezu dramatifterte Brandſchriften gegen diejelbe?. Dies beſagt 3. B. ſchon der Titel In- cendia seu Pyrgopolinices. Tragoedia recens nata, nefanda quo- rumdam papistici gregis exponens facinora oder der andere: Tragoedia nova, Mercator seu Iudiecium. In qua in conspectum ponuntur Apostolica et Papistica doetrina, quantum utraque in conscientiae certamine valeat et efficiat, et quis utriusque futurus sit exitus.

Haft wie ein zweiter Hutten nimmt fih unter den frömmigfeitstriefenden Schuldramatifern des 16. Jahrhunderts Nitodemus Frifhlin aus, ein bochbegabter, aber mehr ſatiriſcher ala pofitiv jchaffender Rhetor, leiden- Iichaftlih, heftig, deshalb in beftändige Händel verwidelt, denen er ſchließlich in traurigfter Weile erlag. Er wurde 1547 zu Balingen (Württemberg) geboren, wohin fein aus dem Thurgau ftammender Großvater eingewandert war. In Tübingen, wo er hauptſächlich ftudiert hatte, wurde er 1565 Magifter und las dann über lateiniſche Klaſſiker, konnte es aber wegen

ı H. Betuleius, Susanna. Comoedia tragica (Augsburg 1587); Eva (ebd, 1589); Sapientia Salomonis (Marburg 1591); Iudith,. Drama comicotragicam (Augsburg um 1541) x.

? Th. Naogeorgus, Pammachius (Wittenberg 1538); Mercator (ohne Drudort 1540); Incendia (Wittenberg 1551); Hamanus (Leipzig 1543); Hieremias (Bajel 1551); Iudas Iscariotes (ebd. 1552).

624 Viertes Kapitel.

feiner Händelſucht zu feiner Profeffur bringen. Weitere Händel verfeindeten ihn mit dem Adel und bradten ihn um die Gunft des Herzogs Ludwig, der ihm zeitweilig huldreich beſchützt und ihm beim Kaifer die Würde eines gefrönten „Dichters und Pfalzgrafen“ verjchafft Hatte. Wegen Ehebruhs # verflagt und verbannt, trieb er fih in Prag, Wittenberg und Braunſchweig herum, erregte durch neue Angriffe den Zorn der württembergiidhen Räte, ward auf ihr Betreiben 1596 in Mainz gefangen und auf Hohenutad) eingekerlert. Hier fuchte er fi die Zeit mit Dramenjchreiben zu kürzen, hielt das aber nicht aus, machte einen Fluchtverſuch und brach dabei das Genid, erſt dreiundpierzig Jahre alt. Für das einfah Schöne und Edle, für Maß und Harmonie der Alten fehlte Friſchlin die feinere Empfänglid: feit mie die jelbftändige Anlage!. Seine Tragddien „Dido“ (1581) und „Venus“ (1584) find bloße Dramatifierungen des vierten und erften Buches der Weneide. Ebenſo fußen die Helvetiogermani (1588) auf dem eriten Bud Cäſars vom Gallifhen Krieg, deifen nüchterner Beriht nur durd eine Thusnelda meretrix und deren ſchmutziges Treiben gepfeffert ift. Die Hildegardis magna (1579) ift eine Art Genovefa-Geſchichte, deren rührende Füge aber durch luſtſpielhafte Zutaten völlig abgefhwäht find. In der bibliijhen „Rebecca“ (1576) gehen die ſatiriſchen Scenen hauptſächlich gegen die rohen „Junler“ und Bauernjhinder, die ihrem Jagdvergnügen Schweiß und Wohl der Bauern opfern. In der „Suſanna“ (1577) geht Friichlin gegen die Advokaten und Wirte los; im Priscianus vapulans werden die geplagten Schulmeifter und Poeten in derbfter Weiſe verhöhnt. Im Phasma (1580) werden Luther und Brenz verhimmelt, während der Teufel den Zwingli, Karlitadt, Schwentfeld und das ganze tridentiniſche Konzil holt. Die merkwürdigſte Leiftung Frifchlins ift aber wohl fein Iulius Caesar redivivus, eine Komödie, die er fhon 1572 begann, 1580 wieder aufnahm und 1584 vollendete. Mit der plumpften Prahlerei und Selbfigefälligfeit von der Welt feiert hier der deutſche Humanismus jene vermeintliche Überlegenheit über jenen der romaniſchen Völker, während er jelbft tatſächlich ſchon am Ausgeiftern war, die italieniihe Renaifjance aber noch immer die reichften Zweige und Blüten trieb.

Mercurius Pinhopompus führt den Cäſar und Cicero aus der Unter: welt herauf und bringt fie über Straßburg, Augsburg und Nürnberg ins

ı N. Frischlinus, Priscianus vapulans (Erfurt 1571); Rebecca (Frant- furt 1576); Susanna (Tübingen 1578); Hildegardis magna (ebd. 1579); Dido (ebd. 1581); Venus (ebd. 1584); Iulius redivivus (ebd. 1584); Helvetiogermani (Straß burg 1589); Comoediae sex, tragoediae duae (ebd. 1587); Opera poetica (ebd. 1585 1587 1589 u. ö.). 2. F. Strauß, Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nikodemus Friſchlin, Frankfurt 1855. W. Scherer, Art. „Friſchlin“ (Allgem. Deutſche Biographie VIII 96—104).

Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 625

Schmabenland, wo ein Herzog Hermann als Vertreter deutſcher Helden- haftigkeit und Kriegstüchtigkeit, Eoban Hefius als Vertreter deutjcher Geiftes- bildung fie empfängt. Schon das Abfeuern einer Ylinte erjchredt fie der: maßen, daß fie den Herzog Hermann für Juppiter halten und ftaunend von ihm erfahren, daß ein Deutjcher das Pulver erfunden hat. Eoban aber ſucht dem Cäſar Har zu maden, daß ein deutjcher Kaifer etwas ganz anderes zu bedeuten habe al3 er. Während Hermann den römischen Im— perator in ein Zeughaus führt, geleitet Eoban den Eicero in eine Druderei, wo ihm mit den Wundern der Buchdruderfunft die ganze neulateinijche Literatur gezeigt wird. Dieſe Belehrung der zwei großen Römer über die wunderbaren Fortjchritte der Germanen zieht fih durch drei ganze Afte Hin und ift mit den eingehendften Ausführungen über Pulverbereitung und Drudverfahren verbunden. Als Schattengeftalten find dem ſchwäbiſchen Herzog und dem heſſiſchen Poeten ein ſavoyiſcher Krämer und ein italienischer Spazzacamino gegenübergeftellt, der erftere als ein lügnerifcher und be— trügerifcher Mädchenfänger, der andere als ein armer Zeufel gejchildert, der ein verdorbenes Latein lallt: die beiden jollen die romaniſchen Nationen bedeuten. Dem ſavoyiſchen Krämer wird der moderne Luxus zugejchrieben, durch den Deutſchland verweidhliht und entnerbt worden fein joll, und Herzog Hermann will ihn dafür im vierten Alte beftrafen; allein Mercurius macht geltend, daß die Entnervung mehr vom germanifhen Schlemmen und Saufen fomme. So ift die ſchwache Verwidlung ſchon gelöft, und für den fünften Alt bleibt nur die Aufgabe übrig, Cäſar und Cicero wieder in die Unterwelt zurüdzuholen. Zu diefem Zmede erſcheint Gott Pluto felbft, der den italienischen Saminfeger bei der erften Begegnung für feinen Bruder hält. Diefer will aber nichts mit ihm zu tun haben, und Merkur beruhigt den Fürſten der Unterwelt mit der Nachricht, daß er die beiden Römer bereit3 wieder nah Haufe gebracht habe.

Kaum ein paar Jahre bevor ſich die Schwaben in Stuttgart über den italienischen Kaminfeger luftig madten, war in Italien zum erftenmal Taſſos „Befreites Jeruſalem“ erſchienen, eine der ſchönſten Blüten der italieniijhen Spätrenaiffance, ein Werk, wie es Deutihland noch in den zwei nächſten Jahrhunderten nicht befiten jollte.

In England tat der Kloſterſturm und Kirchenraub den Studien einen großen Schaden an, da Univerfitäten wie Mittelfhulen hauptſächlich auf ficrhlihen Stiftungen beruhten. Die furze Regierung der katholiihen Maria fonnte das angerichtete Unheil nicht wieder gutmachen. Unter Elifabeth wurden zahlreiche neue Lateinfchulen gegründet, aber kärglich ausgeftattet. Bon der religiöjen Neuerung abgejehen, hielt fi der Unterriht, wie an Sturms Schule zu Straßburg, ziemlih in den alten Geleifen. Die her:

gebradhten Autoren (neben Vergil und Horaz auch Prudentius und Sedulius) Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 40

626 Viertes Kapitel,

wurden fleißig gelefen und fommentiert, die lateinischen Dichter in maflen- haften Schulverjen nachgeahmt. Wie in Jtalien und Spanien jagten ſich indes die meiften und größten literariihen Talente von der lateinifhen Schul: poefie los und meihten all ihre Kräfte der Volksſprache. Weder die formelle Bildung, welche die Lateinſchule gewährte, noch die zeitgenöffiihe Renaiffances literatur der Italiener und Spanier blieb ohne tiefgreifenden Einfluß auf die reihe, nationale Poefie, welche während der glanzvollen Regierung Elifabetö3 emporblühte. Thomas Wyatt, Philipp Sidney, John Lily und Edmund Spenjer weiſen ebenfo die Vorteile wie die Nachteile jenes doppelten Einfluffes auf; in dem genialen Shatefpeare hat fi) der kernhafte englifche Vollsgeiſt des Mittelalters in glängendfter Weiſe mit der literariichen Bildung der jpäteren Renaifjancezeit verbunden. Neben ihm verſchwinden freilich die wenigen lateiniſchen Schulpoeten Großbritanniens, wie der Satiriker Jojeph Hall, Biſchof von Norwich (geft. 1656), und der tapfere ſchottiſche Kriegs: mann und Epiler Markt Duncan Gerijantes (geb. 1648) völlig im Schatten. Der einzige Neulateiner, der auch im Ausland zu einigem Ruf gelangte, ift der Epigrammatiter John Owen (Audoenus) aus Carnaerbon in Wales (geb. um 1560, geft. 1623)1. Eine Anzahl ſchmutziger und polemifher Epigramme haben ihn auf den römifhen Inder, bei deffen Gegnern aber zu hohen Ehren gebradt. Weitaus die meiften feiner knappen, geiftreihen, wohlabgerundeten Sinngedichte find indes völlig harmlofer Natur: artige Komplimente an Freunde und Gönner, ſatiriſche Wurfpfeile auf einzelne Nationen, Stände, Berufsflaffen, gute Einfälle heiterer oder ernfter Natur, wigige Bemerkungen und Antithefen der verfchiedenften Art, oft aud bloße Wortipiele und Künfteleien?. In nit wenigen Sprücden beklagt er die tiefen Schäden feiner Zeit, die religiöje Zerfplitterung, die Abnahme des Glaubens bei Vermehrung der Glaubensbelenntniffe, die zunehmende Geld: ſucht und Sittenlofigteit, die Unmwahrhaftigkeit der Parteihiftorifer, die Willkür in religiöfen Dingen, das Umfichgreifen des Atheismus. Ganz ungereimt findet er die Abneigung gegen die Kreuzesbilder. Des Thomas Morus gedenft er mit herzlichem Lob, und jogar die jungfräuliche Gottesmutter feiert er in einem huldigenden Spruche. Der berühmte Kanzler Franz Bacon ſchrieb feine epochemachenden wiſſenſchaftlichen Hauptwerke De dignitate et augmentis scientiarum und das Novum Organon in lateiniſcher Sprache; ſeine Essais und ſeinen ſozialpolitiſchen Roman „Die neue

1. Owenus, Epigrammata (London 1606 1612 1617; Amſterdam 1624; Leiden 1628 u. ö.).

Eine in Köln erfhienene, gereinigte Ausgabe ift beöhalb fehr reichhaltig ausgefallen: I, Oweni, alias Audoeni Epigrammatum libri X. Editio nova catholica, ab omni obscoenitate et piarum aurium offendiculo expurgata, Co- loniae 1708,

Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 627

Atlantis“ auf engliih. So jehr feine religiöfen Anſchauungen von jenen des Thomas Morus abftehhen, jo ift in denjelben doch eine gewiffe Duldſamkeit gegen den Katholizismus unverkennbar, und jein großes Hauptwerk richtet ſich Fachlich faft mehr gegen die einjeitig humaniſtiſche Bildung als gegen die bisherige Philofophie.

Die Niederlande blieben um faft ein halbes Jahrhundert länger mit der Kirche vereint als das nördliche Deutihland. Nachdem fih dann die holländifchen Provinzen (1566) von ihr losgejagt, waren noch allenthalben Männer, welde früher die katholiſche Schulbildung erhalten hatten!. So hatte Jan van der Does (Janus Dufa), der erfte Kurator der 1575 gegründeten Univerfität Leiden, nod in Löwen, Douai und Paris ftudiert. Unter ihm lehrte dajelbft von 1579—1590 Juftus Lipfius. Nach defien - Abgang gewann er für den Lehrftuhl der Haffiihen Studien Joſeph Juſtus Scaliger, der neben Lipfius und Caſaubonus zu den größten Gelehrten jener Zeit gerechnet wurde, bi zu feinem dreiundzwanzigften Sabre noch katholifh war, erft 1563 dur Viret und Chandieu für den Galvinismus gewonnen wurde, fi aber auch dann nicht in religiöje Kontro— verjen mijchte, fondern als Latinift, Gräzift, Orientalift und ausgezeichneter. Chronologe ganz den humaniſtiſchen und hiſtoriſchen Studien lebte, einer der Hauptbegründer der neueren Philologie und Kritik. Obwohl der Sohn eines heftigen Geufen und in feiner Jugend von Marnir de Sainte-Aldegonde bevorzugt, blieb auh Daniel Heinjius (1580—1655) dem calviniftifhen Yanatismus ziemlich ferne, jo daß Urban VIII und Kardinal Barberini jogar den Verſuch machten, ihn für Rom zu gewinnen. Sein Sohn Nitolaus (1620-1681) trat 1649 in den Dienft der Königin Chriftine von Schweden, bejuchte in ihrem Auftrag Rom zu wiſſenſchaftlichen Zweden und betrieb auch fpäter, als Diplomat feines Heimatlandes, die humaniſti— hen Studien in großem, freifinnigem Stil, nicht wie die orthodoren Zions- wädter in Wittenberg. Peter Scriverius (Schrijver, 1576 —1660), als lateinischer Poet ebenjo angejehen wie als Philologe und Hiftorifer, fam wegen jeiner Freundſchaft mit Hoogerbeets, Grotius und andern Remonftranten in nidt ganz ungefährlihen Konflikt mit den extremen Galviniften. Peter van der Kun (Cunageus, 1586—1638) wurde von ihnen auf der Dordredhter Synode verdädtigt. Sogar der leichtfertige Diplomat Dominik Baude (Baudius, 1561—1613), deſſen Amores Scriverius 1638 herausgab, geriet in Gefahr, für halb ſpaniſch oder wenigftens unzuverläffig zu gelten.

Der gelehrte Gerhard Joh. Voſſius (1577—1649) ward von ben: jelben Fanatikern wegen Mangels an echt proteftantifcher Gefinnung ſchmählich

ı Qucian Müller, Geſch. d. Hafi. Philol. in den Niederlanden, Leipzig 1869. 40*

628 Viertes Kapitel.

verfolgt und von jedem Lehramt ausgeihloffen. Hugo Grotius endlich (1583 1645), der größte Rechtsphiloſoph und einer der vieljeitigften Polyhiſtore der Niederlande, entging, um desjelben Grunde: willen, mit genauer Not der Hinrihtung und lebenslängliher Kerlerhaft nur duch die Treue und Klugheit feiner wadern rau. Der großartige Aufſchwung, den vom Ende deö 16. Jahrhunderts an die Hafliihen und humaniſtiſchen Studien in den Niederlanden gewonnen haben, ift jomit durchaus nicht ala eine Frucht des Proteftantismus zu betrachten, fondern der vielfahen Fühlung, welche die niederländifhen Gelehrten mit dem fatholifhen Europa behielten, der Unabhängigkeit, in welcher fie fi den fanatifchen Streittheologen gegen- über bewahrten, und der ernften Geiftesarbeit, welche fie unabhängig von dem Gezänte der Seftentheologen entfalteten. Es ift faum ein Zweifel, dak Grotius, wenigftens der Gefinnung nah, als Katholit geftorben ift!. Vondel, der fih zum Teil an ihm gejhult, der größte der holländifchen Dichter, ift 1641 offen zur alten Kirche zurüdgetreten.

Mehr proteftantiich gefärbt war ein Kreis von Amfterdamer Poeten, mit welchen Vondel ebenfall® in Beziehung ftand: Peter Hooft, der Droft von Muyden, Kaſpar van Baerle (Barlaeus) und Konftantin Huygens. Dod unterhielten aud diefe Männer Yühlung mit der zeit: genöſſiſchen lateiniſchen und italieniihen Literatur Jtaliens, und Baerle forrefpondierte jogar freundf&haftlid mit dem Jeſuiten Jatob Balde.

Die Hauptbedeutung all diefer Männer liegt unzweifelhaft in ihren philologiſchen, kritiſchen und biftoriichen Leiftungen; wenn fie indes meift bis in ihr Alter die Luft beibehielten, lateiniſche Verſe zu machen, jo ift das ficher nicht als bloße Spielerei zu betrachten. Dieje Übung hat nicht wenig dazu beigetragen, daß fie immer tiefer in das Verſtändnis der Alten eindrangen, ihren Geihmad ſich zu eigen machten, ſich für diefelben begeifterten, gleichſam in ihrer Sprachſphäre lebten und webten. Als der gewandtefte Form— fünftler unter ihnen gilt der jüngere Heinfius, der jeine Gedichtſammlung der Königin Ehriftine widmete. Auch ein Lobgefang des älteren Heinfius auf GHriftus, einem Hymnus des Lykophron nadhgebildet, wurde viel bewundert, während jein Herodes infanticida mehr deflamatorifch als dramatisch zu nennen it. Auch der Christus patiens des Grotius verdient mehr wegen des ſchönen Latein als wegen feiner dramatiichen Form Beadhtung. Seine Dramen Adamus exul und Sophompaneas haben Bondel zu einigen feiner beiten Stüde an- geregt; unter feinen Gedichten findet fi auch eines an die Mutter des Erlöſers?.

6. Broere, Hugo Grotius’ Rückkehr zum katholiſchen Glauben (1856); beutih von 2. Elarus, Trier 1871.

® H. Grotius, Poemata collecta (Leiden 1617 1639 ff); Batavia. Carmen (Haag 1608); Christus patiens. Tragoedia (Leiden 1608); Sacra, in quibus Adamus exul. Tragoedia (Dordrecht 1799).

Fünftes Kapitel. Das lateiniſche Schuldrama der Jeſuiten. 629

Die Gönnerſchaft, welche Königin Chriſtine den Studien und der Poefie angedeihen ließ, trug nicht wenig bei, daß diejelben von Holland aus au in den nordiſchen Reihen Eingang fanden. Selbit Island, die Ultima Thule, erhielt feinen neulateiniihen Dichter an dem berühmten Auffinder der älteren Edda, Brynjölfr Speinsjon, Bilhof von Stälholt (1605 bis 1674), der unter anderem eine reihe Sammlung von Gedichten an. die allerjeligfte Jungfrau, darunter ein ſchönes Marienleben in den verjchiedeniten antifen Versmaßen, Hinterliep !.

Nahdem er das ganze Leben der Hochbegnadigten Himmelskönigin liebevoll betrachtet, richtet er an fie die rührend fromme Bitte:

Tu, Regina, Dei dotibus inclyta, Ceu collum capiti proxima subsides; Quidvis accipis inde, Et, quod suscipis, impetras. Excellens superum gloria civium, Angustis fer opem rebus et asperis,

Cui non defuit unquam Praesens copia gratiae.

Quas debent inopes reddere gratias Pro summis homines muneribus Deo, Clemens atque benigna Nostro nomine solvito.

Sic longum faveas gentibus indigis, Et nos multipliei crimine sordidos Commendare memento, Mater sedula, Filio.

Sünftes Kapitel. Das lateinifhe Shuldrama der Sefuiten.

Mit andern Überlieferungen katholiſcher Pädagogik ging die Pflege des lateiniſchen Schuldramas als jelbftverftändliche Erbichaft an die Schulen der Gejellichaft Jefu über, melde, 1540 von Papſt Paul III. beftätigt, ih mit großer Rafchheit durch ganz Europa verbreitete und im Jahre 1580 bereit3 5000 Mitglieder zählte. Der Orden ftrebte, nad) der Abficht des

U Baumgartner, Ein proteftantifher Mariendichter. Biſchof Brynjölfr Speinsfon von Sfälholt (Stimmen aus Maria-Laach XXXVII [1890] 508—525). Jön Thorkelsson, Om Digtningen i Island i det 15. og 16. Ärhundrede, Kjöbenhavn 1888, 113.

630 Fünftes Kapitel,

Stifter umd feiner erften Genofien, in erfter Linie die Erneuerung des religiöfen Lebens in den katholiſchen Ländern, die Verbreitung desjelben in den Miffionsländern, die Verteidigung desjelben in den vom Abfall bedrohten oder Schon abgefallenen Staaten an. Erziehung und Unterricht der Jugend jollten eines der großen Mittel fein, um dieſes Ziel zu erreichen, aber weder das erſte noch das ausſchließliche. Sie jollten der Spendung der Sakra— mente, der Predigt und Katecheſe, den Werfen der geiftlihen und leiblichen Barmherzigkeit zur Seite gehen, um dem priefterlihen Wirken eine geficherte Hortdauer zu verichaffen. Unter den von der Gefellihaft gepflegten Wiſſen— ihaften nahmen hinwieder Theologie und Philofophie den erſten Platz ein. Nur als Vorbereitung für die höheren Unterrichtsfächer wurden die huma— niftiihen Studien betrieben, und bei diefen wurde das Scdultheater nur ala eine Hilfsübung aufgefakt, auf welche allerdings einiges Gewicht gelegt wurde, die aber doch nicht zur eigentlichen Quinteffenz der Erziehung gehörte 1.

In dem forgfältig Durchgearbeiteten Organijationsentwurf für die Studien der Gejellihaft, welche der fünfte Ordensgeneral P. Claudius Aquaviba 1591 zur Prüfung und Erprobung an ſämtliche Provinziale jandte, wurde da& Theater zwar noch jehr entgegenfommend behandelt und jogar pofitiv

! M. Pachtler 8. J., Ratio studiorum et Institutiones Scholasticae So- cietatis lesu per Germaniam olim vigentes (Monum. Germ. Paedagogica II V IX XVI, Berolini 1887—1894, Hofmann). B. Duhr 8. J., Die Studienordnung der Gefellihaft Jeſu (Bibliothek der Tathol. Pädagogik IX), freiburg i. B. 1896. Jouvancy 8. J., Ratio discendi ac docendi, Florentiae 1703. J. Masen 8.J., Palaestra Eloquentiae ligatae Dramatica, Colon. 1664. F. Lang 8. J., Dis- sertatio de actione scenica, Monachii 1727. A. Cahour, Thöätre latin des Jösuites a la fin du XVIe siöcle (Etudes VII [1862] 460 f). E. Boyesse, Le theätre des J6suites, Paris 1880. Karlv. Reinhardftöttner, Zur Ge Ihichte des Yefuitendramas in Münden (Jahrb. für Mündner Geſchichte III), Bam— berg 1889. Jakob Zeidler, Die Schaufpielertätigfeit der Schüler und Stu: denten Wiens. (Schulprogramm), Oberhollabrunn 1888. Derf., Studien und Bei- träge zur Geſchichte der Jeſuitenlomödie und des Klofterdbramas (Thentergeihichtliche Forſchungen, herausgeg. von B. Litzmann IV), Hamburg und Leipzig 1891. Derj., Über Jefuiten und Ordensleute ala Theaterdichter ıc., Wien 1898. Der. Beiträge zur Gefchichte des Kloſterdramas (Zeitſchr. für vergleichende Literaturgeſchichte von Koch, Berlin. Neue Folge VI 464—478; IX 88—132). P. Bahlmann, Jefuitendramen der niederrheiniichen Orbdensprovinz, Leipzig 1896. A. Dürr wächter, Das efuitentheater in Eichftätt (Sammelblatt des hiſtoriſchen Vereins X, Eichſtätt 1896, 42—94). Derf., Die Darftellung des Todes und Zotentanzes auf den Jejuitenbühnen, vorzugsweise in Bayern (Forihungen zur Kultur» und Literatur: geihidhte Bayerns), Ansbah und Leipzig 1897. Derf., Jakob Gretfers De regno Humanitatis Comoedia prima, Regensburg 1898. Fleiſchlin, Die Shuldramen am Gymnafium und Lyceum zu Quzern von 1581—1797 (Schweizerblätter. Neue Folge I), Luzern 1885. Hiftorifch-Politifche Blätter CXXIII 877 ff 456 ff; OXXIV 2767 414 ff. G. Lühr, 24 Jefuitendramen der litauiſchen Ordensprovinz, Königäberg i. Pr. 1901.

Das lateinische Schuldrama ber Jejuiten. 631

empfohlen!. In der eigentlihen Ratio studiorum aber, d. 5. der end- gültigen Studienordnung, welche 1599 erjchien, fehlen diefe Empfehlungen; die betreffende Vorſchrift für den Provinzial it eine einjchränfende und abwehrende geworden: „Nur ſehr jelten bewillige er die Aufführung von Komödien und Tragödien; diefelben follen lateinisch und geziemend jein. Er jelbit prüfe fie vorher oder betraue einen andern mit der Prüfung; für diefe und ähnliche Aufführungen laffe er nie die Kirche gebrauchen.“ Die dreizehnte Regel des Rektors aber fügt noch folgende Beftimmungen hinzu: „Der Gegenftand der Tragödien und Komödien, die in lateinijcher Sprade abgefaßt und ſehr felten aufgeführt werden jollen, jei ein Heiliger und frommer; auch dürfen nur lateinische und erbaulide Zwiſchenſpiele vorfommen; weibliche Rollen und Trachten dürfen nicht verwendet werden.“ In legterem Punkt wurde jedoch der Oberdeutjchen Provinz 1602 innerhalb gewiſſer Schranken Dispens erteilt.

Troß dieſer vorſichtigen Haltung der Ordensgeſetzgebung iſt das Schul: theater doch zu einer nicht geringen Entfaltung gelangt. Da die Zahl der Unterridtsanftalten bis zum Jahre 1759 auf 609 Kollegien und 171 Semi- narien flieg, jo ergibt allein die Zahl der jährlih an der Schlußfeier der Kollegien aufgeführten Stüde um jene Zeit nahezu 800. Tatſächlich wurde aber den dramatifchen Übungen ein viel größerer Spielraum gewährt.

Außer den großen Tragödien am Schluß des Schuljahres wurden mancdherort3, wie in Wien, Münden, Graz uſw., noch großartige Aufführungen für allgemeine, öffentliche Feſte, fürftlihe Einzüge, Hochzeiten und Bejuche veranftaltet. Dazu fam in den einzelnen Klaſſen der Vortrag von Dialogen und Eleineren Stüden. Die marianishen Kongregationen führten gelegent: ih fog. „Meditationen“, d. 5. Moralitäten und Mirafeljpiele auf. Faſt überall wurde in der Faſchingszeit die Aufführung einer oder mehrerer eigentliher Komödien erlaubt. In Öfterreih bürgerten fih auch ſowohl Mofterienjpiele in der Kirche als Sakramentsſpiele vor dem Allerheiligiten auf öffentlihen Pläßen ein.

So hat ſich denn dieſe dramatiſche Schulliteratur in einer Fruchtbarkeit entwidelt, welche man faft mit jener der mittelalterlihen Hymnendichtung

' Hier bejagt bie 84. Reg. Prov.: Publica praemiorum distributio par est, ut quotannis recurrat: nec Dramata aequo diutius intermittantur, friget enim Poesis sine Theatro, modo ne labor ille multiplex in erudiendis actoribus, in varia veste sumtuque conquirendo, in extruendo Theatro, aliisque scenieis ac- tionibus, ferme totus incambat in Poetam, cum aequissimum sit illam aliorum qui ab ipso diriguntur, opera levari. Neque vero quo loco dramata exhibentur, aditus sit mulieribus: neque ullus muliebris habitus, aut si forte necesse sit, non nisi decorus et gravis introducatur in scenam.

632 Fünftes Kapitel.

dazu beigefteuert. Ableger davon haben in den Schulen anderer Orden fi erhalten und, wenn auch nicht mehr in gleihem Make, bis in die Neuzeit herab neue Zweige getrieben.

Die proteftantiihen Pädagogen des 16. und 17. Jahrhunderts ver- achteten dieſe Schuldramatit keineswegs, ſuchten ihr vielmehr durch ent- ſprechende Pflege des Schuldramas mit ſtark polemiſchem Tone entgegen— zuarbeiten. Goethe urteilte gar nicht ungünſtig über eine Aufführung des Schultheaters zu Regensburg, welcher er auf ſeiner italieniſchen Reiſe im September 1786 beiwohnte, und welche noch der überlieferung der alten Jeſuitenbühne entjprad 1. Herder bedauerte (1795), daß „eine litera— riſche Gejhichte der Yejuiten mit einem parteilofen Urteil über das Ganze nad Beſchaffenheit der verjchiedenen Zeiten und Gegenden, in denen bie Geſellſchaft blühte“, nicht gejchrieben fei?. E& mar dem großen Reigen: führer der deutjchen Aufklärung, Friedrich Nicolai, vorbehalten®, Balde für einen „elenden Verſemacher“, die Leiltungen der Jeluiten als „ertradumm“ und ihr Schultheater für eitel „Unfinn“ zu erflären. Sein Urteil hat indes bis herab in die legte Zeit die Anfichten Goethes und Herders weit zurüd- gedrängt. Erft jeit Gervinus hat man angefangen, das Schultheater der Jejuiten wieder etwas ernfter zu nehmen und ihm fogar eine gewiſſe literar- hiftorifche Bedeutung zuzuerkennen. Goedefe und Wilhelm Scherer haben in dieſer Richtung weitergewirkt, Karl v. Reinhardftöttner diefe Bedeutſamkeit in einer gründlichen Monographie ſchlagend nachgewieſen.

Um in diefer Sade nüdtern und richtig zu urteilen, muß man vor allem im Auge behalten, daß die Jejuiten es durchaus nicht darauf abgejehen hatten, geiftlihe und weltlihe Theater zu gründen, deren Leitung in die Hand zu nehmen oder gar unter ihren Mitgliedern dramatiſche Dichter Heran- zubilden, wie fie jene Zeit an Shafefpeare, Zope de Bega, Galderon, Tirſo

ı „Jh verfügte mich glei in das Jeſuiten-Ktollegium, wo das jährlihe Schau: ipiel durch Schüler gegeben ward, jah das Ende ber Oper und den Anfang des Trauerjpielde. Sie machten es nicht jchlimmer als eine angehende Liebhabertruppe und waren recht ſchön, faft zu prächtig gefleidet. Auch dieſe öffentliche Darjtellung hat mich von der Klugheit der Jeſuiten aufs neue überzeugt. Sie verihmähten nichts, was irgend wirken fonnte, und wußten e8 mit Liebe und Aufmerkſamkeit zu be handeln. Hier ift nicht Klugheit, wie man fie fi in abstracto denkt: es ift Freude an der Sade dabei, ein Mit- und Selbftgenuß, wie er aus bem Gebraude des Lebens entipringt. Wie dieſe große geiftliche Geſellſchaft Orgelbauer, Bildſchnitzer und Bergolder unter fi hat, jo find gewiß auch einige, die ſich bes Theaters mit Kenntnis und Neigung annehmen, und wie durch gefälligen Prunf ihre Kirchen fid auszeichnen, jo bemächtigen fi die einfihtigen Männer hier der weltlihen Sinn- lichkeit durch ein anftändiges Theater” (Stalienifche Reife. Goethes Werke [Hemperl] XXIV 4 5).

® Herber, Sümtlihe Werte (Supban) XXVII 208 ff.

Fr. Nicolai, Bejhreibung einer Reife x. IV 561 ff; Beilage 29 ff 47 fi.

Das lateinifhe Schuldrama ber Jefuiten. 633

de Molina, Flam. Scala, Franc, Andrini, Vondel und andern beſaß. Ahr Hauptzwed war der religiös:pädagogifche; die große Mafje ihrer Dramen find Schulübungen und poetiſche Hervorbringungen, welde für die Schule berechnet find, und man darf darum nicht den Maßſtab der dramatijchen Poefie, am wenigften denjenigen der Höchften Leiftungen theatralifcher Kunft und Haffiiher Dramatif an fie anlegen. Man kann vollkommen zufrieden fein, wenn fie ihrem bejcheidenen Zwede entiprehen, und das Haben fie im ganzen getan. Eine Menge Zeugniffe ſprechen dafür.

Unter den Hunderten von Schulmännern, welche ftill und anſpruchslos in diefem Sinne gearbeitet haben, gab es indes nicht nur folde, welche durch erftaunliche Fertigkeit in lateiniſcher Sprade und Metrik fi aus: zeichneten, jondern auch ſolche, melde fi durd jahrelange Lehrtätigkeit eine vorzüglihe Kenntnis des Altertums, einen feinen Geſchmack und Die techniſche Gewandtheit eines Bühnendichters erworben hatten, wirklich poetifche Anlagen bejaßen und diejelben, namentlich an religiöfen Stoffen, mit wahrer innerer Begeifterung zu betätigen mußten.

