Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer ...

Magnus Hirschfeld, Wissenschaftlich-Humanitäres Komitee (Berlin, Germany)

Boston Medical Library 8 The Fenway.

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Jahrbuch

für

sexuelle Zwischenstufen

mit besonderer Berücksichtigung: der

Homosexualität.

Herausgegeben unter Mitwirkung namhafter Autoren

im Namen des wissenschaftlich-humanitären Komitees

von

Dr. med. Magnus Hirschfeld,

piakt. Arzt in Charlottenburg.

V. Jahrgang I. Band.

Leipzig.

Verlag von Max Spohr. 1903.

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Inhalts-Verzeichnis.

Ursachen und Wesen des Uranismus. Von Dr. Magnus Hirsch fei d- Charlottenburg (auch separat unter dem

Titel: „Der urnische Mensch" erschienen) ... 1

I. Das urnische Kind # 0 47

II. Das Harmonische der urnischen Persönlichkeit 67 HI. Die Unausrottbarkeit der Homosexualität 104

IV. Die Naturnotwendigkeit der Homosexualität . 125

V. Heredität und Homosexualität . .138 Anhang. Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters S. 159

Einige psychologisch dunkle Fälle von geschlechtlichen Ver- irrungen in der Irrenanstalt. Von Medizinalrat Dr. P.

Näcke-Hubertusburg 194

Chirurgische Überraschungen auf dem Gebiete des Schein- zwittertums. Von Dr. med. Franz Neugebauer- Warschau 205

Brief Wolfgang von Goethes über die mannmännliche Liebe

in Rom 425

Felicitas von Vestvali. Von Rosa v. Braunschweig . 427

Quellenmaterial zur Beurteilung angeblicher und wirklicher

Uranier. Von Professor Dr. F. Kar sc h -Berlin . . 445

4. Heinrich Hößli (1784—1864) .... 449

5. Franz Desgouttes (1785—1817) . . .557

6. Herzog August der Glückliche (1772—1822) . 615

7. Mademoiselle Maupin (1673—1707) . .694

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Richard Freiherr von Krafft-Ebing

geb. 14. August 1840 in Mannheim, gest. 22. Dezember 1902 in Graz.

c.H

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Ursachen und Wesen

des

Uranismus.

Von

Dr. Magnus Hirschfeld.

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Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft. Aph. 7:

Alle Arten Passionen müssen einzeln durchgedacht werden, einzeln durch Zeiten und Völker, groiie und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft soll ans Licht hinaus!

Thoraas Carlyle:

Jedes Gute, das irgend möglich, wird einst wirklich sein; »o tief und traurig wir es empfinden, dall wir noch in finsterer Nacht stehen, so fest und unerschütterlich ist unser Vertrauen, daß der Morgen nicht ausbleiben wird. Schon sehen wir, vorausblickend, im Aufgang Streifen der Dämmerung. Wenn die Zeit erfüllt ist, wird der Tag anbrechen.

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„Beobachten, meine Herreu, beobachten!" mit diesen Worten begann und schloß raein verehrter Lehrer, Frei- herr von Recklinghausen, von der Universität Straßburg, fast jede seiner Unterrichtsstunden. Kr zeigte sich mit diesen Worten, deren Inhalt dem geistvollen Mann ganz in Fleisch und Blut übergegangen war, als echter Schüler Virchows und jener Richtung, welche in den ersten Jahr- zehnten des letzten Jahrhunderts ihr Hauptaugenmerk daraufrichtete, mit den naturphilosophischen Spekulationen früherer Zeiten aufzuräumen, anstelle theoretischer Erwä- gungen exakte Ermittelungen zu setzen. Nicht vergilbte Pergamente, nicht der tote Buchstabe, die lebendige Natur selbst sollte die einzige Quelle der Naturerkenntnis sein. Es galt als Erfordernis der Wissenschaftlichkeit, mit oder ohne Zuhilfenahme von Instrumenten, selbständig Einzel- beobachtungen zu sammeln, aus ihnen Schlüsse zu ziehen, die um so zwingender waren, je größer das zugrunde gelegte Material war. Auch der Uranismus ist eine Erscheinung, die sich nicht bei der Studierlarape, sondern nur am Objekt ergründen läßt. In den letzten Jahren haben viele Männer über ihn geschrieben, die Literaturkenntnis und Sach- kenntnis, Geschichtsforschung und Naturforschung für gleichbedeutend hielten. Was würden wir wohl von einem

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Autor halten, der über die Ursachen der Tuberkulose schriebe, ohne je einen Schwindsüchtigen untersucht zu haben, der vom Wesen des Weibes spräche, ohne eins zu kennen? Kürzlich wandte sich ein Gelehrter, der mancherlei über die Homosexualität veröffentlicht hatte, mit der Bitte an mich, ihm doch Homosexuelle vorzu- stellen, da er bisher nicht Gelegenheit gehabt habe, solche persönlich kennen zu lernen. Ein anderer Autor, Dr. Iwan Bloch, ein um die Geschichte der Medizin sehr verdienter Forscher,1) berichte^ wo er von der nach seiner Meinung sehr großen Seltenheit der Homosexualität spricht, von Effertz,*) daß dieser, wir zitieren wörtlich „aus dessen Buche eine große Erfahrung spricht, noch niemals einen echten Homosexuellen gesehen haben will." Wenn aber irgendwo, so führt auf dem Gebiete des Ura- nismus nur das Kennen zum Erkennen, nur die objektive Beobachtung, Untersuchung und Vergleichuug zum rich- tigen Verständnis.

Man hat der exakten Methode nicht ganz mit Unrecht vorgehalten, daß sie zu ausschließlich mit den Sinnes- organen arbeite, Dinge, die diesen nicht direkt zugänglich seien, hintansetze, in der Erforschung des Menschen über dem Zellenleben das Seelenleben vernachlässigt habe. Demgegenüber ist zu betonen, daß auch der Einblick in Geist und Seele des Menschen nur durch zahlreiche exakte Einzelbeobachtungen gewonnen werden kann! Nur wer eine große Menge sagen wir, mindestens hundert Homosexuelle eingehend und sorgsam persönlich erforscht hat und zwar solche aller Altersstufen und Gesellschafts- schichten, solche, deren Eindruck nicht durch akzidentielle Krankheiten und Konflikte verwischt ist, wird mit voller

*) Dr. med. Iwan Bloch: Beiträge zur Ätiologie der Psyeho- pathia sexualis. I. Teil. Dresden, Verlag von Dohm, 1902. Seite 218. *) 0. Effertz: Über Neurasthenia sexualis. Ne\v-Yorkl894. S.192.

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Klarheit inne werden, daß das Wesen des Uraniers nicht mit der Richtung seines Geschlechtstriebes erschöpft ist. Wie man beim Mann den männlichen, am Weibe den weiblichen Charakter als Hauptsache empfindet, so steht auch beim Urning die urnische Art, sein Gesamtcharakter im Vordergrund, diese eigentümliche Mischung männ- licher und weiblicher Eigenschaften, welche zwar für die Fortpflanzung nicht geeignet, aber darum noch nicht unfruchtbar ist. Wer raeint, homosexuell sein heiße ledig- lich, sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, oder gar, homosexuell sei jemand, der sexuelle Handlungen mit Personen desselben Geschlechts vornimmt, müßte folgerichtig definieren : Ein Mann ist jemand, der ein Weib liebt und umgekehrt, als ob nicht zur männlichen und weiblichen Beschallen hei t eine Unmenge anderer geistiger und körperlicher Kriterien gehörten.1)

Es würde uns in diesen Jahrbüchern sehr wenig interessieren, ob und wie ein Urning sich betätigt, wenn nicht von den Gegnern immer auf den Akt das Haupt- gewicht gelegt werden würde und wenn nicht Menschen- gesetze vorhanden wären, die Naturgesetze wegdiktieren zu können glauben. Die Wachenfeld*) und Bloch

*) Es würde sich daher auch empfehlen, das schon sehr weit verbreitete Wort Homosexualität möglichst oft durch das umfassen- dere Uranismus zu ersetzen. Homosexualität, gebildet aus dem griechischen fyiof, gleich, und dem lateinischen sexus, Geschlecht, ist nicht nur in der Form eine Monstrosität, sondern auch im Inhalt, denn in Wirklichkeit liebt der Urning nicht das gleiche, sondern ein anderes Geschlecht. Ein nicht unbekannter Schriftsteller bemerkte in der Beantwortung unseres Fragebogens: „Am Weibe stiitlt mich das Gleichgeschlechtliche ab." Das neuerdings in Süddeutachland mehrfach gebrauchte Wort „Freundling" ist schon deshalb ungeeignet, weil es nicht die Ableitung anderer Worte gestattet, was bei Urning (urnisch, Uranismus, Urningtum, Urninde etc.) in reichlichem Matte der Fall ist.

9) Prof. Dr. Wachenfeld: Homosexualität und Strafgesetz. Leipzig 1901.

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denken, wenn sie von Homosexuellen reden, immer nur an bloße sinnliche Handlungen, an die „Mechauik der Liebe", sie übersehen, daß es eine reine Liebe gibt, es ist ihnen entgangen, daß Homosexuelle vorkommen wir kennen nicht wenige derart, die sich auch als homo- sexuell bekannten die keusch leben. Das hängt nicht mit der Richtung, sondern mit der Stärke des Triebes und des Willens zusammen. Wie es frigide Frauen, asexuelle Männer gibt, so auch leidenschaftslose Urninge, die sich naturgemäß am ehesten beherrschen können. Die Art der geschlechtlichen Betätigung Erwachsener sollte dritten Personen wirklich gleichgültig sein. Etwas anderes ist es mit der Kenntnis des Uranismus überhaupt. Diese scheint uus für jeden, der im Menschen nach Goethe „das höchste Studium* sieht, ganz unerläßlich zu sein. Noch ist der Beweis nicht erbracht, welche Rolle der Uranier in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit gespielt hat, aber er wird erbracht werden. Dieser Zweck der Jahrbücher steht uns viel höher, als die Abschaltung des § 175, die Wachenfeld1) ihnen als einzige Tendenz unterschiebt; denn diese hat doch nur dann einen Zweck, Vorgänge in straffreien Ländern haben es zur Evidenz erwiesen wenn die öffentliche Meinung das Wresen der homosexuellen Individualität erfaßt hat, die wir be- tonen das ausdrücklich und wiederholt gewiß nicht besser ist, wie der männliche und weibliche Komplex, aber auch nicht geringwertiger.

Wie das Wesen, so kann man auch die Ursachen der konträren Sexualempfindung nur auf dem Boden eines großen Tatsachenmaterials stehend aus direkt Ge- seheuem ableiten. Wie will man beispielsweise ein Urteil darüber fällen, ob dieser Trieb eine Degenerations-

') Wachenfeld: Zur Frage der .Strafwürdigkeit des homo- sexuellen Verkehrs, in Goltdaramers Archiv f. Strafrecht. 11)02. .8. 38.

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erscheinung ist, wenn man nicht zum mindesten einige Dutzend damit Behafteter eingehend auf körperliche und geistige Degenerationszeichen untersucht hat. Es ist recht bedauerlich, daß ein so fleißiger wissenschaftlicher Arbeiter, wie Iwan Bloch, diesen allein rationellen Weg der Objekt- forschung nicht eingeschlagen hat. Es wären ihm dann viele sachliche Irrtümer nicht unterlaufen. Um an dieser Stelle nur einen zu erwähnen, so hebt Bloch mehrfach die große Seltenheit der Homosexualität unter den Juden rühmend hervor. Er sagt (S. 60), wo er von dem prä- ventiven Einfluß der Ehe auf die Entstehung geschlecht- licher Anomalien spricht, wörtlich: „Ein treffendes Bei- spiel hierfür liefern die Juden, in deren mustergültigem Familienleben und tief innerlicher Auffassung der Ehe seit ihrer Zerstreuung in alle Länder die Hauptursache zu suchen ist, daß sexuelle Perversionen, insbesondere Homosexualität, bei ihnen kaum vorkommen/ Hätte Bloch die Homosexualität an den Quellen studiert, so wären ihm in Berliner Urningskneipen jüdische Volks- typen, wie die , Rebekka" und die „Rahel", ebensowenig entgangen, wie die zahlreichen israelitischen Urninge im Gelehrtenstand oder in der Damenkonfektion, vielleicht auch nicht jener alte jüdische Antiquitätenhändler, der die Urninge der hohen Aristokratie mit abgekürzten Vor- namen anzureden sich gestatten darf. Ich selbst sah unter ca. 1500 Homosexuellen, die ich im Laufe der letzten 7 Jahre sorgfältig beobachtete, 43 Juden und 11 Jüdinnen, also 54 auf 1500 oder 3,6 %; am 1. De- zember 1900 zählte Deutschland 590000 Juden unter 56 345 014 Einwohnern, mithin 1,0%. Aus diesen Zahlen geht mit Sicherheit hervor, daß jedenfalls der Anteil der Juden kein geringerer ist, als der der übrigen Bevölkerung. Die jüdischen Urninge sind in christlichen Ländern nur in dem Sinne selten, wie die protestantischen, von denen man Gleiches behauptet hat, in katholischen Gegenden.

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Im Gegensatz zu den Juden soll nach Bloch ') und Wachenfeld2) die Homosexualität unter den Romanen besonders stark verbreitet sein. Letzterer schreibt: „Auch ohne statistische Belege ist es sicher, daß in den romani- schen Ländern, die keinen Urningsparagraphen kennen, namentlich in Italien, die Homosexualität in einer Weise verbreitet ist, wie man sie in Deutschland nicht ahnt". Wir haben, um die Verbreitung des Uranismus unter den verschiedenen Völkern, Rassen und Ständen ver- gleichsweise zu ermitteln, eine völlig unparteiisch ge- haltene Anfrage bei einer beträchtlichen Anzahl uns als urnisch bekannter Globetrotters" veranstaltet. Es gibt unter den Urningen viele, die ihr ganzes Leben von Lande zu Lande ziehen. Unter 40 einwandsfreien Aut- worten sprechen sich 18 dahin aus, daß sie die Homo- sexualität überall in gleicher Ausdehnung gefunden hätten, sämtliche andere betonen, daß sie bei den germanischen und angelsächsischen Völkern verhältnismäßig mehr Homo- sexuelle vorfanden, wie bei den Romanen. Ein abwechselnd in Italien und Deutschland lebender Arzt schreibt: „Die rein germanische Rasse weist mehr wirklich Homosexuelle auf, als die lateinische." Ein vielgereister Kaufmann be- richtet: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß gleich- geschlechtliche Liebe in Frankreich, Spanien, Italien und der Türkei weniger vorkommt, als in Deutschland, Schweden und Dänemark.- Ein Schriftsteller bemerkt: „In Italien, einem Lande, das ich durch fünfjährigen Aufenthalt kennen lernte, sah ich die Gleichgeschlechtlich- keit viel weniger hervortreten, als in Deutschland." Ein anderer Schriftsteller antwortet: „Homosexualität kommt im Norden mehr vor, wie im Süden ; besonders ist sie in England sehr häufig. In Italien geben sich zwar junge

l) Blochs Beiträge etc. S. 10 ff.

*) Wachenfeld in Goltdammers Archiv S. ö7 ff.

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Leute für Geld zu allem her, es gibt aber weniger eigentliche Urninge dort.* Ein Mitglied der hohen Aristokratie endlich, das ganz Europa kennt, antwortet in etwas ironischer Form: „Wenn die Homosexualität für einen Staat den Niedergang politischer Machtstellung bedeutet, so werden England und Deutschland und in Deutschland Preußen ganz sicherlich zuerst untergehen.* Sieben Experten heben hervor, daß in Paris trotz der Straffreiheit der homosexuelle Verkehr viel weniger häutig sei, wie in Berlin. Drei weisen auf die große Häufigkeit der Homosexualität in den russischen Ostseeprovinzen hin, die auch wir auf grund ausländischer Korrespondenz- eingänge bestätigen können. In einer Antwort heißt es: „Ungewöhnlich groß scheint die Zahl der Urninge unter den Kurländern deutschen Stammes zu sein.* Ein Herr kennt in Riga persönlich einige hundert Uranier. Ein Dolmetscher endlich, welcher mehrere Erdteile durchzogen hat, teilt mit: „Autfallend viel fand ich in dem niederen Volke Oberbayerns, das doch wirklich ein kräftiges und gesundes ist" Wir sehen also auch hier mit Sicherheit, zu welchen Trugschlüssen theoretische Erwägungen über Ein- fluß des warmen Klimas, Rassenentartung etc. führen können oder auch vereinzelte Beobachtungen, die ein Autor ohne Nachprüfung dem andern entnimmt.1)

Immerhin müssen wir den genannten Autoren dankbar sein, daß sie sich bemühten, wenn auch mit unzureichenden Hilfsmitteln, der Sache auf den Grund zu kommen. Schließlich und endlich ist doch jede Wissenschaft nichts anderes, als Erforschung der Kau- salitätsgesetze. Für den Uranismus hat aber die Er-

J) Bloch stützt sich beispielsweise wiederholt auf A. Ferguson, dessen Werk 1768 in Leipzig erschien, auf Doppet, welcher seine Studien veröffentlichte, von zahlreichen noch älteren Autoren ganz zu schweigen.

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kenntnis der Ursachen nicht nur einen theoretischen, sondern auch einen eminent praktischen Wert in kritischer, forensischer und therapeutischer Hinsicht. Kritisch insofern, als die gelehrten und ungelehrten Stände den Homosexuellen ganz anders beurteilen werden, wenn sie seinen Zustand als einen ihm von Geburt an mit- gegebenen ansehen, als wenn sie glauben, er sei durch Onanie (Bloch S. 135 ff.) oder Vielweiberei (Bl. S. 170.) entstanden. Gelingt es uns, dem Volke unzweifelhaft zu beweisen, daß niemand homosexuell werden kann, der es nicht ist, daß äußere Umstände weder einen Homosexuellen normal noch einen Normalsexuellen konträr machen können, daß die Urninge ihrer ihnen eingeborenen Natur nach nicht widernatürlich handeln, so wird sich, wie es bereits vielfach geschehen, Haß und Hohn in Milde, Mitleid und Achtung verwandeln.

Auch für den Strafrichter wird es ein wesentlicher Unterschied sein wir stimmen hier Wachenfeld ■) völlig bei ob die Neigung des Homosexuellen „als ein ihm in die Wiege gelegtes Mißgeschick oder als Folge seines Lebens wandels* zu gelten hat. Hans Groß2) behauptet zwar: „Für uns Kriminalisten ist die Frage, ob ange- boren oder erworben, gleichgiltig, weil die Frage der Strafbarkeit hiervon nicht abhängig sein kann", und auch Moll8) vertritt in einer seiner letzten Veröffentlichungen denselben Standpunkt, indem er meint, daß man dann auch mit demselben Recht behaupten könne, Leute mit angeborenem Blödsinn müßten straffrei, Leute, die an erworbenem Blödsinn leiden, bei gleichen kriminellen

*) Goltdaimners Archiv, 49. Jahrgang. 1. und 2. Heft. S. 40.

s) Im Archiv für Kriminalanthropologie, 10. Band. 1. und 2. Heft. 8. 195. Bei Besprechung von Blochs Beiträgen zur Ätiologie.

3) Albert Moll: Sexuelle Zwischenstufen, in der Zukunft, 10. Jahrgang 1902. Nr. 50. S. 427.

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Handlungen strafbar sein. Dem ist aber entgegenzu- halten, daß wohl schwerlich eiu Gesetzgeber auf den Gedanken gekommen wäre, die „widernatürliche Unzucht" unter Strafe zu stellen, wenn er nicht in Verkennung der Motive geraeint hätte, die zu Bestrafenden hätten den ihnen natürlichen Gebrauch des Weibes verlassen (Römer- brief I. 24 ff.). Derselbe Umstand, welcher zum Erlaß des Paragraphen geführt hat, ist auch die Ursache seines Bestandes: mangelnde Kausalitätserkenntnis. Unwissen- heit hat aber von jeher mehr Verheerungen angerichtet, wie Böswilligkeit.

Für den Strafzweck ist die richtige Beurteilung des Urnings gleichfalls von Belang. Handelt es sich um ein angeborenes, unheilbares Leiden, so wird nur die Un- schädlichmachung in Frage kommen. Dann würde es folgerichtig sein, den unverbesserlichen Schädling entweder zum Tode zu verurteilen oder ihn lebenslänglich in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen. Hierzu wird sich der Staat allerdings im Hinblick auf die Qualität und Quantität der Uranier schwerlich entschließen. Liegt aber nur als Grund „Wüstlingtum* (Bloch S. 171), „ge- wohnheitsmäßiger Alkoholgenuß* (Bl. S. 55) oder Einfluß der „modernen Frauenbewegung4 (Bl. S. 248) vor, so wird man auch den Zweck der Abschreckung und Besserung nicht außer Acht lassen dürfen.

Ähnliche Gesichtspunkte kommen auch bei der Be- handlung der Homosexualität in Betracht. Sehr richtig hat dies schon Schrenck-Notzing ') erkannt. Er sagt : „Für die Beurteilung der konträren Scxualempfindung, namentlich in Bezug auf Prognose und Therapie, ist ihre Ätiologie von ausschlaggebender Bedeutung" und an

l) Dr. A. Freiherr v. Schreuck-Notzing: Die Suggestions- therapie bei krankhatten Erscheinungen des Gesehlechtssinnes etc. Stuttgart, 1892. S. 127 und 8. 119.

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anderer Stelle: „Je mehr sich die Zahl der Fälle häuft, in denen bleibende therapeutische Resultate erzielt worden sind, um so geringer erscheint nach unserer Meinung der Anteil, den die erbliche Disposition in der Entstehung dieser Anomalie beanspruchen kann/ Gewiß sind die Aussichten, einen Trieb durch äußere Einflüsse zu ver- lieren, wesentlich größer, wenn derselbe durch äußere Anlässe, wie fehlerhafte Erziehung (Schrenck-Notzing S. 167 ff.), hervorgerufen ist. Wir werden freilich später wenn wir von der Festigkeit der uniischen Indi- vidualität reden klarzulegen haben, daß die hypnotische Heilbarkeit noch keineswegs das Erworbensein eines Zu- standes beweist.

Solange das Problem der Homosexualität wissen- schaftlich erörtert wird, streitet man darüber, ob ihre Grundursachen vor oder nach der Geburt liegen. Auf der einen Seite befinden sich die Forscher, welche über ein sehr großes Beobachtungsmaterial verfügen, vor allen Krafft-Ebing, Moll und ich selbst. Diese legen auf die eingeborene Anlage das Hauptgewicht und messen occa- sionellen Momenten demgegenüber nur untergeordneten Wert bei. Wie Gelegenheitsursachen aller Art den nor- malen Trieb auslösen, erwecken auch äußere Einwirkungen oft den schlummernden, aber doch deutlich vorhandenen homosexuellen Trieb. Diese Anlässe sind jedoch sekuudärer Natur, das Primäre bleibt die besondere Beschaffenheit des Individuums, seines Gehirns, seines Geistes und Körpers. Ein hervorragender, selbst urnischer Psychiater, ein Muster gewissenhaften Arbeitens, stimmt uns in folgenden Worten bei: „Ich kann und muß erklären, daß ich niemals einen Fall von Homosexualität kennen gelernt habe, dem ich nicht das Prädikat „angeboren" hätte bei- legen müssen. In allen von mir untersuchten Fällen sobald die Betreffenden sich nur natürlich gaben und ihren äußerlich zur Schau getragenen „Normal menschen 41

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bei Seite ließen war die Homosexualität etwas so sehr dem ganzen Wesen des Einzelnen Entsprechendes, dem Individuum Adaequates, daß mir jede andere Auffassung als die einer angeborenen sozusagen psychisch konstitu- tionellen Anlage geradezu unmöglich erschien."

Auf der andern Seite stehen eine nicht unbeträcht- liche Anzahl von Gelehrten (Tarnowsky, Schrenck- Notzing, A. Hoche, A. Cramer, K. Kautzner, Sänger, Meinert, Wollenberg, Rosenbach, Siemerling u. A.), welche den entgegengesetzten Standpunkt vertreten. Sie glauben mit Bloch1): „Ein völlig heterosexueller Mensch kann in ein typisch homosexuelles Individuum umgewandelt werden." Der Verfasser dieser These bespricht eingehend über 60 verschiedene Ursachen, welche Homosexualität erzeugen. Es ist wohl kein Zufall, daß vielleicht mit Ausnahme von Schrenck-Notzing alle Autoren der Erwerbs- theorie zusammengenommen nicht soviel beobachtete Fälle aufzuweisen haben, wie ein jeder der drei obengenannten Ärzte. Auf einem Gebiete, das dem subjektiven Empfinden der meisten so fern liegt, ist es aber sicherlich von Be- deutung, ob sich ein objektives Urteil auf 1500, 150, 50 oder 5 Fälle stützt. Bloch hat viel Zustimmung gefunden; so sagt Prof. Dr. Eulenburg in der Vorrede, welche er dem Blochschen Werke widmet: „Die Lehre von dem „Angeborensein* der sexuellen Perversionen, zumal der Homosexualität, muß also fallen gelassen oder doch er- heblich eingeschränkt werden. Wir Arzte sind freilich die Letzten, um ihr eine Träne nachzuweinen ; denn wenn wir es mit erworbenen und zwar zumeist auf grund äußerer occasioneller Veranlassung erworbenen oder durch die Verhältnisse künstlich gezüchteten Übeln zu tun haben, werden wir uns weit mehr als bisher in der Lage

') Dr. J. Bloch: Zweiter Teil der Heiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualia. Dresden 1<J03. Vorwort S. XVIII.

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fühlen dürfen, ihnen kurativ und vor allem präventiv, prophylaktisch wirksam entgegenzutreten." Ein Jurist aber, Dr. jur. L. Kuhlenbeck, bespricht in der von ihm heraus- gegebenen „Juristischen Wochenschrift" ') Blochs Buch äußerst anerkennend und fügt hinzu: „Die Hauptsache ist, keine unzeitige Nachsichtigkeit zuzulassen gegenüber Bestrebungen, die das Leben an seinem Ursprung ver- giften und die bereits unter Namen wie Homosexualismus oder sexuelle Zwischenstufen literarisch mit einer Scham- losigkeit das Haupt zu erheben wagen, die selbst dem entarteten Altertum fremd gewesen zu sein scheint, ob- wohl schon der Apostel Paulus ihre Widernatürlichkeit als eine der schlimmsten Früchte der verfallenden heid- nischen Zivilisation kennzeichnen mußte." So Kuhleubeck im Jahre 1902.

Es stehen sich also zwei Ansichten mit großer Ent- schiedenheit gegenüber. Bloch sagt (Bd. I. S. 11): „Die „angeborenen" Fälle von Homosexualität existieren wohl überhaupt nicht" Wir sagen: „Nur aus dem geborenen Urning, aus dem urnischen Kinde kann sich der homo- sexuelle Mann und das homosexuelle Weib entwickeln." Bloch behauptet: (Bd. I. S. 215.): „In der großen Mehr- zahl der Fälle entspringt die gleichgeschlechtliche Liebe äußeren occasionellen Momenten, eine originäre Anlage zu derselben ist sehr unwahrscheinlich, jedenfalls sehr selten." Wrir behaupten: „Es kann sich wederein männ- liches oder weibliches Wesen in ein gleichgeschlechtlich empfindendes verwandeln, noch ist das Umgekehrte möglich." Bloch meint, die Gründe der Homosexualität liegen fast stets außerhalb, wir meinen, sie liegen aus- nahmslos innerhalb der menschlichen Organisation, sie wächst aus dem Innern des Menschen heraus.

>) Nr. 55 und 56. Berlin, 15. August 1902. Verlag W. Moeser.

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Es sollte selbstverständlich sein, muß aber nament- lich Wachenfelds *) Einteilungsversuchen gegenüber noch eigens betont werden, daß homosexuell nur jemand ist, der homosexuell empfindet, ob er sich dabei homo- sexuell betätigt oder nicht, ist vom naturwissenschaft- lichen, wenn auch nicht vom juristischen Standpunkt nebensächlich. Ein Normalsexueller, der sich homo- sexuell betätigt, ist normalsexuell, ebenso wie ein Homo- sexueller, dem es gelingt, mit dem anderen Geschlecht zu verkehren, trotzdem gleichgeschlechtlich ist8) Bei beiden handelt es sich nicht um Liebe und Geschlechts- trieb, sondern um mehr oder weniger der Onanie ver- wandte Manipulationen. Die Zahl und Bedeutung der Normalsexuellen, die nach homosexueller Art verkehren, wird vielfach sehr überschätzt. Sie gingen uns in diesen Jahrbüchern, die den sexuellen Zwischenstufen gewidmet sind, überhaupt nichts au, wenn sie nicht von den An- hängern des § 176 mit Vorliebe ins Feld geführt werden Hürden. Aus welchen Gründen tun diese etwas ihrer Natur Widersprechendes? Wir können hier drei Gruppen unterscheiden :

a) solche, die aus Eigennutz gleichgeschlechtlich verkehren : Prostituierte, Chanteure ;

b) solche, die es aus Gefälligkeit, Gutmütigkeit, Dankbarkeit, Mitleid, Freundschaft etc. tun;

c) solche, die aus Mangel andersgeschlechtlicher Personen dazu greifen, wie in Internaten, Schulen, Klöstern, Gefängnissen, Kasernen, Schiffen etc.

') Vgl. Jahrbach, IV. Band. Numa Prätorius, Widerlegung Wachenfelds.

9) Die in manchen urnischen Kreisen übliche Einteilung trifft besser den Kern der Sache, wie Wachenfelds Unterscheidung „Homosexueller" und „Kontrasexneller." Diese teilen die ihnen be- kannten Personen vielfach ein in na. s." (auch so), „m. m.u, (macht mit) und „t. u." (total unvernünftig.)

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Alle diese haben das gemeinsam, daß der homo- sexuelle Verkehr für sie nur eine vorübergehende Episode darstellt, daß sie völlig normalempfindend bleiben und, sobald ihnen Gelegenheit geboten ist, ehelich oder auch außerehelich mit dem Weibe verkehren. Betrachten wir die Mitglieder dieser drei Abteilungen noch etwas näher.

Die Gründe, welche junge Männer veranlassen, sich gewerbsmäßig den Homosexuellen für Geld hinzugeben, sind dieselben, die bei weiblichen Prostituierten in Be- tracht kommen, wie überhaupt beide Arten gewerblicher Unzucht in ihren Erscheinungen sehr viel Gemeinsames aufweisen. Auch für den Mann liegen die Ursachen, sich zu prostituieren, teils in seiner inneren Veranlagung, einer ererbten oder anerzogenen großen Willensschwäche, Hang zum Müßiggang und Wohlleben, teils in den äußeren Verhältnissen. Aus letzterem Grunde rekrutieren sich die männlichen Prostituierten in der großen Anzahl aus ärmeren Kreisen. So unglaublich es klingt, es gibt Eltern, die nicht davor zurückschrecken, ihre Söhne nament- lich wenn sie durch ein schöneres Aussehen dazu geeignet erseheinen ebenso wie ihre Töchter anzuhalten, sich diesem traurigen Beruf in die Arme zu werfen. Von einem der bekanntesten Berliner Prostituierten wird zu- verlässig berichtet und von ihm bestätigt, daß seine eigenen Eltern ihn bereits in seinem 14. Jahre in diese Laufbahn brachten. In den weitaus meisten Fällen sind jedoch die treibenden Motive die Not, demnächst schlechtes Beispiel und Verführung. Nur ausnahmsweise kommt es vor und solche Fälle können nicht scharf genug ver- urteilt werden daß ein Homosexueller einen Burschen zur Prostitution verführt, indem er ihn dem Geschäfte, in welchem er arbeitet, entzieht. Häufiger schon kommt es vor, daß ein junger Mann, welcher außer Stellung ge- raten sich vergebeus abmüht, wieder in Brot zu kommen, die Bekanntschaft eines Urnings macht, mit dem

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er gegen Entgelt intim verkehrt. Dieser gibt ihm Essen und Kleidung, behandelt ihn gut, führt ihn in bessere Kreise ein, was seiner Eitelkeit schmeichelt. Der be- queme Verdienst, der ihm, falls er selbst homosexuell veranlagt ist, noch dazu Vergnügen bereitet, das Faulenzer- leben werden ihm so sehr zur Gewohnheit, daß er nicht mehr davon lassen kann, auch wenn ihm Gelegenheit ge- boten würde, in ein ehrliches, arbeitsames Leben zu- rückzukehren. Sehr oft spielt sich der Vorgang etwa folgendermaßen ab: Ein armer, zerlumpter, hungernder und frierender Junge steht obdachlos an einer Ecke der Friedrichstraße. Bald wird er die feinen, geschminkten „Herrchen" gewahr, die Nacht für Nacht von 10 Uhr ab stundenlang die Straße auf- uud abschlendern, bis sie ein vornehmer Herr anspricht, mit dem sie erhobenen Hauptes von dannen ziehen. Er macht zuerst schüchterne, dann kühnere Versuche, es dem Vorbilde nachzutun und eines Tages glückt es ihm auch. Denn manche der vor- nehmen Herren lieben gerade diese ärmlichen Jungen mit ihren schmutzigen Kragen und Schuhen, den faden- scheinigen Röcken und zerrissenen Beinkleidern. Ist es ihnen einmal gelungen, dann halten sie ihre Position fest, es ist ihnen gar zu schlecht gegangen, als daß sie zurück- tauschen möchten. Mit den sozialen Ursachen der männ- lichen Prostitution hängt es auch zusammen, daß sich manche besonders schlecht bezahlte Berufsklassen diesem Gewerbe im Nebenberuf ergeben. So kann es als ver- bürgt gelten, daß sich in Paris unter den jungen Ange- stellten des Telegraphendienstes viele befinden, die ihr spärliches Einkommen (50 60 Frcs. monatlich) durch einen solchen Nebenverdienst aufzubessern suchen. Ahnlich ist es in London mit den Messengerboys. Ich verdanke diese und andere Mitteilungen Uber die männliche Pro- stitution einem äußerst zuverlässigen urnischen Gewährs- mann, der sich Pherander nennt. Derselbe hat die ein-

Jahrbuch V. 2

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schlägigen Verhältnisse in sehr vielen Großstädten Europas sowie Indiens einem sehr eingehenden Studium unter- zogen. Er unterscheidet heterosexuelle und homosexuelle Prostituierte. Unter den ersteren, die schon durch den Verkauf ihres Leibes trotz gegenteiliger Naturanlage ein besonders hohes Maß von Verkommenheit bekunden, finden sich naturgemäß die meisten Erpresser. Es steht außer Zweifel, daß der § 175 des R.-St.-G.-B. eine her- vorragend schlimme Seite der männlichen Prostitution, wenn nicht großgezogen, so doch gewaltig gefördert hat : Das Erpre8sertum, die Chantagc. Obwohl man nicht be- haupten kann, daß es ohne dieses Gesetz keine Erpresser mehr geben würde, denn die Länder, wo kein derartiges Verbot homosexueller Betätigung existiert, beweisen das Gegenteil, so ist doch mit Bestimmtheit anzunehmen, daß die Chantage nach Aufhebung des Strafparagraphen auf ein sehr geringes Maß herabgedrückt, ja nach Aufklärung der Massen über Ursachen und Wesen des Uranismus völlig verschwinden wird. Die zweite Kategorie der Pro- stituierten, die selbst homosexuell veranlagten, teilt Phe- rander in zwei Unterabteilungen, diejenigen, welche nicht nur mit den ihrem Geschmack entsprechenden verkehren, die also, trotzdem sie selbst junge Leute lieben, sich doch mit älteren Männern einlassen, und diejenigen, die nur ihrer Neigung folgen, beispielsweise feminine Jünglinge, die sich zu älteren hingezogen fühlen. Es ist durchaus nicht leicht zu entscheiden, welcher Kategorie die sich auf den Straßen und in Lokalen Feilbietenden angehören, sehr viele, die absolut normal sind, spielen sich auf „echt* heraus, weil dies die „Freier" unbesorgter macht. Als besonders geschickte Schauspieler gelten die „petits Je*sus* in Paris, die fast alle nicht urnisch sind. Die Menge der sich in den Straßen von Paris, namentlich auf den großen Boulevards, herumtreibenden Prostituierten ist verhältnis- mäßig nicht so groß wie in Berlin. Pherander zählte auf

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den Boulevards des Italiens und Montmartre während der besten „Geschäftszeit" 20 30 käufliche "Männer, während er zu derselben Zeit in dem belebtesten Teil der Berliner Friedrichstraße 50 60 beobachtete. Übrigens stellen die Prostituierten keineswegs das Hauptkontingent zu den Erpressern. Selbst die heterosexuellen unter ihnen nehmen in der Regel nicht gerade zu Erpressungen ihre Zuflucht, weil sie sich dadurch leicht ihr „Geschäft" verderben. Auch herrscht unter den männlichen Pro- stituierten ein gewisser Korpsgeist, der es verhindert, daß einzelne Mitglieder sich gar zu viel erlauben. Häufiger und gefährlicher sind diejenigen Chanteure, welche ge- legentlich einmal oft ohne daß sie selbst die Gelegen- heit suchten mit einem Homosexuellen verkehrt haben, dann sich selbst als den „unschuldig Verführten-, ihren Gegenpart als den „gemeinen Wüstling" hinstellen und ihn mit einer Anzeige oder Kompromittierung bedrohen, wenn er nicht eine bestimmte Summe zahlt. Sie kommen immer wieder, hängen sich nicht selten wie die Kletten an ihre Opfer und lassen sie oft nicht eher los, bis sie den Urning pekuniär und sozial ruiniert haben. Eine weitere Klasse wird von den ganz berufsmäßigen Chan- teuren dargestellt, die von den Prostituierten selbst sehr gefürchtet sind. Diese lauern vorsichtig ab, bis sich ein Herr mit einem der ihnen dem Aussehen nach wohl- bekannten „ Strichjungen" einläßt, folgen unbemerkt, warten, bis der Homosexuelle die Wohnung des Prostituierten wieder verläßt, und machen sich dann an das völlig ver- dutzte Opfer mit ihren Drohungen und Forderungen heran.

Je größer eine Stadt ist, umso umfangreicher ist die männliche Prostitution. In Deutschland sind Berlin, Ham- burg, München, Dresden, Leipzig, Breslau und Köln die Hauptzentren, welche aus diesem Grunde auch häufig von Urningen aus kleineren Städten oder vom Lande aufge-

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sucht werden. Mit Vorliebe werden auch von der männ- lichen, wie von der weiblichen Halbwelt Abstecher nach Orten gemacht, wo sich viele Fremde zusammenfinden. So berichtet Pherander: „In Kiel hatte sich während der sogen. Kieler Woche, wo alle möglichen Regatten abgesegelt werden, im Sommer 1902 aus Hamburg eine Reihe männlicher Prostituierter eingefunden, um auf Faii£ und auf Erpressung auszugehen. Das große Publikum hat gewiß nichts davon bemerkt, während ich selber nach wenigen Tagen ihre Anzahl, die sich auf zwölf belief, festgestellt hatte, und zwar alle in der Düsternbrocker Allee gegenüber den Anlegebänken für Marineboote." Uber Berlin schreibt unser Gewährsmann: Unter allen Großstädten Deutschlands nimmt Berlin eine Ausnahme- stellung mit Bezug auf die männliche Prostitution ein. Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß sie hier in einem solchen Grade vorkommt, wie nirgends anders, nicht nur in Deutschland, sondern Uberhaupt in Europa, vielleicht mit Ausnahme Londons, dessen diesbezügliche Verhältnisse ich nur aus Schilderungen und nicht aus persönlicher Anschauung kenne. Es gehört ein förmliches Studium dazu, auch nur annähernd aus dem Wirrwarr der verschiedensten Arten der Berliner männlichen Prosti- tution klug zu werden. Sie tritt hier so frei und offen hervor, daß sie selbst dem Unaufgeklärten auffallen muß. Reine Prostituierte, die ganz von ihrem „Beruf" leben, berechnet Pherander auf 400, die Anzahl der Halbprosti- tuierten dagegen auf 10—12,000. Unter Halbprostituierten versteht er solche, welche sich ebenfalls für ihre „Liebe" bezahlen lassen, dabei aber meist einer inneren Neigung folgen. Sie haben gewöhnlich irgend eine Beschäftigung, leben vielfach im Hause ihrer Eltern oder bei Verwandten, sind in keiner Weise angewiesen, ihren Körper zu ver- kaufen, betrachten aber die Geldgeschenke ihrer Gönner als angenehme Nebeneinnahme, um allerhand Wünsche

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zu befriedigen. Viele von ihneu soweit sie hetero- sexuell sind könnten ebensogut in unsere zweite Gruppe gerechnet werden.

Sehr bezeichnend ist das Verhältnis der männlichen Prostitution zu ihrer weiblichen Konkurrenz. Von eigent- licher Konkurrenz zwischen weiblichen und männlichen Prostituierten kann ja kaum die Rede sein, da die betref- fende Kundschaft eben grundverschieden ist. Wer Wei- bern den Vorzug gibt, wird die jungen Männer im allge- meinen unbeachtet lassen und umgekehrt „Deshalb stehen sioh die beiden Arten der Prostitution auch keineswegs feindlich gegenüber, im Gegenteil, ich habe häutig zu beob- achten die Gelegenheit gehabt", schreibt Pherander, „daß sie sich gegenseitig helfen und unterstützen, so gut sie können."

Das Alter der männlichen Prostituierten ist selten unter 16, fast nie über 25 Jahre.

Einigen bringt ihr Erwerb so viel ein, daß sie sich recht luxuriöse Wohnungen leisten können. Je teurer und eleganter sie wohnen, desto größere Ansprüche stellen sie auch an die Börse ihrer Kunden. Manche erwerben sich durch hohe Preise und Erpressungen ein kleines Vermögen, wovon sie auf ihre alten Tage leben können. Ein sehr berüchtigter und bekannter Berliner „Strichjunge* aus guter Familie, dessen Hauptgeschäft hinter ihm liegt und der den Eindruck eines vollkommenen Kava- liers macht, wohnt jetzt sehr komfortabel und fein in einem Appartement, das durch seine Ausstattung beweist, wie sehr es sein Besitzer verstanden hat, seine „Ersparnisse" gut anzuwenden. Er soll früher einen ganz enormen Einfluß auf seine Kollegen vom Fach ausgeübt haben und sein Name wird noch mit einer Art Ehrfurcht unter den Berliner Strichjungen genannt.

„Ich habe manche andere Wohnung der Prostituierten gesehen*, schreibt unser Gewährsmann, „und mich dabei

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vom Augenschein überzeugt, daß das Geschäft mehr ein- bringen muß, als man denken sollte. Es kommt häufig vor, daß sich zwei oder mehrere junge Leute zusammen- tun. Vielleicht sind sie von Liebe zu einander entbrannt oder verkehren, was sehr oft vorkommt, mit einer im Hause wohnenden weiblichen Konkurrentin. "

Allmählich kommt die Zeit heran, wo der Prostituierte dem Alter seinen Tribut zollen muß, meist viel früher, wie für die weibliche Rivalin. Alles Rasieren und .Zurecht- machen" hilft nichts mehr. Es finden sich zwar noch einige, die den vollentwickelten Mann dem Jüngling vor- ziehen, aber davon kann man nicht existieren und muß wohl oder übel einen anderen Beruf ergreifen.

Hat mau Ersparnisse gemacht, so eröffnet man ein kleines Geschäft oder eine Restanration und wird ein sogenannter ordentlicher Mensch.

Viele aber können sich nicht mehr an ein regel- mäßiges Leben gewöhnen und werfen sich schließlich ganz dem Verbrecher- oder Zuhältertum in die Arme, zu dem sie auf grund ihrer Veranlagung und ihres Milieus höchst wahrscheinlich auch ohne ihre Prosti- tuiertenjahre gekommen wären.

Eins läßt sich deutlich verfolgen. Kein hetero- sexueller Prostituierter erwirbt durch Gewohnheit gleich- geschlechtliche Triebe, ebensowenig wird ein homosexuell Veranlagter aus Übersättigung am Manne heterosexuell.

Eine zweite, nicht unbeträchtliche Gruppe von Normal- sexuellen, die vorübergehend zu homosexueller Betätigung gelangen, sind die meist jugendlichen Personen, welche den Gegenstand homosexueller Liebe bilden. Es ist zweifellos, daß, während viele Homosexuelle ebenfalls urnisch Empfindenden bei weitem den Vorzug geben und manchen es in ihrer Neigung keinen Unterschied macht, ob die Betreffenden konträr fühlen oder nicht, eine ganze

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Anzahl von Urningen ausschließlich zu normalsexuellen, kraftvollen Naturen neigen. Oft sind ihnen die Gleich- fühlenden direkt antipathisch, sie sind ihnen „zu weibisch" oder zu verwandt. „Wir sind zu gleichartige Naturen, die passen nicht für die Liebe, wohl aber für Freund- schaft" erwiderte eine berühmte urnische Schauspielerin einer Kollegin, welche ihr ihre Liebe erklärte.

Nun verkehren allerdings viele Homosexuelle mit den Jünglingen oder Männern, in die sie sich verliebt haben, überhaupt nicht geschlechtlich, sie verzehren sich zwar vor innerer Sehnsucht, aber sie haben nicht einmal den Mut, den Geliebten zu küssen. Die Angst, sich zu verraten, den Freund zu verlieren, hält sie zurück. Der Normale, tiefgerührt vou der zu allen Opfern bereiten, hingebenden Freundschaft, ahnt so wenig wie seine Um- gebung, daß es sich auf der andern Seite um eine ganz andere Empfindung, um Liebe handelt. Ich habe bei meinen Klienten mehr als einmal die qualvollen Depressions- zustände beobachtet, die ungeheuren Seelenschmerzen, welche sich einstellten, wenn der Heterosexuelle »seinem besten Freund unter strengster Diskretion zuerst seine heimliche Verlobung anvertraute.*

Bei manchen liebenden Uraniern kommt es zu sexuellen Orgasmen, ohne daß der Normale es bemerkt. Ich kenne einen allerdings sehr neurasthenischen Studenten, der seit vier Jahren ein festes Verhältnis mit einem anderen Studenten hat Letzterer kennt zwar den Zustand seines Freundes, doch gewinnt dieser es nicht über sich, trotz- dem sie zusammen wohnen, eine sexuelle Handlung vor- zunehmen. Er meint, die Poesie ihrer Freundschaft könnte darunter leiden. Dagegen hat er nicht selten Ejakulationen, wenn der Freund sich ihm auf den Schoß setzt, was bei gemeinschaftlicher Arbeit häufig vorkommt.

Durchaus nicht so rar sind auch die eigentümlichen Fälle, in denen sehr feminine Uranier meist Gynäko-

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mästen mit Normalsexuellen verkehren, ohne daß die Betreffenden wissen, daß ihr Partner „ein Mann* ist. Ein ungemein weiblich aussehender Opernsänger berichtet folgendes : Er geht als elegante Dame an einem Sonntag Abend spazieren. In einem Parke verfolgt er einen Unteroffizier mit Liebesblicken. Daß sie Unteroffiziere lieben, ist für gewisse Feminine charakteristisch. Gemeine Soldaten pflegen dieser Spezies „zu jung*, Offiziere „zu fein geschniegelt" zu sein. Der Unteroffizier reagiert, er reicht der Dame den Arm, welche vorschlägt, in einem Restaurant zu Abend zu essen, doch nur unter der Be- dingung, daß sie bezahlen darf. Der Soldat nimmt an. Sie verleben einige vergnügte Stunden und schließlich fährt er mit ihr in ihre elegante Wohnung. Im dunklen Schlafzimmer legt der Sänger sein weibliches Nacht- gewand an und der Unteroffizier kehrt am frühen Morgen in die Kaserne zurück, ohne daß ihm auch nur im ent- ferntesten äer Gedanke gekommen ist die Schilderung der Details möge man uns erlassen daß er wenn auch imbewußt etwas Ungesetzliches verübt hat.

Wir kommen nun zu den Verhältnissen Homosexueller mit Normalen, in denen es zu sexuellen Akten kommt, meist mutueller Onanie, also einer nicht strafbaren Tat. Meist pflegt sich der Urning, wenn es sich nicht um ganz flüchtige Beziehungen handelt, des von ihm Geliebten mit großer Treue anzunehmen, er fordert und unterstützt ihn, hält ihn in beiderseitigem Interesse von der Automastur- bation zurück, steht ihm in jeder Beziehung zur Seite, läßt ihn oft ausbilden und sorgt häufig auch noch für seine Angehörigen. Solche Fälle sind ungemein häufig. Gewöhnlich pflegt der Nutzen größer zu sein, wie ein etwaiger Schaden, den der Urning zufügt. Die Normalen empfinden diese Episode später durchaus nicht als unan- genehme Erinnerung, was sie allerdings nicht hindert, auf die Päderasten zu schimpfen, von denen sie sich eine ganz

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andere Vorstellung machen. Ein urnischer Leutnant schrieb uns vor einiger Zeit: „Warum bekümmert man sich denn immer um den Schw .... stall des dritten Geschlechts, man betrete endlich auch unsere gute Stube, man wird staunen, welche Schätze dort herumstehen." Häufig enden die zuletzt geschilderten Verhältnisse mit der Verlobung des Normalen. Der Urning fungiert meist als Trauzeuge oder Ehrengast bei der Hochzeit, bleibt der Freund der Familie, wird Taufpate der Kinder, von denen eins oft seinen Namen erhält, und ist in Notfällen bei der Hand. Die Freundschaft des Normalen hält sehr oft länger vor, wie die Liebe des Urnings. Eine urnische Frau liebte aufs zärtlichste ein gleichaltriges normales Fräulein, viele Jahre, sie war glücklich, litt aber auch sehr viel, jetzt ist sie abgekühlt, aber die Freundin schreibt ihr noch täglich und kann nicht „auf die ihr so wertvolle und liebe Verbindung verzichten". Ahnliches kommt oft vor.

Ich will als Paradigma dieser Gruppe noch die Schilderung eines Oberlehrers angeben, welche auch in anderer Hinsicht beachtenswert ist.

„Aus guter Familie stammend", so berichtet er, „sorgsam er- zogen, hielt ich die Liebe zum Weibe, nach allem, was ich hörte und las, fttr etwas ganz Selbstverständliches. Die Idee, daü meine sehr starke Vorliebe für besondere hübsche Schulkollegen einen erotischen Beigeschmack haben könne, ist mir nie gekommen. Auch fiel es mir nicht auf, daß es mir unmöglich war, in ihrer Gegenwart die Toilette zu benutzen. Als Sekundaner vollzog ich deu ersten C'oitus mit der einzigen Prostituierten meiner kleinen Heimatstadt, bei der fast sämtliche meiner Landsleute seit 20 Jahren fiir eine Mark den ersten Coitus vollzogen hatten. Kurze Zeit darauf suchte ein älterer Herr, von dem ich jetzt weili, dali er „auch so" ist, mich unzüchtig zu berühren ; ich versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die einzige, welche ich in meinem Leben ausgeteilt habe. Sehr bestürzt bat er mich auf den Knieen 11111 Verzeihung und Verschwiegenheit. Auf der Universität verkehrte ich alle zwei bis drei Monate mit dem Weibe, ich war immer froh, wenn ich die Sache hinter mir hatte, doch befremdete mich

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meine Gleichgültigkeit ebensowenig wie mein großes Interesse flir die hübschen Füchse unserer Korporation. Ich zog mir einen Schanker mit Bubonen zn und schwängerte ein Dienstmädchen. So verlief alles normal, bis ich mit 20 Jahren ich war bereits im Beruf einen siebzehnjährigen Jüngling kennen lernte, dessen Schönheit und wunderbares Wesen eine prachtvolle Mischung von Kraft und Anmut mich völlig gefangen nahm. Seit ich ihn sah bis heute, fast 8 Jahre, war er täglich mein erster und letzter Gedanke. Ich ging ganz in ihm auf, widmete mich seinen Interessen und sah in ihm die höchste Vollendung. Er war ein außerordentlich befähigtes, völlig normalsexuelle», recht leicht- sinnig veranlagtes Menschenkind. Es ließ sich einrichten, daß ich 7 Jahre fast täglich mit ihm zusammen war. Sexuelle Akte blieben nicht aus. Er hatte sich sehr schwer zu dem Opfer entschlossen, tat es aber schließlich doch, wie er sagte, aus Freundschaft und Erbarmen. In seinem eigenen Empfinden blieb er sich in den Jahren unseres geschlechtlichen Verkehrs stets gleich. Wiederholt geschah es, daß er sich in ein Mädchen verliebte. Ich litt un- säglich imter der Eifersucht. Dann tröstete er mich und sprach: „Wenn ich zu wähleu hätte zwischen ihr und Dir, möchte ich lieber sie verlieren. Ein Mädchen finde ich alle Tage wieder, einen Freund wie Dich niemals. Sie nimmt, Du gibst, Du löst in mir den guten Menschen aus." Eines Tages aber lernte er Eine kennen, die liebte er so rasend, wie ich ihn. Unser Verhältnis wurde unhaltbar. Mit wie furchtbaren Schmerzen ich Verzicht leistete, vermögen Worte nicht auszudrücken. Noch habe ich es nicht Uberwunden, aber ich werde es Uberwinden und Ersatz suchen in meinem Beruf und der Arbeit für das öffentliche Wohl. Zu den Enterbten des Liebesglücks kann und will ich mioh nicht rechnen, denn ich habe ja das irdische Glück genossen, gelebt und geliebt."

Wir sehen an diesem Fall zweierlei, einmal, wie bei dem Urning, trotz energischen Zurückweisens eines homo- sexuellen Angriffs, trotz normalgeschlechtlicher Betätigung vorher und nachher, der homosexuelle Trieb zum Durch- bruch kam, und anderseits, wie der Normalsexuelle trotz homosexueller Verführung völlig heterosexuell blieb. Die Richtung der sexuellen Ergänzung ist eben eine viel zu fest normierte, von der ganzen Persönlichkeit abhängige, als daß sie in ihr Gegenteil umschlagen könnte. Ich habe

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bei mehreren durchaus vertrauenerweckenden urnischen Greisen angefragt, ob je Lieblinge von ihnen, die zum Weibe inklinierten, homosexuell geworden sind, nicht ein einziger Fall ist zu meiner Kenntnis gelangt. Wir möchten diesen Abschnitt aber doch mit der Empfehlung schließen, daß Eltern, wenn sie ihren Kindern, sei es selbst, sei es durch ihre Ärzte, die in vieler Hinsicht so notwendige sexuelle Aufklärung geben, auch auf die Er- scheinung des Uranismus hinweisen, damit die Söhne und Töchter Begegnungen derart klarsehend gegenüberstehen.

Als weitere Ursache für gleichgeschlechtlichen Ver- kehr wird von vielen Autoren !) Weibermangel angegeben. Offenbar liegt auch hier nicht Homosexualität, sondern eine Abart der Onanie vor, selbst wenn, was ausnahms- weise wohl einmal vorkommt, immissio in corpus statt- hat. Wie wenig diese Personen einen solchen Notbehelf dem natürlichen Verkehr gleich setzen, zeigte mir einmal eine Antwort, die mir in einer urnischen Soldatenkneipe Berlins, die ich mir ansah, ein reicher Bauernsohn gab,

') Beispiele finden sich:

a) Aus Schalen bei Hoche, Neurologisches Zentralblatt Bd. 15 (1896) S. 66. Moll, Die konträre Sex. S. 874. Note 2 mit Mit- teilung von Dr. Bahrdt. Rohleder, Die Masturbation (1891» S. 111 u. ff., welcher u. a. hierfür Rousseau, Salzmann, Chevalier, Fournier, Blasemann, Flirbringer zitiert.

b) Aus Klöstern bei Doppet, Das Geilieln und seine Einwirkung auf den Geschlechtstrieb.

c) Aus Schiffen bei Elbs und Symonds, Das konträre Geschlechts- geflihl (1896) S. 11, Note 1.

d) Aus Gefängnissen bei Wey, zitiert bei Ellis n. Symonds S. 13.

e) Aus Kasernen. Tarnowsky, Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns (1886) S. 66. Elbs und Symonds S. 10. Note 1. Raffalovich, Entwicklung der Homosexualität (1895) S. 12.

t) Aus der französischen Fremdenlegion. Gramer, Berliner klinische Wochenschrift Bd. 34. S. 962 (1897) und Gerichtliche Psychiatrie S. ->H[ (1900).

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der bei den Dragonern diente. Auf nieine Interpellation, weshalb er mit Männern verkehre, erwiderte er: „Um meiner Braut treu zu bleiben/' Ich besitze namentlich aus Kadettenhäusern eine Reihe von Berichten, die bekunden, daß, trotzdem leider wechselseitige Onanie in ausgiebiger Weise geübt wird, nur ein ganz kleiner Bruchteil konträr- sexuell wird, nämlich solche, die nachweislich nicht voll- männlich, sondern urnisch sind. Ich will den von anderen veröffentlichten Beispielen einen recht lehrreichen Bericht aus einem katholischen Waisenhause hinzufügen. Ich verdanke die Mitteilung einem mir bekannten sehr zu- verlässigen Beobachter K. A., der daselbst 10 Jahre lang unter 120 Mitschülern erzogen wurde.

„Ich war 8 Jahre alt, als ich in dies«'* Institut kam. Da ich schon früher gerne mit Knaben zusammen war, hatte ich mir die ersten Tage etwas Heimweh und fühlte mich sehr bald wühl unter den 120 Knaben im Alter bis äu 14 Jahren, nur wenige waren 15 und 16 Jahre alt. Der freundschaftliche Verkehr unter diesen Knaben war ein so inniger, daß man glauben mußte, lauter Urninge vom reinsten Wasser vor sich zu haben. Fast alle von den älteren suchten sich unter den jüngeren Knaben einen Freund, den sie alsdann hegten und schützten. Dieses war für denjttugeren Teil nicht gerade unangenehm, denn unter soviel Knaben haben die kleineren gewöhnlich manchen Stoß auszuhalten, hatte er aber einen älteren zum Freunde, so durfte keiner es wagen, ihn hart anzufassen, beide Uberboten sich gegenseitig in Erweisungen von Zärtlichkeiten. Als ich selbst 9 Jahre alt war, geschah es, daß 2 ältere auf einmal um mich warben und keiner dem anderen weichen wollte. Es wurde dann durch einen Kampf unter den beiden entschieden, die anderen stellten sich herum, damit die Wärter nichts sehen sollten, und schauten zu, bis einer kampfunfähig wurde, der Sieger hatte alsdann ein öffentliches Anrecht auf mich. Dieser war mein Freund fast ein ganzes Jahr lang, bis er bei seinem 14. Jahre aus der Anstalt entlassen wurde. An seine Freundschaft erinnert mich noch heute ein ziemlich großer Buch- stabe, der Anfangsbuchstabe seines Namens, den wir uns gegen- seitig damals mit chinesischer Tusche und einer Nadel in den Oberarm tätowierten. Da dies sehr oft vorkam, besaßen einige darin eine ziemliche Fertigkeit. Ich erinnere mich noch heute,

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wie glücklich ich damals war, fUr meinen Freund diese Nadel- stiche ertragen zu dürfen. Dieser Junge war von einer solchen Liebe zu mir beseelt, daß er mir alles tat, was er an meinen Augen absehen konnte. Da er vermögend war und seine Familie in der Nähe wohnte, bekam er jede Woche einmal Besuch und wurde dann mit allem möglichen beschenkt ; hatte er diesen Be- such empfangen, so kam er gewöhnlich immer erst, wenn wir schon im Bette lagen, dann war sein erstes, an mein Bett zu kommen und seine Schätze vor mir auszubreiten, und hatte oft Mühe, ihn zu bewegen, daß er selbst auch etwas davon nahm. Er unterließ es nie, wenn wir abends zum Schlafsaal geführt wurden, einen günstigen Moment abzuwarten, mir gute Nacht zu sagen und mich zu küssen. Hatte man also einen Jungen ge- funden, der einem besonders gefiel, so warb man um ihn, man verfolgte ihn auf Schritt und Tritt und suchte überall sich ihm angenehm zu machen, man machte ihm Geschenke oder bat einen Kameraden, den Vermittler zu spielen. Ein eigenartiges Mittel wandte einmal ein Junge mir gegenüber an, den ich übrigens auch schon lange im Stillen gern hatte, der aber so hübsch war, dali ich eine Erwiderung für ausgeschlossen hielt, und mich keiner Demütigung aussetzen wollte, denn einen Korb zu bekommen galt als sehr schimpflich. An einem Abend nun kam er während der Vorlesung neben mich und wir setzten zu zweien auf seine Anregung hin ein Spiel in Szene, wobei man auf die Hand des anderen einen Schlag zu versetzen sucht, der andere muß dabei sehr auf der Hut sein, da die Schläge sehr empfindlich sind, und deshalb seine Hand schnell fortziehen. Nachdem er nun an die Reihe kam, hieb er nur ganz leise und lässig zu, und als ich ihn nach dem Grunde fragte, sagte er mir, er könne mir nicht wehe tun, er hätte mich zu gerne. Ich war glücklich; wir küßten uns und erzählten uns gegenseitig, wie wir uns schon so lange gern gehabt. Solche Freunde tauschten dann mittags bei Tisch ihre Teller und ihr Besteck, weil es ihnen ein besonderes Wohlgeftihl war, aus Gegenständen zu essen, die der Freund früher benutzt hatte. Derjenige, der das Amt hatte, bei Tisch zu bedienen, mußte sich deshalb immer auf dem Laufenden erhalten und war genau unterrichtet von jedem neuen Freundschaftsverhältnisse und sorgte genau und gewissenhaft, daß jeder die Gegenstände «eines Freundes bekam, ebenso wußte er, wenn ein Verhältnis sich löste, er gab alsdann jedem sein richtiges Besteck wieder, welches aber alsdann selten von diesem wieder bonutzt wurde, die Teller zerbrach man gewöhnlich und das Besteck warf man in den

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Schmutzkasten und kaufte neue. Ebenso hatte jeder Knabe im Winter Beinen bestimmten Shawl, man trug aber stets den des Freundes, da derselbe in so enger Berührung mit dessen bloßem Halse gewesen. Das Tätowieren der Arme mit den Anfangs- buchstaben des Freundes war an der Tagesordnung, jedoch mußte man bei dem allen sehr vorsichtig sein, damit die Lehrer nichts merkten. Sahen diese von zweien eine besonders zärtliche Freundschaft, so wurde ihnen strenge verboten, weiter miteinander ssu verkehren, doch tat man es alsdann um so lieber, und bekam man Strafe, so war man glücklich, für den anderen leiden zu können. Hatte einer einen Streich gespielt, so geschah es oft, dall der Freund die Tat auf sich nahm, der andere dies aber nicht litt und der Lehrer alsdann 2 Missetäter vor sieh stehen sah und nicht wußte, wer der eigentliche war. Bekam der Freund Prügel, so ging das dem andern so nahe, daß er mit weinte. Diese kleinen Einzelheiten zeigen, wie der Freund einem alles war, welche Innigkeit in dieser Freundschaft lag. Daß dabei der ge- schlechüiche Verkehr nicht ausblieb, ist selbstverständlich. Ich war 9 Jahre alt, als ich die Onanie kennen lernte, manche noch jünger. Besonders bot der Winter zum geschlechtlichen Verkehr viel Gelegenheit, man ging abends unter dem Vorgeben, austreten zu müssen, hinaus, der Freund folgte einige Minuten später und draußen war man dann ungestört, wenn dies auch hauptsächlich geschah, um sich küssen und umarmen zu können, in der Er- regung blieb dann das andere nicht aus. Dann fand der Verkehr auch viel nachts in den Betten statt. Natürlich mußte auch vor den übrigen Knaben dies verheimlicht werden, da ja leicht hätte ein Verräter darunter sein können. Ich glaube bestimmt, daß dabei nur Onanie getrieben wurde. Kam ein neuer in die Anstalt, so wurde sofort darauf geachtet, ob er hübsch war, und dauerte es auch nicht lange und der oder jener hatte sich mit ihm ange- freundet, wobei es oft nicht ohne heftige Eifersuchtsszenen ab- ging. Es würde zu weit führen, noch mehr Einzelheiten anzu- geben. Man findet ja in allen Instituten, daß die Knaben ge- schlechtlich miteinander verkehren, aber wohl selten so allgemein. Diese leidenschaftliche Liebe, so aufopfernd und hingebend, wo man glaubte, alles sei tot für einen, wenns dem Freunde einfiel zu schmollen, und man toll eifersüchtig sein konnte, wenn man einen anderen bevorzugt glaubte, müßte auf das junge Knaben- gemttt verhängnisvoll wirken ; wenn man von einem Anerziehen der Homosexualität sprechen könnte, so müßte sich dies hier doch bewahrheiten, besonders da die meisten wenigstens 3 bis 4 Jahre,

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einige bis zu 8 Jahren in der Anstalt verblieben und so lange diesem Einflüsse ausgesetzt waren. Wie mir genau bekannt ist, verkehren alle meine Mitschüler jetzt sehr rege mit dem Weibe. Ich selbst interessierte mich schon vor meinem 8. Lebensjahre, also bevor ich in dieses Institut kam, Mir Männer, sogar geschlechtlich, und bin daher auch nachher nicht anders geworden. Besonders will ich 2 Knaben erwähnen, der eine war 16, er kam als einjähriges Kind dorthin, der andere 9 Jahre in der Anstalt, beide haben damals sehr stark flir den Freund gefühlt und sehr viel mit ihm geschlechtlich verkehrt und fühlen heute nur für das Weib. Daß grade diese Anstalt einen so starken Freundschaftsverkehr aufwies, führe ich darauf zurück, daü die Knaben außer der Schulzeit und den Stunden, die nicht durch Gebet, es wurde viel gebetet, ausgefüllt waren, zuviel auf sich selbst angewiesen waren. Die Anstalt war streng katholisch und glaubte man durch vieles Beten die Knaben er- ziehen zu künnen, doch wir langweilten uns nur bei dem ewigen Einerlei des Rosenkranzes und benutzten die Zeit, geschlechtlichen Gedanken nachzuhängen. Für Sport und Turnen war kein Inter- esse vorhanden, sogar im Schulstundenplan war kein Turnen an- gesetzt. Baden galt für unsittlich; man fürchtete die Kinder da- durch auf unsaubere Gedanken zu bringen. Von der Außenwelt war man vollständig getrennt. Das Haus lag vor der Stadt und war mit hohen Mauern umgeben, nur Sonntags wurde man einige Stunden ins Freie geführt. Die Bücher waren einer strengen Zensur unterworfen, es genügte schon eine kleine unschuldige Uebesgescbichte, um dieselben uns zu verbieten.

Der Verfasser dieses Berichts hat stark gegen seinen Zustand angekämpft, auch eine hypnotische Kur durch- gemacht Es ist ihm nur einmal in seinem Leben geglückt, mit dem Weibe zu verkehren und zwar in der Karnevals- zeit mit einem jungen Mädchen, das Knabenkleider trug; er schreibt darüber, „sie sah aus, wie der reizendste Junge, der Akt vollzog sich in voller Kleidung, ob es mir sonst möglich gewesen, kann ich nicht sagen."

Wir sehen hier also, daß von 120 Waisenknaben, die unter genau denselben Verhältnissen erzogen wurden und fast sämtlich stark der solitären und mutuellen Mastur- bation ergeben waren, nur ein einziger homosexuell ge-

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worden ist. Hat nun Schrenck-Notzing, der in der Er- ziehung, Schimmelbusch, der in der Onanie die Ursache der Homosexualität erblickt, Recht, oder diejenigen, welche in der angeborenen Beschaffenheit des Gehirns deu Grund dieser Erscheinung suchen?

Außer diesen drei Kategorien sind es besonders die heterosexuellen Wüstlinge und Rouos, von denen man annimmt, daß sie „aus Verlangen nach Variationen", aus „Reizhunger", Übersättigung, Raffinement schließlich auf das eigene Geschlecht verfallen. Dieser Glaube ist nicht nur im Volke weit verbreitet, er findet sich auch bei vielen Ärzten und Juristen. So beruft sich Bloch1) auf Wollenberg*), der die Homosexualität in den meisten Fällen als das Endprodukt eines lasterhaften Geschlechts- lebens betrachtet. Und Wachenfeld8) sagt: „Den Verkehr mit dem gleichen Geschlecht als einen spezifisch stärkeren Reiz sucht der Roud, der nach Durchkostung aller natür- lichen und unnatürlichen Genüsse am Weibe übersättigt ist.* Ich habe mir große Mühe gegeben, diese „Wüstlinge" ausfindig zu machen, es ist mir nicht gelungen. Unter der großen Anzahl Homosexueller, die ich beobachtete, war nicht ein vom Weibe Übersättigter, die meisten wären froh gewesen, wenn sie überhaupt nur vom Weibe hätten „kosten" können, geschweige denn, daß sie satt geworden wären. Zweifellos hätten homosexuelle Jünglinge, die eine Vorliebe für ältere Männer haben, solche Roues kennen lernen müssen. Sie stellen ihr Vorkommen ent- schieden in Abrede. Ich habe es mich auch nicht ver- drießen lassen, männliche Prostituierte und Chanteure, so- wohl homosexuelle als heterosexuelle, zu interpellieren,

') S. 235 a. a. 0.

a) Wollenberg. Über die Grenzen der strafrechtlichen Zu- rechnungsfäbigkeit bei psychischen Krankheitszuständen, im Neu- rologischen Zentralblatt 1899. No. 9.

8) A. a. 0. in Goltdammers Archiv S. 4H.

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von welchen Leuten sie lebten. Sie gaben übereinstimmend eine Antwort, die in die wissenschaftliche Sprache über- tragen lauten würde: »Ausschließlich von gleichgeschlecht- lieh Veranlagten." Es müßte nach Analogie dieser Lebe- männer doch auch einmal ein homosexueller Lebemann und es gibt deren genug aus Reizhunger auf das Weib verfallen. Es wäre dann damit vielleicht ein therapeutischer Weg gegeben. Aber es kommt nicht vor. Ich halte nach meinen Forschungen diese Wüstlingspäderasten für ebensolche Fabelwesen, wie die Hexen, von deren Aussehen, Sitten und Gewohnheiten man zur Zeit der Hexenprozesse auch so ausführliche Schilderungen zu geben wußte. Man erinnere sich nur der köstlichen Hexenszenen in Goethes Faust. In ähn- licher Weise erzählt sich das Volk auch heute noch allerlei von dem stieren Blick der warmen Brüder, ihrem ganz kleinen oder sehr langen dünnen Geschlechtsteil; wie eine Art Ungeheuer halten sie sich mit Vorliebe im Dickicht versteckt, jeden Augenblick bereit, über einen Knaben herzufallen u. dgl. Noch ein neuerer Schriftsteller1) schildert das Auge der „Anhänger der eigengeschlecht- lichen Liebe" folgendermaßen: »Sein feuchter Glanz ist erloschen; es blickt verschleiert, gläsern. Außerdem hat sich die Lidspalte fast durchweg verengt, so daß nur ein kleiner Teil des Augapfels sichtbar geblieben ist. Vor- nehmlieh der Urning im mittleren und reifen Alter leidet daran; den Greis läßt dieses Kainszeichen nicht mehr los.* Man vergleiche mit dieser Beschreibung die beigefügte Photographie eines urnischen Arbeiters. Wenn man überhaupt hier von einem Typus reden kann, so ist dieses große, träumerische Auge der genaue Gegensatz des geschilderten in viel höherem Grade als charakte- ristisch für den Urning anzusehen.

') M. BrauDschweig. Das dritte Geschlecht. Beiträge zum homosexuellen Problem. Halle a. S., Carl Marhold. 1902.