Andreas Yabricius, der langjährige Ratgeber des Biſchofs Otto Truchſeß von Augsburg und fpäter Rat der Herzoge Albert und Ernft von Bayern (geft. 1581 als Propft zu Mltötting), hat wohl mit feinen Feſtſpielen (1566— 1568) als Freund der Jejuiten den Grund zu der glänzenden Shulbühne zu Münden gelegt, aber ſelbſt Jejuit war er nicht. Auch Michael Hiltprand, deſſen Ecclesia Militans 1573 zu Dillingen erjchien, findet fih nicht in den Katalogen des Ordens. Zu den früheften Dramatifern, von welchen gedrudte Stüde vorliegen, gehört der Portugiefe Luis da Eruz (1543 —1604), Profeffor in Coimbra; der Jtaliener Brancesco Benci (1542—1594), ein Schüler Muret3 und Profeſſor in Rom; der Böhme Jakob Bontanus (Spanmüller, 1542—-1626) aus Brud, ein hervorragender Schulmann, mehr Theoretifer als Poet, der ſtrengſte Kritifer der pädagogiſchen Leiftungen feines Ordens ; der Italiener Bernardo Stefani (1560—1620); der Belgier Karl Malapert (1580—1630) und der Schwabe Jakob Bidermann (1578— 1639), zulegt Profeffor und Genfor in Rom, den Reinhardftöttner weitaus als den tüchtigſten unter allen ſchätzt !,

Un diefe reihen fih im 17. Jahrhundert: Johann Surius (geft. 1631), Nikolaus Sufius (gef. 1619), Nikolaus Gauffin (1583 bis 1651), der ausgezeichnete Theologe Dionylius Petavius (Petau, 1583 bis 1652), Vincenz Guiniggi (geft. 1653), Julius Solimani (geft. 1639),

Bibliographie Angaben bei C. Sommervogel, Bibliothöque de la Compagnie de Jesus, 9 Bde, Bruxelles-Paris 1890— 1900. W. Menzel, Ge: Ihichte der deutſchen Dichtung II, Leipzig 1875, 231—268.

634 Fünftes Kapitel.

Alerander Donati (geft. 1640), Louis Gellot (get. 1658), Jalob Libens (geft. 1678), der befannte Lyriker Jakob Balde (get. 1668), Balduin Gabillau (geft. 1652), Joſeph Simeons (geft. 1671), Johann Bapt. Giattini (geft. 1672).

Mehr als Schulmann ragt der Deutihe Jalob Mafen hervor (1606 bis 1681), mehr als fruchtbarer Poet der Öfterreiher Nikolaus Avan- cinus (1612—1686).

Mit dem Ende des 17. Jahrhunderts fängt, befonders bei den fran- zöfifchen Jefuiten, der Einfluß des ſog. franzöfiihen Klaffizismus an fid geltend zu maden, in ftrammer Einheit, künftliherer Verwicklung und ftrengerer Ausführung, ohne daß indes ſtark von dem bisherigen Charakter des Schuldramas abgegangen wurde. Der befte Theoretifer diefer Richtung und zugleih auch fruchtbarer Dichter ift Gabriel Franz Le Jay (1657 bis 1734); an ihn fließen fih Charles de la Rue (1643 —1725), Yean Antoine du Gerceau (1670—1730), François Noel (1651—1729), der einige Zeit au als Miſſionär in China und in Böhmen lebte, und Charles Porrée (1675 —1741), der Lehrer Voltaires.

Sehr fruchtbar war der Böhme Karl Kolczawa (1656—1717), wie überhaupt das Schuldrama kaum irgendwo fo viel Freiheit und Begünftigung erlangte wie in den öfterreihiichen Staaten. Mehrere wohlabgerundete Dramen verfaßte der römische Alademiker Joſeph Carpani (1683 —1762), einen „Epaminondas” der Neapolitaner Johann Spinelli.

Ein nit zu veracdtendes Hilfsmittel, das aber aud die Gefahr handwerksmäßigen Betriebes in fih ſchloß, verjhaffte den Yüngern der lateiniſchen Schulpoefie der Luremburger P. Paul Aler (1656 —1727), indem er nad) der Vorlage eines noch nicht ficher beitimmten Vorgängers einen erweiterten, jehr reihhaltigen jog. Gradus ad Parnassum zujammen: ftellte und denjelben 1706 zu Köln herausgab. Bor: und nachher hat er aber auch, als Leiter der Schulbühne zu Köln, ſehr eifrig die Poeſie gepflegt und nit nur mehrere beliebte Dramen (eine Joſephstrilogie, Tobias, Die Mutter der Macchabäer, Bertulfus, Genovefa) verfaßt, jondern aud eine Anzahl von Muſikdramen oder geiftlihen Operetten (Maria die Gnadenfönigin, Maria die Friedenzkönigin, Julius Mariminus, Urania). Er ift den tüchtigeren Schuldramatifern beizuzählen.

Sn dem Theatrum Politicum wie in dem Theatrum Asceticum des P. Franz Neumayr (1697— 1775), welche beide zahlreihe Stüde um: faffen, überwiegt das religiös-asketiſche Element vollftändig über alles andere. Andreas Friz (1711—1790) in Wien und Ignatius Weitenauer (1709 bis 1783) hielten fih in Stoff und Form mehr an die ältere Weile. Joh. Bapt. Seidl geriet mit feiner Schlußlomödie Bavaria vetus et nova, die 1755 in Ingolftadt, fpäter in Straubing, 1764 in Landshut gegeben

Das lateiniſche Schuldrama der Jefuiten. 635

wurde, wegen Angriffen auf die damalige Aufflärerei in Konflikt mit der allerhöchſten Polizei und wurde von dieſer zu ernſtlicher Befferung vermahnt !,

Die Stüde find jo zahlreih und mannigfaltig, daß die Analyfe eines einzelnen oder auch mehrerer feine entſprechende Gharakteriftit geben könnte. 63 war indes in Deutjhland der Braud, von den Stüden kurze Auszüge (Beriohen) in deutſcher Sprache druden zu lafien, damit die des Lateiniſchen Unkundigen wenigitens einigermaßen der Aufführung folgen konnten, die durch Gejang, Mufil, Tanz, glänzende Ausftattung und Koftümierung ſchon für Auge und Ohr vielfahen Reiz bot. Manche ſolche Auszüge find nod vor: handen, zum Zeil auch wieder neugedrudt worden, und jo kann ſich jeder leiht eine Vorftellung von ſolchen Stüden verſchaffen.

Das gejamte vorhandene Material hat bis jebt leider weder einen Literaturhiftorifer gefunden, der es gefihtet und überfichtlih gruppiert hätte, noch einen Literaturkritifer, der auch nur die herborragenderen Stüde und Dichter einer eingehenderen Beurteilung gewürdigt hätte. Eine Geſchichte der Weltliteratur kann jelbjtverftändlih eine ſolche Spezialaufgabe nicht übernehmen.

Eine jorgfältige Unterfuhung dürfte wohl ergeben, daß feiner dieſer pädagogiihen Dramatifer die dramatiihen Klaſſiker älterer und neuerer Zeit erreicht Hat. Allein mande ihrer Stüde find wohl kein Haar jchledhter, mande jogar entſchieden vollendeter und intereffanter als jene des Seneca, Biele aus ihnen haben die jehwierige Aufgabe jehr glücklich gelöft, in der Sprade eines Terenz und Plautus den Schmutz diefer antiten Komiker völlig abzuftreifen und durch eine anftändige Komik zu erfegen, die reich an Witz, Humor und echter Luſtigkeit ift, wobei jomohl der Volkshumor des Plautus wie die feinere Satire des Terenz ihre Repräjentanten ge: funden haben.

Wenn und die geiftlihen Schauſpiele (Legendendramen, allegorijche Stüde, Mirafelipiele ufw.) der Jeſuiten weniger poetiih anmuten als jene der Spanier, jo liegt der Grund wohl in dein meiften Fällen daran, daß die betreffenden Dichter einem Lope und Galderon nicht gewachſen find, aber jehr oft aud darin, daß fie durch die pädagogiihen Schranken (Ausſchluß aller Liebesverwidlung, aller weiblichen Perfonen, freierer weltliher Diktion) verhindert find, ihre ganze poetifche Kraft zu zeigen, und nicht minder in dem lateinischen Gewande, defien Reminiszenzen aus Seneca, Plautus und Terenz nie völlig harmoniſch mit dem chriftlihen Gehalt zuſammenklingen und den modernen Lejer oder Hörer flören. Nur wen diejes Latein jo geläufig ift wie eine moderne Konverſationsſprache, wird hierüber hinaus:

25.0. Besnard, Literaturzeitung für die fatholifche Geiftlichkeit III, Lands» hut 1832, 319 846. Pi

636 Fünftes Kapitel.

fommen und die poetiſche Leiftung ganz gerecht abjhäßen können. Das dieſes Hindernis in früherer Zeit nicht beftand, zeigt der ungeheure Erfolg, den 3. B. die Stüde des P. Jakob Bidermann in Münden hatten.

Ein anderes großes Hindernis, welches das Jeſuitendrama micht zu einer vollendeten klaſſiſchen Schönheit kommen ließ, war die übertriebene Liebe zur Allegorie, wie fie die fintende Renaiffance zum Teil vom Mittel: alter überfommen, dann noch fchlimmer zum völligen Rokoko ausgebildet hatte. Wie Herrlich beginnt z. B. Vidermanns „Belifar“ mit deffen Gruk an die Heimat:

Gegrüßet jeid, ihr väterlichen Zaren,

Ihr zweiten Mauern Roms, ber Heimat Boden, Ihr Dächer, feid gegrüßt, du großer Hof

Des mächt'gen Kaijers!

Doch wenn num der Dichter ftatt Menſchen aus Fleiſch und Bein das Bol von Byzanz in allegoriihen Abftraktionen ung vorführt, in dem ge: ihäftigen „Polypragmon“, dem tätigen „Periergus“, der geſchwätzigen „Hama“, wenn die „Invidia“ ihre Tochter, die „üble Nachrede“ (Detractio), aufheht, den großen Feldherrn bei feinem Herrn um Anfehen und Bertrauen zu bringen, fo überläuft es uns froftig, und weder die künftlichen Verſe noch die meifterlihe Charakteriftit und die wohlangelegte Berwidlung ver: mögen den falten Waſſerſtrahl und deſſen Wirkungen wieder abzulenken. Dem Publikum jener Zeit indes war diefe abftrakt-allegoriihe Bühnenmelt durch Poeſie und bildende Kunſt völlig geläufig geworden, und was ben modernen Leſer flört und abichredt, wurde als poetifher Vorzug empfunden. Ganz abzulehnen ift übrigens dieſer Gebrauch der Allegorie nit. Die Ge ftalten der „Germania“, der „Bavaria“, der „Victoria“ und andere Perfoni- fifationen erfreuen ſich Heute wieder allgemeinfter Volkstümlichkeit. Da Goethe im „Egmont“ mit Märchen allein feinen befriedigenden Abſchluß erreichte, hat er unbedenklich feine Zuflucht zu einer allegorifchen „are: heit“ genommen. Fauft und Mephiftopheles find ſchon im erften Teil halbwegs typifch-allegorifche Geftalten, der zweite Teil lebt und webt voll: ftändig in Allegorie.

Anftatt auf der Bühne Polemik zu treiben oder bloße Unterhaltung zu ſuchen, war das Beftreben diefer Schuldramatifer mwejentlih darauf ge richtet, ihr Bublitum in künſtleriſcher Weiſe für die Ideale des Chriſtentums

* Über dieſe viel zu weit gehende Anwendung der Allegorie, die aufs innigfte mit dem Rokoko in ber bildenden Kunſt zufammenhängt, vgl. U. Dürrwädter, Das Yefuitentheater in Eihftätt (Sammelblatt des hiftorifchen Vereins X [Eichftätt 1896] 70 71).

Das lateiniſche Schuldrama der Zefuiten. 637

irdiihen Glüdes, die Kürze des Lebens, die allzeit drohende Gewalt des Todes, die Schreden des Jenſeits, den unabläffig nötigen Kampf mit den eigenen böjen Neigungen, mit den Verſuchungen der Welt und den dämonifchen Mächten, die Notwendigkeit der Gnade, den Wert der Erlöjung, den fitt: lihen Wert völliger Weltentfagung um Chriſti willen, kurz die größten Probleme des Menjchen und der Menjchheit vor Augen führen. „In diefem Sinne hat fih das Jefuitentheater der größten Stoffe der Weltliteratur bemädhtigt: die Motive Don Juan, des verlorenen Sohnes, Magier mie Theophilus und Cyprianus, das Problem vom Leben ein Traum und Traum ein Zeben begegnen auf ihrer Bühne.“ ! Alle diefe Probleme erſcheinen aber nicht rationaliſtiſch oder pantheiftiich abgetönt wie in Goethes Fauft, jondern mit der ganzen Wucht und Begeifterung pofitiv hriftlicher Überzeugung wie bei Galderon und den übrigen Spaniern. Aus demjelben Grund wurden jo viele ſchöne bibliſche Stoffe, die erhabenften Züge aus dem Leben der Heiligen, die feffelndften Ereignifje aus der Kirchen: und Weltgefhichte auf die Bühne gebracht, nicht um lediglich zu predigen und zu erbauen, jondern in jener echt fünftleriichen Abficht, welche ſchon die großen griechiſchen Tragiker leitete, durch Mitleid und Furt die Seelen der Zuhörer zugleih zu läutern und zu erheben, den äfthetifchen Genuß mit den erhabenften religiös-fittlichen Motiven zu verbinden.

Auch auf die Komödie übte diefe würdige Auffaffung der Kunſt einen wohltätigen Einfluß aus. Sie wurde gegen jene Entartung geſchützt, welcher die proteftantiihe Schullomödie in großem Maße anheimfiel. Wurde fie auch in engere Schranken zurüdgedrängt, ald eine weltliche Bühne für Erwachſene erheifchen würde, fo blieb doch vollsmäßiger wie feinerer Komik nod ein jehr weites, dankbares Feld, und es wurde damit zugleich der heilfame Beweis geliefert, daß man fi fröhlich unterhalten kann, ohne mit Ariftophanes im tiefften Schlamme zu waten oder mit Terenz auf dem ihlüpfrigften Boden beftändig an Sünde und Schande vorüberzugleiten.

Sp umfaht das Schuldrama der Nefuiten einigermaßen das Pro— gramm, die Grundlinien eines hriftlihen Theaters überhaupt. Während der Hl. Thomas von Aquino fi damit begnügte, theatralifche Unterhaltungen unter gewiffen Bedingungen zu dulden und fogar zur Tugend der „Eutrapelie“ zu rechnen, während Hroswitha nur einen ganz ſchüchternen Verfuch machte, das altklaffiiche, Tateiniihe Drama zu hriftianijieren, nahm die Pädagogif der Yejuiten das Theater als überaus wichtiges Bildungsmittel in den Dienft der Jugenderziehung und des öffentlichen Lebens und ſchuf bereits im Laufe eined Jahrhunderts ein fo reiches Repertoire, daß dasſelbe fait alle neueren

ı Jaf. Zeidler, Studien und Beiträge zur Geſchichte ber Jeſuitenkomödie I, Hamburg und Leipzig 1891, 24 (Theatergeſchichtliche Forſchungen, herausgeg. von B. Lißmann IV). Bl. Dürrwädter a. a. DO. X 63 64.

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Literaturen mit Stoffen oder Anregungen verfehen konnte und noch heute den Rahmen bezeichnet, innerhalb deffen ein chriftliches Theater fih am frudtbarften weiter entwideln kann.

„Es ift eigentümlih, daß die Jeſuiten ihre Themen nit von andern Schrift: ftellern entlehnt, nicht fremde Stulturelemente in biefelben übertragen haben, 3. 2. wie man gerne glauben mochte, bie fruchtbaren fpanifhen Dramatiker ihren Bebürf- niffen anpaßten. Sie fhöpften aus ben Quellen, aus der Heiligen Schrift bes Alten oder Neuen Zeftaments, aus römischen und griechiſchen Hiftorifern, aus mehr ober minder befannten Kirchenichriftftellern, Legenden und Encyklopädien. Da fie genau in jeder Perioche ihre Quellen angeben, jo ift es ein Leichtes, ihr Material zufammen: zuftellen. Dan kann nun behaupten, ba fie, wie bemerkt, feine fremden Dramen be nußten, ſondern felbft in ihren Bibliothefen nad) Stoffen juchten, daß fie für jpätere Dramatifer eine wahre Fundgrube bildeten. Wie viele berfelben find nicht ihre Schüler geweien oder doch gründliche Kenner ihrer Erzeugniffe! So haben fie Jahr hunderte hindurch, ähnlich ben Gesta Romanorum, in der allen verſtändlichen Tateinijchen Sprade Stoffe in reicher Auswahl den Nachkommen und ber Mitwelt aufgeipeichert.” '

Das alles war um jo wertvoller, als der Technik des Theaters und einihlägigen Hilfsfünften: Geſang, Pantomimen, Tanz, Orceftrit, Koftümen, Scenerie, Theatermalerei und Theaterbaufunft, nicht geringere Sorgfalt zu: gewandt wurde ala der Wahl und künftleriichen Ausführung der Stoffe.

„Die Jeſuitendichter waren geſchickte Praktiker, welche ihre Bühnen, ihre Schau- fpieler und ihr Publitum jo gut wie Shafefpeare kannten. Sie haben auf ben großen Theatern des Ordens bie nötigen Mittel, um alle Fortichritte ber Bühnen: technit in Anwendung bringen zu können. Text und Programm geben nur eine Feder— zeichnung des Bildes, das auf der Bühne lebendig wurde. Die frommen Väter wuhten dies auch und unterftühten häufig die Lektüre durch feenifche und bühnentechniſche Bemerkungen, welde fi mitunter zu förmlihen Schilderungen erweitern, die dem tüchtigften Regiffeure Ehre machen würden." ?

Da jhon der „Samfon“ des Andreas Yabricius 1568 zu Münden mit der glänzendften Ausftattung, mit Chören von Orlando di Lafjo und funftvollen Balletts (von Nachtvögeln, Satyrn und Nymphen) aufgeführt wurde, die Tragödie „Barlaam und Joſaphat“ 1573 nicht weniger als 73 Berfonen und einen großartigen ſceniſchen Apparat erheifchte, jo ift fein Zweifel, daß die Jefuiten ihre Theatertehnit nicht aus Spanien überkommen, jondern mehr oder weniger jelbftändig ausgebildet haben. Denn die älteren ı Karl v. Reinhardftöttner, Zur Gejchichte bes Jefuitendramas in Münden (Jahrbuch für Münchner Geſchichte III 54).

2J. Zeidler, Studien und Beiträge zur Geſchichte ber Jeſuitenkomödie X 25. „Damit hatten die Jeſuiten ber kunſtdurchglühten Weiſe der Renaifjance in Bayern aud auf theatralifhem Gebiete das Bürgerrecht verſchafft“ und „ins Wert gejekt, was Richard Wagner in unfern Tagen mit jo großem Erfolge verjudte eine Vereinigung aller Künfte im Rahmen des Dramas“ (K. Trautmann, Ober ammergan und jein Pajfionsipiel, Bamberg 1890, 46 ff).

Das lateiniſche Schuldrama der Jeſuiten. 639

Madrider Theater „de la Cruz“ und „del Principe” waren noch jehr primitiv eingerichtet; erft 1621 (aljo erſt 50 Jahre jpäter) unter Philipp IV. wurde das neue Hoftheater „Buen Retiro“ gegründet, das durd feine mecha— niſchen und fcenischen Vorrichtungen wie durch feine Pradt jene beiden weit überflügelte.

Ebenjo vieljeitig und glänzend wie in München geftaltete fi die Aus- ftattung des Theater auch an andern größeren Jeluitenanftalten, wie 3. B. in Graz, wo ein größerer Teil des öfterreidhiichen Adels feine Erziehung erhielt. Bei öffentlichen Feftlichkeiten, welche zu Ehren des Kaiſers oder vor Mitgliedern des Kaiſerhauſes gegeben wurden, überflügelten die Jeſuiten gemöhnlih alle Veranftaltungen, welche die Bürgerfhaft jelbft traf, und frönten das Feit mit Schauftüden, in welchen die poetiichen Geftalten des antifen Olymps wie die finnigften Allegorien riftliher Dichtung, die feſſelndſten hiſtoriſchen Erinnerungen wie das Leben der Gegenwart in prädtigen Triumphbögen und Fefticenerien, Emblemen und Inſchriften, lebenden Bildern und Feitzügen, feierlichen Reden und Gejängen, und in eigentlich dramatifcher Form zur Entfaltung kamen. Religiöje wie patriotijche Begeifterung durchglühte das Ganze und Hob es in eine ideale, fünftlerifche Sphäre empor, wenn auch der damalige Zeitgefhmad die jhönften Erfindungen und Einfälle mit mancherlei Rokokobeigaben durchwirkte, die unferem heutigen Geihmade nicht mehr entſprechen.

Mahrhaft grandios war das Felt, dad im Herbſt 1617 zu Ehren Ferdinands II. gegeben wurde, als derjelbe, nad) feiner Krönung zum König bon Böhmen, aus Prag nad Graz zurüdkehrte. Nicht minder finnig und poetiih war das Gartenfeft, das zu Ehren Kaiſer Leopolds I. im Juli 1660 auf dem Rojenberg veranftaltet wurde; die Krone der unerſchöpflichen Feſt— lichkeiten bildete das dramatiſche Feſtſpiel „Euftahius und Placidus“, in deſſen Prolog und Epilog die ſchöne Legende, die einen Triumph des Kreuzes verkörpert, in finniger Weile, aber aud mit Aufgebot aller Pracht theatraliicher Majchinerie, zu einer ehrerbietigen und patriotiichen Huldigung an den bvielgeliebten Monarchen geftaltet wurde.

In bejonderer Weile aber haben ſich die Jejuiten durch die Pflege des Theaters um Deutjchland verdient gemadt.

„Wer”, jo jagt K. dv. Reinhardftöttner am Schluß des wohldofumentierten Bildes, das er von bem erften Jahrhundert der Münchener Jeſuitenbühne entworfen?, „wer möchte au nur einen Augenblid im Zweifel fein, daß die Jeſuiten, als fie das bürre Humaniftendrama übernahmen, förderten, durch Benutzung aller Künfte belebten,

ı Drftid. Peinlich, Geihichte bes Gymnafiums in Graz (Programm, 1870) 11—15 58 59. Bol. (B. Duhr 8. J.) Rulturhiftoriiche Bilder aus dem Studenten» leben einer alten Jeſuitenſchule (Hiftor.-polit. Blätter XCVI [1885] 732— 748).

2 A. a. O. 54 55.

640 Fünftes Kapitel.

ihrem Jahrhundert weſentliche Dienfte, ber Kultur unendlichen Vorſchub geleiftet, Geſchmack und Sinn für das Theater und feine helfenden Künſte gewedt und erhalten haben? Und mehr als anderswo ift hierfür im 16. Jahrhundert in Bayern, und vornehmlich in München gejchehen, weil feine Fürften nicht bloß fFreube an Kunſt und Pradt, fondern vor allem Gefhmad und Verftändnis für diefelbe befahen, und wenn fie biefer Liebe auch große Summen opferten, doch biejelben nicht fürftlicen Abſonderlichkeiten und finnlofem Prunke, jondern der wahren Kunſt und ihrem Ge beihen zu gute fommen ließen... .

„Es wäre Undank, heute nad dem MWiederfinden biefes Verftänbniffes jene zu unterihäßen, welche in Deutihlands ſchwerſter Zeit mitgewirkt haben, alle Die Keime zu hegen, welde in fonnigen Tagen unferer Nationalliteratur zu ſolchem Glanze verholfen haben. Das Yefuitendrama des 16. Jahrhunderts aber hat treulich dieſe Pflicht erfüllt, jo daß es in der Geſchichte unferer Kunſt und Literatur eine ehren- volle Stelle einzunehmen vollauf bereditigt ift. Eine Periode höchſten äußeren Glanzes hat es aber unbeftritten in Münden erlebt, an dem Hofe ber Wittelsbacher, deren aufrihtiger Kunftfinn und eingehendes Berftänbnis für alles Große und Schöne fie nad biefer Seite hin in jenem Jahrhundert hoch über alle deutfchen Fürſten ftellte und ihr berechtigtes Lob im Munde aller Künftler erflingen ließ weit hinaus über bie Grenzen ber deutſchen Lande.“

Eine ebenfo glänzende Rolle fpielte das Theater an den großen Kollegien der Jefuiten in Frankreih, wie 5. B. in dem Kollegium Henry IV. zu Ya Flöhe und in dem Kollegium Louis fe Grand zu Paris. Als Ludwig XII. am 2. September 1614 mit der SKönigin-Mutter, der Gräfin von Soiſſons, dem Herzog von Guife, dem Erzbiihof von Reims und einem großen Ge folge La Fleche befuchte, wurde alles aufgeboten, was Kunſt und Literatur bieten konnten, um den föniglihen Gaft würdig zu ehren. Am folgenden Vormittag gaben die Zöglinge im Hofe des Penfionats vor einem dicht gedrängten Publikum eine mythologiiche Vorftellung, melde die Einführung des Königs und der Königin in das Heiligtum der Mufen zum Gegenftand hatte. Siebzehn Boten famen als Gejandte, um fie in ebenjo vielen ver: ſchiedenen Spraden zu begrüßen und in den Olymp aufzunehmen. Am Nahmittag erfchienen König und Hof dann im eigentlihen Theater des Kollegs, wo von den Schülern der Rhetorik eine Tragödie „Gottfried von Bouillon“ aufgeführt wurde. Darauf begab man fih in die Hauptalle des Parts, wo die Schüler der Humanität eine Komödie „Clorinde“ zum beiten gaben. Die Zujhauer waren, dem zeitgenöffifchen Bericht zufolge, bon Bewunderung hingeriffen und beflatichten lebhaft die Wahl der Dramen wie das Talent der Dichter und das Spiel der Akteure. Das Hauptfeftgedidt an den König beforgte P. Petavius, der das Griechiſche und Lateinifche wie jeine Mutterſprache handhabte!.

P. Camille de Rochemonteix S, J., Un College de Jésuites au XVIIe et XVIIIe siecles III, Le Mans 1889, 96 fi.

Das lateiniihe Schulbrama ber Jeſuiten. 641

Für eine frühere Gelegenheit verfahte P. Petavius feine „Karthager” (1612), in den folgenden Jahren den „Uſthazanes“ und „Sijara“. Diele Stüde befigen noch nicht die kunſtvolle Berwidlung, melde Eorneille und Racine den franzöfiihen Dramen verliehen, fie dialogifieren mehr die Ge: Ihichte, aber mit viel Kunft, feitem Stil und großer Eleganz, mit Chor— partien, welche lyriſchen Schwung befiken 1.

Einen nicht minder tüchtigen Theaterdichter erhielt die Jugendbühne bon La Flöhe an P. Eauffin, deffen fünf Dramen: Solyma, Nabudodonojor, Martyrium der HI. Felicitas und ihrer Söhne, Theodorih, Hermenegild, auch an andern FKollegien aufgeführt wurden. Sein „Hermenegild“ wurde erft durch denjenigen des P. Porree verdrängt.

Der ebenfalls durd feine Gelehrfamteit hervorragende P. Gellot ſchrieb die drei Tragödien „Adrian, „Sapor“ und „Chosroes“ und die Tragi- fomödie Reviviscentes (Die Wiederauflebenden) 2.

In den Patres Vavaffeur, Jacques Desbans, Pierre Mambrun, Rene Rapin, Antoine du Cerceau, Noöl-Etienne Sanadon, Pierre Brumoy, Yojeph Desbillons erhielt das Kolleg noch eine ganze Reihe von hervorragenden Literaten zu Profefforen, welde teils die Bühne auf der bisherigen Höhe hielten, teils durch lyriſche, epiſche und didaktiihe Dichtungen ſowie theoretische Werke die humaniſtiſchen Studien fürderten 3.

Die glänzendfte Jugendbühne Frankreichs blieb aber bis zur Unter drüdung des Orden: im Jahre 1762 diejenige des Kollegiums Louis le Grand, das, als „Kollegium von Glermont“ bereit 1564 gegründet, 1682 von Ludwig XIV. als königlihe Stiftung erklärt und mit feinem Namen ausgezeichnet wurde. Im Quartier Latin des alten Paris, nahe bei deu alten Kollegien Ste-Barbe und Montaigu gelegen, umfahten die ftattlichen Hauptflügel des Inſtituts einen großen vieredigen Hof, in welchem bei den feierlichen Preisverteilungen eine Bühne aufgefchlagen und die Iateinijche „Zragödie” gejpielt wurde. Die Zahl der Penfionäre, meift Söhne des hohen und höchſten Models, überftieg oft 500, diejenige der externen Schüler 2000. Auf den Ehrenfigen des Zufchauerraums jah man gewöhnlich den päpftlichen Nuntius, Kardinäle und Biſchöfe, oft königliche Prinzen, Präfidenten und Mitglieder des Parlaments, die Elite des Adels, der Beamtenſchaft, des Welt: und Ordensklerus. Der Mercure de Paris berichtete iiber die Aufführungen *.

Für die Stüde jelbjt wurde mit Zähigkeit an der lateinischen Sprade feitgehalten, deren Pflege ja der Hauptzwed war und die den höhergebildeten Herren noch geläufig genug war, um mit einigem Genuß folgen zu können.

ı Ebd. III 91. 2 Ebd. IIT 108 f. » Ebd. III 112 f. * Emond, Histoire du colläge Louis le Grand, Paris 1845. Boyesse, Theätre des Jesuites, Paris 1880, Baumgartuer, Weltliteratur, IV. 8. u. 4. Aufl. 41

642 Fünftes Kapitel,

Um aber aud dem weiteren Publitum, das teil® im Hofe teil3 bon den Sälen und Zimmern des Penfionats aus zufah, etwas zu bieten, wurden in den Zwiſchenalten Ballette mit franzöfiichem Text gegeben. Diejelben wurden in der lebten Zeit fogar von den Ballettmeiftern des königlichen Theaters eingeübt und meift von Söhnen der vornehmften Familien auf: geführt, während in den Perfonenverzeihniffen der eigentlichen Stüde meht bürgerlihe Namen fi finden.

Für Koftüme, Scenerien und Majchinerien wurden die reichften Mittel aufgeboten. Götter erjhienen oben in den Wollen, Triumphatoren fuhren in antiten Siegetwagen über die Bühne, Orpheus ſetzte Bäume und Felſen in Bervegung, die Titanen wälzten Felſen übereinander und Hommen darauf zum Olymp empor, ganze Kriegsſcharen belagerten eine Feftung. Solche Schau: ftüde erforderten die fomplizierteften Vorrichtungen, die zahllofen Koſtüme, Embleme und Waffen aber die Rüftlammer eines anjehnlihen Theaters.

P. Karl PBorree, der legte bedeutende Dramatiter des Kollegs (von 1708 bis zu feinem Zode 1741 Rhetoritprofeffor an demjelben), war aus literarijchen wie aus pädagogijchen Gründen jehr gegen die Ballette und mußte jeweilen von den Obern genötigt werden, Texte für diefelben zu verfallen; fie hatten fi indes einmal eingebürgert und bejaßen die Gunft der hoben Melt wie die Genehmigung der höchſten geiftlihen und weltlichen Autoritäten, jo daß die Ordensobern an eine Bejeitigung derjelben nicht denken konnten.

Die Tragödien Porrees (Brutus, Mauritius, Sephebus, Myrja, Her: menegild, Regulus, Agapit, Sennaderib) fiehen wie diejenigen feiner Vor: gänger hauptjädlih unter dem Einfluß Senecad und teilen deren Vorzüge und Schmwäden. Schöne Monologe, Dialoge und Sentenzen verbinden ſich darin zu einem gefälligen harmonischen Ganzen; aber e& fehlt meift an lebendiger Handlung, Berwidlung und Spannung; mit Ausnahme der jugendlichen Helden, wie Hermenegild und Agapit, welche der Dichter mit wahrhaft poetiſchem Zauber zu umgeben weiß, ift aud die Charakteriftil vielfach ſchwach, mehr typiſch als individuell. Noch mehr vermißt man die ipannende Berwidlung in feinen Komödien (Panzophilus, Plutophagus, Miſoponus, Blinde Elternliebe, Troſſuli, Philedonus, Die erzwungenen Berufe), in welden er indes die Fehler, Ausfchreitungen, Gefahren und Er: bärmlichfeiten der damaligen vornehmen Jugend mit jcharfer Beobachtung, viel Wi und Komik, originell und lebendig, in natürlicher und friſchet Sprade jdildert ?,

ı J. de la Serviöre, Un professeur d’ancien rögime. Le Pöre Charles Porree 8. J., Paris 1899, 93 ff.

2 C. Porr6e 8. J., Tragoediae (ed. Cl. Griffet), Paris 1745; Fabulae dramaticae (ed. P. de la Sante), Paris 1749. Vgl. de la Serviöre a. a. O. 235 ff 287 ff.

Sehftes Kapitel, Urban VII., Sarbiewsfi und Balbe. 643

Der redlihe Mann, der unter feinen Schülern die Kardinäle Soubiſe, Rohan, Bernis, die Staat3männer d’Argenjon, Choiſeul, Maupeou, Turgot, Malesherbes, den Mathematifer La Condamine, die Schriftiteller Greffet, Freron, Diderot, Helvétius und Voltaire zählte, hat ſeinerſeits alles auf- geboten, ihmen Literatur und Schultheater zu einem liebenswürdigen Mittel nicht nur literarifcher, jondern auch fittliher Bildung zu maden; aber gegen die Einflüffe des Hofes, der gefamten hohen Welt und der unterwühlten bürgerlichen Gejellihaft fämpften er und feine Ordensgenoſſen vergeblid an!, Sie waren das erfte Opfer, das die „Aufflärung“ forderte.

Inwieweit das lateinische Schuldrama auf die Entwidlung der franzöfifchen Dramatik, die Blüte des franzöfiichen Klaffizismus wieder auf das Schul: drama eingemwirkt hat, bedarf noch eingehenderer Unterfuhung. Die franzöſiſchen Intermezzos führten übrigens fhließlih dazu, daß vereinzelt auch auf der Schulbühne franzöfiihe Stüde Eingang fanden. P. Le Jay verſuchte fein Glück mit einem Ioseph venditus (Joſeph von feinen Brüdern verfauft) in franzöfifcher Bearbeitung. Im Prolog ließ er die lateiniſche und die franzöfiihe Mufe zufammen auftreten und gab ihnen den Rat, fi freundlich auszuföhnen:

Finissez un combat desormais inutile, L’aceord entre vous est facile: On est prös de s’aimer,

Quand on se laisse dösarmer.

Vivez unis, vivez ensemble: Est-il rien de plus beau ?

Le mäme interöt vous rassemble,

Travaillez a un spectacle nouvean ®.

Im Franzöfiichen entwidelten jedod die vorwiegend lateiniſch gebildeten Poeten nicht dieſelbe Gewandtheit. Die weltlihen Dichter waren ihnen über- legen, und der Glanz der eigentlihen Schaubühne drängte das bisherige Schultheater zurüd, ehe noch der Niedergang des franzöfiihen Königtums alle Berhältniffe umgeftaltete.

Sechſtes Kapitel. Arban VIII, Sarbiewski und Balde.

Der Traum, welchen die italieniihen Humaniften des 14. und 15. Jahr: hunderts genährt und welcher noch jo viele Nachfolger beihäftigte, ging nicht

ı J. de la Serviäre a. a. ©. 387 388. ® Rochemonteix 8. J., Un Collöge de Jesuites au XVII et XVIIIe

siöcles III 200 f. 41*

644 Sechſtes Kapitel,

in Erfüllung. Das alte Hellas und Rom ftanden nicht wieder vom Grabe auf. Die alte Sprade Latiums ward nicht wieder die herrjchende Sprade der Poeſie, diejenige Athens nod weniger. hr Streben und Ringen, ihr Schaffen und Mühen war indes feineswegs vergebend. An der Schönheit des alten Lateins, an den unübertrefflihen Vorbildern des klaſſiſchen Alter: tums ſchmiedeten ſie das neue Idiom Italiens zu ſeiner Feinheit, Fülle und Vollendung, ſchulten fie ihren Geſchmack, ſchufen fie jene neue Literatur, welche den übrigen VBöllern Europas die Bahn wies, wie fie, in glüdlicher Berbindung des antifen und des nationalen Elements, mehr Iernend als nahahmend, mehr genießend und jelbftihöpferifch tätig als ängſtlich ſuchend und forſchend, neue Werke von klaſſiſcher Vollendung hervorbringen könnten. An der lateiniſchen und italienischen NRenaiffanceliteratur bildete ſich dam im 16. Jahrhundert die ſpaniſche, die portugiefiiche und englifche Literatur zur reichften Fülle heran, gewann im 17. Jahrhundert fogar die holländiſche eine Blütezeit, entwidelte fih die ſpaniſche zu ihrem höchſten Glanze und gewann die franzöfiihe jene Verfeinerung, welche fie für lange zur Richterin des Geihmads maden Sollte.

So haben die katholiſchen Völker, ungeftört duch die furchtbaren Wirren und Kämpfe der Glaubenstrennung, in ruhiger Entwidlung die reihen Früchte geerntet, welde Renaiffance und Humanismus ihnen bringen fonnten, während das dom Bürgerkrieg zerriffene, von fremden Mächten niedergetretene Deutſchland faft zwei Jahrhunderte warten mußte, bis es an jener geiftigen Ernte aud feinen Anteil erhielt. Diefe Ernte aber wäre unzweifelhaft eine noch reichere geworden, wenn Deutſchland, gleich den katholiſchen Völkern, die volle Erbſchaft der kirchlihen Überlieferung bemahrt und unter ihrer fegensvollen Einwirkung Kunft und Literatur im edit nationalem Geilt an den großen Vorbildern des klaſſiſchen Nitertums weitergebildet hätte. Denn nirgends hat fih die Kirche der Entwidlung der nationalen Literaturen hemmend entgegengeftellt, nirgends das Studium der alten Kunſt und Literatur verkürzt, den literariichen und künſtleriſchen Beftrebungen vielmehr eine Freiheit gegönnt, die ihr vielfadh zum Vorwurf gemacht worden ift, aber mit nicht mehr Recht, als man ihr das gerade Gegenteil vorgeworfen hat, das geiftige Leben gefnebelt und daniedergehalten zu haben.

Je reiher und blühender fi die nationalen Literaturen entfalteten, defto mehr mußte, wie ehedem jchon im Mittelalter, das Intereſſe für den Humanismus überhaupt, befonders aber für die lateiniſche Dichtung zurüd: treten. Es blieb ihr noch die ſchöne Aufgabe, den vorhandenen Schaf der fiturgifchen Poefie zu bereihern; aber das konnte nur im beſchränktem Maße der Fall fein, da das Mittelalter auf diefem Gebiete ſich nahezu erſchöpft hatte. Auch für Feſt- und Gelegenheitsdichtung in den höheren, gebildeten

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Urban VIIL, Sarbiewsfi und Balbe. 645

Kreifen blieb das Lateinische no lange in Mode. Grabſchriften und Feſt— ſprüche, Inſchriften auf Bildern, Gebäuden und Geſchenken wurden nod in lateiniſchen Berjen abgefaßt, öffentliche Tyeftlichleiten mit lateiniſchen Dden und Carmina gefeiert. Doch zog fi das Lateinifhe im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts mehr und mehr vom Leben in die Schule zurüd, wo e3 allerdings nod eine ftattlihe Fruchtbarkeit entwidelte. In größeren Bibliothefen nehmen die „Neulateiner“ einen ziemlihen Raum ein. In der Bibliographie der Jeſuiten ift nächſt der geiftlihen Erbauungsliteratur faum ein Fach jo ſtark vertreten wie das der humaniftiihen Scdulliteratur: Grammatifen, Wörterbücher, Klaffiterausgaben, Klaffitererflärungen, latei— niſche Gedihtfammlungen, Reden, Briefe, Schultomödien, lateinische Gedichte aller Art,

Es handelt fih Hier durdaus nit um Somderbeftrebungen oder Sonderangelegenheiten der Jeſuiten. Sie Haben in ihren Schulen lediglic) den hriftlihen Humanismus aufgenommen, wie er jchon vor der Glaubens: trennung eine der Grundlagen der höheren Bildung geworden war, dieje Erbihaft dann weiter gepflegt, organifiert und ausgebildet, wobei fie ſich ettwaige Errungenſchaften der protejtantiihen Wiffenfhaft und Pädagogit jpäter ebenfo zu nutze machten wie diejenigen der fatholiichen Schulen. Daß fie in der neulateinifchen Literatur jo ftark vertreten find, rührt lediglih von der Menge und regen Tätigkeit ihrer Schulen her. Von nicht geringer Bedeutung war es immerhin, daß ſchon der Gründer des Ordens und feine erften Genofjen der humaniftiihen Bildung ebenjoviel Intereſſe entgegen: brachten al3 den theologiihen und philofophiihen Studien und jo den un: heilvollen Riß heilten, der Humanismus und Scholaftif in feindliche Lager geipalten Hatte. Bereits 1561, nur ein Jahrzehnt nad der Gründung des Römischen Kollege, lehrte an demjelben Petrus Joh. PBerpinian, einer der herporragendften Latiniften feiner Zeit?; ihm folgte Johannes Betr. Maffei, der ebenjo ein vollendet klaſſiſches Latein fchrieb.

An den Schulen der übrigen Orden, an andern geiftlihen Seminarien und meltlihen Schulen wurde aber das Lateiniſche nicht weniger eifrig gepflegt, in Proſa wie Verſen geübt, die Fertigkeit mit ins Leben hinüber: genommen und bei poetiiden Männern geiftlihen und meltlihen Standes die Luft erhalten, die lateiniihe Sprache jowohl für jede Art von Gelegen- heitsdichtung wie auch für eigentliche poetiſche Leitungen zu verwenden.

8. Wadler, Handbud der Geſchichte der Literatur III, Frankfurt a. M. 1824, 76—82, Norrenberg, Allgem. Literaturgeihichte I?, Münfter 1896, 405—459. Dr Ehrift. Schlüter, Lateinifhe Poeten der Gejelihaft Jeſu, in Eantu (Brühl), Allgem. Weltgeihichte X, Schaffhaufen 1861, 851—371.

® P.Godeau 8. J.. De Petri loannis Perpiniani vita et operibus, Paris. 1891.

—— en

646 Sechſtes Kapitel.

So hat fih 3.8. Etienne de Pleurre, Kanonikus von St Viciot in Paris, in feiner Aeneis sacra und feinen Heiligenlegenden (1618) „bemüht, „aus dem goldenen Gößenbilde des Moloch“, wie er den Wortidat der antiken Literatur benennt, „Kronen für Chriftus und feine Märtorer zu jchmieden. So hat der Portugiefe BPaypa d’Andrade (1576—1660) in feiner „Belagerung von Chaul“ dem PVerfaffer der „Lufiaden“ in reider Erfindung, malerifcher Darftellung, harmoniſchem Bersbau, gejchidter An- ordnung und Einkleidung der wohlangebradten Epifoden mit einem gewiſſen Glüde nachgeeifert 1.

Die größere Maſſe diefer Schulproduftionen hat nun für die Literatur: geihichte im engeren Sinn unmittelbar nicht viel mehr zu bedeuten als etwa die fatechetiiche und erbauliche Literatur jener Zeit. Mittelbar jedoch und als Ganzes hat fie einen nicht zu unterjhäßenden Einfluß auf die Literatur ausgeübt. Nicht wenige berühmte Dichter der romanischen Völler von Taſſo und Galderon bis herab auf Voltaire find Schüler der Jefuiten gemeien und haben aus ihrem Kurs der „Humanität” oder „Poeſie“ reichliche Anregung mit ins Leben genommen. Die „Sarlotis” des P. Jatob Majen, ein reines Schulepos, ift höchſtwahrſcheinlich nicht ohne Einfluß auf Vondels „Lucifer“ und Miltons „Verlorenes Paradies” geweſen. Wie die Schul— lomödien find aud die Lyrifa, Elegien und Epen der Jejuiten zum Zeil in ziemlich weite Sreife gedrungen; mande haben viele Auflagen erlebt und aud bei Proteftanten Anerkennung gefunden.

Eine noch ungleich) höhere Bedeutung erlangte diefe Schulliteratur aber durch ihren Zufammenhang mit der alten Religion, Kunft und Bildung überhaupt. Sie half wejentlih mit, den heranwachſenden Generationen den ehrwürdigen Glauben der Väter, das Verftändnis der biäherigen Kunft und Literatur, die Errungenschaften des hriftlihen Humanismus, die künſtleriſche Schhaffensfreudigfeit und den Geift der Poeſie zu retten. in meuerer, durhaus undoreingenommener Kunſtkritiker feht nicht an, der Erhaltung des Katholizismus aud die Erhaltung der Kunſt in Europa zuzufchreiben.

„Man mag jagen, was man will, aber ohne die Jeſuiten hätten wir, hätte die ganze Welt heute längſt feine Kunft mehr. Es ift viel zu wenig, zu behaupten, fie hätten die Kunſt der Gegenreformation, den Baroditil, geſchaffen; fie Haben uns vielmehr überhaupt den Begriff, die Tradition deffen, was Kunſt heißt, erhalten und gerettet vor der wahnmihigen Ilonoklaſtie des Proteftantismus. Mag ein Moderner Heute noch jo jeht gegen die Barode wüten und fpätere Erjheinungen, fog. Regenerationen der edlen Stile, wie man e& nennt, allein anerfennen: laßt ihn nur aus zürnen und fragt ihn dann, ob er wohl glaube, daß auch dieje jchönen

Morrenberg, Allgem. Literaturgeſchichte I? 438.

Urban VII, Sarbiewsti unb Balbe. 647

neuen Kunſtformen möglich gewejen wären, wenn nicht der Katholizismus, in erfter Reihe die Jeſuiten, die einzigen gewejen wären, melde troß Re- formationd- und Dreißigjährigem Krieg den Faden der Kunſt nit aus der Hand verloren? Denn, gibt es in der zweiten Hälfte des 16. Jahr: hunderts und während des 17. irgendwo irgend eine andere Kunft ala auf fatholiihem Terrain, als im Geifte der römischen Kirche? Sämtliche damals blühenden Schulen Italiens: die Effektifer von Bologna, die Aka— demiler von Florenz und Rom ſowie die Naturaliften Neapels find auf fünftlerifhem Gebiete ebenjogut geiftige Streiter des Katholizismus als Spaniens Herrera, Alonſo Cano, Zurbaran und Murillo; ein Rubens tft ohne Jejuiten nicht denkbar. Was aber bleibt außer diefen übrig? Beſaß Deutihland, befaß das hugenottiſche Frankreich, England auch nur einen Meifter, der den Genannten an die Hüften reichte und die alten großen Kunfttraditionen auf die Nahlommen hätte verpflanzen können? Die Ihönften Porträts eines Franz Hals oder Rembrandt ftehen in dieſem Sinne nit auf der ethiſchen und kulturhiſtoriſchen Höhe, um als Faktoren mitgezählt zu werden. „..

„Die ganze germanifche Geifterwelt lag erftarrt und erfroren im eiligen Banne des nüchternen Dogmenftreites, des öden Haders der fich befehdenderi Selten. Jedes friſche Hälmchen, jede Blüte der Poeſie und Kunſt war ber: trodnet vor dem falten Hauche des religiöfen Streites. Die Kunſt hatte alle ihre Traditionen verloren: die Architektur feierte in proteftantijchen Landen, denn Kirchenbau war überflüffig, da man die Dome der alten Kirche verwendete; Profanbau aber gedieh nur zum fümmerlichiten, weil Die evangelifche Einfachheit in jeder Regung des Schönheits- und Pradtgefühls einen Abfall zum papiftiihen Greuel erblidte;, Malerei und Bildhauerei führten direkt zum Gößendienft und waren aufs äußerfte eingeſchränkt; die jpärlichen Gebiete aber, in denen fi, und zwar nur auf Heinen Stüdden Erde, in den Niederlanden, eine Fortblüte der Malerei zeigte, die wenigſtens zum Zeil vom Satholizismus unabhängig ift, dieſe ſpärlichen Dajen zeigen uns das realiftiiche Porträt, das rohe Genre mit jeinen ewig bejoffenen Bauern, das Stillleben mit Schinken und Auftern als die lekten Refte der Kunft vertreten! Die kirchliche und die Hiftoriiche Malerei, ſowie den heitern Abglanz des ewig ſchönen Erbgutes der klaſſiſchen Antile in der mytho— logiſchen und allegoriſchen Kunſt hatte der Proteftantismus vernichtet, Die Baufunft jant zum gemeinen Nutzbauweſen herab, die Plaſtik zur kleinlichen Ornamentif.

„Da brad in diefe ausgeleerte Steppe von Süden die Kunſt ber Jefuiten wie ein Frühlingsfturm herein. Übervoll von Geftaltungstraft, von Pracht, von Zauber der Farbe, des Glanzes und Goldes, mit ſüdlicher Heiterkeit und Grazie entlud ſich dieſes Gewölk wie ein Lenzgewitter über

J

648 Sechſtes Kapitel.

die ſchmachtende Erde, und der funfibegabte jüddeutihe Stamm öffnete den Buſen weit dem köſtlichen Ozondufte, den dieſer warme Regen verbreitete.“ 1

Das ift wohl etwas allzu enthufiaftiich gejagt; aber ala Kern dieſer Ausführungen wird man immerhin die Tatſache feſthalten dürfen, daß die Kirche der Kunſt und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts Feine geringen Dienfte geleiftet hat.

Rom ftrahlte am Beginn des 17. Jahrhunderts freilich nicht mehr in jenem vollften Sonnenglanze der Kunſt wie am Beginn des vorigen; aber dem Frühling und Sommer folgte no ein wonniger, fruchtreidher Herbit. Der mächtige Petersdom, die größte Kirche der Welt, an der Bramante, Giuliano da San Gallo, Raffael, Peruzzi, Antonio da San Gallo, Midel- angelo ihr Genie erprobt, ward durch Maderna endlich vollendet und fonnte am 18. November 1626 von Papft Urban VIII. eingeweiht werden. Bernini gab dem gewaltigen Bau 1629 feine zwei Glodentürme und um: ſchloß den Petersplat 1667 mit den pradtvollen Kolonnaden. In Do: menidhino lebte noch etwa3 von dem Geifte Raffaelö weiter, in Caravaggio etwas bon der ungezügelten Kraft Michelangelos. In Guido Reni, Carlo Maratta, Saffoferrato Hingt, wenn auch gedämpft und abgeſchwächt, nod) der fünftleriiche Geift der Renaiſſance nad. Gleih den Päpften der Re naiffance, aber maßvoller und mit mehr Rüdfiht auf die idealen Ziele des kirchlichen Lebens, förderten die Päpfte des 17. Jahrhunderts auch die gelehrten Studien und die Literatur. Klemens VIII. erhob mehrere der verdienftvollften Gelehrten, wie Baronius, Du Berron, Bellarmin, Zolet zur Kardinalswürde, Paul V. bereicherte die Vatikaniſche Bibliothek, Gregor XV. errichtete das nicht nur für die Miffionen, ſondern aud für Sprad: und Völkerkunde hochwichtige Weltinftitut der Propaganda. Ge: lehrte aus den verjchiedenften Teilen der Welt, wie der Grieche Leo Allatius, der Maronite Abraham Echellenfis, der deutſche Jeſuit Athanafius Kircher, der Hamburgifche Latinift Lukas Holflenius (jpäter Bibliothekar der Baticana), beriverteten die wiſſenſchaftlichen Schäße, die in Rom zujammenfloffen, in mannigfader Weile. Am griehifchen Kolleg erhielten fih mit der leben- digen Übung diefer Sprache auch die Helleniftiihen Studien in Blüte, am römischen wurden die Altertümer Latiums gefammelt und ftudiert und der erfte Anlauf zu ägyptologiſchen Forfhungen unternommen, an der Propaganda die Sprachen des Drients gepflegt. Den in der zweiten Hälfte immer mehr um ſich greifenden Rolofogefhmad befämpfte die von Königin Ehriftine begründete Alademie, aus welcher jpäter fi) die „Arkadia“

! Dr Albert Ilg, in Berichte und ORION bes Altertumsvereind zu Wien XXII (1886) 222 ff.

Urban VIIL, Sarbiewäti und Balbe. 649

Als am 6. Auguft 1623 der Kardinal Maffeo Barberini al3 Urban VII. ! aus dem Konklave hervorging, herrſchte ein allgemeiner Jubel unter den Gelehrten, unter allen Freunden der Wiffenihaft und Kunſt. Denn des Griechiſchen kundig und voll Intereffe für helleniſtiſche Studien wie für die Entdedungen auf dem Gebiete der Naturmiffenichaft, hatte er auch mit Liebe und Luft, wie mit wahrem Talent der lateinischen Dichtkunft gepflegt. Von dem Glanze der Tiara umftrahlt, wurden feine Gedichte jet gedrudt, viel» fah neu aufgelegt, ins Italienische übertragen, jogar in Muſik gejebt. Auch fein Neffe, der Kardinal Franz Barberini, war ein begeifterter Gönner der Fünfte wie der Literatur. Der Plan, die Hymnen des Brevierd zu verbefjern, führte dem vatikaniſchen Kreiſe den begabteften lateinischen Dichter jener Zeit zu, den jungen Polen Matthias Kaſimir Sarbiemäti?. Als Sohn eines alten Rittergefchledhtes 1595 geboren, war er 1612 zu Wilna der Gejellihaft Jeſu beigetreten und Hatte faum feine Studien voll: endet, als er (1623) um feiner ausgezeichneten lateiniſchen Dichtungen willen bereits den Ruf nah Rom erhielt. Mit der Begeifterung eines mittelalterlihen Pilgers begrüßte er die ewige Stadt, die auch die Kämpfe und Stürme des 16. Jahrhunderts wie jo viele andere ſiegreich über: dauert Hatte,

Du gaftlih Dad für alle weiten Lande,

Du meines Glaubens ſchönſter Perlenihmud! Dom Kapitole fchweift dein Herrſcherblick

Nah Oft und MWeft, weit über Land und Dieere. Hier ragt des Quirinales Völferwarte,

Und dort die Königsburg bes Vatikans.

Bon dieſen Finnen ſchaut der Ehriften Vater Im Staub vor fi den Erbfreis flehend fnien. Es wölbt fi über ihm in Andachtfeier

Der Himmel und eröffnet feine Pforten,

Wenn jegnend fleht des Hohenpriefters Wort.

O welche Macht der Majeftät fein Haupt

Bor Erd’ und Himmel feierlih umftrahlt!

Dem Ewigen allein weicht feine Würde.

! Cardinalis Maphaeus Barberini, postea Urbanus VIII, Poemata, Lutetiae Paris. 1623; Colon. 1626; Bonon. 1629; Romae 1631; Antverpiae 1634 (Plantin); Romae 1637 1640; Paris. 1642; Oxoniae 1726 (ed. J. Brown). Seine Poesie toscane erfhienen zu Rom 1638; Poesie latine tradotti in verso da F. Fer- ranti, Roma 1642; Muſik dazu von S. Girolamo Vapsberger, Poemata et carmina composita a Maphaeo Barberini, musieis modis aptata, Romae 1627.

® M. C. Sarbiewski, Poemata omnia. Editio longe plenissima, Stara- viesiae 1892. L.G. Langbein, Commentatio de Mathiae Casimiri Sarbievii vita, studiis et seriptis, Dresdae 1754. 5. 8. Diel, M. K. Sarbiewsli, ber Vorgänger Baldes (Stimmen aus Maria-Laah IV [1873] 159—172 343—357; V [1873] 61—76 365—377). ®2gl. ebd. XLIV (1898) 112 118.

650 Sechſtes Kapitel.

Er ſchwebt einher, bewundert von den Sternen Ein leuchtend Licht, in dunkelem Gewölk,

Schaut er herab auf alle Erdengröße.

Und dort ftrebt himmelwärts Sankt Petri Tempel, Ein Königswerk, das, deiner würdig, einft

Du fühn begannft, erlaudter Konftantin! Seitdem ermüdet man Jahrhundert ſchon

Si an dem Bau; faum da ber greifen Welt Des Meiſterwerks Bollendung will gelingen. Vernichtung ſah es rings feit feinem Werden, Und, während Throne ftürzten, Reiche ſanken, Erhebt fi) langfam bdiefes eine Haus!.

Die übrigen Latiniften, weldhe mit Sarbiewski zur Revifion der alten Hymnen herangezogen wurden, waren jämtlid Jtaliener: Famian Strada (1572— 1649), der Geichihtichreiber des Abfalls der Niederlande (De bello Belgico), ein vorzüglicher Stilift, war auch poetiih begabt, mie jein „Wettftreit der Flöte und der Nadtigall“, feine Varroniſche Satire „Momus“ und Gelegenheitsgedichte ausweiſen. Wie fein Freund Leo Allatius meldet, Hatte er auch eine vollftändige Poetik ausgearbeitet, die aber nicht im Drude erfhien. Tarquinius Galuzzi (1574—1649) gab 1611 drei Bücher Carmina heraus, ſchrieb eine Poetif fowie Kommentare zu Bergil und Nriftoteles und widmete dem Kardinal Barberini eine Abhand- lung über die „Erneuerung der antilen Tragödie". Am ftärkfien war aber bei der Hymnenreviſion Hieronymus Betrucci (1585 —1669) beteiligt, Profeffor der Rhetorik am Römischen Kolleg, fein Dichter, jondern Rhetor und Stilift. Hauptſächlich auf feine Rechnung werden die 925 falſchen Silbenmefjungen geſchrieben, welche man in den alten Hymnen aufgefunden haben will und welche dann geändert wurden. Die Reform wurde jpäter jehr verſchieden beurteilt?, Kenner und freunde der mittelalterlihden Hymnit und Mufit ſprechen fid ungünftig darüber aus, während die Verehrer der Antike und Renaiffance diefelbe lobten. Den humaniftiihen Studien umd der neulateiniſchen Boefie ift es jedenfalls nicht wenig zu gute gelommen, dab der Papft jelbft ſich für die leßtere Richtung erklärte und für das neue Brevier die Hymnen auf die Fefte der hl. Martina, des hl. Hermenegild und der Hl. Eliſabeth von Portugal verfaßte. Auh Kardinal Robert Bellar

! Sarbievii Opera: Miscellanes. Iter Romanum ®. 221 f; überjept von % B. Diel, M. K. Sarbiewsfi, der Borgänger Baldes (Stimmen aus Maria— Laach IV [1873] 348).

: ©. Bäumer, Geſchichte des Breviers, Freiburg i. B. 1895, 507—509. Sommervogel, Petrucci IX 633 634. Daß der Papft meift ſelbſt entſchied, geht deutlich aus einem Briefe Stradas hervor, gedruckt bei Venturi, Gli inni della Chiesa, Firenze 1880, ıx. ®gl. Civilta cattolica. Ser. 17, V, Roma 18%, 208 209.

Urban VIII. Sarbiewsli und Balde. 651

min, der größte Apologet der Kirche gegen den Proteſtantismus, der das Brevier mit Hymnen auf die hl. Maria Magdalena bereichert hat, iſt eher dieſer Richtung beizuzählen.

Sarbiewski ward von jeiten Urbans VII. eine wahrhaft väterliche Huld und Freundfhaft zu teil!. Der Papft ließ es ſich nicht nehmen, ihn jelbft mit dem Lorbeer zu krönen. Unvergeßliche Erinnerungen begleiteten den jungen Dichter 1624 in die Heimat zurüd, wo er 1625 zum Pro: feffor der Poeſie in Wilna ernannt wurde. Hier hatte er vier Jahre reihe Muße, fih der Dichtung zu widmen. Nachdem 1625 drei Bücher Dden von ihm zu Köln erjchienen waren, konnte er diejelben jhon 1628 beträchtlih vermehrt in zweiter Auflage herausgeben. Im Jahre 1629 wurde er Brofefjor der PhHilofophie, 1632 der dogmatiſchen Theologie und 1635 Beichtvater und Hoftheologe des Königs Ladislaus; 1640 rief ihn ein früher Tod aus diefem Leben ab. Schon die erſte Ausgabe feiner Gedichte Hatte ihm indes einen europäiſchen Ruf verſchafft; die fünf ftets vermehrten Auflagen, welde den zwei erften folgten, breiteten denſelben immer weiter aus. Grotius ftellte ihn über Horaz; deutſche, dänifche, franzöfiihe und engliihe Kritiker anerfannten ihn als einen glüdlichen Mitbewerber der antiken Lyriker, Wereinzelt wurde ihm Duntelheit und allzu große Glut der Phantafie vorgeworfen; allein dies hing gerade mit dem Reichtum umd der Fülle zufanımen, womit er das Lateinische beherrſchte. Er mußte den Ton der Sappho und des Anakreon ebenjogut zu treffen wie jenen des Horaz oder Pindar, aber nicht als Nahahmer, fondern mit innig wahrem, lebenswarmem und fräftigem Gefühl, vorab in Afforden der aufrichtigften DBaterlandsfiebe und tiefgefühlter Frömmigkeit.

Al Sarbiewski 1623 auf feiner italienischen Reife durch Ingolſtadt kam, findierte dort ein junger Eljäfer aus Enfisheim, Jakob Balde, der bald fein berühmtefter Mitbewerber werden follte. Er wurde nicht auf den— jelben aufmerkſam; aber Balde behielt ihn wohl im Andenfen. Ein Yahr jpäter trat aud er, im Alter von zwanzig Jahren, in denjelben Orden ein und erregte durch jein poetiiches Talent raſch die Aufmerkjamteit feiner Ordensgenoſſen wie diejenige mweiterer Kreiſe. Kurfürſt Marimilian I. zog ihn als Prediger an ſeinen Hof, wo er dreizehn Jahre verweilte, und übergab ihm dann in Neuburg an der Donau ſeine Prinzen zur Erziehung. Ob— wohl von ſchwächlicher Geſundheit, brachte er es doch auf 64 Jahre und ſtarb 1668, hochgeehrt vom bayriſchen Hofe und von den angeſehenſten Staatsmännern und Gelehrten ſeiner Zeit.

über die Abänderung des Hymnus Ad regias Agni dapes durch Sarbiewsli vgl. C. Daniel, AMlaſſiſche Studien in der chriſtlichen Geſellſchaft (deutſch von Gaifjer), Freiburg i. B. 1855, 226—230 314—820. .

652 Schftes Kapitel.

Mochte Sarbiewsti ihn an Feinheit und firenger Klaffizität über: treffen, jo war er dagegen weit genialer, mannigfaltiger und erfindungs— reiher. Er war vierzehn Jahre alt, als der Dreikigjährige Krieg aus— brad, hat ihn mit dem ganzen Schmerz eines tiefempfindenden deutjchen Baterlandäfreundes mitgelebt, hat ihn noch um zwanzig Jahre überdauert und mit nicht geringerer Zeilnahme die bittern Folgen gefoftet, welche er hinterließ. Sein eigenes reiches Seelenleben ala Dichter, Gelehrter und Priefter erweiterte fih durch die angejehene Stellung am kurfürftlihen Hofe, und jo ift jeine Dichtung zugleih zu einem merkwürdigen Spiegelbild feiner Zeit geworden, allerdings verflärt durch feine tiefe Religiofität, feinen warmen Patriotismus, jeinen erhabenen Ernft wie feinen freundlichen, ſchalkhaften Humor,

Das jhönfte Denkmal hat ihm Gottfried v. Herder in feiner „Terpfihore“ gejegt, indem er eine Auswahl der Igriichen Gedichte metriſch ins Deutjche überjegte und dem echt „deutjchen“ Dichter jo einen Ehrenplaß in unferer Nationalliteratur verſchaffte. Selbſt Goethe konnte diefen Proben und dem Dichter jeine Hochachtung nicht verfagen. „Er bleibt bei jedem Wiedergenuß derjelbe, und mie die Ananas erinnert er einen an alle gutſchmeckenden

! Bollftändigite Ausgabe: J. Balde, Opera poetica omnia, Monachii 1729 (I. Lyricorum. Epodon; Il. Sylvarum; III. Batrachomyomachia. Panegyricus equestris. Cetera Epica. Virtuosae torvitatis encomium; IV. Solatium podagri- eorum. Eclypsis solaris.. Antagathyrsus. Medicinae gloria [22 Satiren]. Contra abusum tabaci. Nihil gratis. Varii modi mendicandi. Crisis in seipsum; V. Urania vietrix. Elegiae variae [33]; VI. Iephthias. Philomela. Arion Scaldicus. Drama georgicum. Castrum ignorantiae expugnatum; VII. De vanitate mundi. Aga- thyrsus. Olympia sacra. De 8. Ursula; VIII. Tillii parentalia.. Maximiliani I, Austr. facinora. Templum honoris Ferdinando III. apertum.) Carmina se- lecta (herausgeg. von 9. K. Orelli, Züri 1805; Fr. Rohn, Wien 1824; anonym Augsburg 1829). Carmina Iyrica (ed. B. Müller, Monast. 1844; Ratisb. 1884; E. Hipler, Monast. 1856). Überjegungen: Oben und Epoden (von 3. B. Neubig, Münden 1828 1829; 3. Aigner, Augsburg 1831); Mebi- zinifhe Satiren und Troſt für Podagriften (von J. B. Neubig, Münden 1833); Meariengelänge (von C. B. Schlüter, Paberborn 1857); Ausgewählte Dichtungen (von 3. Schrott und M. Schleich, Renaiffanee, Münden 1870); Geſchichtliche Dden (von F. &. Binhad, Neuburg 1868; Amberg 1872); Krieg ber Fröſche und Mäufe (mit Iatein. Zert von M. %. Berhem, Münfter 1859); Der wieder zum Leben erwadhte Tilly (von 3. Böhm, Münden 1889); Geſammelte Marien- gedichte (von P. B. Zierler, I. Balde ald Marienfängerr, Münden 1897). 8. Weftermayer, 9. Balde, Sein Leben und feine Werte, Münden 1868. Rebe von Johannes Schrott bei ber Balde-Feier in Großhefiellohe am 11. Auguft 1868 (Allgem. Zeitung 1868, Nr 226). P. Mury et C. Sommervogel, I. Balde, Notice et bibliographie, Strasbourg 1901. 3. Bad, Jakob Balbe, Freiburg i. B. 1904. G. Gietmann, Jakob Balde (Stimmen aus Maria Saal LXVI [1904] 1—20).