Jahrbuch V. 3

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Ist mithin diese vielgenannte Menschenklasse der vom Weibe Ubersättigten Homosexuellen empirisch nicht nachweisbar, so ist sie auch theoretisch höchst unwahr- scheinlich. Wessen Naturtrieb mit elementarer Gewalt zum Weibe neigt, kann, wenn er auch noch so wüst ge-

Th. Widdig, urnischer Arbeiter.

lebt hat, nicht plötzlich den Manu begehren. Groß1^ hat vollkommen Recht, daß ein solcher Umschlag der Ge- schmacksrichtung in das Gegenteil außer aller Logik und

') Groll: Archiv f. Ktimiiialanthropülojrk'. Hand. 1. u 2. Heft. S. 195.

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Wahrscheinlichkeit liegt. Das Variationsbedürfnis hat wohl auf die Art der Betätigung einen Einfluß, nicht aber auf die Neigung des Geschlechtstriebes an und für sich. Dieser Trugschluß dürfte auf die Annahme zurück- zuführen sein, daß der Homosexualismus dem Maso- chismus, Sadismus, Fetischismus und ähnlichen Störungen gleichzusetzen sei, mit denen er seit Krafft-Ebing so oft gemeinsam dargestellt ist. Bei letzteren handelt es sich um etwas ganz anderes, nämlich um krankhafte Hyper- trophieen normaler Triebe, nicht etwa um sexuelle Zwischen- stufen (Mischung männlicher und weiblicher Eigenschaften), wie manche Autoren in völligem Mißverständnis des von uns gewählten Titels glauben. Jeder Liebende will die Geliebte erobern, der Sadist will sie unter seine Gewalt bringen; der Liebende will ihr gefälliger Diener, der Masochist ihr Sklave, ihr „Hund" sein; der Liebende legt sich die Locken seines Mädchens ins Medaillon, der Fetischist bewahrt sich Weiberzöpfe in der Schublade auf. Selbstverständlich kann ausnahmsweise ein Homo- sexueller ebenso wie ein Heterosexueller Sadist, Masochist, Fetischist sein, vielleicht alles zugleich, aber niemals kann ein Homosexueller ein Heterosexueller sein oder umge- kehrt. Groß1) bemerkt: „Der sogenannte sexuell Über- sättigte ist aber nicht übersättigt, sondern er empfindet nur, daß von den zwei Wegen, die seiner Natur offen standen : dem heterosexuellen und dem homosexuellen der erstere für ihn nicht der richtige war und so gelangt er auf den zweiten Weg."

Der Autor fühlt hier ganz richtig heraus, daß es namentlich die psychischen Hermaphroditen oder Bi- sexuellen sind, die von vielen als Roues oder zum min- desten als Meuschen angesehen werden, die willkürlich das Weib verlassen. Ich gestehe offen, daß ich auf grund

») Archiv f. Kr.-A. S. 105.

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meines Beobachtungsmaterials noch nicht in der Lage bin, über das Vorkommen, die Häufigkeit und Bedeutung der Bisexuellen ein abschließendes Urteil zu fällen. Früher hielt ich sie für eine weit verbreitete Gruppe. Aber die gewissenhafte Exploration vieler verheirateter Urninge hat mich schwankend gemacht. Kratfl-Ebing hob, als er die psychische Hermaphrodisie als erste Stufe der angeborenen konträren Sexualempfindung beschrieb1), her- vor, daß in diesen Fällen die Neigung zum andern Ge- schlecht viel schwächer und episodischer sei, „während die homosexuale Empfindung als die primäre und zeitlich wie intensiv vorwiegende in der vita sexualis zu Tage tritt. Um hier, wie in der ganzen Frage klar zu sehen, muß man unbedingt den Geschlechts trieb von den ge- schlechtlichen Handlungen, die möglich sind, unterscheiden. Nur der natürliche Trieb ist das Ausschlaggebende. Mau glaube nur nicht* daß wer mit beiden Geschlechtern ver- kehren kann, auch beide liebe. Wer urnische Ehe- männer befragt* wird meist hören, daß sie entweder in völliger Unkenntnis ihres Zustandes heirateten oder weil sie meinten, von ihrem sie quälenden Triebe loszukommen. Betrachten wir einmal die Verhältnisse, wie sie wirklich sind. Ein junger Uranier wächst heran. Von allen Seiten hat er die Liebe zum Weibe preisen hören, sie erscheint ihm als das begehrenswerteste Ziel. Die ganze heterosexuelle Umgebung wirkt auf ihn wie eine mächtige Suggestion. Die erwachende und erstarkende Sinnlichkeit führt ihn, indem sie ihn dein allgemeinen Triebe der Kameraden folgen läßt, zu einer Art Schwärmerei für weibliche Personen. Vom Uranismus weiß er nichts; die Päderastie hält er, nach allem, was er gehört hat, für etwas Abscheuliches. Es kommt die Zeit, wo ihm „nur noch die Frau fehlt.* Mau macht ihn auf ein Mädchen

») Psych, »ex. S. 251.

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aufmerksam, die für ihn wie geschaffen ist oder er lernt eine kennen, die ihm .sympathisch" ist, gewöhnlich eine, die ihrer äußeren Erscheinung und inneren Veranlagung nach viel männliche Eigenschaften aufweist. Die Unter- scheidung von Liebe und Freundschaft ist durchaus nicht leicht; so geht er in allen Ehren die Ehe ein und voll- zieht „pflichtschuldigst11 vielleicht die Woche einmal den Geschlechtsverkehr, vielfach wie es in einem Volks- lied heißt, .nicht um der schnöden Wollust willen, um Gottes Willen zu erfüllen". Seine Ehe ist sogar harmonisch, während es ringsherum viele unglückliche Ehen gibt, in denen die Männer ihre Sinnlichkeit an fremden Frauen befriedigen. Er aber begehrt nicht nach des Nächsten Weib. So stirbt er, ohne sich seines Irr- tums bewußt geworden zu sein; denn gar viele Menschen verbringen ihr Leben in einer Art Dämmerung, automatisch folgen sie den andern, individuelle Regungen halten sie für .Schwächen," alles, selbst das komplizierte spielt sich nur in ihrem Unterbewußtsein ab. Ihre Seele funktioniert reflektorisch. Sie kommen aus einem dumpfbriitenden Zu- stand trotz aller scheinbaren Aktivität nicht heraus. Vielen aber geht doch schließlich ein Licht auf, das Oberbewußtsein hat über das Unterbewußtsein den Sieg errungen. Aber oft kommt dann die Erkenntnis zu spät. „Seit ich wissend bin, schreibt uns ein hoher Staatsbeamter, kleide ich die Freundschaft zu meiner Frau in das Ge- wand der Liebe und die Liebe zu meinen Lieblingen in das Gewand der Freundschaft, und so schreite ich mit einer Täuschung meiner Umgebung ursprünglich selbst getäuscht weiter durch das Leben."

Sehr fein hebt Krafft-Ebing !) hervor, daß es sich bei sexueller Frigidität in Wirklichkeit um psychische Hermaphrodisie handeln kann. Auf die Dauer dürften

') A. a. 0. 8. 252.

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aber doch nur mit sehr schwachem Geschlechtstrieb be- gabte Personen diesem Irrtum verfallen. Viele soge- nannte Bisexuelle müssen sich zum Coitus stark mecha- nisch erregen lassen, andere bedürfen psychischer Kunst- hilfe. Ich will zur Charakterisierung dieser Gruppe eine Auswahl von Antworten wiedergeben, welche ich von Bisexuellen über die Art ihres „normalen" Geschlechts- verkehrs erhielt. Ein verheirateter Universitätsprofessor berichtet: „Ich bin zum Coitus mit dem andern Geschlecht ohne besondere Vorstellungen und Kniffe fähig, habe keinen Widerwillen dagegen, aber auch keinen Genuß davon." Ein Fabrikant schreibt: „Hätte ich vorher die über die Homosexualität aufklärende Lektüre gekannt, ich hätte nicht das Unglück der Ehe über mich herein- gebracht Es war gewissermaßen ein Verzweiflungsakt in dem törichten Wahn, ich könnte mich doch vielleicht ändern; ich habe mich aber nur doppelt unglücklich ge- macht und leider noch dazu eine gute Frau, die ein anderes Glück verdient hätte, als einen Urniug zum Manne zu haben. Der Akt ist möglich, ich bringe es zur Ejakulation, aber ganz ohne Wonnegefühl und bin nachher sehr angegriffen. Mir bei dem mir widersprechenden Verkehr eine edle Jünglingsgestalt vorzustellen, bringe ich nicht fertig.* Ein Offizier teilt mit: „Ich habe viele Bordells besucht, und mit Erfolg, d. h. ich blamierte mich nicht. Ich sagte den Damen immer, daß sie bald wieder einen ordentlichen Lebenswandel führen sollten und sie versicherten mir noch uie einen solchen braven Herrn gesehen zu haben. Vor dem Beginn habe ich meistens gezittert, aber es galt meinen guten Ruf zu erhalten und nachher triumphierte ich wie ein Feldherr nach ge- wonnener Schlacht." Ein Dolmetscher gibt an: „Ich habe auch viel mit Weibern verkehrt, aber nur im angetrunkenen Zustand." Ein Arbeiter, der Frau und Kinder hat, gibt folgende Schilderung: „Ich führe den Beischlaf aus, aber

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mit größtem Widerwillen und fühle mich dabei zum Sterben unglücklich; am liebsten möchte ich unmittelbar darauf den Akt mit einem Manne ausführen können/4 Ein Jurist antwortet: „Ich gehe seit vielen Jahren alle zwei bis drei Wochen ins Bordell. Mit anderen Frauen als Dirnen habe ich nie verkehrt. Manche anständige Mädchen gefallen mir wohl, aber da der Mann mich doch intensiver anzieht und ich nach dem Verkehr mit dem Wreibe mich nach männlicher Umarmung sehne, nehme ich mir nicht die Mühe, mich den langen Präliminarien zu unterziehen, die nötig sind, Mädchen, die keine Dirnen sind, zu gewinnen. Sentimentale Liebe habe ich abgesehen von einer Tanzstundenschwärmerei im 17. Lebensjahre für Frauen nie empfunden, für Männer dagegen in den letzten zehn Jahren drei heftige Leidenschaften." Ein Kaufmann erwidert: «Ich kann mit Frauen den Verkehr ausüben, aber nur durch den Gedanken an den, der vor mir das Weib besessen hat." Ein junger Berliner Arbeiter erzählt: „Als ich siebzehn Jahre alt war und sich alle gleichaltrigen Kollegen Verhältnisse und Bräute an- schafften, nahm ich mir auch mein Mädchen. Da ich mir meines eigenartigen Wesens nicht bewußt war, so war es mir selbstverständlich, daß ich mir auch später als Mann eine Frau anschaffen mußte. Beim Geschlechtsakt mußte der sinnliche Keiz stets durch psychische Mittel herbei- geführt werden. Nachher war ich durch die große An- strengung sehr abgespannt und ich schwur mir, mich nie wieder auf derartiges einzulassen. Ich fühlte mich damals zu einem Verwandten sehr hingezogen. Ich als der Ältere und bei den Weibern Einflußreichere mußte für ihn immer die Mädchen beschwatzen und so haben wir oft nach einander den Akt vollführt. Die Beobachtung seines heißen Temperamentes reizte mich bis zum äußersten und war mir dann die Ausführung des Verkehrs ein leichtes." Ein anonymer Briefschreiber meldet: „Ich

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verkehre auch mit Weibern, aber nur mit einfachen Mädchen nicht über 20 Jahr; wirklich erregt hat mich nur eine Polin, die kein Korsett und kurze Haare trug und sehr jungenartig war." Ich will diese Paradigmata aus dem Leben mit den Angaben eines Patienten schließen, der mich kürzlich wegen sexueller Hyperästhesie konsul- tierte, die so stark war, daß er beim Überschreiten der Berliner Schloßbrücke angesichts der Jünglingsstatuen Erektionen bekam. Es war ein jüdischer Kaufmann von 42 Jahren. Um die potentia coeundi zu erlangen, genügte es nicht, an einen ihm sympathischen Mann zu denken, sondern er mußte von ihm sprechen, etwa so: „Erinnerst du dich an den Diener des Grafen, der Vormittag die Waren abholte ? Hat er dir gefallen ? Ein sauberer Bursche, nicht wahr? Seine Livree schien neu zu sein? Fandest du nicht, daß sie ihm etwas eng saß? Für wie alt hälst du ihn?" Nur, wenn er solche Gespräche mit seiner Frau führte, deren Absicht zu verdecken großes Geschick erforderte, gelang es ihm, zu ejakulieren und Kinder zu zeugen, deren er drei besaß. Ist das nicht wahre Widernatürlichkeit? Dieser Herr reiste etwa alle Vierteljahre einmal aus der Provinz nach Berlin, um hier mit einem Soldaten zu verkehren; er gehörte mithin zu den „periodischen Päderasten" von denen Tarnowsky1) und mit ihm Bloch2) annehmen, daß es von Geburt normal- sexuelle seien, die nur von Zeit zu Zeit einen Anfall von Homosexualität bekommen, der dem „periodischen Irrsein" gleichzusetzen sei. In Wahrheit sind es aber einfach Homosexuelle, die auch heterosexuell verkehren können. Das eine ist ihnen Natur, das andere Kunst. Als Bisexuelle können wir sie so wenig betrachten, wie etwa die ge- schilderten Heterosexuelleu, die auch im homosexuellen

') Benjamin Tarnowsky, Syphilidologe in Petersburg: Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtsinns. Berlin 1880. Seite 43. «) Bloch, a. a. 0. S. 15.

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Verkehr ejak ulier en können. Personen, die mit allen Zeichen der Verliebtheit einmal vom Weibe, ein anderes Mal vom Manne gefesselt werden das wären wirkliche Bisexuelle habe ich nicht ermitteln können. Am ehesten scheint mir noch ein annähernd gleich starkes Empfinden für beide Geschlechter bei Fetiscbisten, Masochisten und Sadisten vorzukommen. So kenne ich einen Mundfeti- schisten, der fast in gleicher Weise zu beiden Geschlechtern neigt und eine Sadistin, die feminine Männer ebenso gern peinigt, wie normale Mädchen. In solchen Fällen ist die Perversion als solche so vorherrschend, daß sie sich über ein bestimmtes Geschlecht hinwegzusetzen scheint; die Perversion hebt dann die Inversion auf. Theoretisch könnte man wohl bei den sexuellen Zwischenstufen das Auftreten der Bisexualität für naheliegend ansehen, wenn man die Vereinigung männlicher und weiblicher Eigenschaften be- rücksichtigt, die beide nach einer gewissen Ergänzung streben. Anderseits ist aber zu bedenken, daß jeder einzelne Geschlechtscharakter, zu denen doch auch schließ- lich der Geschlechtstrieb gehört, sich entweder nach männlicher oder weiblicher Richtung gestaltet, nicht nur die einfach auftretenden, sondern auch die bisymmetrischen, wie die Keimdrüsen. Daraus könnte man folgern, daß das auch für das sexuelle Triebzentrum der Fall ist. Jeden- falls halte ich einen ausgesprochenen unkomplizierten Trieb zu beiden Geschlechtern für unwahrscheinlich, doch wiederhole ich, daß ich in dieser Frage ein abschließendes Urteil noch nicht abgeben möchte.

Viele H.-S. halten sich für bisexuell, bis sie von einer „grande passion" befallen werden, an der sie den Unterschied zwischen „lieb haben" und „lieben" gewahr werden. Ich erinnere an den obengeschilderten Fall des Oberlehrers. Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie schwer die Selbsterkenntnis des urnischen Seelenzustande* ist, von dem man garnichts oder doch nur ganz Nach-

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teiliges gehört hat Selbst wenn die Erkenntnis allmählich aufdämmert, sträubt sieh bei den meisten der Verstand mit aller Kraft gegen das Gefühl. Mehr wie einmal habe ich aus körperlichen und geistigen Stigmen die Früh- diagnose der Homosexualität stellen können, bei Personen, die über ihre urnische Natur keine Ahnung hatten; spätere Tatsachen bestätigten die Richtigkeit der Diagnose. So fällt mir ein Herr ein, mit dem ich vielfach auf Gesell- schaften zusammentraf. Einmal erzählte er mir von einem uns beiden bekannten Selbstmörder und fügte ziemlich wegwerfend hinzu „er soll mit Männern geschlechtlichen Umgang gehabt haben." Ich konnte mich nicht enthalten, ihm zu erwidern: „Wissen sie wer ebenso empfindet? Sie selbst ; Ihre keusche Kameradschaftlichkeit dem Weibe gegenüber, Ihre langjährige so starke Schwärmerei für den Bildhauer X., Ihre weiblichen Charaktereigenschaften und Bewegungen, Ihre Kunstfertigkeit die berühmte Sängerin X. in Stimme und Haltung zu kopieren, sagen genug." Er wies meine Annahme in breiten Auseinander- setzungen mit großer Entschiedenheit zurück. 'Nach längerer Zeit sah ich ihn wieder, glücklich über die endlich erlangte Klarheit und innere Ruhe, die im Anschluß an meinen berechtigten Hinweis bei ihm eingetreten waren. Ist es schon schwierig, über die eigene Natur ein * richtiges Urteil zu gewinnen, so schwer, daß manche Unglückliche sich ihr ganzes Leben schuldig fühlen, ohue es zu sein, so nimmt die Schwierigkeit noch zu, wenn es sich darum handelt, die Ursachen eines von der Norm abweichenden Seelenzustandes richtig zu bewerten. Jeder Arzt weiß, wie unzuverlässig die Angaben eines Patienten über, den Grund eines körperlichen Leidens sind, wie oft für ererbte und bazilläre Krankheiten, beispielsweise tuberkulöse, ein Trauma, eine Erkältung, Anstrengung oder Aufregung als Ursache angegeben werden, während wir doch genau wissen, daß keiner dieser Anlässe eine causa

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sufficiens abgeben kann, daß die Hauptbedingung vorher da sein muß. Ist das schon auf körperlichem Gebiet möglich, wie viel mehr auf geistigem. Der Laie führt uervöse und psychische Störungen fast nie auf innere Anlage, sondern stets auf äußere Ereignisse zurück. Selbstverständlich wird daher ein geschulter und gewissen- hafter Arzt alle Angaben seiner Klienten kritisch und vergleichend würdigen müssen. Einem Arzt Leicht- gläubigkeit vorzuwerfen, wie es in der Frage der Homo- sexualität wiederholt geschehen ist, heißt ihn der Kritik- losigkeit zeihen, und das bedeutet ein arges Mißtrauensvotum in Bezug auf seine fachliche Tüchtigkeit. Ebenso arg ist es aber auch, die Homosexuellen für verlogen zu erklären. Schrenck-Notzing *) meinte, daß „die Selbstbekenntnisse der Urninge nur mit großer Reserve zu berücksichtigen" seien. Nur in einem mißt dieser Autor ihren Aussagen vollen Glauben bei, nämlich in dem, was sie über den Heilerfolg der Hypnose berichten, trotzdem es doch bekannt ist, wie oft gerade Hypnotisierte dem um sie bemühten Arzt „par complaisance" die Unwahrheit sagen. Während aber Schrenck und Gramer*) nur unbewußte Autosuggestion unter dem Einfluß diesbezüglicher Lektüre annehmen, geht Bloch 8) bedeutend weiter, er spricht von subjektiven Täuschungen und Fälschungen, die sich die Urninge in ihren Autobiographieen zu schulden kommen ließen. „Die kritiklosen Theorien eines Ulrichs," so meint Bloch, „wurden von vielen Urningen für Wahrheit genommen und auf deu eigenen Zustand übertragen." Und an einer späteren Stelle 4) fügt er hinzu „Ulrichs Schriften, die von

') A. a. O. 8. 19f>.

9) A. Cramer. Die konträre Scxuulempfindung in ihren Be- ziehungen zum § 175 des R.-Str.-(i.-B. Berliner klin. Wochenschrift 1897. N. 13. Seite 964.

') A. a. 0 S. 13.

») A. a. 0. S. 198.

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obscönen Details wimmeln, sind in den Händen aller Urninge." Wie wohl wäre Ulrichs gewesen, wenn diese Angabe auch nur durch hundert geteilt der Wahrheit entspräche. In meinen Händen befindet sich ein Brief, den Ulrichs aus Aquila am 6. Februar 1892, also drei Jahre vor seinem Tode und zirka 30 Jahre nach dem Erscheinen seiner eisten Bücher „über das Rätsel der mannmännlichen Liebe/' an einen Bekannten in Deutschland richtete. Er schildert in dem höchst interessanten aus- führlichen Schriftstück seine Lage und bemerkt dann wörtlich :

„Ihre Absicht, in anderer Weise etwas für mich zu tun, ist sehr, sehr freundlich. Gewiß, aber setzt mich in Verlegenheit, weiß nicht, was dazu sagen, wie mich dem- gegenüber verhalten. Ein gewisses Schamgefühl hält mich zurück, während ich Abonnements auf mein Blatt rück- haltlos annehmen könnte. Mein lateinisches Blatt ist eine kleine Uuterhaltungsschrift für lateinkundige Gebildete, die sich nicht auf ein bestimmtes Feld beschränkt, vor- zugsweise Prosa, doch auch kleine Poesien bringend ; er- scheint etwa alle zwei Monat einmal. In meinen Schriften habe ich wiederholt solche Gedanken ausgesprochen, wie den Ihrigen, der mich erfreut hat, daß wir einen großen unsichtbaren Bund bilden. Daß ich Heimat und Vater- land hätte verlassen müssen, ist irrig. Niemand zwang mich, Deutschland zu verlassen und jeden Augenblick könnte ich zurückkehren. Die Schriften, die Schriften sind es, die mich an den Bettelstab gebracht haben, indem sie mir nichts ein- brachten. Sie hätten längst neue Auflagen erleben müssen. Statt dessen o! Es ward mir so schwer, überhaupt nur Buchhändler für diese Werke zu finden.'*

So schreibt der Mann, dessen Schriften sich in den Händen jedes Urnings befinden sollen, freilich wird Bloch diese Angaben nicht glauben, denn Ulrichs war ja ein

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Urning. Mit großer Entschiedenheit hat bereits Krafft- Ebing den so bequemen Einwurf „er sei beschwindelt worden" zurückgewiesen ,). Neuerdings ist auch Möbius *) auf diese Beschuldigung eingegangen; er schreibt: „Die Behauptung, diese Leute lögen oder machten sich selbst etwas weiß, ist nicht haltbar, denn auch, wenn sie hie und da zutrifft, bleiben so viele unantastbare Biographien übrig, daß an der Ursprünglichkeit, der Macht und der Dauer der abnormen Gefühle nicht zu zweifeln ist" Wir möchten gegenüber dem schweren Vorwurf Blochs gegen die Homosexuellen noch hervorheben, daß die große Ubereinstimmung zahlloser Anamnesen von Urningen aller Stände, namentlich auch von urnischen Arbeitern, die nie ein Buch über den Gegenstand gelesen haben, die Wahr- haftigkeit des Gesagten über allen Zweifel erhebt) ferner, daß diese Angaben in einer sehr großen Zahl der Fälle von den Angehörigen, Vätern, Müttern und Bekannten bestätigt wurden, erst vor kurzem konsultierte mich ein protestantischer Geistlicher mit einem urnischen Sohn, der ebenfalls Theologie studierte und sagte: »Er war von Anfang an anders, wie meine 5 anderen Söhne.* Endlich rühren die Mitteilungen oft genug von Urningen her, die sich nie in ihrem Leben homosexuell betätigten, Leute von unantastbarer Integrität, für die auch nicht der mindeste Grund besteht, die Unwahrheit zu reden. Ich habe von den vielen uns zur Verfügung stehenden Selbstbiographien nur eine einzige im Anhang wiedergegeben, sie rührt von einem ganz einfachen Arbeiter her, ist nicht einmal orthographisch richtig geschrieben, aber für die Wahrheit dessen, was dieser schlichte Mann aussagt, stehe ich ein, wenn es überhaupt noch Treue und Glauben gibt Man

') In der Schrift „Uber sexuelle Perversionen" bei Urban und Schwarzenberg. 1901. Seite 130.

*) Dr. P. J. Möbius in Leipzig. Geschlecht und Entartung bei Marhold in Halle 1903. S. 30.

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lese dieses Lebensbild, wo kann da von einem Variations- bedürfnis, von Reizhunger, der leichten Beeinflußbarkeit des Geschlechtstriebes durch äußere Einwirkungen, von Suggestion, Nachahmung oder choc fortuit die Rede sein? Enthält nicht allein diese eine Biographie eine ganz furchtbare Anklage gegen die Wachenfeld und Bloch, welche in einer so wichtigen Frage vom grünen Tisch ihr Urteil fällen, ohne die, welche sie richten, gesehen, gehört, beobachtet und untersucht zu haben?

Es genügt natürlich nicht, die Lebensgeschichte der H.-S. zu durchforschen, sondern ein jahrelanges Beob- achten vieler Urninge aller Altersstufen und Stände, ihrer Lebensäußerungen und Lebeusgewohnheiten ist not- wendig, um sich über die Gesamtpersönlichkeit ein Urteil bilden zu können. Diese Aufgabe wird dadurch er- schwert, daß vielen Urningen nach Lage der Verhält- nisse durch Selbsterziehung und Gewohnheit manches zur „zweiten Natur- wird, was ihnen ursprünglich nicht zukommt. Man wird bei der psychologischen Erkenntnis nicht nur auf positive Äußerungen zu achten haben, sondern auch auf negative Züge, so ist beispielsweise bei manchen Uraniern die sexuelle Negierung des anderen Geschlechts viel vorherrschender, als die durch intensive Geistes- tätigkeit abgelenkte oder zum Schweigen gebrachte posi- tive Neigung zum gleichen Geschlecht.

Sehr wesentlich wird die Exploration und Beob- achtung unterstützt durch die Körperuntersuchung mög- lichst zahlreicher Zwischenstufen aller Art. Den Sektionen H.-S. können wir hingegen vorderhand noch keine so hohe Bedeutung beimessen, solange das sexuelle Centrum im Gehirn noch nicht ermittelt und wir über die Ge- schlechtsunterschiedc zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen noch so wenig unterrichtet sind. Der von Rüdinger gefundene und neuerdings von Waldeyer be- stätigte Satz, daß die Windungen des Stirn- und Schlaf cn-

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lappeos beim Weibe schwächer entwickelt sind, wie beim Manne stützt sich auf ein zu geringes Vergleichsmaterial, als daß er eine Grundlage für die anatomische Unter- suchung urnischer Leichen abgeben könnte, ebensowenig wie die Geschlechtsunterschiede im Kleinhirn, auf die wir später noch eingehender zurückkommen.

Wir sind mit den angegebenen Mitteln ohnedies in der Lage, sofern nur eine genügende Zahl von Einzel- beobachtungen vorliegt, ausreichende Schlüsse zu ziehen, wir werden als Endergebnis dieser Objektforschungen den sicheren Beweis erbringen können, daß der Uranismus und das gleichgeschlechtliche Empfinden d. i. die Homo- sexualität niemals durch äußere Ursachen erworben, nie anerzogen, sondern stets angeboren ist.

I. Das urnische Kind.

Für das Angeborensein einer Eigenschaft ist es in hohem Maße bezeichnend, wenn dieselbe, soweit die Er- innerung reicht, nachweisbar ist. Bereits V. Magnan, der große französische Psychiater, welcher die konträre Sexualempfindung noch zu den Geistesstörungen der Ent- arteten zählt, sagt:1) „Sie zeigt sich oft schon in früher Jugend und gerade das ist charakteristisch ; nichts spricht deutlicher für die ererbte Beschaffenheit dieser Anomalie, als ihr frühzeitiges Auftreten." Und zwei Jahre zuvor bemerkt derselbe in einer audcren Vorlesung: „Es handelt sich bei dem Zustand, den Westphal konträre Sexual- empfindung nannte und Charcot und ich als Verkehrung des geschlechtlichen Empfindens (inversion du sens genital)

') Psychiatrische Vorlesungen, 11,111. Heft übersetzt von Möbius Leipzig bei Thieme 1892 in der 11. aus dem Jahre 1887 stammenden Vorlesung Seite 2G und in der III. über geschlechtliche Ab- weichungen und Verkehrungen vom Januar 1885.

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beschrieben, um ein ab ovo krankhaftes Gefühl, denn die Störung macht sich schon in früher Jugend, zuweilen vom fünften Jahr an geltend, also bevor fehlerhafte Erziehung oder lasterhafte Gewohnheit den Menschen verderben können.* Ganz vortrefflich meint auch Schrenek-Notzing:*) „Sehr wichtig für die originäre Anlage zur konträren Sexualempfindung ist der Nachweis, daß der weibliche Typus im männlichen Kinde schon vor der Zeit der ersten sexuellen Regungen (nicht der Pubertät) charakterologisch sich entwickeln und daß aus diesem weiblichen Charakter, als eine folgerichtige Teilerscheinung, weibliches Geschlechtsgefühl entstand ohne den Zwang äußerer Verhältnisse.1* Schrenck hielt 1892, als er dies schrieb, diesen Nachweis nicht erbracht, heute scheint es mir sicher zu stehen, daß der Uranier von vornherein den Stempel seiner körperlichen und geistigen Eigentümlichkeit trägt. Seine Besonderheit ist von frühester Jugend vor- handen, während sie bei anderen beispielsweise bei Ge- schwistern trotz gleicher Erziehung und gleichem Milieu fehlt Jeder Homosexuelle erinnert sich, daß er anders geartet war, als die gewöhnlichen Knaben. Sehr oft war ihm die Tatsache, wenn auch nicht die Ursache, schon während der Schulzeit klar. Weniger von ihm selbst, umsomehr aber von den Angehörigen und Fern- stehenden wird in dieser Eigenart das Mädchenhafte er- kannt. Wir geben einige Urteile der Umgebung wieder, die in größter Mannigfaltigkeit vorliegen. Ein homo- sexueller Schriftsteller schreibt: „Das Wort: „Du wärst besser ein Mädchen geworden," habe ich unendlich oft hören müssen. Als fünfjähriger Junge nahm ich oft ein Tuch und schlug es um, sodaß es schleppte, und sagte: nun bin ich ein Mädchen; das war mein größtes Ver- gnügen! Von Knaben zog ich mich zurück, ohne aber

*) A. a. 0. S. 194. Aus dem Jahre 1882.

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damals einzusehen, daß ich anders geartet war." Ein urnischer Chemiker, der sich noch nie in seinem Leben betätigte, berichtet: „Ich war als Kind sehr artig und habe im Gegensatz zu meinen Brüdern von meinen Eltern nie Prügel bekommen. Onanie ist mir unbekannt. Die wilden Knabenspiele waren mir zuwider, ich schloß mich mit Vorliebe an Mädchen an und hatte deswegen viel Neckerei und Spott zu erdulden; das war mir sehr unangenehm, doch konnte ich nicht dagegen an. Ich liebte zu nähen, zu stricken, beim Kochen und Backen zu helfen und mich mit Bändern wie ein kleines Mädchen zu schmücken. Es ist mir jetzt immer sehr peinlich, wenn diese Jugenderinnerungen von Angehörigen ausge- kramt werden." Andere Mitteilungen von Urningen lauten: „Im Kadettenkorps hieß ich die keusche Jungfrau." „In der Schule nannte man mich allgemein Fräulein." „Als ich 13 Jahre alt war, sagte unser Hausarzt, ich sei kein Kerl, sondern ein hysterisches Frauenzimmer." „Mein Vater rief mich Wilhelmine." „In der Tanzstunde nannten mich die Damen: Willy mit den Mädchenaugen." „Schon zu Hause, wie später in der vornehmen Gesellschaft führte ich den Spitznamen: Die Baronesse." „Wenn ich einen Stein in die Luft warf, sagten die Jugendgespielen: Widdigs Jong wirft grad wie ein Mädchen" „Meine Mutter sagte oft von mir, er ist meine kleine Tochter." „Von mir und meiner ältesten Schwester hieß es stets, wir seien verwechselt worden." „Man meinte stets, meine Schwester hätte der Junge und ich das Mädel werden sollen." „Als Kind schon hieß ich Mademoiselle." „Zu Hause nannte man mich den Träumer.* „Als ich klein war kämmte man mir die Haare ins Gesicht und freute sich: der Junge sieht wie eine kleines Mädchen aus.* „Es wurde oft gesagt, er ist kein Junge." „Meine Stiefmutter meinte: er ersetzt mir mehr als eine Tochter." Urnische Damen berichten: „So lange ich denken kann, wurde ich

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boy genannt". Eine andere: „Schon als Kind trug ich mit Vorliebe Mütze und Rock meines Vaters, kletterte auf die höchsten Bäume und wurde immer Junge gerufen."

Oft nutzen die Angehörigen die Veranlagung urnischer Kinder aus. Die Väter fühlen sich zu urnischen Töchtern besonders hingezogen man denke an das der Wirk- lichkeit fein abgelauschte Verhältnis zwischen Bildhauer Kramer und seiner Tochter Michaelina in Gerhardt Haupt- manns Michael Kramer die Mütter hingegen lieben besonders ihre urnischen Söhne, welche sie gern zu allerlei häuslichen Beschäftigungen, wie Beaufsichtigung der Geschwister, verwenden. Man glaube nur nicht, daß erst durch die Erziehung diese femininen oder virilen Eigenschaften hervorgerufen werden, bei einem nicht urnischen Knaben würde die Mutter überhaupt nicht solche Verwendung- Versuchen. Auch hier noch zwei Beispiele. „Meme 'neue Mama schreibt W. v. S. ließ sich die Vorzüge meiner angeborene^ Mädcheunatur wohl gefallen, ich Verstand im Haushak IÜ1 es so gut, daß sie sich um nichts zuhämmern brauchte, ihre Toiletten lagen vollendet bereit zu jeder Gelegenheit des Tages, das Haar wurde frisiert, die Hüte auf das modernste garniert^ die Wirtschaft besorgt, Menüs bestellt und über- wacht, eigenhändig die Tafel dekoriert, und kam ich dann zu den Gästen in den Salon, hieß es zu nicht geringem Erstaunen der Anwesenden: „So jetzt ist meine Tochter fertig, nun kann der Sohn uns etwas vorsingen." Gute Alte, ich höre sie noch und habe sie so lieb, wie ich ihr aber letztes Jahr die Augen öffnete über die Tochterschaft ihres vermeintlichen Sohnes, litt und kämpfte sie sehr, leider vergeblich.* Ein junger Leutnant erzählt: „Sobald ich dem Schulzimmer entflohen war, eilte ich zu raeinen Freundinnen; ich galt überhaupt bei Bekannten und Lehrern als Musterknabe. Meine Mutter liebte es, mich zu ihren Geschäftsgängen mitzunehmen und fragte

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mich dann bei Einkäufen, wie mir dieses oder jenes gefiele. Bei jedem neuen Hut, den sich meine Mutter kaufte, wurde ich als Modell verwandt, das heißt, mir wurden die verschiedenen Damenhüte auf den Kopf gesetzt und der mich am besten kleidete, den erkor meine Mutter für sich. „Du siehst wie ein kleines Mäd- chen aus, sagte mir meine Mutter häufig bei der Hut- probe, schade, daß du kein Mädel geworden bist." Der- selbe Gewährsmann gibt noch folgende sehr bezeichnende Schilderung: „Mein Vater war Offizier und seinem Willen gemäß sollten seine drei Söhne auch Offiziere werden. Ich stand im 13. Lebensjahr, als ich zum Kadettenkorps einberufen wurde. Von meinen Vorge- setzten habe ich nur Gutes erfahren, da ich selbst ein recht braver Schüler war und zum Tadeln wenig Veran- lassung bot. An den wilden Jugendspielen beteiligte ich mich wenig und nur auf höheren Befehl, mein liebstes waren Plauderstündchen mit gleichgesinnten Kameraden, die wilden mied ich, eines Tages aber konnte ich die Erfahrung machen, daß ein solch wilder Bursche eine besondere Zuneigung zu mir faßte, mich öfters mit Kleinig- keiten beschenkte und mir half, wo er helfen konnte, dabei bemerkte er, ich besäße ein so „ätherisches Wesen", das gefiele ihm so, er behauptete, ich duftete immer nach Vanille. Im Singen war ich die Säule des Soprans, wie der Lehrer sich ausdrückte, und als in der Literatur- stunde Schillers Jungfrau von Orleans mit verteilten Rollen gelesen werden sollte, und es sich um die Be- setzung der Jeanne d'Arc handelte, da war raein Lehrer keinen Augenblick im Zweifel und übertrug dieselbe mir unter allgemeiner Akklamation der Kameraden. Von da ab behielt ich im Korps den Titel: „Jungfrau von Orleans" oder auch „Fräulein Johanna."" Die Vorliebe der normalsexuellen für den urnischen Mitschüler, dessen weibliche Grundnatur sie instinctiv herausfühlen, ist sehr

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charakteristisch ; so berichtet ein anderer Offizier, der auf einer Ritterakademie erzogen wurde, daß, als er 13 Jahre alt war, fast alle älteren Knaben in ihn verliebt waren.

Mit der Mädchenhaftigkeit hängt es auch zusammen, daß urnische Knaben oft eine sehr große Ähnlichkeit mit der Mutter haben, bei manchen wird auch die auffallende Übereinstimmung mit der Großmutter hervorgehoben. Doch ist beides durchaus nicht durchgängig der Fall, viel- mehr zeigt die Erfahrung, daß ebenso wie die männlichen und weiblichen auch die urnischen Kinder körperlich und geistig unter dem Einfluß der gemischten und latenten Vererbung stehen. Viele scheinen in der Jugend mehr der Mutter, später mehr dem Vater zu gleichen.

Von manchen Seiten, besonders von Tarnowsky, ist vorgeschlagen, Knaben, welche zu weiblichen Beschäfti- gungen neigen, recht zu verspotten, um so der Entwick- lung homosexueller Triebe vorzubeugen. Es heißt die Macht der Erziehung weit überschätzen, wenn man an- nimmt, daß eine so tief in der Persönlichkeit wurzelnde Triebkraft dadurch nennenswert beeinflußt werden könnte. Wir halten diese prophylaktische Maßnahme nicht nur für wirkungslos, sondern auch für verhängnisvoll, weil sie geeignet ist, das ohnehin schüchterne, empfindsame, zum Weinen geneigte urnische Kind noch zaghafter und scheuer zu machen. Diese Kleinen spüren es instinktiv, daß sie eigentlich weder zu den Knaben, noch zu den Mädchen gehören, ihr Selbstvertrauen leidet unter diesem Zwiespalt, sie nehmen alles tiefer und ernster wie die gleichaltrigen Kameraden. Unter den jugendlichen Selbstmördern, die sich wegen gekränkten Ehrgeizes ein Leid antun, befinden sich gewiß relativ viel urnische Knaben. Eine wohl- bedachte Erziehung sollte das psychologische Erfassen der Kindesseele zur Grundlage haben, sie sollte individuali- sieren, indem sie die vorhandenen guten Keime in die rechten Bahnen leitet, die schlechten Anlagen liebevoll

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hemmt. Statt dessen wird in völliger Unkenntnis der Kindesnatur von Eltern und Lehrern nur zu oft generali- siert. Gerade die urnische Kindesseele, welche sich schon deutlich von der Knabenseele durch eine größere Rezeptivi- tät, von der Mädchenseele durch stärkere Produktivität unterscheidet, enthält viele Keime, deren sorgsame Pflege sich außerordentlich verlohnen würde.

Die meist in hohem Maße vorhandene geistige Be- fähigung urnischer Kinder wird durch eine gewisse Unsicher- heit und Verträumtheit, oft auch durch Zerstreutheit infolge allzureger Phantasie wesentlich beeinträchtigt, doch kommen die meisten recht gut in der Schule mit, eine besondere Vorliebe besteht für schöngeistige Fächer, namentlich Literatur, für Geschichte und Geographie, Musik und Zeichen, etwas weniger für Sprachen, dagegen zeigen sich von 100 urnischen Kindern 90 ungewöhnlich schwach für Mathematik veranlagt. Merkwürdig erscheint es demgegenüber, daß von den übrig bleibenden 10°io jedoch 4 eine weit über dem Durchschnitt stehende mathe- matische Befähigung aufweisen. So schreibt ein urnischer Ingenieur: „Ich habe auf dem Fragebogen meine geistigen Fähigkeiten als m hervorragend* bezeichnet, denn ich darf ohne Uberhebung sagen, daß ich als Knabe das Durch- schnittsinaß sicherlich ganz erheblich überragte. Ich war vor allen Dingen als guter Rechner und Mathematiker bekannt und von den Kameraden war meine Hülfe bei ihren Arbeiten stark gesucht. Vokabeln lernte ich spielend leicht. Zu Hause zu arbeiten, hatte ich überhaupt nicht nötig, ich lernte alles bei der ersten Durchnahme in der Schule. Das sogenannte Präparieren und Repetieren kannte ich überhaupt nicht, ich extemporierte stets, ob es sich um lateinische, griechische, französische oder englische Klassiker handelte. In Mathematik überraschte ich meine Lehrer häufig durch rasche, elegante Lösung der Konstruktionsaufgaben und fand ein großes Vergnügen

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daran, meine Lehrer selbst gelegentlich „hineinzulegen." Den Primusplatz hatte ich bis in die oberen Klassen inne." Was die übrigen Fächer anbelangt, so besteht um die Reifezeit herum bei urnischen Knaben oft eine starke religiöse Schwärmerei, zum Turnen mangelt es oft an Muskelkraft und Mut, doch wird dieser Ausfall durch Geschicklichkeit, ästhetisches Wohlgefallen an den körper- liehen Übungen der Mitwirkenden und Eifer, es ihnen nachzutun, ausgeglichen.

Das Interesse für den Unterrichtsgegenstand steht bei vielen im engsten Zusammenhang mit der Person des Lehrers. Die Verehrung urnischer Knaben für manche Lehrer, diejenige urnischer Mädchen für bestimmte Lehrerinnen und Erzieherinnen trägt oft den Charakter hochgradiger Schwärmerei. Daneben geht neben einer Zurückhaltung vor den übrigen Mitschülern meist eine heftige Zuneigung zu einem Kameraden, dessen Gesichts- typus besonders reizt; vielfach ist derselbe aus einer anderen Klasse oder Schule. Masturbiert der urnische Junge, was häufig der Fall ist, so geschieht es ohne Phantasiegebilde oder unter Vorstellung männlicher Personen, manche haben Abneigung vor solitärer, dagegen Hang zu mutueller Onanie. Im Traum spielen lange vor dem Erwachen des eigentlichen Geschlechtstriebes hübsche Kameraden eine große Rolle. Ein Urning teilt uns mit: „Es bestanden schon sehr frühe schwärmerische, unbewußt gleichgeschlechtliche Empfindungen, eine besondere Vor- liebe hatte ich für schöne Ministranten und das schon mit 8, 9 Jahren. Ich konnte mich nicht satt an ihnen sehen, im Traume schwebten sie mir wieder und wieder vor." Die leidenschaftliche Zuneigung uruischer Kinder für Personen desselben Geschlechts ist von den kamerad- schaftlichen Verhältnissen normaler Knaben, die auch oft einen erotischen Beigeschmack haben, wesentlich ver- schieden, indem es sich bei letzteren oft nur um einen

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starken Freundschaftsenthusiasmus, oft um das instink- tive Herausfühlen des Andersgeschlechtlichen, Mädchen- haften im Urningsknaben, oder auch um rein onanistische Manipulationen handelt Ich halte die namentlich von Professor Dessoir vertretene Auffassung, daß der präpu- bische Geschlechtstrieb undifferenziert ist, nur insofern für richtig, als er nach der Reife erst klarer ins Bewußtsein tritt. Wie alle Geschlechtszeichen bereits vor ihrer Ent- faltung latent einen bestimmten Charakter tragen, so auch der Trieb. Nur so sind die vom heterosexuellen Kinde sichtlich abweichenden Ereignisse zu verstehen, die sich im Urningskinde abspielen, von denen ich noch einige recht anschauliche Belege geben will; die ersten drei Schilderungen rühren von Edelleuten, die vierte von einem Kaufmann her.

1. Als Kind lebte ich in Märchenphantasieen und bekam häufig Schelte, weil ich mir mit den Spielsachen meiner Schwester lieber zu schaffen machte, als mit Peitsche, Schaukelpferd und Zinnsoldaten. 1870 ich war 8 Jahre kam ein Wirtschafts- inspektor zu uns, der mich Willig bezauberte. Ich starrte diesen Mann bei Tische so unablässig an, daß mein Vater mich fragte, was ich an ihm habe, worauf ich erwiderte, sein rötlicher Bart gefiele mir Uber alles. Verabschiedete siob dieser Herr am Abend von meinen Eltern, lief ich ihm auf den Korridor des Hauses nach und erbettelte einen Kuß von ihm. Hatte ich einen solchen erlangt, drückte ich diesen Kuß in meine Linke, ballte diese zur Faust und nahm den Kuß so mit zu Bett, um in der Dunkelheit die Hand immer wieder zu küssen, bis ich einschlief. Sehr liebte ich es auch, den Inspektor Sonntags in seinem Zimmer zu be- suchen und, wenn er auf dem Sofa lag, mich neben ihm hinzu- strecken.

2. Ich haßte Knaben und Knabenspiele; das größte Glück war mir und meiner um 1 Jahr jüngeren Schwester unser gegenseitiges, überaus inniges Verhältnis. Wir waren beide Uber- all die Lieblinge, sie brünett, graziös und energisch, ich blond, sinnend, träumerisch, am glücklichsten waren wir ohne andere Menschen. Meine Schwester war mein alter ego, während mein 1H Jahre älterer Bruder, ein sehr schöner Mann, mein lojähriges

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reines, unschuldiges Herz furchtbar verwirrte. Ich habe ihn weit mehr seiner Schönheit, als seiner guten Eigenschaften wegen an- gebetet. Dabei wurde ich äußerlich immer schroffer gegen ihn. Mit 10 Jahren weinte ich eine ganze Nacht, als ich mich in seiner mir schaurig-süßen Gegenwart zur Ruhe habe begeben müssen. Ich empfand ein Schamgefühl, wie ich es in Vaters, Muttern und Schwester» Gegenwart nicht kannte. Ich erinnere mich genau, daß im 6. oder 7. Jahr vorübergehend meines Bruders Schönheit mir wie ein geoffenbartes Mysterium durch Mark und Bein zitterte. Klar und bewußt, natürlich als tiefstes Geheimnis zumal vor ihm, habe ich ihn vom 10. bis 15. Jahr angebetet, am höchsten stand diese Verehrung vom 10. bis 12. Jahr, als er sich verheiratete. Ich war totunglücklich, daß er uns dadurch ferner rückte und empfand es als etwas Entsetzliches, daß er, wie ich glaubte, nun seine Jungfräulichkeit einbüßte.

3. Ich bin auf dem Lande unter denkbar günstigen Verhält- nissen aufgewachsen als achtes Kind unter neun Geschwistern, von denen eine Schwester früh am Scharlach starb, zwei erlagen der Schwindsucht während ihrer Brautzeit. Erwiesenermaßen ist die Krankheit vom Bräutigam erst auf die eine, dann auf die andere übertragen worden. Dies sind die einzigen Piüle von Lungenschwindsucht, die überhaupt in unserer Familie vorge- kommen. Meine Brüder und meine übrigen Geschwister sind das Bild der Gesundheit, wie ich selber. Von Kinderkrankheiten hatte ich nur Masern und Keuchhusten, neigte aber bei den geringsten Erkältungen sehr leicht zu Jieber, was sich aber seit meinem zehnten und elften Jahre gänzlich gegeben hat.

Das Entzücken meiner Kindheit war das Puppenspiel. Mit ausschweifendster Phantasie begabt, zeichnete und schrieb ich, so gut als ich es damals vermochte, Modejournale für meine Lieb- linge. Ich erfand zum Entsetzen meiner jüngsten Schwester, meiner Spielgefährtin, die abnormsten Kostüme, ineist Schlepp- te wänder aus zarten, durchsichtigen Stoffen und Schleiern; insze- nierte Tauf- Sterbe- und Heiratszenen, ich hielt Reden, bei denen ich mich selber zu Tränen rührte.

Ich lernte sehr rasch und leicht, hatte aber ein sehlechtes Gedächtnis für Zahlen, während ich frühzeitig Liebe und Talent für lebende Sprachen entwickelte, bei deren Erlernung sich stets mein Gedächtnis als treu und fest erwies. Mit ziemlichem Wider- willen dagegen betrieb ich Griechisch und Lateinisch. Mathematik ist stets meine größte Schwäche gewesen, und bin ich darin,

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trotzdem ich seinerzeit die Abitnrientenprüfung in allen Khren bestanden, unglaublich unwissend.

Prtih hatte ich ein leidenschaftliches Verlangen selbst schrift- stellerisch tätig ku sein« Mit acht Jahren verfaßte ich ein Lust- spiel, das als Kuriosum noch bis heute in unserer Familie erhalten blieb. Ohne je einen Roman gelesen zu haben, schrieb ich etwa ein halbes Mutzend so betitelter Sachen in meinem zehnten, elften und zwölften Jahre. Ich habe einiges davon autbewahrt, und lese manchmal noch mit stiller Freude gewisse Stellen, die ich mir in absoluter Unkenntnis des sexuellen Lebens geleistet. So lasse ich denn unter anderem ein Paar Zwillinge Uber Nacht im Bett des Vaters zur Welt kommen. Am Morgen bemerkt der Entzückte die Überraschung, und beeilt sich, der ahnungslosen Mutter die Freudenbotschaft zu Uberbringen.

Da es mir verboten war, andere Sprachen, als die in der Schule gelehrten zu betreiben, so verfaßte ich heimlich eine eigens erfundene Sprache mit besonderen Buchstaben. Ich schrieb eine eigene Grammatik, in der Regeln mit den ungeheuerlichsten Aus- nahmen vorherrschend waren; ich verfaßte Übungsbücher und Lexika. Ein Resultat der Stunden der physikalischen Geographie waren eigens gezeichnete, gemalte und geschriebene Karten von unseren Buchten und inselreichen Seen, zu einer Zeit, wo ich mir das Wasser als Land und das Land als Wasser dachte. Ja ich schrieb sogar eine Geschichte der damals dort lebenden Völker und deren tragischen Untergang infolge vulkanischer Eruptionen, welche dann schließlich die heutige Gestalt der Erdoberfläche zur Folge hatten.

Üie ersten noch unbewußten Regungen des homosexuellen Lebens fallen etwa ins zehnte und elfte Jahr. Wir hatten einen Kutscher, einen schönen und kräftig gebauten Menschen mit dunkelm, langem Schnurrbart. Es machte mir stets Vergnügen, um ihn zu sein und ihn in seinen hohen Stiefeln, Lederhosen und Livreerock oder Winters in seinem russischen Schafpelz zu betrachten. Ich hatte schließlich das unwiderstehliche Verlangen, ihn zu umarmen, da das aber schwer anging, so schlich ich mich öfters, wenn ich ihn bei der Arbeit wußte, in seine Wohnung, schlüpfte in seine riesigen Stiefel, hing seinen Rock oder Pelz um mich und hatte ein Gefühl des seligsten Wohlbehagens. Ich drückte die Kleidungsstücke fest und krampfhaft an mich, und der Geruch der Lederstiefel und der ledernen Hosen, welche ich auf meinem Schoß hielt und öfters an mich drückte, verbunden mit dem Gedanken an den schönen groß gebauten Kutscher, den

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ich mir dachte, indem ich die Kleidungsstücke an meinem Körper befühlte, verursachten mir heftige Erektionen, über die ich jedes- mal, ohne mir bewußt zu sein infolge wovon sie entstanden, ent- setzt war, da ich sie für eine krankhafte Erscheinung hielt.

Eines Tages, nach reiflichem Hin- und Herdenken, wußte ich mit Hilfe meiner Kameraden, Knaben, die mit mir erzogen wurden, eine Szene ins Werk zu setzen, bei welcher der Kwtscher veran- lagt wurde, mich zu sioh emporzuheben. Diese Gelegenheit benutzte ich nun, da meine Kameraden mich ihm entreißen wollten, meine Wange an sein bärtiges Gesicht zu legen, meinen Arm um seinen Nacken zu schlingen und meine Beine fest an seinen Körper zu pressen. Ich schloß die Augen und verspürte ein Gefühl schwindelnder Wunne.

Im Sommer pflegten wir ein Haus am Strande zu beziehen. Dicht an der Veranda, zwischen Haus und Meer, führte eine Straße vorbei, auf welcher zu gewissen Stunden die Strandgen- darmen vorbei patroullierten. Ich fühlte mich sofort zu

den strammen Kerlen mit hohen Stiefeln, straffer Uniform und gebräunten Gesichtern mit flottem Schnurrbart, hingezogen. Bald konzentrierte sich all mein Denken auf sie. Abends im Bett, vor dem Einschlafen, malte ich mir die ungeheuerlichsten Szeneu aus: Es klopft ans Fenster, ich öffne neugierig, da langt plötzüch eine braune Hand, ein Arm herein, an dessen Ärmel ich die mili- tärischen Aufschläge und Knöpfe wahrnehme. Ehe ich mich umsehe, werde ioh hinausgezogen. Unter dem militärischen Mantel geborgen, an der Brust eines Mannes Hegend, den ich fest, fest umklammere, ho daß ich mein und sein Herz zusammen schlagen höre, werde ich eilenden Schrittes davongetragen. Dazu höre ich den Säbel klirren, empfinde den festen Tritt der derben Stiefel und den Ledergeruch, den sie ausströmen. In eine Hütte tief im Walde bringt mich der Gendarm, er legt mich in sein Bett, küßt mich und legt sich dann mir zur Seite, ich klammere mich

fest nn ihn und bin endlos glücklich, selig. Resultat

dieser Phantasien waren die Träume, in denen sie fortgesponnen wurden, wobei ioh zum erstenmal Pollutionen hatte, bei denen ich stets erwachte und entsetzt war über die merkwürdige Erschei- nung, die ioh für eine Krankheit hielt.

Schließlich verspürte ich ein riesiges Verlangen, diese Phan- tasien zu verwirkuchen. Abends wenn es bereits dämmerte, versteckte ich mich im Walde hinter einen Busch an der Straße auf welcher der Gendarm vorbei kommen mußte. Wie klopfte mein Herz, wenn ich seine Schritte hörte Oft ging er so nahe

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vorbei, daß ich nur meine Hand hätte auszustrecken brauchen, um «eine Füße zu berühren aber ich tat nichts dergleichen in einer Art Starrkrampf lag ich da, mit geschlossenen Augen, in der Hoffnung, er würde mich entdecken, unter seineu Mantel stecken und mit mir davon gehen wie im Traum. Da das zu meinem unendlichen Kummer nie geschah, gab ich die vergeblichen Ver- suche schließlich auf und tröstete mich in meinen Phantasien. Meinen Angehörigen teilte ich nie etwas von meinen Gedanken und Gefühlen mit nicht weil ich etwas Unrechtes zu tun glaubte, aber doch wohl, weil ich mir schon damals unwillkürlich werde bewußt gewesen sein, etwas zu empfinden, das nur mir

selber verständlich war.

Ein anderes Erlebnis Bteht lebhaft in meiner Erinnerung. Es ist ein wolkenloser, sonnig klarer Herbsttag. Das Getreide ist geschnitten und liegt in schimmernden Garben auf dein Stop- pelfelde. Das Laub der Bäume in den Alleen und Gärten schim- mert gelblich, rötlich, und in der Ferne, vom dunkelsten Grün bis in die hellsten Schattierungen des Blau, dem Himmel gleich, »ich verlierend, die endlosen Wälder meiner Heimat. Wir Jungens sind auf der Jagd nach Feldmäusen, die wir unter den Getreide- haufen hervorscheuchen. Da ein heller, schallender Ton, der mich aufhorchen macht und in der Richtung, wo er herkommt, da blitzt und glitzert es. Die Musik wird lauter und das Blitzen und Funkeln, das auf der Landstraße näher und näher kommt, ist ein Trupp Soldaten mit blinkenden Säbeln und Flinten. Jetzt biegen sie von der Straße ab und marschieren über die Wiese, die sich längst dem Felde hinzieht, auf dem wir uns befinden. Den Soldaten voran marschiert ein Offizier, der erste, den ich in meinem Leben gesehen. Er ist groß und kräftig, mit blon- dem Schnurrbart und blauen, froh leuchtenden Augen. Jede

Bewegung an ihm ist Kraft und Leben und Freude mir ist,

als wäre er die lustige Militärmusik, die ich hörte, als wäre er der klare wolkenlose Himmel und die reine, köstliche Herbstluft, die mich umgab. Es überkommt mich ein Gefühl großer endloser Freude, ein Gefühl edler Taten- und Schaffensfreudigkeit und zugleich eines schrecklichen, mich erstickenden Sehnens, so daß ich unwillkürlich die Hände emporstrecke und dann zu weinen beginne mir selber nicht bewußt warum. Die anderen Knaben waren den davonmarschierenden Soldaten nachgelaufeu, so war ich unbeachtet geblieben. Zu Hause angekommen, erfuhr ich, daß der Offizier unser Gast war. Aus welcher Veranlassung damals sich dvr kleine Trupp Soldaten in unsere welteutlegene Wald-

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einsamkeit verirrt hatte, vermag ich heute nicht zu sagen.

Im Vorhause entdeckte ich den Säbel und Mantel des Offiziers. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Säbel zu befühlen, und meinen Kopf in den Mantel zu stecken, wobei mir, mit den peinlichsten Erektionen verbunden, deutlich die Szene auf dem Felde vor Augen stand. Bei Tisch, wo ich kaum meine Augen zu erheben wagte, fesselten die strammen Heine unseres Gastes meine Aufmerksamkeit. Ich hätte diese Beine, in der kleidsamen Uniform sitzend, umarmen und drucken mögen. Beim Abschiede bängte mir der Offizier ein goldenes Kreuzchen, an einer braunseidenen Schnur, um den Hals. Ich war damals, wie wenigstens meine älteren Geschwister behaupten, ein ausnehmend hübscher Junge. Das Geschenk machte mich selig. Man stelle sich daher meinen Schmerz und meine Wut vor, wie meine streng orthodoxe, evangelisch-lutherische Mutter mir verbot das Kreuz zn tragen, weil es ein nach griechisch-katholischem Muster geformtes war, und es mir einfach fort nahm. Ich heulte, aber was half es! Noch Jahre ist der Besitz dieses Kreuzes «las höchste Ziel meiner Wünsche gewesen, ja ich ging sogar einmal mit dem Gedanken um, den Schreibtisch meiner Mutter zu erbrechen, um mich so in den Besitz des Heiligtums zu bringen. Aber die Jahre vergingen, und das Kreuz ist in Vergessenheit geraten.

1. Mein Vater las und studierte viel, zum Landwirt war er garnicht geeignet. Störungen liebte er garnicht. Wenn wir zu laut wurden, und dann sein Befehl „Ruhe* bis in die Kinderstube drang, wurden wir sofort vor Schreck mäuschenstill. Wir mieden die Zimmer, in welchen er sich aufhielt, tunlichst und waren ihm eigentlich stets merkwürdig fremd geblieben. Um mein Seelen- leben hat er sich nie recht bekümmert. Mein weibliches Wesen, meine mädchenhaften Eigenheiten entgingen selbstverständlich ihm ebensowenig, wie Anderen. „Der Junge ist das richtige Mädel", äußerte, er Hich zu meinem Ärger oft Fremden gegenüber. Mit Zinnsoldaten spielte ich nur, weil ich als Junge doch eigent- lich mußte. Das war der Beginn meines Urningschicksals: im Leben stets Komödie spielen zu müssen, beständig etwas Anderes vorstellen zu müssen, als man in Wirklichkeit gern möchte.

Am liebsten stellten meine Schwester und ich erwachsene Herren und Damen dar. Meiner Schwester imponierten die schwarzen Husarenoffiziere der Gurnison, die ständige Besucher unseres gastlichen Elternhauses waren und sich manchmal auf Bällen den Scherz machten, die kleine Dame zu einer Extratour zu engagieren. Sie umgürtete sich mit einer Elle als Säbel,

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stülpte einen ausrangierten, altmodischen mütterlichen Muff auf den Kopf, machte sich aus Blumendraht ein Monokel und stellte den Herrn Leutnant vor. Ich entlehnte dem Wäschekasten eine gebrauchte Kuchenschürze, die ich verkehrt umband, um die Schleppe zu markieren, hing mir Mamas alte Mantille um und setzte den Gartenhut meiner Schwester, dem ich durch einen Fliederzweig oder eine dem Gärtner entwendete Rose mehr Chic zu geben suchte, kokett auf den Hinterkopf, um vorn Raum genug ilir die „Stirnlöckchen" zu haben, und bildete mir ein, nun eine sehr schöne und vornehme Dame zu sein. „Gnädiges Fräulein haben beute wieder ganz wun-der-bare Toilette gemacht", näselte dann meine Schwester, die Hacken zusammennehmend. „Ach, Herr Leutnant, es ist nur ein ganz einfaches Kleid," flötete ich, meiner Meinung nach sehr distinguiert die Augen aufschlagend, indem ich die Kattunschleppe meiner imaginären Seidenrobe möglichst graziös aufraffte und mir mit einem grollen Klettenblatt, welches den Fächer vorzustellen hatte, Kühlung zuwehte. Als ich in der Stadt zur Schule kam, fingen meine Leidensjahre an. Ein nicht normal veranlagtes Kind sollte man nicht nach der Schablone erziehen. Für mich hätte ein einsichtsvoller Privat- lehrer ein Segen soin können. Das Gymnasium, zu dessen Zierden ich fortan zählen sollte, war für mich in den ersten Jahren wenigstens einfach eine Marter. Wenn man ein kleines, schüchternes Mädchen in eine Klasse von 40 bis 50 wilden Jungen steckt, wird es sich unter diesen sioher nicht behaglich fühlen, und es hat doch wenigstens den Vorteil voraus, gleich äußerlich als andersartig gekennzeichnet zu sein. Ich arme, scheue, länd- liche Mädchenseele im Knabenkörper, befand mich nun plötzlich inmitten eines halben Hundert derber Grollstadt jungen. Ich hatte grolle Hoffnungen auf die Schule, angenehme Lehrer und liebe Mitschüler gesetzt; ich sollte grälllich enttäuscht werden. Von all den Jungen hätte ich nicht einen zum Freunde haben mögen, ebenso hätte sich wohl ein Jeder von ihnen für meine Freund- schaft bedankt. Wir waren gar zu verschieden geartet und erzogen.

Mein Lehrer war ein Mensch, der gern durch unzarte Scherzchen Uber meine Zimperlichkeit den Hohn meiner MitschlUer, die ohnedies zu Hänseleien nur zu sehr geneigt waren, heraus- forderte. Zimperlich war ich, das steht fest, heute mull ich selbst darüber lachen. Als ein Beweis meiner übergrollen Schamhaftig- keit, die vielleicht durch meine Veranlagung bedingt wurde, sei erwähnt, dall ich es Jahre lang nicht über mich gewinnen konnte, den gemeinsamen Abort zu benutzen.

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Mit einigen meiner Mitschüler wurde ich genauer bekannt. Für einen schönen Polen, ein Bild von einem Menschen, inter- essierte ich mich Behr; er war, wenn ich es recht bedenke, meine erste Liebe. Küssen durfte ich ihn bei allen möglichen Anlässen ohne Auffälligkeit, da es ja bei den Polen sehr üblich ist. Ich machte ihm kleine Geschenke, erwies ihm, so oft es anging, Auf- merksamkeiten, um wieder geküßt zu werden; zu meinem Leid- wesen tat er es ganz leidenschaftslos. Er war jünger als ich, und meine Klassenkollegen verdachten es mir sehr, daß ich mit dem Jungen umging und sie vernachlässigte. Meine Neigung war ho groß, daß ich mir nichts daraus machte und die Unliebens- würdigkeiten, die das im Gefolge hatte, willig ertrug. Er besaß die den meisten Polen eigene oberflächliche Liebenswürdigkeit; sehr tief war seine Neigung zu mir nicht, es schmeichelte ihm, von dem Schüler der oberen Klasse bevorzugt zu sein. Ge- schlechtliche Annäherungen haben weder mit ihm, noch mit anderen Schülern stattgefunden ; ich ergab mich stillen Ergüssen. Als ich meinen Adonis nach Jahren wiedersah, hatte er viel von seiner Schönheit eingebüßt, war ein großer Mädchenjäger ge- worden und litt an einer Geschlechtskrankheit

Bemerkenswert ist noch ein Traum, der ganz homosexueller Natur war, obgleich ich damals von gleichgeschlechtlicher Liebe nicht die geringste Ahnung hatte. Dieser Traum ist für mich der untrüglichste Beweis, daß mein Urningtum angeboren ist: Einer meiner Lehrer, ein hübscher, unverheirateter Herr, war mein Ideal. Bei ihm hatten wir Geographie und Geschichte, meine Lieblings- fächer. Um ihm zu gefallen, bereitete ich mich für seine Stunden mit der größten Sorgfalt vor und blieb selten eine Frage schuldig. Von ihm träumte mir nun, und zwar so lebhaft, daß ich noch beim Aufwachen das deutliche Gefühl davon hatte, er läge bei mir im Bett. Der Traum war ungeheuer wollüstig und bewirkte eine Ejakulation. Ich mußte sehr oft daran denken, sprach aber zu Niemandem davon, weil ich mich schämte. Als ich nach dem Abiturienten-Examen bei ihm, der mir in der letzten Zeit keinen Unterricht mehr erteilt hatte, meine pflichtschuldige Visite machte, küßte er mich glückwünschend und abschiednebmend auf die Stirn. Dieser Kuß erregte mich so stark, daß ich an mich halten mußte, ihm nicht um den Hals zu fallen. Heute bedaure ich, es nicht getan zu haben; ich glaube, er hätte mir meine Dreistigkeit verziehen.

Die letzten Schuljahre waren besser als der unglückselige Beginn. Meine Zeugnisse waren befriedigend, und die Lehrer

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lobten mein musterhaftes Betragen ein Wildfang war ich ja nie gewesen. Während der letzten drei Jahre war ich sogar Primus und meine Mitschüler gestanden mir aus eigenem Antriebe eine gewisse Autorität zu. Ich konnte also sagen: „Ende gut, alles gut!" Diese Vergeltung war mir das Schicksal in Anbetracht der vielen vorherigen, ich kann wohl sagen unverdienten Qualen, die mir die Kindheit vergifteten, schuldig. Der Eindruck, den die Leiden der Knabenzeit auf mich machten, war so gewaltig, daß ich selbst jetzt noch, „im Schwabenalter" bisweilen von bangen Schulträumen heimgesucht werde; ich erwache beängstigt, um dann aufzuatmen mit dem erhebenden Bewußtsein, daß diese Kümmernisse zum Glück längst nicht mehr der Wirklichkeit angehören.

Von hohem psychologischen Interesse ist auch folgende Schilderung:

Ich habe mein Leben lang ein so zartes Schamgefühl be- sessen, wie es nur wenigen Menschen eigen zu sein pflegt. Dieses Schamgefühl äußerte sich spontan und unwillkürlich immer nur allein dem männlichen Geschlecht gegenüber. Mädchen gegen- über befliß ich mich zwar gleichfalls eines züchtigen und scham- haften Benehmens, aber ich befliß mich desselben eben, ich folgte einem Gebot der Sitte, es war nicht ein natürlicher Instinkt, von dem ich mich angetrieben fühlte. Noch erinnere ich mich lebhaft daran, wie einst, als eine Blatternepidemie ausgebrochen war, der Arzt erschien, um in der Schule zu impfen. Die Knaben mußten die Röcke ausziehen und den Herodärmel zurückschlagen. Darüber war ich nun völlig empört und ich wollte heimlich davon- schleichen. Ich gab meinen Unwillen und meine Befangenheit iu so deutlicher Weise kund, daß ich dem Lehrer auffiel. Von ihm befragt, äußerte ich, daß ich mich vor den anderen Knaben nicht mit entblößten Armen sehen lassen wollte. Es nutzte freilich nichts, ich mußte. Aber als ich an die Reihe kam, brannte das Glicht mir heiß vor Scham und das Herz pochte mir hörbar vor Aufregung. Hätte ich mit den Mädchen zusammen mich entblößen müssen, es wäre mir vollständig gleichmütig gewesen. Ich hatte nicht die leiseste Spur irgend eines Gefühls der Unlust oder der Scham in mir wahrgenommen. So aber ging ich nach beendigter Impfung gekränkt und in meinem kindlichen Gemüt aufs tiefste verletzt von dannen. Ich hätte um alles in der Welt niemals mit anderen Knaben zusammen gebadet oder mich auch nur mit offenem Hemd vor ihnen gezeigt. Ich hatte deshalb viel von

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meinen Kameraden zu leiden und wurde oft bis zur Unerträgliohkeit geneckt. Auch am Gymnasium ging es mir nicht viel besser. Als einst der Religionslehrer vom heiligen Aloysius erzählte und erwähnte, daU dieser es nicht einmal Uber sich gebracht habe, barfnll vor irgend jemand sich sehen zu lassen, da ging ein kicherndes Gemurmel durch die ganze Klasse, aus dem deutlich mein Name herauszuhören war, und von den verschiedensten Seiten richteten sich die Blicke auf mich. Am Schluß der Stunde traten einige besonders übermütige Jungen an mich heran und apostrophierten mich: „Heiliger Aloysius, bitt für uns!" Als einst in die Wand zwischen dem Abort unserer Klasse und dem eines anderen Kursen der Unterhaltung wegen ein Loch gebohrt worden war, wagte ich zwar nicht Anzeige zu erstatten, da ich dabei verlacht zu werden fürchtete, aber ich nahm nun stets, was flu- ein Bedürfnis ich auch zu befriedigen haben mochte, ein Blatt Papier und eine Stecknadel mit mir, so lange, bis das Loch vom Schuldiener bemerkt und Abhilfe geschaffen worden war. Als ich zum ersten Mal ich war etwa 16 Jahre alt von deu Sitten und Gebräuchen der Kaserne erzählen hörte, war ich darüber so entrüstet, daU mich ein völliger Hali gegen den ganzen Militarismus erfaüte. Ich erblickte in ihm eine Negation meiner Natur und meines Empfindens, einen Hohn auf meine Gefühle. Und ich bin seither dem Militarismus nie wieder hold geworden. Der Tag, an dem ich mich selber stellen inulite ich war nur einmal dazu genötigt ist mir einer der qualvollsten meines Lebens gewesen. Dagegen empfinde ich, wie gesagt, dem weiblichen Geschlecht gegenüber nichts, was Über ein bloües Anstandsgefühl hinausginge. Ein eigentüohes Schamgefühl dem Weib gegenüber kenne ich nicht. Es ist mir vollkommen fremd.

Diese lebenswahren Schilderungen, herausgegriffen aus einer größeren Anzahl ähnlicher, gewähren einen höchst wertvollen Einblick in die Psychologie der urnischen Kindesseele.

In der Reifezeit zeigen sich bei urnischen Knaben und Mädchen allerlei von der Norm abweichende Er- scheinungen. Der Stimmwechsel tritt oft überhaupt nicht ein, manchmal erstreckt er sicli über eine lange Zeit, nicht selten macht er sich verhältnismäßig spät mit 19 oder 20 Jahren bemerkbar; sehr viele haben nach der Mutation

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noch die Neigung, Sopran oder Fistelstimme zu singen, andere, die nicht mutiert haben, sind imstande, durch methodische Übungen ihr Organ wesentlich zu vertiefen. So berichtet W. v. S., ein ganz hervorragender Baryton- sänger (mit Tenorqualitäten), dessen Bild in Herren und Damentracht wir beifügen1): „Meine Stimme hat nie einen merklichen Umschlag oder Übergang gehabt, mit 23 Jahren konnte ich Sopran singen, und kann es noch heute (30 J.), tiefere Sprech- und Singtöne habe ich erst durch Schule und Übung erlangt." Während die Ver- größerung der Stimmbänder ausblieb, vergrößerten sich während der Reife um so mehr die Brüste, die noch jetzt, wie ich mich durch Inspektion und Palpation überzeugte, einen vollkommen weiblichen Charakter tragen. Oft werden junge Urninge wegen ihrer hohen hellen Stimme geneckt, so schreibt ein urnischer Arbeiter: „Meine Stimme ist nicht gebrochen, man nannte mich in Arbeiter- kreisen mit 19 Jahren wegen meiner hellen Stimme: „Gretchen." Bei vielen bleibt die Stimme ohne männ- liche Kraft. Urnische Mädchen bekommen zur Zeit der Pubertät oft eine tiefere Stimmlage. Ich kenne einen derartigen Fall, wo ein Spezialarzt für Halskrankheiten, weil er Kehlkopfkatarrh annahm, mehrere Monate pinselte. Eine urnische, jetzt 25 jährige Journalistin berichtet : „In der Reifezeit trat der Adamsapfel stärker bei mir hervor. Ich bekam eine Singstimme, die sich nur bis zum c zwischen der dritten und vierten Linie erstreckt, dagegen das tiefe c des Basses umfaßt. Ich pflege Lieder und anderes stets in der tieferen Oktave des. Soprans, also im Tenor zu singen. Man sagt allgemein, ich hätte auch einen Tenorklang." Der Bartwuchs stellt sich bei urni- schen Jünglingen oft sehr spät, oft auch recht spärlich und ungleich ein. Dagegen ist ein hie und da mit

') Siehe Tafel 1 in Anlage.

Jahrbuch V. 5

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Schmerzhaftigkeit verknüpftes Anschwellen der Brüste zur Reifezeit ein bei urnischen Knaben durchaus nicht seltenes Vorkommen, während hingegen urnische Mädchen recht häufig sehr mangelhafte Brustentwickelung darbieten. Bei urnischen Knaben scheint mir endlich nicht selten ein besonders üppiger an das Weib erinnernder Wuchs des Haupthaares vorzukommen, hingegen weist die Körper- behaarung urnischer Knaben oft feminine, die urnischer Mädchen oft virile Anklänge auf. Von pathologischen Störungen findet man bei urnischen Söhnen verhältnis- mäßig häufig Migräne und Chlorose, zwei Krankheiten, von denen sonst mit Vorliebe das weibliche Geschlecht heimgesucht wird.

Sind diese letztgenannten Zeichen auch durchaus nicht in jedem Fall nachweisbar, und läßt sich aus ihnen auch nicht mit unbedingter Sicherheit auf homosexuelles Empfinden schließen, so wird die Diagnose im Verein mit den vorher geschilderten psychischen Symptomen doch eine völlig sichere.

Ich habe wiederholt bei 10 bis 14jährigen Kindern die Diagnose Uranismus gestellt So konsultierte mich eine Mutter mit einem 12jährigen Knaben, der an Migräne litt, sehr schreckhaft war und viel weinte. Er wurde von seinen Mitschülern, an deren Treiben er sich nicht beteiligte, viel gehänselt, war am liebsten mit einer Cousine zusammen und besaß einen Freund, den er in der Sommerfrische kennen gelernt hatte, mit welchem er täglich korrespondierte. Er liebte besonders Blumen und Musik, dagegen konnte er Mathematik nicht kapieren.* Die Untersuchung des bei großer Liebenswürdigkeit außer- ordentlich schamhaften Knaben ergab einen noch völlig unentwickelten Genitalapparat, der Penis glich dem eines 4jährigen Kindes, dagegen zeigte sich eine Beschaffenheit der Mammae wie bei Mädchen im Beginn der Pubertät. Ich stellte die Diagnose auf Uranismus und klärte die

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Kitern entsprechend auf. In diesem und 2 ähnlichen Fällen ist die Zeit noch zu kurz, sodaß eine postpubische Bestätigung ermangelt. Dagegen habe ich bei einem jetzt 18jährigen ausgesprochen homosexuellen Photographen bereits vor 4 Jahren, ehe derselbe entwickelt war, Uranismus diagnosti eieren können. Noch eine weitere Beobachtung gehört hierher. Ich erinnerte mich aus meiner Gymnasialzeit an einen Knaben, der von den Mitschülern Mieze" genannt wurde. Neben anderen femininen Eigenschaften besaß er eine besondere Kunst- fertigkeit im Kochen und der Verwendung von Flicken, die er Papierpuppen sehr geschickt aufnähte. Er war der vorjüngste von sieben Geschwistern, meistens Knaben, die alle dieselbe strenge Erziehung genossen. Der Vater wurde, als der Sohn in Quarta war, versetzt und so war mir dieser Mitschüler völlig entschwunden. Bei meinen Zwischenstufen-Studien fiel er mir ein und ich forschte nach mehr als 20 Jahren, was aus ihm geworden sei. Ich erfuhr, daß er Damenhutmacher sei, ledig geblieben war und seit Jahren ein anscheinend sehr ideales Verhältnis mit einem von ihm überaus verehrten Freunde hatte, auch lagen andere Anzeichen vor, die über seine Geschlechtszugehörigkeit keinen Zweifel ließen. Aus dem urnischeu Kinde war ein homosexueller Mann geworden mit derselben Naturnotwendigkeit, mit der sich aus dem Normalkinde ein heterosexueller Mensch entwickelt.

IL Das Hartnonische der urnischen Persönlichkeit.

Es spricht ganz außerordentlich für das Angeborensein einer Eigenschaft, wenn diese mit der ganzen Persönlich- keit aufs innigste verknüpft ist, mit ihr in völligster Übereinstimmung steht, sozusagen aus der Tiefe der ganzen Individualität emporsteigend mit elementarer Ge-

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walt hervorbricht. Das ist bei der Homosexualität in höchstem Grade der Fall. Wären die gleichgeschlechtlich Empfindenden körperlich und seelisch in Nichts vom weib- liebenden Mann unterschieden, wären sie dieselben kraft- voll erobernden, selbstbewußt berechnenden, mutig wollen- den Menschen, wären die homosexuellen Frauen die gefühl- und stimmungsvollen, anschmiegenden, zurück- haltenden, von Kindessehnsucht und Mutterliebe erfüllten Wesen, die Gegner hätten Recht: diese Menschen, die zu einer Wiederholung ihrer selbst Neigung verspürten, böten etwas Disharmonisches, Monströses dar. Es gereicht der Menschheit zur Ehre, daU ihr so kraÜe Inkonsequenzen nicht eigen sind, der Mann, der Männer liebt, die Frau, welche Frauen begehrt, sind nicht Männer und Frauen im landläufigen Sinn, sondern ein anderes, ein eigenes, ein drittes Geschlecht. Naturgesetze werden durch mangelndes Naturverständnis nicht Naturwidrigkeiteu, eine Erscheinung, deren Sinn wir nicht erfassen, ist darum noch nicht sinnlos, so wenig etwas, dessen Zweck uns nicht klar, zwecklos ist. Bei der Beurteilung eines Naturrätsels dürfen wir uns freilich nicht an Teile halten, sondern müssen das Ganze zu ergründen suchen, ein körperlicher Teil kann irreleiten, das psychische, dessen Bedeutung in unserer materialistischen Zeit so sehr unterschätzt wurde, bringt uns dem Ding an sich schon näher. Martials Pentameter, „pars est unapatris, caetera matris habet/ nur ein Teil ist männlich, alles übrige weiblich, paßt auch noch heute auf sehr viele Menschen. Wenn man auch diesen Teil als den Geschlechts teil xat f'iox^v bezeichnet, so bleibt er doch immer nur ein Teil. Die Auffassung mancher Gelehrter über die Geschlechtszugehörigkeit einer Person erinnert lebhaft an den Vorschlag, den ich als Sachverständiger vor Gericht wiederholt von Laien hörte, man möchte doch den Menschen, die sich gegen § 175 vergingen, den Penis abschneiden, dann würden sie ja

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ganz brauchbare Bürger sein. Ich erwiderte einmal, man täte dann besser, ihnen den Kopf abzuschneiden, denn dieser, nicht das membrum, sei der Teil, „mit dem sie sündigten.* Tiefer in den Kern der Sache drang schon eine Antwort, die ich bei einer andern Gerichtsverhandlung hörte, zu der ich als Gutachter zugezogen war. Als der Vorsitzende die Zeuginnen fragte, was sie denn von «lern Angeklagten gedacht hätten, der beschuldigt war, Männer belästigt zu haben, welche mit ihnen im Dunkel des Tier- gartens den Koitus vollzogen, entgegnete eine der Pro- stituierten unter großer Heiterkeit des Gerichtshofes: „Wir glaubten, es sei ein Weib iu Männergestalt.* Jeden- falls können die primären Geschlechtscharaktere allein nicht den Ausschlag geben, das Zentrum ist so wichtig, wie die Peripherie; da es mehr als zwei Geschlechter gibt, ist die innere Empfindung, nicht allein die äußere Erscheinung das Entscheidende.

Die Äußerungen dieser inneren Empfindung be- schränken sich allerdings keineswegs auf rein geschlecht- liche Handlungen. Die Sexualpsyche im weiteren Sinn beherrscht mehr oder weniger unbewußt die ganze Lebens- führung und Geschmacksrichtung einer Person. In einem auch nicht im entferntesten geahnten Umfange senden die Schicksale und Werke der Menschen ihre geheimnis- volle Hauptaxe in das Geschlechtszentrum hinein. Würden wir bei der Beurteilung und Abschätzung eines Menschen seiner Sexualpsyche mehr Berücksichtigung zu Teil werden lassen, wir würden die Gestalten und Geschehnisse der Weltgeschichte ganz anders zu verstehen im Stande sein, wie es bisher der Fall ist. Mit Recht sagt Nietzsche: „Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seiues Geistes hinauf" und der Dichter Przybvszewski hebt seine Totenmesse (1893) mit den gewichtigen \Yrorten an: „Am Anfang war das Geschlecht, nichts außer ihm, alles in ihm."

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Deshalb ist es auch für das Verständnis hoher und führender Menschen von so unschätzbarem Wert, ihre Sexualpsyche richtig zu erfassen. Man meine doch nicht,

ich bemerke das besonders gegenüber Fuld daß, wenn wir in diesen Jahrbüchern große Geister sexual- psychologisch analysieren, damit zwecklose Indiskretionen begangen werden; so fern es uns liegt, wenn von Bismarcks männlicher Kraft, von der Weiblichkeit der Königin Louise die Rede ist, an heterosexuelle Handlungen zu denken, ja so abstoßend der bloße Gedanke daran ist, genau so niedrig sollte es sein, homosexuelle Akte im Auge zu haben, wenn von Michelangelos oder des großen Friedrich Urningtum gesprochen wird. Der Betätigung

das kann nicht oft genug wiederholt werden ist nur ein ganz untergeordneter, höchstens symptomatischer Wert beizumessen gegenüber der Gesamtheit der psychi- schen Sexualität.

Wenn wir im folgenden von der Urningspsyche eine Schilderung entwerfen wollen, so sind wir uns voll be- wußt, nur ein Schema geben zu können. Denn ist es schon schwierig, das Charakteristische der männlichen und weiblichen Seele klar zu fassen, das individuelle von dem gemeinsamen, das nebensächliche vom wichtigen zu trennen und zu unterscheiden, was vom Geschlecht, was vom Alter abhängig ist, was Natur, was Kunst bewirkte, so erhöhen sich diese Schwierigkeiten ganz ungemein bei dem Urning, wo der innere und äußere Zwang ein un- gleich größerer ist. Die meisten bemühen sich, wesent- liches in ihrer Natur zu unterdrücken, anders zu erschei- nen, als sie sind; viele sind stolz darauf, wenn sie ihre männliche oder weibliche Rolle so gut spielen, daß „ihnen keiner etwas anmerkt."

Es kommt hinzu, daß die Typen Mann Urning Urninde— Weib nicht fest normiert einander gegenüber- stehen, sondern daß es naturgemäß zwischen diesen auch

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wiederum t Hergänge gibt. Die weiblichen Rudimente, die in jedes Mannes Geist und Körper nachweisbar sind, tinden sich in geringerem und höheren Grade, bis ihre Summe so stark ist, daß für den Geschlechtstrieb nicht mehr in dem Weibe, sondern in dem Jüngling die Er- gänzung empfunden wird. Das ist die Grenze, von wo ab wir den Mann als Urning bezeichnen, in dem auch die männlichen und weiblichen Eigenschaften verschieden stark auftreten, bis sie ganz allmählich, in fast lücken- loser Linie über das urnische Weib, die mehr oder weni- ger männliche Frau zum Vollweibe führen. Würden wir also Mann Urning— Weib als drei Geschlechter scharf getrennt und umgrenzt gegenüberstellen, so verfielen wir in den früheren Fehler. Wie von Mann und Weib können wir auch vom Urning nur einen Durchschnittstypus geben.

Wenn wir die Wesenheit der reinen Mannesseele in der Aktivität, die der Frau in der Passivität zu erblicken haben, so läßt sich von der Urningsseele sagen, daß sie viel aktiver, wie die weibliche, aber nicht so aktiv wie die männliche ist, ferner, daß sie viel passiver, wie die männliche, aber bei weitem nicht so passiv wie die weib- liche Psyche erscheint.

Äußere Eindrücke wirken auf den Urning ungleich stärker ein, als auf den Mann, sein Gemüt ist weniger widerstandsfähig, weicher, empfindsamer, die Bestimmbar- keit größer, die Stimmung wechselnder. Freude, Hoffnung, Begeisterung heben ihn höher, Schmerz und Leid drücken ihn viel tiefer darnieder. Oft besteht eine ausgesprochene Neigung, sich Stimmungen hinzugeben; so berichtet ein Urning, er schlösse sich mit Vorliebe Leichenbegängnissen an, um weinen zu können.

Demzufolge treten auch das Mitgefühl, das Mitleid, die Hülfsbereitschaft stärker hervor. Der erbitterte Kon- kurrenzkampf, das energische Eintreten für gewöhnliche

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Interessen, das Kriegführen, Schießen und Jagen liegen dem Urning im allgemeinen nicht, auch ist der Haug zu verbrecherischen Handlungen selbstverständlich zu wirklichen Verbrechen bei ihm ganz außerordent- lich selten. Zum strengen Vorgesetzten ist er nicht recht geeignet. Sehr bezeichnend ist folgende Schilderung eines urnischen Offiziers: „Meine Leute hatten mich gern; ein junger Rekrut, dem infolge Blutvergiftung der Arm amputiert werden mußte, wünschte ausdrücklich, daß ich bei der Operation zugegen sein sollte. Der Arzt will- fahrte seinem Wunsche; ich reichte ihm die Hand vor der Narkose und so schlief er ruhig ein. Nach der < >pe- ration verließ ich auf kurze Zeit das Krankenzimmer da hörte ich vom Nebenzimmer aus meinen jungen Rekru- ten, der soeben wieder erwacht war, die Worte aussprechen: „Wo ist denn mein Leutnant?" Sofort erschien ich wie- der am Krankenlager, reichte meinem armen Patienten, der mich traurig anblickte, die Hand. Ich nahm mich meiner Rekruten in jeder Weise an, die Leute gingen für mich durchs Feuer, vermied übermäßigen Drill, war stets in der Kaserne, da ich am Wirtshausleben keinen lieiz fand so fiel die Rekrutenvorstellung glänzend aus und dank auch meiner guten theoretischen Kenntnisse gewann ich das besondere Lob meines Kommandeurs."

Man kann häufig beobachten, daß in exklusiven Ver- bänden, namentlich in militärischen und studentischen Korps, urnische Mitglieder wegen ihres höflichen, ge- fälligen, aufopferungsfähigen Wesens anfangs sehr wohl gelitten sind, im Laufe der Jahre aber Schwierigkeiten haben, weil sie sich nicht in die strenge Etiquette fügen können und mit Außenstehenden freundschaftliche Be- ziehungen auknüpfen. Ebenso erwachsen ihnen oft auch mit ihren Familien Unannehmlichkeiten, weil sie in Krei- sen verkehren, die diesen nicht standesgemäß erscheinen. Die Unterschiede des Standes, der Religion, der Rasse

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und Nationalität spielen bei dem Urning nicht im ent- ferntesten die Rolle, wie bei dem normalen Manne.

Er besitzt nicht den Stolz, das Selbstbewußtsein, den so häufigen Dünkel des Vollmannes. Für den strengen Ehr- begriff fehlt ihm das Verständnis. Wohl ist er empfindsam und leicht verletzt, aber die Fähigkeit zu hassen scheint ihm abzugehen. Er ist eben nicht das, was man „einen ganzen Kerl" nennt. Eine Beleidigung durch eine andere, stärkere, zu erwidern ist ihm nicht gegeben. Findet sich doch schon in der Grettissaga (28) der kriegerischen Wikinger der bezeichnende Spruch: „Der Sklave rächt sich, der Arge (d. i. der Urning) nie." Weniger aus Feigheit, als weil ihm das Gefühl der Rachsucht mangelt, zieht er sich lieber zurück, meist ohne Groll. Immer wieder zum Verzeihen geneigt, oft in zu hohem Maße versöhnlich, ist er im Gegensatz zum Weibe gewöhnlich weder nachtragend noch kleinlich. Die Gutmütigkeit vieler Uranier geht so weit, daß es ihnen unmöglich ist, eine Fliege umzubringen. Selbst seinen ärgsten Feinden, den Erpressern und Dieben gegenüber, bewahrt der Homosexuelle ein sympathisches Gefühl. Was von Leonardo da Vinci berichtet wird, daß er den Lieblingen, die ihn bestahlen, nie seine Liebe entzog, klingt durchaus glaubwürdig. Die Großmut, welche der Urning Feinden gegenüber zu zeigen imstande ist, ist oft geradezu erstaunlich. Freier von Vorurteilen als der Durchschnittsmann, ist er meist unfähig, ein hartes Urteil zu fällen. Alle diese Eigenschaften befähigen ihn ungemein zum Altruisten und Vermittler, zum Friedensstifter und Uberwinder sozialer Gegensätze. Dabei beschränkt sich sein philantropischer Zug fast nie auf seine Klasse oder gar seine Familie, sondern geht auf die große Menge. Ein urnischer Arbeiter schreibt : „Dort wo es gilt, Ideale zu erkämpfen, wo es sich darum handelt, die schlummern- den Geister aufzurütteln, die starre Masse eine Stufe weiterzubringen zur Veredelung und X'ermenschlichung,

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dort bin ich der höchsten Begeisterung fähig und möchte Schulter an Schulter vorwärts stürmen mit den edlen Kämpfern für Wahrheit und Recht." Ein anderer streng katholischer Urning aus Arbeiterkreisen: „ich möchte alle Menschen glücklich sehen, alle sollten sie die Allmacht Gottes preisen, ich möchte ein Bild malen, alles in Nebel gehüllt, darüber eine leuchtende Sonne, die mit Gewalt die Nebel zerteilt." Urnische Fabrikbesitzer geben wieder- holt an, daß sie einen förmlichen Drang haben, für die ihnen unterstellten Arbeiter zu sorgen, Wohlfahrts- einrichtungen zu schaffen.

Oft fehlt es jedoch an Mut und Beständigkeit, das gute Vornehmen in die Tat umzusetzen. Der Wille ist beim Urning durchaus nicht so schwach, aber es besteht daneben vielfach ein beträchtlicher Hang zur Bequemlich- keit und Scheu vor der Menschen Gerede. Jedenfalls zieht ihn im allgemeinen die geistige Arbeit mehr an als die körperliche. Es kommt das instinktive Bestreben hinzu, etwas zu leisten, was auf Personen desselben Ge- schlechts Eindruck macht, sie fesselt und erfreut. Von vielen wird auch die Arbeit als große Trösterin empfunden. Der Trieb, andere geistig zu befruchten, ist häufig sehr ausgesprochen. Es resultiert daraus eine bei Urningen weit verbreitete Befähigung zum Pädagogen, zum Volks- erzieher im engeren und weiteren Sinne. Unterstützt wird dieser Drang durch den mehr oder weniger unbe- wußten Ehrgeiz, sich geistig vor der Umgebung auszu- zeichnen. Besonders an urnischen Bauern und Arbeitern fällt es auf, wie sehr sie ihr Milieu überragen. Mit diesem Ehrgeiz verbindet sich oft starke Empfänglichkeit für Beifall und Bewunderung, die aber fast immer in eigenartiger Weise mit einer gewissen Bescheidenheit und Scheu verknüpft ist. Der Urning schafi't fast stets aus dem Gefühl heraus. Das zielbewußte, verstandesgemäße Arbeiten des Mannes ist ihm nicht eigen. Das Zahlen-

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gedächtnis ist vielfach sehr schwach, Mathematik ist der Mehrzahl geradezu „ein Gräuel." Vorerst kommt bei ihm der Trieb zu empfangen, aufzunehmen, und erst aus der Empfängnis heraus formt und gestaltet er. Seinem starken Gefühlsleben entsprechend ist das ästhetische Empfinden, der Sinn für schöne Formen in Natur, Kunst und im täglichen Leben hochgradig entwickelt. In erster Reihe steht das Verständnis für Musik, fast ebenso groß ist die Freude an der Plastik, der sich die an der Malerei und Architektur anschließt; auch das Interesse für Schauspielkunst, Litteratur, Blumenpflege ist ein lebhaftes. Für alle „schönen Künste", von der Kochkunst und Kunststickerei bis zur Bildhauerkunst, Hiulen sich starke Talente im Urningtum. Dabei zeigt die von der Sexualpsyche abhängige Geschmacksrichtung meist eine eigentümliche Mischung männlicher und weib- licher Tendenzen, die im großen und kleinen deutlich zu Tage tritt; beispielsweise ist das in der Kleidung der Fall, viele halten das antike griechische Gewand für das schönste, ein urnischer Künstler bemerkt : „Ich schwärme für lange, wallende Gewänder, trotz der Gewöhnung eines halben Menschenalters schäme ich mich in der gewöhn- lichen Männerkleidung, ohne langen Mantel betrete ich nie die Straße, am meisten geniere ich mich im Frack bei Ausübung meines Berufs auf dem Podium, zu Hause trage ich nur schleppende Gewandung." Ein anderer h.-s. Künstler äußerte sich: „Ich liebe Kleidung die das Geschlecht nicht erkennen läßt, weil diese meinem eigentlichen Wesen entspricht." Und ein urnischer Eisen- bahnarbeiter schreibt : „Es tut mir leid, daß der Pelerinen- mantel altmodisch wurde. Ein schöner Jüngling sollte jedoch stets einen glatten Überzieher tragen." Wir lassen noch einen eingehenden Bericht eines 31jährigen homo- sexuellen Chemikers folgen, der die urnische Geschmacks- richtung charakterisiert : „Die Vorliebe, die ich als Kind

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für Nähen und Sticken hatte, ist glücklicherweise ge- schwunden. Mein Talent zum Kochen, wozu ich als Junggeselle manchmal gezwungen bin, wird allerdings von meinen Freunden sehr gerühmt. Doch wäre ich ganz froh, wenn es mir jemand abnähme. Wirkliches Vergnügen macht es mir dagegen, wenn ich Gäste habe, alles, Tisch u. s. w., hübsch anzuordnen und zu schmücken. Blumen habe ich von jeher sehr geliebt und habe großes Geschick, Blumensträuße geschickt zu arrangieren. Von Sport liebe ich nur das Bergkraxeln, doch entspringt dies mehr der Freude an der Natur, ich wandere manchmal während meines Sommerurlaubs wochenlang allein in den Bergen; das gehört zu meinen höchsten Freuden. Ein- samkeit bedeutet für mich nicht Langeweile, ich ziehe sie der Gesellschaft nüchterner Alltagsmenschen und Stamm- tischphilister vor. Ich interessiere mich sehr für Politik, namentlich innere Politik, für Theater und vor allem für Musik. In Theatern fesseln mich sowohl die Klassiker als auch die Modernen, dagegen langweile ich mich in Lustspielen ä la Blumenthal-Kadelburg. Ich bevorzuge in der Kunst überhaupt im allgemeinen die düstere Färbung, doch erfüllt mich auch der Humor der Meister- singer mit sonniger Freude. Außer für Naturwissenschaft, speziell Chemie, die ich erwählt habe, fühle ich Neigung für Philologie."

Sehr häufig tritt bei dem Uranier eine Vorliebe für „neue Richtungen* hervor. Wenn es ihm seine Mittel verstatten, unterstützt er gern junge aufstrebende Künstler. Während ihn der übliche gesellschaftliche Verkehr mit den Festessen, Tischdamen, dem vielen Trinken, Rauchen, Kartenspielen vielfach abstösst, liebt ei" die ungebundene Geselligkeit, wie sie sich beispielsweise in dem Treiben der Boheme sowie oft in Wirtschaften niederer Gattung kundgiebt. Kr geht gern auf Abenteuer aus, liebt es, immer neues kennen zu lernen, ist oft sehr reiselustig

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und fast nie einseitig. Un verhältnismässig viel Urninge interessieren sich deshalb für Entdeckungsreisen, Völker- kunde, Tiefseeforschungen.

Daneben findet sich ein Hang zum Aufstöbern und Sammeln von Büchern, Kunstwerken uud Antiquitäten aller Art. Viele Urninge eignen sich dadurch mit der Zeit eine tiefe, umfassende Bildung an, wobei ihnen ihr gutes Gedächtnis und ihre leichte Auffassungsgabe zu Hilfe kommt.

Hält man gewöhnlich schon eine einzige der vielen genannten Eigenschaften, beispielsweise die musikalische Befähigung, für angeboren, um wie viel mehr diesen ganzen in sich durchaus nicht disharmonischen Komplex, der von der männlichen und weiblichen Natur so deutlich abweicht und stets mit einer gewissen Kindlichkeit ver- knüpft ist, nicht solcher, in der wir ein Zurückgebliebensein zu erblicken haben, sondern jenen ungekünstelten, naiv-hei- teren, harmlosen, offenen Art> welche leider so oft und schwer durch die Verhältnisse beeinträchtigt wird, indem diese den Urning mißtrauisch, unwahr und verschüchtert machen. Der geschilderte Komplex befähigt die Urninge hoher Kreise besonders auch für den Dienst in der Diplomatie. Ein aristokratischer Gewährsmann, über dessen Glaub- würdigkeit auch nicht der leiseste Zweifel bestehen kann, teilt uns mit, daß er Homosexuelle besonders zahlreich in der Diplomatie gefunden hat, am meisten in England, dann in Kußland und Deutschland. Derselbe gibt noch folgende interessante Einzelheiten : „Persönlich kenne ich neun deutsche Prinzen aus regierenden Häusern, sechs aus andern souveränen Staaten. Aus reichsunmittelbaren Familien sind mir 14 bekannt. Vier Botschafter und höchste Hofbeamte kenne ich, deren Anlage mir bis ins Detail bekannt ist. Mir ist ein preußisches Kavallerie- regiment bekannt, in dem neun Offiziere homosexuell sind. Stets fand ich, daß es fast durchweg reizende,

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intelligente Menschen waren, die viel Interessen hatten und der Menschheit zur Zierde gereichten."

Mau kann leicht konstatieren, daß der Homosexuelle in den Kreisen, in denen er verkehrt, und über diese hinaus meist sehr beliebt ist. Als vorzüglicher Gesell- schafter ist er überall gern gesehen. Schon als Kinder sind sie ihres ruhigen und geschickten Wesens wegen die Lieblinge der Eltern und Geschwister. Erst, wenn den Angehörigen eine mehr oder weniger klare Er- kenntnis ihrer Abweichung aufgeht, macht sich eine gegen- seitige Entfremdung und Verstimmung geltend. Fängt die weitere Umgebung an, allerlei zu vermuten und zu flüstern, wird der an sich schon ängstliche Uranier ver- bitterter und scheuer. Viele Edeluranier ziehen sich schließlich ganz in die Einsamkeit zurück und leben gänzlich isoliert mit ihren Büchern und geistigen Inter- essen, vielleicht auch „mit einer trauten Seele, die sie versteht." Kommt es zum Skandal, ist das Erstaunen der Verwandten und heterosexuellen Freunde sehr groß. Man kann das Unfaßbare nicht glauben, man hielt den so zartbesaiteten, hochgeschätzten Freund, der fast nie das sexuelle Thema berührte, für „asexuell". Schließlich finden sich doch allerlei Anhaltspunkte, die für die Rich- tigkeit des Unglaublichen sprechen und man entsetzt sich über diesen Menschen, dem man etwas so Gräßliches am allerwenigsten zugetraut hätte. Noch ist die Geschichte der Urningsverfolgungen nicht geschrieben, wie zwei Geschlechter ein drittes in seinem Heiligsten zu unter- drücken suchten, aber sie wird geschrieben werden und sich als einer der dunkelsten Abschnitte der Menschheits- geschichte erweisen.

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Genau so wie in geistiger Hinsicht stellt der er- wachsene Homosexuelle auch in körperlicher Hinsicht eine innige Mischung männlicher und weiblicher Eigen- schaften dar, von der es an und für sich schon ausge- schlossen ist, daß sie künstlich erworben sein kann. Diese somatischen Stigmata sind wie die psychischen bald mehr, bald weniger deutlich ausgesprochen, fehlen aber bei sorgsamer Beobachtung niemals. Allerdings ist der Nachweis nicht immer leicht. Vieles Charakteristische wird man nur bei großer Übung herausfinden können. Wer hunderte von Urningen und Urninden gesehen hat, wird nicht zweifeln, daß sie ganz bestimmte Gesichtstypen aufweisen. So schwer es sich aber definiren läßt, was im Gruude den männlichen oder weiblichen Gesichts- ausdruck ausmacht, so wenig kann man dem Laien das Eigentümliche klar machen, das dem Kenner oft schon beim Anblick der Photographieen in die Augen fällt. Würden die Geschlechter dieselbe Kleidung tragen, hätte man sich vermutlich gewöhnt, die Übergangsstufen leichter herauszukennen, so beeinflußt die Verschiedenheit im Anzug und in der Haartracht das Urteil ganz außer- ordentlich. Doch kommt es auch so noch oft genug vor, daß urnische Männer für verkleidete Mädchen und u mische Damen für verkleidete Herren gehalten werden. Lassen sich Urninge, selbst solche, die recht männlich erscheinen, den Bart abnehmen und legen weibliche Kleidungsstücke an, so ist es meist geradezu verblüffend, wie sehr der weibliche Typus, namentlich in der Augenpartie, zum Vorschein kommt. Ich befand mich einmal mit einem urnischen Gelehrten in dem seiner Volkstrachten und Volkssitten wegen hochinteressanten Fischerdorf Volendam am Zuidersee. Wir betraten des Studiums halber eine der eigenartigen Behausungen. Im Laufe der Unter- haltung setzte sich mein Begleiter eine der ortsüblichem Frauen hauben auf. Der Erfolg war überraschend. Die

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braven Fischerfrauen konnten sich über die Verwandlung garnicht beruhigen und riefen ein über das andere Mal: „wie ein Mädchen, wie ein Mädchen." Auch ich selbst konnte seitdem nicht mehr den weiblichen Eindruck los- werden, der mir in dem Gesichte des Forschers, weil ich darauf nicht achtete, zuvor nie aufgefallen war. Viele Homosexuelle sehen „als Weib bedeutend besser aus, wie als Mann.* Ich erinnere mich eines urnischen Aristokraten, den ich Jahre lang nur in Damentoilette gesehen hatte, in der er sich höchst elegant ausnahm. Als er mich das erste Mal im Herrenanzug besuchte, erkannte ich ihn kaum wieder, so zu seinen Ungunsten verändert sah er aus. Bei manchen tritt das undefinierbar Weibliche erst im Affekt stärker hervor. Ein Richter schreibt, sein Gesicht sei scharf geschnitten, doch sei ihm von Damen, die seine homosexuelle Natur nicht kannten, bemerkt worden, wenn er lächle, habe er die Augen eines Weibes. Ein urnischer Offizier, der sich durch eine „martialische" Erscheinung (bei etwas breiten Hüften) auszeichnet, teilt mir mit, daß, wenn er sich in Erregung befände, seine sehr großen, blauen träumerischen Augen von gänzlich unbefangener Seite als weiblich erkannt worden seien.

Die Körperkonturen des Urnings sind nicht ganz so abgerundet und weich wie beim echten Weibe das urnische Weib ist meist hager aber äußerst selten so hervortretend, wie beim Mann. Diese Rundung beruht auf stärkerer Fettablagerung, die mit der größeren Passi- vität des Urnings im Zusammenhang steht. Ganz beson- ders auffallend ist diese Konturierung bei den passiven Pvgisten, die daher ein geübter Beobachter unter den übrigen Homosexuellen leicht herauserkennt. Sehr wichtig ist es, auf das Verhältnis der Schulterdurchschnittslinie zur Beckendurchschnittslinie zu achten, welches am geeig- netsten mit dem bei gynäkologischen Untersuchungen üblichen Beckenmesser festgestellt wird. Während beim

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D'Eon de Beaumont

Kopie von Angelika Kauffmann, nach einem Bilde von Latour aus der Sammlung des üeorge Keate, Esq.

Ritter D'Eon de Beaumont, geb. am 5. Oktober 1728, als Knabe erzogen, schon früh Neigung in Frauenklcidern zu gehen; 1755 am russischen Hofe als Dame

vorgestellt.

('ha i;ij>-(;i.NKViKVF.-Loris-Arui'sri:-ANiMu':-riMOTHi'i;

Cll.\ It I.OTT K-(;KKK\TKVK-Lori8A-Ar*;i\<TA.AXPIu'K-TlMOTHl':i>MAIHl;

D'EON DE BEAUMONT.

Doctor ol Civil nud of Canon Law, and Advoeate of the Parliainent

of Paris.

(Vnfor Royal for Hiftory and Belles-Lettres. Sent to Rul'fia, Urft feeretlv, then offieially, with the Chevalier Douglas tor tiir Piwpofe ol i-«--«*ri:vl»lil*l»iii'_r frieudlv Relation* lutween tliat Country

and Francr.

Seeretary of the Emhaffy Extraordinary at the Court of Her Imperial

Majefty, the Emprel'f Elizabeth. Captain of Drajroons and Aide-de-Cainp to Marflial the Duke and

to the Connt de Hro^lio. Seeretary of the Einbafly Extraordinäre froiu France to (ireat Hritain for concliulin«; tlu* Feaee ot 17C»:t. Kui«;ht of the Royal and Militarv Order of Saint Loui>. Refident, and afterwards Minifter Fl rni potent tarv froin Franee to l ireat Hritain, and, finally, a Lady at the Court of Marie Antoinette, and an oeeafioual and lionoured Ininate

at

1,'AKbaye Royale des Damen de Haute* Briiyeres. Maifon des DemoiMIcs de St. Cyr, und at the Monaltt'ie lies Filles de Ste. Marie.

1 I

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normalen Mann die Schulterlinie um einige Zentimeter länger ist als die Beckenlinie, und beim Weibe letztere viel breiter als die Schulterlinie, ist beim Urning der Unterschied meist sehr gering, oft überhaupt nicht vorhanden, und nicht selten umgekehrt, sodaß es schon dem Laien, namentlich den Schneidern beim Maß- nehmen, auffällt. Urnische Arbeiter haben mir wieder- holt erzählt, daß sie die Beinkleider über den Hüften bequem ohne Hosenträger tragen können. Ein Urning berichtet, bei der militärischen Einkleidung habe der Vorgesetzte gesagt „er habe wohl bei der Verteilung des Gesäßes zweimal ,hier* gerufen."

Die Hände und besonders die Füße des Urnings sind im Verhältnis zu der Figur oft klein, die Hände fühlen sich zumeist eigentümlich weich an. Die Haut ist fast stets bedeutend zarter, glatter und weißer wie beim Manne, wenn auch selten in so hohem Grade wie bei der Frau. Die Blutgefäß- und Tastpapillen der Haut sind gewöhnlich sehr affizierbar, was sich einerseits in erhöhter Schmerz- empfindlichkeit zeigt, anderseits in sehr leichtem Erröten und Erblassen. Mündliche und schriftliche Mitteilungen, wie die eines Schriftstellers: „Ich erröte mädchenhaft leicht bei jedem kleinen obszönen Witz* oder die eines Geistlichen: „Ich erröte, wenn ich öffentlich auftreten muß, ganz außerordentlich" sind sehr häufig. Nicht recht erklärlich ist das entschieden geringere Wärmebediirfnis vieler Uranier. Sehr zuverlässige Selbstbeobachter heben das hervor, so gibt einer derselben an, daß er Sommer und Winter stets bei offenem Fenster schlafe, ohne Unter- bett, nur bei tüchtiger Kälte mit zwei leichten Decken bedeckt. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, doch faßt sich die Haut der Urninge meist wärmer an, wie die ihrer Umgebung. Ich glaube, daß die im Volke ver- breitete Bezeichnung „warmer Bruder" (auch das Wort schwul schwül meint ähnliches)jn dieser Erscheinung

Jahrbuch V.

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seine physiologische Begründung hat, während der römische Ausdruck homo mollis, weicher Mann, auf die Weichheit der Haut und Muskulatur zurückgeführt werden dürfte. Die Haare des Urnings sind meist feiner und weicher, wie die männlichen, am Kopfe oft ungewöhnlich üppig, der Bart ist vielfach, aber keineswegs immer, schwach entwickelt. Viele empfinden den Bart als etwas Unange- nehmes, ebenso wie die Urninden das lange Kopfhaar. Lucians1) Erzählung von der Megilla, die von ihren Freundinnen mit männlichem Namen gerufen zu werden wünschte, Demonassa ihre Gattin nannte und sich die Haare wie ein Athlet schor, und dann rief: „Hast du je einen so schönen Jüngling gesehen wie mich," ist recht charakteristisch.

Die Muskeln der Uranicr sind schwächer wie die männlichen, wenn auch selten so schwach wie die weib- lichen. Infolgedessen besteht meist ein natürlicher Trieb zu ruhigeu Bewegungen, wie Fußtouren, Wandersport, Bergsport, Radfahreu, Schwimmen und Tanzen. Wo die Körpermuskulatur zu wünschen übrig läßt, zeigt gewöhn- lich die Zungenmuskulatur eine stärkere Aktivität, und so finden wir denn, daß bei den Urningen, ähnlich wie bei den Frauen, die Redseligkeit oft eine recht beträcht- liche ist. Einer bemerkt: »Plappern kann ich für zwei, aber nur mit Damen oder Gleichgesinnten, Herren dagegen genieren mich/

Von jeher haben Kenner den Gang und die übrigen Bewegungen des Homosexuellen als kennzeichnendes Merkmal hervorgehoben. Es finden sich kleine, trippelnde, tänzelnde, schlürfende, oft geziert erscheinende Schritte, auch ein leicht schwebender Gang, dabei leichte drehende Bewegungen in Schulter- und Beckengürtel; der Rumpf

') Luciaui Samosatenis opera ex recenaione, ö. Dindorfii. Parisiia 1890. Dialogi meretricii 8. 671.

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ist vielfach ein wenig vornübergeneigt, der Kopf erseheint unruhiger, als dies beim ausgesprochen männlichen Indi- viduum der Fall ist. Die Gangart ist so charakteristisch, daß ich sehr oft von meinem Sprechzimmer aus am Auf- treten erkannte, wenn ein Urning ins Wartezimmer kam. Ein urnischer Pastor gibt folgende Schilderung von sich : „Es besteht Neigung zu wiegenden Bewegungen, ich suche jedoch diese Neigung so gut als möglich zu tiberwinden, da ich mich äußerst beschämt fühle, wenn jemand etwas Damenhaftes an mir entdeckt. Trotzdem ist letzteres dann und wann schou vorgekommen. Besonders mein Gang wurde schon öfters „damenhaft* gefunden. Die Schritte sind mehr klein, mitunter schlürfend, die Schultern wiegen sich beim Gehen etwas hin und her, wenigstens, wenn ich mir keine Gewalt antue, auch die Art und Weise, wie ich mich niedersetze, ist schon aufgefallen.* Ein homosexueller Polizeibeamter erzählt, daß eine Dame stets von ihm sagte: „Der Kommissar mit dem leichten Mädchenschritt/ Der Gang eines Menschen ist von anatomischen und psychischen Faktoren abhängig. Ich meine, daß die somatischen Verhältnisse des Urnings, die Breite der Hüften, die infolgedessen stärker konvergierenden Oberschenkel, die schwache Entwickeluug der Beuge- und Streckmuskeln auf den Gang nicht ohne Einfluß sein können, daß aber auch seelische Einwirkungen in Frage kommen. Dafür spricht, daß Urninge, die sich, um sich nicht zu verraten, ruhigere, gravitätischere Schritte ange- wöhnen, leicht bei Erregungen, oft schon beim Laufen iu ihre natürliche Gangart verfallen. Der eben zitierte Polizeikommissar bemerkt: „Meine Schritte waren sehr klein und hüpfend, ich habe es mir aberzogen, es tritt aber immer wieder hervor, sobald ich neben jungen schönen Herren gehe." Auch die urnischen Armbe- wegungen sind meist typisch man vergleiche das Jugend-Bildnis König Ludwigs II. insbesondere sind

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es auch diejenigen Bewegungen, aus denen die Handschrift resultiert, welche von ähnlichen körperlichen und psychischen Momenten abhängig ist wie der Gang. Dieselbe zeigt.

bei Urningen oft einen durchaus weiblichen, bei Urninden einen männ- lichen Charakter, bei bei- den nicht selten auch einen solchen, den die Graphologen als ge- schlechtslos zu bezeich- nen pflegen. Daß die Brust- und Stimmbe- schaffenheit häufig Ab- weichungen aufweist, habe ich bereits bei Besprech- ung der uruischen Puber- tätszeit erwähnt, hier will ich noch bemerken, daß König Ludwig II. von Bayern bei den erwachse nen Ho-

in stark femininer Haltung. ,, «. n

* mosexuellen selten volle

Umkehrungen dieser sekundären Geschlechtszeichen son- dern gewöhnlich nur Mittelstufen konstatierbar sind.

Wie in seelischer, so zeigt auch in körperlicher Hin- sicht der Urning und die Urninde eine bemerkenswerte Jugendlichkeit. Viele haben kleine, zarte, ihrem Alter nicht entsprechende Figuren. Ein hervorragender, mir persönlich bekannter Schriftsteller, der jetzt Mitte der 40 ist, sagt von sich, daß er den Kürperbau eines etwa 15jährigen Jungen habe. Das ist natürlich ein sehr extremer Fall, aber Tatsache ist, daß die Urninge meist für viel jünger gehalten werden, wie sie sind. Ist die Uranierin unverheiratet, so bildet sich bei ihr viel weniger der bekannte Typus der alten Jungfer heraus, in der wir ein verkümmertes Geschlechtswesen zu erblicken haben.

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Die Urninde bewahrt sich im Gegensatz zum nor- malen Weibe bis ins hohe Alter eine erstaunliche Frische und Elastizität. Ebenso treten auch beim urnischen Junggesellen weniger wie beim normalsexuellcn Hugestolz die Griesgrämigkeit und die anderen Eigentümlichkeiten des ledigen Standes hervor. Im allgemeinen erfreut sich der Urning eines guten Gesundheitszustandes, die Wider- standsfähigkeit seines Nervensystems ist in Anbetracht dessen, was er durchzumachen hat, eher als günstig zu bezeichnen. Neben der früher bereits genannten Chlorose und Migräne finden sich nicht selten hysterische Störungen verschiedener Art, besonders hervorzuheben sind die Affektionen, welche an die weiblichen Menstruationen erinnern. Ein mir seit einer Reihe vou Jahren bekannter femininer Urauier leidet seit seinem 14. Lebensjahr alle 28 Tage an Migräne, zugleich an heftigen Kücken- und Kreuzschmerzen. Dieselben waren Veranlassung, daß seine Stiefmutter, bereits als er 20 Jahr war, bemerkte »das ist ja bei dir, wie bei uns." Eine Untersuchung des Urins auf Blutkörperchen hat leider nicht statt- gefunden. Neuerdings Patient ist jetzt 30 Jahr haben die Erscheinungen wesentlich nachgelassen, doch tritt immer noch vierwöchentlich eine hochgradige Mattig- keit auf.

Der Urning ist im allgemeinen wohlgestaltet, sein meist sympathisches Außere trägt viel zu seiner Beliebtheit bei, keinesfalls ist er häßlicher Möbius1) sieht in der Häßlichkeit ein Hauptzeichen der Entartung wie der Durchschnitt der Normalen. Ich hebe dies besonders Wachenfeld und Bloch gegenüber hervor, welche auf diesen Puukt in ihrer Ätiologie der Homosexualität Wert legten. Wachenfeld2) sagt: Mißgestaltete Personen,

') Stach vologie S. 186. *) A. a. 0. S. 49.

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die einen naturgemäßen ehelichen Genuü nicht erhoffen können, neigen eher zur Homosexualität, als solche, die dem Weibe begehrenswert erscheinen," und Bloch *) ver- tritt sogar die kühne Hypothese, daß Michelangelo wegen seiner Häßlichkeit homosexuell geworden sei. Er sagt wörtlich: „Michelangelos Häßlichkeit war so groß, daß er in jungen Jahren nie die Liebe kennen lernte und zu homosexuellen Neigungen, die sich in seinen Sonetten an Tommaso Cavalieri, Luigi de Riccio, Cecchino ßracci kundgaben, gedrängt wurde." Diese Angaben beruhen auf völliger Unkenntnis des einschlägigen Materials.

Man hat eingewandt, daß es Männer gibt, die sehr feminin erscheinen und gleichwohl völlig normal em- pfinden. Das mag vorkommen, ebenso wie es vorkommt, daß manche homosexuelle Männer einen durchaus männ- lichen Eindruck machen. Es ist jedoch zu bemerken, daß derartige Urteile meist nach dem Äußeren ohne die un- bedingt erforderliche Körperuntersuchuug abgegeben werden und daß in solchen Fällen der sorgsame Expert stets psychische Zeichen finden wird, welche die Ubergangs- stufe charakterisieren. Einen Homosexuellen, der sich körper- lich und geistig nicht vom Vollmann unterscheidet, habe ich unter 1500 nicht gesehen und glaube daher an sein Vorkommen nicht eher, bis ich ihn persönlich kennen gelernt habe.

Was neben den bisher genannten Symptomen den Urning und die Urninde nun aber in ganz hervorragen- dem Maße vom Vollmann und Vollweib unterscheidet, ist, daß ihnen der Trieb der Arterhaltung gänzlich mangelt. Diese negative Seite der Erscheinung, die zum mindesten so wichtig ist, wie die positive, die gleich-

') a. a. 0. S. 2Ä. Bd. I.

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geschlechtliche Anziehung, haben die Autoren, welche im Variationsbedürfnis, in Verführung oder ähnlichem die Ursache der Homosexualität erblicken, fast nie beachtet. Wenn nicht äußere Einflüsse und Rücksichten den Aus- schlag gäben, würde kein Urning überhaupt je auf den Gedanken kommen, eine Familie zu gründen. Sehen wir von denjenigen ab, die aus Zweckmäßigkeitsgründen Ehen eingingen, so haben nur 3% den Wunsch, Kinder zu be- sitzen, und zwar sind dies ganz besonders feminin oder sehr pädagogisch Veranlagte. Die ersteren wünschen aber dann selbst zu gebären, so schreibt ein urnischer Freiherr: „Ich möchte ein Kind bekommen, aber selbst nach Art einer Frau" und ein anderer bemerkt: „Ein Kind möchte ich haben, doch muß ich es selbst zur Welt bringen und der Vater müßte schön und gut sein." Umgekehrt ruft eine sehr virile Urninde aus: „Ich möchte ein Kind be- sitzen, doch natürlich nur, wenn ich der Vater wäre.* Die pädagogische Gruppe der Uranier wünscht sich stets einen Knaben, den sie heranbilden und erziehen kann. Die urnischen Ehefrauen fühlen sich oft überaus unglück- lich, wenn sie gravid werden, es mangelt ihnen der mütterliche Instinkt meist gänzlich und sie sucheu nach Möglichkeit einer Empfängnis vorzubeugen oder gar die geschehene zu an ullierei). Mir sind drei verheiratete homosexuelle Damen bekannt, von denen zwei bekannte Namen tragen, die wegen ihrer Schwangerschaft vorüber- gehend maniakalische Erregungszustände mit Suicidiul- ideen bekamen. Bei vielen kommt es überhaupt niemals zum Koitus. Nicht selten schreitet man dann zur Ehe- scheidung, die früher, als man noch „gegenseitige Ab- neigung" als Scheidungsgrund gelten ließ, wesentlich leichter war. Die urnischen Frauen, welche eine Ehe eingehen, für die sie nicht geschaffen sind, versündigen sich schwer, wenn auch unwissentlich, an den normal- sexuellen Frauen, denen sie die für sie bestimmten Männer

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rauben. Jährlich bleiben so und soviel heiratsfähige Töchter sitzen, weil zur Fortpflanzung ungeeignete Urninden heiraten. Mir ist eine urnische Dame bekannt, die mit 17 Jahren „eine sehr gute Partie machte," weil man ihr allgemein zuredete und sie sich wohl selbst durch den Antrag des angesehenen Mannes geschmeichelt fühlte. Als sie sich nach der Hochzeit den sexuellen Annäherungen desselbe aufs energischste widersetzte, ließ der Gatte schließlich die Schwiegermutter kommen, damit diese ihr Kind über die „eheliche Pflicht" aufklärte. Die junge Frau erwiderte darauf der Mutter: „Wenn das meine eheliche Pflicht ist, so wäre es Eure elterliche Pflicht gewesen, mir das vorher zu sagen, denn wenn ich das gewußt hätte, hätte ich nie und nimmer geheiratet." Die Dame blieb fest und acht Jahre lang setzte der Mann mit immer längeren Unterbrechungen die Versuche fort er liebte seine Frau sehr bis er schließlich in die Trennung willigte. Die Frau lebt jetzt seit mehreren Jahren mit einer Freundin beisammen, der Mann ist un- verheiratet geblieben. Der aus Frankfurt a. O. berichtete Fall ") in dem sich eine Frau in der Nacht nach der Hochzeit aus einem Hotelfenster stürzte, weil sie sich der ehelichen Vereinigung schämte, dürfte wohl eine ähn- liche Grundursache haben. Wir lassen noch den hierher gehörigen Bericht eines urnischen Ehemanns folgen, den wir einer großen Menge ähnlicher entnehmen. Der aus besten Kreisen stammende Herr schreibt:

Als die Meinen in mich drangen, mich zu verheiraten, ent- schloß ich mich zn diesem Schritt, frug um die Hand einer jungen, sympathischen Dame aus bester Famlie, die mich schon vielfach ausgezeichnet und erhielt ihr Jawort. Wir verlobten uns, heirateten nach einigen Monaten, anscheinend einer glücklichen Zukunft entgegengehend, die jedoch mehr oder weniger durch meine

*) Prof. G. Hennan: „Genesis", Das Gesetz der Zeugung. V. Band. S. 118. Leipzig, bei Arwed Strauch.

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Schuld zur Hölle für uns werden sollte. Ich hatte mich grenzen- los getäuscht über die Macht der mir offenbar angeborenen Triebe. Trotz Aufbietung meiner gesamten Willenskraft konnte ich den Horror, den ich stets gegen geschlechtlichen Verkehr mit dem Weibe empfimden, auch der mir angetrauten, lieblichen Gattin gegenüber nicht Uber winden; die Hochzeitsreise nach dem sonnigen Italien wurde zu einer seelischen Marter für uns Beide und tief verstimmt und einander entfremdet kehrten wir zurück in unser Heim, das, von treuer Eltern- und Geschwisterliebe reizend aus- geschmückt, unser wartete.

Seither sind lange 15 Jahre vergangen ; meine Frau und ich leben neben-, aber nicht für einander und führen in den Augen der Welt eine musterhafte Ehe! Über den schweren, delikaten Punkt haben wir nie mehr gesprochen, seitdem ich ihr Trennung anbot, damit sie an der Seite eines ihr würdigeren Mannes ein glücklicheres Dasein finden könne. Sie, die von meinem Zustand keine Ahnung hat und meint, es liege demselben ein organischer Fehler bei mir zu Grunde, erklärte mir, mich nicht verlassen zu wollen, da sie mich trotz Allem liebe. Wie sehr ich unter dem Schuldbewußtsein leide, ein so edles weibliches Wesen an mein elendes Schicksal gekettet zu haben, kann ich nicht beschreiben! Mein Dasein ist eine endlose Kette geheimer Seelenqualen und Ängstigungen : ich lebe immer in Furcht, meine Leidenschaft könne offenkundig werden, namentlich erst recht seit dem Skandal- proseß, der sich erst vor wenig Monaten in den hiesigen Mauern abgespielt und in welchem durch eine Bande schrecklicher Er- presser mehrere Herren aus der besten Gesellschaft öffentlich bloßgestellt und unmöglich gemacht worden sind, dank der uns immer noch verfolgenden öffentlichen Meinung.

Die sexuelle Gleichgültigkeit des Homosexuellen gegen das andere Geschlecht ist fast stets eine vollkommene, bei sehr vielen ist die Abneigung vor dem Akt, nament- lich, wenn sie ihn erst kennen gelernt haben, ganz unge- mein groß; manchen steht der vorgenommene Versuch als ein schreckliches Ereignis in der Erinnerung, andere geben an, sie hätten auf Rat eines Arztes den Verkehr vollziehen wollen, es aber höchst lächerlich gefunden, wieder andere sprechen von dem Gefühl tiefster Eruiede- rung, das sie dabei verspürten, während bei einer nicht

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unbeträchtlichen Zahl schwere Nervenstörungen post coitum aufgetreten sind. Wir geben einige Mitteilungen wieder, die zeigen, wie sehr die Urninge die Fortpflanzung und den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe, wohl ge- merkt nur diesen, perhorrescieren. Ein 31 jähriger Land- wirt schreibt: .Familiensinn ist bei mir nur insoweit vor- handen, als ich meine Eltern zärtlich liebe, auch zu meinen Geschwistern fühle ich mich hingezogen. Der Gedanke, selbst eine Familie zu gründen, existiert für mich nicht, weil er mir schaudererregend ist. Geschlechts- verkehr mit dem Weibe ist mir ganz unmöglich, ich fühle mich von Ekel erfüllt, wenn ich nur an die Möglichkeit denke. Versuche, den normalen Akt auszuüben, habe ich nie angestellt und werde es voraussichtlich, weil der Widerwillen zu groß ist, niemals können Weil mir junge Damen unheimlich waren, nahm ich schon keine Tanz- stunde, ich besuche keine Bälle und meide möglichst Ge- sellschaften, zu denen junge Damen herangezogen werden. Meine Unbehülflichkeit jüngeren Mädchen gegenüber scheint man, ohne Argwohn zu schöpfen, bemerkt zu haben, denn es ist mir neuerdings angenehm aufgefallen, daß man mich zwischen bejahrte setzt, mit denen ich mich zwanglos, gern und rege unterhalte." Ein anderer berichtet: „Meinem Freunde zu Liebe besuchte ich das erste Mal das Bordell. Ich war entsetzt, daß es mir nicht gelang, den Coitus zu vollführen, jeglicher Sinnes- regung baar lag ich in den Armen des Weibes. Außer mir vor Scham sprang ich endlich auf und markierte den Betrunkenen. Ich habe mich wohl ein Dutzend Mal für junge Mädchen interessiert, es fielen aber dabei nur ihre geistigen Eigenschaften ins Gewicht, ein Geschlechts- verkehr ist mir dabei nie wünschenswert erschienen. Diese meine sogenannten Geliebten waren meist Mädchen von auffallender Häßlichkeit, während ich mit einem häßlichen Kameraden nie gern verkehrte. Ein besonderes Ver-

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gnügen bereitete es mir von meiner Gymnasiastenzeit an, Brüderschaften zu trinken, da das dabei vorkommende dreimalige Küssen mir höchst angenehme Gefühle ver- ursachte. Dagegen beteiligte ich mich höchst ungern an Pfänderspielen, bei denen die Gefahr bestand, Mädchen küssen zu müssen." Ein urnischer Hotelier, den seine Bekannten „die wissenschaftliche Köchin" nennen, bemerkt: „Ich begreife den normalen Akt ebensowenig, wie ein normaler Mensch den meinen begreift, ich war verlobt, merkte aber noch rechtzeitig, daß es sinnlos wäre, ihr und mein Unglück, da machte ich uns wieder frei." Ein Franzose von 38 Jahren gibt an: „Ich habe nie mit einem Weibe zu tun gehabt und könnte es nicht um alles in der Welt. Hübsche Gesichtszüge bewundere ich so vorübergehend bei einem Weibe, wie man ein hübsches Bild betrachtet, sollte ich dasselbe Weib aber nackt vor mir sehen, oh, mon dieu! ich würde die Flucht ergreifen." Ähnlich erzählt ein Schweizer: „Vor dem intimeren Ver- kehr mit weiblichen Personen empfinde ich einen unüber- windlichen Abscheu und habe daher nie ein Weib be- rührt. Der Umgang mit Damen ist herzlich, so lange sie keine wärmeren Gefühle für mich zeigen, geschieht dies, so erwacht ein Unlustgefühl und ich ziehe mich so bald wie möglich zurück." Ein 26 jähriger Arbeiter be- richtet: „Als ich, 17 Jahre alt, einmal von einem älteren Freunde verleitet wurde, mit einem Weibe geschlecht- lichen Umgang zu pflegen ich wußte damals noch nichts von meiner urnischen Natur empfand ich einen derartigen Ekel, daß ich Erbrechen bekam. Seitdem hatte ich eine heilige Scheu vor der Berührung mit dem Weibe, bis ich vor wenigen Wochen, zur Verzweiflung getrieben, mit meiner Natur zu brechen suchte, vergebens, es trat weder eine richtige Erektion noch Ejakulation ein, dagegen habe ich mir infolge der vergeblichen Anstrengungen eiue Gliedentzündung zugezogen." Endlich ein Kaufmann

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aus Bayern: „Die Folgen des wiederholten Verkehrs mit dem Weibe waren schwere Nervenstörungen, starkes Un- wohlsein mit Erbrechen und tagelange Migräne. Der Geruch, welchen das Weib ausströmt, verursacht mir das größte Unbehagen, ich bin unfähig, ein Weib zu befriedi- gen, wogegen die Umarmung eines Soldaten mir ein un- aussprechliches Wonnegefühl verschafft und mich kräftigt und stärkt." Es ist durchaus nicht selten, daß Urninge die erste Kenntnis ihrer Homosexualität von Prostituierten erhalten. Einen bezeichnenden Fall berichtet mir ein herrschaftlicher Diener, welchem von einem Arzt, den er wegen Impotenz konsultierte, nach längerer Anwendung des elektrischen Stroms geraten ward, einen Kohabitations- versuch vorzunehmen. Als die Prostituierte in ihrer Wohnung sich vergeblich bemüht hatte, ihn sexuell zu erregen, betrachtete sie sich ihn etwas genauer und sagte dauu in unverfälschtem Berliner Dialekt: „Weeste denn nich, daß Du en Warmer bist, ick werde Dir meenen Luden (Zuhälter) rufen, paß uf, mit dem kannste.* Der Vorschlag wurde von den drei Beteiligten erfolgreich in die Tat umgesetzt und der Diener wußte seitdem über sich Bescheid.

Schrenck-Notzing hat in seinem Werke ') den Homo- sexuellen die Eheschließung und einen geregelten Ge- schlechtsverkehr mit dem Weibe geraten, wobei er sogar empfiehlt, unter Umständen bei den ersten Debüts die Alkoholwirkung zu Hilfe zu nehmen. Der Vergleich mag etwas kraß erscheinen, aber mir kommt dieser Vorschlag nicht viel anders vor, als wenn ein Arzt einem Normal- sexuellen, der ein Mädchen unglücklich liebt, raten würde, er solle, um seinen Trieb loszuwerden, sich berauschen und mit einem Manne sexuell verkehren.

M a. a. 0. S. 205 ff.

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Die Abneigung vor dem zur Erhaltung der Art ge- eigneten Verkehr ist bei fast allen Urningen eine so tiefgehende, ich möchte fast sagen selbstverständliche, daß sich daraufhin unter der Mehrzahl von ihnen die Mei- nung gebildet hat, die Natur wolle durch sie einer Über- völkerung vorbeugen. Nun bin ich zwar auch der An- sicht Nückes, daß man die ganze Homosexualität weder mit theologischen noch mit teleologischen Augen ansehen dürfe, sondern nur mit nüchtern naturwissenschaftlichen, ich möchte aber doch dieser weitverbreiteten Anschauung gegenüber geltend machen, daß, wenn das Aussterben eines Stammes der Hauptzweck der Homosexualität wäre, es völlig unnötig erscheinen würde, der negativen eine positive Gefühlsrichtung entgegenzusetzen. Ich meine, daß letzterer wohl auch ein positiver Zweck entsprechen dürfte, nämlich der, daß der homosexuelle Trieb, welcher wie der heterosexuelle, mit dem ganzen Fühlen und Wollen so fest verknüpft ist, auch wie dieser Anstoß und Kraft zu nutzbringender Betätigung der Persönlichkeit geben soll. Wenn es für den Menschen einen Daseinszweck gibt, so ist es jedenfalls die Liebe an und für sich, die stets frucht- bar ist, auch wenn sie nicht der Erzeugung wieder er- zeugender Wesen dient. Die Liebe ist eine Triebkraft, die sich immer in produktive Arbeit umsetzt zur Gestal- tung und Weiterbildung von Menschen und zwar nicht nur in körperlichem Sinn. Tolstoi sagt einmal: Lieben ist Streben nach dem Wohle anderer," ein Wort, das wie der Bibelspruch, daß Gleichgültigkeit alles tot, Liebe alles lebendig macht, eine unantastbare Wahrheit enthält. Würden die von der Fortpflanzung ausgeschlossenen Menschen überhaupt keine Liebe fühlen, ihre egozentrische Interessenlosigkeit würde eine Gefahr für die andern be- deuten. In den Uranfängen der Sprache erhellen sich oft durch Gewohnheit verdunkelte Begriffe. Das Wort Sexus ^ Geschlecht kommt von sequi folgen, der Ge-

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schlechtstrieb ist ursprünglich nur der Trieb zu folgen, sich andern anzuschließen, und damit ist er der freilich oft nur leise durchschimmernde psychologische Hintergrund jeder sozialen Regung. Der Monosexuelle folgt nur sich allein; die wenigen Monosexuellen, die ich persönlich ge- sehen habe, es waren drei zur Einsamkeit und Eigen- bewunderung neigende Onanisten mit ausgesprochener Antipathie gegen beide Geschlechter, zeichneten sich durch den denkbar größten Indifferentismus nicht nur allen Menschen, sondern auch allen Dingen gegenüber aus.

Daß es sich aber bei der homosexuellen Empfindung um wirkliche Liebe handelt, die in allen ihren Details ein vollkommenes Äquivalent der heterosexuellen Liebe dar- stellt, darüber kann für den Kenner auch nicht der ge- ringste Zweifel obwalten. Auch Krafft-Ebing hat auf die absolute Analogie hingewiesen welche sich in der Entfaltung der normalen und conträren Vita sexualis findet; diese Übereinstimmung ist, wie allerdings nur eine sehr lange und genaue Beobachtung erweisen kann, in der Tat in allen physiologischen und pathologischen Einzel- heiten eine so eminente, daß es eigentlich nur zwei Mög- lichkeiten gibt, entweder sind beide Triebe als integrierender Bestandteil der Persönlichkeit eingeboren oder es ist auch die Liebe zwischen Mann und Weib kein eingeborener Naturtrieb, sondern eine durch äußere Ursachen im Ver- laufe des Lebens erworbene Eigenschaft.

Wie bei den Heterosexuellen, so gibt es auch bei den Homosexuellen solche, bei denen der Geschlechtstrieb im engeren Sinn nur eine mehr oder weniger untergeordnete Rolle spiel^ und andere, die von ihrer Leidensehaft völlig beherrscht werden. Man hat den Urningen dann und wann vorgeworfen, daß ihre sinnliche Neigung sie in viel höherem Maße erfülle und beschäftige wie die Normalen.

») Über sexuell« IVrveraionen S. 129.

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Doch ist hier zu bedenken, daß letztere in der glücklichen Lage sind, ihre Frauen und Mädchen so oft um sich zu sehen, wie sie wollen. Sinnesregungen, denen bequem, jeder Zeit und ohne Gefahr Genüge geleistet werden kann, sind nicht dazu angetan, die Seele sonderlich in Anspruch zu nehmen. Anders bei dem Uranier, der denselben Trieb meist nur mit den größten, oft seine ganze Existenz be- drohenden Schwierigkeiten, nach langer Zurückhaltung seiner Gelüste befriedigen kann. Immerhin gibt es ge- nug Urninge, die die Kraft völliger Entsagung besitzen, es wäre aber verfehlt, wollte man daraus den Schluß ziehen, daß sich alle anderen ebenso gut beherrschen könnten, so wenig man außereheliche Abstinenz verlangen wird, weil ein gewisser Prozentsatz sie innehält. Mir fallen dabei die Worte ein, welche mir einmal ein wegen seiner Neigung gemaßregelter Offizier in begreiflicher Aufwallung schrieb: „Die Herren der Schöpfung sollten wissen, was es heißt, wegen irgend einer erotischen Lappalie ewig boykottiert zu sein. Drehe man einmal den Spieß um und stelle einen Gesetzesparagraphen hin , nach dem jeder außereheliche Beischlaf mit Zuchthaus oder mit Gefängnis und mit Aberkennung der bürgerlichen Ehren- rechte zu bestrafen sei. Selbst wenn solcher Paragraph nur ein Jahr in Kraft wäre, was würde die Welt für ein herzzereißendes Schauspiel erleben; wieviel Existenzen würden vernichtet werden, wieviel junge Leute sich dem freiwilligen Tode weihen; aber wir Uraniden würden ge- rächt sein für die unendliche Schmach, die man seit Jahrtausenden über unser Haupt heraufbeschworen hat."

Hören wir einige Berichte keuscher Homosexueller. Ein urnischer Student von 23 Jahren schreibt:

„Ich habe keinerlei geschlechtlichen Verkehr gepflegt. Der Geschlechtstrieb ist sehr stark, die Selbstbeherrschung jedoch ebenfalls stark. Daß ich mich auf Kosten der Gesundheit be- herrsche, ist mir völlig klar. Der Kampf hat mich schon so er-

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mattet, daß ich zusammenstürzte. Der Gedanke an die Blöße eines Weibes ist mir so verhaßt, daß es mir absolut unmöglich ist, auch nur an den Versuch eines normalgeschlechtlichen Aktes zu denken. Mich fesseln nur hochgebildete, vornehme Naturen, die ich am höchsten stelle, wenn sie sanftmütig und kraftvoll zugleich sind. Ärzten und Offizieren gebe ich den Vorzug. Beide Typen sind gebildet und stehen im freien, tatigen, gesunden Leben. Bei beiden ist das Moment der Bewegung, da» mir auch die Musik zur liebsten Kunst macht. Von meinem 15. bis 22. Jahr war mein Leben beherrscht von einer nie zu beschreibenden idealen Liebe zu einem jungen Mediziner, einem trotz seiner Jugend er ist jetzt 26 ganz eminenten Kopfe. Ks ist eine schlanke, strenge Gestalt, mit einem Empirekopfe, durchaus normalempfindend und ein harter Charakter. Im ersten Jahr unserer Bekanntschaft war er mir freundschaftlich außerordentlich zugetan. Damals war ich ganz glücklich, ganz wunschlos und bemitleidete alle Könige der Welt ob ihrer Armut. Ich verband raeinen Freund in mystischer Weise mit meinem Gottes! »egriff ; mein Leben hatte als Pole: „Christus" „Lothar." Als mir nach l»/2 Jahren klar wurde, daß um mit Platen zu sprechen der schöne Spröde seine Seele mir nie oflenbaren würde, ver- lor ich damals schon viel, ja das eigentliche Wesen meines Himmels. Ich kämpfte hart, auch mit ihm und namentlich wegen seiner irreligiösen Lebensauffassung. Vor einem Jahre verlobte er sich, ich war nicht eifersüchtig, ich war nur wie tot; nur mein Gedanke, ins Kloster zu gehen, hielt mich aufrecht. Ich sagte ihm damals alles er nahm es kalt, wissenschaftlich, nicht ohne etwas Roheit auf. Seit einem Jahre sah ich ihn nicht mehr, korrespondiere auch nicht mehr mit ihm. Wachend fühle ich auch keine Sehnsucht mehr nach dem einstigen Geliebten, die hat sich in Jahren au seinem Kgoistnus und seiner materialistischen Lebensautfassung verblutet. In längeren Abschnitten träume ich, daß er zu mir kommt und mich küßt und dann weine ich im Schlaf. Im Leben hat er mich nie geküßt."

Ein sehr intelligenter Akademiker von 39 Jahren, der die große Merkwürdigkeit aufweist, daß bei ihm überhaupt noch nie eine Ejaculatio seminis stattgefunden hat, giebt folgende Schilderung:

„Meiue Leidenschaft ist keine gewaltig lodernde Flamme, die über mein ganzes Denken und Sinnen zusammenschlägt und, wenn sie keine Nahrung findet, alles Glück verzehrt, Bondern ein

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glimmendes Feuer, das nur von Zeit zu Zeit stärker emporwogt. Ich kann nicht sagen, daß mit der Unmüglichkeit, Liebe zu finden, „all mein Glück dahin" ist. Ich habe noch so viele Interessen und Ideale in der Freude an der herrlichen Natur und an der Kunst, »laß ich bis jetzt ein im ganzen glückliches Leben geführt habe, jedenfalls intensiver genießend, als mancher normale Mann, der außer im Geschlechtsleben die Kulmination seiner Freuden ain Stammtisch findet. Nur bisweilen, wenn meine Leidenschaft, stärker erregt, vergebens nach Befriedigung ringt, drückt mich meine Dornenkrone stärker. Einst liebte ich einen Mann von meinem Alter, an Bildung weit unter mir stehend, den ein kühler Beobachter kaum schön genannt haben würde. Meine Neigung wurde erst zur Leidenschaft, als ich ihn persönlich kennen lernte und fand, daß er einen sehr ehrenwerten Charakter, gute Manieren und einen auffallenden Bildungsdrang hatte. Ich unterstützte seine Lernbegierde und seinen Eifer, seine Fortschritte versetzten mich manchmal in Begeisterung, dann schien er mir geradezu schön zu sein. Er sah in mir seinen Freund und Wohltäter, ich liebte ihn nicht nur geistig, sondern mit allen meinen Sinnen und oft kostete es mir meine ganze Willenskraft, mich zu beherrschen. Jede Gelegenheit suchte Ich, um seine Hand zu berühren oder gar neben ihm sitzend, den Arm vertraulich um seine Schulter zu legen. Ob ich ihm nicht mitunter in meinem Benehmen etwas auffällig vorkam, ich weiß es nicht. Jedenfalls blieb er immer gleichmäßig freundlich. Alle Qualen der Eifersucht habe ich durchgemacht, wenn ich einmal zu bemerken glaubte, daß er gegen jemand anders freundlicher war, als gegen mich. Es wider- strebt mir, näher auf dies Verhältnis einzugeben, ich möchte nur bemerken, daß es durchaus ideal geblieben und nie Uber die er- wähnten Vertraulichkeiten hinausgegangen ist.

Noch „platonischer* ist die homosexuelle Liebe in

eiuem dritten Fall:

„Kurz bevor ich meine Natur entdeckte, indem mir ein Kollege, der mich über sich Selbst aufklären wollte, den Moll in die Hand gab, hatte ich mein Hera an einen Unteroffizier der Artillerie verloren, einen Mann von stolzer, herrlicher Schönheit. Er wohnte ganz in meiner Nähe. Als ich ihn zum ersten Male auf der Straße sah, blieb ich wie festgewurzelt stehen und blickte ihm nach, bis er mir entschwand. Von nun an sah ich ihn öfter und wie sehnte ich mich nach diesen Begegnungen, und wenn er kam, wie stockte mir der Atem, die Kehle war mir wie zuge-

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schnürt! Gingen wir entgegengesetzt, dann kehrte ich um und folgte ihm, mit den Blicken die wunderbare Gestalt verschlingend. Ich fand bald heraus, um welche Zeit er ungefähr abends aus der Kaserne nach Hause kam. Ich sali dann am Fenster und wartete geduldig, ein moderner Toggenburg, um ihn blos flir einige Sekunden zu sehen. Wenn sich seine Heimkehr verzögerte, saß ich so wohl eine Stunde und länger, ein Buch oder eine Zeitung in der Hand, bei jedem Säbelklirren zusammenfahrend. Oft fürchtete ich, er könne mein Benehmen bemerken, aber nein, gleichgültig streifte mich sein Blick wie jeden beliebigen anderen Menschen, wenn ich an ihm vorüberging. So ging es viele Jahre, ohne daß ich je gewagt hätte, seine Bekanntschaft zu machen."