Urban VIII., Sarbiewätt und Balde. 653

Früchte, ohne an feiner Individualität zu verlieren.” Herder drang indes liebevoller, ernfter und tiefer in Baldes Weſen ein!.

„Der lyriſche Dichter ift Apollos Priefter, der nicht in eigenem Namen, jondern aus Kraft bes ihn begeifternden Gottes ben Sterblichen Lehre und Troft and Herz legt und Wahrheit verfündigt. Mein Dichter tut diefes in einer großen Art. Starfe Gefinnungen, erhabene Gedanken, goldene Lehren, vermifht mit zarten Empfindungen fürs Wohl der Menſchheit und für das Glück feines Vaterlandes, ftrömen aus feiner vollen Bruft, aus feiner innig bewegten Seele. Nirgend buhlt er um Beifall; ein ftrenger Umriß bezeichnet feine Denkart, auch wo er am janfteften redet. Er lebte in ben Zeiten des Dreikigjährigen Krieges und fah die jammervollen Scenen besjelben. Mit verwundetem Herzen tröftete er die Vertriebenen, richtete die Gefunfenen auf; indem er das Schickſal Deutſchlands beweinte, fuchte er Deutfhlands befferen Geiſt zu weden und es zur Tapferkeit, Neblichleit, Eintradht zu ermahnen. Wie ergrimmt ift er gegen bie falſchen Staatsfünftler! wie entbrannt für bie gejunfene Ehre und Zugend jeines Landes! Allenthalben in feinen Gedichten fieht man feine aus— gebreitete, tiefe ſchneidende Welttenntnis bei einer edit philofophifchen Geifteswürbe. In diefem und in mehrerem Betracht ift er ein Dichter Deutſchlands für alle Zeiten; mande feiner Oben find von fo friiher farbe, als wären fie in ben neueften Jahren gejchrieben.

„Und diefen Schaf von Empfindungen bietet er und in einer Form dar, bie unftreitig zu ben glüdlichften gehört, deren fi die menjhliche Sprache bedienen darf; ich meine die Iyrifche Weife. Sie bricht die Blumen der ſchönſten Gefinnungen und ordnet fie mit Grazienhand zum Strange. Über ben gemeinen Gang ber Dinge er: hoben, gibt die Iyrifche Diufe uns eine höhere Anficht diefer Dinge und weiß uns in wenigen Strophen mehr zu fagen, ald lange Abhandlungen jagen könnten; denn fie gibt reine Rejultate, Refultate langer Erfahrung, tiefer Betrachtung, inniger Gefühle. Dur Wohlklang fpricht fie zu unferem Ohr, durch eine georbnete Reihe von Bildern und Empfindungen zu unferer Seele, bis fie ihr fleines, in allen Zeilen durchdachtes Kunftwert, ſobald es fein kann, oft undermutet, immer aber auf eine befriedigende Meife vollendet,“ ?

Eine andere Beurteilung, ebenfalls von nicht-fatholifcher Seite, ergänzt diejenige Herders folgendermaßen:

„Über Baldes dichteriſche Begabung und relative Vollendung haben Herber, Orelli, Knapp, Neubing u. a. eher zu wenig als zu viel geſagt. Schwungvolle Phantafie, Gedanfentiefe, männlicher Ernft, ſprudelnder Humor, geiftreiche Erfindung, geniale Kompofition, unerſchöpflicher Reichtum an eigenartigen Wendungen, Aus- drüden und Figuren, reizvoller Wechfel der Scenerie und gelungenfte Behandlung der ſchwierigſten Kunftformen das alles findet fich in einem armen deutſchen Menſchen⸗ find in der traurigften Zeit, die je unfer Volk heimgefucht hat, vereinigt und entquillt einem liebevollen, freilich ob bitterfter Erfahrungen oft recht melancholiſch geitimmten, aber immer wieder Gottes jhöner Natur fi freuenden Herzen. Man leſe jeine

Aus Herder Nachlaß I 146.

* Herbdbers Werke (Hempel) III 17 18. Mit einigen Einfhränktungen an— erkannte auh AU. W. v. Schlegel (Gejammelte Werke IX, Leipzig 1846, 376—407) die hohen Vorzüge Baldes.

654 Sechſtes Kapitel.

Enthufiasmen, feine Lehroden, feine Odae partheniae, überhaupt feine Iyrifchen Gedichte, und man wird bei dieſem gottbegnabeten Menſchen immer und immer wieber gern einfehren.

Indes, wo fo viel Licht ift, fehlt auch ber Schatten nicht, und Balde ift in gar vielen feiner Schöpfungen ein echtes Kind feiner Zeit. Da ift oft fein Maß und fein Ziel. Gehäufte Bilder und Bergleiche, unzählbare mythologifhe Anfpielungen beeinträchtigen die Harmonie des Stumftwerls und erſchweren das Berftändnis. Die häufige Überladenheit, das Zuviel des Zierrats, das zeitweilige Ausfchreiten im Ge- ihmad, der namentlich in den Satiren hervortretenbe Diangel an organifher Geftaltung find Fehler, die nicht verſchwiegen werden bürfen. Der zehn Jahre lang Rhetorik Iehrende Profefior, ber „wiedererftandene Quintilian”, wie man ihn in Ingolftabt nannte, fpielte unverkennbar dem Dichter manchen böfen Streih. Wenn aber ſchon oft bedauert wurde, daß Balde vorwiegend Iateinifch und nicht deutſch gebichtet, daß er einen verkehrten Lebensweg gewählt und jo Deutfchland um einen deutfhen Klafſiker ärmer gemacht Habe, fo ift diefes Bedauern überflüffig, weil fih an Tatſachen nichts ändern Jäßt.“ !

Bei dem übermäßigen Raum, welden die Erotif in den Werfen ber meiften Pyrifer und in der Literatur überhaupt einnimmt, kann es faum ala Mangel empfunden werden, ja ift es in der Tat ein Vorzug, eine twahre Erquidung, daß dieſes Gebiet bei Balde fehlt. Er felbft Hat fich Diejer Lüde nicht geihämt. In einer meifterhaften Nahbildung des berüchtigten Pervigilium Veneris bat er ohne Federleſen die erhabene chriſtliche Charitas an die Stelle der unlautern Göttin gefeßt, der fo viele Dichter Glüd, Ruhm und Seligkeit geopfert haben.

Liebe jeht, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, Liebe jeht!?

Wie ber Hirſch, vom Pfeil getroffen, in ſich träget er den Pfeil, Glühnder Durft verzehrt den Matten, Durft verzehrt den Blutenden; Über Fels und Dornen eilend, lechzend nad) dem frifchen Quell, Hört er raufchen, fieht ihn blinken, ſtürzet nieder und erlechzt.

Liebe jekt, wer nie geliebt hat! Wer geliebt Hat, liebe jegt!

&o bie Seele, bie der höchſten Anmut füher Pfeil durchdrang, In fi trägt fie ihn und liebt ihn; er verzehrt ihr Innerſtes. Nicht genejen von der Wunde, zur erfehnten Quelle will Sie hinüber, fieht die Quelle, bürftet, lechzet und erledhzt.

Liebe jeht, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, liebe jetzt!

Süher Tod, du Wunſch des Herzens, neues Leben, höchſter Wunſch, Denn nad hingeſunkner Bürde freier Äther uns umfängt,

Dem entlommnen Erbdenpilger öffnet fi des Himmels Tor,

Alle Seligen umfangen ihn mit Bruder, Schweftergruß.

5. Lift, Art. „Balde* (Herzogs Realencyklopädie II? [1897] 370). ? Nach dem Refrain bes Pervigilium: Cras amet, qui numquam amarit, quique amavit, cras amet.

Urban VIII, Sarbiewsti und Balbe. 655 Biebe jet, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, Tiebe jeht

Schweigt, ihr Tränen! Keine Flöte Hage den gefunf’'nen Staub! Eine Stimme tönet broben, eine taufendftimmige:

Freude! Freude! Keinen fel’gen Märtyrer beweint man mehr; Man befingt ihn. Auf befinget, fingt ber Liebe Märtyrer!

Liebe jet, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, Liebe jet!

Hört! Die Ehöre tönen Yauter; fühe Namen tönen fie: „Rofe, Königin der Blumen, unter Dornen aufgeblüht! Berl’ aus tiefem Meeresabgrund, aller Erde Köftlichites! Kleine Lilie des Tales, unentweihte Lilie!“

Liebe jetzt, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, liebe jeßt!

Schöner ift der Tag bes Todes als bie Stunde ber Geburt. In des ew’gen Friedens Zelte ruhet die Enttommene; Kränze duften; Hymenäus ftimmet an ben Brautgefang, Und die Königin der Blumen, Selige, fie blühet Dir.

Liebe jeßt, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, liebe jeßt!

Meinft du noh? Der Freude Tränen fließen, wenn umber du ſchauſt; Deine Saat ift nicht verloren, deine Trauben prangen ſchön;

Jeder Wunſch ift dir gewähret, mehr gewährt ala jeder Wunſch;

Denn wer ben bat, den bu liebeft, trintt der ew’gen Wonne Meer.

Die Erotit abgerechnet, melde durch die jchönften Klänge religiöfer Liebe reihlih aufgewogen wird, befibt das Liederbuch Baldes eine Mannig: faltigfeit wie faum dasjenige eines andern Dichterd. Alle Tonabftufungen und Melodien menſchlicher Stimmungen und Gefühle, wie ihr Echo und Spiegelbild im bunten Leben der Natur finden ſich hier, meift vom milden Licht religiöſer Anjhauungen verflärt, aber auch in mächtigen Akkorden feidenschaftlicher Begeifterung vorgetragen ; doch der Geſichtskreis des Dichters ſchließt Fich nicht träumeriih auf das bloße Herzens: und Naturleben ab: Melt und Kirche, Vaterland und Freundidaft, Kunſt und Literatur erweitern ihn nad allen Seiten, und zwar nicht zu einem Chaos zerftüdter, wirrer, geipenfterhafter Eriheinungen, widerſpruchsvollen Ringens und Sehnens, ungelöfter Rätjel und ungeftillten Begehrens, jondern zu einem erhebenden, lichten Ganzen, in defjen reihen Farben und Formen die Einheit einer großen, allumfaffenden Weltordnung widerftrahlt. Das einfah Natürliche weiß Balde in ebenjo abgerundeter klaſſiſcher Yafjung zu bieten wie Horaz; aber durch feine hriftlihen Ideale reicht er weit über ihn hinaus, bis in das bunte politiihe und literariiche Leben der Neuzeit hinein und wieder darüber empor in die lihten Höhen der übernatürlihen Welt.

656 Sehftes Kapitel,

Aus den vielen Oden, in melden der Geift der Antike gleichſam wie aus einer Marmorftatue der ſchönſten Plaftif wiederftrahlt, möge als Probe hier jeine Ode an den Schlaf gelten, die unmilltürlih an Thorwaldjens Relief erinnert:

Des Tobes janfter Bruder, ber, aus dem Reich Der Schatten jhlüpfend, nur dem gebrochenen, Dem ſinkenden, geſchloſſ'nen Auge Dämmernd erfheint, ein mächt'ger Yüngling,

Der jedem Hummer, ber uns dem Gram entnimmt, O Schlummer, wende, wende ben Blütenzweig, Mit feinem lindernd fühen Balfam Sanft zu betauen aud meine Schläfe!

Geliebte Gottheit, die dem ermübdeten Gebein Erquidung ſchaffet und Lebenskraft, Die und den Überdruß der Tage Reife verwiſcht und uns neu verjünget!

Schon blintet dort der fröhliche Abenbitern, Schon flellt die Nacht ihr glänzendes Himmelschor In Reihen; auch Apollos Schweiter Tritt die und nähere, ſanfte Bahn an;

Befiebert ruhn im Köcher bie fehmetternden Gejangespfeile, denen die Luft erflang; Der Stier mit heimgelehrtem Pfluge Ruht und eratmet fi neue Kräfte.

Es ſchweigt die Welt; es ſchweiget der Äther, kaum Noch atmend. Holdes Schweigen! Und mid mur flieht Die Ruhe? mich, dem tiefe Schmerzen, Klebende Sorgen die Bruft zernagen.

Was weilft du lange, füher, geliebter Freund ? Menn je ich beine Gaben (ich weiß es nicht) Gering geihäßt, vergib dem Armen, Der das Bergehen zu ftreng ſchon büßte!

O kehre wieder! Ströme Vergeſſenheit Aus deinem Füllhorn über den Reuigen! Geuß himmliſche Berauſchung nieder Über die trockene Augenwimper!

Komm, ſanfter Schlummer! Siehe, der lieblichfte, Der ſchönſte Mohn ſoll dir in den Gärten blühn, Und mit dem zarteſten der Träume Fülle die Nacht das geleerte Horn bir!

In deiner Höhle, wenn du ber Ruhe pflegft, Soll nichts dich ftören. Donner und Stürme nicht, Kein widriges Gekrächz' erſchalle Irrender Vögel. Ein janftes Murmeln

Urban VIII, Sarbiewsti und Balbe. 657

Des Bades, ber buch fprießende Blumen rauſcht, Ein leifes Flüftern, das bie Platanen kaum Beweget, jäusle dich zu eignen Lieblihen Träumen, o holder Schlummer!

Wie wird mir? Kühle, fühl’ ich ben Kommenden ? Die Hand entfintt mir. Schlingen fih um mich nit Wie fanfte Feffeln? Komm, o Schlummer! Setze die Harfe beifeit’, o Knabe!

Baldes biedere patriotiſche Gefinnung leuchtet aus vielen kraftvollen Zeitgedichten hervor, die fih an Pappenheims, Tillys, Wallenfteins Namen fnüpfen oder die furdhtbare innere Zerflüftung des Reiches, den brubder- mörderiſchen Bürgerkrieg betrauern oder der Hoffnung des endlichen Friedens entgegenjubeln. Sein jhlihtes politifhes Teſtament umfaßt eine Ode „An die Deutſchen“, die Johannes Schrott in folgende gereimte Stanzen um: gegoffen hat:

Du meiner Liebe Sorgenfind, Germane, Für den mein Herz in allen Stunden flug, Gar übel bift du nachgefolgt dem Ahne; Der goldne Mittelpfadb war ihm genug! Geftatte, daß dich dran ber Barbe mahne: Die erften Dinge bleiben Karſt und Pflug, Hohmütig willft bu größern Fittich ftreden, Als not ift, um ein Feines Neft zu beden.

Mit weniger Habe lebt man auch zufrieden,

Ein großer Schaf ift die Genügfamfeit;

Bei ihr find Kraft und Frohfinn ungefchieden, Vermehre nicht aus Habgier langen Streit!

Diel füher als das rauhe Waffenſchmieden

Erklingt das Feldgerät ber Friedenszeit.

Friſch auf, das Schwert zur Sichel umzuhämmern, Zum jhönen Tag wird bann der Morgen bämmtern!

Du liebft es, in der Welt umherzuſchweiſen, Bemwundernd, was in faljhem Schimmer lat, Ein Überall und Nirgends, abzuftreifen

Das Eigene, wenn du Fremdes nachgemacht. Nicht rühmlich ift’s, nach allem raſch zu greifen, Leicht kennt der Fremde die entlehnte Pradit. Lebt wo ein Volk von echten Bäterfitten,

Das ſei von dir geliebt und wohlgelitten.

Laß lieber dich bewundern, dich beneiben.

ſtommſt du aus Gallien heim, jo fei bein Gruß

So deutſch im Eiternhaufe wie beim Scheiben.

Verſchlucktes Waller aus bem Seinefluß Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 42

658

Sechſtes Kapitel.

Darfft du in deiner Kehle nimmer Leiden, Auf deine Schwelle jehe rein den Fuß. In deutſcher Spradhe rebe, ſonſt in feiner, Als etwa in der ſtolzen der Kateiner.

Nie ſoll die Kunft nur üppige Verihwendung,

Nie ſoll fie nur ein Spiel der Stimme fein!

Was foll ber Statue zu gezierte Wendung,

Der allzufeine Lähelmund von Stein?

Dir liegt im Herzen eine andre Sendung,

Und wenig wärjt du, bift bu fein allein,

O deutſches Weib! Dein Mund nidt, beine Worte

| Und Zaten jei’n gehaun vom Felſenhorte!

Die Yungfrau Hüte das veftal’sche Feuer, Unlautre, böſe Glut nicht kenne fie.

Nichts ſoll fie willen vom trojan’schen Freier, Bon Benus nichts, und vor ihr finge nie

Des Peleus Hochzeit ein Catull zur Xeier, Bewahrte Myrt' ift ſchön're Poefie!

Die Hoczeitsfadel Hamme nit dem Manne

Zu früh vom Zännlein, fondern von ber Tanne!

Die Mutter pflanze um den Blütengarten

Des Mädchens heimlich einen Dornenzaun, Und wahfam liebend joll fie deffen warten, Verborgene Glut will mäßiges Vertraun.

Die Blide dürfen, die empfängli zarten, Niemals verbähtige Geihente ſchaun.

Die Stunden teil’ der Rocken und bad Schöne, Sie lerne Magb fein und zugleih Kamöne!

Ermutigt jei bes Jünglings wadres Streben, Wie dur Belohnung, fo durch weiſes Lob. Zur Erde finkt der Pflanze zartes Leben, Wenn lang fie nicht des Himmels Tau erhob. Er fol fi et und wahr und offen geben, Wenn um das Gold fih aud die Schlade wob. Fand er den Freund, ben treuen Herzgenoffen, Sei wie dor Gott die Bruft ihm aufgeſchloſſen.

Und wenn bu einen Leichnam, ber dich machte Zum reihen Erben, trägft hinaus zum Grab, Sei beine Trauer ehrlich, und betrachte

Ein Glüd als fterblih, das der Tod bir gab. Wer unterm ſchwarzen Mantel heimlich lachte, Indes bie falte Zähre rann herab,

Der gleiht dem zährenreihen Krofodile,

Das graufam feine Beute haſcht im Nile,

Urban VIII, Sarbiewäti und Balbe. 659

Die Mikgunft fliehe mit dem ſcheelen Blide,

Die Hoffart weiche, bie fi töridht bläht.

Auf grimmer Brau des Zornes Glut erftide!

In ſchlauer Stirne Furchen ausgefät,

Die böſe Saat zu künft'gem Mißgeſchicke,

Sei vor ber Zeit der Reife weggemäht!

Das Fußgeftell, das fih ber Stolz am Rande Des Abgrunds baut, werf’ ihn in ew’ge Schande!

Die religiöfe Lyrik Baldes gipfelt in feinen Marienliedern, und unter diefen ift wieder faum eines jchöner als eine Stelle in feinem „Schwanen: gelang“ :

Aler Anmut, aller Gnabe, Aller Huld geliebte Mutter, Du Beiheidene, du Keuſche, Sinnenrein unb rein im Herzen, Heilige, hochheil'ge Jungfrau, Nimm von Luft und Strom und Sonne, nimm ein reines Loblied an!

Du Krhftall, in dem fih Himmel, Sonne, Mond und Sterne jpiegeln, Demutvolle, die den ftillen Glanz ber Gottheit offenbarte, Du bes ewig weiſen Rates Heiligtum, Gefäß ber Liebe, Mutter aller Vieblichkeit!

Engel reihen bir den Scepter; Heil’ge Väter, Patriarchen Neigen ſich vor dir, der Tochter; Jungfraun weihn dir ihre Kronen, Märtyrer dir ihre Palmen, Und in einem Lobgeſange preiſet dich des Himmels Chor.

Friedebringerin, du öffneſt Sündern die verſchloſſ'ne Pforte Zur Verzeihung. Aller Kranken Pflegerin, du der Betrübten Arzt und ſüßer Troft und Labjal, Retterin zu Land und Meere, Du ber Sintenden im Shiffbrud, der Verirrten Retterin!

Alle Ehriftenheere danken Dir den Sieg. Du gibt der Erbe, Wirſt ihr geben Fried’ und Freude; Darum feiert dir der Äther, Darum wallen die Geftirne Liebend um dein Haupt; es küſſen Mond und Sonne deinen Tritt.

Königin, nimm an das Loblied, Das zum Abjchied meine Zither 42*

660 Sechſtes Kapitel,

Dir no einmal fang, und führe, Führe mid mit deiner Redten Hin dur Krieg und Weltgetümmel! Unverrücdt will id dir folgen, wie durch Freude, fo durch Leib.

Balde ift vor allem Lyriker; doch machen die vier Bücher Oden und die Epoden, in welchen er mit Horaz metteifert, und die neun Bücher „Wäldchen“ (Sylvae), welche an Statius erinnern, faum ein Viertel feiner gejammelten Werke aus, Er beherrſchte auch die epiſche Sprade in folder Fülle und Leichtigkeit, daß er den Heldentod Dampierres im Stile Lucans, den Heldentod Boucquois in jenem des GStatius, das Lob Tilly in jenem Claudians, die Schlaht am Weißen Berg in jenem Bergil3 feiern fomnte, ohne dabei froftiger Nahahmung zu verfallen. Zahlreiche Gelegenheits- gedichte mit geſchichtlichem Hintergrund, ebenjo die größeren Gedichte auf Tilly, Marimilian J., Ferdinand III., die Legenden der hl. Katharina und des hi. Nikolaus und das bibliihe Epyllion „Judith“ befunden diejelbe Gewandtheit. Meifterhaft hat er den homeriſchen „Froſchmäuſekrieg“ la— teinifch bearbeitet, jo frifh und lebendig, daß er fih ganz wie ein Original: gedicht Lieft.

Eine Epiftel der Diana an Venus über den Tod des Adonis erinnert daran, daß es ihm leicht gewejen wäre, die mythologiſche Elegie oder Epiftel in der Art der Alerandriner wahrhaft poetiich zu behandeln; der vielfach erotiſche Beigefhmad der antiten Mythologie jehredte ihn jedoch von diefem Lieblingsfelde der Humaniften ab; die meiften feiner dreiunddreißig Elegien find religiöfen Stoffen, bejonderd dem Leiden Chrifti gewidmet, einige der Königin Maria Stuart, für die er eine innige Verehrung hegte. Faſt barod ericheint auf den erften Blid der große Epiſtelkranz „Die fiegreihe Urania”, welche er feinem Geringeren als dem damaligen Papſte Alerander VII. widmete. Der jeltjamen Dichtung liegt indes eine jhöne Parabel Jaco— pones zu Grunde:

„Es war einmal eine Jungfrau, und bie hatte fünf Brüber, ber erfte war Maler, der zweite Mufifer, der bdritie Apotheter, der vierte Koch, ber fünfte Wirt, allefamt arme Teufel. Durch eine koſtbare Perle warb die Schwefter plötzlich ſehr reich. Um die Wette fuchten nun bie armen Brüder ihr diefelbe abzuſchwätzen. „Du weißt," fagte ber Mufitus, „es handelt fi nur um eine Slleinigfeit; gib mir deine Perle und bu retteft damit mein Leben; ich will dir dafür eine Muſik machen, bie du loben ſollſt.“ „Geh, mein Bruber,* jagte die Maid, „um jo geringen Preis ift mir die Perle nicht feil.* Der Maler verſprach, um die Perle zu befommen, ein herrliches Gemälde; aber er wurde abgemwiefen. Der Apotheker verfuchte jein Glüd, indem er, ih weiß nicht, welche neue Parfümerien zufagte; doch auch er wurbe abgewiejen. Auch der Koch erhielt feine günftigere Antwort, obwohl er Juppiters Gehirn und die feinften Ledereien in Ausficht fteltee Der Wirt, ein underfhämter Menſch, verfiherte, er kenne die auserlejenften Jünglinge, welche fie alle heiraten wollten; er würde das beftens bejorgen. Er, welcher die meifte Gunſt erhoffte, fand

Urban VIIL, Sarbiewsti und Balbe. 661

bie geringfle, er wurde fofort weggeſchickt. Den Ebdelftein gewann endlich ein Ebel- mann, mit welchem die Jungfrau fich ehelich verband.“

Jacopone erflärte die Parabel alfo: „Die Jungfrau ift die Menfchenfeele, bie Perle der freie Wille, die Brüder find die fünf Sinne: ber Maler das Gefidt, ber Mufiler das Gehör, ber Apothefer der Gerud, der Koh ber Geihmad, ber Wirt ber Zaftfinn. Wäre nun bie Jungfrau nicht ganz und gar töridht ge- weſen, wenn fie um folder Kleinigkeiten willen ihren Ebelftein hingegeben hätte? Für den Edelmann Ehriftus, unjern Herrn, mußte fie ihn bewahren. Wir aber find weit törihter und wahrhaft wahnwißig, die wir ben foftbarften Schaf unferes freien Willens für elende Gaumenfreuden, fhmußige Reden, erbärmliche unreine Ges nüffe, Glasftüdchen und Puppen, ja für den Schatten eines Käfers nicht verlaufen, fondern ſchmachvoll wegwerfen.“

Diefe Parabel führt Balde, mit einigen Veränderungen, in breißig poetifhen Epifteln aus, welche teild von Pertretern der fünf Sinne an Urania gerichtet find, teil3 ihre Antworten enthalten. Die Briefe, wie jene des Ovid, in Diftihen abgefaßt, verbinden deffen Leichtigkeit und Gewandtheit mit der geiftreihen Gedantenfülle und dem Wit des Horaz; fie entwerfen ein höchſt merfwürbiges Kulturbild jener Zeit, da der Dichter nicht bloß auf Religion und PhHilofophie, Malerei, Mufit und Literatur, jondern auch auf Kosmetit und Kochkunſt zu ſprechen fommt. Der ernftzasfetijche, myſtiſche Grundton ftiht indes mitunter zu ſchroff von der leichten, wibigen Gauferie ab, die antifen Reminiszenzen von den Anfpielungen auf die Gegenwart, die antife Form felbft von den naiven Hauptgedanfen der Parabel. Man wird unmwilltürlich an die zierlichen, leichten Arabesfen erinnert, welche in den Kirchen der Spätrenaiffance und des Rokoko frommesallegorijche Darftellungen mit antifem Koftüm in unerfhöpflihem Reichtum umgaufeln.

Hreier entwidelt fih Baldes Humor und Wiß in feinen Satiren, dur welche er fi den Namen eines deutfchen Horaz ebenfalld wohl verdient hat. Überaus ergötzlich ift fein „Zroft der Podagriften“, welcher damit beginnt, daß er in Frage ftellt, ob das Podagra wirklich eine Krankheit jei, da fie eine Tochter des Bachus und ein Schwiegertöchterdhen des Zeus if. In dem Gedicht „Auf die Sonnenfinfternis am 11. Auguſt 1654” ijt der Spott zum Teil auf die Aftrologen gerichtet, bligt aber in luftigem Gefnatter nad den bverjchiedenften Seiten hin. Während der Dichter im „Agathyrjus“ fih und die übrigen Magern tröftet, nimmt er fih im „Anti-Agathyrſus“ (Apologia pinguium) auf Wunjd des päpftlichen Prälaten Ferdinand von Hürftenberg nicht weniger warm und heiter der Fetten an. Faſt mit einer Art von Ingrimm, mit ftarfem Realismus fällt er dagegen über den „Miß- brauch des Tabakes“ her. Ziemlich ſcharf wird au der „Ruhm der Medizin“ in zweiundzwanzig Heineren Satiren hergenommen. Milder und launiger find dagegen die Satiren „Nichts umſonſt“, „Von den verſchiedenen Arten zu betteln” und die „Selbſtkritik“.

662 Sechſtes Kapitel.

Ein Drama „Jephthe“ jchrieb Balde für das Schultheater zu Ingol— ftadt, ohne die Bearbeitungen des Stoffes durh Budhanan und a Marca zu fennen. Erſt nachdem es wiederholt mit großem Beifall aufgeführt und noch öfter verlangt worden war, gab er es 1654 heraus. Er faht das Opfer der Tochter Jephthes ala prophetiichen Typus des Opfertodes Chrifti auf und gewinnt fo einen tieferen Gehalt, der bejonders den Iyriichen Chor: partien jehr zu gute fommt. Ein Feſtſpiel auf die Einnahme Antwerpen durch Alexander Farnefe (Arion Scaldicus) beftehft nur aus lyriſchen Monologen und GChören in verſchiedenen Vers- und Strophenformen. Ein Jahr vor Abſchluß des MWeitfälifchen Friedens widmete Balde dem franzöfiihen Gefandten Claude de Mesmes, Grafen von Avaur, ein im osfiiher Mundart abgefahte® Drama georgicum, dad mit jchmerz: lichem Rüdblid auf die Schreden des Dreigigjährigen Krieges, voll Sehn- ſucht nad vollem Frieden den Waffenftillitand von Ulm befingt, den Bayern vorläufig mit den Schweden und Franzoſen gejhloffen. Die Nach— ahmung des altitaliihen Bauernlateins bekundet nicht nur jeltene Sprach— fenntnis, ſondern aud eine nicht geringere Formgewandtheit und echten deutihen Humor,

Auf Anregung eines Freundes hat Balde das „Nadtigallenlied“ des Hl. Bonaventura frei in antiten Metren nachgeahmt, welche ſich indes mehr Boöthius als Horaz zum Vorbild nehmen. Es iſt aber im Grunde eher eine jelbftändige Dichtung als eine Bearbeitung, voll der innigften Wärme und Begeifterung, wenn aud die jchlichten mittelalterlichen Reimverſe die meiften Leſer mehr anfpredhen dürften als die noch jo Tlangvollen, ab- gerundeten Verſe Baldes. Er ſelbſt hat fi übrigens in dem umfangreichen Gediht De vanitate mundi auch in rhythmiſchen Verſen verjucht, jeder Strophe eine deutjche Überfegung in Reimverfen und eine Bearbeitung in antiker ſtreng metrifcher Form beigegeben. Es ift eine Art von Toten: tanz, breit ausgeführt; die lateinischen Rhythmen Haben den bänkel— ſängeriſchen Klingllang der Carmina burana, die deutſchen Reime leiden am Ungeihmad und an der Spracperrohung jener Zeit; nur im me: triſchen Latein fteht der Dichter auf feiner Höhe. In einem ſolchen Bilde der allgemeinen Vergänglichkeit durften natürlih auch die römischen Dichter nicht fehlen.

Macer Maro disparuit Geftorben ift Bergilius,

Et cum Marone Dido: Und billig zu beweinen, Pinguisque Flaccus Cerbero Aufg'metzget ift Horatius

Ut porcus immolatus, Halb leinen und Halb jchweinen. Nasonis elegantiae, Nafonis Zierb’ hat viel’ verführt,

Rhamnusiae Tibulli, Iſt aber ſelbſt eing'ſeſſen; Propertianae Cyuthiao Tibulli Schatz, Catulli Spatz

Et Lesbiae Catulli. Kann auch fein Käs mehr effen.

Urban VIIL, Sarbiewsti und Balbe. 663

Tam nullus canit eclogas Maronis Famosus Meliboeus aut Menalcas, Plus quam Tantalea siti laborat Fracta tristis Horatius lagena. Nasones quoque transiere, et una Dulces nequitiae Tibullianae, Nequam stultitiae Catullianae, Stultae laetitiae Propertianae.

Das barode Werk entiprah in hohem Grade dem damaligen Zeit geihmad. Der Dichter ſelbſt erlebte wenigſtens vier Auflagen besfelben ; MWeitermayer erwähnt fünfzehn. Es gehört übrigens feiner früheften Zeit an (1637), wie auch fein deutſcher „Ehrenpreis der allerjeligften Jungfrau“ (1638), zu deffen einzelnen Strophen nicht nur er, fondern noch vier feiner Kollegen eine Lateinische Überfegung oder Paraphrafe lieferten. Er ſcheint jelbft empfunden zu haben, daß er als deutjcher Dichter bei dem damaligen Zuftand von Sprade und Literatur keinen Erfolg haben fünnte, daß Talent und Bildung ihn auf das Lateiniſche Hinmwiefen. Einigen Aufſchluß über feine literarifchen Anſchauungen bietet ſowohl fein didaktifch-jatirifches Gedicht Vultuosae Torvitatis Encomium und die demjelben voranftehende Ab— handlung vom „Studium der Poeſie“, als auch die in Proſa gejhriebene Yumoresfe „Das don den antiten und modernen Dichtern belagerte und zer: ſtörte Schloß der Unwiſſenheit“; die letztere hat er al gereifter Mann (1653) veröffentlicht. Sie beginnt mit einer kurzen Schilderung des „Schlofjes der Unmiffenheit”, in welchem ſich nebjt den „Ungebildeten und Ydioten“ ſämtliche „Ariftarhen, Momi, Zoili, Timones und Pſeudokritici“ verſchanzt haben. Gegen dasfelbe rüden zuerft die „Modernen“ heran, d. h. unter Führung Petrarcas die fämtlihen Humaniften vom 14. Jahrhundert an: Sannazar, Maphäus Begius, Joh. Bapt. Mantuanus, Caftiglione, Bembo, Politian, Fracaftoro, von den Deutfchen Eoban Heffus und Joahim Game: rarius, von den Jejuiten Pontanus und Turrianus. Die Charakteriftif der einzelnen verrät, daß Balde mit ihren Schriften gut befannt war. Die ganze Armee der Humaniften richtet indes nichts aus. Man wendet fich ſchließlich nach Delphi, und auf den Entſcheid des Apollo werden jetzt die „Antiten“ aufgeboten: Bergil, Horaz, Lucan, Seneca, Statius, Silius Italicus, Claudianus; dann Ennius und Qucretius, Gatullus, Tibullus, Propertius, auch Plautus und Terentius, endlih Martial, Juvenal und Perfius. Diefe find einzeln vorzüglih harakterifiert. Hier ift Balde völlig zu Haufe. Den vereinten Bemühungen gelingt die Eroberung; das Schloß wird genommen und gejchleift.