Wie die Sehnsucht, so trägt auch die mit ihr so oft verschwisterte Eifersucht bei beiden, der anders- und gleichgeschlechtlichen Triebrichtung einen vollkommen entsprechenden Charakter. Ein urnischer Militär— Inten- dantur-Beamter erzählt, dass er aus Eifersucht einem norraalsexuellen Freunde, den er „wahnsinnig" liebte, alle Mädchen „ausspannte," in die dieser sich „vergafft* hatte.

Unter den Homosexuellen findet man geuau wie unter den Heterosexuellen polygame Don Juan-Naturen, deren Liebe sich bald diesem, bald jenem zuwendet, und mono- game, deren beharrliche Treue jedem Ehebündnisse zur Ehre gereichen würde. Auch hier zwei Beispiele. Ein homosexueller Buchhändler von 33 Jahren erzählt:

„Als ich 20 Jahre alt war, lernte ich einen 17jährigen Jüng- ling kennen. Ohne von meiner Veranlagung zu wissen, fühlte ich mich zu ihm unaussprechlich hingezogen. Da er vollständig weibliebend war, konnte er meine Liebe nur mit Freundschaft erwidern. Ich nahm den Jüngling zu mir und arbeitete und darbte flir ihn. Auch er hing an mir mit einer Freundesliebe, die ihres gleichen suchte. Ich verlebte selige, glückliche Zeiten. Nach drei bis vier Jahren aber kam das Unglück, in ihm erwachte jetzt die Liebe zum Weibe. Er konnte es nicht verstehen, daß es mich schmerzte, wenn er sich in den Armen eines Mädchen befriedigte. Ich rang und kämpfte mit mir selbst, ich wollte fühlen lernen wie andere Menschen. Mein Herz sträubte sieh, daß mein Liebling nicht mehr ganz meiu eigen sein sollte, wenn er mir auch sagte, daß er mich noch eben so lieb hätte wie früher. Damals war ich

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noch sehr religiös, ich flehte zu Gott, aber mir wurde keine Hilfe, keine Rettung. Mein Freund wußte mir keinen andern Rat zu geben, als es auch mit Weibern zu versuchen. Ich glaubte ihm und ging eines abends mit zu einer Maitresse. Aber sobald ich bei ihr im Zimmer war, bebte ioh an allen Gliedern, an geschlecht- liche Erregung war kein Gedanke, kurz entschlossen lief ich nach Hause und ließ dort meinen Tränen freien Laut. Jetzt war ich mir klar, daß ich nicht wie andere Menschen war. Bald nahte die Stunde der Erlösung. Ich kaufte „die Enterbten des Liebes- glücks" und wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Ich wuüte nun, daß ich mit meinen Gefühlen nicht allein auf der Welt war; der Schmerz war stark, wie ich mich jetzt ganz er- kannte, aber ich segne die Zeit, wo ich Aufklärung fand. Durch sie lernte ich auch Nachsicht mit den Gefühlen meines Freundes haben. So sind die Jahre dahingegangen und noch heute nach drei- zehn Jahren wandle ich mit meinem Liebling, den ich als siebzehn- jährigen Jüngling kenneu lernte, Hand in Hand durch dieses Leben. Mit meinem Schicksalf) zufrieden, die heilige Urnings- liebe im Herzen, denke ich mir oft, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Selbst nicht die harten Urteile der Menschen über unsere Liebe sind mehr im Stande, die Zufriedenheit und Ruhe meines Herzens zu erschüttern. Ich denke: „Sic sind wie Kinder und wissen nicht was sie tun." Meine grenzenlose Liebe hat in den violen Jahren nicht vermocht, in meinem Liebling auch nur eine Idee von dem Triebe zum Weibe auszulöschen, obwohl ich stets von Zeit zu Zeit mit ihm geschlechtlich verkehrte."

Im Gegensatz zu diesem Fall will ich die Auf- zeichnungen eines polygamen Homosexuellen wiedergeben. Es ist derselbe, den wir schon früher als urnischen Knaben kennen lernten und den im weiteren Verlaufe des Lebens der Fluch seiner orthodoxen Familie durch alle Welt jagte. Er schreibt:

„Ich habe mich, um meinen geschlechtlichen Reiz zu befriedigen, in der Folge wohl hunderten von Leuten der verschiedensten Nationen hingegeben. Dabei habe ich aber absolut meinen eigenen Geschmack gewahrt, denn mit einem mir physisch unsympatischen Menschen ist es mir Uberhaupt nicht möglich, geschlechtlich zu verkehren. Männer, die ich geliebt habe, hatten immer etwas von der Idealgestalt meiner Jugend. Dahin gehören männlich aussehende, kräftige Gestalten und Gesichter, frische, gesunde Farben, fröhliche, wenn möglich, blaue oder graue, treuherzige,

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offene Augen, ein frischer Mund, schöne Zähne und möglichst großer Schnurrbart. Schöne Männer, die sich weibisch benehmen, sind mir ekelhaft. Junge Leute, oder auch ältere ohne Schnurr- bart kann ich nicht leiden, ebenso ist mir jeder Bart außer dem Schnurrbart höchst unsympathisch. Schöne Gestalton sind mir lieb, aber das Gesicht ist ausschlaggebend. Jn Deutschland sind es Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere, Schaffner, Schutzleute, Post- beamte, Droschkenkutscher, Portiers, Maurer, Arbeiter, besonders in hohen Stiefeln und Lederhosen, unter denen ich die mir sym- pathischen Erscheinungen meistenteils gefunden. Selbstverständ- lich kann ein solches Verhältnis nie von Dauer sein, da nur das rein sinnliche Element dabei in Betracht kommt, doch momentan, noch kürzlich, konnte ich mich für einen schönen Ulanenunter- offizier dermaßen interessieren, daß ich ihm stundenlang nachge- laufen bin, bis es mir gelang, eine Gelegenheit auszunützen, bei der ich in unauffälliger Weise mich eng an ihn schmiegen konnte. Ich entdeckte in ihm einen Gleichgesinnten und längere Zeit war dieses Verhältnis im Stande, mich völlig auszufüllen. Unter den höheren Ständen finde ich viel seltener mir körperlich sympathische Leute, dagegen unterhalte ich mich oft und gerne mit ihnen und ver- kehre in ihren Kreisen. Ich finde überhaupt, daß im Vergleich mit dem wirklich gebildeten Amerikaner, Irländer oder Engländer der Deutsohe, was männüche Erscheinung und männliches Wesen anbelangt, oft einen gezierten, fast weibischen Eindruck macht. Im homosexuellen Verkehr ist mir der Franzose am unange- nehmsten. Er hat eine mir abscheuliche Art und Weise hundert Küsse zu geben, die nicht einen wert Bind. Er ist in seinen Liebesbezeugungen von einer hastigen, affektierten Leidenschaft. Den Italiener ziehe ich bedeutend vor, er ist wirklich leiden- schaftlich empfindend und in seiner Art sich zu geben liegt etwas tieferes, ernsteres. Mit Spaniern ging es mir ebenso. Am liebsten hatte ich den Irländer, es ist entschieden die männlichsto Nation, die ich kenne. Wenn er jemand wirklich zugetan ist, so ist er treu und aufopferungsfähig wie kein anderer. Amerikaner und Eng- länder waren mir meist angenehm oft aber etwas zu kühl und geschäftsmäßig. Dänen, Norweger und Schweden fand ich oft geziert. Rein sinnlich beim Akt, den Reiz oft bis zum Wahnsinn steigernd, sind die slavischen Völker. Mit Negern, außer Misch- lingen mit rein kaukasischer Gesichtsbildung und ohne Wollhaar, habe ich nie zu tun gehabt, obwohl sie vielfach ihrer stark aus- gebildeten Genitalien wegen beliebt sind. Sie sind feurig, fast tierisch wild, wenn sinnlich erregt. Vor den asiatischen Rassen

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habe ich stets Abscheu empfanden, mit Ausnahme von Türken und Persern, mit denen ich nie homosexuell verkehrt habe.

Wenn ich die frischen Lippen eines Mannes aus dem Volke kilsse, und seine feste Gestalt umfasse, dann erwacht jedesmal in mir die Sehnsucht, auch Geist und Verständnis, mit dem was mich körperlich reizt, vereinigt zu finden. Im Grunde ist es doch immer unwillkürlich die mit den Augen des phantastischen Knaben geschaute und wohl in der Erinnerung idealisierte Ge- stalt jenes Offiziers, nach der ich rastlos jage und suche unter allen Nationen, in den verschiedensten Klassen der Bevölkerung, die zu finden ich jetzt fast aufgegeben habe, ohne das Sehnen danach lassen zu können.

Bei der Diagnostik der echten Homosexualität legt Näcke l) mit vollem Recht besonders Wert auf den Nach- weis, daß auch, ebenso wie der Heterosexuelle hetero- sexuell träumt, das Traumleben der Homosexuellen von seiner Triebrichtung beherrscht wird. Wie eine sehr große Anzahl von Einzelmitteilungen zeigt, ist dies tat- sächlich durchgängig der Fall. Dabei erscheint es mir beachtenswert, daß die angenehmen Träume der Urninge auch schon vor Eintritt der Reife von gleichgeschlecht- lichen Vorstellungen erfüllt sind,2) sowie daß nicht ero- tische Träume qualvoller Art durchaus nicht selten durch normale Cohabitationsversuche hervorgerufene Beängsti- gungen zum Gegenstande haben. Ein Urning gibt an: „Ich träume oft, ich bin verlobt oder verheiratet. Dabei habe ich das Gefühl furchtbarer Beklommenheit und einer undefinierbaren Angst." Hie und da kommt es

') Näcke: Kritisches zum Kapitel der normalen und patho- logischen Sexualität. Archiv f. Psych. Bd. 82. Heft 1. (1899.)

Näcke: Die forensische Bedeutung der Träume. Archiv f. Kriminalanthr. 1900. 3. Bd.

Näcke: Probleme auf dem Gebiet der Homosexualität in der H. Laehrschen Zeitschrift f. Psychiatrie etc. 59 Bd. S. 812. 818 und 825.

*) Man vergl. das bei der Schilderung des urnischen Kindes Angeführte.

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vor, daß Urninge sich scheuen, mit Angehörigen das Zimmer zu teilen, weil sie befürchten, sie könnten durch „Sprechen aus dem Schlaf" ihre homosexuellen Neigungen verraten. Ähnlich wie im Traum dokumentiert sich auch in der Trunkenheit deutlicher die geschlechtliche Tendenz, indem ja der Alkohol durch Lähmung des kritischen Oberbewußtseins das Gefühlsleben mehr hervortreten läßt. Uberhaupt tritt das Elementare und Natürliche der urnischen Liebe überall da besonders deutlich her- vor, wo die Hemmungsvorstellungen in stärkerem Grade ausgeschaltet sind. Ein älterer urnischer Staatsbeamter teilte mir mit, daß er einem lang gehegten Wunsche entsprechend vor einiger Zeit in seinen engeren Kreisen einen jungen Konträrsexuellen von etwa 20 Jahren kennen lernte. Er berichtet darüber: »Der betreffende Jüngling ist bereits in seinem Äußern, vollständig aber in seinem Fühlen und Denken, feminin. Erst seit kurzem unter- richtet, daß es Konträrscxuelle gäbe, war er über sich selbst noch nicht klar. Ich hatte ihn eingeladen, mich auf einige Tage zu besuchen und als ich ihn des Abends in sein Schlafzimmer geleitet und ihm gute Nacht ge- wünscht, war er so ungeheuer erregt, daß er mir wortlos in die Arme fiel. Wenn man solche hervorbrechende Leidenschaft mit dem Worte Unnatur abtun will, so haben die Leute, deren Urteil leider heute noch maß- gebend ist, niemals ein solches Menschenkind in dem Augenblicke gesehen, in dem mit so elementarer Macht zum ersten Male die Liebe gebieterisch ihr Recht ver- langt und zwar in einer für das betreffende Individuum normalen Form.*

Durch die Hebung der ganzen Persönlichkeit er- klärt es sich, daß trotz der beispiellosen Widerwärtig- keiten, denen die Homosexuellen ausgesetzt sind, 90 von hundert keine Änderung ihres Zustandes wünschen, d.-i* Hest dieselbe auch fast ohne Ausnahme nur aus sozialen,

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nicht aus persönlichen Gründen erstrebt. Trotzdem alle sich zeitweise höchst unglücklich fühlen, mehr als 50% vorübergehend an Selbstmord ideen litten, mehr als 10% Selbstmordversuche vorgenommen haben, fühlen fast sämt- liche den homosexuellen Trieb so sehr als einen Teil ihrer selbst, daß sie sich ohne denselben kaum vorstellen können und meinen, mit demselben eines wesentlichen Lebensguts beraubt zu werden. Ein urni scher Student, den ich wegen Schlaflosigkeit hypnotisierte, nahm mir einmal ein förmliches Versprechen ab, daß ich ihm in der Hypnose nicht an seiner Homosexualität 9 herumsuggeriere. * Ich gebe noch einige Bemerkungen Homosexueller wieder, die sich auf diesen Punkt beziehen. Ein Psychiater schreibt: „Meine Natur hätte mir von vorn herein klar sein müssen. Nur künstliche Konstruktionen auf Grund anerzogener Begriffe konnten über sie hinwegtäuschen, sie aber nicht im Geringsten unterdrücken. Eine Um- änderung meiner Veranlagung wünsche ich nicht, da ich damit meine ganze Persönlichkeit negieren würde." Ein Richter äußert sich: „Ich verspürte schon lange vor jeder körperlichen Berührung ein so inniges Glücksgefühl durch meine Neigung, sie war so sehr ein Teil meines innersten Wesens, daß ich nur dann anders sein möchte, wenn ich wüßte, wie ich mich alsdann fühlen und befinden würde.14 Ein alter Pfarrer bemerkt: „Sollte ich noch die Aus- merzung des § 175 erleben, so würde nichts zu meinem Glücke fehlen. Ich bin der festen Überzeugung, daß mir der sogenannte anormale Zustand vom Schöpfer gegeben ist und für mich gerade so normal ist, als der gewöhn- liche Sexualzustand für die übrigen Menschen. Ich be- neide sie nicht im geringsten um das Kleinod, welches sie im Weibe besitzen, sondern danke Gott, daß ich meine Liebe und Zuneigung einem Jüngling schenken kann." So sehen wir, daß wie der Heterosexuelle nicht homosexuell, auch der Homosexuelle nicht heterosexuell empfinden möchte.

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Diese absolute Kongruenz, die sich ausnahmslos auf alles erstreckt, was es in der Liebe und im Geschlechts- trieb Physiologisches und Pathologisches, Hohes und Niederes, Gutes und Böses, Schönes und Häßliches gibt, ist nur begreiflich und erklärlich, wenn es sich um zwei völlig analoge, nebengeordnete und auch in ihren Ursachen gleichgeartete Gefühlsrichtungen handelt.

III. Die Unausrottbarkeit der Homosexualität.

Es ist anzunehmen, daß ein Trieb angeboren ist, wenn äußere Einflüsse nicht imstande sind, denselben umzu- wandeln; wenn Homosexuelle durch Umstände irgend . welcher Art im Verlaufe ihres Lebens normal fühlend werden, so würde das sehr dafür sprechen, daß es sich um eine erworbene Eigenschaft handelt. Schrenck-Notzing, der unter denjenigen, die Näcke neuerdings ') als wirkliche Sachverständige in dieser Frage bezeichnete, der einzige Vertreter der Erwerbstheorie ist, sagt mit einem gewissen Recht8): Je mehr sich die Zahl der Fälle häuft, in denen bleibende therapeutische Resultate erzielt worden sind, um so geringer erscheint nach unserer Meinung der Anteil, den die erbliche Disposition in der Entstehung dieser Anomalie beanspruchen kann." Die Therapie, von der hier die Rede ist, ist die hypnotische Suggestionsbehand- lung. Aber gerade die Wirksamkeit dieses Heilmittels kann nach allem, was verbürgt über die Erfolge der Hyp- nose auch bei angeborenen Eigenschaften berichtet ist? hier als beweiskräftig nicht herangezogen werden.

*) Nücke, Probleme auf dem Gebiete der Homosexualität, in der AUg. Zeitschr. f. Psychiatrie etc. S. 809. *) S. 149 a. a. 0.

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Wenn es möglich ist, durch Beeinflussung der Psyche körperliche Veränderungen wie Brandblasen hervorzu- rufen, wenn man Blindheit und Taubheit, Anosmie und Ageusie suggerieren konnte, wenn man in der Hypnose tiefgreifende Wirkungen auf die Menstruationen und Pollutionen ausüben kann, Medien zu veranlassen ver- mochte, nach dem Erwachen etwas zu sehen, was nicht da war, etwas nicht zu sehen, was da war/ wenn man alte Leute davon überzeugte, sie seien wieder Kinder ge- worden, warum soll es denn etwas Ungewöhnliches sein, Homosexuellen Genuß am Weibe zu suggerieren? Es

Anme rkung. Man vergleiche über die hypnotische Behand- lung der Homosexualität neben von Schrenck-Notzing: DieSug- gestionatherapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns und Krafft- Ebing: Psychopathia sexualis S. 303 ff. besonders Fuchs: Therapie der anormalen Vita sexualis 1899, S. 45; Wetter- strand: Der Hypnotismus und seine Anwendung in der prak- tischen Medizin, 1891, p. 52 ff.: Bern heim: „Hypnotisnie", Paris, 1891. S. 38.

Über Beeinflussung und Umwandlung angeborener Eigenschaften durch Hypnose findet man Berichte ausführlich angeführt in:

1. Jame-Braid: Neurypnology or the rationale of nervous sleep considered in relation with animal magnetisme. London. ChurchhiU. 1843.

2. A. Li£bault: Du sorameil et des etat« analogue», considerOs surtout au point de vue de l'action du moral sur le physiqne. Paris. Masson, 1866.

3. A. Liebault: Le sommeil provoque et les etat« analogues. Paris. Doris, 1889.

4. H Bern heim: De la Suggestion dans IVtat hypnotique et dans l'etat de veüle. Paris, 1884.

5. H. Bernheim: Do la Suggestion et de ses applications ä la therapeutique. Paris, 1886.

6. H. Bernheim: Hypnotisme, Suggestion, Psychotherapie. Etudes nouvelles. Paris, 1891.

7. R. Haidenhain: Der sogenannte tierische Magnetismus. Physiologische Beobachtungen. Leipzig. Breitkopf & Härtel. 1880.

8. Albert Moll: „Der Hypnotismus". Berlin. Kornfeld. lKxi».

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würde sicher in ähnlicher Weise auch gelingen ob derartiges bereits versucht wurde, ist uns nicht bekannt Heterosexuellen homosexuelle Libido einzuflößen. Würde man nun aber aus der Umwandlung heterosexueller Empfindungen den Schluß ziehen, daß der Trieb der Männer zum Weibe nicht angeboren, sondern erworben sei? Mit nichten, ebensowenig kann man es dann aber auch aus den hypnotischen „Heilungen* Homosexueller. Ich teile nicht die pessimistische Ansicht Binswangers J)

9. A. Forel: Der Hypnotismus, seine psychologische, medi- zinische, strafrechtliche Bedeutung etc. Stuttgart. Enke. 1895. (III. Aufl.)

10. Ewald Hecker: Hypnose u. Suggestion im Dienste der Heilkunde. Wiesbaden. Bergmann. 1898.

11. Otto Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völker- psychologie. Leipzig. Koehler. 1894.

12. Wetterstrand: „Der Hypnotismus". Wien und Leipzig. 1891. S. 31.

18. J. M. Charcot: „La foi c|ui gucrit". Revue hebdomadaire. Tome VII. Dec. 1892.

14. K ein hold Gerling: Der praktische Hypnotiseur. Berlin. Müller. III. Aufl. 1902.

15. Zeitschrift für Hypnotismus. Seit dem Jahre 1893 herausgegeben von A. Forel u. O. Vogt Leipzig. Barth.

Wie weit sich unter bestimmten Verhältnissen die ganze Per- sönlichkeit unter hypnotischem Einfluß umgestalten kann, zeigt die noch so geheimnisvolle Erscheinung des doppelten Bewußtseins. Man findet darüber näheres in:

1. Max De8soir: Das Doppel-Ich. Leipzig, Günther. lti'MK

2. Azam: Hypnotisrae et double conscience. Paris. Alcan. 1H93.

3. Uson Osgood: „Duplex personality" Joura. nerv, and raent. diseases. Spt. 1893.

4. Freiherr v. Schrenck- Notzing: Über Spaltung der Persönüchkeit etc. Wien, Hölder, 1896.

Endlich auch in:

Robert Macnish: „The philosophy of sleep", Glasgow und London.

') Biuswanger: Verwertung der Hypnose in Irrenanstalten. Therap. Monatshefte 1892. Heft 3 u. 4, S. 167.

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„daß den Aussagen der an perverser Sexualempfindung Leidenden über Erfolge in der Hypnose kein Glauben beizumessen sei," umsomebr stimme ich aber Kratft-Ebing, der gleich groß als Kenner der Hypnose und der Homosexualität erklärt, 1 ) daß selbst die dauerndsten Erfolge der Hypnose nicht auf wirklicher Heilung, sondern auf suggestiver Dressur beruhen1*; „es seien bewunderungswürdige Artefakte hypnotischer Kunst, keineswegs Umzüchtungen der psychosexualen Existenz." Krafft-Ebing führt, als bezeichnend dafür, den glänzendsten freile rfolg Schrenck-Notzings an, dessen Repräsentant nach vollendeter .Heilung* von sich selbst sagte: „Ich fühle immer eine gewisse, nicht zu über- windende Schranke, die nicht auf moralischen Gründen basiert, sondern, wie ich glaube, direkt auf die Behandlung zurückzuführen ist.* Der Verfasser der Psychopathia sexualis schließt diese Bemerkungen mit dem Satze: .Jedenfalls beweisen solche „Heilungen- (die hier und vorher bei diesem Wort angebrachten Anführungsstriche finden sich im Original) nichts gegen die Annahme des originären Bedingteeins der konträren Sexualempfindung. Ich selbst habe sehr viele Urninge gesehen, die sich ver- geblich hypnotischen Kuren unterzogen haben. Mir ist ein Jüngling im Gedächtnis von so femininer Beschaffen- heit, daß außer dem eigentlichen Genitalapparat auch nicht das geringste männliche an ihm zu entdecken war. Derselbe hatte sich über ein Jahr erfolglos bei einem süddeutschen Kollegen hypnotisieren lassen. Ich kenne persönlich nur einen Homosexuellen, der mir mitteilte, daß er sich durch die suggestive Behandlung des Kollegen Fuchs in Wien von seinem gleichgeschlechtlichen Triebe befreit fühle. Doch, wie gesagt, wenn auch hundert solcher Heilberichte vorliegen würden, sie würden nicht

') Psychop. »ex. S. 311 ft'.

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das Erworbenseiii der konträren Sexualempfindung er- weisen, abgesehen davon, daß die Realsuggestionen, die das Leben dem homosexuell Veranlagten erteilt, die Auto- und Fremdsuggestionen, die fortgesetzt auf ihn wirken, viel stärker sind, als die Verbalsuggestionen eines noch so befähigten Arztes. Wären äußere Einflüsse imstande, die Triebrichtung zu ändern, so müßte der gleich- geschlechtliche Trieb längst erloschen sein.

Wie sehr ist die ganze Erziehung darauf gerichtet, aus dem u mischen Knaben einen Vollmann zu entwickeln; zu Hause und in der Schule wird er genau so wie die anderen normalen Kinder erzogen, schon früh wird ihm alles förmlich als Schande, zum mindesten als Unschick- lichkeit, ausgelegt, was man als dem anderen Geschlechte zukömmlieh ansieht. Fangen dann die Kameraden oft schon mit dreizehn, vierzehn Jahren an, für das Weib zu schwärmen, so gibt sich der homosexuelle Jüngling die größte Mühe, es den andern nachzutun, er schämt sich förmlich, daß er noch keine Flamme" hat und ihm kein Name einfallen will, wenn es im Rundgesange heißt: „Bruder, Deine Liebste heißt?" Sehr häufig tritt auch die erste sexuelle Verführung von weiblicher Seite, namentlich durch Dienstmädchen, ein. Aber so wenig ein Heterosexueller durch die ebenfalls nicht seltene erste geschlechtliche Erregung einer männlichen Person homo- sexuell wird, ebenso wenig wird ein Homosexueller dadurch weibliebend. Eine ganze Reihe von Urningen erklären auf das allerbestimmteste, daß sie sich genau erinnern^ daß die erstmaligen Erregungsversuche vom. anderen Ge- schlecht ausgingen. So schreibt einer unserer bedeutenderen Schriftsteller: „Ich lege das Hauptgewicht darauf, daß, trotzdem der erste sexuelle Anstoß weiblicher Art war eine Kindsmagd verführte mich , trotzdem mir das weibliche Geschlecht durch ' Erziehung von Jugend an sozusagen auf dem Präsentierteller gereicht wurde und

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meine Lektüre nur die Weiberliebe verherrlichte die Neigung zum männlichen Geschlecht doch eintrat, sobald ich des Zwanges ledig war." In der Tat ist auch die Suggestionskraft der gesamten Literatur, die in ihren Romanen und Epen, ihren Dramen und lyrischen Gedichten nahezu ausschließlich die normale Liebe zum Mittelpunkte hat, nicht imstande, den Trieb auf das Weib zu richten, seine Richtung ist unerbittlich und unveränderlich. Wenn es dem jungen Mann allmählich klar wird was meist um das zwanzigste Jahr herum der Fall ist daß sich sein Begehren von dem seiner Umgebung wesentlich unter- scheidet, beginnt gewöhnlich ein Kampf gegen sich selbst, der an Stärke wohl kaum seines gleichen hat. Ein homo- sexueller Künstler berichtet: „Ich habe ganz furchtbar gekämpft mit Aufgebot meiner ganzen Willenskraft; ver- gebens; ich habe so gelitten, daß ich eine langjährige Nervenkrankheit bekam. Kaum genesen, begann der aufreibende Kampf von neuem. Als ich merkte, daß sich die ureigenste Natur nicht umwandeln läßt, verfiel ich in eine tiefe, lange Melancholie, die sich obwohl ich nie äußere Konflikte hatte bis zum ärgsten Lebens- überdruß steigerte etc." Ein Schweizer Uranier schreibt: „Von Jugend an bin ich hartnäckig gegen mich ange- gangen und habe mir die größte Mühe gegeben, meine Neigungen zu beherrschen. Es gelang mir hie und da, aber leider machte ich stets dieselbe Erfahrung; je länger ich anscheinend siegreich den Trieb unterdrückte, um so heftiger kehrte er auf einmal zurück. Hauptsächlich ge- schieht dies nachts beim plötzlichen Erwachen, wenn die Willenskraft durch den Schlaf vermindert ist. Was habe ich nicht alles angewandt : feste Entschlüsse und Gelübde, Ärzte zu Rate gezogen, Wasserkuren, Hypnose und Elektrizität, systematische Ablenkung der gefährlichen Gedanken durch körperliche Übungen, Ackerbau, Reisen, Militärdienst, Studien, Lesen etc. Ich opferte geliebte

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Gegenstände ; weder Religion noch Philosophie waren mir behülflich. Ich litt stark an Lebensüberdruß. Vier Jahre war ich leidenschaftlich in einen jungen Mann gleichen Alters verliebt, bis derselbe im 24. Jahre starb, ohne daß ich ihm jemals eine Äußerung machen durfte. Es war ein Höllenleben." Noch einen urnisch en Arbeiter wollen wir hören: „Ich hatte von meinem 19. 21. Jahr ein sehr inniges und ideales Freundschaftsverhältnis, mein Freund war ein Jahr jünger als ich, von großer Lebhaftigkeit^ Natürlichkeit und Fröhlichkeit. Nichts wäre imstande gewesen, uns zu trennen. Da entdeckten seine Eltern in ihm den Urning und jagten ihn mit Schimpf und Schande aus dem Hause. Er ging nach Paris und ist seit 4 Jahren verschollen. O, diese elterliche Unvernunft! Damals lernte ich erkennen, daß auch ich voll und ganz zu jenen von der ehrbaren Welt Ausgeschlossenen gehöre, öfter als einmal war ich nahe daran, diesem jammervollen Leben ein Ende zu machen. Was ich infolge meiner urnischen Natur gekämpft und gelitten, vermag ich auch nicht annähernd zu schildern. Wenn ich nicht los- knallte, so ist es wahrhaftig keine Feigheit gewesen, sondern allein die Erkenntnis hielt mich ab, daß ein größerer Mut dazu gehört, auszuharren, und daß nicht die Natur, sondern die kurzsichtige Menschheit in Ver- blendung den Fluch über uns geschleudert hat, welcher ich sage leider hundertfach auf sie zurückfiel, indem sie tausende von Menschen, deren geistige Tätigkeit für sie von größtem Nutzen gewesen wäre, zur Verzweiflung und in den Tod getrieben hat."

Unter den Mitteln, die angewandt wurden, den homo- sexuellen Trieb auszurotten, steht die Religion obenan. Sehr viele Urninge haben jahrelang auf den Knieen ge- legen und Gott um „Errettung" angefleht. Eine nicht un- beträchtliche Anzahl hat mitgeteilt, daß sie in diesem langen vergeblichen Ringen schließlich ihren Glauben

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verloren haben. Ich zitiere zwei. Der eine ein Arbeiter schreibt: „Durch meine sehr fromme Mutter stark zur Religion erzogen, habe ich nach Erkenntnis meines see- lischen Zustandes Gott in heißen Gebeten angefleht, er solle mir in meiner Not einen Ausweg zeigen. Als ich sah, daß sich trotz eiserner Beherrschung und ungeheurer Kämpfe mein Zustand nicht änderte, habe ich mein Gott- vertrauen verloren." Ein zweiter berichtet: .Ich rang zu dem Gott, der mir in der Schule gelehrt war, mich von dem gleichgeschlechtlichen Triebe, den ich für sünd- haft hielt, zu befreien. Der Himmel aber blieb taub. Ich kam mir oft vor wie ein Schiff, das mitten auf dem Ozean den Wellen preisgegeben ist. Obwohl ich in solchen Stunden dann niederkniete und im Gebete um Erlösung schrie, blieb ich verlassen. Schließlich gerieten darüber alle meine religiösen Anschauungen ins Wan- ken. Jetzt glaubte ich an nichts mehr. Ich kann nicht mehr glauben. Äl) Einige stark religiöse Naturen

') Anmerkung: Vor kurzem schrieb mir zu diesem Punkt ein Ordensgeistlicher folgendes: Ich zweifle nicht daran, dass zahlreiche Urninge um ihrer Geschlechtsnatur willen den Glauben verlieren. Sie kommen allmählich dazu, sich selbst als lebendige Argumente wider die Bibel und wider die Lehron der Kirche zu betrachten. Man geht sicher nicht fehl, wenn man annimmt, dass der Anteil des Uranismus an dem Kampf gegen das kirchliche Prinzip von jeher ein sehr be- trächtlicher gewesen ist. Andere werden Zweitier und Grübler. Auch homosexuelle Geistliche, und vielleicht diese gerade am meisten, gehen oft ihrer Glaubensfreudigkeit verlustig und kämpfen ihr Leben lang mit schweren Zweifeln. Je mehr die Reflexion Uber sich selbst ihr Innenleben beherrscht, um so schwerer wird es ihnen, die religiöse Disziplin ihrer Gedanken aufrecht zu erhalten. Wieder andere, und dahin dürften wohl ganz vorzugsweise Theologen gehören, regt das (Jeheimnis, das auf dem Grund ihrer Seele liegt, zu positiver Geistesarbeit an. Die Argumente aus dem Consensus communis und aus der Auctoritas doctrinalis, denen der Urning überhaupt mit einem für ihn naturgemäßen Skeptizismus gegen- übersteht, werden ihnen zum Gegenstand der Kritik und sie fangen

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kommen nach langen vergeblichen Kämpfen zu der Überzeugung, daß ihr Zustand von Gott gewollt sein muß. Ein katholischer Graf sagt: „Die Annahme, meine Gleichgeschlechtlichkeit sei Sünde, Laster, Unnatur, er- scheint mir als Beleidigung des allweisen Weltenschöpfers." Und ein protestantischer Pfarrer meint: „Wenn ich um meines mir eingepflanzten Triebes willen ein Verbrecher bin, dann ist es der Schöpfer, der mich als Verbrecher erschaffen hat. Das aber heißt doch, den Schöpfer einer Untat bezichtigen. Gott erschafft niemand als Verbrecher. Wer das sagt, lästert Gott." Einige wenige endlich be- sitzen die Kraft, sich durch die Religion zur Abkehr durchzuringen. Im unklaren über die Natur ihrer Neigungen, die sie als niedrige Fleischeslust empfinden, gelangen sie schließlich meist nach Ablegung von Keuschheitsgelübden zum Enthaltsamkeit^ und Sittlich- keitsfanatismus. Ich behandele ein 25 Jahre altes Mit- glied des weißen Kreuzes an hochgradiger Neurasthenie, an dessen Uranismus nicht der mindeste Zweifel besteht. Er zeigt die vier charakteristischen Stigmata, somatische, psychische Zeichen, große Abneigung gegen das Weib, das er noch nie berührte, und einen Freundschafts- enthusiasmus, über dessen geschlechtlichen Grundcharakter er nicht unterrichtet ist. Nachdem er viele Jahre mastur- bierte, hat er das Gelübde der Keuschheit abgelegt, das er seit drei Jahren durchführt.

an, energisch zwischen Dogma und Sehulmeinung, zwischen kulturell bedingter äusserer Form und wesentlichem Inhalt, zwischen objek- tivem und subjektivem Christentum zu unterscheiden. Sie betonen das Recht der Naturwissenschaft und der weltlichen Wissenschaft überhaupt sowie die Notwendigkeit des Anschlusses an sie, sie ver- urteilen die übertriebene Berücksichtigung d«r Tradition und ihrer Auffassungen, sie bekennen sich zum Grundsatz „des durch das Naturgesetz verbürgten Hechtes auf die ganze Wahrheit", sie werden notwendig dahin gedrängt, wo das Losungswort „Reform" und „Fortschritt" ausgegeben ist.

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Noch weniger wie die Religion ist das Gesetz im Staude, die Homosexualität nennenswert einzuschränken. Selbst die drohende Todesstrafe, die in einigen Ländern früher auf dieser Art der Liebe ruhte, vermochte die Urninge trotz ihrer Ängstlichkeit nicht abzuschrecken. Die Ubereinstimmende Erfahrung von Leuten, die wirklich im Stande sind, darüber ein Urteil abzugeben, stellen es ganz außer Zweifel, daß homosexuelle Handlungen in gleicher Häufigkeit vorkommen, ob Gesetze bestehen oder nicht; so sind diese Akte in Deutschland und England keinesfalls seltener, nach Ansicht vieler Ur- ninge sogar eher häufiger als in Holland und Frank- reich, wo die entsprechenden Paragraphen gestrichen sind. Mir teilten Homosexuelle mit, daß ihr Haupt- gedanke im Gefängnis die Sehnsucht nach dem Freunde war, durch dessen Umgang sie ihre Freiheit ver- loren hatten. Wiederholt habe ich von urnischen Richtern gehört, wie sehr sie gerade unter dem Konflikt zwischen ihren Berufspflichten und den eigenen Trieben zu leiden hatten. Ein noch junger Jurist schrieb mir: „Einmal hatte ich, selbst homosexuell, als Staatsanwalt gegen Homosexuelle zu plaidiren, einmal als Richter über einen Homosexuellen zu urteilen, einmal über mir bekannte Homosexuelle, darunter war ein guter Freund und einer, mit dem ich oft geschlechtlich verkehrt, als Richter mitzuurteilen wegen Vergehen gegen § 175. „Letztere Zwangslage wurde mir erspart, indem ich mich durch einen anderen Richter vertreten ließ."

Auch der Verlust der Lebensstellung nützt nichts, ebenso wenig schützen die Erpressungen, von deren Furchtbarkeit und Ausdehnung sich niemand eine Vor- stellung machen kann, da ja nur ein ganz verschwindender Bruchteil an die Öffentlichkeit gelangt. Es ist das Gleiche wie mit venerischen Ansteckungen, unehelichen Schwänge- rungen etc. der Heterosexuellen, von denen wir ja auch

Jahrbuch V. 8

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wissen, daß sie trotz der entstehenden Unannehmlichkeiten, vor Wiederholung normalsexueller Akte mit zweifelhaften Personen selten abhalten.

Der Konflikt mit der Familie, unter dem der ge- fühlvolle Urning ganz besonders heftig leidet, vermag ebenfalls nichts. Am ehesten scheinen noch die Mütter für das abweichende Empfindungsleben der Söhne Ver- ständnis zu haben. Ein Urning erzählte mir einmal, daß, als seine Mutter auf dem Sterbebette lag und ihre fünf Kinder mit dem Gatten um sich versammelt hatte, sie als letzten ihn zu sich herabzog, ihn länger umarmte als alle andern und mit sterbender Stimme sagte: „Grüße mir Deinen Freund." .An dem Blick, mit dem sie mich dabei ansah/1 schloß der Mann, „merkte ich, daß meine Mutter, mit der ich nie darüber gesprochen, alles wußte."

Als eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung homosexueller Triebe wird von manchem der Geschlechts- verkehr mit dem Weibe und die Eheschließung angesehen. Schrenck-Notzing rät *) sogar : „Man bestimme solche In- dividuen (gemeint sind Urninge) temperamentvolle Frauen mit lebhaftem Geschlechtstrieb zu heiraten." Ich kenne unter vielen Hunderten auch nicht einen einzigen, der durch den heterosexuellen Verkehr seines Triebes Herr geworden wäre, im Gegenteil, der inadäquate, oft er- zwungene Verkehr scheint oft einen Anreiz zu geben, die subjektiv natürliche Befriedigung zu suchen. Es stimmt diese Erfahrung damit überein, daß von Normalsexuellen den Urningen gegenüber oft angegeben wird, ein homo- sexueller Akt reize sie zu heterosexuellem Verkehr.

Die Regelung der Lebensweise sowie physikalische, diätetische und pharmakologische Medikationen sind wohl imstande, hie und da das Beherrschungsvermögen, die Willenskraft, die Triebstärke günstig zu beeinflußen, nie

») a. a. 0. S. 205.

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aber den Trieb selbst in seiner Richtung abzuändern. Auch in Spezialheilanstalten, die Bloch und andere für Homosexuelle vorschlagen, dürfte schwerlich jemand „ge- heilt" werden. Mir ist ein junger Kollege bekannt, der auf Veranlassung seines Vaters, der ebenfalls Arzt ist, zur Behandlung in eine geschlossene Anstalt ging, nach einigen Wochen aber bereits vom Chefarzt gefragt wurde, ob er nicht lieber als Assistenzarzt der Heilanstalt ange- hören wolle, ein Vorschlag, der acceptiert wurde. Ich kenne Homosexuelle, die aus therapeutischen Gründen eine sehr energische Sportstätigkeit entfalteten, andere, die Vegetarier, wieder andere, die alkoholabstinent wurden, ohne daß sie die Richtung ihres Triebes im geringsten beeinflußen konnten.

Als ein etwas besseres Mittel wirkt intensiv geistige Arbeit, durch die viele sich zu betäuben suchen. Daß zwischen geistiger und geschlechtlicher Betätigung eine Art Gegensatz besteht, ist ja seit langem bekannt. Besonders scheint die rein verstandesgemäße Tätigkeit, wie sie sich beispielsweise bei den großen Philosophen vorfindet man denke an das große Dreigestirn des XIX. Jahrhunderts, Kant, Schopenhauer, Nietzsche die Asexualität zu begünstigen; eine dauernde Unterdrückung oder Ablenkung des Geschlechtstriebes gelingt aber nur verschwindend wenigen, ja es scheint, als ob gewisse Arten geistiger Produktion, die mehr im Gefühlsleben wurzeln, also künstlerische, sogar einer Steigerung der Libido eher förderlich sind.

Alles in allem kann man sagen, daß der homo- sexuelle Trieb durch gewisse Urnstände wohl in seiner Gewalt beeinflußbar, aber an und für sich völlig un- ausrottbar ist, geschweige denn, daß es möglich ist, ihn in einen heterosexuellen umzuwandeln.

So wenig äußere Faktoren den homosexuellen in einen heterosexuellen Trieb abändern können, genau so

8*

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wenig können sie aber auch den Heterosexuellen wie es die Anhänger der Erwerbstheorie glauben homo- sexuell machen. Die von uns angeführten Tatsachen stehen im denkbar größten Widerspruch zu der Meinung Blochs, daß der Geschlechtstrieb durch Gelegenheitsur- sachen ganz außerordentlich bestimmbar sei und daß wir im Variationsbedürfnis das ,Ur- und Grundphänomen des Geschlechtslebens" zu suchen haben.1) Geben äußere Einwirkungen für psychologische Zustände fast niemals einen zureichenden Erklärungsgrund, beruhen, wie wenn ich nicht irre Möbius einmal sagt, a Erklärungen aus dem Milieu fast stets auf Oberflächlichkeit", so trifft dies in hervorragendem Maße bei einem Triebe zu, der, wie wir sahen, aufs innigste mit der ganzen Persönlichkeit verwachsen ist, der vielleicht sogar die Basis aller übrigen psychischen Erscheinungen bildet Die zuerst von ßinet in der Revue philosophique (Paris 1887. Nr. 8) aufge- stellte, später in ähnlicher Weise oft wiederholte Ver- mutung, daß die konträre Sexualempfindung durch „patho- logische Associationen* in frühester Kindheit, durch „einen „choc fortuit", ein psychisches Trauma bedingt sei, ist eine bisher durch kein Tatsachenmaterial erhärtete Hypo- these. Wenn es wirklich lediglich darauf ankäme, ob jemand die erste Erektion durch ein Weib oder durch einen Mann gehabt hat, dann müßte die Zahl der Homo- sexuellen weit größer sein, da nachweislich in den Schulen sehr viele zuerst gleichgeschlechtlich erregt werden. WTie soll aber ein derartiger choc die doch meist im Vorder- grunde stehende negative Seite der Erscheinung, die Ab- neigung gegen das Weib, erklären und wie vor allem soll er imstande sein, eine solche Umgestaltung der ganzen körperlichen und geistigen Beschaffenheit hervorzurufen, wie sie doch beim Homosexuellen die Regel bildet? Ich

") a. a. 0. Band II. S. 364.

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erinnere mich der Bemerkung eines Kollegen, dem ich einmal einen Homosexuellen vorstellte, der in jeder Linie seines Gesichts, in der kleinsten Bewegung, in der Stimme und im ganzen Gebaren den geborenen Urning verriet. Der Kollege rief mit feiner Ironie aus: »Wie stark muß bei dem Manne der choc fortuit gewesen sein!"

Würden wir übrigens annehmen, was ich für ganz aus- geschlossen halte, daß eineoccasionelle Ideenassociation post partum den Geschlechtstrieb so fest zu determinieren und die ganze Individualität dementsprechend umzugestalten imstande wäre, so würde das nach allem früheren die Auf- fassung nicht beeinträchtigen können, daß es sich hier um eine unveränderlich normierte und unverschuldete Eigen- schaft handelt. Im Widerspruch mit der soeben erwähnten Theorie steht die Ansicht derer, welche glauben, daß nicht sowohl der erste Eindruck, sondern mehr die Sucht nach Abwechslung, das Bedürfnis nach dem Neuen unter dem Einfluß »äußerer Reize" das Entscheidende sei (Bloch, II. B., S. 260 u. 364). Beide Ätiologieen haben das gemeinsam, daß sie Gelegenheitsursachen für Grund- ursachen, Anlässe für Bedingungen halten. Die geschil- derten Reize sind gänzlich wirkungslos, wenn nicht die angeborene Anlage als das wahre ätiologische Moment vorhanden ist. Bloch hat das Verdienst, in seiner fleißigen Arbeit eine Reihe von Umständen zusammengestellt zu haben, die zur Manifestation des Triebes den Anstoß geben, von dessen Stärke es abhängig sein wird, ob er selbständig hervorbricht oder Gelegenheiten bedarf, die ihn aus dem Latenzstadium erwecken. Daß die zahlreichen angeführten Gründe über 60 unmöglich als ausreichend ange- sehen werden können, geht mit Sicherheit daraus hervor, daß es wohl Uberhaupt keinen Menschen gibt, der nicht im Leben einem oder mehreren der genannten Faktoren nachdrücklichst und wiederholt ausgesetzt war. Tatsäch- lich wird von diesen aber nur ein ganz kleiner Teil homo-

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sexuell. Derselbe Reiz läßt den einen vollständig kalt oder beeinflußt ihn nur ganz vorübergehend, für eiuen andern bildet er das höchste Lustgefühl, und er beginnt sich dauernd homosexuell zu betätigen. Der Grund hier- für kann nur in der verschieden gearteten Psyche der Beteiligten gefunden werden, nur die unterschiedliche Konstitution kann bewirken, daß sich Menschen denselben Umständen gegenüber so unterschiedlich verhalten. Deß- halb ist das wesentliche die angeborene Be- schaffenheit. Gerade daß diese äußeren Eindrücke, wie Bloch meint, mit solcher Leichtigkeit Homosexualität erzeugen, beweißt ja, eines wie geringen Anstoßes es be- darf, den vorhandenen Trieb zu erregen.

Es gibt nach Blochs Ätiologie der Psychopathia sexualis fast nichts, was nicht als Entstehungsursache der Homosexualität in Betracht gezogen werden müßte; es hat förmlich etwas Rührendes, zu beobachten, wie sich dieser eifrige Autor abmüht, alle nur möglichen äußeren Anlässe zusammenzutragen, und dabei an dem ausschlag- gebenden inneren Faktor gänzlich vorübersieht. Unter den Dingeu, die allein durch ihre Einwirkung Homo- sexualität erzeugen sollen, befinden sich vielfach die voll- kommensten Gegensätze. So führt Bloch als Ursachen der Homosexualität an zu heißes (Bd. I. S. 21 u. 174) und zu rauhes (S. 33) Klima, Askese (S. 97) und Über- sättigung (S. 67, S. 221), Ehelosigkeit (S. 61) und Viel- weiberei (S. 170), Jugend (S. 52) und Greisenalter (S. 53), mangelnden (S. 38) und übermäßigen (S. 68) Geschlechts- trieb, Verehrung (S. 74) und Verachtung (S. 96) der Körperschönheit, Anblick des bekleideten (S. 141) und des nackten Körpers (S. 185, 221). Leben in Arbeiter- wohnungen (S. 179) und bei Hofe (S. 179), in Fabriken (S. 184) und auf dem Lande (S. 51).

Als weitere ätiologische Momente, welche bei normal- sexuellen gesunden Menschen zur Homosexualität führen

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sollen, nennt Bloch Berufe, die mehr dem weiblichen Charakter entsprechen wie die der Köche, Friseure, Damenschneider, Damenkomiker (S. 65), sehr lebhafte oder irregeleitete Phantasie (8. 70) besonders beim Künstler (S. 74), religiösen Affektzustand1) (S. 78 ff). Abnormitäten der Genitalien *) (S. 126), übermäßige Kleinheit des membrum virile, abnorme Weite oder Kürze der Vagina (S. 127), Gonorrhoe (S. 127), Kastraten- und Eunuchen tum (S. 128), körperlichen Hermaphrodit ismus (S. 130), Onanie (S. 132), chronischen Alkoholismus8)

^Anmerkung: Bloch erwähnt die mohamedanische Sekte der Sutis und zitiert F. v. Hellwald*), welcher berichtet, daß Tagy- äldyn-Kaschy zu beweisen versuchte, daß nur ein Päderast ein großer Sufi sein könne. Bloch fügt diesem Zitat wörtlich hinzu: „Hier haben wir also bereits ein typisches Beispiel einer rein reli- giösen Entstehung und Ausübung der homosexuellen Befriedigung des Geschlechtslebens.44 Diese kühne Hypothese erinnert stark an die später (S. 117) ebenfalls von Bloch erwähnte Vermutung von Baas**), daß die Beschneidung weniger eine hygienische Maßregel sei als vielmehr in der fetischistischen Verehrung der Präputien („Fetischoperation") ihren Grund habe. Von S. 120 ab verbreitet sich der Autor noch ausführlich über die „religiöse Homosexualität" und gibt der Meinung Ausdruck ohne sie allerdings durch Tat- sachen zu begründen daß man anfangs wohl weibische, homo- sexuell empfindende Menschen gern zu Priestern bestimmt habe, deren Neigungen dem primitiven Menschen als etwas besonders Dämonisches erschienen seien, später habe man wohl auch solche künstlich gezüchtet, besonders in gewissen Sekten religiöser Fanatiker.

*) Hellwald: Kulturgeschichte. Augsburg 1875. S. 611.

**) H. Baas: Die geschichtliche Kntwickelung des ärztlichen Standes. Berün 18%. S. 7.

*) S. 126 heißt es wörtlich: „Auch die Phimose kann direkt homosexuelle Zustände erzeugen."

*) S. 137 heißt es: „Es ist sehr bezeichnend, daß in Zansibar das Suaheli-Wort „Walevi44 = Säufer direkt für Päderast gebraucht wird.'*

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(S. 137), Opiumgenuß (S. 138) *), Haschischgebrauch (S. 138), Effemination in Tracht und Sitte (S. 161), Bedürfnis nach Variation in den sexuellen Beziehungen, welches sich zum geschlechtlichen Reizhunger steigern kann (8. 1G6), Wüstlingtum, Don-Juanismus, Mtissiggang und Blasiert- heit (S. 171), direkte Verführung, besonders durch Auf- sichtspersonen (S. 174) und in Bordellen (S. 177), sowie durch andere Urninge (S. 238), Zusammenwohnen gleich- geschlechtlicher Personen in Kasernen (S. 179), Schulen, Pensionaten (S. 180), Kadettenhäusern, Harems (S. 182), Mönchs- und Nonnenklöstern, Gefängnissen (S. 183), großen Hdtels (S. 184) und Theatern (S. 185), die öffent- lichen Bedürfnisanstalten (S. 185), den Anblick tierischer Geschlechtsakte sowie das intime Zusammenleben mit Tieren (S. 186), die erotische und obscöne Litteratur1) (S. 188), auch nicht obscöne Werke wie die Bibel und die Schriften der Kirchenväter (S. 189), den Anblick ge- schlechtlich erregender Kunstwerke (S. 200), die Betrach- tung des eigenen Spiegelbildes tt) (S. 201), obscöne Photo- graphien (S. 202 ff. und Bilder4) (8.302), obscöne Täto-

') S. 138 sagt Bloch: „H. Libermann (les Fumeurs d'Opinm en Chine. Etnde medicale Paria 1862. S. 63 ff.) flihrt daher wohl nicht mit Unrecht die Verbreitung der Homosexualität in China auf den Opiumgenuß zurück."

«) S. 196 heißt es: „Die ätiologische Bedeutung derartiger Lektüre für die Genesis geschlechtlicher Verirrungen wird vor allem dadurch erwiesen, daß die meisten geschlechtlich abnormen Indi- viduen eifrige Leser solcher Werke sind."

•) S. 201 : „Unter Umständen kann die Darstellung des eigenen nackten Ich im Spiegelbilde die Phantasie in abnormer Hichtiuiir beeinflußen, besonders bei noch undifferenziertem geschlechtlichem Empfinden und bei Unkenntnis des anderen Geschlechts."

4) S. 208 erklärt Bloch wörtlich, „daß die große Verbreitung der obseönen Bilder mit ihren Darstellungen aller geschlechtlichen Verirrungen, perversen Akte und scheußlichster Unzucht einen un- verhältnismäßig größeren Anteil an der Genesis und zunehmenden Häufigkeit der sexuellen Perversionen hat, als irgend eine ange- borene oder auch nur durch Krankheit erworbene Anlage."

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wirungen (S. 210), ferner den Besuch von Museen mit an- tiken und modernen Statuen, noch mehr aber der soge- nannten anatomischen Museen mit plastischenNachbilduugen männlicher und weiblicher Geschlechtsteile (S. 210), so- wie der öffentlichen Kunstausstellungen (S. 212), auch Ballette, Tänze, gewisse Darbietungen im Zirkus, Spe- zialitätentheater, lebende Bilder, Poses plastiques heroischer oder idyllischer Natur, sowie den Anblick von Männern in Damen- und Mädchen in Männerkleidern (S. 214), weiterhin die zufällige Beobachtung männlicher Genitalien z. B. des väterlichen Membrums (S. 221), eigene ab- stoßende Häßlichkeit (S. 222), Furcht vor venerischen Leiden (S. 223), abnorme Beschaffenheit der Analgegend (S. 224), Analmasturbation (S. 224). J) Flagellation der Analgegend (S. 227), Annahme männlicher Lebensführung namentlich bei Prostituierten (S. 232), umgekehrt weib- liche Angewohnheiten bei Männern *) (S. 233), die Mysogynie des Lebemannes (S. 235), die männliche Prostitution (S. 241). Als besondere Ursachen der weiblichen Homosexualität führt Bloch an einmal die „mutuelle Masturbation der Clitoris cum digito et lingua" (S. 244), »den Überdruß am Manne, den Widerwillen gegen den Verkehr mit dem Manne" (S. 244 und 245), den Wunsch mancher Männer, besonders der voyeurs (S. 247)

') S. 226 beruft sich Bloch auf Leo Taxil, der in seinom Buche „La corruption fin-de-siecle Paris 1894 S. 245 berichte, „es gäbe Subjekte, die sich in coitu cum femina von deren Zuhältern gleichzeitig pädicieren ließen" und fugt dann seinerseits wörtlich hinzu: Hieraus entwickelt sich dann naturgemäß häufig genug ein gleichgeschlechtlicher Verkehr, der den ehemals heterosexuellen Wüstling zu einem typischen Urning stempeln kann."

») S. 233 behauptet Bloch: „Der wirkliche „Weibling" wird meist künstlich gezüchtet" und 8. 235: „Es ist kein Zufall, daß Komiker, die Frauenrollen darstellen, fast stets homosexuell sind. Diese scheinbar rein äußerliche Effemination vermag eben den ganzen inneren Menschen umzuwandeln."

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und last not least die moderne Frauenbewegung (S. 248), von der er sagt: Einen meines Erachtens nicht unbe- denklichen ätiologischen Faktor in der Genesis der Tribadie bildet die moderne Frauenbewegung, die das Weib auf sich allein stellt, männlich empfindende Charaktere züchtet etc.* Bloch beschließt seine sorgsame Auf- zählung, in der wohl nichts Ubergangen ist, was für die Erwerbstheorie in Frage kommen konnte, mit dem Satz (S. 249): „Wir haben erfahren, daß in der großen Mehrzahl der Fälle die gleichgeschlechtliche Liebe aus äußeren occasionellen Momenten entspringt, daß eine originäre Anlage zu derselben sehr unwahrscheinlich, jedenfalls sehr selten ist".

Der Beweis, daß diese „äußeren occasionellen Mo- mente" unmöglich für die Entstehung der Homosexualität genügen können, ist sehr leicht zu erbringen. Man kann die von Bloch aufgeführten Erwerbsmöglichkeiten unschwer in drei Gruppen teilen.

In der ersten Abteilung sind die zahlreichen Dinge unterzubringen, die viel zu allgemein verbreitet sind, um überhaupt als einigermaßen vollgiltiger Grund in Frage kommen zu können. Da Millionen und aber Millionen Menschen tierische Geschlechtsakte erblicken oder eine Bedürfnisanstalt benutzen, unter hundert Menschen aber nur einer homosexuell ist nach Bloch sind es noch viel weniger so kann nach allen Gesetzen der Logik hier unmöglich ein Causalnexus statuiert werden. Wenn von den vielen, die im heißen oder rauhen Klima, in Arbeiterwohnungen oder bei Hofe leben, die eine sehr lebhafte Phantasie oder ein sehr religiöses Gemüt besitzen, die öffentliche Kunstausstellungen oder Museen aufsuchen, in Schulen und Pensionaten zusammenwohneu oder sich nackt im Spiegel erblickt haben, dur ein ganz ver- schwindend kleiner Prozentsatz Urninge sind, so müssen die genannten Umstände einer anderen Causalität gegen-

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über völlig irrelevant sein. Dasselbe gilt auch von der Onanie. Berücksichtigen wir, daß sich unter 100 Per- sonen 99 Onanisten befinden, unter diesen 99 aber nur ein Homosexueller, so werden wir niemals die Onanie als hinreichenden Grund für den homosexuellen Trieb ansehen dürfen. Es sei hier übrigens angesichts der immer wieder- kehrenden Betonung dieser angeblichen Entstehungs- ursache betont, daß der wohl größte Sachverständige auf diesem Gebiet, Rohleder, in seiner trefflichen Monographie : „Die Masturbation" die Onanie wohl als eine Folgeerschei- nung der konträren Sexualempfindung hervorhebt, von einer Entwickelung der letzteren aus der Onanie aber nichts zu berichten weiß ,).

Wir sind damit bei der zweiten Gruppe augelangt, bei den nicht weniger zahlreichen Momenten Blochs, bei denen die Verwechslung von Ursache und Wirkung un- verkennbar ist. Nicht aus der Ehelosigkeit oder Impotenz eines Menschen entsteht seine gleichgeschlechtliche Neigung, sondern diese hat seine Ehelosigkeit zur Folge, ebenso ist der Widerwillen der Frau vor dem Manne nicht die Ursache, sondern eine Wirkung ihrer homosexuellen Natur. Auch bedingt nicht die weibliche Kleidung eine Umgestaltung des inneren Menschen, sondern der innere Mensch verschafft sich die Kleidung, die ihm zusagt. Die Ursache des Charakters liegt also nicht in der Tracht, sondern die Ursache der Tracht im Charakter des Menschen. Ebenso ist es mit dem Beruf des Urnings. Er wird nicht feminin, weil er Frauenrollen spielt, sondern, weil er feminin ist, bevorzugt er Frauenrollen. An homosexuellen Kunst- und Literaturwerken wird nur derjenige Interesse nehmen, der dafür empfänglich ist. Dem Normalsexuellen

*) Dr. med. Hermann Kohleder. Die Masturbation, eine Mono- graphie für Ärzte und Pädagogen. Berlin. Fischer» mediz. Buch- handlung 1899. Seite 65 und 287.

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wird ein urnischer Kornau gleichgültig oder abstoßeud sein. Wer keine JUnglingsphotographieen liebt, wird sich auch keine kaufen.

Die dritte Rubrik endlich umfaßt alle jene Behaup- tungen, die gänzlich eine Kenntnis des Homosexuellen vermissen lassen. Wenn Bloch nur 200 Homosexuelle untersucht haben würde, hätte er ganz sicherlich nicht geschrieben, daß Abnormitäten der Genitalien, abnorme Beschaffenheit der Analgegend, abstoßende Häßlichkeit oder gar chronischer Alkoholismus zur Homosexualität führen können. Es entspricht einfach nicht den Tat- sachen, daß der Durchschnitt der Homosexuellen häßlicher, trunksüchtiger oder im höheren Maße mit Genitalanomalien behaftet ist, wie der Durchschnitt der Normalsexuellen. Manche der angegebenen Gründe lassen sich unter zwei Gruppen rubrizieren. So sind die Anhängerinnen der Frauenbewegung viel zu zahlreich im Verhältnis zu der Menge urnischer Frauen, als daß dieser Emanzipations- kampf — so sehr er immerhin in der Häufigkeit sexueller Zwischenstufen seine Stütze findet einen ausreichenden Erklärungsgrund abgeben könnte, andererseits besitzen allerdings gerade die homosexuellen Frauen Eigenschaften, die sie zu besonders aktiven Vorkämpferinnen für die Rechte der Frau befähigen. Diese Qualifikation ist aber nicht die Ursache, sondern lediglich die Folgeerscheinung ihres Uranismus. Daß aus der Verführung, dem Variations- bedürfnis und dem Wüstlingtum nie ein homosexueller Geschlechtstrieb entstehen kann, haben wir bereits oben sehr eingehend auseinandergesetzt. Wenn übrigens Bloch, Hoche u. a. so oft betonen, daß ein Normalsexueller aus jReizhunger" homosexuell werden könne, so bleiben sie stets den Beweis schuldig, worin denn die Reizsteigerung hier bestehen soll. Welche Vorteile oder Vorzüge bietet denn dem Homosexuellen der Verkehr mit demselben Geschlecht, welcher doch im Gegenteil an seine psychische

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Potenz mindestens so hohe Anforderungen stellt, als der Umgang mit dem Weibe?

So gelangen wir denn auch, indem wir sämtliche Ursachen, die für das Erworbensein der c. S. in Betracht kommen, leicht als nicht stichhaltig oder nicht ausreichend widerlegen können, per exclusionem zu dem Schlüsse, daß die Homosexualität nicht erworben, sondern nur in der angeborenen Konstitution des Menschen begründet sein kann.

IV. Die Naturnotwendigkeit der Homosexualität.

Es ist ein Beweis für das Natürliche und Ursprüng- liche einer Erscheinung, wenn sich dieselbe in eine fort- laufende Reihe verwandter Naturerscheinungen so ein- fügt, daß ihr Mangel geradezu einen Ausfall in der lückenlosen Linie bedeuten würde. Für die Erscheinung der Homosexualität trifft dies im vollsten Umfange zu. Es wäre sehr merkwürdig, wenn von den fließenden Übergängen, die sich an jedem Organ, an jeder Funktion von einem zum anderen Geschlechte führend nachweisen lassen, der Geschlechtstrieb ausgenommen wäre. Wenn sämtliche männliche Eigenschaften gelegentlich vereinzelt oder in größerer Anzahl bei einem Weibe und umgekehrt sämtliche weiblichen beim Manne auftreten können, woran auch nicht mehr der mindeste Zweifel bestehen kann, so würde es etwas ganz Außerordentliches sein, wenn der Geschlechtstrieb hier die einzige Ausnahme bilden sollte. Das Nichtvorhandensein der Homosexualität würde ein viel größeres Wunder gewesen sein, wie ihre Existenz, die vielen befremdlicher und naturwidriger er- scheint, wie das gelegentliche Vorkommen eines wohl entwickelten Bartes beim Weibe oder milchgebender

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Brüste ') beim Manne. Wie man nach den Atomge- wichten die im periodischen System der Elemente noch fehlenden Stoffe vorausberechnen konnte, ehe man sie fand, wie man aus den Abständen der Planeten die Stelle und die Umlaufsbahn des Neptun beschrieb, ehe man ihn entdeckte, wie man die Zwischenstufen zwischen den Vögeln und Reptilien eingehend schilderte, ehe man im Solenhof er Kalkschiefer auf den Archaeopteryx stieß, so hätte ein gescheiter Kopf die Homosexuellen nachweisen können, ehe er sie von Angesicht zu Angesicht sah. Keine Erscheinung steht in der Natur isoliert da, jede zeigt, die vielseitigsten Verbindungen mit den übrigen Naturkörpern, überall gibt es Übergänge; wie zwischen dem Kinde und dem Erwachsenen der Jüngling und die Jungfrau, so bildet zwischen Mann und Weib der Urning und die Urauierin eine Naturnotwendigkeit. Man hätte vermutlich diese Übergangsreihen viel eher er- kannt und gewürdigt, wenn sie sich nicht auf jeden Ge- schlechtscharakter für sich beziehen könnten, ohne daß entsprechend die anderen miteinbezogen sind, dadurch entsteht ja eben die ungeheure Variation und kaum zu übersehende Mannigfaltigkeit. Im Grunde genommen ist jeder Mensch erst durch das ihm innewohnende Mischungs- verhältnis männlicher und weiblicher Teile verständlich. Selbst im gröberen ist die Verschiedenartigkeit und Menge der Abweichungen so groß, daß alle Versuche, die körperlichen und geistigen Zwischenstufen iu eine be- stimmte Ordnung zu bringen, 2) gescheitert sind. Zwischen

') Milchgebende Männer werden bereits von Alexander von Humboldt und Bonpiandt erwähnt in der „Reise in die Aquinoctial- gegenden des neuen Kontinents in den Jahren 1799 1804. 2. Teil. Stuttgart und Tübingen 1818. S. 40 ff.

") Derartige Klassifizierungs- Versuche wurden unternommen von : 1. Leonidas, Chirurg in Alexandrien, im 3. Jahrhundert, dessen Werke verloren sind; seine Einteilung wird angeführt von Aetius,

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den echten, Pseudo- und psychischen Hermaphroditen, den scheinbar rein somatischen und anscheinend rein geistigen Formen sind keine sicheren Grenzen zu ziehen. Mit der Menge wissenschaftlicher Beobachtungen hat sich das System mehr und mehr kompliziert, um sich schließlich dahin zu vereinfachen, daß im Grunde ge- nommen jeder Fall in der Unsumme der Zwischenstufen einen Fall für sich, eine Klasse für sich, ein Geschlecht für sich bildet

Der Vollmann und das Vollweib sind in Wirklichkeit nur imaginäre Gebilde, die wir nur zu Hilfe nehmen müssen, um für die Zwischenstufen Ausgangspunkte zu

der in der Mitte des 6. Jahrhunderts in Mesopotamien lebte. Seine Angaben finden sieh zitiert bei Haller Bibliotheea Chirurg. Basil. 1774. T. L. p. 79.

2. Ulisse Aldrovandi, Monstrornm historia, Bononiae 1642, von Ambrosini veröffentlicht. Früher hatte Aldrovandi, der 1605 starb, erklärt, eine Klassifizierung der Hermaphroditen sei wegen der von den Antoren beschriebenen großen Zahl und Verschiedenheit der Formen unmöglich. Einer seiner Vorgänger. Argelata Pietro, Venezia 1499, erklärte in seiner Chirurgia den Hennaphroditismus ftlr eine „unerklärliche und abscheuliche Affektion bei den Menschen".

3. Pierre Dionis, Conrs d'operations de Chirurgie. Bruxelles 1708, p. 197. Er befürwortete das auch noch im 19. Jahr- hundert wieder vorgebrachte Gesetz, daß die Hermaphroditen sich filr eins der beiden Geschlechter entscheiden, und es ihnen verboten sein sollte, das nicht gewählte zu gebrauchen.

4. Albrecht v. Haller, Comm. Göttingen. 1752. T. I. 1751 hatte Haller eine Schrift verfaßt: An dentur hermaphroditi ?

5. H. A. Wrisberg, Commentatio de singulari genitalium de- formitate in puero hermaphroditum mentiente cum quibusdam obser- vationibus de hermaphroditis. Göttingen 1796. Par. 19. S. 541— 542.

6. J. Fr. Meckel, Handbuch der pathologischen Anatomie. Zwitterbildung, Leipzig, 1816. Bd. 2, Abt. 1, S. 196—221.

7. R. Lippi, Bizarre formi degli organi della riproduzione di due individui della specie umana. Firenze 1826.

8. Johannes Müller, Bildnngsgeschichte der Genitalien. Düssel- dorf 1830.

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besitzen. Einen hundertprozentigen Mann gibt es nicht, solange noch jeder die Brustwarzenrudimente und den Uterus masculinus aufweist, wohl aber einen, der zu 95, 94, 93 etc. % männlich, zu 5, (>, 7 etc. % weiblich ist, die männlichen Qualitäten nehmen ab, und wir erreichen die Stelle, wo 50% männliches und 50% weibliches in einem Körper verbunden sind, von nun ab überragen die weiblichen Charaktere die männlichen bis wir ganz all- mählich dicht an den Typus des Vollweibes gelangen, an dem vielleicht nur noch die Paradidymis an den Mann erinnert. Es ist durchaus nicht gesagt, daß ein Indivi- duum, das zu 75% weiblich, zu 25% männlich ist „ein Weib" sein muß, es kann ebenso gut „ein Mann" 6ein, an dem alles, abgesehen von dem Membrum und seinen Adnexen, weiblich ist

Was von dem Ganzen gilt, [gilt auch von seinen Teilen. Wenn die Zellen des weiblichen und männlichen

9. E. F. Gurlt (Berlin), Lehre von der pathologischen Anatomie. 1832. S. 183 (34 Tafeln).

10. Isidore Geoffroy de St. Hilaire, Histoire des anomalies de l'organisation. Paris, 1846. T. II, p. 36.

11. Carlo Cotta, Alcune ideo suirermafroditisrao. Hilano 1844. (Gazz. medico d. Milano.) T. III, S. 205.

12. A. Forster, Die Mißbildungen des Menschen. Jena 1861. 18. Edwin Klebs, Handbuch der pathologischen Anatomie.

Berlin 1876. Bd. 1, Abt. 2, S. 786.

14. E. F. Gurlt, Über tierische Mißgeburten. Berlin 1877.

15. F. Ahlfeld, Die Mißbildungen des Menschen. 2. Abschn. Leipzig 1880. S. 243.

16. G. Pozzi, De l'ennaphroditisme. Gaz. hebdom. 1890. Nr. 30, p. 351.

17. Cesare Tarufti, Herinaphrodismus und Zeugungsfähigkeit, deutsch von Dr. R. Teuscher. Berün 1903 (Barsdorf).

18. Die psychischen Hermaphroditen klassiözicrte Krafft-Ebing. Psychopathia sexualis. Auch seine Klassen gehen unabgegrenzt in- einander über, ebenso wie die von Ulrichs aufgestellten Gruppen der Mannlinge und Weiblinge.

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männlicher Typus

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Organismus in ihrer Größe und Konsistenz Unterschiede aufweisen, was durchaus wahrscheinlich ist, so können wir sicher sein, daß es zwischen der einen und anderen Durchschnittsform zahllose Abstufungen gibt. Man mag jedes beliebige Stück am Menschen herausgreifen, stets wird man diesen ganz allmählichen Übergang leicht wahr- nehmen können. Nehmen wir die kräftige, derbe Hand des Vollmann-Typus und die relativ und absolut kleinere, zartere, weichere Hand des weiblichsten Weibes, zwischen beiden gibt es eine Legion unmerklich in einander über- gehender Formen. Das Durchschnittsbecken des Weibes und des Mannes weisen wesentliche Differenzen auf und doch sind auch hier die Zwischenforraen so zahlreich, daß es bei ausgegrabenen Becken häufig sehr schwer hält, zu sagen, ob es ein männliches oder weibliches war, viele Becken, die der Gynäkologe als „allgemein verengte* bezeichnet, sind tatsächlich nur virile Becken. Dasselbe gilt vom Schädel, von den weiblichen und männlichen Brüsten, von der Schrift und Gangart der Geschlechter, von ihrem Fühlen, Denken und Wollen, stets wird man zwischen der spezifisch männlichen und typisch weiblichen Form die Zwischenstufen, die Überbrückung der Gegen- sätze ohne Schwierigkeiten entwickeln können.