664 Siebtes Kapitel,

Siebtes Kapitel. Andere Meulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts.

Balde fand in Münden jelbft einen Nadeiferer an P. Adam Widl, einem Mündener (1639—1710), der jein ganzes Leben als Profeſſor den dumaniftiiden Studien widmete. Seine begeifterte Ode auf Balde ift oft abgedrudt worden. Wenn er aud fein Borbild nicht erreicht, fo enthalten jeine Gedichte (Lyricor. libri III und Epodon liber I) do viel Schönes und Anziehendes. Wie Balde ift er voll der wärmften Begeifterung für die Herrlichkeit und Größe des alten Deutſchen Reiches, beflagt in tiefgefühlten Trauerflängen die innere Zerriffenheit, durch welche es der Zankapfel und die Beute fremden Einfluffes geworden!. Jubelnd begrüßt er in einem Gedicht an Kaiſer Leopold I. den Sieg der kaiſerlichen Warten über die Zürfen bei St Gotthard (1664)?. Eine intereffante Ode an Bernini zeigt feine Bekanniſchaft mit der zeitgenöffiichen Kunft und die lebendige Wechſel— wirkung, in welcher der Humanismus bis ins 18. Jahrhundert hinein mit der bildenden Kunſt blieb3. Sehr ſcharf verurteilt er die zunehmende „Auss länderei” in Literatur, Mode und Erziehung.

Inde vestitus hodierna monstra,

Et procelloso caligae tumore,

Pilei miri patria videntur Ludere terra:

Teutones olim monimenta tradunt » Öre Barbatos, modicos fuisse Crinium, longos neqüe protulisse Vertice cirros:

Nunc fluens manat coma, barba curta est; Rima stat mento nigra fimbriato, Parva subtili modice exarata

Linea filo:

Nec suam callet prope Teuto linguam,

Advenam novit, licet indiserte,

Guttur accentum, peregrina passim Sibila strident ®.

Die früher erwähnten Schuldramatiter Jakob Bidermann, Jakob Majenius, Nikolaus Avancinus und andere haben jämtlih auch epiiche

! Lyrie. lib. 1, Od. 11 34 54; lib. 2, Od. 1 etc.

® Lib. 2, Od. 11. ® Lib. 2, Od. 35.

* Ad parentes Germaniae lib. 3, Od. 24. Adami Widl Lyricorum libri tres, Ingolstadii 1674, 393 394.

Andere Neulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts. 665

und lyriſche Gedichte verfaßt, Aoancinus ſogar eine ftattlihe Odenſamm— lung in vier Büchern, die fi durch Geift, Kraft und Eleganz auszeichnet, aber die Mannigfaltigkeit und Lieblichkeit Baldes vermiffen läßt!. Um fo mehr macht fich Iehtere bei dem mwaderen Schwaben Johann Bijfel geltend, der 1601 in Babenhaufen geboren, 1682 in Amberg ftarb. Seine „Wonnen des Frühlings“, „Wonnen des Sommers“, „Amerikaniſche Ar— gonautenfahrten“, „Bibliſche Jamben“, „Ikarusflüge“, beſonders auch jein „Diener Marias“ und ſeine „Bayriſche Palme“ ſind reich an den origi— nellften Naturſchilderungen, köſtlichen Zügen aus dem Leben, feinen Reiſe— ſtizzen, wahrhaft poetiiden Erzählungen aus der Legende und Geſchichte?. Den antiten Olymp läßt er beifeite. Die Fülle eigener Beobadhtung und Empfindung genügt ihm. Die Friſche und Einfalt derjelben madte ihn zu einem Liebling Annettes von Drofte-Hülshoft, die befonders jein „Mujeum“ und feine Erzählung von „Suſanna“ bemunbderte.

Johann Kreihing aus Deventer (1596—1670), Rektor zu Bamberg und Erfurt, Beichtvater des Kurfürften zu Mainz, ahmte in der Form feiner Elegien mit Glück Properz nah. Sehr Schön ift die „Klage der Mutter Gottes über das verlorene Jeſukind“, der „Seefturm am Borgebirg der Guten Hoffnung”, die Elegie über die „Eitelkeit der Mädchen“.

Unter den zahlreichen Jeluitendichtern der Niederlande ragen beſonders die drei Elegiter Sidronius Hosjhius (de Hosihe, 1596— 1669), Jakob Wallius (1599—1680) und Wilhelm Becanus (1608 bis 1683) hervor. Von dieſen ift wieder Hosihius ein Formkünſtler erften Ranges, der an Reinheit der Sprade und Glätte der metrifchen Form ſowohl Balde als Sarbiewski übertrifft, dafür aber auch weniger eigenartig, vieljeitig und felbftändig if. Zwar flagte er jelbft:

Nam mea dum priscis committo carmina scriptis, Sive tuis, Naso, sive Tibulle tuis:

Et pudet et nostrae subeunt fastidia venae, Meque rudem quamvis non putor, esse queror;

allein der Bau feiner Diſtichen ift von tadellofer Vollendung, ſogar ohne die Mängel und Lizenzen, die Gatull und Ovid ſich gelegentlih gönnen. Diejem lebteren kommt er an Leichtigkeit nahe, während feine Feinheit und Glätte mit jener des Gatull, Tibull und Properz mwetteifert. Wallius

ı NM. Scheid S. J., P. Nikolaus Wvancini, ein Öfterreihifcher Dichter des 16. Jahrhunderts. (Programm), Feldkirch 1899,

° I. Bisselius, Cliens Marianus (Münden 1634); Palma Boica (Ingol- ftabt 1636); Icaria (ebd. 1637); Elegiae seu deliciae veris (ebd. 1638); Aestas (München 1644); Argonauticon Americanorum (ebd. 1647); Antiquitatum angeli- carum Tuba lambica (Amberg 1670); Leo galeatus (ebd. 1676).

666 Siebtes Kapitel.

aus Gourtrai, erft Lehrer der Humaniora, dann Mijfionär, wurde bon Hosihius jelbft als gewandter Elegiler befungen, und Becanus ift ein würdiger Dritter in diefem Bunde. Hermann Hugo aus Brüffel (1588 —1629), der Feldfaplan des ſpaniſchen Generals Spinola und der Chronift der Belagerung von Breda (die Ealderon in feinem erften Drama feierte), Hinter: ließ 45 Elegien (Pia desideria: gemitus, vota, suspiria), die ins Fran: zöfiſche, Engliihe, Deutihe, Flämiſche und Holländiſche überjeßt wurden und durd die freie Bearbeitung des Jeſuiten Pedro de Sala aud in der ſpaniſchen Literatur einen ehrenvollen Pla erhielten.

Mit Glüd pflegten die Elegie ebenfalls Nilolaus Sufius (1572 bis 1619), Franziskus von Montmorency (1578—1640) aus gräflichem Gejhleht, Joh. Surius aus Bethune, Wilhelm Grumjel (1607—1680), Karl Malapert aus Bergen (geft. 1630 zu Maprid), Montanus (Ban den Berghe) und Walter Baullus (1587—1672). Als Lyriker, Elegiter und zugleich tüchtiger Epigrammatiter ward Balduin Gabilliau (1568—1652) geſchätzt; als geiftlicher Liederdihter und Epi- grammatiter Bernhard Bauhufius (1575—1619).

Einen originellen Weg betrat Angelin Gazet (1568—1653), erft Rhetorikprofeffor, dann Rektor mehrerer Unterrichtsanftalten, zeitweilig Sekretär des Ordensgenerals Glaud. Aquaviva. Wohlvertraut mit den römiſchen Satirifern und Komilern, aber auch mit der alten Literatur überhaupt, voll iharfer Beobadhtung, Wi und feinem Humor jhlug er in feinen Pia hilaria (Douay 1518) ftatt des hergebradhten elegijhen Ernſtes einmal den Grundton einer muntern Komif an, die fi allerdings nie in die derben Regionen des Plautus verliert, jondern immer fein humoriſtiſch bleibt und jelbt im Sarkasmus hriftlide Bildung und Liebe nicht vergibt. Balde erwähnt ihn in feinem Encomium torvitatis al& feinen Humaniften, bei dem der anſcheinende Grimm und die beißende Schärfe ſich mit künſt— leriſcher Liebenswürdigleit gejellt, jelbft das Bittere fih in Süßigfeit ver: wandelt !,

Joh. Bincartius aus Lille (1593—1674) übertrug die Yorm von Ovids Heroiden auf religiöfe Stoffe. Antonius Deslions bejang den „Schub: engel“ und die „Marienverehrung”, Karl Werpäus „Vifionen des hl. Ignatius in der Höhle von Manreja“, Jakob de Codt die Altväter „Jubal und Tubalkain“.

Auch Frankreich iſt unter den Jeſuitendichtern ſtark vertreten. Schon Edmond Augier (1530—1590), einer der erſten Franzoſen, welche der Gejellihaft Jeſu beitraten, gab einen gefäuberten Martial heraus und ver- fabte eine Weihnadhtsode. Ein jpäterer Jeſuit, Edmond d’Augiere,

'L Balde, Opera poetica omnia III, Monach. 1729, 352.

Andere Neulateiner bes 17. und 18. Jahrhunderts. 667

den Jöcher mit ihm verwecjelte und der 1634—1709 Iebte, war ein jehr fruchtbarer Dichter. Hohen Ruf erwarben ih Pierre Yufte Sautel (1613—1662) dur feine Epigramme, Elegien, namentlich eine meifterlidhe Bearbeitung des Arion-Mytdus; Rene Rapin (1621—1687) durch feine Eklogen und Oden, beſonders dur ein in Form des Idylls behandeltes Marienleben; Jean Gommire (1620—1702); Leonhard Frizon (1628—1700); Noel Etienne Sanadon (1676—1733) durch vor— zügliche Inrifche Gedichte; Jacques VBaniere (1664—1739) durch fein Lehrgediht Praedium rusticum, ein Seitenftüd zu Vergils „Georgica” ; Louis Gellot (1588—1658) durch eine „Mauritiade“, lyriſche und dramatiihe Gedichte. Charles de la Rue (1643—1725) verherrlichte die Kriegszüge Ludwigs XIV. in lateinischen Verſen, die Gorneille ſelbſt ins Franzöſiſche übertrug, und erwarb ſich mit feinen Tragödien, unter welchen „Agapit“ hervorragt, wie mit feinen „Lyrica“ in hohem Grade die Bewunderung des Haffiihen Zragiters. Francois Joſeph Desbillons (1711—1789) woetteiferte als Fabeldichter erfolgreih mit Lafontaine. Merkwürdigerweife fällt eine Art Blütezeit diefer lateiniſchen Dichtung mit der Hocblüte des franzöfiichen Klaſſizismus zufammen. Als ihr Hauptvertreter gilt Jean de Santeul (1630—1697), der fih unter die regulierten Chorherren von Saint-Bictor aufnehmen ließ, aber nur die Subdialonatsweihe empfing. Auf einer Sammlung feiner Gedichte, die nur zwei Jahre vor feinem Tode erſchien, nennt er ſich jelbft „Fürſt der Dichter dieſes Jahrhunderts“. Seine Hauptleiftung find Kirhenhymnen in ganz antikem Stil, wie fie der Erzbiihof von Paris bei ihm für eine Revifion feines Diözefanbrevierd beftellte, an Stelle der altehrwürdigen, ihlichteren und frömmeren, welche bereit3 eine lange Vergangenheit geheiligt hatte. Sie entipradhen aber dem Zeitgeſchmack, und jo gingen ihn aud andere Kirchen, ſowie die Gluniacenfer um ähnlihe Hymnen an. Mit Unter ſtützung feines älteren Bruder Claude de Santeul (1628—1684), der auch jelbftändig Hymnen dichtete, Fam er all diefen Wünſchen entgegen. Daneben jchrieb er Oden, Elegien, Gelegenheitägedihte und Inſchriften, welche über ihr Verdienft gewertet wurden. Er hat bei weiten nicht bie Gedanfenfülle und den Schwung Baldes, aber große Versgewandtheit und gefällige Eleganz. Prinzen von Geblüte, hohe Staatsbeamte, Gelehrte tie Menage, Jejuiten und Janjeniften feierten ihn um die Wette, und Gorneille hat mehrere feiner Gedichte ind Franzöfifche überſetzt. Wie jhon Chapelain 1660 in einem Briefe an den geledrten Peter Daniel Huet bedauerte, daß der Hof von Verſailles nicht genug Latinität befähe, um in ihm einen neuen Doraz zu würdigen, jo meinte P, Commire in einer Ode an San: teul, daß der Ruhm der lateinischen Poeten all die gefeierten Hofdichter Ludwigs XIV, überleben würde. Dieſe Verheißung hat fi zwar nicht

668 Siebtes Kapitel,

erfüllt, aber die Pflege einer feinen Latinität hat au an dem berühmten Muſenhofe unzweifelhaft mitbeigetragen, künſtleriſches Formgefühl und feinen Geihmad zu nähren!.

In Italien, der eigentlihen Heimat de Humanismus, bemwahrte die neulateiniijhe Poeſie den Charakter einer uralten Überlieferung, und die Schulübung mwedte mande Talente, welde die bloße Schablone und Routine durchbrachen und wirklich poetifche Erzeugniffe zu ftande braten. Noch dem 16. Jahrhundert gehört Francesco Benci an (1542—1594), Profeflor der Rhetorif in Rom, ein Schüler Murets. An ihn reihen fih Andrea Biandi von Genua, Konftantin Pulharelli aus Neapel (geft. 1610), Em: manuel Teſoro aus Turin, Giovanni Batt. Giattini aus Palermo, der hervorragende Drientalift Giov. Maria Campori, Franz Carrera aus Sizilien (1629 1706), Giov. Batt. Masculo aus Neapel (1583— 1656), Guil. Dondino aus Bologna (1606—1678), Aleffandro Donati aus Siena (1584— 1640), Leone Santi (1584—1651), Pietro Mloifi aus Neapel (1584—1667), Carlo Noceto (De Iride et aurora boreali, Romae 1747).

Vicenzo Guinifi aus Lucca (geft. 1653), der außer kleineren Gedichten au ein Drama über den Hl. Ignatius ſchrieb, ftand mit Papſt Urban VII. in freundichaftlicher Beziehung. Nitolaus Parthenius Giannettafio aus Neapel (1648—1715) zeichnete fih duch friſche Schilderung des Fiſcher- und Schifferlebens aus (Piscatoria et nautica, Halieutica, Naumachia).

Wohl die ſchönſte neulateiniſche Dihtung am Schluß des 17. Jahr: Hunderts (1699) ift der Puer lesus des Thomas de la Ceva aus Mailand (1648—1737), eines vorzugsweiſe in den exakten Wiſſenſchaften hervorragenden Gelehrten, der vierzig Jahre lang Mathematik dozierte. Nichts: deftoweniger ift fein idylliihes Epos mit dem Zauber der innigften Poeſie und Andacht verklärt.

Der Jeſuit Raymund Cunich, aus Raguſa gebürtig (1734 bis 1794), auch nad der Aufhebung des Orden: Profeſſor am Römiſchen Kollegium, lieferte eine treffliche metriihe Überjegung der griechiſchen An- thologie und verfuchte fih dann auf Anregung des Fürften Odescaldi mit nicht geringerem Glück an der Iliade Homers. Dieſe formgewandte über: tragung ift fpäter mehrmals mit dem Urtert, mit der lateinischen Proſa— überjegung Keynes, der deutſchen von Voß, der engliichen von Pope, der franzöfiihen von Wignan und der ſpaniſchen von Garcia-Malo heraus: gegeben worden. Sein Landsmann und Ordensgenoſſe Bernard 3a: magna (1735—1820) überjegte mit ähnlicher Gewandtheit aud die

! Ioa. Bapt. Santolii Victorini poötaram huius saeculi principis Opera poötica, Parisiis 1695. M. Dinouart, Santoliana: ouvrage qui contient la vie de Santeul, ses bonsmots etc., Paris 1764.

Andere Neulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts, 669

Odyſſee, und fo ward denn nad vielen Jahrhunderten endlich jener Lieb- lingsgedanfe verwirklicht, der den großen Renaiffancepapft Nikolaus V. jo lebhaft beſchäftigt Hatte: einen lesbaren lateiniſchen Homer zu befiten !.

England, wo die Gejeggebung jeden Jefuiten mit Kerker, Galgen und Vierteilung bedrohte, ſchien dem fatholifhen Humanismus jede weitere Ent: widlung abzufhneiden. Dennoch Hat aud hier Thomas Morus nicht nur als Märtyrer, ſondern auch als Humanift Nachfolger gefunden. Edmund Gampian (1539 in London geboren, 1581 ald Zeuge jeine® Glaubens daſelbſt hingerichtet), jchrieb zwei Tragödien „Abraham” und „Saul“, Die 1575 und 1576 mit vielem Beifall in Prag, fpäterr auh in München aufgeführt wurden. Robert Southmwell, der, 1560 in der Grafſchaft Norfolf geboren, 1595 als Märtyrer zu Tyburn ftarb, verfaßte feine er: greifende Clegie „St Peters Klage“ und andere Gedichte, die noch im Jahre feines Todes erſchienen, in engliſcher Sprade; in neuerer Zeit find aber auch lateinische Gedichte von ihm aufgefunden und veröffentlicht worden, Zu Douay, als Verbannter um des Glaubens willen, verfaßte der engliſche Kartäufer Robert Clarke um 1650 feine „Chriftiade“, ein ergreifendes Seitenftüd zu derjenigen Vidas, voll der tiefften Andacht zu dem Leiden des Erlöfers?®,

Der Portugiefe Francisco de Macedo aus Coimbra bdichtete einen „Stanz Xaver” und eine „Glifabeth von Portugal“ ; Andreas Moraguez aus Majorca (1560—1598) verfaßte gefhmadvolle Elegien. Der Pole Albert Ines (1626—1658) nahm fi) Sarbiewsti zum Vorbild und ver- Öffentlichte ein Liederbuch, das in feinem zarten Marienlob und feinen vater: ländifchen Oden lebhaft an denfelben erinnert. Ebenfalls als Sänger Marias zeichnete fi der böhmiſche Geſchichtſchreiber Bohuslav Aloys Balbinus aus (1621 zu Königgräß geboren, 1689 zu Prag geftorben).

Die neulateinifche Dichtung ftellt aber nicht nur ein geiftiges Band dar, welches Deutjche und Franzofen, Niederländer und Engländer, taliener und Spanier, Polen, Böhmen, Ungarn vereinigte, ihre Grenzen reichten noch viel weiter hinaus. Bereits amı Ende des 16. Jahrhunderts dichtete der ehriwürdige Miſſionär Joſeph de Andhieta (1533—1597) in Brafilien, der erfte Grammatiker einer brafilianishen Indianerfprade, nicht nur in fpanifcher, portugiefifher und braſilianiſcher Sprache, fondern verfaßte auch ein „Marien: leben“ in 2086 lateinischen Diftihen. Bartholomäus Pereira beſang

! De vita Raymundi Cunichii commentariolum, Romae 1795.

® Christiados sive De Passione Domini et Salvatoris nostri lesu Christi. Authore Düo. Roberto Clarke, Brugis 1670. Die Ehriftiade von Robert Clarke metriſch überjegt von U. KH. Walthierer, Ingolſtadt 1853. Bol. K. Benkner, Die Clarkeſche Ehriftiade (Beilage zur Augsb. Poftzeitung, Nr 11, 24. Februar 1900).

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in einer formgewandten Epopöe (Paciecidos libri XII) das Leben und den Heldentod des Miſſionsbiſchofs Franz Pacheco, der 1626 in Japan als Märtyrer ſtarb. Mexiko erhielt feinen Dichter an Diego Joſeph Abad, der, 1727 in Mexilo jelbft geboren, als Opfer der Verfolgung 1779 ver- bannt zu Bologna ftarb. Seine ſchwungvollen Betrachtungen über Gott und das Erlöfungswerk find erft neuerlih zu Merito ins Spaniſche über: tragen worden !.

Um Schluß der langen Reihe don lateinischen Dichtern aus der Ge- ſellſchaft Jeſu verdient auh P. Michael Denis ein Wort der Erinnerung, der durch feine deutſchen Gedichte jo treu und redlih an der Grundlegung unjerer deutichen Literatur mitgearbeitet hat. Vielleicht das ſchönſte Gedicht, das er je gejchrieben es ift wie mit feinem Herzblut gejchrieben —, ift fein Gediht an „Meine unterdrüdte Gejellihaft“ (Exstinctae Societati meae). Er hat es 1799 verfaßt, als Greis von 76 Jahren, 26 Jahre nad der Unterdrüdung des Ordens ?,

Pauca sodalitii superant iam membra beati, Cuius ego quondam pars quotacumque fui;

Cuius in exeidium solers armavit Avernus Quidquid ei toto militat orbe mali.

Venales pretio linguse, mordacia scripta, Confictique metus, livor opumque sitis

Agmine nos facto circumfremuere; nec usquam Cura laborantes ulla levare fuit.

Nil iavat ingenuis teneram formasse iuventam Artibus et mores edocuisse bonos;

Tot claros genuisse viros, quos nescia mortis Innumeris loquitur fama voluminibus;

Semina divinae legis sparsisse per urbes, Oppida et agrestis fumida tecta casae;

Pulvillis regum morientum, inopumque grabatis Advigilasse pari nocte dieque fide;

Tinxisse extremas sudore et sanguine terras, Quas oriens Phoebus lustrat et occiduus:

Ut regio nusquam nostri non plena laboris Pro Christo et sancta religione foret.

ı J. Anchieta, De Beata Virgine Dei Matre Maria, bei P. S. de Vas- concellos, Chronica do Brasil, Lisboa 1668, 481—528, und in desſelben Vida do Venerable P. J. de Anchieta, Lisboa 1672, 4483—593. P.B. Pereira, Paciecidos libri XII (mit franzöfifcher Überjegung von X. Guihon be Grand: pont, Paris 1887). D. J. Abad, De Deo, Deoque homine Heroica®, Cesens 1780; Cantos epicos a la Divinidad y Humanidad de Dios, traducidos al verso eastellano por Enrique Villaseüor, Mexico 1896,

» Michael Denis’ Literarifcher Nachlaß, herausgeg. von J. F. Freiherr v. Raßer, 2. Abteilung, Wien 1801, A. Pichler, 76 77; abgebrudt bei F. J. Li- powsty, Geſchichte der Jeſuiten in Bayern, Vorwort.

Andere Neulateiner bes 17. und 18. Jahrhunderts. 671

Nil iuvat. Exigimur laribus, disiungimur atque Fraterno inviti solvimur officio,

Proh! tantum potuit vis coniurata malorum! Tantum hominum caecae pectora noetis habent!

Scilicet aurea saecla tibi reditura putabas, Europa, a nostri clade sodalitii.

Credula! tolle oculos, partem eircumfer in omnem, Et quae sit facies rerum hodierna vide!

Adspieis infestos populos, agitataque regna Alterum in alterius proruere exitium;

Templa profanata, et pollutas caedibus aras, Undique et horrenti diruta tecta situ;

Cive domos vacuas, desertaque rura colono, Perfugium miseris vix super exulibus.

Insultat caelo impietas; reverentia legum Nulla; fides cessit, fasque pudorque procul.

Omne ruit temere frenum indignata iuventus, Et florem aetatis deterit ante diem,

Non ego sum Nemesin qui caelo devocet, aut qui

Cuncta haec de nostro funere nata velit.

Sunt tamen, averti aut minui potuisse ruinam Qui nostro incolumi corpore stante putent.

Signassemus enim praeclaram sanguine causam Aut populis nostra mens rediisset ope.

Haeec alii. Mihi non tanta est fiducia nostri; Supremi veneror Numinis arbitrium.

Quodque licet, tumulos obeo, sparsasque per orbem Complector fratram pectore reliquias.

Queis ubi summa dies iam fesso iunxerit aevo, Haec erit ad tumulum spes mihi fida comes:

Posteritas, quae non odio nee amore feretur Pensabitque mei gesta sodalitii:

„Coetum hominum talem, dicet, nec prisca tulere, Nec conata licet, saecla futura ferent.“

Bon hohem geihichtlihen Intereſſe wie von literariſchem Wert ift der Anti-Lucretius des Kardinals Melchior von Polignac. Diejer hoch— begabte und vieljeitig gebildete ranzofe, der 1704 an Bofjuets Stelle Mit: glied der Franzöfiihen Akademie ward, Ludwig XIV. auf dem Kongreſſe zu Getrugdenberg (1710) und Utrecht (1712) vertrat, 1713 das Kardinal3- barett erhielt, lernte während feines Aufenthaltes in Holland den Steptiter Bayle kennen, der fi ihm gegenüber als guten „Proteftanten“ auffpielte, aber nur in dem Sinn, daß er gegen alles proteftierte und dabei jehr Häufig Lucrez zitierte. Dies veranlaßte Polignac, Lucretius genauer zu ſtudieren und in einem umfangreicheren Lehrgedicht zu widerlegen, welches zugleid Gott als höchſtes Gut des Menſchen und letztes Ziel der gefamten Schöpfung feiern follte. Diejes Ziel ift zum Teil im glüdlicher Weiſe erreiht; nur ift

672 Siebtes Kapitel.

die breite Ausführung allzuſehr auf die kosmologiſchen Meinungen Descartes’ gegründet und darum wiſſenſchaftlich nicht haltbar. Form und Sprache ver- einigen aber oft glüdlid die Kraft des Lucretius mit der Feinheit des Vergil. Der Kardinal ftarb 1741, bevor er das Gedicht ganz vollendet hatte. Dasjelbe wurde aber ganz in jeinem Stil von Rothelie und Lebeau ergänzt und jo im Jahre 1745 veröffentlicht.

Da die bung im Iateinifhen Versbau ein Beftandteil des mittleren Unterricht blieb, jo Hat fih auch im proteftantiichen Deutſchland noch im 17. und 18. Jahrhundert die Kunſt der lateinischen Verfififation in weiterem Umfang erhalten. Sowohl Martin Opitz von Boberfeld wie Paul Fleming haben fi nicht nur an antiten Muftern zu deutſchen Dichtern herangeſchult, ſondern auch lateiniſche Gedichte hinterlaffen, der leßtere jogar in anjehnlihen Sammlungen, welche eine gründliche Belanntfhaft mit den alten Dichtern und eine gewiffe Selbjtändigfeit der poetijchen Geftaltung verraten. Auch Leibniz, der univerfellfte deutſche Gelehrte des 17. Jahr: Hundert3, hat fi durch ein lateinifches Gedicht auf den Tod des Herzogs Johann Friedrih don Hannover als Schüler des älteren Humanigmus aus gewiefen. Fruchtbarer betätigte fi) auf diefem Gebiet Kaſpar v. Barth (1587—1658), doch nur in feinen jüngeren Jahren; jpäter wandte er ſich ganz eigentlich philologifhen Arbeiten zu!. An zahlreihen Schulen wurde das Lateinſprechen und das Abfaſſen Lateinifcher Verſe (wenn es ſich aud meift nur auf rein mechaniſche, metrijche Übung beſchränkte) auch während des 18. Jahrhunderts beibehalten, und noch der Philofoph Schelling glänzte 1785 als zehnjähriger Knabe bei der Prüfung bauptfählih dadurch, daß er zu feiner lateinifhen und griehiichen Kompofition noch fünf lateinifche Diftiha „Über die Kunſt des Schweigens“ Tieferte?. Ein bedeutender Dichter in lateiniſcher Sprade ift indes an all den zahlreichen Schulen nidt erjtanden.

Es würde den Rahmen unferer Aufgabe weit überſchreiten, wenn wir die bisherigen Umriffe mit noch meiteren Einzelangaben ergänzen wollten. Einer eingehenderen Monographie wäre diejer ganze Literaturzweig aber fiher wert, Es ift ungemein leicht, denjelben ala „totgeborene Kinder einer über Holten Zeit”, als „Gentonen-Quarf“, als „Rokoko-Muſeum“, als „erjtarrte Lavaſchlacken“, als „Formelkram einer unwiſſenſchaftlichen, überwundenen Schulperiode” von der Schwelle abzumeifen; aber mit ſolchen kühnen Phraſen

PB, Slemings lateinifhe Gedichte, herausgeg. von J. M. Lappenberg (Bibliothek des Literarifchen Vereins LXXIII), Stuttgart 1863. G. G. Leibniazii Epicedium in obitum loanuis Friederiei (Recentiorum poetarum Germanorum car- mina latina ex rec. OÖ. T. Roenickii I, Helmstad. 1748, 3 f). C. Barthius, Iuvenilia, Silvarım, sermonum, elegiarum etc. (1607).

? Friedr. Pauljen, Gefhichte des gelehrten Unterrichts auf dem deutſchen Schulen und Univerfitäten, Leipzig 1885, 471 472.

Andere Neulateiner bes 17. und 18. Jahrhunderts. 673

ift meiften® nur dargetan, daß diejenigen, welche fie im Munde führen, diefe neulateinische Poefie jo gut wie gar nicht fennen, in der humaniſtiſchen Literatur überhaupt wenig zu Haufe find. Für die Geſchichte der neueren Bildung und Literatur ift damit nichts erklärt und nicht gewonnen. Denn überall bei unſern Slaffitern wie bei jenen der Franzoſen, Engländer und Italiener ſtoßen wir auf die neulateinische Poeſie als ein Mittelglied zwiſchen dem Humanismus der Nenaiffancee und der neueren Geiftesentwidlung !. Voltaire, Windelmann und Lejfing haben noch mit manden dieſer Poeten zufammen gelebt. Die literarijhe Atmoſphäre, im der fie aufwuchſen und fih ſchulten, war noch ſtark von jenem Humanismus durchſetzt, den Die alte Lateinſchule weiter überlieferte. Was diefe Schule bot, war nicht alles Formelkram, Vedanterie, überlebte Schablone. Kein Geringerer als Gott: fried v. Herder Hat in feinfinnigfter Weife dieſes Vorurteil widerlegt: „Alles alſo, was den Geihmad der Alten unter uns befördert, jei uns wert, Ausgaben, Überſetzungen, Kommentare, Nahahmungen; unter diefen Nahahmungen au die neuere lateinifhe Poesie zu nennen, ſcheue ih mid nit. Sie war immer ein Zeichen, daß man die Alten fannte und liebte, daß man über neuere Gegenftände im Sinne der Alten dachte, dab man ihre Richtmaß an diefe neuen Gegenftände zu legen wagte. Sie bat viel Gutes gewirkt. Latein jagte man, was man in der Landesſprache nicht jagen konnte oder durfte; nahahmend ſprach man gleihjam die Alten nad und fagte ihnen feine Lektion auf; man freute fi, dab man fie aus ihnen gelernt und ungefährdet auffagen konnte. Über die Vorurteile feiner Zeit, feine Ordens, Volkes und Standes hob mander fi, ohne daß er

ı Über den Nußen ber Übung in ber Anfertigung Yateinifcher Verſe fagt P. Brumon (M&moires de Trevoux, 1 Mai 1722) jehr treffend: Nous avons peine à sentir et à transmettre dans nos &crits toutes les finesses poétiques des anciens, malgr& le gönie et le travail; que serait-ce done si contents de lire leurs @uvres, nous ne composions pas dans leur langue et dans leur maniere? Combien de beautes s’eclipseraient a nos yeux?... Personne n’aura la clef ni de l’ingenieux Ovide, ni du sage Virgile, ni du galant Horace, s’il ne s’est, pour ainsi dire, naturalise dans le siècle d’Auguste, par une imitation du langage, des maniöres, des tours, de la cadence qui rögnent dans les &crits de ces illustres morts,... Sans le secours de la po6sie latine, on n’acquiert point intelligence parfaite des modeles latins.... La po6sie latine ne fait pas le genie; mais elle sert a le r6gler en lui faisant pendtrer ses modöles.... La poésie, générale- ment parlant, enseigne & faire un choix de mots, de pensdes, de tours; à re- trancher, à polir, à rimer, à donner de l’ordre aux idées et de l’'harmonie aux phrases; or ce que fait la poösie en general pour faconner le style, la podsie latine le fait bien plus sürement pour former le goft, puisqu’elle apprend seule a suivre les routes secrötes de la nature que les Anciens ont si bien trouvées (P. Camille de Rochemonteix, Le Collöge Henry IV de La Fleche III, Le Mans 1889, 71 72).