Auch der Geschlechtstrieb besitzt eine männliche, also auf das Weib gerichtete und eine weibliche, also dem Manne zugeneigte Form. Die Reize der Außenwelt, die Objekte, die den Geschlechtstrieb passieren, sind an sich gleich, der Eindruck, den sie auf die Nervenendorgane, von wo sie hirnwärts projiziert werden, machen, ist der- selbe; das von der hübschen Frau auf der Netzhaut entstehende Bild, die Klangwirkung ihrer Stimme auf das Gehör, die Fortleitung ihrer Ausdünstung auf das Geruchsorgan sind nicht verschieden. Auch die sen- siblen Nerven, die von diesen, wie von allen Punkten der Körperoberfläche durch das centrum libidinosum

Jahrbuch V. 9

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Urnischer Arbeiter

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ziehen, sind anatomisch und physiologisch identisch, aber dieses Zentrum selbst muß verschieden bei Mann und Weib konstruiert sein. Auch der Urning sieht das Weib nicht „mit anderen Augen" an, sondern mit

einem anders gearteten Zentralorgan. Die motori- schen Nervenbahnen, die von diesem Zentrum peri- pheriewärts ziehn, dürften ebenfalls bei beiden Ge- schlechtern nicht wesent- lich von einander ab- weichen. Daß bestimmte Sinneseindrücke, die von dem erregenden Objekt ausgehen, bei manchen mit besonders starken Lustge- fühlen verknüpft sind die besonders vom Ge- sichts-, Gehörs- und Ge- ruchssinn ausgehende feti- schistische, sowie die vom Hautsinn wahrgenommene masocilistische Reizung ge- hören hierher sind ange- sichts der spezifischen Er- regung des bestimmten Zentrums durch ein be- Allgemein verengtes weibliches stimmtes Geschlecht von Becken. ebenso untergeordneter Be-

deutung wie die zentri- fugale im Sadismus zum Ausdruck gelangende gelegentliche Steigerung und Störung sexueller Motilität. Worin die verschiedene Beschaffenheit des zentralen Organs ana- tomisch liegt, können wir um so weniger sagen, als ja

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der Sitz desselben noch nicht lokalisiert ist. Vielleicht sind es auch nur Größenunterschiede, wie bei allen andern Geschlechtscharakteren, sodaß also etwa das Organ von einer bestimmten Größe nur durch weibliche Reize in Mitschwingungen versetzt wird, während in anderer Aus- dehnung männliche Reize wirksam sind. Doch das sind natürlich nur Hypothesen, immerhin ist eine wenig be- achtete Mitteilung Galls, *) des neuerdings wieder von Möbius und Bunge9) zu Ehren gebrachten genialen Forschers bemerkenswert, daß er „bei Männern, die eine Abneigung gegen das andere Geschlecht an den Tag legten, ein be- sonders schwach entwickeltes Kleinhirn gefunden habe." Bekanntlich nahm Gall an, daß das Kleinhirn der Sitz des Geschlechtstriebes sei und zwar stützte er sich dabei im wesentlichen auf folgende Argumente:

I. Das Kleinhirn ist bei Neugeborenen im Ver- hältnis zum Gesamthirn schwach entwickelt, wie 1 : 9 20. Es wächst am stärksten nach der Pubertät, besonders im 18. Lebensjahr, und ist beim Erwachsenen dann das Ver- hältnis wie 1 : 5 7.

II. Die individuellen Verschiedenheiten in der Ent- wickelung des Kleinhirns sind sehr groß. Der Grad der Entwickelung ist beim lebenden Menschen äußerlich kenntlich an dem Abstand der Processus mastoidei. Je weiter diese von einander abstehen, je breiter und stärker ist die Nackenmuskulatur. Gall will nun an einem sehr umfassenden Material beobachtet haben, daß Personen

•) Franz Joseph Gall. Anatomie et Physiologie du Systeme nerveux. 4 Bände. Paris 1810—18. Die uns interessierenden Stellen fioden sich Vol. III. P. 85—138.

*) P. J. Möbius: Über Franz Joseph Gall. Schmidts Jahr- bücher. Bd. 262. S. 260. 1899. G. v. Bunge -Basel. Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Leipzig bei Vogel 1901. I. Band 16. u. 17. Vortrag S. 222 u. ff. besonders auch S. 2.%.

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mit breitem muskulösen Nacken einen besonders starken Geschlechtstrieb haben.

III. Das Kleinhirn ist beim Manne durchschnittlich stärker entwickelt als beim Weibe. Diesen Unterschied fand Gall in der ganzen Säugetierreihe von der Spitz- maus bis zum Elephanten bestätigt.

IV. Werden Menschen und Tiere vor der Pubertät kastriert, so bleibt das Kleinhirn in seiner Entwickelung zurück.

V. Wird nur ein Hoden exstirpiert, so atrophiert nur die eine Hälfte des Kleinhirns und zwar an der ge- kreuzten Seite. Gall will dies nicht nur bei Tieren, sondern in mehreren Fällen bei zufälligen Verletzungen am Menschen beobachtet haben.

VI. Der Mensch, in welchem der Geschlechtstrieb das ganze Jahr über rege ist, hat ein stärker entwickeltes Kleinhirn als die Tiere, bei denen sich der Geschlechts- trieb nur zur Zeit der Brunst regt.

Galls bestechende Behauptungen entbehren vielfach einer exakten zahlengemäßen Grundlage, sie sind daher auch vielfach bestritten und heftig angegriffen der edle Gelehrte hatte unter dem Haß der Kirche und dem Neid der Fachgenossen namenlos leiden müssen sie sind aber noch keineswegs widerlegt. Für seine Annahme spricht die neuerdings festgestellte Tatsache, daß sich die sensiblen Nervenbahnen von der ganzen Körperoberfläche her bis zum Wurm des Kleinhirns verfolgen lassen, und zwar reichen die ersten Neurone bis zu den Clarkeschen Säulen, von wo aus sie auf den Kleinhirnseitenstrangbahnen weiter ziehen.

Mag das Geschlechtstriebzentrum nun im Klein- hirn oder anderswo seinen Sitz haben, jedenfalls ist nach dem Gesagten mit Sicherheit anzunehmen, daß es

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einen männlichen oder weiblichen Typus trägt und weiter- hin, daß auch hier wie bei allen anderen männlichen und weiblichen Teilen fortlaufende Übergänge vorhanden sind und zwar selbständig, ohne daß eine Ubereinstimmung mit den übrigen Sexualcharakteren unbedingt erforderlich ist. Theoretisch ist zuzugeben, und ich selbst habe diese Meinung früher vertreten,1) daß das Centrum libidinosum aus zwei Teilen zusammengesetzt ist, indem den stets vorhandenen körperlichen und geistigen Rudimenten des anderen Geschlechts auch ein Triebrudiment von verschiedener Stärke entsprechen muß, so daß dann eine doppelseitige Erregbarkeit in verschieden hohem Grade möglich wäre. Wäre dies der Fall wie oben bereits auseinandergesetzt, bin ich mit der Fülle des Materials schwankend geworden so würde das für das häufigere Vorkommen der ßisexualität sprechen, aller- dings nur bei einer gewissen Größe des Rudiments. Die sexuelle Erregbarkeit durch beide Geschlechter läßt sich ohne weiteres noch nicht in diesem Sinne verwenden, denn abgesehen von Suggestivwirkungen handelt es sich hier oft nur um mechanische Reizungen, rein spinale Reflexe, im Gegensatz zu den viel komplizierteren und zweckent- sprechenderen zentralen Reflexen, die von der Psyche ihren Ausgang nehmen und für deren Beschaffenheit das allein Entscheidende sind. Darum sind auch gerade die Träume für die Richtung oder besser gesagt die männ- liche oder weibliche Qualität des Triebzentrums von so hohem Wert, weil im Schlaf zahlreiche Assoziationen in Wegfall kommen, die im wachen Zustand modifizierend und störend eingreifen.

Zwei Umstände machen die große Häufigkeit der sexuellen Übergänge und Zwischenformen erklärlich und

l) Dr. med. Hirschfeld, Sappbo und Sokrates etc. II. Aufl. 1902, S. 8 ff.

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wahrscheinlich. Einmal die Tatsache, daß jedes Individuum mit beiden Geschlechtern in unmittelbarem Erbschafts- verhältnis steht. Der männliche Sproß erbt nicht nur von seinem Vater, sondern auch von der Mutter und diese ge- mischte Vererbung wird noch wesentlich erweitert durch die latente Vererbung, nach deren Gesetzen auch die Mütter und Großmütter väterlicher- und mütterlicherseits an jedem Knaben partizipieren. Gewiß wird dieser Einfluß durch die sexuelle Vererbung, nach der Knaben gewisse väter- liche, Mädchen bestimmte mütterliche Eigenschaften er- halten, durchkreuzt, aber doch nicht in dem Grade, daß die vorher genannten wichtigen Gesetze der Heredität ausgeschaltet werden. Es hat vieles für sieb, daß bei der Vereinigung der weiblichen und männlichen Keim- zelle von vornherein ein bestimmtesMischungsverhältnis au- gelegt ist, sodaß bereits die befruchteten Eier in männ- liche, weibliche und gemischte zerfallen würden. Diese sehr variable Mischung legt als Sexualbasis, vielleicht sogar als Sexualzentrum in der Hauptsache den Körper und Geist des Individuums für die Dauer seines Be- stehens fest

Der zweite Umstand, welcher die Häufigkeit der Zwischenstufen so naheliegend erscheinen läßt, ist der, daß alle qualitativen Unterschiede der Geschlechter in Wirklichkeit nur quantitative sind. Alle sexuellen Charaktere verharren eine gewisse Zeit im neutralen Zu- stand, dann findet bei allen in einem bestimmten Alter vor oder nach der Geburt ein gemeinsamer Anlauf statt, der bei manchen Teilen früher, bei anderen später sein Ende erreicht, indem die unbekannte Zentrale auf das Wachstum der einzelnen Organe bald hemmend, bald fördernd einwirkt. Von dieser Wachstumsenergie ist es abhängig, ob ein Stück männlich oder weiblich geartet erscheint; gänzlich schwindet keins dieser Stücke, selbst beim Vollweibe ist alles männliche in mehr oder weniger

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großen Resten vorhanden, so wenig die Spuren alles weiblichen bei keinem Manne fehlen. Bei dieser nur gra- duellen Verschiedenheit der Individuen und Geschlechter kann es nicht "Wunder nehmen, daß eine Verwischung der Grenzen so häufig ist.

Man hat wohl behauptet, daß die Trennung der Ge- schlechter umso schärfer sei, je höher ein Lebewesen stehe, daß die Natur auf eine immer größere Differenzierung der Geschlechter hinarbeite. Das entspricht durchaus nicht den Tatsachen. Die Geschlechtsunterschiede sind bei den niederen Tieren viel größer, als bei den höheren, so sind bei manchen Insekten die Männchen und Weibchen so verschieden gestaltet, daß man sie lange als Glieder derselben Art garnicht erkannt hat. Selbst bei den meisten Säugetieren unterscheidet sich das Männchen mehr vom Weibchen, als beim Menschen. Dabei ver- halten sich die sexuellen Geschlechtscharaktere sehr stabil, der weibliche Typus, der männliche und der der Zwischenstufen hat sich soweit unsere Kenntnisse reichen weder bei den Tieren noch beim Menschen nach Ort und Zeit erheblich verändert. Namentlich sind die Über- gangstypen unter den Menschen zu allen Zeiten und in allen Zonen nachweisbar. Schon aus diesem Grunde er- scheint es nicht gerechtfertigt, im Uranismus einen Atavismus zu erblicken, wie es wiederholt geschehen ist Gewiß ist die Geschlechtseinheit im Naturreich das Ursprünglichere, die zwei Geschlechter stellen eine höhere Stufe der Ent- wickelung dar. In den Zwischenstufen tritt uns aber kein Rückschritt zum eingeschlechtlichen, sondern viel eher ein Fortschritt zum mehrgeschlechtlichen entgegen. Das dritte Geschlecht stellt nichts einfacheres, sondern eher etwas komplizierteres dar. Mit ihm gestaltet sich die Menschheit nicht einförmiger, sondern reichhaltiger und vielseitiger. Läge wirklich eine immer schärfere Differenzierung der Geschlechter im Plane der Natur, so

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müßten die Männer immer männlicher, die Frauen immer weiblicher, die Kluft zwischen beiden Geschlechtern mithin immer größer und klaffender werden. Wir vermögen darin weder etwas Zweckmäßiges, noch etwas Segensreiches zu erblicken.

V. Heredität und Homosexualität.

Angeboren ist nicht immer ererbt. Wäre beispiels- weise unsere Vermutung richtig, daß das Männliche und Weibliche im Menschen von dem Mischungsverhältnis der männlichen und weiblichen Zeugungsstoffe abhängig ist, so wäre der homosexuelle Trieb wohl eingeboren, aber nicht ererbt im eigentlichen Sinne des Wortes. Genau genommen kann man nur etwas erben, was die Eltern besitzen. Demnach müßte von den Eltern eines urnischen Kindes zum mindesten eines urnisch sein. Das ist aber verhältnismäßig sehr selten der Fall. Der wissenschaft- liche Sprachgebrauch hat allerdings den Begriff der Ver- erbung wesentlich erweitert, und nennt ererbt auch solche Eigenschaften, deren Auftreten erfahrungsgemäß von gewissen oft ganz anders gearteten Zuständen der Eltern hereditär beeinflußt wird, so nennen wir die Skrophulose ererbt, wenn das Kind einer tuberkulösen Familie entstamm^ die Epilepsie ererbt, wenn der Vater ein Trinker war, die Taubstummheit ererbt, wenn die Eltern blutsverwandt waren. Auch die Definition von Möbius1): „Entartete sind die, welche vermöge krank- hafter Zustände ihrer Erzeuger mit einem krankhaften Geisteszustände zur Welt kommen*, gehört hierher. Rich- tiger wäre es in allen diesen Fällen nur im allgemeinen von ererbter Belastung oder von Belastung allein zu reden.

») V. Magnan: Psychiatrische Vorlesungen; in der Einleitung von Möbius S. VI.

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Die Forscher, welche die Überzeugung vertreten, daß die Homosexualität angeboren sei, haben unseres Er- achtens dieser erblichen Belastung einen zu hohen Wert beigelegt und zwar dürfte die Überschätzung des hereditären Einflusses mit der Besonderheit des verarbeiteten Materials zusammenhängen. Sie berücksichtigten zu wenig, daß fast alle Konträrsexuellen, die zu ihnen als hervorragenden Nervenärzten kamen, sich subjektiv leidend fühlten und objektiv oft in indirekter Verbindung mit ihrer Homo- sexualität meist an Neurasthenie litten, einer ebenfalls viel- fach auf neuropathischer Heredität basierenden Störung. Meist handelt es sich auch um Patienten aus besseren Ständen, in denen es wohl kaum noch eine Familie gibt, bei der nicht unter den Augehörigen Abweichungen zu kon- statieren sind, etwa Migräne der Mutter, Selbstmord eines Vetters, die sich im Sinne psychopathischer Disposition verwenden lassen. Wer sehr viele gesunde Homosexuelle exploriert hat, wird erstaunt sein, wie häufig hereditär belastende Umstände auch bei weitester Fassung des Begriffs der Erblichkeit fehlen. Von denen, die ich beobachtete, stammen mindestens 75% von gesunden Eltern aus glücklichen, oft sehr kinderreichen Ehen. Nervöse oder geistige Anomalien, Alkoholismus, Bluts- verwandtschaft, Lues sind in der Aszendenz keineswegs häufiger, wie unter den Vorfahren normalsexueller Per- sonen. In der Mehrzahl der Fälle heirateten Vater und Mutter aus Neigung, sehr viele Urninge heben das be- sonders glückliche Zusammenleben ihrer Eltern hervor. Der Altersunterschied der beiden Eltern weist große Schwankungen auf, im Durchschnitt ist der Vater 5 bis 10 Jahre älter wie die Mutter, in einem Falle betrug der Altersunterschied 45 Jahre, der Vater war 64, die Mutter 19 Jahre, als das urnische Kind, welches das einzige blieb, geboren wurde. Unehelich geborene Homo- sexuelle kenne ich 8. Wiederholt schien es mir, daß die

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Mutter eine mehr aktive, der Vater mehr eine passive Natur war, ohne daß eins von beiden direkt urnisch gewesen wäre. Das von manchen als ätiologisch be- deutsam angegebene Moment, daß die Mutter sich ein Kind entgegengesetzten Geschlechtes gewünscht habe, entbehrt einer statistischen Unterlage. Die Mutter eines urnischen Leutnants teilte diesem auf seine Anfrage mit, daß sie sich allerdings vor seiner Geburt er ist der dritte Sohn eine Tochter gewüuscht habe, noch mehr aber habe sie dies vor der Geburt des vierten Knaben getan, aus dem ein scharf heterosexueller Frauenfreund und Familienvater geworden ist. Bei den 20 25% der Homosexuellen, wo erbliche Belastung vorlag, fanden sich fast durchgängig Zeichen der Degeneration, die von der Homosexualität als solcher unabhängig waren.

Sind also in 8/4 der Fälle »krankhafte Zustände der Erzeuger* bei gewissenhafter Nachforschung nicht zu eruieren, so gibt es doch eine Tatsache, aus der sich mit Sicherheit schließen läßt, daß eine Familienanlage zur Homosexualität bestehen muß, wenn auch keine krank- hafte. Dieses Faktum ist das verhältnismäßig sehr häufige Vorkommen homosexueller Geschwister. Unter 100 Urningen finden sich durchschnittlich 8, deren Bruder oder Schwester ebenfalls homosexuell sind. Diese Zahl, die mit der Gesamtmenge der Urninge in gar keinem Verhältnis steht, kann kein Zufall sein, auch ist der Ein- fluß der gleichen Erziehung oder psychischer Ansteckung auszuschließen, denn meist haben diese Personen noch eine ganze Reihe normalsexueller Geschwister, die in dem- selben Milieu aufgewachsen sind und in nahezu der Hälfte der Fälle handelt es sich um Bruder und Schwester, auf die, wenn sich Homosexualität züchten ließe, ganz ent- gegengesetzte Faktoren eingewirkt haben müßten, denn die Umstände, die den Sohn eifeminierend beeinflussen könnten, müßten die Tochter erst recht weiblieh machen und um-

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gekehrt, es sei denn, daß Eltern absichtlich ihre Söhne nach weiblicher, ihre Töchter nach männlicher Art er- ziehen, was schwerlich vorkommen dürfte. Oft sind auch die urnischen Geschwister getrennt von einander aufge- wachsen. So berichtet ein höchst femininer Urning von russischer Abkunft, der in Deutschland erzogen wurde: „Meine einzige Schwester, von der ich seit Kindheit ge- trennt bin, hat fast alle Vorzüge eines Mannes, sie studiert in Petersburg Medizin, raucht und treibt sehr viel Sport; sie schwärmte in der Schule sehr für ihre Lehrerin und lebt mit einer Studiengenossin in enger Freundschaft zu- sammen.*' Unter 58 urnischen Geschwistern, die mir per- sönlich oder dem Namen nach bekannt sind, finden sich 26 mal Bruder und Schwester, 21 mal homosexuelle Brüder, darunter 2 mal Zwillingsbrüder, 3 mal homosexuelle Schwe- stern, 6 mal 3, 1 mal 4, lmal 5 urnische Geschwister. 29 mal sind sämtliche (2, 3 und 5) Kinder homosexuell, in 7 Fällen hat sich ein Bruder wegen Homosexualität das Leben genommen. Verhältnismäßig häufig finden sich auch. Homosexuelle in der Vetterschaft. In einer euro- päischen Fürstenfamilie, welche im Jahre 1880 14 männ- liche Mitglieder zählte, fanden sich nachweislich vier, wahrscheinlich sogar sechs Urninge. In den Fällen, wo mehr als zwei Kinder homosexuell sind, scheint mir eine psychopathische Belastung häufiger vorzuliegen, soweit sich dies bei dem relativ spärlichen Material sagen läßt. Im Falle der 4 urnischen Geschwister waren der Vater und der Großvater mütterlicherseits Brüder, in dem der 5 Geschwister berichtet der älteste Bruder, ein mir auch persönlich bekannter tüchtiger Schriftsteller : „Meine vier jüngeren Geschwister, eine Schwester und 3 Brüder, sind wie ich veranlagt. Mein 2. Bruder nahm sich im 28. Jahr das Leben. Er verlobte sich, glaubte aber nach kurzer Zeit das Mädchen nicht wirklich lieben und befriedigen zu können, wurde krankhaft mißtrauisch gegen seine

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Umgebung, von der er sich in seiner Anomalie durch- schaut glaubte und erhängte sich in einem Sanatorium. Wir Geschwister sind sämtlich von der Mutter her sehr musikalisch und schöngeistig veranlagt, die Mutter war eine kluge energische Frau von vorzüglichen Gemüts- eigenschaften. In ihrem Gesicht lag ein männlicher Zug. Sie starb im 50. Jahr an Unterlcibskrebs. Der Vater war skrophulös, schwerhörig, willensschwach, er starb im 58. Jahr nach langjährigem Rückenmarksleiden. Die Mutter meines Vaters hatte in ihrem Tun etwas ent- schieden Männliches und hatte im Alter einen Hart." Ich bemerke, daß der Berichterstatter körperliche und geistige Degenerationszeichen aufweist (u. a. unregelmäßige Zahustellung, verbildete Zehen, allerlei Absonderlichkeiten und Exzentrizitäten neben hoher geistiger Befähigung, Zwangsvorstellungen, so ist es ihm unmöglich rechts von jemandem zu gehen, exhibitionistische Anwandlungen etc.). Es handelt sich hier also um einen erblich belasteten Homosexuellen, der zugleich ein Degenerierter ist.

Die Frage zu entscheiden, wie gesunde Eltern zu homosexuellen Kindern kommen, werden wir schwerlieh im Stande sein, bevor wir nicht wissen, wovon es ab- hängt, daß das eine Mal Knaben, ein anderes Mal Mädchen geboren werden. Vorläufig können wir nur die uns in ihren Gründen völlig unklare, aber höchst weise Tatsache konstatieren, daß in Deutschland wie fast in ganz Europa auf 100 Mädchen durchschnittlich 10Ö Knaben zur Welt kommen. Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir hieraus und aus der Erfahrungstatsache, daß soweit unsere Kenntnis reicht überall Homosexuelle in gleicher Menge vorhanden sind, folgern, daß auf ein bestimmtes Quantum Knaben und Mädchen ein konstanter Prozent- satz urnischer Personen geboren wird. Die Größe desselben auch nur annähernd anzugeben, besitzen wir keine exakten, einwandfreien Grundlagen; sie zu beschaffen, dürfte

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eine der wichtigsten Aufgaben des wissenschaftlich-humani- tären Komitees sein. Als statistisch erwiesen dürfen wir dagegen ansehen, daß die Homosexuellen in der Mehrzahl der Fälle nicht erblich belastet sind, wie es bisher meist geglaubt wurde. Diese Feststellung spricht wesentlich dagegen, daß es sich in allen Fällen von Homosexualität um eine Degenerationserscheinung handelt. Bekanntlich waren die Psychiater, die sich zuerst mit der konträren Sexualempfindung beschäftigten, namentlich Magnan und Krafft-Ebing auf Grund ihres Materials zu dieser Über- zeugung gelangt. Magnan ') hatte gesagt: „Die Ver- kehrung des geschlechtlichen Empfindens ist nicht eine Krankheit für sich, sondern das Zeichen eines allge- meinen krankhaften Zustandes, ein Syndrom im Bilde der ererbten Entartung." Krafft-Ebing4) gelangt haupt- sächlich unter Berücksichtigung der „in fast allen Fällen vorhandenen neuropathischen Belastung* zu dem Schlüsse, „daß diese Anomalie der psychosexualen Empfindungs- weise als funktionelles Degenerationszeichen klinisch an- gesprochen werden muß.* Mit der Menge der zu seiner Beobachtung gelangenden Homosexuellen hat er aller- dings diesen Standpunkt wesentlich eingeschränkt und in seiner Arbeit im III. Bande dieser Jahrbücher (S. 6) er- klärt er ausdrücklich : „Daß die konträre Sexualempfindung an und für sich nicht als psychische Entartung oder gar Krankheit betrachtet werden darf." Neuerdings hat Möbius in der geistvollen Schrift: „Geschlecht und Ent- artung"3) die Anschauung vertreten, daß die Homo- sexualität stets eine Form angeborener Entartung sei, er beruft sich dabei besonders darauf, daß stets erbliche Belastung nachzuweisen sei und daß stets auch außer- halb der Geschlechtlichkeit liegende körperliche und

') Magnan. Psychiatrische Vorlesungen, IV. V. Heft. S. 38. ?i Psychop. sex. S. 209. *) S. 28 ff.

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geistige Zeichen der Entartung vorhanden wären. Wir sahen bereits, daß die erste Voraussetzung nicht zutrifft, und werden erfahren, daß auch die zweite Prämisse einer Massenbeobachtung gegenüber nicht Stich hält. Übrigens rechnet Möbius ') (S. 36) die Homosexuellen „nur zu den Leichtentarteten oder wie man gewöhnlich sagt, zu den Nervösen." Ein anderer sehr erfahrener Psychiater selbst Urning schreibt: „Meine Studien haben mir kein positives Resultat ergeben. Wohl fand ich in einzelnen Fällen von Homosexualismus hereditäre Einflüsse, die aber bei anderen fehlten. Allerdings fand ich unter Homosexuellen Typen mit ausgeprägten psychischen und körperlichen Degenerationszeichen, andererseits fand ich aber wieder so kerngesunde, harmonische Naturen, daß sich für mich trotz eifrigsten Bestrebens nichts Eindeutiges zur Entscheidung dieser Frage ergab. Allerdings ist ein so verhältnismäßig kleines Material, wie es bisher jedem auch dem bedeutendsten Forscher vorgelegen hat, nicht geeignet, absolut einwandfreie Schlüsse zu ziehen. Ein entscheidender Beitrag zur Lösung dieser Frage ist wohl nur von der Bearbeitung des großen einschlägigen Ma- terials, das dem wissenschaftlich-humanitären Komite" zur Verfügung steht, zu erwarten.*

Vor kurzem hat sich auch Näcke*) zu der Frage ge- äußert und zwar in dem Sinne, daß die Homosexualität allein für sich bestehend noch keine Entartung ausmacht,

') Möbius sagt in dieser Broschüre S. 40: „Auch ich bin der Meinung, daß die Abschaffung des § 175, dessen Wirkung haupt- sächlich in Erpressungen und weiterbin in Selbstmorden besteht, dringend zu wünschen sei." Wir betonen dies Bloch gegenüber, der sich gegen die Aufhebung dieses § ausspricht und sich dabei auch (B. I. S. 252) auf frühere Ausführungen von Möbius stützt. Auch die zwei anderen Hauptgewährsmänner von Bloch: Eulenburg und v. Sohren ck-Notzing haben die Petition unterzeichnet, welche für die Beseitigung dieser verhängnisvollen Strafbestimmung eintritt.

*) In Laehrs Allg. Zeitschrift f. Psychiatrie 1902. S. 827.

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daß es geistig und körperlich völlig normale Homo- sexuelle gibt, daß man dagegen die Homosexualität als ein Stigma neben anderen gelten lassen kann, wenn auch nicht als ein so schweres, wie es vielfach hingestellt . wurde. Ich habe in Gemeinschaft mit dem Kollegen Dr. Ernst Burchard, mehrjährigen psychiatrischen Assi- stenten, die Beziehungen zwischen Degeneration und Homosexualität einem eingehenden Spezialstudium unter- zogen und können wir den Thesen Näckes voll und ganz beipflichten.

Wir legten uns zuvörderst die Frage vor, inwieweit die Homosexualität als Teilerscheinung bei Persönlich- keiten auftritt, die ihrer gesamten körperlichen und geistigen Veranlagung nach als Entartete zu bezeichnen sind. Wir gingen dabei von dem jetzt allgemein gültigen Grundsatze aus, daß ein vereinzeltes Degenerationszeichen noch kein Beweis von Entartung ist, daß es in jedem Fall des Zusammentreffens mehrerer solcher Eigenschaften bedarf, von denen Möbius sagt: „Wo sie sind, da ist Entartung, wo ihrer viel sind, viel, wo ihrer wenig, wenig.* Auszuschließen waren bei dieser Untersuchung von vorn- herein psychische und somatische Erscheinungen, welche mit der Homosexualität in unmittelbarem Zusammenhange standen. Wenn beispielsweise Möbius ') sagt: Kinder- liebe ist ein wesentlicher Zug des weiblichen Geistes; wenn ein Mann seine Kinder abscheulich findet, so erregt das kein Bedenken, tut es ein Weib, so ist sie mit Be- stimmtheit als entartet zu bezeichnen", so trifft dies für ein normalsexuelles Weib gewiß zu, nicht aber für eine urni- sche Individualität, zu deren Gesamtbild diese Abneigung gegen Fortpflanzung und Kinder als Teilerscheinung ge- hört. Ebensowenig werden wir bei einem homosexuellen Manne sehr weiche Hände oder starke Brustentwickelung

») Staohyologie S. 176.

Jahrbuch V. 10

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oder Bartlosigkeit als Stigma der Degeneration, sondern vielmehr als urnisches Stigma ansehen dürfen. Von körperlichen Degenerationszeichen hatte Kollege Burchard folgende für unseren Zweck zusammengestellt:1)

Abnormer Kopfumfang

Asymmetrie des HirnschädeK

Asymmetrie des Geaichtsschädels.

Abnorme Häßlichkeit.

Mikro- und Anophthalmus.

Fehlen, Colobom der Iris.

Farbenungleichheit der Iris.

Ektopie und Ungleichheit der Pupillen.

RetinitiB pigmentosa.

Angeborene Kataract

Cysten der Augenhöhle.

Schielen, Nystagmus.

Die zahlreichen Anomalien im Bau des äußeren Gehörorgans (wie Spitzohr, Darwinsches Knötchen, Ubermäßig große, sehr stark abstehende Ohren).

Fisteln der Ohrmuschel.

Anhänge der regio auricnlaris und regio colli.

Kiemengangcysten.

Gesichtsspalten.

') Es wurden besonders folgende Werke berücksichtigt: Morel: Degenerescences de Tespeoe humain, Paris 1856. Magnan: Psychiatrische Vorlesungen, Deutsch von Möbius, Leipzig 1891.

Fcre: Nervenkrankheiten und ihre Vererbung. Deutsch von Schnitzer, Berlin 1896.

Möbius: Über Entartung, Wiesbaden 1900. Nordau: Über Entartung, Berlin 1893.

Arndt: Biologische Studien (II. Artung und Entartung, Greifswald 1895).

Rhode: Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach der Entstehung und Vererbung individueller Eigenschaften und Krank- heiten, Jena 1895. (Mit eingehender Litt erat ur angäbe über Ver- erbung bis 1895.)

Cohn: Ein Beitrag zur Lehre von der Vererbung. Deut- sche medicinische Presse.

Fuhrmann: Das psychotische Moment, Leipzig 1903.

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Hasenscharten.

Cysten des Zwischenkieferspalts.

Anomalien der Zahnstellung und des Zahnbaus.

Hoher und spitzer Gaumen.

Spaltungen des Gaumens.

Auffallend massiver Unterkiefer.

Mikro- und Makroglossie.

Anomalien des Zungenbändchens.

Stottern, Stammeln.

Angeborene Abweichungen der Wirbelsäule. Fehlen von Extremitäten undfceinzelnen Gliedern. Entwicklungshemmungen in der Länge der Finger und Zehen. Polydaktylie, Syndaktyüe. Schwimmhäute.

Zu harte knochige, zu breite tatzenartige, zu weiche, wie

knochenlose, Übermäßig feuchte kalte Hand. Klumpfuß, Pferdefuß etc. Hammerartige Mißbildungen der großen Zehe. Angeborene Luxationen, Neiguog zu Luxationen. GrOßenmißverhältnissc der Extremitäten zum Rumpf. Riesen-, Zwergwuchs. Angeborene Exostosen. Akromegalie. Spina bifida.

Mangelhafte Mnskelentwickelnng.

Fehlen einzelner Muskeln.

Starke Fettleibigkeit.

Multiple Lipome.

Hämophilie.

Situs inversus.

Neigung zu Krampfadern.

Aplasie der Arterien.

Pigraententartung der Haut (Flecken etc.).

Albinismus.

Hornartige Gewächse der Haut Mangelhafte und abnorme Behaarung. Vorzeitiges Ergrauen. Doppelter Haarwirbel. Ungenügendes Wachstum der Haare. Zartheit der Nägel. Brüche, Bruchanlage. Atresie, Prolapse des Mastdarms.

10*

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Abnorme Länge de« proz. vermiformis. Neigung zu Appendicitis. Überzählige BrUste. Pfleudo-Hermapuroditismus. Kryptorchismus. Ektopie der Testikol. Hypospadie. Epispadie. Phimose.

Natürlich sind die einzelnen Stigmata in ihrer Be- deutung sehr verschieden zu bewerten, so werden vor- zeitiges Ergrauen, Neigung zu Appendicitis, zu Krampf- adern und -Bruchanlage zusammengenommen weniger zu besagen haben als eine Verbindung von Hasenscharte und Polydaktylie. An die körperlichen Entartungszeichen schließt sich die Neigung zu bestimmten konstitutionellen Erkrankungen an, die man ebenfalls als Entartungszeichen ansieht. Im Wesentlichen sind es Rachitis, Tuberkulose, Skrophulose, Diabetes und die Krankheiten der arthriti- schen Gruppe. Die Anlage zu gewissen nervösen Er- krankungen, der man eine gleiche Bedeutung beilegt, zur Chorea, Basedowschen, Parkinsonschen, Thomsenschen Krankheit, Muskelatrophie, Migräne, Neuralgieen, Epilepsie, Hysterie und Neurasthenie leitet uns auf das Gebiet der psychischen Degenerationszeichen Uber. Hier kommt es für uns weniger auf die ausgesprochen pathologischen Zustände des sogenannten Entartungsirreseins an, die ohnehin von den übrigen endogenen Psychosen schwer zu trennen sind, als vielmehr auf jene psychischen Stigmata, die außerhalb eigentlicher Geistesstörungen den Entarteten charakterisieren. Es sind dies nach Fi're": Extreme Reiz- barkeit des Charakters, Veränderlichkeit der Gefühle und Neigungen, Absonderlichkeit des Geschmacks (z. B. im Alkuholismus und Morphinismus hervortretend), damit im Zusammenhang steht die für den Entarteten charakte- ristische Tatsache, daß bei ihm der Impuls zum Handeln stärker ist, als es nach den bestimmenden Motiven der Fall sein sollte. Magnan stellt in den Vordergrund die

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verringerte Fähigkeit sich geistig konzentrieren zu können nebst der Unfähigkeit, lästige Gedanken zu bannen, was zu Zwangshandlungen führt (Platzfurcht, Onomatomanie, Arithmomanie, Selbstmordmanie etc.). Möbius endlich sieht das wesentliche in der psychischen Unbeständigkeit und Disharmonie, die in Gleichgewichtsstörungen zum Ausdruck gelangt. Wichtig für die Bewertung psychischer Entartungszeichen ist der Satz, daß diejenigen, welche unter gleichen Lebensbedingungen stehen, wissen werden, was an dem Betreffenden atypisch ist. Hier ist jedoch wieder zu berücksichtigen, daß dem Normalsexuellen vieles atypisch erscheinen wird, was dem spezifisch homo- sexuellen Empfinden entspringt und mit der urnischen Natur vollkommen harmoniert, sodaß von diesem Gesichts- punkt aus von einer Disharmonie der psychischen Persön- lichkeit nicht die Rede sein kann. Weiterhin sind auch die nervösen Stigmata in Abzug zu bringen, welche als unmittelbare Folgeerscheinungen der homosexuellen Triebrichtung aufzuladen sind. Wenn wir uns vergegen- wärtigen, welchen gewaltigen Faktor die homosexuelle Leidenschaft im individuellen Leben ausmacht, so werden wir begreifen, daß stärkere Alterationen dieser Sphäre auf das ganze mit dem Sexualtrieb so eng verknüpfte Nervensystem besonders nachteilig wirken werden. Un- glückliches Lieben steht unter den Ursachen der Neu- rasthenie obenan und man sollte nie versäumen, wenn man bei Patienten die mit erhöhter Erregbarkeit verbundenen nervösen Depressionen findet, das Sexualleben im weitesten Sinn als ätiologisches Moment in Betracht zu ziehen. Gilt das schon für Normalsexuelle, um wie viel mehr für Homosexuelle, deren innere Angst und Erregungszu- stände, deren so oft zu Selbstmordversuchen führende Liebeskonflikte, deren qualvolle Unterdrückungskämpfe oft eine fortlaufende Reihe psychischer Traumen darstellen. Wir müssen also bei unseren Untersuchungen die auf dem

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Boden der Entartung und die auf dem der Homosexualität entstandene Neurasthenie wohl unterscheiden.

Wenn wir uns nun nach Auschluß der mit dem homo- sexuellen Triebe im unmittelbaren Zusammenhang stehen- den Stigmen die Frage vorlegen: Bestehen bei Homo- sexuellen die körperlichen und geistigen Entartungszeichen in höherem Prozentsatz als bei Normalsexuellen?, so lautet die Antwort: Nein. Burchard und ich fanden unter 200 beliebig ausgewählten Homosexuellen 32 mit ausgesprochenen Degenerationszeichen also ca. 16% und zwar waren diese fast sämtlich erblich belastet.

Stände die Homosexualität im unmittelbarem Zu- sammenhang mit der Degeneration, so müßten die Zeichen der Entartung nicht nur bei Homosexuellen, sondern auch die Homosexualität in größerem Umfange bei schwerer Degenerierten nachzuweisen sein. Auch das trifft nicht zu. Man vergleiche die im II. Aufsatz dieses Bandes von Näcke mitgeteilten Beobachtungen aus der Irren- anstalt Hubertusburg, auch Dr. Burchard sah während seines mehrjährigen Aufenthalts in der Heilanstalt Ucht- springe unter dem dortigen überaus zahlreichen Material von Degenerierten schwerster Art nur einen Fall aus- gesprochen homosexueller Veranlagung (bei einem Epi- leptiker.)

Tritt also die Homosexualität in gut 4/5 der Fälle bei völlig Gesunden und nur in knapp Vs De* Degene- rierten auf, steht sie demnach keineswegs so oft in Ver- bindung mit sonstigen Zeichen der Degeneration, daß sie notwendig mit ihr verknüpft erscheint, so bleibt noch der Einwand übrig, und dieser ist erhoben worden, daß die Homosexualität allein für sich ihren Träger zum Degene- rierten, zu einem minderwertigen Repräsentanten der Gattung Mensch stempelt. Auch Möbius scheint dieser Meinung zuzuneigen. Er sagt (Stachyologie S. 132) einmal : „Mit der Zivilisation wächst die Entartung, d. h. die Ab-

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weichung von der ursprünglichen Art Eine der wichtigsten Arten geistiger Abweichung besteht darin, daß der Geschlechtscharakter an seiner Bestimmtheit ver- liert, daß beim Manne weibliche Züge, beim Weibe männliche auftreten.* Man mißt dabei diesen Zügen, deren Symptomenkomplex doch zweifellos eine Einheit bildet, eine Bedeutung bei, die man keinem anderen Stigma zu- erkennt, und setzt sich in Widerspruch mit dem von den Psychiatern allgemein angenommenen Satz, daß es zur Fest- stellung der Entartung stets mehrerer Degenerations- zeichen bedarf. Um zu entscheiden, ob die Homosexualität für sich eine Entartung bedeutet, muß man sich vor allem über diesen Begriff Klarheit verschaffen, eine durchaus nicht leichte Aufgabe, denn die Erklärung: „Entartung ist ein krankhafter Geisteszustand auf Grund krankhafter Zustände der Erzeuger", sowie die andere Definition: „Entartung ist eine ererbte Abweichung vom Typus, die die durch die Variabilität gezogenen Grenzen übersteigt", rufen sofort die Gegenfragen wach: was ist krankhaft? was ist der Typus? was ist die Norm? welches sind die Grenzen physiologischer Varietät? Wir können doch unmöglich Lombroso beipflichten, der auf die tele- graphische Anfrage des New York Herald: Was ist ein normaler Mensch? antwortete: „Ein Mensch, der über einen gesegneten Appetit verfügt, ein tüchtiger Arbeiter, egoistisch, geschäftsklug (routin£) geduldig, jede Macht- sphäre achtend . . ein Haustier."

Gewiß stellt der Homosexualismus die Minorität des geschlechtlichen Empfindens dar, sodaß man ihn ver- gleichsweise als von der Norm abweichend und in diesem Sinne als abnormal bezeichnen kann. Sieht man aber von Vergleichen ab und betrachtet ihn ganz objektiv, rein für sich, als etwas einmal Bestehendes, so bildet er in sich etwas so Ubereinstimmendes, die ihm eigenartige Geschlechtsempfindung entspricht so sehr

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seinem ganzen Wesen und zeigt so bis ins einzelne gehende Analogieen mit der heterosexuellen Geschlechts- empfindung, daß man bei ihm wohl von einer besonderen Art> einem besonderen Geschlecht absolut gesprochen, aber nicht von einer Anomalie im pathologischen Sinne reden kann. Das Disharmonische, die Störung der nor- malen geistigen Proportionen (desequilibration), auf welche die Psychiater mit Recht hohen Wert legen, ist beim Homosexuellen nur scheinbar vorhanden. Die Ansicht Molls, welche er in einer seiner letzten Arbeiten *) mit den Worten vertritt: „Zu den krankhaften Erscheinungen rechne ich unter allen Umständen die ausgeprägte Homo- sexualität. Wo ein solches Mißverhältnis zwischen Körper- bildung und seelischer Verfassung besteht, haben wir einen pathologischen Zustand vor uns,* diese Ansicht wäre richtig, wenn der Homosexuelle körperlich und geistig so konstituiert wäre, wie der Normalsexuelle. Wir haben ausführlich dargetan, daß ein derartiges Mißver- hältnis in Wirklichkeit nicht besteht. Nicht ohne Berechtigung schreibt ein homosexueller Gelehrter: „Wenn jemand, der sonst gesund ist, durch die Be- friedigung eines Triebes Glück empfindet, dürfte doch das Prädikat „krankhaft" widerlegt sein. Ich verspüre nach jeder Auslösung meines Triebes ein so erhöhtes Kraftgefühl, soviel innere Harmonie, eine so arbeitsfrohe Stimmung, daß seine völlige Unterdrückung für mich eine kontradiktio in subjekto bedeuten würde." Die Pathologen verstehen unter Krankheit eine den Körper schädigende, meist auch unangenehm empfundene Er- scheinung. Die Homosexualität an und für sich verschafft ihren Trägern aber weder Schaden noch Unannehmlich- keiten, diese erwachsen ihnen nur aus den Verhältnissen. Auch der häufige Mangel hereditärer Belastung spricht

») Zukunft: Sexuelle Zwischenstufen. S. 438. 1902.

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sehr dagegen, daß die homosexuelle Empfindung als solche ein Degenerationsphänomen ist, ebenso der Umstand, daß sich die Homosexuellen sehr oft einer erstaunlichen körperlichen und geistigen Gesundheit, Kraft und Zähig- keit erfreuen; erst kürzlich besuchte mich ein siebzig- jähriger Uranier, der mir mitteilte, daß er nie krank ge- wesen sei und es im alpinen Sporte, dem er mit Eifer huldigte, noch jetzt mit jedermann aufnehmen könne. Eulenburg ') und Bloch meinen, daß die Ubiquität der Homosexualität, ihre Unabhängigkeit »von Zeit und Ort, von Rassenverhältnissen und Kulturformen" gegen die Annahme einer Degenerationserscheinung spräche, doch ist dem mit Hecht entgegenzuhalten, daß es tiberall Ent- artete geben kann. Richtig ist, daß Kultur und Civilisation sowie „das Zeitalter der Nervosität" nicht verantwortlich zu machen sind und es freut mich, nach so vielen Meinungsverschiedenheiten hierin mit Bloch überein- stimmen zu können, wennschon ich gewünscht hätte, da Li der Autor aus dem Ergebnis seiner historischen For- schungen: Die Homosexualität kann kein Kulturprodukt * sein, den Schluß gezogen hätte: Dann wird sie wohl ein „Naturprodukt* sein.

Manche erblicken in der relativen Fortpflanzungs- unfähigkeit der Homosexuellen einen Beweis ihrer Krank- haftigkeit. So sagt Wachenfeld4): „Die Homosexualität kann nichts rein Natürliches, Physiologisches sein; denn sonst würde die Natur die homosexuelle Befriedigung, ebenso wie die heterosexuelle, in den Dienst der Fort- pflanzung und Arterhaltung gestellt haben." Auch Kraft't- Ebing schwebte wohl diese negative Seite des homosexu- ellen Triebes vor Augen, als er sagte8): „Die Verletzung

') Eulenburg in der Vorrede zu Blochs Beiträgen z. Ätiol. d. Psych, sex. S. IX u. Bloch ibidem S. 3 u. ff. •) A. a. 0. S. 38. 3) Pa. sex. 8. 248.

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von Naturgesetzen ist anthropologisch und klinisch als eine degenerative Erscheinung anzusprechen.* Wie aber, wenn hier gar kein Naturgesetz verletzt würde, wenn es im Plane der Natur gelegen hätte, Wesen hervorzubringen, für die es nicht normal ist, sich fortzupflanzen? Unter- scheiden wir recht genau die Gesetze, welche wir schufen und die Gesetze, welche uns schufen.

Gewiß ist der geschlechtliche Verkehr die Ursache der Fortpflanzung, diese ist seine Folge, eine wie die Erfahrung zeigt oft nicht einmal erwünschte Begleit- erscheinung. Auch ohne daß wir bisher über den Prozent- satz der Homosexuellen zur Gesamtbevölkerung genaue Angaben machen können, dürfen wir behaupten, daß der im homosexuellen Verkehr der Fortpflanzung entgehende Zeugungsstoff prozentual verschwindend ist gegenüber dem im normalen Geschlechtsverkehr bewußt und unbewußt verschwendeten. Die schöpferische Natur geht mit dem Zeugungsstoff allüberall in ungemein verschwenderischer Weise um. Es genügt ihr, wenn von diesem Stoff' nur ein ganz ungeheuer geringer Prozentsatz der Befruchtung dient Der Anatom Henle1) berechnete die Zahl der Eier in dem Eierstock eines 18 jährigen Mädchens auf 36000, in beiden Ovarien zusammen also auf 72 000. In den 30 Jahren von der ersten Periode bis zum Klimacte- rium werden davon nur 30 X 12 = 360 Eier abgestoßen. Und von diesen werden selten mehr als 10 befruchtet Unvergleichlich größer noch ist die Verschwendung des männlichen Zeugungsstoffs. 500 Millionen Samenzellen füllen den Raum einer einzigen Kubiklinie aus;2) be-

l) J. Henle: Handbuch der systein. Anatomie des Menschen Bd. 2 S. 483. Braunschweig, Vieweg 1866.

') Man vergl. Bunges Physiologie Band I 1901 8. 344 u. Bd. 11 S. 100. Über die Speraiauienge bei einer Ejakulation finden sioh Angaben bei :

1. William Acton: The functions and desorders of the repro-

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rücksichtigen wir nun, daß die bei einer Entleerung ab- gegebene Spermamenge c. 10 gr. beträgt daß 50 100 Eskalationen im Jahr gewiß nichts seltenes sind, so kann man getrost sagen, daß von vielen Milliarden männlicher Keimzellen kaum eine den Keim zu einem neuen Menschen legt. Sterben doch die direkten Nachkommen fast jedes einzigen Menschen man vergleiche die genealogischen Tafeln nach wenigen Generationen aus. Der natürliche Mensch denkt beim Geschlechtsverkehr auch gar nicht an die Fortpflanzung. Für ihn ist der Geschlechtsverkehr nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Vollzieht er den Geschlechtsakt zum Zwecke der Fortpflanzung, so handelt er aus Reflexion. Von den beiden Kompo- nenten des Geschlechtstriebes, dem Kontrektations- und De- tumescenztriebe Mo Iis, dem Ergänzungs- und Geschlechts- befriedigungstrieb, hat der erstere mit der Fortpflanzung direkt überhaupt nichts zu tun. Dabei ist er für den Charakter und die Richtung des sexuellen Triebes das wesentlichere. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß, wenn die Fortpflanzung beim Menschen, wie bei so vielen Lebewesen, ungeschlechtlich wäre, der Gefühlskomplex, der in der geschlechtlichen Zuneigung zum Ausdruck ge- äugt, nicht völlig aus der Welt verschwände. Das, was wir im weiteren Sinne Herdentrieb, im engeren Sinne Ergänzungstrieb (Kontrektationstrieb) nennen, würde sicher- lich auch dann noch fortbestehen. Denken wir uns den Ergänzungstrieb vom Geschlechtsbefriedigungstrieb los- gelöst, so wird es uns nicht mehr so rätselhaft erscheinen,

ductive Organs etc. III. ed. London. Churchhill 1802 p. 151. (A. nimmt 8—10 gr. an.)

2. Dr. J. Marion Sims: „Klinik der Gebärmutterchirurgie" deutsch von H. Beigel. Aufl. 8. Erlangen. Enke 1873. S. 317. (c. 10 gr.)

3. Paolo Mantegazza: Sullo sperma umano. Reale istituto Lombardo di scienze e letere. Rendiconti Vol. III 1866. p. 184.

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daß das Objekt dieses Ergänzungstriebes, der Gegenstand der Liebe, auch eine Person sein kann, mit der ein neues Wesen zu zeugen nicht möglich ist Andererseits wird es uns auch verständlicher werden, daß sich der Ge- schlechtsbefriedigungstrieb (Detumescenztrieb) demjenigen Objekt zuwendet, auf das der Kontrectationstrieb gerichtet ist. Der Detumescenztrieb ist, so groß seine praktische Bedeutung sein mag, dabei doch nur untergeordnet, sekun- där, und man sollte ihm daher bei einer objektiven Beur- teilung der Homosexualität nicht die erste Rolle zuweisen, wie es vielfach geschieht.

Der Geschlechtsverkehr beansprucht für die Er- haltung der Arten keineswegs die Bedeutung, welche ihm mit dem Gegenstand nicht Vertraute zuerkennen. Bunge sagt in seinem meisterhaften Lehrbuch der Physi- ologie *) : „Die Konjugation, die geschlechtliche Zeugung ist flir die Fortpflanzung unwesentlich. Das Wesentliche ist die Zeugung durch Teilung einer Zelle, die vom Wachstum nicht verschieden ist. Welche Bedeutung die geschlechtliche Zeugung hat, wissen wir nicht."

Das Ausschlaggebende bei der Fortpflanzung, die Befruchtung, die Vereinigung der Keimstoffe, ist ja über- dies ein völlig gefühlloser Vorgang, von dem wir ebenso- wenig wie vom Wachsen das geringste merken. Bunge hat vollkommen recht: „Wachstum und Fortpflanzung sind im Grunde genommen ein und dasselbe. Wachstum ist Fortpflanzung innerhalb der Grenzen des Individuums. Fortpflanzung ist Wachstum über die Schranken des Individuums hinaus*; auch der Mensch, der über sich hinaus wächst, der durch neue Gedanken und Windungen seine und des anderen Gehirn- oberfläche vergrößert, p fla nzt sich f ort. Vom

>) 1. Aufl. im erschienen. *

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Wachstum zur ungeschlechtlichen Fortpflanzung, von dieser zur geschlechtlichen Zeugung führen alle nur er- denklichen Übergänge. Gerade die imposante Vielseitige keit, die unendliche Mannigfaltigkeit, mit der die Natur an der Erhaltung und Vervollkommnung ihrer Geschöpfe arbeitet, sollte uns vor der Vermessenheit schützen, der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Wie können wir es verantworten, dem Menschen ein Recht abzuerkennen, das keinem anderen Lebewesen vorenthalten ist. Die ge- schlechtlichen Beziehungen erwachsener und zurechnungs- fähiger Wesen gehen wahrlich keinen dritten etwas an. Wie, wenn der Zweck des Geschlechtstriebes nur die Liebe wäre, die Liebe, die stets fruchtbar ist, zeugt und gebiert, auch wenn ihr keine neue Lebewesen entsprießen? Man kann auch produktiv sein, ohne sich fortzupflanzen. Wenn Möbius die Fortpflanzung als wichtigsten Natur- zweck1) bezeichnet, so setze ich dem Leipziger Psychiater den Leipziger Psychologen entgegen, Wundt, den man den größten Philosophen der Jetztzeit genannt hat. Dieser stellt als mittelbaren und unmittelbaren Zweck des Lebens die Erzeugung geistiger Schöpfung hin.2) Haben denn Michelangelo, Beethoven und Friedrich der Große ihren Naturzweck verfehlt, weil sie keine Kinder zeugten? Ich meine, sie bedeuten der Menschheit mehr, als 100 ihrer Zeitgenossen, die 1000 Kinder hinterließen. Nicht um- sonst hat man von geistiger Befruchtung und Zeugung gesprochen. Genie kommt von ytv«w-zeugen und die Spenderin der Wissenschaften nennt man alma mater, nährende Mutter. Die Erzeugnisse des Geistes, die Ge-

') Jn dem Aufsatz „Uber diu Vererbung künstlerischer Talente" sagt Möbius (Stachyologie S. 123): „Das Talent ist dem wich- tigsten Xaturzweck, der Fortpflanzung, nicht förderlich. Gerade unter den grollen Talenten finden wir viele kinderlose Leute."

a) Kisler. Wilh. Wundts Philosophie und Psychologie in ihren Grundlagen dargestellt. Leipzig. Barth 1902. S. 188.

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danken, sind Taten, treibende Kräfte, Entwickeier der Menschheit, Vorkämpfer besserer Zeiten. Wer neue Wahrheiten entdeckt und verbreitet, neue Gestalten bildet und formt, ist ein zeugender und säugender Förderer. Tolstoi ruft einmal aus: „Möchten doch die Menschen begreifen, daß die Menschheit nicht durch tierische Er- fordernisse, sondern durch geistige Kräfte fortbewegt wird.* Das Leben absolut schön zu schaffen, reich, reif und rein, das ist der Arbeit Ziel, des Daseins Zweck. Bis aus Ideen dieses Ideal entsteht, wird noch manche Generation dahingehen, manche Denkerstirn sich furchen und manche Arbeitskraft erlahmen. Nur der Tatenlose ist nutzlos, zwecklos nur, wer nicht am gemeinsamen Werke der Erziehung, Weiterbildung, Vervollkommnung mitarbeitet Der Wert eines Menschen hängt von den Werten ab, die er erzeugt. Hand in Hand mit den beiden anderen Geschlechtern hat der Uranismus trotz allem und allem Werte und Werke geschaffen für den Ein- zelnen und die Gesamtheit. Das war des Uraniers, wie jedes Menschen Zweck und Pflicht

Und nun schlagen wir die Brücke vom Erkennen zum Leben. Groß sagt einmal:1) „Heute sperren wir die Homosexuellen ein und geschieht es ohne Berechtigung, so wurden eben so und so viele Menschen ungerecht ihrer Freiheit beraubt und etwas Ärgeres können wir überhaupt nicht tun/ Und ich füge hinzu, indem ich vor meinem Geiste noch einmal die vielen hunderte von Uraniern vorüberziehen lasse, vom Prinzen zum Tagelöhner, die ich in sieben Jahren sah, diese hülf- losen Arzte und Priester, diese angsterfüllten Staats- anwälte und Richter, diese bedeutenden Gelehrten und Künstler, die braven Offiziere, die pflichttreuen Be- amten, die tüchtigen Kaufleute , Landwirte, Studenten,

') Archiv flir Kriminalanthrop. 10. Band 1 u. 2 H. S. 195.

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Arbeiter alle, alle stigmatisiert, verstümmelt, getroffen in ihrem Heiligsten, : Solange Staat und Gesell- schaft in diesen von der Fortpflanzung, nicht aber von der Liebe Ausgeschlossenen Verbrecher sehen, hat das Mittelalter sein Ende noch nicht erreicht Ich für mein Teil werde nicht aufhören, für das Recht dieser Unter- drückten zu kämpfen, nicht aus Ruhmbegier, sondern weil ich es nicht ertragen könnte, untätig Mitwisser eines so gewaltigen Unrechts zu sein.

Anhang:

Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters Franz S.,

von ihm selbst erzählt

Als Kind armer Eltern mein Vater war Schreiner kann ich im Allgemeinen auf meine Jugendzeit eigentlich nioht als auf eine goldene Zeit zurückblicken, zumal da meine Mutter frühe starb und wir 2 Brüder, die wir von 5 Geschwistern zurückgeblieben waren, bald eine Stiefmutter bekamen. Unsere Stiefmutter, die noch heute lebt und unseren Vater in der Folge noch mit 2 Söhnen be- schenkte, war eine äußerst rechtschaffene Frau und uns eine liebe- volle Pflegerin, die uns gewiß in jeder Beziehung die rechte Mutter zu ersetzen bemüht war. Allein die dürftigen Verhältnisse unserer Familie brachten es mit sich, daß wir schon als Jungen zum Lebens- unterhalt mit beitragen mußten. Der rücksichtslose Kampf ums Dasein warf schon frühe seine grauen Schatten in den Sonnenschein unserer Jugend. Die Stunden, wo ich frei mich meinen Alters- genossen zugesellen durfte, waren mir bedeutend knapper zuge- messen als allen anderen Kindern. Um so eifriger und in steter Angst, daß der Ruf meiner gestrengen Mutter mich, ach nur zu frühe, wieder abrufen würde, gab ich mich den Kinderspielen mit meinen Kameradinnen hin. Freilich, Kameradinnen, denn Mädchen waren damals meine liebsten und fast ausschließlichen Spielgefährten. Ich fand bei ihnen stets wilüge Annahme und war ihnen offenbar ein angenehmer Spielgenosse. Abhold jenen lärmenden, wilden Knabenspielen zog ich es vor, in Gemeinschaft mit gleichaltrigen

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Mädchen der Nachbarschaft mich an Pappenwagen, Puppenstuben, Kochherd u. s. w. zu ergötzen. Dort war ich in meinem Element. Keine meiner Gespielinnen konnte die kleinen Möbel und Sächelchen des PappenheimB so schön zurechtstellen, die kleinen Betten und Deckohen so glatt falten, keine konnte so schöne Chokoladen- und Milchsuppen zurcchtpantschen, ho delikate Mohrrüben mit Zucker einmachen, als ich. Deshalb mußte ich auch meistens bei den Spielen die Mutter markieren, obwohl mitunter von einer neidischen Kleinen Einspruch dagegen erhoben wurde, wobei man lakonisch auf meine Hosen als unzweifelhafte Qualifikation zur „Vaterschaft0 hinwies. Zuweilen mischte sich auch die Mutter Derjenigen, in deren Behausung wir spielten, dazwischen, um uns auf diese Umkehrung der Begriffe aufmerksam zu machen. Die Majorität der kleinen Schar entschied meistens, nach einigen Wenn und Aber, doch für meine „Mutterschaft." Und zwar vornehnüich im Hinblick auf die Chokoladensuppe und die eingemachten Rüben. Und um auch etwaigen Nörgeleien wegen der „Hose" zu begegnen, wurdo oft ein altes Umschlagtuch nebst dem Häubchen der Mutter herbeigeschafft. Angetan damit war ich glücklich, meine Rolle bis zu Ende des Spiels durchführen zu können.

Welch rosiger Hauch holder Unschuld lag Uber diesen naiven Jugendspielen ausgebreitet! Und doch wenn der Forscher den Schleier jugendlicher Naivität durchdrang, bot sich ihm nicht schon in dem Verhalten de« Kindes manch deutliches Merkmal psycho- logischer Abnormität? Weiter aber: Je älter ich wurde, um so deutlicher entwickelten sich meine Neigungen zu allen möglichen weiblichen Beschäftigungen. Meine Stiefmutter bemerkte sehr bald, mit welchem Geschick ich stets die kleinen Hilfeleistungen ausführte, welche sich auf den Haushalt bezogen.

Bald wurde ich von ihr mit Vorliebe zu solchen Arbeiten herangezogen. Und ich erinnere mich lebhaft jener freudigen Ge- nugtuung, dio ich empfand, als anläßlich der Geburt meines jüngsten Bruders, ich hatte eben mein zehntes Lebensjahr Ubersehritten schon ein großer Teil der häuslichen Verrichtungen mir Ubertragen wurde. Körperlich entwickelte ich mich recht langsam, dafür wurde mir aber öfter eine gewisse, nach innen gekehrte geistige Reg- samkeit nachgesagt. Mit dem elften Jahr hörten die Spielereien mit den Mädchen nach und nach auf. Die Personen der kleinen Mädchen hatten ja bei den vorbenannten Spielen wenig oder keine Anziehungskraft ausgeübt. Es war nur immer die Art des Spieles, die mich festhielt. Eine auffallende, offen und naiv ausgedrückte Vorliebe für schöne Formen und Linien wurde schon frühe boi mir

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von meiner erwachsenen Umgebung bemerkt und als ein besonderes Kuriosum an mir belächelt. Gelegentlich eines Wohnungswechsels meiner Eltern wurde mein Geschick allgemein bewundert, mit dem ich in der neuen Wohnung Bilder, Spiegel und sonstige Sächelchen an den Wänden geschmackvoll zu arrangieren wußte. Vom elften Jahre an gab ich mich nun mehr und mehr mit Knaben meines Alters ab, doch war die Art des Verkehre wiederum sehr bald Gegenstand vieler Bemerkungen, namentlich der Mütter, die ja überhaupt mehr Gelegenheit nehmen, das Tun und Treiben als das ganze Wesen ihrer Kinder zu beobachten. Man fand meine Art, mit den Freunden sich abzugeben, komisch, so „eigentümlich," „so anders,'1 garnicht jungenhaft. Wenn ich mit Knaben spielte, so kamen die sonst übüchen Katzbalgereien, Gezänke und Feindselig- keiten, die ja sonst unter Jungen gang und gäbe sind, garnicht vor. Ich wußte immer alles gleich wieder zu arrangieren und zu versöhnen, so daß jeder zu seinem Rechte kam. Nahm auch wohl oft den Rest auf meine Kappe, damit sie nur alle „wieder gut" wurden, paukte mich mit den Einzelnen nie, gab immer, oft mit tränenden Augen nach und war froh, wenn sie mich nur leiden mochten, wenn ich ihnen nur immer gut sein durfte. Deutlich erinnere ich mich noch, wie mich oft meine Mutter schalt wegen meines duckmäuse- rischen, mädchenhaften Benehmens und mir einschärfte, daß ich mich, wenn ich im Rechte sei, zu wehren hätte und mir nicht „alles ge- fallen lassen dürfte"! Gewöhnlich ohne Erfolg. Soldaten-, Krieg- und Räuberspiele, die bei allen Jungen doch die begehrtesten Spiele sind, mir waren sie ein wahrer Horror. Ich erinnere mich, nur ein einziges Mal das Spiel „Indianer und Pflanzer" mitgemacht zu haben, aber bloß unter der Bedingung, daß mir dabei die An- fertigung der phantastischen Lendengürtel und Kopfputze über- tragen wurde, bei welcher Beschäftigung ich dann eine geradezu abenteuerliche Phantasie entwickelte. An den Spielen selbst hatte ich nur insofern ein Interesse, als ich dabei mit kritischem Bück die äußeren Erscheinungen der verschiedenen Knaben in Vergleich bringen konnte. Gewöhnlich lief ich neben und hinter den einherstürmenden Knaben und weidete meine Augen an dein schlanken Oberkörper, den üppigen Lenden, den glühenden Wangen und den funkelnden Augen desjenigen, der meinen Schönheitsbegriffen besonders ent- sprach. Schöne, lebhafte, sprechende Augen liebte ich schwärmerisch, und wenn ihr Besitzer gar womöglich noch leichtgelocktes Haar hatte, dann wars immer um raeine Ruhe geschehen. So einer durfte unbeschränkt über mich verfügen. Ich suchte auf alle mögliche Art seine Gunst zu erwerben, war glücklich, wenn ich in seiner

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Nähe weilen oder gar seine Hände fassen durfte. Ein solcher

Knabe, Willy M , zwei Monate jünger als ich, doch bedeutend

kräftiger entwickelt, war es denn auch, für den mich bald eine heftige und tiefe Zuneigung ergriff. Er war es, für den ich meine ersten „Liebesscbmerzen" erduldete. Jenes oben genannte Spiel, „Indianer und Pflanzer," hatte uns näher zusammengeführt. Ich hatte bei dem Spiel die mehr passive Rolle unter den indianischen Kriegern übernommen. Ich mußte die gemachten Gefangenen be- wachen. Willy geriet ebenfalls, nach heldenmütiger Gegenwehr gegen die Übermacht der Wilden, in ihre Gefangenschaft und wurde mir im Triumph zugeführt, damit ich ihn bewache, bis die even- tuellen Sieger in den „Wigwam" zurückkehrten, um ihn dem qual- vollen Tode am Marterpfahl zu überantworten. Schweigend nahm ich ihn in Empfang und schweigend betrachteten wir uns eine Weile gegenseitig. Er nahm seine Rollo sehr ernsthaft und betrachtete mich mit ungeheurer Verachtung. Ich nahm meine Rolle weniger gewissenhaft, sondern musterte seine äußere Erscheinung mit heim- licher Bewunderung.

So wie wir uns später oft einiger an sich unbedeutender Epi- soden unserer Jugend lebhaft bis ins hohe Alter hinein erinnern, mit derselben Lebendigkeit, als sei es gestern geschehen, erinnere ich mich noch heute jener unsagbar wonnigen, süßen Freude, die ich damals empfand, als dieser Knabe, gefesselt, in seiner stolzen Hilflosigkeit vor mir stand. Im Stillen dankte ich es meinem gescheiten Einfall, daß ich mich hatte zum Wächter der Gefangenen benutzen lassen. War ich doch nun in die glückliche Situation gekommen, meinen geliebten Freund vollständig in meiner Gewalt zu sehen. Mein erster Gedanke, nachdem wir allein gelassen, war, ihn in seiner Hilflosigkeit in meine Anne zu schließen, um ihn nach Herzenslust abzuktbsen und an mich zu drücken. Was wollte er machen; er war gebunden, konnte sich nicht wehren und mußte sich meine Liebkosungen gefallen lassen. Allein die Furcht vor seiner wirklichen Verachtung hielt mich davon ab. Wonne- trunken saß ich eine Weile neben ihm und bewunderte verstohlen den schlanken Körper, den schönen Kopf meines Gefangenen. Willy war in der Tat eine außerordentlich schöne Jugenderscheinung. Tannenschlank gewachsen, waren Kopf und Gliedmaßen geradezu klassisch zu nennen im Ebenmaß ihrer Formen. Den schönen Kopf schmückte eine Fülle seidenweichen, blonden Haars, das in leichten natürlichen Kräuseln die blendend weiße Stirn umrahmte und ein paar große, wunderbar sprechende Augen, stahlgrau und von langen dunklen Wimperhaaren beschattet, strahlten aus diesem schönen

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Gesicht mir entgegen. An ihnen konnte ich mich nie satt sehen. Möglich, daü sich die Erscheinung Willys in meiner jungen Seele in übertriebenen Reflexen widerspiegelte. Ich weitt mich aber noch genau zu entsinnen, wie ich damals nicht begreifen konnte und wie ich eigentlich jedem Menschen böse war, der ihn sah und nioht dabei ausrief: „Wie unendlich schön ist dieser Knabe!44 Ich muß betonen, datf ich niemals dabei in meiner ganzen Knabenzeit sexuelle Regungen empfand, das geschah erst in und nach der Ent- wicklung meiner Pubertät.

Das Ende jenes Spiels aber war ausschlaggebend geworden für unsere nachherige Freundschaft. Willy hatte bei jener Gelegen- heit mein Mitgefühl nicht umsonst benutzt, indem er behauptete, die Fesseln seien „zu fest44 und täten wehe, und ich war nur zu bereit, diese etwas zu viel zu lockern, und war auch nachher gerade nicht allzusehr erschrocken, als plötzlich mein Gefangener in grossen Sätzen entwischte. Das Spiel, hiess es, „gilt nicht,*4 ich wurde tüchtig wegen meiner Unzuverläliigkeit ausgescholten. Und als ich dabei noch obendrein meinen Freund Ausreisser in Schutz nehmen wollte, geschah, was oft zu Ende solcher Spiele zu geschehen pflegt, irgend jemand bekam seine Hiebe und hier in diesem Falle war ich es, der seine schöne Tracht Prügel von seinen Kriegsknmpanen ein- heimsen miwste. Das waren meine ersten „Liebesschmerzen.4' Und Willy machte nicht einmal Miene, mich zu trösten oder nur zu bedauern. Und doch ist eben dieses Jugendspiel der Grundstein zu unsrer langjährigen innigen Freundschaft geworden. Es mochte Willy doch wohl leidgetan haben, dass ich seinetwegen so jämmerlich gepufft worden. Er liess sich von da an öfter vor dem Hause, wo meine Eltern wohnten, sehen. Ach und ich, mir fuhr jedesmal ein Wonneschauer durch die Brust, wenn ich ihn nur erblickte. Heisse Blutwellen schössen mir ins Gesicht und mehr stürzend rannte ich auf ihn los, um seine Hand zum „guten Tag" zu fassen, die ich dann oft überlange festhielt, in seinen Anblick versunken und ohne zu hören, wenn er mich nach diesem und jenem frug. Von nun an begann die schönste Zeit meiner Jugend. Ich war Uberglücklich, dass Willy anfing, sich mit mir zu beschäftigen. Nun bot ich alles auf, ihn an mich zu fesseln. Wir besuchten uns gegenseitig und wenn ich einmal von der Mutter einen freien Nachmittag erhielt, dann wusste ich's trefflich einzurichten, ihn von den wilden Spielen mit den andern Jungen abzuhalten und ihn zu überreden, mit mir zusammen in der Umgegend nmberznstreifen. Er tat mir auch öfter den Gefallen und ging mit, trotzdem die Neigung dazu bei ihm nicht sonderlich gross zu sein schien. Dann lagen wir oft an einem kleinen

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Abhang oder im Gebüsch versteckt und lauschten dem Gesänge der Lorchen über unseren Häuptern und folgten ihren Bewegungen, wenn die kleinen Sänger jubelnd in den blauen Äther aufstiegen. Zuweilen war Willy, den Kopf in meinem Schoss ruhend, sachte eingeschlafen, während ich meiner Lieblingsbeschäftigung oblag, grosse Mengen von Blumen zu allerlei Kränzen, Sträussen und Guirlanden zu verarbeiten. Dann hielt ich ab und zu inne und lauschte auf seine tiefen Atemzüge, betrachtete zärtlich sein schönes Haupt von allen Seiten und versenkte heimlioh und schüchtern meine Uppen in das tippige Haar des Lieblings. Fortan gab ich mich dieser berauschenden Zuneigung mit einer Inbrunst hin, die bald mein ganzes junges Dasein ausfüllte.

Wo ich ging und stand, begleiteten mich die Gedanken an ihn. Ich mischte mich jetzt nur noch »ehr selten unter die anderen Knaben, wenn „er" nicht unter ihnen war, sondern streifte allein umher oder ging zu ihm, und wenn ich ihn nicht zu Hause traf, setzte ich mich iu irgend eine Ecke, um auf ihn zu warten. Schalten schon trüber meine Eltern öfter über mein „närrisches" Wesen, so war ich nun völlig ein Träumer geworden. Stundenlang sass ich oft in der Kammer in einer Ecke und sann und sann und suchto nach einem Mittel, wie ich meinem schönen Freund noch mohr wie bisher meine Liebe beweisen könnte. Allerlei abenteuerliche Pläne wogten in meiner Seele auf und nieder. Ich stellte mir vor, wie das Haus, in dem Willy wohnte, plötzlich in Brand geriete und Willy darin in grosser Lebensgefahr sich befinden würde. Ich würde dann, das gelobte ich mir, sofort mich in die Flammen stürzen, würde ihn natürlich „ganz gewiss" in meinen Armen aus dem Feuermeer er- retten u. s. w. So brachte ich oft die Zeit bin in solchen für mich wundersttssen Träumen.