Baumgartner, Weltliteratur, IV. 3, u. 4. Aufl. 43

674 Achtes Kapitel.

es wußte, auf Schwingen irgend eines alten Dichters empor; oder wenn er hierzu nicht Kraft genug hatte, kam er doch nahahmend dem Geſchmack und befjeren Verftändnis des Dichters, in deffen Weile er jchrieb, näher und ward, auch nadjlalfend, mit ihm vertraute. Endlich ſchloß fi durch die neuere lateinische Poeſie eine Gefellichaft zufammen, von der vorher nod feine Zeit gewußt hatte; in Italien, Spanien, Portugal, Franfreih, den britanniſchen Inſeln, den nordifhen Königreihen, in Livland, Polen, Preußen, Ungarn, in Deutjhland, Holland uſw. Hat man lateinisch nicht nur berfifiziert, fondern bie und da gewiß auch gedidhtet. Italien, Frank: reih, Deutichland, Polen, vor allen Holland Hat Männer gehabt, die mit dem Latein mie mit ihrer Mutteriprache umzugehen mußten und in ihm Gedichte gaben, die in jeder Landesſprache Aufmerkſamkeit gebieten würden. Selbft die vortrefflihen Dichter, die der Sprade und Poeſie ihrer Nation eine befjere Geftalt gaben, hatten diefe meiſtens im Lateiniſchen zuerft ver— ſucht, wie außer den talienern die Beifpiele Miltons, Cowleys, Grotius’, Heinfius’, Opitz' ufw. zeigen. Faſt alle Reformatoren, Erasmus, Luther, Zwingli, Melandtbon, Gamerarius, Beza uſw., waren Liebhaber der Alten, Liebhaber der griechiſchen und lateinifchen Dichtkunſt. Die gebildetften Staatämänner, wie Thomas Morus, de Thou, Höpital ufw., Botjchafter, Päpfte, Kardinäle waren lateinische Dichter. Ein Helilon vereinigte fie und wedte Stimmen vom Ätna bis zum Hella, vom Ausfluß des Tajo bis zur Weichſel und der Düna.” !

Achtes Kapitel. Die Sateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Seo XIII.

Bei allem Anfehen, deſſen Gottfried d. Herder genoß, haben die An: fihten, die er 1796 in feinen „Humanitätsbriefen“ äußerte, wenig Ber: breitung gefunden. Die gewaltigen geiftigen wie materiellen Ummälzungen, welche feit der großen franzöfiichen Revolution über Europa dahingegangen, lentten das gejamte Geiftesleben nod viel weiter von den einftigen mittel: alterlihen Bahnen ab, al es die Glaubenstrennung des 16. Jahrhunderts getan. Der Staat riß nicht nur weite Ländergebiete an fi, welche fid bis dahin im Befite geiftliher YFürften befunden Hatten, ſondern eignete fid auch immer mehr Rechte an, namentlich in Bezug auf Schule und Unterricht, welche bis dahin die Kirche ausgeübt oder die jelbftändiger individueller und

' Gottfr. v. Herder, Briefe zur Beförderung ber Humanität. 8. Samm: lung 91 (Werke [Hempel] XII 420 421).

Die lateinische Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIIL 675

forporativer Tätigkeit freigelaffen waren. Eine vorwiegend weltliche Bildung drängte allüberall die religiöfe, geiftliche zurüd. Unter dem Einfluß der proteftantiihen Theologie gab mancherorts aud die fatholifche die biäherige lateiniſche Schulſprache ganz oder teilmeije auf und vertauſchte fie mit der betreffenden Landesſprache. Die neuere Philofophie warf von Kant an die altichofaftiihe Sprache völlig über Bord, die Baco und Descartes, Spinoza, Leibniz und zum Teil Wolff noch feftgehalten hatten. Nealiftiihe Wiſſens— zweige, bejonders die Naturwiſſenſchaften, entzogen übrigens der Bhilofophie in wachſendem Maße ihr Anjehen und ihren Einfluß und verdrängten das Latein aud aus den Sternwarten, den chemiſchen, phyſikaliſchen und mediziniſchen Laboratorien. Nur in den naturgeſchichtlichen Nomenklaturen und in der willenihaftlihen Terminologie jchleppten fi hier noch Trümmer und Andenten der früheren griechijchen und lateiniihen Bildung weiter. Schon während der Aufflärungsperiode nahm aud unter den Juriften die Kenntnis des Lateiniſchen ab!; ſpäter nahmen der Code Napoléon und andere neuere Gejegbücher vorwiegend das Jntereffe in Anſpruch, das früher fait aus: ihlieglih das alte Corpus Juris Civilis und Canonici behauptet hatte. Auf dem Gebiete der Geſchichtswiſſenſchaft ward das Latein ins Altertum und Mittelalter zurüdgedrängt. Selbft die Philologie vertaufchte in ihren gelehrten Differtationen, Kommentaren und Stritifen immer mehr das Zateinifche gegen die Landesſprachen, und wo fie e& beibehielt, pflegte fie nur die didaktische Proja, während fie die Übung der Iateinifchen Rede und Dichtung jelbft an den Gymnafien zujehends verfümmern lief. Denn weder die jeit Gottfried Hermann beftehende grammatiſch-kritiſche Richtung noch die an Auguft Bödh fih anſchließende hiſtoriſch-antiquariſche Nichtung nahm die Tendenz des alten Humanismus zur Nahahmung der altklaffifchen Sprade, zur praktiichen Aneignung derjelben, zur jelbftändigen Weiterpflege einer lateinifchen Literatur wieder auf.

Die erjtere Richtung, melde fih hauptſächlich an die Forſchungen der niederländifchen und engliichen Philologie anſchloß, erblidte ihr Hauptziel in der kritiſchen Wiederherftellung der antiten Schriftwerke, in der möglichft genauen Erklärung ihres Sinne, in der Erforfhung der Einzelheiten, be- ſonders der Grammatif und Metrit. Die andere Richtung betonte die jog. Real: oder Sahforihung und ftrebte, im Anſchluß an die franzöfijche Altertumsforihung, die möglichſt allfeitige Erkenntnis des antiken Geiftes in

ı &o klagt bereit? J. WU. Riegger (Opuscula ad Historiam et Iuris- prudentiam pertinentia, Frib. Brisg. 1773, 56): Verum ista antiquissimae simul atque nobilissimae linguae existimatio eo apud plurimos recidit, ut jam turpius videatur eam scire, quam neseire. ... Et sane quam parum illi prae ceteris apud plerosque tribuatur, praecipuas Europae gentes testes volo; quibus iam satis diu sollemne est, nec scribere quiequam latine, nec loqui, nec intelligere.

48 *

676 Achtes Kapitel.

all jeinen Erſcheinungen, Religion, Recht, Literatur, Kunſt, Staatsleben und Privatleben an. Seine von beiden legte es aber darauf an, lateiniſche Redner oder gar Dichter heranzuziehen !.

Schon im Laufe des 18. Jahrhunderts war übrigens die lateinische Poefie in Deutſchland auf ein Minimum zufammengefhmolzen, nicht jo ſehr zu Gunften deutjher als franzöfiiher Werke. Merkwürdig find in dieſer Hinficht die Angaben, die Fr. Paulfen aus den Meptatalogen zujammen: geftellt hat. Diefelben beziehen ſich lediglich auf poetifche Werke, welche in den betreffenden Jahren in Deutichland erjchienen find ?,

Lateiniſch Franzöfiic Deulſch Summa 1564-—1570 136 1 22 159 1571—1580 243 23 39 305 1581—1590 296 4 48 348 1591— 1600 343 14 32 389 1601—1610 508 18 114 640 1611—1620 566 57 117 740 1621—1630 360 15 129 502 1631-1640 239 9 118 366 1641—1650 230 10 287 927 1651 1660 189 15 183 887 1661 —1670 122 29 193 344 1671—1680 101 19 187 307 1681—1690 73 11 215 299 1691 —1700 62 26 276 364 1701 —1710 59 3 215 277 1711—1720 24 20 243 287 1721—1730 12 9 308 324 1731-1740 14 60 366 440 1741—1750 27 145 703 875 1751 —1760 42 140 837 1019 1761 -—1770 4 444 1480 1978 1771— 1780 94 431 2627 3152 1781—1790 98 421 4380 4899 1791—1800 2 573 7645 8220

As ein Zeihen, daß das ntereffe für neulateiniiche Dichtung doch nit ganz erlojhen war, mögen immerhin die wiederholten Neudrude gelten, welche einzelnen neulateinifhen Dichtern, beſonders Balde und Sarbiewsfi, zu teil geworden find. Neuerlih wurden aud die lyriſchen Gedichte des P. Simon Rettenbader zum erftenmal aus dem Dunkel des literarischen Nachlaſſes Hervorgezogen, eines Benediktiners, der, 1634 zu Aigen bei Sal; burg geboren, in Salzburg, Rom und Padua ftudierte, 1659 in das Kloſter

€. Burfian, Geſchichte der Haffiihen Philologie in Deutichland, München 1883, 665 666.

Sriedr. Paulfen, Geſchichte bes gelehrten Unterrichts 788.

Die lateinische Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIII. 677

Kremsmünfter trat und 1706 dajelbft farb. Seine Oden berühren fih in Stoff und Stimmung häufig mit denjenigen des etwas älteren und ihm befannten Balde. „Mag diejer au”, wie der Herausgeber meint, „genialer als Rettenbader jein“, jo ift doch auch diefer „ein Mann von großen dichteriichen Geiftesanlagen, feine Oden zeugen von echt poetijcher Begabung, jeine Sprade ift fiber und leicht.“ !

Die englifche Pädagogik hat das Abfafjen lateinischer Gedichte als eine überaus nüßlide Schulübung bis herab in die neuefte Zeit beibehalten, und e3 hat nit an deutſchen Schulmännern gefehlt, welche diefem fonjervativen Zuge ihren Beifall zollten 2.

Die einftige begeifterte Pflege hat jedoch die lateiniſche Dichtung auch in den Schulen der romanifchen Länder, ſelbſt in jenen der wiedererftandenen Geſellſchaft Jeſu, nicht mehr gefunden. Nur vereinzelt begegnen wir da und dort noch einem wirklichen Dichter, der ſich einigermaßen mit den Zeit: genoflen Baldes mefjen könnte, und dieje können faum mehr auf ein größeres Bublitum rechnens. Bergeblih ſuchte in den vierziger Jahren ein reicher Amfterdamer, Jak. Heinr. Hoeufft, durch ein anjehnliches Legat einen Wett: ftreit im lateiniſcher Poeſie wachzurufen. Von 1845 bis 1868 konnten nur einige wenige Gedichte gekrönt werden; ein einziges zeichnete fih, nad dem Ürteil der Preisrihter von 1876, wirklih durdh Inhalt und Form aus. Erft ſeit 1870 wurde der Preis wiederholt, und zwar mit Auszeihnung gewonnen. „Die Satiren Ad iuvenem und Ad procum, die Musa und vor allem die Gaudia domestica find Elegien, melde wir ohne das mindefte Bedenfen neben die beiten lateinifchen Poefien des 17. und 18. Jahrhunderts ftellen.“ So urteilten die niederländischen Kritiker“. Der Dichter aber war ein Schweizer, Peter Eſſeiva, der feine Bildung noch an dem befannten Jefuitenlolleg zu Freiburg in der Schweiz erhalten Hatte, jpäter Staat3auditor in päpftlihen Dienften und endlich Richter in feiner Heimat wurde.

Dem hohen Zobe, das ihm 1876 die erwähnten holländifchen Gelehrten jpendeten, ſchloß ih in einem Breve vom 12, Mai 1890 Papſt Leo XII.

ı P, Zaffilo Lehner O. 8. B., P. Simon Rettenbadhers Lyriſche Gedichte, Wien 1893, xxxır. Vgl. die Befprehung von Dr Michael Gitlbauer im „Baterland”, Wien, 27. September 1891.

* Wiefe, Deutiche Briefe über englifche Erziehung 56. Vgl. Duhr, Die Studienordnung ber Gejellihaft Jeſu 93 94 121 122, v. Helmholtz, in Ber: bandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin 1891, 202 203 206.

> In einer trefflihen Elegie hat R. van Oppenraay 8. J. ben P. Da— mian, ben Apoftel der Ausfägigen, befungen (Amor. Carmen elegiacum, Amstelo- dami 1890).

* Bericht over den Wedstrijd in latijnsche Po&zie, Amsterdam 1876, Van der Post, 1.

678 Achtes Kapitel.

jelber an und hob bejonders hervor, „daß er die lateiniſche Literatur aus ihrem dermaligen gejunfenen Stande nit dur leere Klagen, jondern dur tatkräftigeg Beijpiel und die Erzeugnifje feines Geiſtes zu heben bemüht gemwejen“ !.

Wirklich ift die Sammlung feiner Gedihte (vom Jahre 1894)? jo reih an poetiſcher Erfindung, erhabenem poetiihen Schwung, gemütlichen Humor, geiftvoller Behandlung älterer und neuerer Stoffe in jo gewanbter Form und Sprade, jo ganz von altklaffifher Färbung, daß fi fein moderner Dichter jolhen Reihtums, kein antiker folder Eleganz zu ſchämen hätte. Sie teilt fih in drei Gruppen, bon welden man die erfte vielleicht „Kleine bibliihe Epen“, die andere „Römifche Elegien“, die dritte „Moderne Kultur: und Lebensbilder“ betiteln könnte. Zur erften gehören: „Sujanna“, „Judith“, „Judas Mahabäus“, „Eſther“, „Die Reife des jungen Tobias”, „Brief des Knechtes Eliezer an Abraham“, „Der gute Hirt“. Zur zweiten dürfen wir rehnen: „Die römischen Ofterferien“, „Der Monte Pincio“, „Die Schladt bon Gaftelfivardo* (Pugna Nomentana), „Sibylla”, „Aufruf zur Ab- Ihaffung der Negerfklaverei”, „Die Mufe“, „An Papſt Leo XIII.“ (bei defjen Priefterjubiläum), „Die Lilien“. Am originellften ift die dritte Gruppe: „Die Eifenbahn“, „Urania“ (die moderne Aftronomie), „Satire an einen Jüngling“, „Satire an einen Freier”, „Satire auf die emanzipierten Damen“, „Die Flöhe“, „Häusliches Glüd“, „Klagen einer alten Jungfer“, „Zrefflicher Rat“, „Eitle Lift“ 8,

Der Dichter Hat fih Hier daran gewagt, die allermodernften Stoffe, 3. B. eine Eifenbahnfahrt, ein Meeting emanzipierter Damen, in echt alt: klaſſiſcher Sprache und Form höchſt lebendig und anſchaulich zu zeichnen. Es will uns bedünfen, daß das Latein in der Plaftit der Darftellung nit nur völlige Ebenbürtigfeit mit den modernen Spraden, fondern fogar eine gewifle Überlegenheit bewährt. Wie meifterlih ift 3. B. das Bild der Lokomotive:

Ferri aerisque rigens stat monstrum immane metallo, Terra et Vulcano partum, nova forma Öhimaerae,

Ferreis fulta rotis, cui perpetuo ordine centum Vineti a tergo haerent ingenti pondere currus,

' Te in eorum numero esse, qui afflietam hoc aevo latinarum litterarum fortunam, non inanibus querelis, sed exemplo tueri conantur et monumentis ingenii sui.

® Petri Esseiva Carminum libri IX, Friburgi Helvetiorum 1894.

® Petri Esseiva Sibylla. Carmen, Frib. Helvet. 1871; Lilia. Elegia (ebd. 1876); Via Ferrata (ebd. 1878); Pugna Nomentana (ebd. 1879); Mons Pin- cius (ebd. 1880); Tobiae iunioris peregrinatio (ebd. 1882); Iuditha (ebd. 1884); Iudas Machabaeus (ebd. 1886); Susanna, Amstelodami 1888; Africana servitus abolenda, Frib. Helv. 1890; Ad Leonem XIII. (ebd. 1892); Carminum libri IX (ebd. 1894).

Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Beo XIII. 679

Carnibus haud pecudum nec bellua pascitur herba, Sed prunae ardentes infusus et amnis iniquam Explent ingluviem. Magno vix corpore clausi Insolito adversas iungunt ex foedere vires

Ignis et unda simul: tum creber anhelitus intus Auditur, surdisque ferae gemit ictibus alvus, Tum quoque nigrantem fumum mixtasque favillas Evomere, et tardo primum discedere motu;

At eitius eitiusque fugit stimulo excita caeco, Agmen agens currum: fert impetus ipse ruentem, Emensumqgue atra spatium caligine signat. Cocyto eredas Stygiisve paludibus anguem Emissam, celeri tam magna volumina tractu

Per campos sinuat, tam stridula sibila ventis Crebrescunt scissis, tanto ferit astra tumultu. Longinquo allapsum vix murmure prodidit et iam Transit, et ex oculis iam se servantibus aufert. Non abrupta loci praetentave flumina cursus Impediunt rectos, vastis non rupibus Alpes;

Nam modo praeecipiti suspensum gurgite pontem Mole terit, volucrique tremunt sub pondere pilae, Adversum modo se illa furens immittit in antrum Horrifico sonitu: vocem cava elaustra volutant, Limite defosso penitus dum viscera terrae Scerutatur raptim Phoeboque loca invia visit. Exclusam interea revocant funalia lucem,

Per varios paseit dum flammam adducta canales Aura levis, gravida qualem se vidimus olim Rumpere humo, cocto carbone imitamur et arte: Lumine nec iam audet pinguis contendere Pallas. Inde brevi rursus superas evadit ad auras Bellua, et inceptum per saxa, per arva, per urbes Pergit iter vento eitior vel fulminis alis.

Nec picea quum telluri nox incubat umbra

Lapsa polo, sopit stimulos agmenque moratur; Purpurea sed dira ferae stant lumina flamma Collustrantque viam longe geminamque rotarum Extantem normam, visuque animalia terrent'!.

Nicht minder anihaulih und kunftvoll ift in dem Gedicht „Urania“ der merkwürdige meteorologijhe Apparat des P. Angelo Sechi bejchrieben, mit einem echt poetifhen Gruß an den greifen Aftronomen. In der Satire auf die „emanzipierten Damen“ aber läßt Efjfeiva mit wahrer Meifterhand eine foldhe gelehrte Dame die Darwinſche Selektionstheorie und Affentheorie auseinanderjegen, wie fie Haedel ausgebildet und mie fie noch heute in zahllofen Schriften, auch jozialpolitifchen, als populär-wiſſenſchaftliches Gejpenft

ı Carmina 48 49,

680 Achtes Kapitel.

herumgeiftert und alle menjhlihen und fozialen Verhältniffe auf den Kopf ftellt. Das nichts weniger als jhüchterne, nach Herrenart frifierte, nur durch fosmetifche Mittel künftlich verjüngte Fräulein hebt aljo an:

Imprimis mihi non tanta vos nocte teneri

Certa fides, ut nutricum commenta secutae Humanum genus a gemino fluxisse parente Credatis, pomumque illis nocuisse comesum Uxoris monitu, mendax quam luserit anguis. lam satis atque super fieto pro cerimine poenas Pertulimus: ratio nos culpae absolvit avitae, Longe alia dum prognatas ab origine monstrat. Scilicet ut casu terrae concreverat, orbis,

Sole tepente gravis tellus animantia fudit Imperfecta quidem, quae vix dignoscere possis, Sed tamen et motu et vitali praedita sensu; Non aliter quam tabenti de funere vermes Sponte sua prodire solent. Volvente sed aevo Naturae instinctus meliores quaerere formas Deque sua inter se iussit contendere vita.

Dum gravitate sua quaedam labuntur in undas, Pars submersa perit, partem miser exitus egit Spirandi mutare modum: sic flumine pisces Illudunt, victumque petunt a pisce minori. Verum aliis, dum perpetuo nituntur in altum, Seu praedae studio, fieri seu praeda verentes, Succrescunt sensim plumae, rapidaeque volucres In liquidum sumptis evadunt aethera pennis.

At quibus est calcare solum nativa cupido, Prosiliunt nexosque citant compagibus artus.

Sic aliae atque aliae species in tempore surgunt, Et variis quae suppeditat natura novatrix,

Arma movent; namque ut daxit sua quamque libido, Optarunt ungues pedibus vel cornua fronti, Libera quum rata sit cuivis selectio formae. Scorpius extremo minitatur acumine caudae, Lorica et gemina confidit forcipe cancer;

At rigidis horret vallata hastilibus hystrix,

Et glomerata canum rietus illudit hiantes; Praesidio est astus vulpi, fuga concita damae; Vasta elephas se infert mole atque proboscide tutus. Quid tigres memorem, quid semina dira leonum ? (Quos inter non mente minus quam corpore velox Cercopithecus adest: huic eia assurgite, matres: Humanae stirpis vobis ego trado parentem.

Nah diejer Einführung des vierhändigen „Stammvaters“ folgt eine heitere Beichreibung des paradiefiihen Affenlebens, feines Übergangs zum Menjchenleben durch Ablegung der Schwänze, der Kultur der „Steinzeit“

Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIII. 681

und der weiteren menſchlichen Entwidlung. Das Haupthindernis des Fort: ſchritts erblidt die Rednerin in dem auf Religion und Ehe gejtüßten Vorrang des Mannes und fordert die Genojfinnen auf, das unwürdige Joh mit Lift und Gewalt endlih abzujhütteln:

Fort, ihr Männer, von mir! Doc follte mich einer umwerben, Mich begehren zur rau, jo vernehme er meine Bedingung. Nimmer wage er es, zu flören mit häuslichen Sorgen

Mich im gelehrten Beruf; er joll, fo oft ich's gebiete,

Waſchen mit eigener Hand die wafjertriefenden Linnen,

Hängen an fonnigem Plaß fie auf am Seile zum Zrodnen, Flicken, was etwa zerfeßt, und leicht beiprengend mit Waffer Glätten fie mit der Hand und mit heißem Eifen fie bügeln. Mit dem Bejen ſodann foll Zimmer und Gänge er fehren, Und mit dem ſchmutz'gen Geweb’ die Spinne holen vom Balfen. Nicht das letzte Geſchäft ſoll auch die Küche ihm werden, Sondern üben mit Fleiß foll er des Apicius Künfte.

Menn, um Bater zu fein, ihm Zeit bleibt, Kinder zu hegen, Wiege er jchlaflos fie ein und rühre die kindlichen Klappern, Um zu bringen in Ruh das ohrzerreißende Schreien,

Wenn im Munde das Fleiſch die erften Zähnchen durchbrechen. Kochen ſoll er den Brei, um die zarten Lippen zu päppeln, Und verjäume auch nit, was gnädig ich Lieber verfchweige. Doh wenn er alles getan, eradht’ er's als reihlihe Löhnung, Wenn er das Seine behält, nicht wird auf die Straße geworfen. Das iſt Sade des Manns, und töricht wahrlid das Weib, das Nicht das ſtlaviſche Joch der einftigen Ehe von fi) warf! Höher ift unfer Beruf: der Weſen Grund zu erforfchen

Und zu veredeln ben Geift, den freien, mit jeglihen Künſten. Mögen fletihen fie nur, die Männer, und Himmel und Hölle Rühren zu wirrem Gemeng, fein Wiffen bleibt ung verſchloſſen, Und es gibt fein Geſetz, das nicht zu ändern bei uns fteht, Und weil fügen fih muß ben neuen Dingen die Sprache, Grüße als Ärztinnen uns das Volt, Profeffor- und Doktorinnen, Schriftſtellerinnen dazu, Philofophinnen und Yuriftinnen

Und gewöhne das Ohr an die uns gebührenden Titel.

Bald wo dann das Volt erneuert feine Berfaffung,

Werden im Rat und Senat aud wir uns Site erobern.

Dies ift das herrliche Ziel, zu dem wir ringen und ftreben: Eintracht führt uns dazu und wirb ung reihen bie Palme!

Der einzige, allgemein bekannte lateiniſche Dichter der neueften Zeit ift der Nachfolger des Hl. Damafus und Urbans VII, Bapft Leo XII. !

! Leonis XIII. Pont. Max. Carmina, Roma 1885, I. Befani (Einleitung bon P. Enrico Balle 8. J. 9—22. Poems, Charades, Inscriptions of Pope Leo XII. With English Translation and Notes, by H. T. Henry, New York, Philadelphia 1902. Leonis XIU. P. M. Carmina. Inscriptiones. Numismata.

682 Achtes Kapitel.

Eine Skizze feines Lebens, von feiner Geburt (10. März 1810) bis zu feiner Erhebung zum Bontififate (20. Februar 1878), hat er ſelbſt in einer latei- niſchen Elegie an feinen Bruder Jojeph, den jpäteren Kardinal, entworfen :

Frühling der Jugend! Wie traut floß mir im Haufe des Vaters Hoch am Lepinifchen Jod, jelig das Leben dahin! Mütterli dann umfing Piterbo den Knaben und nährte Mit der Liebe des Herrn mid im Loyoliſchen Haus, Nom warb drauf mein Gezelt; im hohen Palafte der Muti Feſſelt' als Kämpfenden mid blühender Studien Feld. Freudig gedenk' ich der Zeit, da Manera und anderer Väter Dielgefeierte Schar, leuchtend durch Wiffen und Geift, Dir aus lauterem Quell bie Schäbe irdiſcher Weisheit, Mir der Theologie göttliche Rätfel erſchloß. Reichlich kam aud der Lohn: es ſchmückte die Zierde bes Lorbeers, Mühſam erftritten im Kampf, frönend die freudige Stirn. Mut verlieh mir und Luft und Hilfe zu weiterem Streben Sala, der römische Fürft, prangend im Purpurgewand; Gönner warb er und Freund dem Beginnenden; immer nod dent’ ich Dankbar, o herrlicher Greis, deines berebteften Rats! MWohnfik ward mir fodann Benevent und das fühe Neapel, Und ber Hirpiner Geſchlecht lenkt’ ich nach gleichem Gefek. Willkomm bot mir und Haus Perugia, die ragende Zurmftabt, Feuriges Umbriervolt ward mir zu leiten beftimmt. Aber Größeres no harrt’ mein; gejalbt mit dem Chrisma, Zog ich auf päpftlihen Wink hin zu der Belgier Land Und verweilte bafelbjt, Anwalt bes römifhen Glaubens Und bes geheiligten Rechts, weldhes dem Petrus vertraut. Neu drauf ward mir gefchenft die Heimat. Vom Wintergeftade Nief mich erhabnes Gebot heim in das fonnige Land: Umbrien fah ih aufs neu, und wieder begrüßte die Stabt ich, Welcher mit göttlihem Hauch längft mich die Liebe vermählt, Ward ihr Gebieter und Hirt für dreißig Jahre und mehr noch, Und ber Herbe gebrach's nimmer an Segen und Heil. Feſtlich Schritt ich einher als Fürft im römiſchen Purpur, Und mit dem glänzenden Schmud belgiſcher Ritter geziert. roh wetteifernd bemüht’ fi die gottgewibmete Jugend, Volk und Prieiter zugleih um bes Erforenen Gunft.

Ed. J. Bach [föln 1903]. Carme Secolare del Sommo Pontefice Leone XIll. tradotto in varie lingue, Roma 1901. Leonis XIII. Pontif. Max. Inscrip- tiones et Carmina... germanice reddidit Edm. Behringer, Ratisbonae 1887. Des Papftes Leo XII. Sämtlihe Gedichte, nebſt Infchriften und Denkmünzen, überjegt und umgebichtet von B. Barth, Köln 1904. F. J. Schwerdt, Papft Leo XIII. Ein Blick auf feine Jugend und auf feine Dichtungen, Augsburg 1887. FA. Muth, Kleines Leo-Buch, Breslau 1887. —S.D.N.Leonis Papae XII. Alloeutiones, Epistolae etc., Brugis et Insulis 1887 f (bis 1900 erichienen 6 Bbe) ; Epistolae Encyclicae I, Frib. i. B. 1881; II ebd. 1887. Seo XII. als Dichter (Beilage zur Allgem, Zeitung 1903, Nr 162, [21. Juli).

Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XI. 683

Do der Ehren, warum gedenk' ih ihrer? Sie fliehen; Nur die Tugend allein bleibt, ein beglüdender Schat! Ihr nur gelte hinfür an des Lebens Neige mein Streben, Sie nur auf fiherem Pfad führet zum Himmel hinan, Bis es uns endlich befchert, im ewigen Frieden zu raften, Selig im feligen Land, weldes die Sterne umglühn. Gönn mir Erbarmen, o Herr! und ſchenk mir ein glücliches Enbe! Neige, Maria, bein Ohr, Gütige, meinem Gebet!

Das tönt wie ein Klang aus den kirchlichen Humaniftenkreifen des 16. oder 17. Jahrhunderts, wie eine Elegie von Sadolet oder Kardinal Barberini. Den Mittelpuntt des Lebens bildet nicht die Poefie, fondern die großen religiöfen Intereffen, von denen auch die fozialen und nationalen bedingt find. Aufſchluß über die höchſten Lebensfragen wird nicht bei der PVoefie geſucht, Jondern bei Philofophie und Theologie. Die Poefie ift nur eine freundliche Zufpeife und Erholung im Ernfte des Lebens; aber indem fie von den höchften Idealen der Religion und Wiſſenſchaft durchtränkt ift, erjcheint fie feineswegs verächtlich, jondern jelbft in ihrem heitern Spiele al3 eine mwürdige Verbolllommnung und Vollendung des höheren Geiftes- lebens, als der Ausdrud echter, hriftliher Humanität.

In diefem Sinne lernte Joahim Pecci die Literatur und Poeſie als Schüler des Jejuitenfollegiums von PViterbo ſchätzen und lieben; Trotz ber langen Unterbrüdung hatte fi bei den Jeſuiten die alte Schulüberlieferung erhalten, und die alten Erjefuiten weihten ihre Schüler auch wieder in die Geheimniffe des römischen Versbaus ein, zwar nicht mehr überall mit der früheren Gewanbtheit und Begeifterung, aber in Italien doch noch mit einem hohen Grade derjelben. Wie ehedem begünftigte diefe Übung das Verftändnis und den Gefhmad für die klaſſiſche italienische wie für die antite Literatur, Joachim Pecci ift in der Schule der Jeſuiten aud ein ausgezeichneter Ver: ehrer und Kenner Dantes geworden. Derjelbe P. Francesco Manera, welchen er in Rom zum Lehrer hatte, hielt am Athenäum zu Zurin ſehr geſchätzte Borlejungen über die Divina Commedia. P. Antonio Bresciani, welchen Karl Witte als italienishen Stiliften überaus hochhielt, wie der Hagiograph Giuſeppe Boero, der Hiftorifer Giufeppe Brunengo, der Grammatifer Giufeppe Paria, der Novellift Secondo Franco und andere hervorragende Mitarbeiter der Civiltä Cattolica madten alle mehr oder weniger diefelbe Schule dur und bildeten fi in der Übung des Lateinifchen zu Meiftern des Italienifchen heran!. Daß fih auf lateinifh noch immer nicht bloß Lobgefänge auf Maria und die Heiligen, jondern auch ganz moderne Themata, wie das

! Bol. hierüber P. Salvatore Casagrandi, Saggio di Epigrafi e Poesie del P. Luigi Cerutti d. C. d. G., Torino 1897; und bon demſ., Isaiae Carmi- nati S. J. auditorum Cheriensium Carmina sacra, Aug. Taurin. 1898,

684 | Achtes Kapitel.

Papftjubiläum von 1893, eine Warnungstafel gegen Ernft Renan und die Kolumbusfeier von 1892 trefflih behandeln laſſen, zeigen die von Leo XIII. jelbft jehr Huldreich aufgenommenen Oben des P, Octavius Gagnacci, Rhetorik: profeffors in Fiume!,

Dum silent fereque iacent litterae optimae, gratissima Nos in carminibus tuis tenuit oblectatio, ſchrieb ihm der Papft.

Obwohl weder ſehr zahlreih noch umfangreih, laſſen die Gedichte Leo XII. doch eine ſehr umfaffende PVertrautheit mit der altklaffifchen Literatur erfennen, allerdings mit einem feinfühligen, wählerifhen Geichmad. Während Urban VII. und die mit ihm befreundeten Dichter fi nicht iheuten, ihre Sprade auch aus Seneca, Statius und andern jpäteren Schriftftelleen zu bereihern, hält ſich Leo XIII. ganz an die Vorbilder des goldenen Zeitalter. Sein Lieblingspdichter ift fichtlih Vergil; mande Stüde Hingen auh an Horaz, Tibul und Gatull an. Die Hunft des Epigramms hat er nicht bei Martial, fondern bei den feineren Griehen ber Anthologie erlaufht. Während nur zu viele Dichter die Poefie darin juchten, die römiſchen Grotifer vorwiegend in der Schlüpfrigfeit des Inhalts nad: zuahmen, hat der echt priefterlihe Sänger fih ihre Haffiihe Eleganz nur dazu angeeignet, um in feinfter künftleriicher Weife den zweideutigen Gehalt zu vermwerfen. So ruft er (1870) dem alten verliebten Sünder Gallus zu:

Galle, quid insanis? quid te torpere veterno, Diffluere illecebris deliciisque iuvat?

Puber adhuc, prima adspersus lanugine malas, Deperis incautam captus amore Chloen;

Grandior ecce Bycen ardes mollemque Corynnam, Inque dies vulnus saevior ignis alit.

lamque senescentem miseraque eupidine fractum Nune premit indigno vafra Nigella iugo.

Ecquis erit modus? E coeno caput exere tandem, Tandem, rumpe moras, excute corde luem.

Cunctaris, veteresque amens sectaris amores? lam spes heu misero nulla salutis adest.

Praedam inhians rabidus lateri stat daemon, amara Te mors, te vindex Numinis ira manet.

Allgemeine Bewunderung, auch in nichtkatholifhen Kreifen, Hat das allerliebfte jambifhe Epigramm auf die „Photographie” (Ars photo- graphica, vom Jahre 1867) gefunden:

' Octavii Cagnacei e Soc. Iesu Odae, Venetiis 1894; Editio 2* auctior, Mediolani 1902.