Immerwährend hungrig nach irgend einer Gunstbezeugung von seiner Seite, war im Gegensatz dazu Willy eigentlich recht sparsam damit. Willy war im Ganzen ein herzensguter Junge. Jedoch geschlechtlich offenbar nonnal veranlagt, konnte er mir gewiß keine anderen Gefühle entgegenbringen, als er für mich eben hatte. Nämlich jenes Gemisch von Anhänglichkeit und Dankbarkeit, das er mir ja auch bereitwilüg zugestand, wohl mit dem dunklen Bewusstsein, daas er an mir einen Freund besass, von dem er alles verlangen konnte. Was aber in meinem kaum 13jährigen Herzen schon damals brannte und wühlte, war eben etwas anderes als kameradschaftliche Zuneigung. Es waren die ersten steigenden Funken jenes gewalligen unterirdischen Feuers, jener leidenschaft- lichen Glut, die mau Liebe nennt. Blieb dem Dreizehnjährigen, in

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keuscher Unschuld, auch die erotische Natur dieser Empfindungen noch uubewusst, so stieg mir doch bereits die dunkle Ahnung: empor, dass diese Liebe ebensolche, gleich heisse und stürmische Leiden- schaftlichkeit von dem anderen fordern ralisse. Ich war nicht damit zufrieden, dass er mich viel aufmerksamer und rücksichtsvoller, sanfter behandelte wie die anderen, mich auch wohl mal spassend sein „Puppchen" nannte, meine Hände packte und mit mir im Kreise herumjagte, mich plötzlich losliess und dann schnell hinzusprang und mich auffing, wenn ich, schwindlig geworden, zu stürzen drohte ; war auch nicht zufrieden, wenn ich seinen Kopf dann und wann an meinen Busen drücken durfte, ihm Ilaar und Wangen zu streicheln. Nein, freiwillig sollte er selbst dergleichen auch mit mir tnn, sollte meinen schüchternen Knss erwidern. Täglich in den Stunden, wo wir nicht beisammen waren, waren doch meine Ge- danken bei ihm. Dann stellte ich mir in meiner Phantasie vor, wie er mich innig umarmte, an sich drückte und küsste. Bei solchen Träumen stieg mir immer der Schlag meines Herzens gleichsam bis zum Hals herauf und ich wäre in solchen Augenblicken nicht im stände gewesen, wenn mich Jemand überrascht hätte, auch nur ein Wort hervorzubringen. Fest hing ich mich dann im Geiste an ihn, um ihn nie, nie mehr loszulassen, er sollte mich tragen, weit, weit fort, irgendwohin, wo wir immer, immer beisammen sein dürften. Wie geistesabwesend sass ich dann oft in einein Winkel und rührte mich nicht. Oft traf mich meine Mutter so und riss mich scheltend, unsanft aus meinen süssen Träumen. So viel ich nun auch von solchen Umarmungen träumte, Willy tat nie etwas dergleichen, und ich musste mich weiter mit den kärglichen Gunstbezeugungen dieses wild umherstürmenden Knaben begnügen. Und doch bald sollte ein Teil meiner heimlichen Träume in Erfüllung gehen. Wie ich schon eingangs meiner Zeilen bemerkte, waren meine Eltern arme Leute, die schwor um die rechtschaffene Erhaltung unserer zahl- reichen Familie kämpfen mussten. Mit Eintritt in mein 13. Lebens- jahr machte sich, hervorgerufen durch lange Krankheit meines Vaters, auch für mich die Notwendigkeit geltend, nun dauernd zum Unterhalt der Familie mit beizutragen. Ich war im Ganzen etwas zart, aber sonst kerngesund und leidlich wohlgebaut. So erhielt ich denn eine Stelle in einem grossen Speditionsgeschäft, als sogenannter Rollmops, so wurden jene halbwüchsigen Jungen geuanut, welche den Rollkutscher auf dem schwerbeladenen Speditionswagen zu be- gleiten hatten, vom Güterbahnhof durch die Stadt, wo die Kisten und Ballen bei den verschiedensten Firmen abgesetzt wurden. Hier begann nun eine sehr trübe Periode meiner Jugend, und doch fiel

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in sie der erste Sonnenstrahl eines reinen zarten Liebesglückes. Der Leser mag mir gestatten, hier die kleinen, an sich ja recht un- bedeutenden Vorkommnisse dieses meines jungen Daseins etwas ausfuhrlicher zu erzählen. Denn es bieten sich in ihnen, meiner allerdings laienhaften Auffassung nach, wohl für den Forscher alle jene charakteristischen Merkmale dar, die schon den Knaben in seiner ganzen psychologischen Entwicklung als ausgesprochenen Homo- sexuellen erscheinen lassen. Meine ganze körperliche und seelische Verfassung stand eigentlich im Widerspruch zu meinem neuen Tätig- keitsfelde. Die ganze Umgebung, in die ich nun plötzlich hinein- kam, behagtc mir schon von Anfang an nicht. Und doch war ich uun verpflichtet, täglich von '/«2 bis meistens Abends nach 10 Uhr in dieser neuen, für mich so ungünstigen Atmosphäre zu- zubringen, unter der ich ungemein litt. Meinen geliebten Willy sah ich jetzt nur noch selten, denn ich hatte ja nun in der Woche Uberhaupt keine freie Zeit mehr. Mein ganzes Wesen sträubte sich gegen die Art meiner nunmehrigen Beschäftigung. Der Umgang mit den Pferden, das An- und Ausspannen, FUttern und Tränken derselben, sowie das Streumachen, alles dieses gehörte zu den Ob- liegenheiten eines ordentüchen „Rollmopses" und war mir ein Gräuel. Dazu kam, daß ich unter dem ungemein rohen Tun und Treiben der Kutscher zu leiden hatte. Das beständige wüste Ge- fluche, die brutalen gemeinen Späßo flößten mir Abscheu ein. Scheu und furchtsam tat ich, was mir geheißen wurde und hatte in Folge dessen auch noch die frechen Sticheleien meiner neuen „Kollegen", deren es eine Menge auf dem Speditionshofe gab, ein- zustecken.

Mit Wehmut dachte ich an die schöne Zeit, wo ich mit Willy zusammen so glücklich war. Ach wie sehnte ich mich so furchtbar nach diesem meinen liebsten, meinem einzigen Freund. Und fast un- bewusst lenkte ich meine Schritte nach jener Strasse, in der er wohnte, drUckte mich in irgend eine Ecke, von wo aus ich seine Fenster sehen konnte, und blickte unverwandt hinauf. Meistens war es schon immer nach 10 Uhr und meine geheime Hoffnung, Willy vielleicht noch treffen und sprechen zu können, war immer vergeblich. Fast verzehrte mich die Sehnsucht nach ihm und un- sagbare Traurigkeit erfüllte meine Seele. Ich dachte mir dann meinen Liebling hinter jenem Fenster, vielleicht schon friedlich in seinem Bette schlummernd, er dachte am F^nde gar nicht mehr an mich, seinen Freund, ja, hatte vielleicht don ganzen Tag, die ganze Zeit, wo wir uns nicht gt-sehen, nicht mehr an mich gedacht, hatte mich wohl gar schon ganz vergessen. 0 dann fühlte ich mich so

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furchtbar einsam und verlassen auf der Weit und fing an bitterlich in mich hinein zu weinen. Ich war tief unglücklich und langsam schlich ich nach Hause. Solche Abende wiederholten sich oft. Und doch sollte mir hier gerade die gliioklichste Stunde meines jungen Dasein's schlagen. Was ich mit meinen glühendsten Phanta- sien bis dahin mir heimlich ausgedacht, nie aber verwirklicht zu glauben gewagt, das wurde mir an einem Abende zuteil. Ich hatte mich, wie oft, nachdem die Feierabendstunde für uns geschlagen, verstohlen vom Speditionshof davon gemacht, um nicht mit den anderen Burschen auf der Strasse zusammen zu geraten. Träumend trabte ich durch die Strassen und stand auch bald wieder vor dem Hause meines Freundes. Ich hatte ihn fast 3 Wochen lang nicht gesehen und bildete mir ein, Willy mtisste nun doch unbedingt auch nach mir ausschauen. Meine unendliche Zuneigung konnte sich nicht damit abfinden, dass er so ganz und gar nicht an mich denken sollte. Lange wartete ich vergeblich, dass er vielleicht zufällig irgendwo noch sichtbar würde. Schliesslich ging ich, da ich nun das Tor zufällig diesmal noch offen fand, durch den Hausflur und lungerte wartend und missmutig auf dem mir wohlbekannten Hof umher. Im Hause wohnte ein Lohnkutscher, der in den Seitengebäuden, Reinigen und Ställen mit seinen Kaleschen, Droschken, Pferden und allerlei Gerätschaften den ganzen Hof beherrschte. Ich kannte jeden Winkel, denn ich hatte mich mit Willy zusammen manches liebe Mal hier umher getummelt. Ich setzte mich auf einen umge- stülpten Wassereimer, am Eingang einer offenstehenden Wagenremise und starrte nun eine Weile nach dem Küchenfenster der Wohnung meines Freundes hinauf. Eine Weile hatte ich so gesessen, schwer- mütig seufzend, den Kopf in die Hände gestützt, als ich plötzlich aus dem Innern des Schuppens, wo einige Bündel Stroh, Futtersäcke u. s. w. lagen , meinen Namen flüstern hörte. Ich bekam einen ge- waltigen 8chrecken , sprang auf und lausehte. Hinter dem Bündel Stroh regte sich etwas, kam vorsichtig näher und mit freudigem Erstaunen erkannte ich nun Willv, meinen sehnlichst erwarteten Freund. Er liess mir aber keine Zeit zum langen Fragen, zog mich am Arm in den dunklen Winkel zurück und erzählte mir flüsternd und mit vor Angst zitterndem Athem, wie er in dieses Versteck gekommen sei und wie er sich, aus Furcht vor dem strafenden Ann seines sehr strengen Vaters, nicht hinauf getraue. Es war eine lanjfe Geschichte. Willy hatte offenbar wieder einmal bei einem tollen Knabenstreich die Hauptrolle gespielt. In Gesellschaft mit anderen Knaben hatte er einer in der Nähe wohnenden Grünkramhändlerin einen Schabernack zugedacht. Das Geschäftslokal dieser Frau befand

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sich unterhalb der Strassenfront , die Treppe ging von der Strasse aus nach unten, und die bösen Buben hatten nun einen grossen Blech- topf mit Wasser herbeigeschleppt und hatten diese Pandorabüchse jene Treppe hinunter „fallen lassen". Das Wasser war natürlich in den Laden geflossen und hatte die alte, etwas korpulente Frau sehr in Bewegung gesetzt. Nach vollbrachter Tat fliehend, waren jedoch einige der übeltater erkannt worden. Und gegen Abend nahte die rächende Nemesis in Gestalt der sehr rabiaten Grünkraiufrau. Sie kam in die Wohnung der Kitern, strengste Strafe heischend für den „ungeratenen Bengel widrigenfalls sie sich bei der Polizei be- schweren wolle, da das schon „öfter vorgekommen". Willy beteuerte mir allerdings, daas er diesmal „wirklich und wahrhaftig- gänzlich schuldlos sei, indem die anderen den ganzen Koup ausgeheckt und vollbracht hätten, er aber nur „zugeguckt" hätte. Mit pochendem Herzen hatte ich seinem Bericht gelauscht. Mitleid erfüllte meine Seele und ich überlegte bereits, wie ich meinem Freunde helfen könnte. Ich riet ihm zunächst, hinauf zu seinen Kitern zu frühen, denn, da er „nichts dafür" könnte, so setzte ich ihm auseinander, war doch keine Strafe zu erwarten. Allein mit der gänzlichen Un- schuld mochte es wohl seinen Haken haben, und ich konnte ihn nicht dazu bewegen, hinauf zu gehen. Schliesslich erklärte er schluchzend, er wolle „in's Wasser" gehen, denn sein Vater »ei „zu strenge". Entsetzt packte ich seinen Arm, als müsste ich ihn fest- halten. So Saasen wir eine Weile stumm nebeneinander. Seine Angstlaiite schnitten mir in's Herz und ich zermarterte mein arm- seliges Hirn nach irgend etwas, womit ich ihn retten könnte. Denn helfen iuusste ich ihm, so viel war sicher. Mit einem Male kam mir auch ein trefflicher Gedanke, ja so iuusste es gehen, so konnte ich ihn vielleicht von der drohenden Strafe befreien. Ich überlegte garnicht erst, ob auch alles, was er mir erzählt hatte, wahr sei und ob er wirklich nur „zugeguckt" hätte. Schnell sprang ich auf, flüsterte ihm hastig ein paar Worte über meinen Rettungsplan zu und ehe er ein Wort erwidern konnte, rannte ich über den Hof, die Treppe zur Wohnung seiner Eltern hinauf und schellte. Beim schrillen Klang der Schelle aber erschrak ich doch heftig über meine Kühnheit und mir war auf einmal sehr bange. Aber hier blieb mir keine Zeit mehr zum Überlegen, denn im nächsten Moment stand ich schon vor dem gestrengen Herrn Vater meines Freundes. Stockend begann ich nun zuerst und zähneklappernd vor Angst und Aufregung eine umständliche Erzählung, wie ich Willy vorhin getrotfen hätte, wie er auf der Brücke am Kanal gestanden, sich nicht nach Hause getraue, in's Wasser wolle aus Angst vor der

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Strafe und wie er so geweint habe, weil er diesmal „garnichts ge- macht", sondern bei der ganzen Sache „nur zugeguckt" und dass ich es „ganz genau" gesehen, wie ein andrer Junge den Topf mit dem Wasser in den Keller gestürzt, Willy aber nur in der Nähe gewesen sei und eben nur zugeguckt habe. Das alles hatte ich „ganz genau gesehen" u. s. w. Ich log das Blaue vom Himmel und iuuss wohl in der Hitze in meine Rede „dramatisches Leben" gebracht haben, denn Geschwister und Mutter meines Freundes standen um mich hemm und lauschten athemlos. Warum sollte es auch nicht so gewesen sein? Es war schon ziemlich spät, man war bereits unruhig geworden, da sich Willy noch nicht hatte blicken lassen. Also klang meine Erzählung nicht unwahrscheinlich und die Mutter fing bereits zu jammern an um „den armen Jungen"; man dran«? in mich, ich sollte ihn holen oder wenigstens sagen, wo er stecke, es solle ihm nichts geschehen u. s. w. Mir aber, angesichts des uner- warteten schnellen Erfolges, schwoll gewaltig der Kamin, ich ting an, mit meinen höheren Zwecken zu wachsen und erklärte achsel- zuckend, das Versteck Willy's nicht verraten zu können, bevor man nicht Straflosigkeit vollkommen einwandsfrei zusichere. Plötzlich fiel mir der Vater, der mich während des ganzen Auftritt« aufmerk- sam beobachtet hatte, gelassen mit der Frage in's Wort, ob nicht wohl ich der wirkliche Täter sei, denn da ich alles so genau wüsste, müsse ich doch zum mindesten dabei gewesen sein. Verdutzt senkte ich die Augen zu Boden, nun hatte mein schönes Lügen- gewebe ein ziemliches Loch bekommen, schnell aber besann ich mich, schmolz flugs Dichtung und Wahrheit zusammen und erklärte prompt, dass ich, auf dem Rollwagen sitzend, zufällig alles mit an- gesehen hätte. Die Sache schien plausibel, Willy s Mutter nament- lich glaubte alles und suchte ihren Geraahl von der Möglichkeit der Wahrheit meiner Angaben zu überzeugen. Dieser war nun freilich nicht so schnell von der Unschuld seines Sprossen überzeugt, namentlich wollte ihm der Passus von dem „blossen Zugucken" nicht recht einleuchten. Die ganze Geschichte schien ihn aber endlich zu amüsieren, da ich nicht aufhörte fortwährend die Engel- reinheit seines Sohnes zu beteuern. Schliesslich meinte or, man könnte es ihm ja diesmal schenken, obgleich es eigentlich um jeden Hieb schade sei, der vorbei ginge u. s. w. Mein Herz hüpfte vor Freuden und als der grosse bärtige Mann wohlwollend lächelnd meinte, ich sei ja ein verteufelt eifriger Fürsprecher und wir hielten wohl „dicke Freundschaft", da ward ich Uber und Uber rot und konnte kein Wort mehr sagen. Ich erhielt nun beim Fortgehen noch- mals den dringenden Auftrag von der Mutter, den Sohn sofort

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hinauf zu schicken. Nochmals nahm ich ihr die Zusicherung ab, dass ihm nichts passieren dürfe, flog die Treppe hinunter, Uber den Hof und teilte meinem Freunde triumphierend die Freudenbotschaft mit. Willy - traute jedoch dem Frieden noch nicht so recht und zögerte. Nun versprach ich, bereits mit tränenden Augen, mitzu- gehen und nochmals alles zu bekräftigen in seiner Gegenwart, da ich sah, dass er meinen Worten nicht glauben wollte. Ich musste nun nochmals mit hinein und das Damoklesschwert Uber dem teuren Haupte meines Freundes wurde glücklich beseitigt. Als mich Willy nachher hinausbegleitete, um mir das Tor aufzuschliessen, da es mittlerweile spät geworden war , blieb er auf dem Hausflur plötzlich vor mir stehen, fasste meine Hand, sah mich eine Weile an und meinte dann in seiner treuherzigen Weise: „Du bist aber furchtbar gut, weisst Du, und was Du für Courage hastl Wärst Du nun nicht gekommen, hätte ich immer noch die schreck- liche Angst." Ich konnte nichts erwidern, sondern drückte nur leise seine Hand. Er aber, wohl in unmittelbarer Aufwallung seines dankbaren Herzens, schlang nun seine Anne fest um meinen Hüls und küsste mich dreimal herzhaft auf die Wange, indem er mich seinen liebsten Freund nannte. Ich war wie betäubt. Die schnelle, unerwartete, zärtliche Berührung Willys raubte mir fast die Sinne. Mein Kopf glühte plötzlich wie Feuer, und das Hera drohte mir zu zerspringen, so stürmisch begann es zu pochen. Ein unbeschreibliches Gefühl durchrieselte meine Adern und im Übermass seligen Entzückens erbebte mein ganzer Körper. Nun konnte ich mich nicht mehr halten. Zitternd hing ich am Halse meines Freundes und bedeckte sein Antlitz mit tausend leiden- schaftlichen Liebkosungen. Der erste Strahl heisser Sinnlichkeit dnrehschoss meinen Körper. War das nicht die Erfüllung meiner seligsten Träume, die ich so oft im stillen Winkel, immer und immer von neuem, geträumt? Nun sagte er es mir selbst, dass ich sein liebster Freund sei minutenlang war ich nicht imstande, einen Laut von mir zu geben.

Dann aber, unter neuem langen Kuss, gab ich mein süsses, so lange bewahrtes Geheimnis preis. Leise kam es von meinen Lippen. Ich bin dir ja so schrecküch gutl „Ich dir auch", beteuerte Willy überzeugungsvoll. Und nun lösten sich die Zungen, innig um- schlungen gaben wir uns gegenseitig das Versprechen unverbrüch- licher Treue. Nichts sollte uns mehr trennen, nie, nie wollten wir uns böse werden, wie es „die andern" so oft gegenseitig täten. Willy schwor hoch und teuer, er wolle jedem die „Knochen kaput schlagen", der mich beschimpfen oder mir gar „was tun" wollte.

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Meinen glühenden Kopf an seine Brust gelehnt, erzählte ich dann von meinem Missgesohick auf dem Speditionshof, von den Burschen, die mir immer nachstellten und von all den kleinen Sorgen und Kümmernissen dort. Kr versprach mir, mich zu schützen, wo er nur könnte. So schwatzten wir noch lange von Diesem und Jenem und konnten nicht voneinander kommen. Weshalb ich dies alles so breit und ausführlich schilderte? Weil ich diese für mich so bedeutsamen Momente meines ersten Liebeslebens nie und nimmer vergessen kann und mag. Weil die unendliche Gewalt der Liebe mir in jenen Tagen zum ersten Male wirklich bewusst wurde. Und liegt nicht ein unbeschreiblich poetischer Hauch Uber . diesem Stückchen Jugendidyll ausgebreitet, der in seiner schuld- losen Naivität das Herz jedes Menschenfreundes bezaubern rauss? Was wussten wir von der Welt, was von der rauben Wirklichkeit mit ihren Regeln und Gesetzen? Was für Begriffe macht sich ein IS1/, jähriges Gemüt von dem starren Sitten- und Moralkodex der Kulturgesellschaft? Ach, keine! Aus dem reinen Lebensimpuls, aus dem sprudelnden Quell lebendiger Jugendkraft und Fülle schöpfte ich dieses unendlich schöne Empfinden, diesen unwider- stehlichen Drang nach innigster Vereinigung des Körpers und der Seele. Immer und immer wieder presste ich den Körper Willys fest an mich, streichelte seine blühenden Wangen, liebkoste die strahlenden Augen dieses Knaben, den ich Uber alles liebte. Ich ahnte noch nicht, dass in diesem ewigen stürmischen Verlangen bereits die schwellenden Keime einer „naturwidrigen Perversität" emporsprossten. Dass diese meine Zuneigung zu dem Wesen meines eigenen Geschlechts bereits alle Merkmale einer verbrecherischen Leidenschaft aufwies, die der Paragraph so und so mit Gefängnis, Zuchthaus und Ehrlosigkeit bedroht, was wusste der Knabe von alledem? Mit kindlicher Sorglosigkeit gab ich mich dieser Liebe hin, ging ganz in ihrem Gegenstand auf und konnte Uberhaupt garnicht anders, weil es eben meinem natürlichen Wesen entsprach. Ein hohes Glück fand ich in dem stolzen Bewusstsein, von Willy, dem schönsten, dem unbändigsten unter den ganzen Kameraden, geliebt zu werden. Er hatte es mir ja selbst gestanden, weil ich „so gut und so tapfer" war. Ach, mit meiner Tapferkeit war es sonst nicht weit her. Aber eben, für ,,lhn", meinen Geliebten, wäre ich noch aller möglichen Thorheiten fähig gewesen. Kastlos nährte und pflegte ich meine Liebe. Über die nun folgende trübe und doch so glückliche Zeit meiner Jugend will ich schweigend hinweggehen. Sie flog schnell genug hin und aus den Knaben wurden Jünglinge. Willy und ich, wir waren und blieben die

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zwei Unzertrennlichen. Beide mussten wir ein Handwerk lernen and nachdem wir die Lehrzeit absolviert, blieben nnsre Verhält- nisse und unser beiderseitiger Wohnort vorerst noch so, dass wir immer zusammen sein konnten. Willy hatte sich schnell zu einem wohlgewachsenen, blendendschönen jungen Mann herausgewachsen. Ich waV mit meinen 17'/2 Jahren immer noch eine recht knaben- hafte, unreife Erscheinung, wenigstens musste es nach dem Urteil meiner Umgebung wohl so sein. Zart und schwächlich gebaut, mit blassem Gesicht, sprach ich noch hell und sang einen tadellosen Sopran. Wir waren uns noch immer in treuer Freundschaft zuge- tan. Ich mit immer wachsender leidenschaftlicher Glut, Willy mit immer gleichmässiger ruhiger Treue imd Anhänglichkeit.

Mir genügte natürlich diese ruhige, platonische Liebe durch- aus nicht. Ich verlangte gleiche, heisse Leidenschaftlichkeit. Aber bald sollte ich inne werden, dass er mir das, was ich von ihm verlangte, eben nicht gewähren konnte. Gutmütig lächelnd, dul- dete er wohl meistens meine heftigen Liebkosungen, wehrte auch mitunter sanft ab mit der Bemerkung, er sei ja doch wohl kein Mädchen. Dann ward ich böse, nannte ihn einen kalten Frosch, eine Fischnatur und schmollte. Er nahm meine Ausfalle gelassen hin und tat im übrigen nichts, meine Ansicht zu entkräften. Wenn ich ihn dann aber einmal Tage nicht gesehen, hielt ich es nicht mehr aus, ging wieder zu ihm und alles war gut. Ich liebte ihn zu sehr und seine Abwesenheit aus meiner Lebenssphäre war fiir mich ein un tassbarer Begriff.*

In dieser Zeit begann ich natürlich auch, poetische Erzeug- nisse von mir zu geben. Unendlich lange Verse entrangen sich meiner Feder. Sie alle waren an „ihn" gerichtet. Er hat die ersten nie zu Gesicht bekommen. Später wurde ich hartnäckiger und dichtete ein riesiges Epos, das ebenfalls auf „ihn" Bezug hatte. Dieses liess ich Willy „zufällig finden". Er las es im Schweisse seines Angesichts und staunte mich an ob meines „Genies", wollte aber, zu meinem heimlichen Verdruss, durchaus nicht merken, dass dieses alles nur ihn selbst zum Gegenstande hatte. Unsere sonn- täglichen Vergnügungen waren auch durchaus von denen der meisten unsrer Kameraden, die ja alle, wie wir, dem Handwerker- stande augehörten, verschieden. Während diese sich in Rudeln Sonntags in den Strassen herumtrieben oder in Kneipen „Schafs- kopp" oder Billard spielten, verachteten wir beide natürlich solche „barbarischen" Genüsse. Wir gingen gewöhnlich ins Theater oder in Konzerte und nahmen nachher das Dargebotene häufig gar superklug unter die kritische Lupe.

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Allein bald sollte unser schönes Verhältnis einen jähen Riss bekommen. Wir gingen nun bereits dem 19. Jahre entgegen und mir fing es an, aufzufallen, dass Willy nicht mehr seine freie Zeit ganz und gar mit mir teilte. Es kam erst einige Male, dann sehr oft vor, dass er, wenn ich Sonntags zu ihm kam, um ihn abzuholen, schon fort war oder sich bei mir entschuldigte. Er liess mich ruhig Öfter allein aus- gehen und kam auch immer seltener zu mir. Die Liebe ist wachsam und bald erkannte ich, dass er mir auswich, die Gesellschaft einer an- deren Person mir vorzog. Sachte schlich sich ein unbehagliches Gefühl bei mir ein, das immer stärker und stärker wurde. Es tat meinem Herzen immer weher und weher und frass mit züngelnden Flammen an meiner Seele. Ich war eifersüchtig, rasend eifersüchtig geworden. Er kam immer seltener, und wenn er kam, war er nicht mehr bei mir, sondern schien immer etwas anderes vorzuhaben. Und wenn ich ihn dann in alter Liebe zärtlich begrüssen wollte, wehrte er ab mit den Worten: „Ach lass doch, wir sind doch keine Kinder mehr!" Eisig kalt schoss es mir dann durchs Herz, ich fühlte, ich war im Begriff, ihn zu verlieren. Still und in mich gekehrt sass ich dann neben ihm und hörte nur halb auf seine Erzählungen. Bald kam er dann aber auch auf die Weiber zu sprechen und dann wurde er immer sehr aufgeräumt und begann begeistert ihr Lob zu singen. Wütend biss ich mir die Lippen blutig und machte boshafte Anspielungen. Freimütig gab er dann zu, sich da und dort mit andern Freunden in „Damengesellschaft köstlich amüsiert" zu haben und beschrieb mir umständüch die „feinen Mädels". Und wenn ich höhnisch bemerkte, dass er mich mit so was garnicht interessieren könne und mich verschonen möge, dann lachte er mich aus, nannte mich ein „Bählümmchen", das in Damengesellscbaft nicht „Zip" sagen könne und meinte, ich würde wohl einmal bei Muttern hinterm Ofen versauern. Dann wurde ich furchtbar aufgebracht und schalt ihn einen Schürzen- jäger und Pantoffelhelden. Er antwortete prompt, ich sei wohl neidittch und bot mir an, mit ihm zu gehen, er wollte michs auch lehreu, wie man die Mädels „rumkriegen" könnte. Giftig spuckte ich dann aus und vermass mich bei allen Heiligen, „so was" könne mir nicht einfallen. Zankend schieden wir dann jedesmal von einander, ohne den üblichen Händedruck. Einsam blieb ich zurück. Das also war es. Die Weiber hatten ihn mir entrissen. Ihnen folgten meine schwärzesten Flüche, meine ärgsten Verwünschungen, die ich schliesslich in Tränen ohnmächtiger Wut erstickte. Mit der ungemeinen Lebhaftigkeit meines ganzen Naturells nahm ich diesen ersten wirklich grossen Liebesschmerz auf. Traurig ging ich umher.

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Wie grauer Nebel senkte siehs herab auf die Träume meiner Liebe, auf alle jugendfrohen Pläne und Hoffnungen. Ach, und wir hatten so schöne Pläne mit einander geschmiedet! Wollten bald in die Fremde gehen, wollten auf der Wanderschaft Welt und Menschen kennen lernen! Natürlich gemeinschaftlich! Hatten wirs uns nicht damals gelobt, dass wir uns nie, nie trennen wollten? 0, ich hatte es noch nicht vergessen! Und da wir uns die gemeinschaftliche Reise schon in allen Details ausgemalt, trug ich nun seit längerer Zeit eine geheime Hoffnung mit mir herum, eine Hoffnung auf Erfüllung des höchsten Wunsches meiner Liebe, den ich bisher nie gewagt vor Willy auch nur anzudeuten, ja ich hatte in meinen stillen Gedanken kaum den Mut, mir selbst diesen Wunsch einzu- gestehen. Und doch verfolgte mich dieser Gedanke seit Langem, wenn ich still und einsam meinen Gedanken nachhing, in langen, schlaflosen Nächten, im Beisammensein mit Willy, Uberall hin verfolgte mich dieser Wunsch, ich wurde ihn nicht los, wollte ihn auch gar- nicht los werden. Alles hatte ich mir bereits ausgemalt: Per pedes die Welt durcheilen, Städte und Dörfer, ja vielleicht fremde Länder sehen und immer beieinander sein können ! Mussten wir nicht auf unsern Reisen in Herbergen übernachten :' So würden wir dann gewiss auch Nachts im Schlummer bei einander weilen können auf gemeinschaftlicher Lagerstätte, an seiner Brust ruhend, könnte ich selig dem neuen Tag entgegenschlummern. Wie fest und innig wollte ich mich an ihn schmiegen, wollte den Geliebten an mein brennendes Herz pressen! In unmittelbarer zärtlicher Be- rührung mit dem biUten weissen Körper meines Freundes würde ich der höchsten Seligkeit einer mächtigen Liebe teilhaftig werden, das süsseste Glück meines Daseins gemessen können, das ich bis jetzt vergebens erhofft hatte! War dieses Begehren etwa ans den Abgründen verbrecherischer Phantasien eines Ubersättigten Lüstlings geboren? Ach nein, ich war als 18 jähriger Jüngling in der Blüte meiner Jugendkraft, weder geschlechtlich übersättigt, noch war meine Begierde auf irgend eine bewusste oder bestimmte geschlechtliche Handlung gerichtet. War ich doch damals noch ein in geschlechtlichen Dingen vollständig unerfahrener, unwissender Bursche. Gewiss hatte ich wohl, wie das bei allen jungen Leuten der Fall, viel abenteuerliches Zeug von Geschlechtsakten zwischen Mann und Weib gehört, und heute noch lächelt man über alle die unmöglichen und ungeheuerlichen Vorstellungen, die wir uns als junge Burschen auch von den Geburtsvorgängen machten.

Ich hatte eine Art mystische Scheu vor allen diesen Dingen und heillose Furcht vor den Folgen geschlechtlicher „Yerirrungen".

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Inzwischen war jedoch der Knabe zu einem vollkommenen Ge- schlechtswesen herangereift, in dem sich bereits der mächtige Drang nach Ergänzung regte. Was Wunder, wenn sich dieser Drang mit Gewalt auf jene Wesen richtete, die von Jugend auf mein ganzes Sein beherrscht hatten. Die gewaltige Liebe des Geschlechts konzentrierte sich ganz von selbst und ohne sieh klar bewußt zu sein auf das eigene Geschlecht.

Damit war aber, weil der unerbittliche Sittenkodex dieser Zeit darin die Momente einer verbrecherischen Handlung erblickt, der Fluch der Gesellschaft auf das Haupt des Liebenden gefallen, dem nur noch recht und billig geschah, wenn er au» der Gemeinschaft aller anständigen Menschen verbannt wurde. Jener Fluch sollte auch mir später im reichsten Maße zu Teil werden. Zu jener Zeit aber, da sich in mir die ersten Blüten des Geschlechtsbewusstseins eben erschlossen hatten, ahnte ich von alldem noch nichts. Niemand hatte mir noch bis dahin jemals etwas davon gesagt. Wie konnte ich selbst etwa dies edle Feuer in meiner Brust verdammen, da es doch ein Element von meinem ureigenen Selbst war und zwar ein gar gewaltiges ? 0 nein, ich konnte nicht« Unmoralisches darin finden, dachte gar nicht daran, daß wohl irgend Jemand kommen könnte und sagen : „Deine Gefühle sind verbrecherisch" ! Ich hätte ihn schön abfahren lassen. Denn heilig war mir meine Liebe zu Willy, sie, die mich Bchon als Knabe für alles Edle begeistert hatte. Heilig war mir auch die Person meines Freundes. Ich hatte ja zu dieser Zeit nicht die geringste Ahnung von irgend einem bestimmten Geschlechtsakt, irgend einer Form sexueller Befriedigung zwischen Männern. Konnte mir gar keinen Begriff davon machen und dachte auch niemals an etwas dergleichen, da ich bis dahin von solchen Dingen noch nichts gehört. Und doch ist die Tatsache nicht zu leugnen, sie war vorhanden, es zog mich mit unwiderstehlicher Gewalt nach der körperlichen Bertthrung mit meinem Freund. Was war es denn nun, das mich immer und immer wieder mit magischer Gewalt hinzog, mich ewig drängte und trieb, seine Nähe zu suchen? Ach, ich machte mir keine langen Gedanken erst über die etwaige Unnatur meiner Empfindungen. Unbewußt gab ich mich ihrem Zauber hin. Ja es war ein Reiz ohne Ende, der von der Person diese» wunderschönen Jünglings ausstrahlte. Alles liebte ich an diesem Körper, dies schöne blonde Haupt mit der blendend weißen Stirn, die herrlichen Augen, die mir so oft treuherzig entgegen gestrahlt, die frischen Wangen, die roten Lippen so schön ge- schwungen, auf die ich schon als Knabe so oft im schüchternen Kuß die meinen gedrückt, die kräftigen Hände und die hohe breite

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Brust, an der ich so oft geruht, und alles was diese teure Brust umschloß, dieses stolze und doch so gute Herz, das sinnige Gemüt, olle», alles Hebte ich an diesem teuren Wesen und ging völlig in ihm auf. Aber auch das Verlangen nach innerer Gemeinschaft brannte in meiner Seele. Die Gleichheit des geistigen Daseins, das lneinandertauchen beider Herzen war es, was ich erstrebte. Ich kehre zum Faden meiner Erzählung zurück. Willy konnte mir nicht das gewähren, was ich glaubte von ihm verlangen zu dürfen. Ganze Hingabe, so wie meine Liebe zu ihm mein ganzes Wesen beherrschte, so sollte es auch bei ihm sein. Die Natur meiner Empfindun- gen duldete nicht, daß ich seine Zuneigung mit andern teilen sollte. Unser gegenseitiges Verhältnis wurde deshalb in der Folge merklich kühler. Willy suchte immer mehr der Richtung seiner Entwicklung nachgehend, Verkehr mit dem weiblichen Geschlechte. Ja er wurde sehr bald ein von den Damen viel umworbener Don Juan, der eben dank der äußeren Vorzüge, die ihm Mutter Natur verliehen, diese Holle mit sehr viel Geschick Uberall durchzuführen verstand. Trauernd stand ich abseits und verfolgte trotzdem mit Beharrlichkeit sein Tun und Treiben. Ich war nur noch das fünfte Rad, das „liebe alte Haus", das er noch für würdig genug hielt, ihm alle seine neuen Interessen und zarten Geheininisse anzuver- trauen. All' die kleinen pikanten Sächelchen, die ein rechter Don Juan vor don Augen der Welt verbirgt, ich wußte sie, mir vertraute er sie an, ohne daß ich danach frug. Und wenn er mir dann all* diese kleinen Intimitäten unbefangen mitteilte, zerriß unsagbarer Schmerz mein Innerstes und blutenden Herzens gestand ich es mir in der Stille meiner Einsamkeit, daß ich ihn verloren hatte, ihn, den ich vergötterte, der mein Alles war auf dieser Welt, dem ich alles, was mir heiüg, geweiht hatte! Ich kannte meinen Willy bald nicht mehr wieder. Aus dem sinnigen, treuherzigen Jungen war bald ein pomadisierter Weiberfex geworden, der aus dem Füllhorn seiner Wohlgestalt Kapital schlug. Aber ich konnte und konnte noch immer nicht von ihm lassen, obgleich sich alle meine Empfin- dungen gegen sein nunmehriges Wesen aufbäumten. Ein weiteres Jahr war dahin und aus unserer phantasieumwobenen Wander- schaft war natürlich nichts geworden. Willy hatte dazu die Lust verloren, ihm schien es so am Besten zu gefallen und mir war durch den Tod meines Vaters eine neue Pflicht erwachsen. Ich mußte in Gemeinschaft mit meinem ältesten Bruder für die Mutter und zwei noch unerwachsene Brüder sorgen. Obwohl das Verhältnis zwischen Willy und mir immer mehr verflachte, kamen wir doch noch sehr häufig zusammen. Ich konnte eben dieses Wesen, das ich

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mehr wie mich selbst geliebt, nicht so ohne weiteres aus meinem Herzen reißen. Leider sollte auch dieser Zustand nicht lange dauern, und Willy selbst war es auch hier wieder, der, wohl unbewußt meinem Herzen den letzten brutalen Stoß gab. Eines Tages kam Willy zu mir, nahm mich auf die Seite und vertraute mir ein neues Geheimnis an. Diesmal war es ernster Natur. Er hatte sich im sorg- und schrankenlosen Geschlechtsverkehr infiziert, hatte die Sache vertrödelt und frug mich nun, da die Geschichte schlimm zu werden drohte, um meine Meinung. Er behauptete, daß er sich bei einer Prostituierten den Schanker geholt und war nun in großer Angst, wie er „das Ding" los werden möchte. Zum Arzt zu gehen, wozu ich ihm riet, hatte er keine rechte Lust. Es sei ihm „zu schenant" und koste auch gleich zu viel, meinte er. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich eine Geschlechtskrankheit mit all' ihren widerlichen Begleiterscheinungen kennen lernte. Begreif- licher Abscheu erfüllte mich und da er die unbedingte Notwendig- keit einer ärztlichen Behandlung nicht gleich einsehen wollta, so konnte ich ihm natürlich sonst weiter keinen Rat geben und begriff überhaupt nicht, wie er sich in diesem Fall an mich wenden konnte, da er doch in solchen Dingen zum mindesten mehr Erfahrungen hatte als ich. Ich hielt es viel mehr für angebracht, ihm allerlei Vorhaltungen zu machen. Er verteidigte sich so gut er konnte und da er trotzdem bei mir kein Verständnis fand, nannte er mich einen närrischen Kauz und gab mir schließlich den wohlgemeinten Rat, mich nicht so von allem zurückzuhalten, sondern mitzutun. „Das Leben ist so schön", rief er aus, „und man soll es genießen, so lange man jung ist, dazu hat man ein Recht". Dann bedauerte er mich mit meinen „ewigen Ansichten", wurde sehr heiter und bot sich an, mich in lustige Gesellschaft einzuführen , da sollte ich das Leben erst kennen lernen, fühlen, was überhaupt leben heiBst. Und hätte ich erst das „himmlische Manna" der Liebe geschmeckt, dann würde ich schon ein Anderer werden, darauf schwur er einen heiligen Eid. Er nannte mich schliesslich seinen lieben alten Freund, mit dem er gern „alles teilen" wolle, schwatzte noch eine ganze Weile auf mich ein und rückte zuletzt in freundschaftlichem Eifer mit folgendem Vorschlag heraus. Er wollte mir ja gern, um es mir leicht zu machen, sein neuestes „Verhältnis", eine dralle Küchen- jungfer, die in der Nähe bedienstet war, „überlassen". Das Mädel sei „ganz doli", immer zu haben und nehme es auch nicht so genau. Er habe schon einige Mal daran „genascht" und da es mit ihm doch nun gegenwärtig nicht ginge, so wollte er mich mit ihr bekannt machen. Sprachlos starrte ich meinen ehemals Vielgeliebten an.

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War das mein Willy noch, der einzige geliebte Mensch, dem ich mit Freuden mein Leben zu Füssen legen wollte? So weit war es also mit ihm gekommen, so jung, so schön und eine solche Auffassung, solche Achtung vor den heiligsten Empfindungen der Menschen, das Gefühl, in dem selbst das Tier geadelt wird? Ein Gefühl end- loser Leere überkam mich. Eine solche unsäglich geraeine Denk- und Handlungsweise musste ich bei dem erleben, der bis dahin in meinem Ideenkreis den vornehmsten Platz eingenommen.

Von nun an war ich bemüht, sein Bild gewaltsam aus meiner Seele zu reissen. Ich behandelte ihn kalt, ging nie mehr zu ihm und wenn er, was auch nur noch selten geschah, zu mir kam, stahl ich mich leise aus dem Hause und überliess ihn meinen Brüdern, an die er sieh bald enger anschloss. Jn meinem zortretenen Herzen hat es noch lange getobt und geschrieen, ehe dies schönste Bild meiner Jugendträume daraus entwich. Später, nachdem wir auch örtlich von einander getrennt, hörte ich nur noch durch meine Brüder von ihm. Er hat schliesslich die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns heimgeführt und ist heute selbst als Inhaber eines renommierten Geschäftshauses in Leipzig ein wohlhabender Mann, der sich kaum noch seines einstigen Jugendfreundes erinnert. Wohl weiss ich, dass er von meinen ferneren Schicksalen durch meine Familie unterrichtet wurde, ich habe jedoch von ihm kein Lebens- zeichen mehr erhalten. Er ist eben schnell in den Hafen der gesellschaftlichen Behaglichkeit eingelaufen. Ihn haben die konven- tionellen Lügen dieser Kulturgesellschaft weiter nicht behelligt

Über die nun folgende Periode meines Lebens will ich mich bemühen weniger ausführlich zu sein. Ich begann alsbald ein höchst unsolides Leben zu führen. Im Taumel aller möglichen tollen Vergnügungen suchte ich Zerstreuung, Vergessen. Eine wilde Flucht vor der gähnenden Leere, die in meinem Inneren zu- rückgeblieben war, begann nun. Und von dem ungeheuren Wust der widerstreitendsten Empfindungen, die mich dann wieder plötz- lich durchtobten, hin- und hergeschlendert, tappte ich suchend, wie ein Blinder. Die tollste und ausgelassenste Gesellschaft ward mir bald die liebste. Eine schon ziemlich früh erwachte Vorliebe für dramatischo Kunst und ein bescheidenes Talent in derselben, führte mich bald in Gesellschaften ein. In Dilettantenvereinen übte ich mit grottcr Hingabe meine kleinen Fähigkeiten und so bekam ich auch leicht Verkehr mit vielen jungen Leuten beiderlei Geschlechts. Ich wurde ziemlich schnell gewandt in allen Eigenschaften, die dazu gehören, in der Gesellschaft etwas zu scheinen, was man nicht ist. Ich wollte ja durchaus das „himmlische Manna" der Liebe schmecken,

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wovon mir Willy so begeistert erzählt hatte. Ich gab mir denn auch die grösste MUhe, bei den Damen den Schwerenöter zu spielen. Denn, so dachte ich, was alle Anderen mit so viel Ge- schick und Erfog betrieben, warum sollte ich es auch nicht können, schliesslich lag es am Ende bloss an meinem Mangel an Talent, die Gnnst der Damen zu erwerben. 80 warf ich mich denn gewaltig in die Brust, um mich endlich zur Mannbarkeit aufzuraffen und den Hänseleien der Anderen zu entgehen, die mich nur „den zarten Franz" nannten. Und um auch auf den zahlreichen Kränzchen und Bällen der Vereine in Gesellschaft der Damen bestehen zu können, ging ich auch noch in die Tanzstunde und verliebte mich in den jungen Kellner des betreffenden Restaurants. Er war ein bildhübscher Bursche mit pechschwarzem gekräuselten Haar und ein Paar kohlschwarzen Augen, die wie Diamanten funkelten. Ich hatte nur noch Blicke für ihn und wenn ich die Tanzerei noch mitmachte, so geschah es nur, um in seiner Nähe bleiben zu können. Ich suchte Annäherung und mit überraschend schnellem Erfolg.

Neue Seligkeit zog in mein Herz ein. In kurzer Zeit waren wir vertraut mit einander. Hier war ich wieder in meinem Element, hier durfte ich lieben, das fühlte ich sofort. Welch ein Unter- schied ! Während ich in Gesellschaft junger Damen mich mit meiner Rolle des Schwerenöters mühsam abquälte, trat hier wieder sofort das echte Feuer natürlicher Leidenschaft hervor. Hier gab echte Liebe das von selbst, wonach ich dort mühsam den Plan absuchte, um einen gequälten Abklatsch des „himmlischen Mannas" zu er- halten, was ich garnicht himmlisch fand, um mich künstlich und scheinbar daran zu ergötzen, zu dem Zweck, vor den Augen der Welt als das zu gelten, was ich nicht war. Als ich die ersten schüchternen Liebkosungen wagte, fühlte ich, dass sie ihm nicht unempfindlich waren. Er erwiderte sie und jubelnd ahnte ich in meinem Liebling eine verwandte Seele. Ich widmete ihm all die Hingabe, deren nur die echte Liebe fähig ist. All die kleinen Aufmerksamkeiten, in der die Liebe so selbstlos, so erfinderisch ist, tauschten wir nun gegenseitig aus. Doch das Auge des Ge- setzes wacht und der beleidigte Sittenkodex der „Normalen" im Land schrie nach Sühne. Unvorsichtig und tollkühn ist die Liebe. Eines Abends spät ereilte uns das Verhängnis, das für mein Leben so folgenschwer werden sollte. Wir wurden beide vom Wirte in einem hinteren Zimmer bei frischer Tat ertappt. Die Situation war über jeden Zweifel erhaben und wir konnten uns auch nicht mehr retten, da wir ganz unvermutet überrascht wurden. Ein un- beschreiblicher Skandal folgte. Man brüllte nach dem Arm des

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Gesetzes. Ich wurde festgehalten und musste noch mit ansehen, wie der Wirt meinen Liebling brutal misshandelte. Wahnsinniger Schmerz durchtobte mein Innerstes und zitternd bat ich um Scho- nung fUr den Armen. Willig folgte ich dann dem Diener der heiligen Gerechtigkeit. Ich befand mich in einer Art Traumzustand, sah und hörte kaum, was um mich herum geschah. Wie in nebelhafter Ferne erschien mir alles. Und immer weiter und weiter rückten Welt und Menschen von mir ab, so daas ich sie nicht mehr erkennen konnte. Zwei Monate sass ich in Untersuchung, ich be- griff nicht, weshalb, da ich alles eingestanden hatte. Was ich in dieser Zeit einsamer Zellenhaft ausgestanden, genügte, um mich vollständig niederzuschmettern. Mit all ihrer Schärfe hielt die be- leidigte Moral ihr Strafgericht über mich. Nichts blieb mir an De- mütigungen erspart. Schon auf dem Polizeipräsidium schallte mir die Stimme des diensttuenden Beamten entgegen: „Ein Päderast! Ein Päderast! In Einzelhaft mit dem!" Ich hatte keine Ahnung von der Bedeutung dieses Wortes. Aber die Art, wie mir dies offenbar inhaltsschwere Wort entgegengeschleudert wurde, Hess mich ahnen, welch ein verabscheuungswürdiger Verbrecher ich sein musste. In ohnmächtiger Verzweiflung wand ich mich auf dem Boden meiner einsamen Zelle. War ich denn wirklich eine so schändliche Kreatur ? Wen hatte ich denn beleidigt, wem etwas ge- nommen, wem hatte ich ein Leid zugefügt? In meiner hilflosen Verwirrung vermochte ich keinen klaren Gedanken zu fassen. Verbrecher, Verbrecher, Päderast ! höhnte es mir nur immer in die Ohren. „Bedenke doch, was du nun geworden bist!" so hiess es in dem Briefe, den mein ältester Bruder unter dem Eindruck der Nachricht meiner Verhaftung an mich geschrieben und in dem er sich im Namen der ganzen Familie von mir lossagte. In meiner grenzenlosen Verzweiflung Uber alles dieses reckte ich schliesslich die Arme gen Himmel und erflehte von Gott irgend eine Gewiss- heit, wio weit die Grösse meines Verbrechens reichte. Aber der Himmel rührte sich nicht und ich fand nicht einmal Trost in der tränenvollen Busse und Reue, der ich mich in kraftloser Zerknirschung nun hingab, ich wusste ja nicht, was ich eigentlich büssen sollte, bei wem ich um Verzeihung für zugefügte Schmach betteln sollte. Die Stunde meiner Aburteilung schlug und hier sah ich meinen Liebling wieder. Bei seinem Anblick brach ich in Tränen aus. War er es am Ende, dem ich Beleidigung und Schande zugefügt?

Aber, o Wunder, als wir beide vor der Ballustrade neben- einander Htauden, um unseren Richtern Rede und Antwort zu stehen, fühlte ich plötzlich seine Hand in der meinen, die er einen

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Moment zärtlich und verstohlen drückte. Da zog es einen Augen- blick wie stiller Friede durch meine Seele und ruhig und gefasst antwortete ich auf die Fragen des Präsidenten. Freilich, nur einen Augenblick bewahrte ich meine Fassung, dann war es wieder vor- bei, als der Herr Staatsanwalt für mich, als den Verführer, nach § 175 des St.-G.-B. eine empfindliche Strafe verlangte. Ich bat und flehte und erklärte unter Schluchzen, dass ich meinem Freund niemals etwas habe „zu Leide tun" wollen. Und die Herren Richter lächelten über meine naiven, fortwährenden Beteuerungen. Ich wurde schliesslich unter Annahme von mildernden Umständen zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Adolf kam, weil er nur der dul- dende Teil und der von mir „Verführte" war, mit 7 Tagen davon. Ausserdem wurde auch wohl auf seine Jugend Rücksicht genommen, er war noch nicht ganz 16 Jahre alt Ich hatte mich um das Alter meines Freundes nie bekümmert, hielt ihn aber für bedeutend älter. Er machte in jeder Beziehung den Eindruck eines mindestens 18 jährigen, war ebenso gross wie ich und körperlich viel mehr ent- wickelt. Die Täuschung Uber sein Alter mochte um so leichter sein, als er auch die Entwicklung zur Pubertät bereits hinter sich hatte. Ich konnte deshalb auch mit gutem Gewissen dem Herrn Präsidenten auf seine Frage antworten, dass ich mich im Alter meines Freundes getäuscht hätte. Das hatte mir denn aber weiter nichts genutzt, am Urteil änderte das ja nichts. Ich wurde wieder abgeführt und hatte gerade noch so viel Zeit, einen letzten Scheide- gruss von ihm aufzufangen, einen stillen Blick liebevoller Teil- nahme für mich. Diesen stummen Blick habe ich ah einzigen Trost mit in mein Gefängnis genommen. Ihn, das wusste ich nun, hatte ich nicht beleidigt, er grollte mir nicht. Ich habe ihn nie wieder- gesehen, diesen herzigen, schwarzäugigen Jungen, meine späteren Nachforschungen nach ihm blieben resultatlos. Ich bin überzeugt, er hat nur gut von mir gedacht. Der Mensch fügt sich in alle», auch in das anfänglich Unl'assbare. Ich ertrug meine G monatliche Einzelhaft verhältnismässig gut und wurde zuletzt von dem Auf- seher des „Flügels A der ein halben Jahr mein Domizil war, mit einigen wohlwollenden Worten entlassen und mit dem guten Rat, mich fUrderhin „in Obacht zu nehmen," damit ich nicht zu bald wieder käme. Gerührt drückte ich dem alten Manne die Hand und trat in die goldne Freiheit mit dem festen Vorsatz, nun ein „Anderer," „Besserer41 zu werden. Hatte ich nicht in der langen Zeit der Sühne bewiesen, wie man sich beherrschen kann? Hatte ich nicht die 6 Monate vollständig keusch zugebracht V Ich kannnte die Onanie sehr wohl, doch nicht ein einziges Mal war ich ihr in de;

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ganzen Zeit zum Opfer gefallen. Ja, ich wollte und musste wieder ein guter Mensch werden. Hätte ich nur damals schon klar genug die unabweisbare Bestimmung meiner Geschlechtsnatur begriffen, ich hätte wohl in jenen oft durchwachten Nächten im Gefäng- nisse die Kraft gefunden, ein Ende zu machen mit einem Dasein so dunkel und reuevoll bis auf den heutigen Tag.

In wie weit ich später ein besserer, anderer Mensch geworden, mag der Leser aus dem weiteren Fortgang meines Lebens entnehmen.

Meine Familie nahm mich in Gnaden wieder auf, man verzieh mir, wie man sagte, um meinetwillen. Ja, mein ältester Bruder hielt es von da ab für eine Art väterlicher Pflicht, mich wieder auf den rechten Pfad der Sitte und Tugend sorgsam zurückzu- führen. Er fing an, mich auf Schritt uud Tritt zu bewachen. Er hatte das Glück, eine vermögende Frau zu bekommen und nun ging seine brüderliche Fürsorge so weit, im Einverständnis mit den Verwandten seiner Frau mir einen kleinen Geschäftsbetrieb einzu- richten, der in mein Fach schlug. Ich nahm alles dankbar an, geschah doch alles zu meinem Besten. Die Sache klappte auch im Anfaug ganz gut. Ich fühlte mich bald wieder und gefiel mir in meiner Eigenschaft als selbständiger Geschäftsmann, war fieissig und suchte mein Geschäft hochzubringen. Doch ich hatte meine Rechnung ohne mich selbst gemacht Abgesehen davon, das» es ja an und tür sich schon ein Missgriff war, einem jungen Men&ohen von kaum 21 Jahren Führung und Verantwortung über ein Ge- schäft anzuvertrauen, mit deren fachgemässer Leitung eine ge- reiftere Manneskraft vollauf zu tun gehabt hätte, so war ich doch, meiner ganzen natürlichen Veranlagung nach, viel zu sehr Ge- fühlsmensch, als dass ich auf die Dauer einen brauchbaren Ge- schäftsmann abgegeben hätte. Wohl hatte ich so etwas wie eine dunkle Ahnung davon, dass auf mich noch kein Verlass war. Wohl meinte ich im Stillen dies und das, aber sollte ich meinem Bruder meine eigene Unfähigkeit und Schwäche eingestehen, sollte ich ihm offen sagen, dass mir diese seine Wohltat im Grunde eigentlich Plage sei? Welche Antwort hätte ich bekommen V Sie konnte nicht zweifelhaft sein. Und hatte ich überhaupt eine Meinung zu haben V Als ein in Gnaden wieder aufgenommener Missetäter musste ich dankbar und froh sein, dass mir mein liebevoller Bruder Gelegenheit verschafft hatte, mich wieder „ins Geleise4' hinein zu bringen. Er meinte es zweifellos gut mit mir, also hatte ich, das fühlte ich wohl, die Pflicht, mich zu fügen. Ich musste stillhalten und mich bescheiden, denn sie alle waren „besser' als ich. Mein Bruder Hess es sich angelegen sein, über mein Schicksal zu wachen.

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Er achtete beständig und sorgtältig darauf, dass ich meine ge- schäftlichen Pflichten nicht versäumte und ich gab mir die grösste Mühe, ihm keinen Anlass zur Unzufriedenheit zu geben. Aber weiter hinaus ging auch sein Einfluss nicht, weiter reichte die Kraft meiner Autorität nicht. Er war wohl in der Lage, mich auf- merksam zu bewachen, aber einsperren konnte er mich füglich nicht und mir, dem 21jährigen, das fühlende Herz aus dem Busen zu reissen, das vermochte er freilich auch nicht. Und so kam es denn, wie es wohl kommen rausste.

Ich hatte natürlich nicht die Kraft, lange mit mir allein her- umzulaufen, mein Herz verlangte nach einem Wesen, das ich lieben könnte. Bald fand ich es in der Person des jungen Angestellten eines benachbarten Geschäftes. Es dauerte auch gar nicht lange, so hatten wir Freundschaft geschlossen. Die fürsorglichen Schwieger- eltern meines Bruders, in Gemeinschaft mit meiner guten Mutter, hatten zwar bereits für eine „passende" Partie gesorgt und ich hatte mir*« auch zur Pflicht gemacht, dieser jungen Dame recht fleissig den Hof zu machen. Das Mädchen war sonst nicht Übel, hatte etwas Vermögen, mit diesem sollte sie „ins Geschäft hineinheiraten", so hatten es meine Verwandten beschlossen. So schnell, wie ich hior eine Braut angewiesen bekam, wäre ich niemals imstande gewesen, mir selbst eine zu erobern das fühlte ich, darum war ich auch eifrig dabei, ich hatte es mir ja selbst gelobt, den „dunklen Fleck" aus meiner Vergangenheit möglichst zu tilgen. Ich war sehr aufmerksam gegen meine Braut, sagte ihr viel Artigkeiten und machte ihr Geschenke. Das hinderte mich aber durchaus nicht, mich mit meinem neuen Freund viel mehr abzugeben als mit meiner Braut. Er war ein ausgezeichneter junger Mann mit guten Manieren und einem natürlichen Wesen. Im trauten Beisammensein mit ihm entschädigte ich mich für alle Beklemmungen und Unbehaglichkeiten, die ich stets in Gesellschaft meiner „Ange- beteten" empfand. Ich will kurz sein. Die Sache gedieh so weit, dass uns eines Tages ein argwöhnisch gewordener Nachbar, in meinem eigenen Geschäftslokal, durch den Türspalt beobachtet hatte. Der Manu schlug Lärm und benachrichtigte sofort meine Familie. In kopfloser Bestürzung floh ich, so wie ich ging und stand, zum nächsten Bahnhof und fuhr zu Verwandten meines Vaters nach M. Diese telegraphierten an meinen Bruder und verlangten Aufklärung, da ich jede Auskunft verweigerte. Bald erschien mein Bruder, setzte meine Verwandten von allem in Kenntnis, sagte sich abermals und diesmal für immer von mir los, indem er mich einen Ehrlosen und Undankbaren nannte, der nicht wert sei der Achtung anständiger Mensehen. Meine Verwandten taten ein Übriges, man überliess mir

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ans Menschlichkeitsrücksichten eine kleine Summe Geldes und so musste ich augenblicklich das Haus verlassen.

Planlos irrte ich eine Zeit lang in der fremden Stadt umher. Die Angst vor Verfolgung trieb mich wieder zum Bahnhof und so floh ich mit dem nächsten Zug über die holländische Grenze, kam bis Amsterdam und irrte, der Sprache des Landes nicht mächtig, hilflos umher. Von jeder Verbindung mit der Welt losgerissen stand ich nun da und fing an zu Uberlegen. Die Liebe zum Leben trieb mich weiter. Ich fing nun an, zu Fuss durch endlose Schnee be- deckte Felder und Wiesen, Uber zugefrorene Kanäle, von Ort zu Ort zu wandern, mir durch stummes Betteln weiter helfend. In

Gr , einer mittelgrossen, holländischen Stadt geriet ich, halb

verhungert, von Allem entblösst, todesmüde in einen Gasthof, wo viele Deutsche verkehrten, hier vernahm ich die süssen Laute meiner Muttersprache wieder. Es schien ein Labsal von zweifelhafter Qualität zu sein, denn es stellte sich heraus, dass die Inhaberin und die weibliche Bedienung meist spät nachts allerlei Gäste empfingen, mit denen bis zum hellen Morgen wüste Orgien gefeiert wurden, wobei die Wirtin mit ihren Helferinnen anscheinend gute Geschälte machte. Ich hatte Gnade vor den Augen der fetten Inhaberin dieser Höhle gefunden. Sie schien Mitleid mit meiner Lage zu haben und da sie auch etwas deutsch sprach und ich ihr einen ganzen Roman von der Ursache meiner Anwesenheit vorgelogen hatte, so konnte ich vor der Hand dableiben als Hausbursche, Gläser- spüler u. s. w. Mir war alles egal, nur weiter leben, mochte kommen was wollte. Das Leben, wie es sich nun hier in der Folge vor meinen Augen abspielte, lieferte mir einen ungefähren Begriff, in welch' unsägüch niedriger Weise sich oft das normale Geschlechts- leben der Menschen abspielt. Beispielloser Ekel erfaaste mich hier vor der Art, mit der hier die Menschen sich der „normalen" Liebe hingaben. Ich war der einzige männliche Bedienstete im Hause, und hatte bald heraus, dass meine würdige Herrin mehr von mir verlangte als blosse Dienste für das Haus und die Gäste. Ein fürchterlicher Schrecken packte mich bei dieser Erkenntnis. Mir schauderte vor dem Gedanken, längere Zeit hier unter diesen Men- schen weilen zu müssen. Aber ich hatte gar keine Ursache, mich zu beklagen, war ich doch selbst ein aus der Gesellschaft aller anständigen Menschen Ausgeschlossener. Wohin sollte ich auch in dieser fremden Welt, in der ich vollständig einsam stand. Ohne irgend welche Mittel konnte ich doch überhaupt nicht weiter kommen. Und als Landstreicher würde ich sehr bald in die Hände der Polizei geraten. Dann aber wnr es doch sicher um mich geschehen, denn

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wenn jener menschenfreundliche Nachbar die Sache angezeigt, so war sicher ein Steckbrief hinter mir; welche Aussichten eröffneten sich da für mein Leben! Und zum Sterben war ich zu feige. Sterben, wenn man noch so jung ist. War nicht die Welt trotz alledem schön V Ich fügte mich deshalb, so gut es ging in meine Lage, wich den zudringlichen Freundlichkeiten meiner Herrin ge- schickt aus und war nur still und zähe darauf bedacht, etwas Mittel in die Hand zu bekommen um möglichst bald fort zu kommen aus dieser Höhle, in deren Pesthauch ich zu ersticken fürchtete. Nach 14 wöchentlichem Aufenthalt war ich denn auch wieder unterwegs. Ich hatte mir in dieser traurigen Zeit unter allerlei Entbehrungen von meinem geringen Lohn, eine kleine Summe erübrigt mit der ich hoffte irgend eine Küstenstadt zu erreichen. Dort wollte ich mich als Kohlenzieher oder sonst als dienstbarer Geist auf irgend einem Schiff ohne weitere Barmittel nach Amerika hinüberarbeiten. Ich hatte diesen Plan in meinen einsamen, oft schlaflosen Nächten sorgsam durchdacht. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass in Küstenstädten sogenannte „Heuerbaasse" ihr Wesen treiben, die ein schwunghaftes Geschäft daraus machten, Auswanderungslustigen mit Rat und Tat an die Hand zu gehen in der Erlangung günstiger Überfahrtgelegenheit. Auch solche Leute, die in ähnlicher Lage, wie ich, sich befanden, „verheuerten" diese Leute auf irgend ein Schiff, damit sie so ohne grosse Baarmittel das „gelobte Land,u nach der Versicherung dieser Heuerbaasse, sicher erreichten. Dort in dem freien Lande, in der neuen Welt, wollte ich dann abermals ein neues Leben, ein „besseres" beginnen. Von Neuem hatte ich mir selber hoch und teuer zugeschworen, nunmehr meiner unseligen Leidenschaft zu entsagen. Zähneknirschend verfluchte ich meine erbärmliche Schwäche, die mich hatte zum Sklaven einer Neigung werden lassen, die alle Welt als verbrecherisch bezeichnete. Ich glaubte ihnen, wenn sie sagten, es sei ein Verbrechen, sich mit „so was" zeitlebens unglücklich zu machen. Hatte ich nicht den Frühling meines Lebens damit zerstört V Sprach doch Jeder- mann mit Verachtung und Hohn von diesem abscheulichen Laster für das manche die Prügelstrafe empfahlen. Wie ungeheuer schlecht und erbärmlich kam ich mir vor. Nun aber sollte, nun musste das alles anders werden, wenn ich erst „drüben" sein würde. Dort, wo mich Niemand kannte, wollte ich versuchen auf andere Art vielleicht wieder glücklich zu werden wie tausend Andere. Mit gutem Ge- wissen darf ich sagen, ja ich habe es redlich versucht ein „Anderer" zu werden. Ich bin es nicht geworden. Bin bis heute der Alte geblieben. Gefängnis, Flüche, Tränen, Gebete, Schwüre, Hunger

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und Entbehrungen, ja selbst die letzte, tiefste Erniedrigung, die einem Mensehen widerfahren kann, körperliche Misshandlungen, die mir auf jener schrecklichen Ozeanfahrt nicht erspart geblieben sind, sie alle hatten nicht vermocht, die Liebe zu meinem eigenen Ge- schlecht zu ertöten. Und ob alle diese unsäglichen Leiden, Geist und Seele in beispiellosem Maasse quälten und folterten, der ge- waltsam hin- und hergehetzte Körper, schier bis auf den Rest aus- gemergelt wurde, siegreich ist die Natur über dies alles hinweg- geschritten und verlangt nach wie vor, gebieterisch die Erfüllung ihrer Rechte.

Ich will den Leser nun nicht mehr allzulange mit den Einzel- heiten meiner weiteren Erlebnisse ermüden. Die körperlichen und seelischen Qualen, die ich auf all' den Irrfahrten zu erdulden ge- habt, alle ausführlich zu schildern, fühle ich mich ausser Stande. Sie haben bei mir den Grundstein gelegt für eine stete nervöse Emplindliohkeit, unter der Körper und Seele fortgesetzt zu leiden haben. Namentlich war es der fürchterliche, wenn auch nur kurze Aufenthalt auf jenem Schiffe, auf welchem mich ein schuftiger Heuerbaas als Kohlenzieher verdingt hatte, der nach meiner Über- zeugimg ein bis heute regelmässig wiederkehrendes Leiden (Rheuma- tismus) in meinem Körper zurückgelassen hat. Mein Vorhaben, nach Amerika auf diesem Schiffe zu kommen, war gescheitert. Ich war zu dumm und unerfahren für solche Finessen und musste die Reise unfreiwillig als Kohlenzieher wieder zurück machen. Kaum an deutschen Gestaden angelangt, entfloh ich, halb wahnsinnig von den unmenschlichen Strapazen und beispiellos roher Behandlung bei Nacht und Nebel, von dieser schwimmenden Hölle. Von einer zweiten solchen Reise nach Amerika war ich gründlich geheilt. Ich hätte dem denn doch den Tod vorgezogen. Ruhelos zog ich nun wieder durchs Land, von Ort zu Ort, was nun mit mir ge- schehen würde, war mir gleichgültig. Ich blieb jedoch während meiner ganzen Wanderzeit von der Polizei unbehelligt, ein Steck- brief gegen mich existierte wohl demnaoh nicht. Nachdem ich auf meinen Irrfahrten in unzähligen Städten und Ortschaften mich durch allerlei Beschäftigungen redlich arbeitend durchgeschlagen und meinen äusseren Menschen wieder in Ordnung hatte, konnte ich endlich wieder in meinem jetzigen Aufenthaltsort festen Fuss fassen. Jahre waren darüber hingegangen und raeine Familie hatte bis dahin kein Lebenszeichen von mir erhalten. Wieder in meinem erlernten Ge- schäft tätig, erlangte ich nach und nach eine gewisse Sicherheit. Ich lebte still und zurückgezogen für mich hin, ging fast nie aus und beschäftigte mich in meinen vielen einsamen Stunden damit,

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alles zu lesen, was mir nur in die Hände fiel. Ieh führte so mit meinen Büchern im stillen Stilbchen ein beschauliches Dasein.

Aber nicht lange dauerte dieser Zustand. Wohl hatte ich mir vorgenommen, fürderhin die Gesellschalt der Menschen möglichst zu meiden, namentlich war ich ängstlich bemüht, nicht mit jungen Leuten meines Geschlechts zusammen zu kommen. Darin lag ja nun freilich die einfachste Bestätigung meines noch völlig unver; änderten Geschlechtszustandes. Aber statt durch fleißiges, rück- sichtsloses Nachdenken zur endlichen Klarheit über meine ge- schlechtliche Verfassung, zu kommen und in deren Konsequenz wenigstens einigermaasen raein Leben einzurichten, vermied ioh es vielmehr nun ängstlich, an alle diese Dinge auch nur einen Augen- blick zu denken. Ich glaubte durch die eiserne Standhaftigkeit, mit der ich das Denken und die Gelegenheit von mir fern hielt, das beste Schutzmittel gewonnen zu haben, durch das ich von fernerem Unglück bewahrt blieb. So verbiss ich mich in einem fortwährenden Abwehrkampf gegen meine Leidenschaft. Ich hatte mich noch nicht soweit zur geistigen Freiheit durchgerungen, daas ich mich hätte von der üblichen Meinung der grossen Masse emanzipieren können. Ich fühlte mich abhängig von ihr und hielt in Wahrheit meine Neigung für verbrecherisch, so dass ich glaubte, sie mit diesen Mitteln erfolgreich bekämpfen zu können. Die äusseren Umstände schienen mir günstig in meinem Vorhaben. Ich kam durch einen Kollegen, der mich einst zur Kirmess in sein Heimatsdorf lud, mit dessen Familie in nähere Berührung. Das kleine Dörfchen lag in reizender, romantischer Umgebung an dor Weser hingestreut, war von der Stadt, wo ich wohnte, nicht allzu- weit entfernt und mit der Bahn allsonntäglich bequem zu erreichen. Als schwärmerischen Naturfreund zog es mich mächtig hin zu diesem kleinen idyllischen Nestchen. Ich fing an, regelmässig dies Dörfchen aufzusuchen und lernte nun hier in der Familie meine* Kollegen, dessen Schwester kennen. Sie führte, da die Mutter unlängst gestorben war, dem Vater den Haushalt. Die Familie war gross. 3 erwachsene Geschwister arbeiteten in der Umgegend und 3 unerwachsene hatte sie im Hause zu überwachen. So lernte ich dies echte Naturkind kennen, wie es treu und um- sichtig waltete in dem kleinen Anwesen; es war ihrem Vater und den zahlreichen Geschwistern eine sorgsame Hausfrau und liebe- volle Pflegerin. Eine ungemein frische, sympathische Erscheinung, gefiel sie mir mit der Zeit immer mehr. Ich genoss bald das Ver- trauen der Familie und ging darin ein und aus. Es gefiel mir so unendlich wohl in diesem kleinen Ort, inmitten der herrlichen

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Natur. Ich streifte in dem nahen Walde umher, lag stundenlang an dem Ufer der Weser, oder machte mir im Garten und Feld zu schaffen. Und wenn Sonntags nachmittags Vater und Brüder das Gasthaus im Dorfe aufsuchten, dann leistete ich der Schwester meines Kollegen Gesellschaft, wenn sie einsam zu Haus die jüngeren Geschwister hütete. So lernte ich auch Wesen und Charakter dieses trefflichen Mädchens kennen, an denen ich schliesslich nur ange- nehmes finden konnte. Ich war nie im Leben eiu fanatischer Weiberfeind und wusste Schönheit, Tugend und natürliche Anmut beim Weibe wohl zu schätzen. Hier aber fand ich alles in seltenem Masse vereinigt. In der Person dieses Mädchens schien mir plötzlich ein Fingerzeig gegeben, meinem ferneren Leben sitt- lichen Halt wiederzugeben. Ich hatte zur Zeit keinen männ- lichen Verkehr und war, seit ich diesen Ort entdeckt, ganz stadt- fremd geworden, arbeitete nur noch in der Stadt und lebte auf dem Lande. Hier in der Stille der Natur unter den Kindern der Natur hatte ich den langersehnten Frieden wiedergefunden. Ich wurde der Freund und Berater Mathildens, half ihr getreulich bei allen möglichen häuslichen Angelegenheiten. Bald war es im Dorfe ausgemachte Sache, dass ich Mathildens Mann werden würde, und ich tat niohts, um diese Meinung zu entkräften, im Gegenteil, sie schmeichelte meiner Eitelkeit und ich war fest Uberzeugt, Mathilde würde meine Hand nicht abweisen. Ich war stets artig und takt- voll in meinem Benehmen ihr gegenüber und hielt mich körperlich in respektvoller Entfernung von ihr, was mir leider nicht schwer fiel. Ich genoss deshalb ihr unbegrenztes Vertrauen, wir waren wie Geschwister und ich war in die Angelegenheiten der Famiüe bald besser eingeweiht, als selbst ihre Geschwister. Ach, hätte sie mir nie dieses Vertrauen geschenkt, hätte sie mich abgewiesen, ihr und mir wäre wohler gewesen. Ich aber bildete mir ein, dieses Mäd- chen zu Ueben, redete mir selbst beständig zu mit allen möglichen Phrasen vom häuslichen Herd und Geldeswert belog mich selbst, indem ich vor meinen eigenen schüchternen Bedenken behauptete, dass diese Heirat der einzige Weg sei, um im Leben noch einmal glücklich zu werden. Was habe ich mir nicht alles vorgelogen, um endlich den vermeintlichen Frieden zu finden, nach dem ich mich so sehr sehnte. Ich liess nun ein erstes I^benszeichen an meine Famiüe daheim gelangen, indem ich einen langen de- und wehmütigen Brief an mein Mütterchen richtete. Sie war nur meine Stiefmutter, aber ieh hatte ihr stets eine innige Liebe und Anhäng- lichkeit bewahrt. Ich gab in dem Brief einen ungefähren Überbück meiner Schicksale von jenem Tage an, da ich sie verlassen musste, bat

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alle um Verzeihung, und wenn es ihnen möglich sei, mich wieder als Mitglied der Familie anerkennen zu wollen: teilte auch, nicht ohne einiges Selbstbewusstsein mit, dass ich mir jetzt eine achtbare Existenz begründet, und im Begriff stände, mich zu verloben, und bat schliesslich um ihren Rat und um ihren mütter- lichen Segen. Nach kurzer Zeit erhielt ich Antwort von meinem Bruder. Alles war hocherfreut von meinem Lebenszeichen und namentlich von meinem Entschluss. Man gratulierte mir, wünschte mir Glück, alles sollte vergessen und vergeben sein, denn ich hätte ja nun bewiesen, dass ich ein andrer geworden. Mein Bruder gab mir den Rat, ja nicht mehr länger mit der Heirat zu warten, kündigte mir an, mich baldmöglichst aufzusuchen, um sich von meinem Glück zu überzeugen. „Du glaubst nicht, wie ich mich freue," so hiess es am Schluss seines Briefes, „dass wir Dich als einen Menschen wiedergefunden, der nun wieder als vollberechtigtes und nützliches Glied in die Gesellschaft aufgenommen werden kann. Dadurch, dass du dich der Liebe zu einem Weibe hin- gegeben, hast du deinen Beruf als Mann und Geschlechtswesen der Gesellschaft gegenüber erfüllt, und hast ein Recht, wieder unter Menschen zu erscheinen." (!!!) Wenn ich ehrlich sein will, so kann ich nicht sagen, dass dieser Brief meines Bruders in meinem Herzen einen völlig harmonischen Wiederhall gefunden hätte. Es lag in ihm etwas, was ich nicht recht definieren konnte. Nur soviel wusste ich, damals, als ich Willy und nachher Adolf liebte, war ich doch auch gewissermassen ein Mensch gewesen. Aber immerhin, der Brief freute mich sehr und beseitigte meine letzten Bedenken. Ich verlobte mich. Und als ich bald darauf im näheren Umgang mit meiner Braut ein leidenschaftliches, heissbegehrendes Weib vorfand, dessen jungfräuliche Liebesglut mir den normalen Koitus leicht machte, da freute ich mich ganz unbändig und war nicht wenig stolz auf raeine Manneskraft. Um endlich zum Schluss dieser Bekenntnisse zu gelangen: Mathilde ist mein Weib ge- worden, und so lange wir nun nebeneinander durchs Leben wandeln, bin ich ihr nicht einen Augenblick treu geblieben. Das bischen Reiz war bald entschwunden. Er war bewusst und plan- mässig herbeigezogen und künstlich genährt, war eine Art Onanie, war nicht die Liebe, das grosse, heilige Feuer, das aus den dunklen Tiefen der Mensehenseele emporlodert, mächtig und unmittelbar, mit leuchtenden Flammen das geliebte Wesen gleichsam verklärt und mit heissem Odern erwärmt. Ein elender Abklatsch, ein Popanz war es, der sich heuchlerisch Liebe nennt und im Grund nur Eigenliebe ist, die für ihren feigen Schwindel eine legitime

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Unterlage benötigt. O ja, ich leugne es nicht, ich war feige, un- endlich feige, dass ich der lügnerischen Ehrenretterei das Glück meines Lebens zum Opfer brachte und schlecht dazu, dass ich ein rechtschaffenes, braves Menschenkind damit au mein Dasein kettete und auch ihm die Blüten seines Lebenslenzes stahl.

Allzu langsam ist mir der Schleier von den Augen gesunken und als ich endlich nun mein eigenes Selbst im Lichte der Er- kenntnis sah, da war es leider zu spät. Neue Fesseln habe ich mir durch diesen unseligen Schritt auferlegt, ein Zurück gibt es nun nicht mehr und vorwärts? wo wollt ich denn da hin? Da müsste ich ja erst ein .Anderer" werden. Wer ratet mir? Soll ich meinem armen Weibe, das mir rechtschaffen und treu bis jetzt ge- dient, „reinen44 Wein einschenken? Die sorgsame Hausfrau und die zärtliche Mutter meiner Kinder hinaus stosseu in die Welt, in- dem ich das Band gewaltsam durchschneide, das uns vor den Augen der Welt bindet. Solche gigantische Kraftleistung ma^ man von mir nicht eher verlangen bis man mir sagen kann, was damit für uns Beide, für unsere Kinder gewonnen. Unsere Kinder, jawohl, zwei herzige kleine Wesen sind diesem Scheinbunde entprossen. Jeder Homosexuelle, der los und ledig ist, mag sich wundern, wie ein Homosexueller dazu kommen kann. Aber Jeder, der in ähnlicher Lage sich befunden, wird nichts Verwunderliches darin finden. Ich liebe ineine Kinder, die beide aus den ersten 2 Jahren meiner Ehe stammen und umgebe sie mit aller Sorgfalt, die in meinen Kräften steht; sorge für raein Weib nach bestem Können. Und doch inuss ich sie ständig betrügen. Uberall gelte ich als der beste Gatte und Vater meiner Familie. Und beständig breche ich die Ehe. Habe ich das Glück, einen jungen, starken, edlen Freund zu treffen, dann kennt meine Freude keine Grenzen. All' mein Leid, all' die düstren Tage, die ich auf dem qualvollen Weg meines Lebens, an der Seite eines hochgeachteten, aber ungeliebten Weibes durchwandern muss, sie sind vergessen. Vergessen ist meine Gefangenschaft, in der ich mein Dasein vertrauern muss im Kreise meiner „Familie44, vergessen alle Gesetze der moralischen Gesellschaft. Ich schreite unaufhaltsam weiter auf der Bahn des „Verbrechens44. Denn ich kann ja nicht anders das Glück wirklicher Liebe finden als im „Verbrechen'4. Wo ich hinblicke nichts als Sünde, und wollte ich diesem unsäglichen Zustand ein ewiges Ziel setzen, dann erst wird mir der Fluch, Ver- brecher, noch übers Grab geschleudert werden. Was also kann ich tun? Ich werde weiter zu leben versuchen, um weiter zu sündigen.

Die Liebe ist so gross, so erhaben, so edel, sie vermag alles und sie gibt auch mir immer wieder von neuem die Kraft des

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Lebens wieder. Ja der Eindruck, den die lieht- und kraftvolle Gestalt eines edlen Jüngling auf mich hervorzubringen vermag, lockt sogar noch hier und da ein paar einfache und schlichte Töne von meiner längst verrosteten Leier.

So erst vor Kurzem als ich auf einem Abendessen einen jungen Handwerker kennen lernte: Ein schöner Jüngling mit seltenen Geistesgaben, wie er mir ähnlich immer im Geiste vorschwebte. Er zeigte sogleich am Abend unserer Bekanntschaft tieferes Ver- ständnis als alle Anderen flir meine bescheidenen Darbietungen, durch die ich zur Unterhaltung der Gesellschaft beizutragen suchte. Wir kamen in ein kleines Gespräch und ich war überrascht und erstaunt über die Tiefe seiner Begriffe über Ästhetik und Kunst sowie Uber die Kraft seiner Lebensanschauung. Ich war sofort von diesem starken Charakter gefangen. Selbst Arbeiter, war ich freudig bewegt, auch unter meines Gleichen, einen so fein empfindenden und edel denkenden jungen Mann entdeckt zu haben. Ich suchte näheren Verkehr, besuchte ihn in seiner Wohnung, wo ich ihn stets lesend oder malend, auch musizierend er spielte gut die Klari- nette — antraf. Ich war entzückt und verliebte mich unsterblich in dieses herrliche Wesen. Eine neue Sonne schien über mein düsteres Dasein aufgegangen. Ich hatte nur noch Gedanken, Sinne, Interesse, Zeit, für ihn. Mein armes Weib, die von dieser neuen Liebe, mit der ich sie betrog, natürlich keine Ahnung hatte, konnte garnicht begreifen, was in mich gefahren war. Ich vernachlässigte alle meine sonstigen Obliegenheiten. Ich suchte ihm erst zu ver- heimlichen, dass ich verheiratet sei, bald jedoch tilgten es die Um- stände, dass ich ihm die Wahrheit sagen musste. Lächelnd meinte er, es täte ihm leid, dass er das nun wüsste. Denn nun könne er doch raeine Zeit, mein Interesse für ihn nur in halben Portionen in Anspruch nehmeo, die grössere Hälfte gehöre meiner Familie. Und als ich ihm eifrig erwiderte, das käme garnicht in Betracht, da schaute er mich lange an und warf die Worte still und leicht hin „Hättest dich nicht verheiraten sollen" ich war fassungslos, durchschaute er mich, hatte er in meiner Seele zu lesen verstanden? Hier, fühlte ich, war ich der Schwächere, aber gerade deswegen liebte ich ihn umsomehr. Lange haben wir an jenem Abend noch zusammen gesessen und langsam aber sicher bin ich in seine Seele eingedrungen. Und als ich bald darauf das erste Zeichen der Liebe, den Kuss von ihm begehrte, lehnte er zuerst ruhig und bestimmt ab, und ich hatte zu viel Achtung und Respeckt vor seiner Person, als dass ich hätte weiter in ihn dringen wollen. Später hat er mir dies Zeichen gern und freudig gewährt. Fester und immer fester

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schlössen wir uns dann zusammen. In ungetrübter Harmonie gingen unsre Seelen in einander auf. Als Geschlechtswesen normal, bat er mir doch in hingebender Freundschaft das höchste Gluck der Liebe gewährt. Er fühlte sich nicht dadurch mit Schmach und Schande bedeckt. Er war frei und unabhängig genug im Geiste, meine Empfindungen, meinen Zustand zu begreifen. Und konnte er auch meine leidenschaftliche Liebe nicht mit derselben Glut er- widern, so war er doch sichtlich bemüht, durch verdoppelte treue Anhänglichkeit, durch wahrhaft hochherzige Freundschaft und Teil- nahme für meine traurige Lage, diesen Mangel wett zu machen. Leider währte mein Glück nicht lange. Durch mein Verhältnis mit ihm drohte mir ein ernster Konflikt mit meiner Familie. Ich ver- wendete natürlich meine freie Zeit nur für ihn. Seine Person be- herrschte nur noch allein meinen Ideenkreis. Ich tiberliess Frau und Kinder sich selbst, sorgte nur materiell für sie, und war im übrigen stets bei meinem Ludwig anzutreffen. Er selbst hat mich im Kreise meiner Familie nur ein einziges Mal besucht Er hatte, feinfühlend wie er war, die Situation bald begriffen und achtete darin gewiss nur die Meinen. So war ich denn stets bei ihm. Wir musizierten, lasen, studierten und philosophierten miteinander. Die Sache wurde zu auffällig und Ludwig bat mich, meine Besuche einzu- schränken. Dazu war ich natürlich nur in ganz geringem Masse im Stande. Meine Frau musste mich Öfter aus seiner Wohnung abholen lassen. Kur/um, es gab ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen mir und meiner Frau. Dies alles merkte Ludwig, und eines Tages überraschte er mich mit der Mitteilung, dass er die Stadt verlassen wolle. Seine Eltern hatten geschrieben, er solle in die fteimat zurückkehren. Ich war wie vom Schlage gerührt, mich von diesem Menschen trennen, das war ja rein unmöglich. Mein erster (Jedanke war ich scheue mich nicht, ihn hier nieder- zuschreiben — ich wollte ihn begleiten und sprach diese Absicht sofort aus. Ruhig und bestimmt verbot er uairs und brachte mich durch sein liebevolles Zureden wieder zur Vernunft zurück. Nur seiner ruhigen, festen Besonnenheit habe ich es zu danken, dass es keine Katastrophe gab. Er versicherte mir zuletzt, dass er mir dann seine Freundschaft und Achtung versagen müsse, wenn ich ihm folgen wollte. Das half, und still ergab ieh mich in diese Trennung. 14 Tage noch war es mir vergönnt, ihn zu sehen. Ich half ihm bei seinen Vorbereitungen zu der weiten Reise. Ludwig hatte in Jütlaud seine Heimat. Er war mit 17 Jahren in die Fremde gegangen, hatte Dänemark, Deutschland und die Schweiz schon be- reist und hatte sich auf seinen Reisen, die er meistens zu Fuß ge-

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macht, 2 fremde Sprachen augeeignet (Deutach und Französisch), die er beide geläufig sprach; für einen mittellosen Handwerks- gesellen eine zweifellos ausserordentliche Leistung. Dabei stand er erst im 22. Lebensjahre. Und von diesem herrlichen Jüngling sollte ich mich trennen. Ich konnte mich mit dem Gedanken garnicht vertraut machen. Aber was half es. Nach 5 monatlichem sonnen- vollen Glücke ist nun wieder die düstere Öde meines Daseins über mich zusammengebrochen. Niemals im Leben ist es mir je vergönnt gewesen, einen edleren Menschen an mein Herz drücken zu dürfen, als diesen dänischen JUngling. Nie ist mir eine Scheide- stunde qualvoller erschienen, als die des Abschiedes von ihm. Immer und immer wieder musste ich dieson Kopf an mich pressen, immer wieder in diese dunklen, tiefen Augen blicken.

Wenn je einem Homosexuellen seine Gefühle zum Fluch seines ganzen Lebens geworden sind, so bin ich es. Und wenn je Anstrengungen gemacht wurden, um diese Empfindungen loszuwerden, ihnen eine andere „normale" Richtung zu geben, so habe ich es getan. Und doch musste ich bei meinem Ver- hältnis zu Ludwig erkennen, dass mein Geachlechtszustand heute homosexueller denn je ist. Der Zustand, in dem ich mich ge- rade ihm gegenüber befand, mag die Art und Weise dartun, mit der ich von ihm Abschied nahm. Wir hatten den ganzen Abend vor seiner Abreise auf seiner Stube zusammen verbracht, und ich hatte schliesslich weinend unter unzähligen Umarmungen mieh von ihm losgerissen. Buhelos lief ich durch die Strassen und konnte es nicht fertig bringen, nach Hause zu gehen. Ich kehrte schliesslich zurück, um meinen Freund noch einmal zu sehen. Er war bereits zur Kühe gegangen. Dumpf vor mich hinbrütend, setzte ich mich auf den Flur vor seiner Tür bin und schlief, den Kopf an die Tür gelehnt, schliesshch ein. So wurde ich mitten in der Nacht von ihm aufgefunden. Liebevoll bereitete er mir eine Stätte neben sich. So habe ich dann die letzten Stunden dieser letzten Nacht an seiner Brust zugebracht. Noch in der letzten Minute unseres Beisummenseins klagte ich mich an Uber mein un- vernünftiges Verhalten. Er tröstete mich und versicherte mich seiner treuen Freundschaft, auch in der Ferne. So ward aucli dieser mir entrissen. Einsam und trauernd lebo ich nun wieder für mich hin und denke daran, welche Leiden mir wohl noch im Schoosse der Zukunft zugedacht sind.

Erlöst uns, nehmt uns die Fesseln ab : der Kultur wird es nicht zum Schaden, der Menschheit aber wird es zur Ehre gereichen.

Jahrbuch V.

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Einige psychologisch dunkle Fälle

von geschlechtlichen Verirrungen in der Irrenanstalt.

von

Medizinal rat Dr. P. Näcke

in Hubertusburg.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass sexuelle Perversi- täten aller Art im Irrenhause häutiger als sonst sich finden. Statistische Untersuchungen hierüber in streng wissenschaftlicher Weise giebt es aber leider nur ganz wenige. Ausser meiner hieher gehörigen grossen Arbeit1) kenne ich nur eine solche von Meilhon2) aus der Irren- anstalt zu Aix und eine Notiz vou Pelanda3), die zu Verona betreffend. Während Meilhon unter 83 Geistes- kranken 18 Sodomiter, IG Ouanisten und 8 Exhibitio- nisten faud, notierte Pelauda unter 240 Männern 12 mit „veränderter" Sexualität (ohne nähere Angabe). Ich habe dagegen das bisher grösste Material verarbeitet, nämlich 1481 Geisteskranke (darunter r>09 M.) der Irren- anstalt zu Hubertusburg. Berücksichtigt habe ich hierbei die isolierte und mutuelle Onanie, den Exhibitionismus,

•) Nücke: Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt. Psychiatrische en Neurologische Bladeu 1KW. Nr. '2. und in „Wiener klinische Rundschau" 1899, No. 27 HO.

-) Meilhon: Nach Referat in: Archives d'anthropol. eriin, etc. 1898. p. 360.

l) Pelanda: Ernie ed anoraalie sessuali. Archivio delle psic< patie sessuali, 1890.

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die aktive Päderastie und endlich die Fellatures und die Schmierer. Tabellarisch wurden die einzelnen Prozent- sätze für die Gesamtheit und für die einzelnen Krank- heitsformen berechnet Speciell betone ich hierbei, dass je nach den einzelnen Anstalten diese Prozentsätze ver- schieden ausfallen werden, da ausser vielen andern Momenten insbesondere die Anzahl der aufgenommenen Krankheitskategorien eben überall sehr schwankt und es ferner hierbei sehr wesentlich erscheint, ob die Kranken mehr vom Lande, oder aus der Stadt, oder gar der Grossstadt sich rekrutieren. Unsere Ermittelungen können daher nur einige allgemeine Züge mehr oder minder wahrscheinlich machen.

An unserem Material stellte ich fest, dass alle Perversitäten bei Männern häufiger waren, als bei den Frauen. Leider musste aber sogleich hinzugesetzt werden, dass es bei Weibern viel schwieriger ist Näheres zu erfahren, als bei Männern, so dass sämtliche Prozentsätze bei ihnen noch viel mehr Minima darstellen, als bei Jenen. Onanie fand sich am häufigsten vor wiederum scheinbar mehr bei Männern , Exhibitionismus dagegen nur selten (blos bei 3 Männern!), bei den Frauen doppelt so häutig, während öfter homosexuelle Handlungen statt fanden, die bei den Paralytikern ganz fehlten. Unter den gleichgeschlechtlichen Handlungen war die gegen- seitige Onanie am häufigsten (sicher oder sehr wahr- scheinlich bei ca. 3ü/0 der M. und bei ca. 0,5°/n der W.) Fellatores gab es nur 2 <M). Wirkliche Päderastie endlich fand sich bei 1% der M. vor, viel häufiger als bei Frauen und bei beiden Geschlechtern wieder in erster Linie bei den Imbezillen. Letztere und die Idioten weisen überhaupt die Höchstziffer aller Perversitäten auf. Daher kommt es hauptsächlich, dass je mehr diese Art von Kranken und auch Epileptiker in einer Anstalt sich ansammeln, urn so mehr die Zahl aller sexuellen Ver- la*

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irrungen zunimmt. Leider waren unter meinen Kranken nur sehr wenige Epileptiker vorhanden und gerade hier wäre eine diesbezügliche Untersuchung an grossem Materiale deshalb sehr erwünscht.

Unter unseren 509 Mäunern wurden 5 Personen bei eigentlicher Pädicatio betroffen (= l°/0) und zwar 4 Idioten und 1 Paranoiker. Rein passiv verhielten sich hierbei 2 Idioten, aktiv und passiv zugleich die 2 andern. Alle vier onanierten zugleich, zum Teil auch mutuell. Der Eine (ein älterer Mann) ist auch Fellator. Die Passiven sind mehr apathische Naturen. Der Päderastie sehr verdächtig war ein Verrückter, daher oben mitgezählt , der, wenn er erregt war, in das Bett Anderer kroch. Unter den 972 Frauen exhibitionierten 16 (der einfachen Seelenstörung angehörig); der gegenseitigen Onanie sehr verdächtig waren 4 andere, 2 weitere endlich der aktiven Päderastie. Cunni- lingae fehlten ganz. Erwähnen will ich schließlisch, daß fast stets bei allen unsern männlichen und weiblicheu Kranken Onanie die Vorstufe zu deu übrigen sexuellen Abweich- ungen bildete, ohne daß damit aber irgend ein Zusammen- hang zwischen Beiden statuiert sein soll (siehe später!).

Diese obigen Zahlen habe ich nur mitgeteilt, um zu zeigen, daßalle sexuellen abnormen Praktiken im Irrenhause doch meist viel seltener sind} als der Laie, ja sogar viele Aerzte sich dies vorstellen. Wegen aller weiteren Details muß ich schon auf raeine angeführte Arbeit verweisen, die außerdem auch versucht gewisse Akte dem Verständnisse psychologisch näher zu bringen.

Jedenfalls ersieht man aus Vorstehendem, daß homo- sexuelle Akte nicht häufig waren, am seltensten die eigentlichen Päderasten und Fellatores, dass weiter die Seh wach- und Blödsinnigen auch hier den höchsten Prozentsatz zeigten. Es erhebt sich nun hier vorab die Krage, ob wir in diesen Fällen echte

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Inversion vor uns haben oder nicht. In allen Fällen, glaube ich, müssen wir eine wirkliche Homosexualität ablehnen, trotzdem nähere anamnestische Daten vollständig fehlen. Es handelt sich hier nur um homosexuelle Handlungen, faute de mieux, um Surrogatshandlungen, wie ich dies nannte.') Die Verführung meist durch Schwachsinnige, spielt die Hauptrolle dabei. Das Gros der Irren allerdings be- friedigt den Geschlechtstrieb nur durch Onanie, die hier gleichfalls, besonders bei Verheirateten, meist nur als Surrogat auftritt. Immerhin mag sie öfter auch central bedingt sein, durch stärkeren centralen Reiz auf die Genitalsphäre, wofür namentlich die bisweilen frenetisch ausgeübte Masturbation bei tief Verblödeten oder ganz Benommenen spricht, was in anderen Fällen viel weniger wahrscheinlich ist. Schon daß unsere Päderasten neben der paedicatio noch alle isolierte und gegenseitige Onanie betreibeu, z. T. auch gleichzeitig Fellatores sind, spricht einigermassen gegen echte Inversion. Das Haupt- argument liegt aber in der Tatsache, dali die Betreffenden in der Zwischenzeit den Partnern gegenüber sich völlig kühl verhielten, sie nie umschmeichelten etc., bis auf Aborten, in dunkeln Ecken, in Gegenwart apathischer Schwachsinniger oder sekundär Dementer etc. der raptus sie überkam und sie die Andern mißbrauchten. Wären ihnen Frauen zur Wahl belassen worden, so hätten sie sich wohl sicher auf sie gestürzt. Auch sonst sprach bei ihnen alles gegen echte Homosexualität und nie zeigte sich effeminierter Typus. Eher könnte schon bei den Frauen Von Inversion die Rede sein.

Mag dem nun aber sein, wie ihm wolle, so glaube ich aus meinen Erfahrungen schließen zu dürfen, daß in den unteren Volkschich ten aus solchen rekrutiert sich

') Näcke: Einige Probleme auf dem (iehiete der Homo- sexualität. Lahrs Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie u. s. k. 1902. 59. Bd.

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vorwiegend unser Material wahre Homosexualität ganz abnorm selten ist. Aehnliches wird sich im ganzen wohl auch bei anderen Irrenanstalten herausstellen. Sehr beachtlich ist aber weiter die Tatsache, daß unter einer so grossen Masse von Entarteten wenn mau nicht gar, wie manche wollen, alle Geisteskranken überhaupt dazu rechnen will wahrscheinlich kein einziger echter Invertierter sich befand, trotzdem die Inversion gerade bei Entarteten so häufig sein soll. Jedenfalls ist sie bei den schwer Entarteten, wie man die meisten unserer Kranken wohl bezeichnen kann, sehr selten. Somit bleibt nur die andere Mög- lichkeit übrig, daß sie nämlich bei leichter Entarteten aller Art auftritt, oder gar vielleicht bei völlig Normalen (in der gewöhnlichen Gesundheitsbreite sich bewegenden). Letzteres halte ich sehr wohl für möglich, ja sogar für gar nicht so selten, wie ich dies in meiner 2. zitierten Arbeit des näheren auseinander setzte. Endlich möchte ich noch hervorheben, daß trotz der häufigen und jahre- lang geübten Onanie, welche besonders bei Imbezillen, Jugendlichen oder sekundär Verblödeten nicht selten beobachtet wird, diese doch nicht in einem einzigen Falle zu Inversion oder nur zu homosexuellen Handlungen geführt hatte, die sich vielmehr meist als Produkt der Verführung darstellten, und als Surrogathandlungen auf- traten. Schon daraus ersieht man, daß Onanie an sich kaum je Homosexualität erzengt.

Hier will ich nun einige psychologisch dunkle und interessante Fälle sexueller Abnormitäten besprechen, die ich in der letzten Zeit in hiesiger Anstalt zu beob- achten Gelegenheit hatte. Es handelt sich um 3 Fälle von homosexuellen Handlungen und 5 Fälleu von Exhi- bitionismus.

1) E., 07 Jahre, Händler, ledig. Seit 3 4 Jahren oi krankt, halberregt, verschwenderisch, Spieler. Senile De-

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menz mit Erregtheit Kam hier noch hypomanisch an, be- ruhigte sich aber relativ bald und ist jetzt ruhig, fleißig aber schwatzhaft. In seinem hypomanischen Zustande steckte er viel mit Idioten und Jugendlichen zusammen, ward wiederholt bei gegenseitiger Onanie betroffen und auch, wie er am Penis eines jungen Katatonikers saugte, was er aber, sogar in flagranti ertappt, leugnete. Durch den Pfleger auseinander gebracht, ging er immer wieder wie besessen auf seinen Kumpanen los. Nie aber ward er bei der Päderastie betroffen. Seit seiner Beruhigung hat er sich nichts mehr zu schulden kommen lassen.

Da in der Anamnese nichts auf Inversion bezügliches sich vorfindet, Pat. auch jede homosexuelle Neigung stricte leugnet, so ist er wohl sicher kaum eigentlicher Homo- sexueller. Es ist anzunehmen, daß er in seiner hypo- mnnischen Unruhe von Anderen zu homosexuellen Hand- lungen verleitet ward und Geschmack daran fand. Er gab der Versuchung um so eher nach, als einerseits durch sein Senium gewisse Hemmungen gelockert waren, anderer- seits durch die Erregtheit vielleicht die libido sexualis ge- steigert wurde, und endlich günstige Gelegenheit sich anbot. Nach Abklingen der Hypomanie hat er alles bei- seite gesetzt und damit eben gezeigt, daß er kein Homo- sexueller ist.

2) S., ca. 27—28 Jahre alt, Musiker. Dementia präcox; total verwirrt und scheinbar verblödet, zeitweis gewalttätig unter dem Ansturm von Sinnestäuschungen und Wahnideen. Im Mai und Juni dieses Jahres ward wiederholt gesehen, wie er sich auf den Bauch eines sekundär verblödeten jungen Mannes, der sich in einer dunklen Ecke auf die Diele ausgestreckt hatte, der Länge lang legte und ihn längere Zeit so fest mit den Armen umklammert hielt, daß er einmal nur mit grosser Gewalt von dem Andern losgerissen werden konnte. Dabei waren weder seine noch des

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Anderen Genitalien entblößt und jede koitusartige Be- wegung fehlte. Die beiden glichen Fröschen in der Co- pulation. S. erschien dabei aber durchaus nicht geschlecht- lich erregt. Zu anderen Zeiten exhibitionierte er vor Frauen und riss Zoten.

Bei seinem total verwirrten Zustande fehlt uns jede Angabe über dieses auffällige Benehmen. Nur während zweier Monate zeigte er diese merkwürdige Art der Beschlafung. Sexuelle Erregung schien abgängig zu sein. Er empfand sonst durchaus heterosexuell, wie seine Exhibition vor Frauen bewies. Er ist also kein Inver- tierter. Nie hat er seinen Partner sonst aufgesucht und sich ihm freundschaftlich genähert. Wahnideen und Sinnestäuschungen können nicht wohl mit im Spiele ge- wesen sein, eher schon Zwangsimpulse. Vielleicht war es aber nur ein rein automatischer Akt, der jedoch möglicherweise nicht ganz eines sexuellen Hintergrundes, wenn auch unbewusst, entbehrte. Denkbar wäre es end- lich, daß hierbei Erinnerungen an normalem Coitus mit unterliefen. Jedenfalls ist gerade dieser Fall psychologisch ganz dunkel, aber interessant und lehrreich.

3) O., tiefster Idiot und taubstumm, Ende der zwanziger Jahre. Stösst nur unartikulierte Töne aus. Ich ertappte ihn kürzlich, als er einen andereu Idioten beim Kopfe festhielt, ihn wiederholt auf den Mund doch ohne sichtliche Zeichen geschlechtlicher Er- regung — küsste und ihn am Ohre streichelte. Der Kuss ward erwidert Nach Aussage des Oberpflegers soll dieser O. sehr verschiedene Kranke in ähnlicher Weise liebkosen, wobei aber nie Onanie bemerkt ward.

Ist hier etwa Inversion im Keime vorhanden? Ich glaube es kaum, da eben Zeichen des Orgasmus fehlten und die verschiedensten Personen so traktiert wurden. Ich möchte vielmehr glauben, daß es hier nur eine Be- tätigung von Anhänglichkeit und Gutmütigkeit war, ohne

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sexuellen Anstrich. In meiner erwähnten 2. Arheit machte ich darauf aufmerksam, daß bisweilen immerhin sehr selten bei Irren Freundschaftsbündnisse sich heraus- bilden. Diese sind entweder völlig harmlos oder aber der homosexuellen Handlungen sehr verdächtig. Letzteres anscheinend das häutigere war bei uns nur bei Idioten oder Verrückten der Fall, wobei der eine der aktive Teil ist. Aber auch bei ganz harmlosen Verhältnissen sieht man, wie es vorwiegend der eine ist, der den andern liebkost, unterstützt etc. Obigen Fall möchte ich nun zu dieser harmlosen Kategorie zählen, abgesehen davon, daß hier kein eigentliches Freundschaftsbündnis bestand. Es giebt nicht selten gerade Idioten, die ihre Liebe zu Eltern, Geschwistern, Pflegern etc. durch Küssen, Streicheln u. s. f. rudimentär bezeugen, und dies dann in andern Verhältnisse auf andere Personen tibertragen, und zwar unterschiedslos männlichen oder weiblichen gegenüber, und ohne Zeichen von libido.

Die folgenden Fälle betreffen Exhibitionisten.

4) PI., Paralytiker, 42 Jahre alt, ganz dement und meist ruhig. Als er noch leidlich bei Kräften war, lief er einmal 2 Tage lang sonst nie wieder! auf dem Korridore mit heraushängendem Gliede meist in dunkeln Ecken stehend und ganz benommen. Niemand sah ihn dabei onanieren, was er später, als er bettlägerig wurde, öfter tat.

5) L.j berühmter Pianist, Ende der Vierziger, ganz dementer Paralytiker, stand monatelang während des Gartengangs mit der ganzen Vorderseite des Körpers fest gegen die Hauswand gedrückt, mit entblößtem Gliede, ohne Masturbation, und ging so auch dann auf seine Station zurück. Ließ sich nie davon abbringen.

6) Sehl, 35 Jahr alt. Totale Verwirrtheit und Ver- blödung nach dementia praecox ; lief sehr oft mit ent-

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blüßtem Penis auf dem Korridore herum und ließ sich gleichfalls davon nicht abbringen. Im Garten wurde es nur einmal beobachtet. Er lebte ganz in seinem Sinnes- traum und in seiner Wahnwelt befangen.

7) Sch., dem. praecox, Mitte der 20 er, ganz verwirrt und schon verblödet, entblößte wiederholt sein Glied und spielte daran herum.

8) Gr., 29 Jahre alt, verblödet und verwirrt nach dem. praecox, trägt wegen steten Zerreiß ens seit Monaten den sog. (unzerreißbaren) Göttinger Anzug. Läßt aus dem Schlitz stets den Penis herabhängen und ist davon nicht abzubringen.

Diese Entblößer haben zunächst das Gemeinsame, daß sie dem jüngeren und mittleren Alter angehören, aus Paralytikern und jugendlich früh Verblödeten bestehen und bis auf die sehr mobilen Nr. 7 und 8 ganz in sich ver- sunken, tief benommen waren. Homosexuelle Exhibition ist hier sicher auszuschließen, schon weil die Betreffenden keine Invertierten waren und nur zeitweise und oft bloß in dunkeln Ecken exhibitionierten. Siehe namentlich Nr. 5. Sexualerregung schien dabei bei Niemandem zu bestehen und nur bei Nr. 7 ward Spielen an den Genita- lien beobachtet.

Was war nun der Grund zur Entblößung? Man könnte zunächst daran denken, daß dies der Abkühlung halber geschah, sei es nun, daß gewisse lokale Reiz- vorgänge an den Geschlechtsteilen bestanden, oder central bedingte brennende oder sonstige unangenehme Gefühle am Penis, die durch Aussetzen des Gliedes an der Luft Linderung ergaben. Lokale Reizzustände fehlten aber, ebenso wie die dadurch oft bedingte Masturbation und für die andere Erklärung liegt auch kein Beweis vor. Man könnte ferner auch an Druckwirkung des Göttinger Anzuges in Nr. 8 denken, doch muß man diese Erklärung hier fallen lassen, da bei den meisten Kranken

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im „Göttinger* Exhibition nicht bemerkt wird. In dem Falle 8 kam mir dagegen eine andere ErklärungsroÖglich- keit in den Sinn. Ich sah den Pat. nämlich einmal heftige seitliche Hüftbewegungen machen, wobei der lange Penis hin- und herpendelte. Vielleicht war ihm gerade dies pendelnde Gefühl angenehm. Bei unserm Kranken muti man feruer als etwaigen Grund Wahnideen, Zwangs- impulse oder Sinnestäuschungen wohl ziemlich sicher ausschließen, ebenso einen central bedingten Reizzustand der Geschlechtssphäre, da nie Zeichen von libido sich dar- boten, das Glied stets schlaff herabhing und nie masturbiert wurde. Es bleibt also fast nur übrig an einen rein automatischen Mechanismus zu denken, auf Grund dunkler organischer Reizungen oder unbewußter Vorstellungen.

Auf alle Fälle ist in allen unsern mitgeteilten Bei- spielen jede beabsichtigte Befriedigung der libido ausge- schlossen, im Gegensatze zu der gewöhnlichen Exhibition. Auch in der Irrenanstalt sieht man letztere nicht selten vor dem andern Geschlecht eintreten und besonders Frauen entblößen sich gern vor Männern. Vor dem gleichen Geschlecht geschieht es aber, abgesehen von Invertierten, höchstens nur dann, wenn tiefe Verachtung dem Andern gegenüber kundgegeben werden soll, manch- mal auch der Abkühlung halber, oder aus Wahnideen, Sinnestäuschungen, Zwangsimpulsen bei mehr oder minder erhaltenem Bewußtsein. Tief Benommene endlich, ent- blößen sich auch, wie unsere obigen Fälle zeigen; sicher ist dies aber keine homosexuelle Exhibition. Ob diese überhaupt, wie Braunschweig1) behauptet, so häufig bei Homosexuellen stattfindet, möchte ich um so mehr be- zweifeln, als hierüber in der Literatur wohl nur wenig bekannt ist.

•) Braunschwei«,': Das«. Geschlecht. Halle. Marhold. 1902.

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Zum Schluße möchte ich endlich auf eine Erklärung des gewöhnlichen Exhibitonismus aufmerksam machen, die ich für die meisten Fälle für richtig halte und es auch schon klar aussprach1). Ich sehe nämlich in der Entblößung nur eine Abart des Sadismus. Der Exhibitionist weidet sich am Schreck, Unwillen oder an der Verlegenheit der Zuschauerinnen, was sexuell erregend auf ihn wirkt, zumal wenn jene junge Mädchen sind. Die andere Erklärung dagegen, daß der Exhibitionist sich geschlechtlich aufrege, weil er die libido im andern geweckt hätte, dürfte nur in den seltensten Fällen und nur bei depravierten Mädchen oder Frauen zu beobachten sein. Eher könnte dies im Irrenhause stattfinden, wo durch die Psychose einerseits gewisse Hemmungen ganz oder teil- weise beseitigt sind, wodurch der Geschlechtstrieb freier sich zeigen kann, anderseits durch die Krankheit immer oder zu gewissen Zeiten die Geschlechtssphäre direkt gereizt wird, was in concreto freilich schwer zu beweisen sein dürfte. So beobachteten wir kürzlich einen älteren Paranoiker, der öfter dort exhibitionierte, wo die Bretter- wand des Frauengartens an die Stacketwand des Männer- gartens stiess und hier die Gelegenheit sich bot die Frauen, welche den dort in der Ecke belegeneu Abort aufsuchten, zu sehen. Wiederholt drückte er hierbei seinen Penis durch das Stacket ^hindurch und forderte eine ältere, total verwirrte Frau auf, denselben in die Hand zu nehmen, was diese dann auch unter Streicheln und Bewunderung des wohl geformten Organs tat! So kamen Beide in sexueller Hinsicht mehr oder weniger auf ihre Kosten.

Hubertusburg, Nov. 1902.

') Siehe meine 2. angezogene Arbeit.

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Chirurgische Überraschungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertums.

Kasuistik von 134 Beobachtungen mit 54 Fällen irrtümlicher Geschlechtsbestimmung

größtenteils durch das Skalpell der Chirurgen erwiesen. (Mit zahlreichen Abbildungen im Text.)

Mitgeteilt von

Dr. med. Franz Neugebauer.

Vorstand der gynäkologischen Abteilung des Evangelischen

Hospitals in Warschau.

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Es sei mir gestattet in diesem Jahrgange des Jahr- buches der Frage des Scheinzwittertumes von einer rein praktischen Seite näher zu treten. Es soll hier die Kasuistik derjenigen Fälle synoptisch zusammengestellt werden, wo der Chirurg in Beziehungen zu dem Pseudo- hermaphroditismus trat. Der Leser wird überrascht sein von der großen Anzahl von Fällen, wo das Skalpell des Chirurgen eine „Erreur de sexe* feststellen durfte!

Doch abgesehen davon gibt es eine große Reihe von Beobachtungen, wo bei richtiger Geschlechtsbestimmung der Chirurg Gelegenheit hatte aus der oder jeuer Ur- sache einzugreifen und zu höchst überraschenden und lehrreichen Resultaten gelangte. Die im folgeuden zu- sammengestellten Beobachtungen entstammen der bisher von mir gesammelten Gesamtkasuistik von 910 Fällen von Scheinzwittertum. Im Interesse der Leser des Jahr- buches werde ich, soweit dies wichtig erscheint, bei den einzelnen Beobachtungen auch dem psychosexuellem Em- pfinden der einzelnen Individuen Rechnung tragen, so- weit darüber Notizen vorliegen. Doch gehen wir gleich in medias res vor. Ich beginne mit einer Reihe von sogenannten Bruchoperationen bei männlichen Schein- zwittern, welche irrtümlich als Mädchen getauft und als solche erzogen worden waren, ja, einige dieser Individuen waren bereits als Frauen verheiratet.

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Erste Gruppe.

38 Bruch-Leistenschnitte bei als Mädchen erzogenen Individuen mit Feststellung: von Hoden als Bruchinhalt.

Ich muss hier bemerken, daß die Bezeichnung Bruch- operation nicht für alle diese Fälle zutreffend ist, da in manchen Fällen operirt wurde ohne auch nur einen Bruch zu vermuten wie z. B. in einem Falle um eine angeblich vereiterte Drüse aus der Leistengegend zu entfernen richtiger wäre es von Operationen mit Jnguinoscrotal-, resp. Inguinolabial-Schnitt zu sprechen, also einfach ge- sagt mit Leistenschnitt.

I) Alexander [Deutsche Medizinische Wochen- schrift 1897 No.: 38 pg. 307 1 beschrieb folgende inte- ressante Beobachtung aus der chirurgischen Abteilung des Dr. Hahn im städtischen Allgemeinen Krankenhause am Friedrichshain in Berlin: Am 8. Juni 1897 trat die 16jährige Klara D. wegen eines Leistenbruches in das Hospital ein. Der Bruch war ein linksseitiger. Vor drei Jahren hatte Dr. Erasmus bei ihr eine rechtsseitige Bruchoperation vollzogen, beschrieben von Jordaeus. Vor 8 Tagen wurde die Patientin während eines Spazier- ganges plötzlich von starken Schmerzen in der linken Leiste befallen, kurz darauf bemerkte sie selbst eine Anschwellung, einen Bruch, der sich als irreponibel erwies. Man diagnosticierte einen linksseitigen Leistenbruch mit fraglichem Inhalte und verordnete zunächst Huhe. Da sich hierbei das Befinden besserte, beschloss man, sich abwartend zu verhalten. Sobald jedoch das Mädchen das Bett verlassen hatte, trateu die heftigsten Schmerzen auf und es wurde deshalb von Dr. Hahn die Herniotomie vollzogen. Ein 5 Centiineter langer Bruchsack ver- schmälerte sich nach oben zu gegen den Leistenkanal hin. In dem jeder Flüssigkeit haaren Bruchsacke fanden sich

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in dessen oberer Hälfte ein eiförmiges Gebilde von Kirschgröße und zwei kleinere rundliche Gebilde von drüsenartigem Aussehen. Alle drei Körperchen hatten eine glänzende Oberfläche, wiesen Verwachsungen mit dem Bruchsacke auf und wurden entfernt. Die mikros- kopische Untersuchung machte Professor Hansem ann; Hoden und Nebenhoden konstatiert. Erst nach einem so unerwarteten Operationsbefunde betrachtete man mit grösserer Aufmerksamkeit die äußere Erscheinung des Mädchens. Die Brüste sowie das subcutane Fettpolster waren sehr schwach entwickelt, das Haupthaar in Zöpfen angeordnet. Die Oberlippe wies etwas Bartanrlug auf, die äußeren Schamteile waren absolut weiblich gebildet. Möns Veneris schwach behaart, große und kleine Schamlippen wenig ent wickelt im Verhältnis zur allgemeinen Körpergröße. Clitoris 2 Cent, laug und b" MilL dick, Präputium clitoridis verschieblich. Der Penis hvpo- spadiaeus wies eine Lacuna Morgagnii von drei Milli- meter Sondentiefe in der gespaltenen Harnröhre auf; unter- halb der weiblichen Harnröhrenmündung lag der Introitus vaginae von halbmondförmigem Hymen garniert. Fossa navicularis und Frenulum labiorum normal weiblich gebildet. Keine Spur von Uterus oder Tuben per rectum getastet, ebensowenig eine Prostata.

Die Scheide endete in der Höhe von drei Zentimetern blind. Becken nach Gestalt und Maaßen männlich. Nach dem unerwarteten Ergebnis der mikroskopischen Unter- suchung der exstirpierten Gebilde wurden nunmehr auch die früher rechtsseitig von Erasmus entfernten Gebilde untersucht und ergaben sich gleichfalls als Hoden und Nebenhoden [siehe Jord actis: Inhalt einer Leisten- hernie bei Mißbildung der Genitalien Festschrift zur Feier des ">< »-jährigen Bestehens der Gesellschaft der Arzte des Regierungsbezirks Düsseldorf 18^5. 1 Damals existierte noch kein Leistenbruch linkerseits,

.Tiihrl.il h V. I i

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sondern nur der rechtsseitige. Man fand als Inhalt des Bruchsackes den processus vaginalis peritonaei ohne flüssi- gen Inhalt. In dem Bruchsacke lag ein birnförmiges Gebilde von der Grotte einer welschen Nuß, weich von Konsistenz und nicht mit dem Bruchsacke verwachsen. Der Tumor hatte eine glänzende Oberfläche uud enthielt zwei Gebilde von drüsigem Aussehen, die nach obeuzu in eine Art gegen den Leistenkanal hin ziehenden Strang übergingen. Da die Reposition nicht gelang, hatte man diese Gebilde operativ entfernt. Linkerseits war neben Hoden und Nebenhoden auch eine Samenblase ent- fernt worden, rechterseits auch ein vas deferens. In keinem der Hoden Spermatogenese nachgewiesen, also atrophischer Zustand. Am 27. Juni 1895 war Klara D. aus dem Hospitale entlassen worden, am 30. Januar 1800 trat sie wieder ein wegen Scheidenausflusses und schmerz- hafter Anschwellung in beiden Leistengegenden. Die Schmerzen waren die Folge eines Coitusversuches mit einem Manne. Der Beischlaf kam nicht zu Stande wegen Schmerzhaftigkeit, wohl aber acquirierte Klara D. einen Tripper mit nachgewiesenen Diplokokken. Am 10. Februar wurde Patientin nach längerer Kur entlassen. Klara D. hatte weder jemals die Regel gehabt noch irgendwelche Molimina, es handelte sich einfach um ver- späteten Herabtritt der beiden Hoden. Die angeblichen Leistenbrüche veranlagten die operative Entfernung der Gebilde, die sich unter dem Mikroskope als Hoden und Nebenhoden etc. erwiesen, also eine erreur de sexe aufklärten. Zur Zeit der ersten Operation war Klara 13 Jahre alt, zur Zeit der zweiten 16.

2) Henry Avery (Philadelphia Med. and. Surg. Reporter 1808 XIX. 8. pg. 144) entfernte bei einem 24- jährigen aus Xeuschottland stammenden Mädchen, AnnyC. auf dessen Verlangen hin und auf Grund einer Konsulta- tion mit noch zwei anderen Aerzten einen Tumor aus

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einer Leistengegend. Der Tumor erwies sich als Hoden. Allgemeinaussehen, Stimme und Brüste männlich. Die Scheide endete in der Tiefe blind. Kein Uterus getastet. Clitoris zwei und einen halben Cent. lang. Hypospadiasis penoscrotalis mit einseitigem Kryptorchismus.

3) Brycholow [siehe: Garin: Wjestnik Obszczest- wennoj Gigjeny, Ssudebnoj i Prakticzeskoj Mediciny [Russisch] T. XXIX. Kniga II. Februar 1896 und Protokoly Anthropologiczeskawo Obszczestwa 1894 No.: 1 pg. 29 No.: 207.J Die 14jährige Marie X. trat in das Petersburger Marienspital ein wegen doppelseitigen Leisten- bruches. Die operativ aus den beiden Brüchen entfernten Gebilde erwiesen sich als Hoden. Beide hatten in den Schamlefzen gelegen, waren also voll herabgestiegen. Kein Uterus vorhanden, wohl aber neben den großen auch kleine Schamlippen. Die Vulva sah absolut weib- lich aus bis auf die infolge ihres Inhaltes strotzenden Schamlefzen. Während der Operation konstatirte man Erektionen des hypospadischen Penis; zur Zeit der Operation noch keinerlei Geschlechtstrieb vorhanden nach Aussage des Kindes.

4) Briuchano w [Ein Fall von Pseudohermaphroditis- mus masculinus externus Bolnicznaja Gazeta Botkin' a [Kußisch | Petersburg 1899 No.: 44.J Bei einem 14jährigen Mädchen mit absolut normalem weiblichen Ausseheu der Vulva wurde ein doppelseitiger Leistenbruch operiert: die hierbei exstirpierten Gebilde erwiesen sich als Hoden : „Erreur de sexe*. Ich weiß nicht anzugeben, ob diese Beobachtung nicht etwa identisch ist mit der vorher- gehenden, die Jahreszahlen 1894 und 1899 scheinen dagegen zu sprechen.

5) Buchanau (in Glasgow) [Medical Times, 14 February 1885 siehe: Centralblatt für Gynäkologie 1885 pg. 40 1| beschrieb ein 9jähriges Mädchen von knaben- haftem Aussehen. In der rechten Schamlefze tastete er

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ein härtliches, durch einen Strang mit dem Leistenkanale in Verbindung stehendes Gebilde; links der gleiche Befund, nur der Leistenkanal etwas weiter klaffend. Grotte und kleine Schamlippen, Clitoris und Hymen normal, ßuchanan glaubte, es handle sich gleichwohl nicht um ektopische Ovarien, sondern um Hoden und zwar wegen des deutlich ausgesprochenen Cremasteren- reflexes. Bei der Untersuchung sub narcosi fand der Finger eine Vagina von normaler Länge, aber in ihrem Grunde statt einer Vaginalportion eines Uterus ein sagittales Septura, welches den Scheidengrund in zwei seitliche Taschen teilte von je Fingerhutgröße. Jederseits vom Scheideneingange fand Buchanan je eine feine Oeffuung. Er sprach diese Oeffnungeu als Mündungen der Ductus ejaculatorii resp. Vasa dcferentia an. In der Voraus- setzung, die in den Schamlefzen liegenden Gebilde könnten in Zukunft Ursache von Beschwerden werden, s«?ien sie nun ektopische Ovarien oder Hoden, entfernte er sie operativ. Die mikroskopische Untersuchung [siehe auch: Pull mann] ergab, daß es die Hoden waren: man hatte also das Kind, einen verkannten Jungen, kastriert.

<>) Chambers |Transactions of the Obsterical Society of London 1859 eitirt von Munde1] beschrieb ein 24-jähriges Mädchen von weiblichem Allgemeinaussehen, dessen Genitale ebenfalls einen weiblichen Aspectus bot, jedoch war die Scheide in der Höhe von drei Ceutinietern blind geschlossen und keine Spur von Uterus, Tuben oder Ovarien zu tasten. Zwei in den Schamlefzen tast- bare härtliche Gebilde wurden operativ entfernt und er- gaben sich als Hoden. Ob Spermatogenese nachgewiesen wurde, ist nicht erwähnt.

7) Clark |„A case of spurious hermaphroditisnie, hypospadias and undescended testes in a subjeet, who

') Munilr : Centralbl. f. Gyn. 1887. N. 42. f. 671: Va-ina blind endend.

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had been brought up as a female and had been married for sexteen". Lancet 1898. Vol. I pg. 616] beschrieb eine 42-jährige Frau, welche vor 16 Jahren geheiratet hatte und zur Zeit als Witwe in seine Behandlung gekommen war. Die Vulva sah echt weiblich aus, die geräumige Vagina war in der Tiefe blind geschlossen und nichts von inneren Genitalien zu tasten. In jeder Leistengegend eine Anschwellung; die linksseitige sehr druckempfindlich bei der leisesten Berührung Mammae weiblich, Areolae kaum ausgesprochen, Warzen atrophisch. Kehlkopf vorstehend, männlich. Hände groß, Scham- behaarung sehr spärlich, im Gesicht keine Spur männ- licher Behaarung. Vom 12. Lebensjahre an sollen Blutungen aus dem Genitale stattgehabt haben, anfangs unregelmäßig, aber vom 25. bis 38. Jahre regelmäßig aller vier Wochen je 24 Stunden andauernd. Die Frau hatte vor einigen Tagen einen schweren Gegenstand aufgehoben und war sofort von starken Schmerzen in den beiden Leisten befallen worden, es waren plötzlich Leistenbrüche aus- getreten. Clark glaubte, es handle sich um einen Descensus retardatus testiculorum, wurde jedoch in dieser Voraussetzung wieder schwankend angesichts der vonpder Frau betonten regelmäßigen Blutausscheidungen aus dem Genitale. Er wollte also eine solche Genitalblutung ab- warten, die Menstruation: das Warten erwies sich jedoch als vergeblich , so schritt er denn zur beiderseitigen Bruchoperation: es wurde jederseits ein Hoden nebst Samenstrang entfernt, keine Spermatozoiden nachgewiesen. Da die Scheide blind endete und keine Spur eines Uterus zu tasten war, so kann man natürlich nicht anders als mit Unglauben der Angabe der Frau bezüglich jener regelmäßigen Genitalblutungen gegenübertreten, wie denn in der Kasuistik des Scheinzwittertunis so mancher Fall sich findet, wo von dem Individuum die Unwahrheit ausgesagt wurde aus dem oder anderen Grunde. Die

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Frau hatte mit ihrem Manne stets im besten Einvernehmen gelebt. Clark sah keine Veranlassung, dieser Person Mitteilung von der konstatierten Erreur de sexe zu machen, umsomehr als sie seiner Zeit Witwe war.

8) Green [„Hypospadias" Quarterly MedicalJournal 1898 Vol. I. pg. 169]. Ein 24jähriges Dienstmädchen meldete sich mit der Frage, warum die Periode bei ihm noch ausstehe? Die Untersuchung ergab Hypospadiasis peniscrotalis eines männlichen Scheinzwitters mit je einem Hoden in jeder Schamlefze. Trotz Konstatierung der Erreur de sexe wollte das Mädchen absolut nichts von einer Änderung seines bisherigen sozialen weiblichen Standes wissen und verlangte durchaus die Entfernung der beiden Hoden. Green folgte dem Wunsche des Mädchens, voll- zog die Operation de complicite* und schrieb: „The question now arrose, as to what should be done, as the patient in mind and habit is more a woman than a man. and is illegal for him to remain as he is in female attire, „he expressed a desire to have the testicles removed and continue a woman and it seems to me, that is the best Solution of the difficulty". Die mikroskopische Unter- suchung ergab, daß normal funktionierende Hoden entfernt worden waren. Nach Entlassung aus dem Hospital nahm diese Person sehr bald wieder einen Dienst als Dienst- mädchen an. Green hatte dieses Individuum kastriert „at his own urgent request!"

9) G r i f f i t h [„ Hermaphroditismus transversus virilis" Journal of Anatomy and Physiology. January 1894] be- schrieb ein 23jähriges Individuum mit weiblichen Brüsten, weiblichem Möns Veneris und blind endender Scheide. Man tastete in der Beckenhöhle ein Gebilde, das man für einen Uterus ansah mit zwei seitlichen Gebilden und tastete auch zwei Gebilde in den Schamlefzen, die exstir- piert, sich als Hoden erwiesen. Cremasterreflex beider- seits ausgesprochen, aber keine Samenstränge getastet.

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10) Groß [MonthlyJourn.forMedical Sciences. Dezem- ber 1852-Referat: Casper's Vierteljahrschrift 1853 III. pg 208: „Ein Fall von Hermaphroditismus mitCastration*] Osterlen gibt im III. Bande des von Maschka heraus- gegebenen Handbuches der gerichtlichen Medicin (pg 83) folgende Einzelheiten dieses Falles an: Ein dreijähriges Kind, als Mädchen erzogen, verriet schon vom zweiten Lebensjahre an knabenhafte Neigungen und Liebhabereien. Statt einer Clitoris fand sich ein Penis, statt einer Scheide eine seichte mit Schleimhaut ausgekleidete Grube ohne irgend eine Öffnung in der Tiefe. Harnröhrenöffnung normal weiblich, kleine Schamlippen kümmerlich gebildet, jede Schamlefze enthielt ein härtliches Gebilde, einen wohl- gestalteten Hoden. Groll fragte sich, ob es nicht richtig sei, diese Gebilde zu entfernen, welche im geschlechtsreifen Alter Geschlechtstriebe hervorrufen könnten und eventuell eine Verheiratung herbeiführen, aus der nur Kummer und Verdruß resultieren werde, ja sogar der Tod. Dem- gemäß entfernte er im Einverständniß mit den Eltern diese Gebilde, die Hoden und Samenstränge, am 20. Juli 1849 unter Assistenz zweier Kollegen. Diese Organe erwiesen sich als normal gebildet. Von dem Moment der Operation an soll das Kind sein Gebahren geändert haben und fortan nur weibliche Neigungen aufgewiesen haben, die auch nach zwei Jahren noch weibliche geblieben waren. Das Kind macht mit Vorliebe weibliche Hand- arbeiten, reitet nicht mehr auf dem Spazierstocke seines Vaters und spielt nicht mehr mit Knaben. Osterlen unterzog das Vorgehen des amerikanischen Kollegen unter Paragraph 224 D. S. G. der österreichischen Gerichts- ordnung — als „Beraubung der Zeugungsfähigkeit" des deutschen Strafkodex und unter Paragraph 169, welcher Gefängnisstrafe verlangt „für vorsätzliche Veränderung oder Unterdrückung des Personenstandes eines Anderen". C asper verurteilt ebenso das Vorgehen von Groß,

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umsomehr, als jener gar nicht die Sicherheit haben konnte, daß das Kind großjährig werden wird, ob eine Ehe geschlossen und ob sie unglücklich ausfallen werde. Weiterhin könne doch Groß nicht dafür einstehen, daß diese Person, als Mädchen erzogen, sich nicht dereinst mit einem Manne verloben und verheiraten werde. Diese Worte schrieb Österlen im Jahre 1882, heute verfügt die Kasuistik über eine große Reihe ähnlicher, eigentlich unberechtigter Kastrationen, wie des Weiteren gezeigt werden soll.

11) Hallopeau [»Androgyne* Gazette medicale de Paris 1895 N:15 siehe Referat: Centralblatt für Gynäkologie 1895 N:43 pg. 1125]: „Erreur de sexe". Männlicher Scheinzwitter mit Hypospadiasis penoscrotalis> irrtümlich als Mädchen erzogen. Die Scheide ließ einen kleinen Finger eiu, zwei aus den Schamlefzen entfernte Gebilde erwiesen sich als Hoden. Patientin verlangte, nachdem ein Hoden entfernt worden war, auch die Ent- fernung des anderen und daß man sie in einem weiblichen Krankensaale unterbringe. Sowie das Referat lautet, scheint man bereits vor der Operation die erreur de sexe erkannt zu habeu (?)

12) Heuck [siehe: H. Braun: „Ein Fall von Pseudo- hermaphrodittsmus masculinus externus" Aus dem Mannheimer Krankenbause. Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie 1894 Bd. 28. pg. 375— 382J: Ein 28 jäh- riges Dienstmädchen aus der Stadt Nipperg trat im Januar 1893 in das Hospital ein wegen Eiterung geschwollener Halsdrüsen. In letzter Zeit hatten die Inguinaldrüsen so an Volumen zugenommen, daß daraus Arbeitsbehinde- rung resultierte. Man fand einen Leistenbruch und ver- mutete Netz als Inhalt, Am 17. Februar vollzog Heuck die Herniotomie rechterseits und fand in dem Bruche Hoden und Nebenhoden. Da es nicht gelang diese Organe in die Bauchhöhle zurückzudrängen [wozu denn?- - X.J,

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so wurden sie abgetragen. Bei der Operation hatte man auch den Samenstrang gefunden. Linkerseits lag der Hoden noch im Leistenkanale. Da die Extraktion aus demselben nicht gelang, stieß Heuck den Hoden in die Bauchhöhle hinein und vernähte die gesetzte Wunde. Kurz darauf kamen jedoch die Beschwerden linkerseits wieder. Heuck wiederholte linkerseits die Operation und entfernte jetzt auch den linken Hoden. Nach Aus- sage der Mutter der Patientin sollen beide Brüche bereits im ersten Lebensjahre entstanden sein und zwar infolge von Hustenanfällen. Dieses Mädchen hatte bereits mehrere Male mit Männern kohabitiert, aber dabei niemals ein angenehmes Gefühl empfunden. Niemals Menstruation oder Tormina menstrualia. Allgemeinaussehen und ebenso der Gesichtsausdruck weiblich. Langes weibliches Haupt- haar, aber Kehlkopf und Stimme männlich. Mammae mäßig entwickelt, Hände groß. Fast gar keine Scham- behaarung vorhanden. Möns Veneris fettarm, die kärglich entwickelten großen Schamlippen bedeckten nicht die kleinen, Clitoris von normaler Größe, die Harnröhre öffnete sich im Scheidenvorhofe. Keine Prostata zu tasten, Hvmenalreste vorhanden, die Vagina läßt zwei Finger zugleich 7 Centimeter tief ein und endet in der Tiefe blind. Sehr deutlich tastete man ein Ligamentum vesicoum- bilicale medium. Per rectum tastete man etwas wie eine Duplikatur des Bauchfells jederseits von der Mittellinie. Der rechte Hoden war 5 Cent, lang und zwei und einen halben Cent, dick, der Nebenhoden anderthalb Cent, breit. Der linke Hoden makroskopisch einem Ovarium ähnlich war 5 Cent, lang und zwei Cent, breit, der Nebenhoden zwei Cent lang. Vasa deferentia wurden nicht gefunden.

13) Jablonski [Un caso di ermafroditismo BBolletino delle levatrice" 23 Maggio 1893 Anno. I Fascicolo 5 pg. 228]: Die 28jährige Anna Luise G. hatte eine weibliche Erziehung erhalten. Im Alter von 10 Jahren erschien

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bei ihr männlicher Hartwuchs, die Periode aber wurde vergeblich erwartet und kam überhaupt nicht. Die drei Centimeter lange Clitoris wurde sub erectione 10 Cent, lang (!) Die rechte Schamlefze enthielt ein hodeuartiges Gebilde. Vor 8 Jahren hatte man linkerseits eine Hernio- toinie vollzogen und nach Angabe der Patientin damals eine Ovarialektopie konstatiert. Nach Ansicht von Jablonski hatte man den Hoden für ein ektopisches Ovarium angesehen, trotzdem bei der Operation die Ge- schlechtsdrüse bloßgelegt worden war. Ob eine mikrosko- pische Untersuchung der vor H Jahren in Brüssel ent- fernten Geschlechtsdrüse seiner Zeit vorgenommen wurde, ist nicht bekannt. Falls Jablonski wirklich einen Hoden tastete, so dürfte wohl auch jenes ektopische Ovarium einfach ein Hoden gewesen sein.

14. Dixon- Jones |„ Double inguinal Hernia in a hermaphrodite* Medical Record XXXVIII 27. XII. 1890 pg. 724): Die 27jährige Emma M. meldete sich am 2. December 1888 wegen bisheriger Amenorrhoe uud beiderseitigen Leistenbruches, beiderseits sehr stark empfindlich. Weder jemals Tormina menstrualia noch vicariirende Blutungen. Von 7 Schwestern der Patientin sollen zwei ebenso wie sie mißgestaltet sein, bei einer der Schwestern hatte Dr. Webber Maugel des Uterus und Amenorrhoe konstatiert. Allgemeinaussehen, Stimme und Brüste weiblich. Die Schamteile weiblich gebildet, aber wie in der Entwicklung zurückgeblieben. Clitoris kleiner als normal !!!!!!! Scheidenöffnung sehr eng, Hymen vorhanden. Die Scheide endet in der Höhe von zwei Zoll blind. Weder Uterus noch Tuben oder Ovarien getastet per vaginam oder per rectum. Kleine härtliche Gebilde in den beiden Schamlefzen wurden für die ektopischen Ovarien angesehen; sie waren äußerst druckempfindlich und ließen sich nicht in die Bauchhöhle zurückdrängen. Sehmerzen in beiden Leistengegenden.

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Nach Einschnitt in die Schamlefzen fand man keine Kommunikation der Bruchsäcke mit der Bauchhöhle. Man fand nur jederseits je einen bindegewebigen Strang von dem in der Schamlefze enthaltenen Gebilde nach dem Leistenkanale zu verlaufend. Dixon fügte den Bauch- schnitt hinzu, indem er in der Linea alba einschnitt, um sich zu überzeugen, ob er bei Entfernung der in den Schamlefzen enthaltenen Gebilde nicht Organe, welche in der Bauchhöhle liegen, beschädigen würde, fand aber in der Bauchhöhle auch nicht diejSpur von inneren weib- lichen Genitalorganen, sondern nur jederseits einen Binde- gewebsstrang vom Leistenkanal in die Beckentiefe verlaufend. Er schloß also die Bauchwunde und exstirpierte die in den Schamlefzen enthaltenen Gebilde, welche sich als Hoden erwiesen. Das Becken war weiblich. D i x o u - Jones vermutet gleich mir, daß in vielen Fällen von Ovariocele wahrscheinlich Erreurde sexe bestehe, also ein Hoden des männlichen Scheinzwitters, der irrtümlich als Mädchen erzogen wurde, irrtümlich für ein ektopisches Ovarium angesehen wurde. Ich habe die bisherige Kasuistik angeblicher Ovarialektopie bereits gesammelt, jedoch noch nicht die Zeit gefunden, dieselbe einer Kritik zu unterwerfen, jedoch, was noch nicht geschehen ist, wird geschehen, sobald es meine Zeit erlaubt.

DixonJones vollzog in seinem Falle die Kastration, nachdem er zuvor einen diagnostischen Leibschnitt dem beiderseitigen Leistenschnitte hinzugefügt hatte, ähnlich wie auch Snegirjow und Pe*an in je einem Falle.

15. Kociatk iewicz- Neugebauer: Dr. Kociat- kiewicz bat mich für den 13. VII. 1897 zu einem Konsilium betreffend ein junges Mädchen von 21 Jahren, Josephine K. Das Mädchen hatte sich in Begleitung seines Vaters und Bräutigams im Hospital gemeldet und verlangte eine operative Entfernung der Gebilde, welche in den Leisten vorhanden seien und ihm Schmerzen

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bereiten. Allgemeinaussehen weiblich, große, weibliche Brüste, dabei hängend, weibliche Stimme, weibliche allgemeine und Schambehaarung, weiblicherj Charakter und weibliches geschlechtliches Empfinden.

Diese Beobachtung kommt auf Konstatierung einer erreur desexe heraus, bei einem als Mädchen erzogenen und mit einem Manne verlobten männlichen Scheinzwitter von 21 Jahren die Kastration durch Dr. Kociatkiewicz vollzogen ergab normale Hoden mit normalem Sperma. Die Einzelheiten habe ich in meinem Aufsatze im vorigen Jahrgang dieses Jahrbuches bereits veröffentlicht.

16. Lannelongue: [Siehe Fieux: „Anomalie du (teveloppement des Organes genitaux" Journal de Me*decine de Bordeaux 1871 pg.502]. La nnelongue vollzog eine Operation bei einem jungen Mädchen wegen Schamlefzentumors, welchen er zunächst wegen vorhandener Fluktuation für eine Cyste angesehen hatte: es lag auf derselben Seite ein Leistenbruch vor. Zwischen der Cyste und dem Bruchsacke fand sich sub operatione eine Gebilde, das sich unter dem Mikroskop als Hoden erwies, also „erreur de sexe*! Keine Spur eines Uterus getastet. In dem Bruche fand sich auch ein Teil des Omentum majus. Die Operierte genas. Vulva normal, weiblich, ebenso Brüste und Gesichtsausdruck. Niemals Regel, Scheide in der Tiefe blindsackartig geschlossen. Bei Druck auf die Gegenden, wo normal die Ovarien liegen, große Empfindlichkeit.

17. Levy [.Ueber ein Mädchen mit Hoden und über Pseudohermaphroditisinus* Hegaus Beiträge zur Geburtshülfe und Gynäkologie. Leipzig 1901 Bd. IV. Heft III pg. 317 360] beschreibt zwei Beobachtungen von Scheinzwittertum aus der Tübinger Klinik, eine davon betrifft eine von Döderlein an einem Mädchen aus- geführte Castration es wurden die Hoden entfernt durch Leistenschnitt. Die 19jährige Näherin Ch. L.

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trat in die Klinik ein wegen Beschwerden, welche her- vorgerufen wurden durch von ihr bemerkte Tumoren. Bis jetzt hatte Patientin weder jemals die Regel noch auch Tonnina menstrualia gehabt. Als sie 15 und ein halbes Jahr alt war, bemerkte sie zum ersten Male in der rechten Leistenbeuge ein Knötchen von Kirschengrösse, welches damals noch keine Schmerzen veranlasste. In den letzten zwei Jahren jedoch wurde dieser Knoten immer mehr schmerzhaft, gleichzeitig bemerkte Patientin ein ebensolches Gebilde in der anderen Leiste. Endlich wurde Patientin infolge dieser steten Schmerzen arbeitsunfähig, sie hatte früher in einer Druckerei gearbeitet, später als Näherin. Ein von ihr konsultierter Arzt hatte ihr eine Salbe zum Einreiben verschrieben, zugleich aber ihr die Weisung gegeben, sie solle niemanden etwas davon sagen, „dali sie solche Dinger im Leibe habe!" Der All- gemeinzustand der Patientin wurde in der Folge immer schlimmer, Erbrechen trat hinzu, sehr hartnäckige Ver- stopfung etc., endlich gestand die Tochter der Mutter ihr Leiden ein und die letztere veranlasste die Auf- nahme in die Tübinger Klinik behufs Entfernung jener schmerzhaften Gebilde in den Leisten. Das Mädchen ist von großem Wuchs, 168 Centimeter, aber so abgemagert, dal) es nur 84 Pfund wiegt. Knochen und Muskelsystem schwach entwickelt, zart, Haupthaar lang, keine Spur von männlicher Gesichtsbehaarung, Kehlkopf vorspringend, männlich, Brüste gut entwickelt, Becken weiblich wie das Höntgenskiagramm erwies. Jederseits in der Leisten- gegend ein walzenförmiges elastisches Gebilde, verschieblich vom Leistenkanal zur grossen Sehamlefze herabreichend. Diese Gebilde machen den Eindruck von Hoden und Nebenhoden; die linksseitigen Gebilde sind grösser als die rechtsseitigen. Schambehaarung weiblich, grosse und kleine Schamlippen existieren. Die linke grosse Scham- lippe ist 11 Centimeter lang, die rechte nur b\ Das linke

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labiura pudendi majus, pigmentirt, macht wegen seiner runzeligen Oberfläche mehr den Eindruck einer Scrotal- hälfte. Die Gebilde in den Leistengegenden lassen sich aber nicht in die Bauchhöhle hineindrängen. Frenulum labiorum vorhanden. Die kirschengrosse Clitoris erinnert an einen penis fissus rudimentarius. Harnröhrenöffnung weiblich, unterhalb die Öffnung der Vagina von einem Hymenalsaume umgeben. Die rudimentäre Vagina läßt eine Sonde vier Zentimeter tief eindringen. Per rectum tastete man selbst unter Narkose weder einen Uterus noch dessen Anhänge. Döderlein vermutete männliches Scheinzwittertum und entfernte wegen deren Schmerzhaf- tigkeit die in den Leistengegenden liegenden Gebilde am 13. Januar 1901 mit dem Ligamentum Poupartii parallel verlaufenden Hautschnitten von je 5 Centimeter Länge. Nach Durchschneidung der Hautdecken und der Fascie, der Mm. obliqui externi abdominis, eröffnete das Messer jederseits eine Höhle, die nicht mit der Bauchhöhle kommunicierte, die Höhle der Tunica vaginalis. Man fand jederseits Hoden uud Nebenhoden und Vas deferens. Der Samenstrang wurde unterhalb der Oeffnung des Leistenkanals jederseits durchtrennt und der Stumpf in den Leistenkanal in der Wunde versenkt unter Vernähung mit dem Muskelrande, die Hautdecken wurden darüber geschlossen. Prima reunio vulnerum. Die Kranke, ein kastrierter männlicher Scheinzwitter, irrtümlich als Mädchen erzogen, verließ nach einem Monate, von ihren Beschwer- den befreit, die Klinik, um nunmehr als Mädchen weiter zu gelten. Der linke Hoden war 6 Centimeter lang und 2 breit, anderthalb dick, der rechtsseitige Hoden etwas kleiner. Auf dem Durchschnitte typischer Hodenbau sichtbar; man fand aber in der ausgepressten Flüssig- keit keine Spermazoiden aber Wucherung des interstitiellen Gewebes an einen rudimentären Hoden erinnernd. Man fand ferner Spermatogonien, Spermatocyten, cylindrisches

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Epithel des Sanienausführungsganges etc. Nirgends eine Spur von Ovarialgewebe in den exstirpierten Gebilden, deren Schnitte von Professor Heiden haiu geprüft wurden. Die Maße der einzelnen Knochen mit der Tabelle von Rauber verglichen, ergaben männliche Knochenmaße. Die Geschlechtsdrüsen und die Maße der Knochen waren in diesem Falle männlich, alle sekundären Geschlechts- charaktere aber weiblich mit Ausnahme des Kehlkopfes und der Stimme. Der Charakter war weiblich, sympatisch. Die Beschwerden waren oftenbar die Folgen eines ver- späteten Descensus testiculorum. Soweit eine Ejakulation möglich war, hätte dieses Individuum eventuell ein weib- liches Individuum befruchten können.