Die lateinifche Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XII. 685

Expressa solis spiculo Dom ſcharfen Sonnenftrahl gemalt, Nitens imago, quam bene Wie gibft du wieder voll und treu, Frontis decus, vim luminum O herrlich Bild, der Stirne Glanz, Refers, et oris gratiam !. Der Augen Licht, der Züge Hulbd. O mira virtus ingeni O Menfchengeift, jo wunberbar, Novumque monstrum! Imaginem O neuerfundnes Zauberwerk! Naturae Apelles aemulus Apelles laufchte der Natur Non pulchriorem pingeret. Fürwahr ein ſchönres Bild nicht ab.

In den liturgiſch gedachten Hymnen auf die Patrone von Perugia, die heiligen Märtyrer Herculanus And Sonftantius Hält fih der Papſt an die firengen Kunſtformen des hi. Ambrofius; in einem derjelben bedient er fih fogar der ſapphiſchen Strophe, fteht aljo nicht auf der Seite derjenigen, welche das Heil der liturgiſchen Hymnik ausfhließlih im Brud mit allen Formen und Erinnerungen des Haffiihen Altertums ſuchen.

Indem wir uns freuen, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts einem Papft-Dichter zu begegnen, der in Poeſie und Literatur noch die ehrwürdigen Überlieferungen eines Klemens von Alerandrien und eines hl. Bafilius, eines hl. Ambrofius und eines Prudentius aufrecht erhält, find wir weit entfernt, unfer Auge für die großartigen Leitungen zu verfchließen, welche die deutſche Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts aufzumweijen hat. Was in dieſem Zeitraum für Erforfhung der Inſchriften und Handſchriften, Herftellung ges fiherter und verbefjerter Texte, Erklärung ſchwieriger Stellen, grammatifche Durdarbeitung einzelner Schriftfteller und Zeitperioden, Unterfuhung des Hajfiichen Altertums nad) allen Seiten hin, äfthetiiche Würdigung der Dichter und Profajhriftfteller, Verwendung derjelben für die Zwede der Pädagogif wie der allgemeinen Bildung gejchehen ift, übertrifft an materieller Aus: dehnung alles, was jeit der Zeit der Alerandriner auf dieſem Felde geleiftet worden ift. Nie iſt eim ſolches riefiges Einzelwiffen über das klaſſiſche Altertum aufgelpeihert und, ſoweit möglih, auch methodiſch, dur die fompfiziertefte Schulorganifation verbreitet worden.

Niemand wird indes verfennen, daß fich heute nur jelten jene fünft- lerifche, poetifche, nicht bloß bewundernde und rezeptive, fondern auch fruchte bare und nachſchaffende Begeifterung für die Alten zeigt, wie fie einſt die Männer der Renaiffance durchglühte, wie fie deutlich aus den Werfen eines Dante, Petrarca, Taſſo hervorbligt, wie fie Michelangelo und Raffael be- jeelte, wie fie gedämpfter in Galderon und Camoens ſichtbar ift, wie fie in ihren Nachwirkungen jelbft in Shakeſpeare beobachtet werden kann, eigenartig nationalifiert den franzöfiihen Klaffizismus beeinflußte, mit neuer Gewalt

ı Nah der Handjchrift des Papftes phototypifch reproduziert bei N. Schneider, eo XIH., Kempten 1903.

686 Achtes Kapitel.

in Windelmann und Leſſing, Wieland und Herder, Goethe und Schiller aufloderte und zur Geftaltung der neueren deutichen Literatur weſentlich bei- getragen hat. Auch in England, wo fi die Liebe zu den altklaſſiſchen Studien in ehrwürdigen Schulinftitutionen nod mächtige Hiftoriiche Wurzeln bewahrt hat, herricht eine don Amerika herftammende realiftiihe Gegen- frömung, welche für die jahrtaujendalte europäiihe Bildung wenig Andacht fennt, jondern, gleihjam in der Luft wurzelnd, nur von verftreuten Trümmern älterer Bildungseinflüffe lebt, fie in buntem Gemengjel mit Wandereindrüden - aus Orient und Dccident verquidt, und mehr oder weniger ins Materielle verjunfen, alles Geiftesleben von den alten Idealen losreißt, verfladht und ins Geſchäftliche herabdrückt. Für diefe „Modernen“ ift die Antike feine ehrwürdige Erbihaft mehr, fondern nur eine der vielen Formen: und Farben- Ihablonen im ftet3 fich drehenden Kaleidoflop des Menjchheitälebens !.

Ebenjo unverlennbar ift, daß auch bei denjenigen, welche das Studium der Alten noch hochhalten, dieje Verehrung fid) vielfah von den Schranten losgeſagt Hat, welche das Chriftentum im Laufe der Jahrhunderte der antik: griehiichen und römiſchen Bildung jehte. Das Neu-Heidentum, das ſporadiſch ihon in der Zeit der Renaifjance auftauchte, hat jeither mächtig um ſich gegriffen und die Haffiihen Studien, losgeriffen aus dem Boden der hifto- riichen Entwidlung, in Gegenjaß zur chriſtlichen Gefittung und kirchlichen Lehre geftellt oder einen Humanismus verfündigt, der vom Chriftentum nur die leeren Namen behielt, um eine tatjächlid heidniſche Lebensanjhauung äjthetiich zu maskieren.

Diefer Richtung gegenüber hat fih in katholiſchen Völkern eine andere geltend gemadt, welche das natürlihd Gute und Schöne, das die Antike

ı Wohl nit ganz aus ber Quft gegriffen dürfte die Klage bes Prof. Giacomo Zanella in Bicenza fein: Dacchö la linguistica prevalse all’ estetica: dacch& la minuziosa analisi della parola successe all’ artistica osservazione del pensiero: dacchö, a dir breve, gli scolari presero a sbadigliare ed annoiarsi delle filologiche tiritere del professore, ricco di sanscrito e d’ ariano, e brullo di sentimento e d’ immaginazione, il latino nelle nostre scuole divenne un vano scialacquo di tempo, di cui i giovani non veggon |’ ora, passando, all’ Universitä, di perdere ogni memoria. Dobbiamo ai tedeschi e ai loro metodi questo bel frutto. Se i giovani non si avezzano a comporre prosa e versi in latino: se non facciamo quello che han fatto i nostri padri, ed ha fatto il piü grande de’ moderni innovatori in fatto di lettere, il Manzoni; se non facciamo ciö che fanno e han sempre fatto i giovani inglesi, a’ quali negli ultimi tempi Roberto Peel, il grande economista e statista, proponeva in testamento una grande medaglia d'oro a chi di loro avesse seritti i migliori giambi puri in greco; senza questo ritorno a'nostri metodi antichi, io temo non lontano il giorno, che l’Italia „giä nutrice alle muse, ospite e dea“, non avra piü alcuno che sappia scrivere, non che una ode, una epigrafe

in latino, Altro che alcaiche ed esametri in italiano! (Leonis XIII. Carmina 149 150.)

Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIII. 687

hervorgebracht, an fi ziemlich gering anjchlägt, noch geringer im Vergleich zu den Gefahren, welche die Schattenfeiten antifer Bildung mit ſich bringen, und melde fi darum mit einer bloßen Unterordnung der Hajfiihen Studien unter die chriſtliche Bildung nicht begnügte, jondern das Studium der Alten möglichſt durch das der Heiligen Schrift, der patriftifchen und mittel» alterlihen Literatur, die Vorbilder, Formen und Einflüffe antifer Runft ebenjo durch die Stile und Geftaltungen des chriſtlichen Mittelalters erſetzt zu ſehen wünſchte. |

Mieder eine andere Gegnerſchaft ift der alttlaffiihen Bildung in einem ftark ausgeprägten germanischen Nationalgefühl erwachſen, das ſich von allem Romaniſchen als von etwas Feindlichem abgeftogen fühlt, die griehifche Bildung als eine freiere, dem deutſchen Wejen entjprechendere und verwandtere ſchon eher gelten läßt, aber, da diefe nun einmal dur Vermittlung der römischen zu uns gelangt ift, fie praktiſch auch nicht in vollem Umfang pflegen kann, weil eine gründliche lateinische Vorfhulung mangelt. Da zudem das Griechiſche viel ſchwerer zu erlernen ift und für die materiellen Zwede des modernen Lebens wenig Ausbeute gewährt, jo ift troß alles Enthufiagmus für einen deutjchen Hellenismus die Kenntnis des Griehiichen jehr zurüdgegangen und wird in den Edulplänen der lebten Jahrzehnte zufehends eingejchränft.

Nimmt man das alles zufammen, fo ift es im Intereſſe der allgemein: menschlichen Bildung fiher nicht zu bedauern, dab es eine Inftitution gibt, duch melde nit nur die Yortdauer der Kriftlihen Bildung gemwährleiftet ift, ſondern einigermaßen auch diejenige der helleniſchen und lateiniſchen Sprache und Literatur, ſoweit diefelben nicht in unverſöhnlichem Widerſpruch zur Kriftlichen Bildung ſich befinden, jondern wirkliche Bildungsihäte von bleibendem Werte darftellen!. Eine foldhe Inftitution ift die katholifche Kirche

! Das könnte auch dem internationalen wiſſenſchaftlichen Verkehr wieder zu gute kommen. Gegen den Vorſchlag, eine neue wiſſenſchaftliche Verkehrsſprache ein» zuführen, bemert Hermann Diels mit Redt: „Da möchte ich doch bie Frage aufwerfen, ob es nicht einfacher wäre, wieberum zum Altlatein zu greifen, das feit nun bald zweitaufend Yahren als Kulturträger erjten Ranges fi) bewährt und nur zeitweilig aus jehr begreiflihden Motiven im Gebrauch der Wifjenfhaft zurücdgetreten ift. Ich halte perfünlich das wiſſenſchaftliche Neulatein, d. h. das Latein eines Kepler, Leibniz, Linne, Gauß, auch heute no für durchaus geeignet zur internationalen Verftändigung in wiſſenſchaftlichen Fragen, wie e8 noch immer die gemeinfame Sprade ber katholiſchen Ehriftenheit if. Da die geſamte wifjenihaftlihe Nomenklatur fort: dauernd hauptfählih aus dem Latein oder dem latinifierten Griechiſch geſchöpft wird, jo liegt gar feine Schwierigkeit vor, fi auch jet noch in der Sprade Roms in allen Wiſſenſchaften zu verftändigen. Wenn man nur nicht den Hier völlig finnlofen An— Ipruch erhebt, daß dieſes Neulatein etwa mit dem Lerifon und ber Grammatif Giceros beftritten werden fol! Selbſt die alfermobernite Wiffenfhaft, die Chemie, läßt fi ohne jede Schwierigkeit Iateinifh behandeln, wie die immer noch lateiniſche Sprade

688 Achtes Kapitel.

mit ihrer lateiniſchen Kirchenſprache im Abendland, mit ihrer griehijchen Sprade in den Ländern des einftigen oſtrömiſchen Kaiſerreichs.

Solange dieſe Kirchenſprachen bleiben und fie werden jchmwerlich durch neuere Spraden des Abendlandes oder ältere des Morgenlandes ver- drängt werden —, jo lange werden Taujende von Brieftern in allen Yändern des Erdballs ih am Studium der alten Klaſſiker zum Berftändnis ihrer Kirchenſprache vorbereiten und durch ihre theologiihen Studien ſelbſt die ehrwürdige Überlieferung bewahren, welche die hiſtoriſche Entwidlung der chriſtlichen BVölter mit der Kultur der Hellenen und Römer verbindet. Die Spraden, in welchen Petrus und Paulus zu Rom und zu Athen gepredigt, in welden die Kirchenväter und Lehrer des Mittelalterd ihre großen Werfe geſchrieben, werden eine ftet3 lebendige Erbſchaft bleiben, und wie Gregor bon Nazianz ohne Homer und Demofthenes, Auguftin ohne Platon und Cicero unverftändlich bleibt, wird der Fatholiiche Priefter auch fürder der alten Klaſſikler nicht entraten können. Hängen die antifen Dichter mit der patriftiihen Literatur aud) weniger eng zufammen als die antiten Philoſophen, Geſchichtſchreiber und Redner, fo ift einige Kenntnis derjelben doch nicht zu vermiffen. Selbft in der liturgiichen Hymnik leben noch die antiten Formen zum Teil weiter und wurden bis herab ins 19. Jahrhundert erneuert und nachgeahmt.

Die lateiniſchen Gedichte Leos XIII. ſind darum nicht bloß als eine ſubjektive Liebhaberei, als ein Spiel des Zufalls zu betrachten. Sie ver— förpern die hiſtoriſche Tatſache, daß der chriſtliche Humanismus von der Zeit, da der hl. Paulus den Aratus und Menander zitierte, die Kirche durch alle Stürme der Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag begleitet hat und vorausſichtlich auch weiter begleiten wird. Trotz aller Stürme ſieht darum der Dichter-Papſt auch in Bezug auf die humaniftiide Bildung durhaus nicht peifimiftiih, fondern mit Heiligem Frohmut in die Zukunft. Als Vates hat er in einem jhönen Gediht vom Jahre 1885 der Kirche den Frieden, feinem geliebten Italien die Wiederaufnahme feiner großartigen Kulturmiffion verheißen.

Meisfagen will ih: Sieh! Es flammen

Am dunfeln Himmel Feuerzeihen auf,

Und der Dämonen Brut bebt jäh zufammen, Sie fliehn dem Abgrund zu, dem fie entjtammen, In ſchnellem Lauf.

Umfonft verſucht da8 Wunder zu dverneinen Ein gottentfremdetes Geſchlecht.

ber Pharmafopöen beweift“ (Feſtrede zur eier des Leibnizichen Gebädhtnistags, 29. Juni 1899. Sigungsberichte der Fönigl. preuß. Akademie ber Wiſſenſch., Berlin 1899, 600).

Die Iateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XII. 689

Es fann nicht mehr. In Klagen und in Weinen Gefteht es das verlegte Recht. Es finft der alte Groll, und frieblich Tegt ſich

- Der lange Streit, Und in den grimmerfüllten Herzen regt fi) Der Liebe Zärtlichkeit. Aus der Verbannung fehrt bie alte Treue Nah langer Fludt,

. Die jhnöd verfhmähte Tugend blüht aufs neue

Und fledenlofe Zucht. Der Friede-naht, den Ölzweig in ben Loden, Und zieht die Künfte groß. Der Erbe Güter ſchüttet mit Frohloden Das Glüd aus feinem Schoß. Es leuchtet wieder auf Italiens Fluren Der alten Bildung reines Licht, Es fliehn des Irrtums troßige Lemuren Vor feinem Angefidt. Heil dir, Aufonien! Keiner kann dir rauben Die Siegespalme mehr; Bift du dir treu und deinem heil’gen Glauben, Strahlft mädtig du und hehr.

Die Literaturen der modernen Bölfer, der romaniſchen wie der ger: maniſchen, haben von einer Neubelebung der klaſſiſchen Bildung nichts zu fürdten. Dieſe gehört mit zu dem fruchtbaren Wurzelftod, aus welchem fie hervorgegangen und von welchem fie fih nicht Iosjagen können, ohne mit ihrer eigenen geſchichtlichen Entwidlung zu breden. Homer und Bergil, Platon und Mriftoteles, Demofthenes und Cicero, die Kirchenväter und die Scholaftiter des Mittelalters bezeichnen geiftige Faktoren, mit welchen auch das 20. Jahrhundert wird rechnen müſſen. Alle Fortichritte des 19. Jahr: Hundert3 haben fie nicht zu verdrängen oder zu erjeßen vermocht. Böten fie nichts als ein Korreltiv gegen die Schranfenlofigfeit und Formloſigkeit, die vielfach die fiterariihen Richtungen der Neuzeit arakterifiert, jo müßten wir fie dankbar in Ehren halten. Aber fie bergen noch ſtets jchöpferijche Anregung in ji und bieten jeldft die edelften geiftigen Genüffe.

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 44

Namenregifter.

Abad Diego Hofe 8. J., Dichter 670. Alberti Leone Battifta degli, Architekt Abälard, Philofoph und Dichter 412—422 und Humanift 484 491 497.

440 445 446 457. Albrecht von Reims, Theologe 457. en 1 Mönch zu Paris, Epiker 355 Aldhelm, Abt von Malmesbury und Bifchof

: von Sherbome, Theologe und Dichter

—*8 der hl., Gründer bes Kloſters 274—279.

Eorvey 355. Aldus Manutius, Buchdruder und Huma— Adam von Bremen, Geſchichtſchreiber 561 562 602.

357. Aler Paul S. J., Schuldbramatifer, Ver— Eaſton, Kardinal, Spmnenbicher. fafier des Parnassus 634.

455. Alemanni Nikolaus, vatifan. Bibliothekar, von Masmünfter, KRalligraph 2938. Gräciſt 566. von St Victor, Hymnendichter 440 Alerander von Hales, Scholaftiker 458.

448-451. Nedam, Theologe und Dichter 406. Wernher von Themar, Hymnendichter de Billa Dei, Grammatifer und Dichter

440, 400 401,

Adamnan, Abt von Hy, Hagivgraph 269 | Aleranderroman, ber griechiſche 556. 270. Alerandros Georgios, grieh. Humanift

Adelharb, Mönd in St Gallen 319. 561.

Abdelmann, Lehrer zu Lüttich, Biſchof De Altuin, Lehrer zu York, Abt in Tours Brescia 871. 293—300 440.

Agathias, byzant. Gefhichtichreiber 518. ats vatikan. Bibliothekar, Gräciſt

von Myrien, Epigrammatiker 536. 566 5

Benebiktiner zu Corvey, Dichter Altfrid, ilof von Münfter, Biograph 313. des hi. Lindger 354.

Agnellus von Ravenna, Hiftorifer 857. , Ambrofius, der hl., Biſchof von Mailand,

Ugobard, Erzbiihof von Lyon, theolog. —— 100--102 114 129-134 Scriftfteller 313.

Agricola (Huysmann), —*—* angry beuticher Humanijt und Humaniſt 5 | Buchdruder i

Alathiftos, 532—534. oreifinus, Geihichtichreiber

Alten der Märtyrer 15. |

un Flandrenfis, Eiftercienfer, Theo» | | Anahafos Sinaits, Mönch, Theologe oge 392.

ei —— Philoſoph und Dichter % Knafus von Antiohien, Theologe 92

de Ciſtercienſer, Theologe ge Bibliothekar, Hiftorifer und Über-

392. ſetzer 357. Albert d. Gr., Biſchof von Regensburg, Anchieta Joſeph de S. J., Dichter 669. Scholaftiter 458 469. Andrade, Payva db’, neulat. Dichter 646. von Prag, Hymnendichter 440. jnbredns, Chorbiſchof von Sens, Legenden»

von Stade, Annalift, Dichter 402. dichter 312. Alberti Antonio degli, italien. Humanift , Andreas von Kreta, Theologe und Hymnen- 484 497. dichter 512 534. 44*

692

Andreas Pyrrhos, Hymnendichter 534.

Der Sohn des, griech. Epopöe

Angilbert, Abt * St Riquier, Dichter 293 300—302

Annalen von Fulda 355.

don Hersfeld 355.

von St Vaaſt 355.

von Xanten 355.

Anjelm, der hl., Wera von Canterbury, Theologe 406 440 4

Ansgar, ber hl., —5* von Bremen, Hagiograph 355.

Anthimus, Hymnendichter 63.

Anthologie des Konft. Kephalas 545.

des Mar. Planubes 545.

—— Gas Dfterfpiel vom 434 bis

—— Mönch, asket. Schriftſteller 511.

Antoninus, der hl., Biſchof von Dove, Theologe 487.

Antonius Andreas, Theologe 487.

Apollinaris von Hierapolis, Apologet 14. ,

von Laodicea, ber Ältere, Dichter 64.

ber Jüngere, Dichter, Irrlehrer 34

64. Apoftolios Ariftobulos, gried. Humanift 561.

Michael, grieh. Humanift 559.

Apoftolifche Väter 11—-13.

or. Diafon in Nom, Dichter 218 400.

Arhipoeta, der (anonymer Dichter) 416.

Arculph, galliiher Biſchof 270.

Argyropulos Johannes, grieh. Humanift 562 563.

Ariftides, Apologet 12.

Arifto, Apologet 14.

Arius, Irrlehrer 29 80.

Arnobius, Kirchenichriftfteller 96.

Ascellinus Adalbero, Biſchof von Laon, Satirifer 371.

——— d. Gr., Kirchenlehrer 30 31

—* von Bath, Mathematiker 406.

Athenagoras, Apologet 14.

Athenais ſ. Eudokia.

Augier Edmond 8. J.. Humanift 666.

Augitre Edmond d’ S. J., Dichter 666.

Auguftinus, der. hl., Kirchenlehrer 102 bis 110 130.

Aureolus Petrus, Theologe 487.

Aurifpa, italien. Humanift 498.

Aujonius, 145.

Aurentius, griech. ———— 63.

Avancinus Nikol, 8. J., neulat. Dichter 634.

Avianus, Fabeldichter 400.

—— Biſchof von Vienne, Dichter 199

Bacon Francis,

Namenregifter.

Lordkanzler, Philojoph 626.

Baerle ſtaſpar v., niederländ. Dichter

628. Balbinus Bohuslav Aloys 8. J., Hifto- riker, Lyriker 669.

Bu Yatob 8. J., Dichter 634 651 bie |Balbrid von Bourgueil, Hymnendichter

440.

Barga Angelo de, Epiker 602.

Barkaam und Sofapdat, griech. Legenden: buch 513—516

Barnabasbrief, aitchriſtliche Schrift 11.

Barth Kaſpar von, Dichter, Philologe 618 672.

Bartolini Riccardo, Epiker 602.

—— ios Digenis Akritas, griech. Epopöe 57.

Barilius db. Gr., hl., Kirchenlehrer 36 bis

Sahıi Bofinio, italien. Humanift 497 4 Baude Dominik, niederländ. Humanift

Bauhufius Bernhard 8. J., Dichter 666.

Beaufort Henry, Kardinal, Gönner bes Humanismus 584.

Bebel Heinrih, deutſcher Humanift 577.

Becanus Wilhelm S. J., Elegiter 665.

Beccadelli Antonio (Panormitano), italien. Humanijt 494.

Beda Noel, Parifer Theologe 606.

‚Benerabilis, Kirhhenlehrer 278—283

—F 8. J., Kardinal, Hymnen⸗ dichter 65

Bembo Kardinal, Humaniſt 563 565 598 594.

Benci Francesco 8. J., Schuldramatifer 633 668,

Benedikt XII., Papft, Hymnendichter 440. von Nurfia, Orbenöftifter 235 240 bis 241. Benvenuto be’

478,

Benzo, Biihof von Alba, Dichter 371. Bernhard von Ehartres, Dichter 584 400 401.

Gampijani, Humaniſt

don Glairvaur, ber hl., Orbensftifter und Kirchenlehrer 412 416 440 447 457.

don Geft, Satirifer 422.

Nhetor und Dichter 136 bis | von Morlas, Hymnenbdichter 440. | Bernowin, farolingifher Dichter 304. ' Bersmann Georg, neulat. Dichter 618.

von Monte Eaffino, Dichter

Beflarion, Kardinal, Gönner des Humanis« | mus 490 560. Beza Theodor, neulat. Dichter 607.

Namenregifter.

Bianchi Andrea S. J., Dichter 668.

Bidermann Yatob 8. Schuldramatiker 633 636.

Biel Gabriel, Zheologe 487.

Biondo Flavio, italien. Humaniſt 491.

Birger, a ac von Upjala, Hymnen- dichter 45

Birgitta, bie BL, von Schweden 455 467.

Birk Sirt, Schuldramatiker 623. |

Biskop enebitt, Gründer des SKlofters | MWearmouth 277 278.

Bilfel Johann S. J., Dichter 665.

Blittero von Flandern, Epifer 371.

Lorenz, deutſcher

Boccaccio Giov., italien. Humaniſt 484

485 Er , Poitofoph und Dichter 208 bis

italien. Humaniſt 478.

Bonaventura, der hl., Kirchenlehrer 440 458 4644867.

Bonifatius (Winfried) Apoftel der Deut- ſchen 283—29

Braulio, —— von Saragofja, Kirchen⸗ iriftfteller 244,

Brecht Levin, Dramatiker 613.

Brie Germain de (Brixius), franz. Hu—

manift 606. an ſtaſpar, Schuldramatifer 620

rg Pierre S. J., franz. Humanift

41

Latini, Dichter, Dantes Lehrer

Bruni Lionardo, italien. Humaniſt 490 497 584.

——— Georg, ſchottiſcher Humaniſt 608

—— franz. Altertumsforſcher 565 605 6

Burgundio * Piſa, überſetzer 510. _ Richard von,

engl. Bibliophile zug Hermann vd. d., beutjcher Johann, Benediktiner, Humaniſt

griech. Hymnendichter 534.

Cabillau Balduin 8. J., Schuldramatiker Jakob, deutſcher Humaniſt Sampian Edmund S. J., Schuldramatifer Maria 8. J., Orientaliſt,

Dichter 668 Hohannes O. Pr., A

693

Carmina Burana 406—417 662. m. Joſeph, römischer Dramatiker

Heiſterbach, Legendenſammler 63

Caſaubonus Iſaak, franz. Philologe 627.

einge Johannes, asket. Schriftiteller

Kar: Trage Senator, Polyhiftor 219 bis

Eaitelletto Pietro de, Auguftiner, Humanift 484

Gaftigfionocahio Lapo di, italien. Humaniſt 584,

Casus Sancti Galli, gr a 855. —— Nikolaus S. J Schuldramatifer

ot Bois 8. J., Schuldramatiker 634

Gelis Konrad, deutſcher Humanift 340

572 573.

Genci de’ Auftici, italien. Humanift 498.

Gerceau Antoine du S. J., Schuldramatifer 634 641.

Gerifantes Mark Duncan, neulat. Epifer 626.

wi de la, Tommaſo S. J., Epiter

Ehalfondylas Demetrios, griech. Humanift 561 562,

—— Auguſtinerprior, engl. Humaniſt

Chaſtel Pierre du, franz. Humaniſt 607.

Chintila, König ber We goıen 248.

Ehriftine, Königin von Schweden 648.

Ehriftodoros, griech. Epigrammatifer 536.

Ehriftophoros aus Mytilene, byzant. Dichter 54

3. patiens, griech. Drama 547 bis Georgios, Dichter 555.

Clajus Johann, Schulmann, Poet 618. Ciainenais (Clemanges) Nikolaus von, Theologe und Humaniſt 498.

rg Robert SKartäujer, lat. Dichter nr Elaudianus Claudius, jpätröm. Dichter 187—190 400. Claudius, Biſchof von Turin, Theologe 313.

byzant.

Glemanges j. Clamengis.

Codro Urceo, italien. Humanift 496. Codt Jakob de 8. J., Dichter 666.

Golluccio de’ Salutati, italien, Humaniſt

484 488, Golonna O. Pr., Theologe 487. Golumba, der hi. 269. Col umban, der hi. 284— 286. Gommire Yean 8. J., Lyriker 667. Commodian, altchriftt. Dichter 123 124.

694

Eopernicus Nikolaus, Aftronom und Dichter

603 604.

Eordus Euricius, Arzt, deutſcher Humanift 977.

Gorippus Flav. Gresconius, Grammatifer und Epiker 242,

Eornaro Bincent, 357.

Eorraro 497.

Corycius (Gorik) Johannes, aus Lurem- burg, Humaniſt 601.

Eramer Daniel, neulat. Poet 620,

vulgär-grieh. Dichter

Gregorio, italien.

Crocus Cornelius S. J., Schulbramatifer ! 613

13. a. % Baul, un Luis de 8. I; 633.

Poet 620 Schuldramatifer Kardinal

neulat.

Cues (Eufanus) Nilolaus, 501.

Cunich Raymund S. J., ſetzer 668.

Eujpinianus (Spießmaier) Yoh., deutſcher Humaniſt 575.

der hl., Biſchof von ae

Dichter 120.

Cyrillus, der hl. von Alexandrien, Kirchen⸗ lehrer 64.

ber hl., 34.

lat. Homerüber-

von Serufalem, Ktirchenlehrer

Dalanthus Gerhard, flandriſcher Schul-⸗

dramatiker 613. Dalberg Johann v., Biſchof von Worms, Gönner des Humanismus 575.

Dalmatius von Konſtantinopel, Theologe 65

Damafıs, ber hl., Papft und Dichter 124 125.

Dante Alighieri 475—478.

Dantiscus Johann, Biſchof von Ermeland, Sumanift 602 603.

Dares Pbrhaiud, ſpätrömiſche Troja-Dich⸗ tung

Decembrio Pier Candido, italien. Humanift 497 534.

Denis Michael S. J., Dichter 670 671.

Depharanas Markos, 556.

Desbans Jakob S. J., 641

Desbillons of. 8. J., Fabeldichter 667.

Deslions Antoine S. J., Dichter 666.

Devaris Matthias, Gräcift 565.

Dicuil, iriiher Mönch 298.

Didade, althriftlihe Schrift 11.

Didymus der Blinde, alerandrin. Theo- loge 65.

Schuldramatifer

Humanift

byzant. Dibaktifer

Namenregifter.

a Peter von, niederl. Schuldramatifer

"Diober von Tharfus, Theologe 65 Diogenianos, Derf. einer Anthologie 545

Diognet, ber Brief an, altchriſtl. Schrift

Dionpfins Areopagita (Pjeudo:) 65 510. der Große, von Alerandrien 22. - ber Kartäuſer 487 502 4. Diugosz Johannes, poln. Geihichtichreiber >04

Does a Jan van der, niederl. Hu— manift 6

Donati 8. J., Schuldramatiker 633 668.

Dondino Guilelmo 8. J., Dichter 668.

Donizo, Biſchof, Epiker 371.

Dorotheos, Archimandrit, Asket 511.

Dracontius, altchriſtlicher Dichter 194.

Dringenberg Ludwig, deutiher Humanift 502.

Dufas Demetrios, griechiſcher Humanift 519 561.

; Dungal, irif her Mönd 293.

Duns Scotus Johannes, Theologe 487.

| von Canterbury, Geſchichtſchreiber

von Bethune, Grammatiter, Dichter 399 400 401.

Ecbasis captivi, Zierepos 333 —335.

Egbert, engliicher Glaubensbote 270.

Eginhard (Einhard), alle Geſchicht⸗

ſchreiber 243 298 305

Ekkehard (I.), Abt von St Gallen 319

| 827 440.

(II), Dompropft in Mainz 319.

(IIL), Mönd in St Gallen 319.

(IV.), Lehrer zu Mainz, Geihicht: fchreiber 316 319 320 327 440.

(V.), Mönd in St Gallen, Hymno⸗ graph 320 440.

don Aura, Ehronift 358.

' Elpis (Helpis), Didhterin 217 440.

Enea Silvio Piccolomini ſ. Pius II.

Engelbert von Salzburg, Hymnendichter 440.

| Ennodius, Biſchof von Pavia, Dichter 204—208 440.

Eoban Heſſus, Dichter, Humanift 577.

Ephräm von Antiohien, Theologe 510.

' Epiphanius, Kirchenſchriftſteller 64.

Erasmus Defiderius von Rotterdam, Du:

' manift 579 581—584 588—591 606.

Erhempert, Gefhichtichreiber 855.

Erih von Auxerre, Scholaftiter 457.

Ermenrih von Ellwangen, Dichter 311.

Ermoldus Nigellus, Dichter 311.

Ermulf, englifcher Geſchichtſchreiber 406.

Namenregiſter.

Erotofritos, 557. a. Peter, neulat.

Sfienn 9e Henry (Stephanus), franz. Philo- oge 608 von Lyon, Kirchenſchriftſteller

Cubafi (Athenais), Kaiferin von Byzanz Eugenius - Erzbifhof von Toledo, Dichter 2

Eulogius F Corduba, Dichter 314.

Euſebius Pamphili von Cäſarea, Kirchen- hiſtoriler 32—34 64.

Eufthatios Mafrembolites, byzant. Roman: ſchreiber 554.

Eutyches, Arrlehrer 65.

Evagrius, Kirchenhiſtoriker 518.

Fabricius Andreas, Propft in Altötting, Schuldramatifer 613 633 638.

Georg, neulat. Dichter 617.

oh. Mlbert, Literaturhiftorifer 618.

Baul, Epiter 602.

Falieri Marino, vulgär-griehiicher Dichter 555.

Falletti Girolamo, Epiker 602.

Fardulf, karoling. Dichter 304.

Ferretto di Vicenza, italien. Humaniſt 8.

Filelfo Francesco, italien. Gräcift 496 493 559. Sitger Biſchof von Rocheſter 588

—* Chalons, Hymnendichter

440.

Merobaudes, Rhetor 197.

Fleming Paul, Dichter 672.

Robert, engl. Humaniſt 585.

Flodoard von Reims, Geſchichtſchreiber und Dichter 357 364-867.

Florus von Lyon, Theologe 312,

Fracoſtoro Girolamo, Arzt, Humanift 802

Free John, engl. Humanift 585.

Friſchlin Nikodemus, deutiher Humanift 623 —625.

u. Andreas 8. J., Schuldramatifer

Frizon Leonhard 8. J., Lyriker 667.

Froumund von ZTegerniee, Dichter 328.

von Braga, Kirchenſchriftſteller

Fulbert von Chartres, Hymnendichter 440 457. Fufgentius Ferrandus, Kirchenichriftfteller

ara Ruſpe, Kirchenſchriftſteller 242. Grammatiker in Karthago 202 203.

vulgär » griehiihes Epos —: ber hl., Dichter 677 bis ii Zarquinius 8. J., Lyriker 650,

695

Glaubensbote 284 bis

Gambara Lorenzo, Epiker 602. Gaza Theodor von, griechiſcher Humanift

559 561. Dichter

a (Gazäus) Angelin S. J., Oel I, Papft, Hymnendichter 120 440.

Genefos Joſeph, byzant. Geſchichtſchreiber

Pre von Monmouth, Chronift 406.

Binfauf (De Vino salvo), Didaktiker 398 8399.

Georgios Alropolites, byzant. Geſchicht⸗ ſchreiber 518.

Lapithes, byzant. Didaktifer 554.

byzant. Geſchichtſchreiber

enss, Geſchichtſchreiber

ifibes, byzant. Dichter 538— 541. von Trapezunt, grieh. Humaniſt

559. Gerberga, Abtiffin von Gandersheim 340

byzant.

Gerbert von Aurillac ſ. Silvefter II.

Gerhoh von Neicheröberg, Propft und Schulmann 432 458.

Gerland, engl. Theologe 406.

Germanos, Patriard) von Konftantinopel '

Gerold, Mönd in St Gallen 319.

Gerſon (Eharlier) Johann, Theologe und Dichter 498 —500,

Gesta Caroli Magni 363.

Henrici imperatoris 370.

Gianetafio Nikolaus P. 8. J., Dichter 668

Giattini, Giambattifta S. J., Schuldrama- titer 634 668.

Gilbert de la Porree, Scholaftiler 457.

Gildas, altbritifher Schriftfteller 270 bis 272.

Giraldi Giov. B., Dramatiker 557.

Giraldus Gambrenfis (Gerald du Barri), Diftorifer und Satirifer 406 418 419.

Glareanus Heinr. Loriti, ſchweizeriſcher Humaniſt 574.

Gloceſter Humphrey von, Förderer des Humanismus 584.

er Michael, vulgär-⸗griechiſcher Dichter

—2 Wilhelm, niederländ. Humaniſt

Gobetitaft, Kalligraph 293. Godfrid von Windefter, Epigrammatiler

406. Goliarden 411423.

696

Sigismund, deutſcher Humanift [a

Namenregıiter.

homas ſ. Thomas von

mpen von Viterbo, Chroniſt und Dichter | Heraflas von Alexandrien, Theologe 22. 360.

Gottihalf, Irrlehrer 313 314.

Govea Andreas de, portug. Humanift 606 607.

Jakob, portug. Humanift 606.

Gratius Ortwin, deutfher Humanift 576 | Hermas,

580 581 Ark von ———— Theologe 511. von Antiohien, Theologe 511. Gregorius I., der zu, Bupkı, Kirchenlehrer, Dichter 235 —241 44

Herder Gottfried v. 652 653 673 674. Heribert von Eichſtätt, 440. Hermannus ber Lahme (Eontractus), His ftorifer, Dichter 356 440 444 469. Der Hirt des, althriftliche Schrift 11.

Hermias, Apologet 14.

Herrad von Landsperg, Dichterin und Künftlerin 432 468.

Heffe Eoban, deuticher Humaniſt 577.

Hymnendichter

XIII., Papſt, Scherer der griechiſchen * von Jeruſalem, Kirchenhiſtoriker

Studien 566. von Nazianz, ber hl., Dichter 40—49 520 535 551. Ar Nyfia, der hl.,

Thaumaturgus, der hl. 22 40.

Kirchenlehrer 39 —— der hl., s 114.

Kirchenlehrer, —8 von Stein (a Lapide), deutſcher

Humaniſt 574.

Kirchenlehrer 110 * von Arles, Dichter 194.

an Zours, Geſchichtſchreiber 255 bis | ber hl., von Poitiers, Kirchenlehrer 98

Grey William, engl. Humanift 585. Grimani, Kardinal 582.

bis 100 114 129 253 440 Verfaffer von Myſterienſpielen 437. Hildebert, Mönd, Epiter 376,

. "William, engl. Humanift 582 | von Tours (Lavardin), Erzbiſchof,

Snci Gerhard, Stifter der Fraterherren

Grotius Hugo, Polyhiftor, Dichter 628.

Guidacerio, Gräcift 607.

Guido von Bazoches, Hymmendichter 440.

Guinicci Vincenzo 8. J., Schuldramatifer 633 668

Gunther von Päris, Dichter 372374. | Gunthorpe John, engl. Humanift 585. |

all Yojeph, neulat. Dichter 6 alofis, Gedicht auf die Kon: ftantinopels 557. Harmoniafos Konftantin, byzant. Dichter | 556.

Bat e VL ($lorisjon), N 582. |

Hartmann, Abt von St Gallen, Hymnen» | dichter 319 440. Libertus ab, Schuldramatiker

deutſcher Humaniſt

Heimburg Gregor, Juriſt 501. —— von Auxerre, Geſchichtſchreiber

von Mailand, Didaktiker 895. von Rosla, Epifer 378. | von Settimello, Dichter 395. | —— Daniel, niederländ. Philologe

Hedi Alerander,

|

Heirie von Aurerre, Hagiograph 312. Heloife, Abtiffin 412 445 446. Helpidius (Elpidius), Dichter 218.

Dichter 380—889 401 440 444 445. Hildegardis, die hl., Abtiffin 468. Hiltprand Michael, beuticher Schuldrama⸗

tiker 633.

Hinderbach Johann, deutſcher Humaniſt

502 Hintmar, Erzbiſchof von Reims 313 didheiytus, der hl., Kirchenſchriftſteller Sick Heinrich, deutſcher Schuldrama=-

Hedfraen —— —* SJatob O. Pr., Theologe Hojus Be Schuldramatiker 614. Holonius Gregor, niederländ. Schul« bramatifer 613. Holftenius Lukas, Latinift 648. Homer, ber lateiniſche 400.

Honoratus von Arles, Kirchenjchriftteller

114, ar Peter van, Hiftorifer und Dichter Hose Sidronius S. J., Elegifer 665

Maurus, Erzbiſchof von Mainz 308 440 457 468.

Hroswitha von Gandersheim, Dichterin

339—353.

Huet Pet. Daniel, Gelehrter und Latinift 667.

' Hugo Hermann 8. J., Elegifer 666.

von Rouen, Theolog e 406. bon St Bictor, Scolaftiter 458. Hukbald, Hagiograph 354.

Namenregifter. 697

Hunnius Ägidius, Schuldramatifer 620. Iſengrimus, Tierepos 336. Hutten Ulrich von, deutſcher Humanift 578 | Iſidor von Pelufium, Theologe 65. 579. |— von Serie, Kirchenlehrer, Polyhiftor ir Konftantin, nieberländ. Poet 246—250 468, Yo, Mönd von St Gallen 316. Spt, ——⸗ zu Alexandrien 53 Itala, lateiniſche Bibelüberſetzung 84 85. JZuuian von Speier, Hymnendichter 440 454.

von Toledo, Theologe, Grammatiker ——— da Todi, Hymnendichter 440 244. 663. AYunilius, Bibelerflärer 242.

gatob a Voragine, Erzbiichof von Genua, | Junius Samuel, Schuldramatiter 620.

Legendenfammler 361. Juſtinian I., Kaifer 63 510 Janus Pannonius, Humanift und Dichter | Yuftinus, der hl., Apologet 12. 497 504 von Lippftadt, lat. Epifer 377.

gr} Fran le 8. J., altchriſtlicher Epiler 118 bis 120.

* hl., von Antiochien 11 12. von Loyola 606. Ildephons, der hl., Erzbiſchof von Toledo, —— Zacharias, griech. Humaniſt Kirchenſchriftſteller 244 245. rag und Margarona, byzant. Dich: Ratlifios Andronifos, grieh. Humanift 560 565

Su Albert 8. J., Lyriker 669. KRameniates byzant. Geſchicht⸗ Innocenz IIL, Papfi Hymnendichter 440. ſchreiber 518 Anagnoftes , Geſchichtſchreiber rn Johannes, byzant. Geihicht- reiber 519. fe hl., Apoftel 9. Kappel Hartung d., deutſcher Humanift Venechini Prieſter, Hymnendichter 455. 502. at ai ber hl., Kirchenlehrer | Karl d. Gr., Kaiſer 292— 305. 50—52. Karod) Samuel, Humanift 503. von Eornwall, Theologe 458. Kafia, byzant. Dichterin 543. von Efezmicze | Janus Pannonius. | Katherinenspiel zu Dunftaple 438 von Damasfus, Kirhenlehrer 510 511 Keyſere, de (Cäſar) Franz, Epiter 378.

513 535. Kinnamos byzant. Geſchicht⸗ Gallicus, Hymnendichter 440. ſchreiber 518. de Garlandia, Grammatiker 400. Klemens von Aleranbrien, Kirhenjchrifte von Dantville, Dichter 400. fteller 15—19. von enftein, Erzbifhof von Prag, | ber hl., von Rom, "aaa und Kirchen» Hymnendichter 440. ihriftfteller 11 12 84 SKamateros, byzant. Dichter 554. Knobelsdborf Euſtach von, Humanift II, Kantafuzenos, Kaifer, Gefhicht: | 605. ſchreiber 519. Kolezawa Karl S.J., Dichter 634. Satrares, byzant. Dichter 554. Kolluthos aus Eyfopolis, Epiter 77. Klimakus, Asfet 511. Komnena Anna, byzant. Geſchichtſchreiberin Kyriotes, byzant. Epigrammatifer 543.| 518.

Mauropus, Metropolit von Eudaita, | Konrad von Gaming, Hymnendichter Dichter 544. 440. Moſchos, Astet 512. von Haimburg, Hymnendichter 440. von Salisbury, Bifhof von Ehartres, | von Mure, V agifter 400. Theologe, Dichter 339—392 400 406. Anagnoſtes, byzant. Dichter Secundus (Jan Nicolai), niederländ.

Humaniſt 609. TI. Porphyrogennetos, Kaifer, byzant. John Pedham, en von Ganterbury, Geihichtichreiber 518.

Hymnendichter 440 45 Stilbes, byzant. Dichter 554. Jonas von Orleans, ——— 313. Kosmas Jaditopieufies Geograph 518.

* Exeter (Iſeanus), Dichter | wor Melode, byzant. Hymnendidter

Scottus, faroling. Dichter 293 304. Rreibing Johann 8. J., Elegifer 665.

Irenäus, der hl., Biſchof von Lyon, Kritobulos von Imbros, byzant. IR Kirhenfchriftfteller 15. fchreiber 519.

698

Kyprianos, Dichter 534. Tr von Skythopolis, Hagiograph

Pia aus Panopolis, Epiler 77.

Lactantius, Kirchenſchriftſteller 96. N von Hersfeld, Gejchichtichreiber

Lanbini Brancesco, italien. Humanift 484 8

um Eriftoforo, italien. Humaniſt

—— von Canterbury, Theologe 406 * Rudolf von, deutſcher Humaniſt

Laonikos Chalkondylas, byzant. Geſchicht-⸗ ſchreiber 519. Janos, griech. Humaniſt 561 564

‚Ronfantinos, griech. Humanift 561 Wilhelm, engl. Humaniſt 583 5

Latomus (Barthol. Steinmetz, Maſſon), deutſcher Humaniſt 607. von Durham, Gpigrammatiter | 6. Laurimanus Cornelius, Schuldramatifer 613 620.

Lauterbach Johann, neulat. Poet 618.

Legenda aurea 361.

Dee Gottfried Wilhelm von, Philofoph 672.

Simon, ſchweizeriſcher Humaniſt

621 A.

Leo J., der hl., Papſt, Kirchenlehrer 114 bis 117.

X. (Giov. Medici), Papft, Gönner des Humanismus 488 565 566 582 585

591—594 596 598. (Pecci), Papſt, Dichter 681 bis

byzant. Geſchichtſchreiber Leontios von Byzanz, Theologe 510.

Leto Pomponio, Humaniſt 496. Libanius, Sophiſt 5

Namenregiſter.

Liudprand, Geſchichtſchreiber 356.

ar Titus von Forli, italien. Humanift Loches Barth. de, Dramatiter 608, Loschi Antonio, italien. Humanift 497. Petrus Secundus, neulat. Dichter

sr "Peter aus Kißlau, Bagant 503. Lufas, der hl., Evangelift 5 9.

duuu⸗ Raimundus, Theologe 487. Luther Martin 580 583 614.

Luxorius, afrikaniſcher Dichter 218. und Rhodamne, byzant. Roman 557.

Lyra Nikolaus von, Bibelerklärer 487.

Macedo Francisco de S. J., Epiker 669.

Maffei Joh. P. 8. J., Pe 645.

Major Yohann, neulat. Poet 618.

Makarius Magnes, Apologet 64.

Mafropedius (Lankveldt) Georg von, Schuldramatiter 612.

Malalas Johannes, byzant. Chronift öl

8. re Karl 8. J., Schuldramatifer 633 666.

Mambrun Pierre S. J., Humanift 641. Manera Francesco S. J., Humanijt 683. Gianozzo, italien. Humaniſt

Manuel Holobolos, byzant. Dichter 554. Philes, byzant. Dichter 554. Marbod, Biſchof von Rennes, Dichter 367 379 380 400 444. Mearca Cornelius a, Dichter 614. Marcian, griedh. Hymnendichter 63. Marcion, Gnoftifer 14 89. Marius Mercator, Theologe 114. Victor, Dichter 194. Markus Eremita, Theologe 65. ber hl., Evanı elift 9. Mönd von nte Gaffino 240. Luigi de’, italien. Humaniſt 483 488, Marfiglio Ficino, italien. Humanift 490. di ©. Sofia, italien. Humanift 484. 0 ya Carlo, italien. Humanift 496

Libens Jakob 8. 5 Ssubramatier Mais Gapella, Dichter 200-202

634. Licinianus, Biſchof, Theologe 242. Peter, niederländ. Schuldramatiker 1

Li Ligurinus, epiſche Dichtung 372.

Lily William, engl. Humaniſt 585. A (Liobgyht), die hl. 290 291.

| Martinus Dumienfi, Biſchof von Bracara

—* 251 n Tours, ber bi. 253.

gno vitae, De, altchriſtl. Gebidht 121. Malen Jakob S. J., Schuldramatifter 634

der hl., Apoſtel von Vendöme, Dichter do 401 402

Lipfius nieberländ. Sprachforſcher Gorvinus, König don Ungarn

609 610 Biudger, der hl., Hagiograph 354.

Elegiker 400 401.

Namenregifter.

Maximos Eonfefjor, grieh. Theologe 510. Planudes, Sammler der Anthologie 545. Marimus von Turin, Theologe 114. Mayron Jakob, Theologe 487. Mechtildis, die hl. 467.

Medici Eofimo de’ 488,

Lorenzo il Magnifico 488. Melanchthon Philipp 615 616. Meleagros von Gadara 544.

Melifjus Paul (Schebe), Dichter 619. Meliteniotes, byzant. Gedicht 555. Melito, Apologet 14.

Diemnon von Ephefus, Apologet 65. Menander, byzant. Geſchichtſchreiber 518. rg von Tegernſee, DAmBenBIIBIeR

Methodius, Biihof von Olymp 2229.

Michael Gärularius, Patriarch 516.

Hapudleir, byzant. Dichter 554.

Micyllus (Molter) Jakob, Dichter 617.

Middleton Rihard von, Scholaſtiker 487.

Milling Thomas O. S. B., engl. Humanift 585.

Milo von Tournai, Dichter 312.

Miltiades, Apologet 14.

u. Felir, Kirchenſchriftſteller 85 is 87

Mobdeitos von Jeruſalem, Theologe 511.

iriſcher Mönch in St Gallen 16

Moker Anton, neulat. Dichter 618. Monahus Sangallenfis, Ehronift 363.

Montanus (van den Berghe) S. J., Elegifer

666. Monte Pier del, Montmorency Franz von S 666.

italien. zann 584.

Moraguez Andreas S. J., Elegifer 669.

Morea, Chronik von 557.

Morus Thomas, Lordkanzler, Humanift 582 586—588.

Theologetos, byzant. Dichter Olympiodor von Alexandrien,

—* Demetrios, grieh. Humaniſt 561 wide Johann von Königsberg, Humanift |

en Marc-Antoine, franz. Humanift 6

Murmellius Joh. Humanift 502. Mufaios, griech. Dichter 77 78.

Muffato Alberto, italien. Humanift 478

497.

Mufuros rk griech. Humanift 561 562 564 6

Mutianus Rufis Konrad, deutſcher Hu—⸗ maniſt 577.

Namatianus Rutilius, ſpätrömiſcher Dich— ter 190 -192.

. J., Elegiker

699

Naogeorgius (Kirchmair Thomas), Schul-

dramatiker 620 623. Naſo (pjeudon.), karoling. Dichter 304. Navagero Andrea, venetian. Humaniſt 6602.

Neophdtos von Cypern, Geſchichtſchreiber PR di Lippo, italien. Humanift 488. Neftorius, Irrlehrer 65.

Neumayır Franz 8. J., Schuldramatifer ı 634,

Niccoli Niccolo, italien. Humaniſt 490. Nikephoros Bryennios, byzant. Geſchicht⸗

ſchreiber 518. Geſchichtſchreiber

Kalliſtos, Kirchenhiſtoriker 511 518.

byzant.

Niketas Eugenianos, byzant. Roman— ſchreiber 554. Nikolaus V. ——

Papſt, Humaniſt 491 5

von Bibera, 401. (Olahus), ungarifdher Humanift 605

Nilus, Abt 65. Noceto Carlo 8. J., Dichter 668. Noel Francois S. J., Schuldramatifer

Ron, grieh. Dichter 69— 77.

| Rotter Balbulus, der hl., Gelehrter und Dichter 316318 440. Labeo, Überjeger 319 440. ie (piperis granum) 319. Biſchof von rt 319.

Odilo von Elugny, Hymnendichter 440. Odo von Elugny, Hymnendichter 440.

| Demler Georg, neulat. Dichter 617. Dlesnidy Shignew, Erzbifchof von Krafau,

ı Gönner des Humanismus 504.

byzant.

| Exeget 511.

‚nit Martin von Boberfeld, Dichter 672, —n (Rod) Vincenz, neulat. Poet

Ordericus (Obericus) Vitalis, Geſchicht— ſchreiber 857 406.

Orientius, althriftl. Dichter 194.

Origenes, Kirhenichriftiteller 20 21.

| Srofus Paulus, Kirchenhiftorifer 114.

Dsborn von Gloucefter, Theologe 406.

Ofteripiele 426-428 433—437.

Freiſing, Geſchichtſchreiber 358

Owen John (Audoenus), engl. Epigram— matifer 626.

Drepanius, röm. Redner 186. alladas, griech. Epigrammatiker 536.

700

Palladius, Kirchenſchriftſteller 65.

Pamphilus, Satiriter 400.

Pantänus, Lehrer in Aleranbrien 15.

Papaeus Petrus, niederländ. Schuldrama- tifer 613.

Papias, Apoftelihäler 11.

Parentucelli ſ. Nitolaus V.

Pashafius Radbertus, Theologe 313.

der hl., Apoſtel von Irland

ei III. Papſt 565 588.

IV., Bapit 565.

Paulinus von Aauileja, Dichter 504 440.

von Nola, der hl., Dichter 135 137 145 —154 440.

von Pella, Dichter 193.

von Perigueur, Epifer 195.

und Polla, tomiihe Epopde 404 405.

Paullus Walter S. J., Elegiter 666.

Paulus, ber BL, Üpoftel 459.

Albarus, Hymnendichter 440.

Diakonus, Hiftoriter, Dichter 293 304 305.

Silentiarius, byzant. Dichter 536 bis 538.

Pelacani Biagio, italien. Humanift 484.

Pereira Bartholomäus S. J., Epiter 669.

Perotti Niccolo, italien. Humaniſt 491.

redner 645. Petavius (Petau) Dionyfius S. J., Theo: loge, Dichter 633 640 641.

Petrarca Francesco, italien. Humanift 479 bis 483 486 582 584. Petrucci Girolamo 8. J., Latinift 650.

Petrus, ber hl., Apoftel 9.

de Blarovico, Hymnendidhter 440.

von Blois, Humanift, Dichter 395 397 398.

Gantor, Theologe 458.

GChryfologus von Ravenna, Kirchen— lehrer 114 424.

Damiani, Kardinal, Kirchenlehrer 440 441— 444.

Lombardus, Scholaftifer 457.

von Pija, faroling. Dichter 293 304 305.

von Riga, Dichter 377.

Venerabilis, Abt von Elugny, Hymnen dichter 400 444.

Pettworth Richard, engl. Humanift 584.

Peuerbaf Georg, Mathematiter, Humanift 502.

Biefferforn Johann 578 579. Philicinus Peter, neulat. Poet 613.

logie 544. Bhiloftorgios, Kirdhenhiftorifer 66. Phlorios und Plakiaphlora, byzant. Did tung 557.

| ; Rabulphus be Diceto, 406.

Namenregifter.

Phoenice, De, althriftlide Dichtung 122 123.

Phortios Leonarbos, byzant. Dichter 556. —— Patriarch, Polyhiſtor 516 bis

Phyfiologos 558.

Pico della Mirandola, Platoniter 563 586,

Pitatoros Johannes, byzant. Dichter 556.

Pilato Leonzio, Überfeßer 484 559.

Pilihsdorf Peter von, Theologe 487.

Virkheimer Charitas, Abtiffin 573. Wilibald, Humanift 573 574.

Piſano Ugolino, italien, Humanift 497. Pius Il. (Enea Silvio de’ Piccolomini), Papft, Humanift 491 497 501 572.

Platina, italien. Humanift 496 585. Platon 22 23. Matteo,

italien. Humaniſt

Biason Manuel Gemifihos, Platoniter

Etienne de, neulat. Dichter 646.

Poggio Bracciolini, italien. Humanift 494 501 584.

Polignac Melchior de, Kardinal, Dichter 671 672.

ani Poliziano Angelo, italien. Humaniſt 563. Perpinian Petr. Joh. 8. J., Latiniſt, Schul: |

Pollicarius Johann, neulat. Boet 618.

Pontanus (Spanmüller) Jakob 8. J., La—

tiniſt 633.

Porikologos, byzant. Vollsbuch 558.

Porree Charles 8. J., Schuldramatiker 634 642 643.

Poflel Johann, Humaniſt 618.

Prätertatus Vettius 136.

Priscianus, Grammatifer 218.

Proba, Dichterin 124.

Proflos von Eyzicus, Kirchenſchriftſteller 65.

neuplat. Philojoph 68.

Profopios von Gaza, Theologe 64 511.

byzant. Geſchichtſchreiber 233 518.

arg von Aquitanien, Kirchenſchriftſteller 195 400.

Prubdentius NAurelius, Dichter 154— 182 400 440,

Chroniſt 355.

Piellos Michael, byzant. Philofoph 519.

Piolemäus de Fiadonibus, Chroniſt 357.

Pulcharelli Konjtantin 8. J., Dichter 668. Pulologos, byzant. Gedicht 558.

Ouadratus, Apologet 12.

Quintus Smyrnäus, Epiker 68. Philippos Sidetes, Kirchenhiſtoriler 66. von Theſſalonike, Sammler einer Anthos | Barren

Königin 258—259 Geſchichtſchreiber

die hl., 263

Namenregiiter.

Ragewin, Geihichtihreiber 360.

Rapin Rene S. J. 640 667.

NRatbod, Legendendichter 867.

Natpert, Mönd in St Gallen 316.

Ratramnus von Eorbie, Theologe 313.

Ravifi Terier de (Ravifius Tertor), franz. Humaniſt 607.

Reccesvinth, König der Weftgoten 243.

nn von Canterbury, Legendendichter S

Begins Ehronift 355.

Reinhardus Vulpes, Tierepos 337—839.

Remigius von Aurerre, Theologe 457.

Rejende Andrea de, Epiter 602.

Simon 0. S. B., 676 6

Reuchlin Johann, Humaniſt 568 572 579—581 6 Neusner Nikolaus, Poet 618. Rhodiſche Siebeslieder 556. Laurenz, deutſcher Humaniſt 61

Richard von St Victor, Myſtiker 458.

Riederer Ulrich, deutſcher Humaniſt 502.

Rimbert, Hagiograph 354.

Rittershaus Konrad, neulat. Poet 618.

Robert, ... von Franireich Hymnen⸗ dichter 44

von Bincofn, Hymnendichter 440.

von Melun, Theologe 406.

Pullus (Pulleyn), Scholaftiter 406 457.

von Retines, Mathematiler 406.

Roger von Hoveden, Geihichtichreiber 406.

Infans, Mathematiker 406.

Röhrig Georg, neulat. Poet 620.

Romanos, byzant. Hymnendichter 63 522 bis 532.

Noscellinus, Scholaſtiker 457.

Nuccellai Giovanni, Dichter 601. |

Rue Charles de la 8. J., Schuldramatifer | 634 667

Rufinus Tyrannius, Kirchenſchriftſteller

Ruodlieb, Roman 328—332, Rupert von Deuß, Theologe 440 458. Rutilius ſ. Namatianus.

|

Sabinus Georg, neulat. Poet 617.

von Heraflea, Kirchenſchriftſteller 66. Sachetti Franco, italien. Humanift 488. Sadlifis Stephanos, byzant. Dichter 555.

—n Yalob, Kardinal, neulat. Dichter ,

3 Säldner deutſcher Humaniſt 503. Salutati Golluecio de’, italien. Humanift | 484 488, Salvianus, Kirhenichriftfteller 229— 232. Sanadon Noel-Etienne S. J., Elegifer 667. _—.. Jacopo, neulat. Dichter 598 is

"Seidl Joh. Bapt. 8 634

701

Santeul Jean de, lat. Dichter 667.

Claude, Hymnendichter 667.

Sarbiewsfi M. Gafimir S. J., Lyriker 649 650 651.

Saurius Andreas, Schuldramatifer 620.

Sautel Pierre Jufte S. J., Dichter 667.

Saro Grammaticus, Geihichtichreiber 361.

Joſ. Juſtus, Philologe 627.

chedel Hartmann, deutſcher Humaniſt 503.

Philoſoph 672.

Schongaeus Cornelius, niederländ. Schul⸗ dramatiker 613 620.

Schöpper Jakob, niederländ. Schuldrama— tiker 613.

Seriverius Peter, niederländ. Philologe 627.

Secco Potentone, italien. Humaniſt 497.

Secundinus (Sechnall), iriſcher Biſchof, Dichter 269.

altchriſtl. Dichter 195 196

ER ug 311 440. . J., Schuldramatifer

Selling William O. 8. B., engl. Humanift 585.

Sernelli Biagio, italien. Humaniſt 488.

Servatius Lupus, Erzbiihof von Sens 314.

Servius, Grammatifer 186.

Seta, griech. Hymnendichter 63.

Severus, Biſchof von Gartagena 244.

Sidonius Apollinaris, Biſchof von Eler- mont⸗Ferrand, Dichter 197—199 400.

| Sigebert von Gemblour, Geſchichtſchreiber,

ichter 358 367 440.

Signa Martin de, Auguftiner 484 437.

' Silvefter II. (Gerbert von Aurillac), Papft 457 469.

Silvia von Aquitanien 127 128.

Simeons Joſeph 8. J., Schuldramatifer 634.

Sifebut, König der Weftgoten 243,

Sokrates, Kirdenhiftorifer 66.

Solimani Julius S. J., Schuldramatifer

633. Solymarius, Epos 371 372 400. Ulrich, deutſcher Humaniſt

von Jeruſalem, Theologe, Hymnendichter 512 534. Southwell Robert 8. J., Dichter 669, Sozomenos, Kirchenhiftoriter 66. Spangenberg Johann, neulat. Dichter Spiegelberg Morig von, deutſcher Humanift 502 u —— Joſeph 8. J., Schuldramatiker John, Erzbiſchof von Canterbury

702

u Bernhard 8. J., Schuldramatifer

—— und Ichnelates, byzant. Fabel⸗

u

a ihr) Ehriftian, Schuldrama- tifer 6

Sterder deutſcher Humaniſt 503.

Stigelius Johann, neulat. Dichter 617.

Strada Famian 8. J., Hiſtoriker, Dichter 650.

Sturm Johannes, Pädagog 620.

Sturmius, der hl., Abt von Fulda 291 808.

Stymmelius (Stymmel) Chriftophorus, Dichter 622 623.

Sulpicius Severus, Kirchenſchriftſteller 114.

Surius Johann S. J., Schuldramatifer 633 666.

er... Nitolaus S. J., Schuldramatifer 33

Brynjölfe, zn von Skaͤl⸗ holt, neulat. Dichter 6

Symeon Detaphraftes, —— 512.

Stilites jun., Asket 511

Symmadhus, Redner, Ehifiolograpf 167 bis 177 184—186.

—— Biſchof, Hymnendichter 52 bis

byzant. Fabelbuch 558.

Tajo, Erzbiſchof von Saragoſſa 244. Tatian, Kirchenſchriftſteller 14. Taubmann Friedrich, neulat. Poet 618. Tertullian, Kirchenſchriftſteller 88 —96. Teſoro Emanuel 8. J., Dichter 668. Thalajfios, Astet 511.

—— von Cyrus, Kirhenhiftorifer

—— von Mopſueſtia, Kirchenſchrift⸗

byzant. Dichter 547 558 555 Eludita, der kr? Theologe, Dichter

511 512 541 Monachos, byzant. Dichter 552

von Ancyra, Theologe 65.

Theodulf, Biihof von Orleans, faroling. Dichter 293 302 303 400.

Theophil von Antiohien, Kirchenſchrift- fteller 14.

Theophylaftos Simofattes, byzant. Ge- ſchichtſchreiber 518.

Namenregiſter.

Thomas von Kempen, Asket 502.

Walbdenfis, Jrrlehrer 487.

Timokles, grieh. Hymnendichter 63.

Zimotheus von Berytus, Kirchenſchrift- fteller 66.

Ziptoft John, engl. Humanift 585.

Zongern Arnold von, Theologe 579.

Zortello Giovanni, italien. Humanift 491.

Zoufjain (Zoffanus) Jacques, franz. Hu—⸗ manift 608.

Traverjari Ambrogio, eneral, Humaniſt 490.

Zrimberg Hugo von, Dibaltifer 400.

ur Giangiorgio, italien. Humanift

——— Johann, Abt, Polyhiſtor 575. Trutfetter Jodok, deutfcher Sumanift 577. Tryphiodoros, Ägypt. Dichter 77. Zurnebe Adrien, franz. Philologe 608. Zurrianus 8. J., Latinift 663.

' Zutilo, Mönd von St Gallen 316. Tybinus, Magifter, Metriter 455. Zyrannius ſ. Rufinus.

Kamaldulenſer⸗

Ulrich von Weſſobrunn, Hymnendichter 440. VII. (Barberini), Papft, Dichter

| urban, Gräcift 563.

Balla Lorenzo, italien. Humanift 495.

Danitre Jacques 8. J., Didaktiker 667.

Vatablus Franz, Spradigelehrter 607.

Vegetius, jpätröm. Projaifer 186.

Vegio Maffeo, Humanift, Dichter 491 197 498.

Fortunatus, Dichter 257— 268

Verecundus, Biſchof von Byzacene, Dichter

40.

Vergerio Pier Paolo, italien. Humanift 497 501 503.

Vergil-Eentonen 124.

Bicorinus, Rhetor und Dichter 120 bis 123.

Markus Hieron., Biſchof von Alba,

Dichter 594—598 600.

Viktor, Mönd von St Gallen 319.

Vincentius von Beauvais (Bellovacensis), Enchklopäbdift 469—474. von Lerin, a a.

' Vitalis von Blois, Dichter 400

von Merſeburg, Geſchichtſchreiber Vivarius Sn Diäter 618.

bonn von Aquin, der hl., Kircdhenlehrer 440 452 458—463.

von Celano, Hymnendichter 440 452 468,

von Chantimpre, 361.

Voragine a ſ. Jakob. rn Ba, nieberländ. Philologe 627

Begendenfammler Walafrid Strabo, Mönch in Reichenau,

Hagiograph, Dichter 308—310.

Nanenregifter. 703

Wallius Jakob 8. J., Elegiter 665, ı Wilhelm von Blois, Dichter 403 404. Walter von Chatillon, Epiker 374— 377 Brito, Epifer 376 400, 400 408, bon Ehampeaur, Scholaftifer 457.

bon Compitgne, Epiker 376, Fitzſtephen, Geſchicht ſchreiber 406. Map, Satiriter 409 410. von ra (St Thierry), Scholaſtiker don Mauritanien, Theologe 457. 457 458.

bon Muda, Epiter Fi a bon Malmesbur Geſchichtſchreiber 406. bon Speier, Epiler 368 369. von Tyrus, Gejhichtichreiber 359. Walthariuslied 320—327. Wimpheling Jakob, beutfcher Humanift Wamba, König der Weitgoten 243, 502 611.

Wandalbert von rum, Hagiograph 311 | Winfrid f. Bonifatius.

355. e ER Fr Didaktiter 306 U. 370. Weihnachtsfpiele 429—431. Wirefer Nigel, Satirifer 407—409, Weil Nikolaus v., ſchweizer. Humaniſt 508, Witeez Johann don, Erzbiſchof von Gran Meitenauer Ignatius S. J., Schuldrama:| 508.

tifer 634,

Werpäus Karl S, J., Dichter 666, Wichif, Irrlehrer 487.

Widl Adam 8. J., Lyriker 664, von Corveh, Geſchichtſchreiber

Wilhelm von Apulien, Epiker 371.

Zamagna Bernhard S. J., lat. Homer—⸗ überjeßer 668. niederländ. Schuldra⸗

matiker 613.

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