18) August Martin [siehe: Kochenburger: „Ein Fall von H ermaph roditismus transversus vir i Iis* Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie. Vol. XXVI. pg. 73 und Zentralblatt für Gynäkologie 1892 pg 9S3J operierte eine 33jährige, seit 10 Jahren verheiratete Frau, welche ihn wegen Schmerzen in den Leistengegenden konsultiert hatte. Die Schmerzen waren zunächst linkerseits aufgetreten und zwar im Anschluß an einen Fall im 12. Lebensjahre. Niemals Regel, nur ein einziges Mal im 25. Lebensjahre eine kleine Blutung. Coitus stets schmerzhaft und ohne die geringste Annehm- lichkeit für die Patientin. Allgemeinaussehen ganz weib- lich. Clitoris normal, Vagina 5 Cent, lang, blindsack- förmig endend. Per rectum tastete man ein elastisches Gebilde von Haselnußgröße, welches aber in keiner Ver- bindung mit der Vagina zu stehen schien. In jeder Schamlefze lag ein sehr druckempfindliches Gebilde. Martin sah diese Gebilde für ektopische Ovarien an und entfernte sie operativ mit jederseitigem Leistenschnitte am 24. September 1892. Das Mikroskop erst erwies, daß er unbewußt Hoden entfernt hatte, daß also diese verheiratete Frau ein männlicher Scheinzwitter war. Keine

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Spermatogenese konstatiert in den herausgeschnittenen Hoden.

Martin glaubte auch nach der Operation zunächst ektopische Ovarien exstirpiert zu haben und zwar follikelhaltige, ja, er glaubte sogar an einer Stelle ein corpus luteum gesehen zu haben; erst das Mikroskop wies nach, daß sowohl die klinische Präsurnptivdiagnose falsch war als auch die makroskopische Beurteilung des anatomischen Charakters der exstirpierten Geschlechts- drüsen.

19) A. Martin |siehe: Anton Hengge: „Pseudo- hermaphroditismus und secundäre Geschlechtscharaktere, ferner drei neue Beobachtungen von Pseudohermaphro- ditismus beim Menschen"] operirte die 19jährige Martha W., Hausmädchen dem Berufe nach. Die Eltern hatten (3 Kinder, von denen die vier mittleren normal gebildet waren, zwei Töchter aber, die älteste jetzt 32 Jahre alt, und die jüngste jetzt 19 Jahre alt, mißgestaltet. Der Vater starb an Starrkrampf. In der Familie bisher keinerlei Mißbildungen verzeichnet. Von den drei Schwestern sind drei verheiratet und haben Kinder, ein Bruder, verheiratet hat ebenfalls Nachkommenschaft. Martha VV. ist von sehr hohem Wüchse (178 Centimeter) und wurde von der Krankenkasse am 28. I. 1902 in die Greifs walder Klinik gesandt. Seit dem 14. Lebensjahre hatte sie alle 4 Wochen 1 Tag Kopfschmerzen, Schwindel, Brechreiz und bis Oktober 1901 bei diesen Anfällen regelmäßig etwas Nasenbluten. Seit vier Monaten treten diese Anfälle alle 8 Tage auf und sind so sehr quälend, daß Martha nicht mehr arbeitsfähig war. Das Nasenbluten hat sich seit vier Monaten verloren. Niemals menstruelle Blutung. Patientin hat keine andere Krankheit bisher durchgemacht als Bleichsucht im 15. Jahre.

Das Gesicht rötet sich auffallend leicht. Mammae gut entwickelt, aber hängend. Wenig Fettgewebe, aber

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viel Drüseugewebe darin. Auffallend ist, daß die Be- haarung des Möns Veneris und in den Achselhöhlen nur aus wenigen blonden Haaren besteht. Die Besichtigung der äußeren Genitalien erinnert an das Bild einer doppelseitigen Leistenhernie, wobei die rechts- seitige etwas größer ist als die linksseitige, sonst ist die Bildung der Schani eine echt weibliche. Möns Veneris fettarm, Clitoris absolut nicht vergrößert, ihre Glans kaum etwas entblößt. Die Vulv aerscheint geschlossen, die kleinen Schamlippen enden nach unten zu an dem auffallend kurzen Damm. Das rechte Labium majus erscheint als hühnereigroßer Wulst, in dem man einen pflaumengroßen elastischen ovalen Körper tastet, dem von untenher ein zweites festeres Gebilde von Kastanien- größe anhaftet: von diesen Ge- bilden, die gleich gut nach oben und nach unten zu verschieblich sind, zieht ein etwa zwei Milli- meter dicker , Strang in den Leistenkanal hinauf. Das linke

Labium majus kleiner, nicht so „.

.. ... . Fi£. 1. 19 lahnges Mädchen,

vorgewölbt, linkerseits findet 8ub iierni0tomia als männ- sich dicht unterhalb der Mün- licher Scheinzwitter erkannt, dung des Leistenkanales ein

wenig unter der Haut verschiebliches, unebenes Gebilde von der Größe einer welschen Xuß. Auch hier läßt sich ein gegen den Leistenkanal hin verlaufender Strang tasten,

Jahrbuch V.

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wenn mau diese Gebilde etwas nach unten horabdräugt. Die beiden Gebilde rechts und links sind mäßig druck- empfindlich. Vestibulum vaginae normal, sowie auch die Urethralmündung, Hymen und die Vaginalöffnung; Hymen nicht eingerissen, aber deflorirt; die Scheide lätft zwei Finger zugleich ein und ist in der Höhe von einigen

Fig. 2. ÄuUore Genitalien oines 1<J jiibr. als Mädchen erzogenen männlichen Schein/, witters. Beobachtung von A. Martin.

Centimetern blind geschlossen ; man fühlt im Scheidengrundu etwas wie eine Art querverlaufender Raphe. Mündungen von Vasa deferentia nicht aufzufinden. Per rectum tastet man sub narcosi nur einen Strang von der Dicke eines dünnen Bleistiftes, etwa zwei Zentimeter über dem Scheidengrunde. | Siehe Fig. 1 u. 2.]

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Nach diesem merkwürdigen Befunde wurde auch die allere Schwester untersucht: 32 Jahre alt und seit 9 Jahren kinderlos verheiratet und niemals menstruirt. Allgemeinaussehen und Entwickelung der Geschlechts- organe fast genau so wie bei der jüngeren Schwester. Kräftiger Knochenbau; Körperhöhe 169 Zentimeter; schlechter Ernährungszustand. Im rechten Labium majus Gebilde getastet, die sich genau wie Hode und Neben- hode präsentieren, links liegt ein Gebilde vor der Oeff- n ung des Leistenkanales, ist aber kleiner als das entsprechende bei der jüngeren Schwester und läßt sich iu den Leisten- kanal hineinschieben. Scheide in der Höhe blind geschlossen ; im Scheidengrunde etwas wie eine schräg verlaufene Raphe zu tasten; keine inneren Geschlechtsorgane tastbar. Die ältere Schwester klagt nur ab und zu über Kopfschmerzen und Schwindel, ist sonst ganz gesund. Sie übt den Beischlaf nicht gerade oft, aber regelmäßig aus und eigentlich mehr dem Manne zu Gefallen als um des eigenen Vergnügens willen, doch empfindet auch sie manchmal dabei Befriedigung und sexuelle Wollust. Irgend welche Sekretausscheidungen niemals bemerkt. Wegen andau- ernder Allgemeinbeschwerden und großer lokaler Schmerz- empfindlichkeit der in den Labien enthaltenen Ge- bilde entfernte A. Martin dieselben operativ bei der jüngeren Schwester. Nach Längsspaltung des rechten Labium entfernte er dessen Inhalt nach Unterbin- dung und Durchschneidung jenes Stranges unterhalb des Leistenkanales: Etagennaht der Wunde: prima reunio; ähnlich war die Operation linkerseits. Die entfernten Gebilde erwiesen sich unter dem Mikroskop als Hoden und Nebenhoden, es wurde aber keine Spermatogenese konstatiert. Diese Organe waren atrophisch. Linkerseits fand sich eine Cyste im Kopfe des Nebenhodens, sein Schwanz war fibrös entartet. Am 21. II. wurde Martha W. geheilt entlassen. Während des Aufenthaltes in der

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Klinik traten die Wallungeu nach dem Kopfe noch wiederholt auf, dagegen stellten sich die sonstigen Allgemeinbeschwerden nicht mehr ein. Rechterseits fand man am Präparate auch ein Stück eines Yas deferens. Ks ergab sich also, daß Martha W. ein männlicher Scheinzwitter war; per analogiam wurde auch die ältere verheiratete Schwester jetzt für einen männlichen Schein- zwitter angesehen; sie wurde nicht operiert, da keine Beschwerden entsprechender Art vorlagen. Trotz Gegen- wart von Hoden waren alle secundären Geschlecht «- charaktere bei beiden Schwestern rein weibliche, auch die Stimme war weiblich, es fehlte jede Spur männlicher Gesichtsbehaarung. Beide hielten sich für Frauen und hatten keinen ausgesprochenen Begattungstrieb und wohl auch kein normales Wollustgefühl, doch ließ sich bei der älteren Schwester durch Reibung der Clitoris Wollust- gefühl wecken; die jüngere Schwester machte dabei unregelmäßige Angaben, zeigte aber ein gut ausgeprägtes Schamgefühl. Eigentümlich sind bei der jüngeren Schwester die allmonatlich auftretenden speeifisch weiblichen Be- schwerden: Kopfschmerz, Schwindel, Wallungen. Heugge erklärt sich diese Beschwerden als auf suggestivem Wege entstanden. Martha lebte mit einer vier Jahre älteren noch unverheirateten Schwester längere Zeit ständig zusammen. Jene Schwester litt au Dysmenorrhoe und klagte dabei alle vier Wochen über starke Molimina, Unterleibsschmerzen etc. Die jüngere Schwester erwartete, sie werde auch die Regel bekommen und fing an ähnliche Tormina zu empfinden, indem ihre Gedanken ständig darauf gerichtet waren, daß die Periode endlich kommen werde. Mir erscheint diese suggestive Deutung etwas gewagt: weil die ältere Schwester dysmenorrhoische Beschwerden angab, die jüngere Schwester stets Zeugin dieser Leiden war, soll sie selbst ähnliche Beschwerden empfunden haben ! 1 1 e n gge macht unter anderen folgende

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Schlußfolgerung: »Die operative Entfernung der Ge- schlechtsdrüsen bei Scheinzwittern ist nur dann statthaft, wenn durch dieselben starke Beschwerden verursacht werden und zugleich eine volle geschlechtliche Funktion dieser Drüsen durch den Mangel der entsprechenden Begattungsorgane unmöglich gemacht wird." In dem Aufsatze von Hengge fehlt eine Angabe, die mich interessieren würde. Ich wünschte zu wissen, ob Professor Mart in zur Operation schritt mit der Überzeugung, daß jene Körperchen Hoden seien oder ob man an ektopische Ovarien gedacht hatte, ob die Diagnose der erreur de sexe schon vor der Operation gestellt war, oder erst nach der Operation, bez. nach der mikroskopischen Unter- suchung der entfernten Gebilde?

20) Cristopher Mar t in [The British Gynaecological Journal. Part. 37. May 1894. pg 35j trug am 8. III. 1894 in der Britischen Gynäkologischen Gesellschaft einen Fall vor, welcher beweist, wie ungemein schwierig unter Um- ständen eine richtige Geschleohtsbestimmung sein kann. Ein 20 jähriges Kindermädchen, niemals menstruiert, hatte sich vor 12 Monaten wegen rechtsseitigen Leistenbruches einer Radikaloperation unterzogen. Die Operation war mit bestem Erfolge von einem anderen Arzte gemacht worden. Jener Arzt fand in dem Bruche ein Gebilde, welches er für ein ektopisches Ovarium ansah und in die Bauchhöhle zurückstieß. Im Januar 1894 war nun auch linkerseits ein Leistenbruch entstanden. Diesmal kam die Patientin nicht zu dem früheren Arzte, sondern zu C h r i st o p h e r Martin und zwar sowohl wegen Schmerzen in der Leiste als auch beunruhigt durch die bisherige Amenorrhoe. Gesichtsausdruck, Stimme und Brüste weib- lich, auch das Allgemeinaussehen weiblich, keine Spur männlicher Behaarung im Gesichte. Möns Veneris aus- gesprochen, aber ohne Spur von Behaarung, ebenso die ganze Schamgegend unbehaart. In der rechten Leisten-

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gegend sieht man eine postoperative Narbe ohne Spur. Reeidiv eines Bruches. Linkerseits in der Leistengegend ein ovaler nicht sehr harter sehr druckempfindlicher Tumor. Dieser Tumor lag direkt vor der äußeren Öffnung des Leistenkanales, war irreponibel und schien ein solider Tumor zu sein. Das äußere Genitale dieser Person sah genau aus wie dasjenige einer Nullipara, Große und kleine Schamlippen regelrecht gebildet, Clitoris von natür- licher Größe, keineswegs einem Penis ähnlich! Harnröhren- Öffnung weiblich. Die Scheide ließ nur eine Fingerkuppe ein, indem sie in der Höhe von dreiviertel Zoll blind abschloß. Keine Spur von Uterus zu tasten. Harnröhre anderthalb Zoll lang, ohne Spur einer Prostata. Zwischen Finger und Katheter in Vesica tastete man keinerlei Ge- bilde, die als Uterus oder Prostata gedeutet werden kounten. Martin entschloß sich zur Exstirpation des Leistentumors wegen der großen durch seine Gegenwart verursachten Schmerzen. Der Leistenschnitt wurde ge- macht; man fand einen serösen Sack, der ein solides Ge- bilde enthielt, einen ovalen Körper, man fand den Hoden mit seiner Tuuica vaginalis testis. Ein deutlich sichtbares Gubernaculum Hunteri verlor sich unterhalb in den Geweben der Schamlefze. Nach Isolierung entfernte Martin den Hoden. Der durch den Leistenkanal in die Bauchhöhle eingeführte Finger tastete in derselben keine Spur eines Uterus, konnte aber den Verlauf eines Vas deferens bis an die Seiten wand der Harnblase ver- folgen. Dieser Verlauf ließ sich leicht kontrollieren, wenn man den Samenstrang etwas nach außen zu anzog. Die Operation wurde radikal vollzogen, die äußere Wunde vernäht. Genesung. Professor Allan fand bei mikro- skopischer Untersuchung in den entfernten Gebilden den Hoden, Nebenhoden und Samenstrang, die Tunica vaginalis testis und Tunica albuginea, Samenkanälchen von ver- schiedenen Entwickelungsgraden und in einigen Tubuli

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vollständig ausgebildete Spermatozoiden. Interessant war besonders, daß eine ältere Schwester dieses Mädchens sich gleichfalls als männlicher Hypospade erwies mit Hypo- spadiasis penoscrotalis, descensus retardatus testiculorum, rudimentärer Scheide bei allgemeinem weiblichem Körper- aussehen, kindlich gebildeten Brüsten und absoluter Amenorrhoe, völlig unbehaarten Genitalien und blind endender Scheide. Diese Schwester war zwei Jahre älter. Der Vater dieser beiden Mädchen war zur Zeit der Schwängerungen seiner Frau geisteskrank . . Die von Christopher Martin vollzogene Operation wies also eine „erreur de sexe" nach und ist diese Beobachtung besonders dadurch interessant, daß der Arzt, welcher die erste Bruchoperation hier vollzogen hatte, sogar nach Bloßlegung des Hodens ihn doch noch für ein ektopisches Ovariura gehalten hatte, welches er in die Bauchhöhle zurückstieß. Ein Fall, der wie aus meinem heutigen Beitrage ersichtlich ist, durchaus nicht einzig dasteht und zur größten Zurückhaltung in der sofortigen Be- urteilung des anatomischen Charakters der exstirpierten Gebilde sub operatione auffordert!

|Paul Munde* hatte in einem eigenen Falle der Köchin Marie O' Xeill eine diagnostische Incision der Schamlefzen vorgeschlagen um festzustellen, ob die in ihnen getasteten fremden Gebilde Ovarien oder Hoden seien, indem er Hoden vermutete. Patientin ging jedoch auf diese Operation nicht ein. Sie war niemals menstruiert gewesen, und hatte einen beiderseitigen Leistenbruch. Nach Reduction eines jeden Bruches tastete man jederseits Hoden, Nebenhoden und Samenstrang. Hymen intakt* Scheide in der Höhe von 8 Zentimeter blind geschlossen, keine Spur von Uterus getastet. Vulva normal, Clitoris nicht vergrößert.]

21) Pech („Auswahl einiger seltener und lehrreicher Fälle, beobachtet in der chirurgischen Klinik der chirurg.-

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med. Akademie zu Dresden* Dresden 1858) Maria Rosina Göttlich, der spätere Gottlieb Göttlich, machte seiner Zeit in ganz Europa viel Aufsehen und wurde deshalb vielfach beschrieben. Da ich im vorigen Jahrgange dieses Jahrbuches die bezügliche Krauken- geschichte in extenso berichtet habe, führe ich hier nur die heute in Frage kommenden Einzelheiten an. Maria Rosina wurde am 6. März 1798 in Görlitz geboren und als Mädchen getauft. Bereits im 6. Lebensjahre fand man einen Leistenbruch von der Größe einer Nuß rechterseits. Das Kind vertrug ein ihm verordnetes Bruchband absolut nicht und riß es stets wieder herab, sodaß die Mutter statt desselben eine Leinenbinde anfertigte. Im IG. Jahre war der Bruch hühnereigroß geworden, gleichzeitig hatte sich schon damals ein stark ausgesprochener Geschlechts- trieb eingestellt und zwar als Neigung zum Geschlechts- verkehr mit Männern. Vom 16. 18. Jahre nahmen die Brüste ganz bedeutend an Umfang zu, später trat wieder Schwund ein. Rosina kohabitierte schon im IG. Jahre lebhaft mit Männern, wobei die allmälig bedeutend erweiterte Harnröhre die Stelle der fehlenden Scheide vertrat. Gleichzeitig rühmte sich das Mädchen, daß es sowohl mit Männern als auch mit Frauen kohabitieren könne, ziehe es jedoch vor mit Männern zu tun zu haben, weil es Frauen gegenüber für sie beschämend sei, ein so kleines Organ " zu haben. Im 20. Lebensjahre entstand ein Leistenbruch links. Für den rechtsseitigen Bruch empfahl abermals ein Arzt ein Bruchband. Vom 16. 24. Jahre hatte Rosine alle Monate etwa drei Tage lange diverse Beschwerden nach Art der Tormina meustrualia, allgemeines Mißbehagen, empfand jedoch während dieser Zeit keinerlei Schmerzen in den Leistenbrüchen, ebenso- wenig schwollen in jenen Tage die Brüche an, woraus man vielleicht auf ektopische Ovarien hätte schließen können. Niemals war die Periode eingetreten, wohl

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aber öfters Nasenbluten. Rosine huldigte viele Janre lang der freien Liebe und erkrankte im 28. Jahre an einem Ulcus molle; eine große Narbe hinterblieb nach einem eröffneten Bubo inguinalis. Damals will Rosine zum ersten Male Blutspuren auf ihrer Wäsche nach einem Beischlafe mit einem Manne bemerkt haben. Der links- seitige Bruch begann vom 28. Jahre an sich so zu ver- größern, daß er im 32. Jahre beinahe zweifaustgroß war. Rosine diente damals als Dienstmädchen, hatte aber jetzt so starke Bruchbeschwerden, daß sie den Dienst aufgeben und in das Hospital eintreten mußte. Man vollzog in Dresden linkerseits die Bruchoperation, fand jedoch weder Netz noch Darm im Bruche vor, sondern nur eine Hydrocele und konstatierte dabei das Vorhanden- sein eines Hodens in dem vermeintlichen Bruche, also „erreur de sexe*. Rosine verlangte nun durchaus die Ausführung der Operation recht erseits: die Aerzte verweigerten jedoch diese Operation, weil keine Indikation dazu vorliege. Rosine nahm nun ihren Dienst wieder auf und ergab sich auch von Neuem wieder der Prosti- tution. Im 33. Jahre trat sie wegen Verstauchung eines Beines abermals iu das Dresdener Hospital ein und machte jetzt hier eine autisyphilitische Kur durch, später ging sie in ein Hospital nach Leipzig, endlich nach Halle mit der Bitte, man solle den rechtsseitigen Bruch operieren, wurde aber Uberall abgewiesen. Von 1832 bis 1848 reiste nun Rosine in Frankreich, Deutschland und England umher und zeigte sich für Geld als Hermaphrodit bis sie schließlich im 59. Jahre infolge Einklemmung des nicht operierten rechtsseitigen Bruches starb. Das Allge- meinaussehen dieses männlichen Hypospaden war ein rein männliches, auch die Gesichtsbehaarung, nur war das Haupthaar weiblich gekämmt Andromastie mit behaarten Biustwarzen, der hypospadische Penis war anderthalb Zoll lang, mit faltiger, gerunzelter Vorhaut. In der linken

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Hälfte des gespaltenen Scrotum fand man bei der Sektion Hoden, Nebenhoden und Samenstrang, rechterseits die gleichen Gebilde, ferner einerseits einen Leistenbruch mit Darminhalt. Hodensack sehr spärlich behaart. Die Scheide, an der Mündung von einem harten Ringe umgeben, endete in der Höhe von sechs und einem halben Centi- raeter blind. Nur auf der hinteren Scheiden wand fand man Querfaltung ihrer Schleimhaut, auf der vorderen aber nicht. Pubes weiblich behaart; es scheint, daß für den Beischlaf ausschließlich die Harnröhre gedient hat, vielleicht war das als Vagina angesprochene Gebilde eine durch langjährigen Beischlaf künstlich geschaffene kanal- artige Depression, Einstülpung der Gewebe, wie dies in analogen Fällen schon öfters beobachtet wurde. In den verschiedenen Beschreibungen der Rosine, des späteren Gottlieb Göttlich, finden sich so viele Widersprüche, daß es schwer ist zu sagen, was der Wahrheit am nächsten kam. Der rechte Hoden war bei dem krvptorchistisch geborenen Individuum im 6. Jahre herabgetreten, der linke im 20. erst. Nach Eröffnung der Bauchhöhle fand man nichts von Uterus, inneren weiblichen Genitalien, sondern nur eine leere Excavatio rectovesicalis. Man fand auch keine Samenblasen; die ektatischen Vasa deferentia öffneten sich in die klaffenden Ductus ejaculatorii (?— N.). Marie Rosine hatte wie gesagt einen sehr früh schon aufgetretenen und sehr stark ausgesprochenen Geschlechts- drang. Trotzdem sie Erektionen und Ejakulationen hatte, verkehrte sie viel lieber geschlechtlich mit Männern als mit Frauen. Das geschlechtliche Empfinden war also homosexuell. {Bezüglich Einzelheiten und Abbildung siehe nieinen Aufsatz in vorigem Jahrgange dieses Jahrbuches: Gruppe VI Fall 21 und Figur 40 daselbst.] 22) Philip pi [Note sur uu cas d'Hermaphrodisme apparent, ectopie testiculaire, castration double Union Medicale du Canadu. Montreal 189-t No. 4G Referat:

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Zentralblatt für Gynäkologie 1894 No. 47 pg. 1212]. Ein 2^-jähriges nie raenstruiertes Mädchen wandte sich an Philippi wegen Schmerzen im Leibe und den Leisten. Schon vor 10 Jahren hatte Patientin einen Tumor in der rechten Leiste bemerkt, welcher ihr zeitweilig Beschwerden gemacht hatte und an Grösse und Konsistenz sehr wech- selte. Gewöhnlich war der Tumor weich, stellten sich aber Schmerzen ein, so fühlte er sich hart an. Gleich- zeitig wurde dann ein Gefühl von schmerzhaftem Zuge in der Leiste empfunden. Vor einigen Monaten war nun ein ähnlicher aber kleinerer Tumor auch linkerseits erschienen. Diesen Tumor konnte Patientin eigenhändig nach oben zu reponieren, beim Gehen fiel er aber sofort vor in die linke Schamlefze. Seit drei Jahren hatten die Schamlefzen sich stark vergrössert und strahlten die Schmerzen auch in den Schenkel und die Hüfte aus. Selbst im Bett hatte die Kranke keine Linderung und konnte nicht schlafen. Es kamen allgemeine nervöse Reizbarkeit, Erbrechen etc. hinzu.

Allgemeinaussehen, Brüste und Stimme weiblich, aber Körperbau sehr kräftig. Die grossen Schamlefzen, gut entwickelt, sind in ihrer unteren Hälfte in der Aus- dehnung von 8 Centimern miteinander verwachsen, sodaß der Damm ganz auffallend lang erscheint, dabei 5 Centi- meter breit. Die kleinen Schamlippen sind nur in ihrer unteren Hälfte entwickelt, die Clitoris ausnehmend groß. Die Schamöftnung ist so eng, daß sie knapp den kleinen Finger eintreten läßt und zwar nicht tiefer als 3 Centi- meter weit. Die Hamröhrenöffnung erscheint verborgen unterhalb einer Schleimhautfalte in dem Vestibulum vaginae. Von einem Uterus war nichts zu tasten, die in der Höhe blindsackartig abgeschlossene Scheide weist keine Faltung ihrer Schleimhautwände auf. Der in der linken Schamlefze enthaltene Tumor läßt sich in den Leistenkanal hinein und in die Bauchhöhle reponieren, er bestand aus einer oberen elastischen und einer unteren

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weichen Partie. Dämpfung bei Perkussion. Der rechts- seitige gänseeigroße Tumor läßt sich bis auf den Boden der Schamlefze herunterdrücken, er erscheint elastisch und wie durch eine Einschnürungsfalte in zwei Teile zerlegt, sehr druckempfindlich bei Berührung und nicht reponibel. Philipp! entfernte zunächst den rechtsseitigen Tumor: der dicke Bruchsack wurde reseciert. Der kleine Tumor war von einer hufeisenförmigen durchsichtigen ( 1yste bedeckt von oben her, sein Stiel war dick. Schon nach einem Monate kehrte die Patientin zu Philippi zurück und verlangte nunmehr auch die Entfernung der links- seitigen Geschwulst, welche ihr jetzt auch lästig falle. P. fand bei der Operation einen Tumor von der gleichen Größe wie rechterseits durch eine Art Einschnürung wie zweigeteilt; die obere Hälfte entsprach dem Nebenhoden, die untere dem Hoden mit dessen Tunica albuginea. Auf dem Querschnitt des Präparates sieht man den Bau des Hodens. Das Mikroskop bestätigte diese Erkenntnis, wenn auch keine Spermatozoiden gefunden wurden. Es handelte sich also hier um Hypospadie des Penis, teil- weise Spaltung der Scrotum, Vorhandensein einer rudi- mentär gebildeten Vagina, und |Descensus retardatus testiculorum, bei allgemeinem weiblichen Aussehen und weiblichen secundären Geschlechtscharakteren, wo das Individuum an und für sich auch nicht den leisesten Verdacht einer „Erreurdesexe* weckte. Erst das Er- gebnis der Operation stellte die „Erreur de sexe" fest.

23) Charles T. Poore [siehe : F. S. M a t h e w s : „A male Pseudo- Hermaphrodite" -The Medical Uecord 27. Mai 1809 pg. 704] operierte im Januar 1902 ein zwölf jähriges Mädchen und entfernte eine angeblich ent- zündete Leistendrüse. Dieselbe lag linkerseits dicht vor der äußeren Otfnung des Leistenkanales. Im Jahre 1899, also nach sieben Jahren, wurde diese damals exstirpierte Drüse von Mathews mikroskopisch untersucht und jetzt

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in der Ärztlichen Gesellschaft demonstriert. Die Unter- suchung ergab, daß diese Drüse ein Hoden war. Nicht ohne große Schwierigkeiten gelang es Mathews, dieses Mädchen jetzt aufzusuchen und die Genehmigung zu einer Untersuchung zu erlangen.

Die äußeren Genitalien sahen absolut wie die nor- malen Geschlechtsteile eines Ii) jährigen Mädchens aus, es fand sich aber keine Spur von Behaarung der Geschlechts- teile, eben so wenig fand sich im Gesicht männliche Be- haarung. Scheide einen und ein Viertel Zoll lang. Keine Spur von Uterus oder Prostata zu tasten; der rechtsseitige Hoden wurde nicht gefunden, dürfte also wohl in der Bauchhöhle liegen. Hvpospadiasis penoscrotalis mit ein- seitigem Kryptorchismus.

24) Porro |siehe D ebi err e: „L'Hermaphrodisme." Paris 1891 pg. 94) vollzog in einem Falle zweifelhaften Geschlechtes bei einem jungen Mädchen von 22 Jahren eine diagnostische Operation. Allgemeinaussehen absolut weiblich, ebenso das Aussehen der Scham bis auf zwei in den Schamlefzen enthaltene Gebilde, welche hart waren und dicht unterhalb der äußeren Öffnungen der Leisten- kanäle lagen. Porro schnitt jede Schamlefze auf und legte Hoden und Nebenhoden bloß. Nach zwei Wochen verließ das bisherige Fräulein hochbeglückt von dem Ergebnis dieser Operation in männlichen Kleidern dieKlinik.

25) Pozzi |„Sur un Pseudo-hermaphrodite androgy- uoide: Pretendue femme ayant de chaijue cot«' un testi- cle, un epididyme (ou trompe*?) kystitjue et une corne uterine rudimentaire , ä gauche formant hernie dans le canal inguinal. Cure radicale, examen microscopique",

Acadämie de Mddecine, 28. Juillet 189«», Annales des maladies des organes gonito-urinaires. Jan vier 1897 Xo. 1. pg. <V2 74. | Das Eigentümliche dieser Beobach- tung liegt darin, daß das Allgemeinaussehen der Person,

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die secundären Geschlechtscharaktere durchweg weiblich waren, aber ebenso das Aussehen' der Vulva undfzwar ohne die sonst bei männlichen Scheinzwittern mit peno- scrotaler Hypospadie so auffallende Disproportion zwischen der übergrossen Clitoris bei sonst in Miniatur angelegter

Fig. 3. Vulva des von S. Fozzi operierten SS jährigen männlichen Scheinzwitters Marie C. ohne Spur von GUtorishypertrophie | Nymphen

vorhanden |.

Vulva. In diesem Falle konnte niemand männliches Geschlecht auch nur vermuten, erst das Mikroskop brachte Klarheit in die Frage. Die SB-jährige Stubenmagd Marie C. war als drittes Kind ihrer Kitern geboren worden. Als die Mutter sich im dritten Monate der Schwangerschaft befand, erschrak sie einmal sehr, als

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sie zufällig davon Zeuge war, „qu' un homme fut ecrasc". Von jenem Schreck an war sie ständig krank. Ein Bruder von Marie C. leidet an infantiler Paralvsis, sonst ergab die Anamnese bezüglich der Familie nichts von Belang. Marie C. war bisher niemals ernstlich krank gewesen, im zweiten Lebensjahre mußte sie ein linksseitiges Leisten- bruchband tragen. Vom 12. Jahre an oft Nasenbluten, zuweilen mehrmals an einem Tage, einmal sogar 12-malig innerhalb 24 Stun- y den; diese Blutun- gen wiederholten sich niemals länger als zwei Tage nach der Reihe, sie wie- derholten sich aber allmonatlich in ge- wissen Zeitabstän- den. Diese Blutun- gen wurden begleitet von Schmerzen in der Lendengegend, dem Unterleibe und den Beinen, dem Ge- fühl von Hitze, Atemnot und Kopf- schmerz. In dem- selben Jahre traten

die Erscheinungen der erreichten Geschlechtsreife auf, die Behaarung des Möns Veneris und Stimmbruch. Im 14. Jahre trat einmal während jener praemen- strualen Beschwerden ein dreimaliger Anfall von Som- nambulismus ein mit nächtlichem Herumspazieren im Hause. Die Nasenblutungen samt dem gesamten Komplex der Geleiterscheinungen dauerten bis zum 22. Jahre. In diesem Jahre erkrankte Marie C. an fieberhaftem

c

Fig. 4. Linkes Uterushorn und Hoden (sub herniotoraia entfernt) der 33 jähr. Marie C. T = Testikel, U = Uterushorn, C = Stumpf, V, V Tunica vaginalis. Ansicht von hinten.

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poharticulärem Gelenkrheumatismus aber ohne Komplika- tionen von Seiten des Herzens. Im 30. Jahre stellte sich ein Rückfall dieses Leidens ein mit Schmerzen in Bauch und Lenden.

Vom Januar 1895 bis Juni wiederholten sich 3 4 mal Blutungen aus dem Mastdarme bei Verstopfung. Obwohl die Xasenblutungen seit dem 22. Jahre sich ganz verloren hatten, so litt Marie C. doch alle Monate an Lenden- schmerzen, Gefühl von Hitze im Unterleibe. Im 22. Jahre wurde sie zum ersten Male untersucht und zwar wegen der Amenorrhoe und jenen periodisch sich wiederholenden

Fig. ~>. Linkes Uterushorn und Hoden (Fall S. Pozzi). Ansicht von vorn.

Kongestionserscheinungeu. Damals erklärte ein Arzt, Marie sei ein geschlechtsloses Wesen ! Marie C. ging infolge dessen zu Dr. Siredey, welcher den Mangel eines Uterus konstatierte. Schon im 15. Jahre hatte Marie bemerkt, daß sich in ihrer linken Leiste eine Geschwulst von Hühnereigröße befinde, es war dies eiu mobiler Leistenbruch, reponibel. Im 23. Jahre trat ein ebensolcher Tumor rechterseits in der Leiste auf. Von Zeit zu Zeit wurden beide Brüche schmerzhaft und zwar nur für 2 3 Tage und zwar nur wahrend der obenge- nannten Kongestionserscheinungen. Die Brüche setzten

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M arie so zu, daß sie dieselben durchaus loswerden wollte. Sie ging im Januar 1895 zu Dr. Landrieux um sich untersuchen zu lassen zwar, weil ein junger Mann um sie angehalten hatte. Sie wollte wissen, ob sie heiraten könne, da ihr jemand gesagt habe, sie müsse ihren Freier von ihrem Zustande in Kenntnis setzen. Landrieux riet ihr in das Hospital einzutreten: Am 6. Juni 1895 wurde sie hier untersucht von Beaussenat, Boncour und später von Pozzi. Körperhöhe mittelgroß, Körperbau kräftig, langes weibliches Haupthaar, leichter Anflug männlicher Gesiclitabehaarung, Kinn behaart, Hals kurz, Kehlkopf nicht hervortretend, Brustumfang über die Mammae gemessen 94 Centimeter, ober und unter- halb 69 Centimeter. Mammae groß, gut entwickelt mit Drüsensubstanz, Becken breit, weiblich, Linea alba unbe- haart, Atmungstypus männlich, abdominal. Stimme und Konturen der Extremitäten weiblich. Scharabehaarung äußerst dürftig, kaum hier und da einige blonde Härchen auf dem Möns Veneris und den Schamlefzen. Perineal- gegend gänzlich unbehaart. Die sehr große linke Scham- lefze bedeckt teilweise die kleinere rechte und enthält ein frei verschiebliches taubeneigroßes Gebilde, elastisch und einem Hoden ähnlich anzufühlen, von diesem Gebilde zieht eine Art Strang nach unten herab zu dem Boden der Schamlefze. Ein Strang zieht auch nach oben hin gegen den Leistenkanal und weist an einer Stelle eine druckschmerzhafte Verbreiterung auf; der erweiterte Leistenkanal läßt zwei Finger zugleich ein, das elastische Gebilde läßt sich leicht in den Leistenkanal hineindrängen, der Strang jedoch nicht. Diese Hernie verschwindet spontan niemals, wohl aber tritt sie beim Husten tiefer herab und enthält keinen Darm. Kechterseits tritt beim Husten ein Bruch hervor, reponibel, aber niemals spontan verschwindend. Der rechtsseitige Bruch ist ein beginnen- der und leicht zu reponieren.

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Die Schamteile sehen aus, wie bei einem Mädchen vor erreichter Geschlechtsreife. Von der Clitoris maß man2Centimeterbiszur Urcthralmündung, von daanderthalb bis zum Frenulum labioruin, von da bis zum After 3 Centi- meter. Große Schamlefzen wenig prominent, die rechte bildet einen kaum erhabeuen Hautwulst, die Bedeckungen der linken Schamlefze gerunzelt, eriunern an ein Scrotum eines Knaben. Kleine Schamlippen atrophisch, anderthalb Centimeter hoch, nur in der oberen Hälfte der Schamspalte sichtbar, sehen aus wie am unteren Ende abgeschnitten. Hymen annularis mit Spuren von Einrissen nach einem Stuprationsversuch (im 8. Lebensjahre), Harnröhrenöffnung normal weiblich, oberhalb die „bandelette masculine"

von Pozzi, welche aber kaum im unteren Drittel des Vestibulum ausgesprochen ist und nicht die Clitoris erreicht. Die Clitoris äußerst klein, ragt nicht aus ihrem Präputium hervor. In Lumen des Hymens sieht man die Falten der Columnae rugarum der Scheiden wand. Die Scheidenuntersuchung sehr erschwert durch Enge und Empfindlichkeit; ein Speculum konnte nicht ange- wendet werden. Die Scheide dürfte in der Tiefe blind abgeschloßen sein, nichts von einem Uterus getastet. Die Patientin hat normale Verstandesentwickelung und hat eine gute elementare Erziehung erhalten. Bis jetzt hatte sich noch niemals Geschlechtsgefühl bei ihr gemeldet und mit Ausnahme jenes Stuprationsversuches im 8. Lebensjahre war sie nie mit männlichen Genitalien in Berührung gekommen. Peyrot diagnosticierte eiue beider- seitige Hernie der Uterusadnexa bei mangelndem Uterus und vollzog am 19. VI. die Radikaloperation. Linker- seits fand er am Niveau des Leistenkanales eine hühnerei- große Cyste mit Flüssigkeit gefüllt, welche durch eine Art Stiel mit einem drüsigen Gebilde zusammenhing, das er für ein Ovarium ansah. Dieses drüsige Gebilde wiederum lag einem Körperchen von Haselnußgröße an,

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welches er für einen rudimentären Uterus ansehen wollte: die Cyste faßte er als Hydrosalpinx auf. Nach Resektion dieser Cyste schob er die anderen Gebilde, welche er für Uterus und Ovarium angesehen hatte, in die ßauchhöhle zurück! Den Leistenkanal vernähte er. Rechterseits fand er ebenfalls eine cystische Bildung, welche einer graugefärbten Masse anlag, die er für den anderen Eierstock hielt. Da keine Kommunikation mit der Bauchhöhle vorlag und jene beiden Gebilde in einem extraperitonealen Sacke zu liegen schienen, so trug er sie mit dem Messer ab nach Unterbindung einer Art Stieles. Leistenkanal geschlossen. Die Schmerzen ver- schwanden nach der Operation und Patientin schien geheilt

Im Februar 1896 kam es jedoch linkerseits zu einem Recidiv und trat abermals ein linksseitiger Leistenbruch hervor unter der Narbe. Der Tumor senkte sich nach unten herab und wurde beim Gehen hinderlich. In horizontaler Rückenlage läßt sich der Tumor in die Bauchhöhle reponieren, jedoch auch weiter nach unten herabdrängen bis in die Schamlefze. Seit der Operation begann Patientin eine vorher nie beraerkteLibido sexualis zu empfinden und hatte oft psychische Emotionen, welche mit Tränen und Traurigkeitsgefühl endeten, und zwar traten solche Stimmungen auf ohne die geringste äußere Veranlaßung. Der Geschlechtstrieb war auf Männer gerichtet, nicht auf Frauen! Pozzi glaubte, es handle sich um ein Recidiv der Hernie von Uterus und Ovarium und machte am 6. V. 1896 die Radikaloperation. Er fand einen aus zwei Anteilen bestehenden Tumor: Ein längliches weißliches Gebilde von drüsigem Aussehen [Hoden oder Eierstock?] und dicht an der inneren und hinteren Fläche dieses Gebildes eine harte dreieckige Masse. Eine Art Vaginalis umhüllte das Ganze und man konnte leicht mit dem Finger eine Art Stiel unterscheiden.

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Nach dieser Operation nahm die Melancholie der Patientin noch bedeutend zu, sodaß die Patientin jetzt fast ständig weinte. Die mikroskopische Untersuchung sowohl der jetzt durch Pozzi als auch der früher durch Peyrot ent- fernten Gebilde wies eine erreur de sexe nach: männ- liches Geschlecht der Marie C: sie war ein Androgynoid mit Uterus bicornis; ein Horn desselben lag neben dem Hoden in der Hernie (siehe Abbildungen Fig. 3, 4, 5.)

Pozzi machte folgende Schlußfolgerungen: 1. Die Entwickelungsanomalie sollte eine Folge der durch den Schreck veranlaßten psychischen Erregung der schwangeren Mutter sein. 2. Das Eintreten der Geschlechtsreife soll sich bei Marie C. durch 10 Jahre lang sich periodisch wiederholendes Nasenbluten verraten haben, heute nach Aufhören der Epistaxis treten doch noch die früher jenes Nasenbluten begleitenden anderen Symptomenkomplexe auf. Diese Symptome sollen abhängig sein von der anomalen Entwicklung der Mülle r'schen Gänge [rudi- mentärer Uterus, Vagina |. 3. Marie C. empfindet trotz Gegenwart von Hoden weiblichen Geschlechtsdrang.

4. Dieser Geschlechtsdrang ist erst erwacht nach operativer Entfernung des rechten Hodens, eine schwer zu erklärende Erscheinung. Leichter ist die Veränderung des Charakters zu verstehen, die ,nach der vollständigen Kastration eintrat, welche dieses Individuum noch mehr einem weib- lichen ähnlich machte. Es ist dies ein Phänomen, wie man es öfters bei Männern und Tieren beobachtete nach Entfernung der Hoden. Die Kastration dieses Individuum schuf solche Verhältnisse, daß es heute nicht gerecht- fertigt wäre, eine Kectitikation der Metrik im Standesamte zu verlangen: dieses Individuum gleicht heute mehr einer Frau, an welcher man einer Castratio uteroovarialis vor- genommen hat, als einem männlichen Scheinzwitter.

5. Die männlichen Scheinzwitter-Hypospadiäen Andro- gynoides besitzen keine Spermatozoiden, sind also nich

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zur Befruchtung einer Frau fähig. Ein Trugschluß, da die Fähigkeit zur Schwängerung in erster Linie von dem Entwicklungsgrade der Hoden abhängt, zweitens von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der zugehörigen Eraissionswege für das Sperma. Gibt es doch zahlreiche Fälle von Schwängerung gerade durch einen solchen männlichen Scheinzwitter und auch einen Fall wo diese Zwitterbildung sich vom Vater auf den Sohn vererbte, welchen ich im vorigen Jahrgange dieses Jahrbuches wiedergegeben habe. J Kall von Traxler.]

Irrtümlich ist ferner auch die Angabe Pozzi's, es seien hier zum ersten Male die bei einem Scheinzwitter operativ entfernten Geschlechtsdrüsen zur mikroskopischen Untersuchung gelangt. Die mikroskopischen Untersu- chungen wurden von Dr. L a 1 1 e u x gemacht. Marie C. war also ein männlicher Scheinzwitter par er reu r de s exe als Mädchen auferzogen mit weiblichen Brüsten weiblichem Allgemein aussehen, einer weiblichem Scham, Molimina menstrualia, einem Uterus bicornis und weib- lichem geschlechtlichem Empfinden. Die beigefügten drei Abbildungen entstammen der Originalbeschreibung Po z z i 's. Zwei von diesen Abbildungen stellen den Uterus rudi- mentarius nebst Hoden und Tunica vaginalis vor und zwar die Ansicht des postoperativen Präparates von vorn und von hinten. Es lag ein Uterus bicornis vor mit inguinolabialer Ektopie der beiden Uterushörner und descensus retardatus testiculorum. Der anatomische Charakter der seinerzeit von Peyrot entfernten Cyste blieb zweifelhaft, ich möchte am ersten vermuten, datf es sich um eine Cvste des Parovarium handelte oder um eine Cvste des Nebenhodens. Die Testikel waren atro- phisch, ohne nachweisbare Spermatogenese. In dem von Pozzi amputierteu Uterushorne fand man keine uterine Schleimhaut.

26) Sa eng er [siehe Kutz: „Uber einen Fall von

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Psoudohermaphroditismus masculiuus mit Feststellung des Geschlechtes durch Exstirpation eines Leistenhodens Zentralblatt für Gynaekologie 1898 No. 165 pg. 389]: Ein 23jähriges Dienstmädchen wurde Sa enger aus der Poliklinik überwiesen: erstens wegen absoluter Amenorrhoe, zweitens weil alle vier Wochen einige Tage lang an- dauernde Schmerzen im Unterleibe, den Leisten und den Brüsten sich regelmäßig wiederholten. Diese Schmerzen sind in letzter Zeit so stark geworden, daß Patientin ihre Arbeitsfähigkeit einbüßte. Allgemeiner Typus weiblich, Gesichtsfarbe gesund, Wangen gerötet, das Haupthaar in Zopfe geflochten. Die Brüste wenig entwickelt, aber weiblich. Achselhöhlen reich behaart. Schamgegend und Perianalgegend spärlich behaart. Hymen intakt, mit enger Öffnung, Scheide geräumig, in der Höhe blind geschlossen. Kein Uterus per rectum getastet. In der rechten Leisten- gegend ein ovaler, glatter, harter Körper, verschieblich, hühnereigroß, sehr druckempfindlich und nicht nach der Bauchhöhle zu reponibel. Es wurde eine rechtsseitige inguinolabiale Hernie des rechten Ovarium diagnosticiert. In der linken Leiste fand Sänger ebenfalls eine Hernie, welche ein weiches reponibles Gebilde enthielt, in der Tiefe eine härtere Masse. Der rechtsseitige Leistenbruch soll in frühem Kindesalter aufgetreten sein, der links- seitige aber erst nach Beendigung der Schule. Angesichts der Schmerzhaftigkeit der rechtsseitigen Hernie führte Sänger die Herniotomie aus, indem er darauf rechnete es werde vielleicht gelingen das ektopische Ovarium zu reponieren und dann den Bruchsack ganz zu schließen. Bei der Operation zeigte sich, daß der Bruchsack nichts Anderes war, als der Processus vaginalis peritonaei, die tnnica vaginalis testis communis; das für ein Ovarium angesehene Gebilde war ein Hoden. Sänger entfernte den Hoden samt dem rudimentären Nebenhoden und Vas defereus und schloß die Operationswunde in toto. Dann

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schritt er zu der linksseitigen Herniotomie und fand dort in dem Bruche nur ein Harnblasendivertikel, wie der Katheter nachwies. Hernia extraperitonealis vesicae uri- nariae. Man fand weder eine Öffnung, welche nach der Bauchhöhle zu kommunizierte, noch eine Geschlechtsdrüse in dieser Hernie. Der entfernte rechte Hoden enthielt ein kleines Fibroadenom, hart und von der Größe einer Hasel- nuß. Wahrscheinlich liegt der linke Hoden noch in der Bauchhöhle. Über das geschlechtliche Empfinden dieses Individuums ist leider in dem Bericht ebensowenig etwas gesagt^wie in den'meisten anderen, es heißt nur von der Hymenalöffnung, sie sei dehnbar gewesen aber ohne Einrisse.

27) Sänger [siehe Schu 1 1 ze - V e 1 1 i ngh a u sen : „Ein eigentümlicher Fall von Pseudohermaphroditismus masculinus" Zentralblatt für Gynäkologie 1898 No. 51, pg. 1377 2385]. Eine 32-jährige Lehrerin, welche nie menstruiert war, aber alle 3 4 Wochen regelmäßig an Unterleibsschmerzen litt, meldete sich bei meinem leider zu früh verstorbenen Freunde unvergeßlichen Andenkens, Professor Sänger.' Im 18. Lebensjahre hatte sie zum ersten Male einen Tumor in der linken Leistengegend bemerkt, der in der Folge allmählich sich vergrößerte. Ein damals konsultierter Arzt sagte ihr, der Tumor sei angeboren und enthalte die Gebärmutter. Die Kranke konstatierte selbst, daß der Tumor im Laufe der letzten 5 Jahre um einige Zentimeter an Umfang zugenommen hatte und verlangte jetzt dessen Entfernung, weil der Tumor ihr beim Gehen hinderlich sei. Allgemeinaussehen und Becken weiblich, keine Spur von männlicher Behaarung, Brüste klein aber weiblich. Der linksseitige Leistenbruch ist irreponibel und reicht nach unten zu bis in die linke Schamlefze herab, der Bruchinhalt ist elastisch, aber wenig verschieblich. Gesichtsausdruck weiblich ohne irgend ein männliches Charakteristikum. Die äußeren Scham- teile sind normal weiblich, aber die Schambehaarung sehr

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spärlicli. Die Scheide nur 7 8 Zentimeter tief, schließt in der Höhe blind. Ks wurde weder ein Uterus noch eine Spur von Adnexa getastet. Sänger glaubte zunächst auf Grund seiner Untersuchung, der in hernia liegende Körper sei ein Hoden, es liege also eine erreur de sexe

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7 6 5

Fig. ti. Operativ sub horniotomia von Sänger gewonnenes Präparat.

Ansicht von vorn. 1 = Uteri», 2 = Hoden, 3 = Tube, 4 = Cysto, ö = Lig. latum, 6 Amputationsstumpftlächo des Uterus, 7 = Bruchsack.

vor, er glaubte, jenes Gebilde in der Hernie sei ein Hoden von einer Hvdrocele umgeben. Am lÖ. VII. 1898 voll- /<»ir er die Herniotomie, in dem Bruchsacke fand er einen ovalen Körper von Gänseeigröße, von glänzender gelblicher

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Oberfläche, cystisch entartet. Das untere Ende dieses Körpers war von einem Gebilde umgeben, welches als eine Tube erkannt wurde mit sichtbarem peripheren Ende 3 2 1 7

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Fig. 7. Dasselbe Präparat von hinten gesehen. 1 Uterus, 2 = Hoden, 3 = Peripheres Tubenende, 4 = Cyste, 5 = Lig. latuni, 6 = Amnutationsstuuiptnache des Uterus,

7 = Bruchsack.

und Fimbrien. Der ßruchinhalt bestand aus jener cysti- schen Bildung und einem härtlichen Gebilde einem klein- fingerlangem Uterus in Verbindung mit einer Tube. Zwischen dem Fundus uteri und jener cystischen Bildung

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lag noch eine härtliche Masse von unbestimmter Natur [vielleicht eiue Geschlechtsdrüse?] Das Lumen des Leisten- kanales erwies sich durch einen secundären Entzündungs- prozeß obliteriert, sodaß es nicht gelang einen Finger in die Bauchhöhle einzuführen. Der Bruchinhalt wurde mit Resection des Bruchsackes entfernt, die Wunde in toto geschlossen. Der Stiel der entfernten Gebilde retrahierte sich etwas in den Leistenkanal, wurde aber wieder heraus- geholt und in der Leistenkanalmündung eingenäht. Nach zwei Wochen verließ Patientin geheilt von ihren Be- schwerden das Hospital. [Siehe Fig. 0 u. 7j.

An dem Präparate fand man das amputierte obere Uterusende 5,5 Centimeter lang, 2 Centimeter breit. Die rechte Tube hatte 6 und einen halben Centimeter Länge und wies kein Lumen auf am peripheren Ende. In Mesosalpinge lag die vorerwähnte Cyste, linkerseits vom Uterus faud man keine Tube; das ligamentum latum si- nistrum'war rudimentär. Der amputierte Uterus besaß kein Lumen. In der Struktur des Uterus konnten glatte Muskelfasern, Bindegewebe und Blutgefäße nachgewiesen werden. In den äußeren Schichten der Uteruswand fanden sich Längsfasern muskulöser Natur, in den inneren Schichten schräg verlaufende Muskeln. Das Ligamentum latum enthielt glatte, muskulöse Längsfasern und lockeres Bindegewebe. Die Tube erschien wie ein flachgedrückter Strang, aber von normalem Bau ihrer Wände. Die Tube besaß ein Lumen und war ausgekleidet mit dicht ge- drängtem cylindrischem Epithel. Die Cyste erwies sich als subserös, das Peritoneum konnte man in Falten ab- heben. Die innere Cystenauskleidung bestand aus'fibril- lärem Bindegewebe mit zahlreichen Gefäßen^ und ein- schichtigem Epithel ohne Spur von Flimmerepithel. Trotzdem es nicht gelang, auch nur eine Spur von einem Epoophoron oder Paroophoron zu konstatieren, so han- delte es sich doch sicher um eine Cyste, entstanden aus

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Resten der Urniere, angesichts des analogen Baues der Parovarialcysten. Nirgends fand man eine Spur von Struktur, welche an den Eierstock erinnerte. Der Körper, welcher zwischen Uterus und jener Cyste lag, wies auf dem Durchschnitte überall den mikroskopischen Bau eines Hodens auf, trotzdem man nirgends eine Sperma- togenese nachweisen konnte.

Man fand keine Spur von einem Vas deferens, von einer Samenblase, einer Prostata etc. Es handelt sich also um einen mäunlichen Scheinzwitter par erreur^de s e x e als Mädchen erzogen, mit hoher Entwickelung des Weber'schen Organes, der Müll er'schen Gänge, Uterus, Tuben und Vagina und weiblicher Bildung der äußeren Geschlechtsorgane. Trotz Gegenwart des Hodens resp. der Hoden vollzog sich die Entwickelung der äußeren Geschlechtsteile nach weiblichem Typus. In der recht- seitigen Leistengegend wurden keinerlei Gebilde getastet, es scheint-also, daß rechterseits bisher Krytorchismus vor- liegt. Sänger fugt der Beschreibung die Bemerkung hinzu: Als er dieses Individuum zum ersten Mal ansah, so hielt er es für einen Mann trotz weiblicher Stimme und langen Haupthaares und Maugels männlicher Ge- sichtsbehaarung, als er während der Operation in hernia einen Uterus fand samt Tube und jener Cyste, so glaubte er, er habe sich geirrt und die Person sei doch weiblichen Geschlechtes, erst die mikroskopische Untersuchung wies nach, daß Sängers erste Vermutung richtig war, daß tatsächlich eineErreur de sexe vorlag. Wenn irgend ein Fall aus unserer Kusuistik, so ist besonders dieser zweite Fall von Sänger lehrreich und muß zu 'ganz besonderer Vorsicht in der Diagnose auffordern, sowohl vor einer eventuellen Operation als auch während einer solchen und auch nachher. Das Mikroskop allein kann in zweifelhaften Fällen Aufklärung geben und leider auch dieses nicht immer, denn bei rudimentärer Entwickelung

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der Geschlechtsdrüsen wird uns hin und wieder auch das Mikroskop die Antwort auf die Frage nach dem Ge- schlechte schuldig bleiben, ebenso bei maligner Entartung oder Teratom der Geschlechtsdrüse, das mehrmals kon- statiert wurde.

28) Shattock: [Histological characters of testicle reraoved in the Radical eure of hernia „British Medical Journal 1897" Vol. I. pg. 460]: Einem 42 jährigen Scheinzwitter mit Hypospadiasis penoscrotalis behaftet, wurde wegen doppelseitigen Leistenbruches die beider- seitige Hemiotomie gemacht. Man entfernte beide noch in den Leistenkanälen liegenden Hoden [Pescensus in- completus]. Man fand in den exstirpiertem Hoden weder Spermatozoiden noch Spermatoblasten, aber eine sehr starke Hypertrophie des Bindegewebes in dem Hoden- stroma. Nach der Kastration dieses Individuum ent- wickelte sich sehr starke Obesitaet. Ich weiß nicht, ob in diesem Falle eine Errcur de sexe vorlag, ob dieser Fall bestimmt hierher gehört.

29) Snegirjow [siehe Blagowolin: Wracz 1893 [Russisch] Fall von Herraaphroditismus transversus. Pro- tokolle der Geb. Gyn. Gesellschaft in Moskau. Januar 1893 Nr. I. pg. 2—5]. Eine 25 jährige Köchin trat am 21. März in die Klinik ein. Niemals Periode oder Mo- limina menstrualia. Im 13. Jahre einmal während eines Kopfschmerzanf alles etwas Nasenbluten, ein ander Mal im Jahre 1892 eine stärkere Nasenblutung. Im 17. Jahre heiratete das Mädchen, vollzog schon ein halbes Jahr nach der Hochzeit den Beischlaf cum libidine, später wurde ihr der Beischlaf gleichgültig, endlich zuwider, weil sie sich nach jedem Beischlaf matt, krank und arbeits- unfähig fühlte, geplagt von den rheumatischen ähnlichen Sehmerzen in Kopf und Gliedern. Schon seit Jahren perhorresciert sie den Akt des Beischlafes, der zweimal jeden Monat stattfindet. Obgleich sie ihren Mann liebt,

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so erscheint er ihr verhaßt zur Zeit des Beischlafes, welcher für sie eine Qua) ist.

Sie beschreibt diese Qualen so: „Eine ganze Menge verschiedenartiger Schmerzempfindungen entströmt einer Welle gleich aus dem Unterleibe und richtet sich nach dem Herzen zu, wobei ihr vor den Augen dunkel wird und sie glaubt das Bewußtsein zu verlieren.* Seit einigen Monaten klagt diese Frau über Kopfschmerz, Schlaf- losigkeit und klonische Krämpfe in den Extremitäten; diese Krämpfe treten auf ohne irgend eine erklärliche Ur- sache. Brüste und Möns Veneris gut entwickelt, Pubes weiblich veranlagt. In jeder Schamlefze tastete man ein Gebilde, welches */8 der Schamlefze einnahm, das links- seitige Körperchen erschien tiefer herabgesenkt als das rechte. Diese Körperchen, taubeneigroß, mit glatter Oberfläche, waren elastisch und ausnehmend druckem- pfindlich. An der Rückseite eines jeden tastete man ein weicheres, nicht druckempfindliches Gebilde. Das rechts- seitige Körperchen ließ sich leicht nach oben dislocieren, das linksseitige ließ sich nicht in den Leistenkanal hin- einschieben.

Kleine Schamlippen normal, Clitoris nicht vergrößert; bei Zurückschiebung der Vorhaut wird die Clitoris strotzend, indem sie anschwillt. Ein Hymen fimbriatus liegt vor, der sich dehnbar erweist. Vestibulum vaginae normal. Die Scheide erweist sich als ein glattwandiger Kanal, in der Höhe von drei Zoll blind endigend. Weder Uterus noch Adnexa per rectum getastet. In der Mittel- linie des Beckens tastete man einen gänsefederkieldicken Strang. Nach Angabe der Marie X. sollen jene Körperchen in den Schamlefzen schon von Kind auf sich dort befinden. Allgemeinausscheu weiblich. Man stellte hierauf die Diagnose : Defectus uteri, hernia inguinolabialis utriusque ovarii. Am 23. März 1893 vollzog Snegirjow die beiderseitige Herniotomie und fand in jeder Hernie

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einen Hoden. Das Mikroskop bestätigte die Richtigkeit dieser Angabe. Am 7. Tage nach der Operation befand sich die Person wohl. E rr e u r d e" s e x e.

30) Snegirjow [siehe: Blagowolin 1. c] vollzog in einem anderen Falle, beschrieben von Galaktjonow, die beiderseitige Herniotomie bei einem Mädchen: Erreur de sexe. H ypospadiasis peniscrotalis. S n e - girjow eröffnete die Bauchhöhle, fand dort weder Uterus noch Ovarien, exstirpierte hierauf die in den Schamlefzen enthaltenen Gebilde, die sich unter dem Mikroskop als Hoden erwiesen.

31) Solowij (»Ein Beitrag zum Hermaphroditismus" Monatsschrift für Geb. u. Gynäkologie. Februar 1899 pg. 210"] R. Ch. 21. Jahre alt, ledig, niemals menstruiert, erinnert sich, daß bei ihr von Kind auf in der Gegend der Schamfuge zwei Höcker existierten, welche nicht schmerzhaft waren. Vor vier Wochen traten plötzlich ohne wahrnehmbare Ursache heftige Schmerzen in dem rechtsseitigen Höcker auf. Seit dieser Zeit nahm derselbe bedeutend an Größe zu und blieb anhaltend schmerzhaft. Schlecht genährtes Individuum; Kopfhaare lang, kein männlicher Haarwuchs im Gesicht, Brustdrüsen gut entwickelt, Habitus ganz weiblich, Möns Veneris schwach behaart; jederseits der Schamfuge liegt in jeder Scham- lefze je ein Gebilde, links taubeneigroß, länglich, glatt, verschieblich, von ovaler Gestalt, am unteren Ende etwas zugespitzt, von innen eine seichte Vertiefung aufweisend. Die Schamlefzen verlieren sich auffallend flach nach unten. Clitoris zwei Centimeter lang, hat eine undurch- bohrte Eichel, von der zwei Falten zu den großen Schamlippen ziehen. Kleine Schamlippen fehlen, nur linkerseits eine Andeutung vorhanden. Damm 4 Centi- meter hoch, gegen den Scheideneingang etwas vertieft. Scheide endet in der Tiefe von 5 Centimeter blind. In der vorderen Scheiden wand, etwas mehr rechts, verläuft

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nach oben ein dünner Strang. Unterhalb der Harn- röhrenmündung befinden sich zwei kleine Schleimhautfalten, Durch den Mastdarm fühlt man einen querverlaufenden mit unerheblichen Verdickungen versehenen Strang, welcher links etwas breiter endet. Solowij deutete die in den Schamlefzen enthaltenen Gebilde als ektopische Ovarien, wenn er auch die Möglichkeit ins Auge faßte, daß es etwa Hoden sein könnten. Wegen der schmerzhaften Entzündung der rechten Keimdrüse, welche trotz vier- wöchentlicher Ruhe und entsprechender Behandlung nicht weichen wollte, vollzog er die Exstirpation. Nach Spaltung der Haut ließen sich die beiden Keimdrüsen mit Leichtigkeit exstirpieren, da die Leistenringe bereits verschlossen waren. Schon makroskopisch konnte man feststellen, daß es sich jederseits um Hoden und Neben- hoden handelte. Das Mikroskop bestätigte diese Er- kenntnis: in den Hodenschnitten fand man Samenfäden in verschiedenen Graden der Ausbildung. Ebenso typisch fielen die Nebenhodenschnitte aus. An mehreren Präparaten war auch ein Vas deferens zu sehen. Das Uebrige bildeten vielfache Schichten glatter Muskelfasern, eingescheidet und durchzogen von reichlichem und zum Teil kleinzellig infiltriertem Bindegewebe. Abgesehen von dem wissen- schaftlichen Interesse zögerte S. nicht, diese Gebilde zu entfernen, seien es nun Hoden oder Ovarien, weil sie für die Fortpflanzung des Individuums keinen Wert hatten, andererseits die schmerzhafte Entzündung, namentlich des rechtsseitigen Gebildes die Entfernung indicierte. Erreur de sexe festgestellt auf operativem Wege. Solowij erwähnt nichts über das geschlechtliche Empfinden der von ihm operierten Person.

32) Stonham [Complex or vertical Hermaphrodisme. Transactions of the Patholog. Society of London. British MedicalJournal 1888. I. pg. 416] beschrieb die Genitalien eines nach Herniotomie verstorbenen Kindes. Die äußeren

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Geschlechtsteile männlich bis auf Kryptorchismus, eine Prostata war vorhanden, teilweise Hvpospadie. Man fand zugleich eine Vagina, einen Uterus bicornis, zwei Tuben, zwei Hoden und zwei Nebenhoden in der Bauch- höhle; letztere Orgaue lagen an den Stellen, wo bei Frauen die Ovarien liegen. Keine Samenbläschen kon- statiert. Die Mutter dieses Kindes war 14 mal schwanger, hat aber darunter 8 mal abortiert. Zwei Kinder erschienen

Fig. 8. Genitalien desNambrok Sadinah, eines Sträflings im Ge- fängnisso zu Soerabaja, der von Stratz für einen männlichen Scheiuzwitter gehalten wurde.

als Knaben, aber mit Kryptorchismus behaftet, falls es Knaben waren. Eine Schwester der Mutter galt als Hermaphrodit, hat aber in der Folge ein Kind geboren. [Siehe auch Referat in Fromme l's Jahresbericht für 1888 pg. 306.J

Stratz proponierte einem im Gefängnis zu Sörabaja interniertenSträflingNambrok Sadinah eine diagnostische

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Incision der Schamlefzen behufs Feststellung des Ge- schlechtes, indem er eine erreur de sexe vermutete. Der Sträfling ging jedoch ebenso wenig wie die von Mund»' beschriebene Köchin auf den Vorschlag ein. Das Allgemeinallssehen war eher männlich als weiblich, die Clitoris 2 4 Ceutimeter lang, die IlarnröhrenöfTnung weiblich, eine Vagina war nicht nachzuweisen, aber es

Fig. 9.

existierten große und kleine Schamlippen. Weder Uterus noch Ovarien per rectum getastet, in jeder Schamlefze lag ein sehr druckempfindliches Gebilde von Haselnuß- größe, welches beim Gehen schmerzhaft war. (Siehe Fig. 8, 9, 10 Stratz.)

83) Swiencicki (Nowiny Lekarskie 1896 No. 4. pg. 176—178). Die 23jährige B. J. wurde zu Swiencicki

Jahrbuch V. I<

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Außore Genitalien des Sträflinge» Kambrok Sadinah.

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gebracht behufs Ausführung einer Operation. Das 141 Centimeter hohe Mädchen machte einen männlichen Ein- druck ihrer Allgemeinerscheinung nach trotz ihres nied- rigen Wuchses. Gesichtsausdruck männlich, Haupthaar kurz geschnitten, Bartanflug im Gesichte. Amastie mit ganz kurzen Brustwarzen, abdominaler, männlicher Athmungstypus, männliches Becken, Möns Veneris kaum angedeutet. Linkerseits vom Schamhügel eine eiförmige nach unten sich erstreckende Anschwellung von 24 Centi- metern Umfang. Medianwärts von dieser Anschwellung die Clitoris von vier Centimeter Länge, einem Penis gleichend, aber hakenförmig nach unten gekrümmt. Man entdeckt leicht eine drei Centimeter lange hypo- spadische männliche Harnröhre an der Unterfläche dieser scheinbaren Clitoris. S. tastete in der stark vergrößerten rechten Schamlefze in deren oberem Teile Hoden und Nebenhoden von normaler Gestalt Auch den Samen- strang konnte er leicht tasten. Keine Prostata entdeckt. Erektionen vorhanden. Linkerseits fand sich eine Hydro- cele. S. entleerte durch Paracentese aus dieser Hydrocele etwa zwei Tassen voll einer durchsichtigen serösen Flüssigkeit und gelang es ihm nach Entleerung der Hydrocele auch linkerseits Hoden und Nebenhoden zu tasten, sowie auch den Samenstrang. Die Mutter brach in Tränen aus bei Mitteilung des Sachverhaltes der statt- gehabten „erreur de sexe", die Tochter jedoch nahm jedes Wort von S. mit Begeisterung auf und jauchzte vor Freude darüber, daß sie fortan ein Manu sein werde, denn sie habe schon seit jeher einen feurigen Drang zu Frauen empfunden! Sie liebte Zigaretten zu rauchen, hatte einen Widerwillen gegen alles Weibliche, Kleider- nähen, Stopfen und Strürapfestricken, rasierte sich heim- lich und hatte sogar, wie sie unter vier Augen eingestand, schon im 16. Jahre einen Beischlaf mit einem Mädchen versucht, dessen Bett sie zufällig teilte. Die peniscrotale

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Hypospadie hatte die erreurdesexe veranlaßt. Hätte nicht die einseitige Hydrocele existiert, so wäre wohl auch jetzt noch nicht die erreur de sexe verraten worden. Descensus testiculorum retardatus. Die Person sagte aus, sie habe sich oft so unglücklich gefühlt dadurch, daß sie als Frau gelten müsse und daß sie sich deshalb mit Selbstmordgedanken getragen habe.

34) T i 1 1 a u x : [siehe V o e 1 k e r: Article : P^nis. du Nouveau Dictionnaire de Mldecine : Enfant mäle pris pour une fille]" ZuTillaux wurde ein 12 jähriges Mädchen gebracht mit der Bitte der Mutter, dem Kinde ein Bruch- band zuzupassen. Till au x konstatierte das Vorhanden- sein eines einseitigen Leistenbruches, gleichzeitig entdeckte er in der Hernie ein Gebilde, welches zunächt den Eindruck einer Cyste machte. Instinktiv untersuchte er nun auch die andere Schamlefze und tastete in derselben ein ana- loges Körperchen. Die Sache erweckte in dem Chi- rurgen Bedenken: er machte in jeder Schamlefze einen diagnostischen Einschnitt und fand Hoden vor, konstatierte jetzt auch, daß ein rudimentärer hypospadischer Penis existierte und konstatierte also die „erreur de sexe."

35) G. R. Turner [WA case of hermaphroditisme" Lancet3ü, VI, 1900 pg. 1884-1885]: Hjähriges Mädchen mit einem linksseitigen Leistenbruche geboren. Der Bruch erwies sich als irreponibel und das Kind trug auf Ver- langen der Ärzte hin ein Bruchband bis zum 12. Jahre, obgleich das Bruchband gar keine Linderung brachte. Niemals die Kegel bisher, die Ärzte diagnostizierten eine Labialektopie des Unken Ovarium ; endlich wurde eine Herniotomie beschlossen. Das aus der Hernie entfernte Gebilde erwies sich als Hoden und Nebenhoden. In letzterem fand man einige kleine Cysten. Das Mi- kroskop (Dr. Kol 1 es ton) erwies hier die erreur de sexe. Turner vollzog dann gemeinsam mit Dr. W. R. Dakin eine Narkosen Untersuchung des Kindes: Brustdrüsen gut

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entwickelt im Vergleich zum Alter des Kindes. Vulva normal, weiblich, ohne auch nur im geringsten einen Verdacht auf erreur de sexe zu wecken. Die Scham schon behaart, die Harnröhrenmündung, unregelmäßig umrandet, wies Karunkelbildungen auf. Die Seheide ließ einen Finger ein und erwies sich in der Tiefe blind ge- schlossen; keine Vaginalportion eines Uterus gefunden, wohl aber tastete man ein d (inneres strangförmiges Gebilde (Tube oder Vas deferens?). Die Schamlefzen erwiesen sich leer. Man fand weder eine Spur von Uterus noch von einer Prostata. Das anatomische Präparat des ex- stirpierten Hodens wurde aufbewahrt im Museum des St Georges Hospital. Das von Turner operierte Kind hatte bisher keinerlei Hang verraten zu dem einen oder zu dem anderen Geschlechte zu gehören und half der Mutter bei der Beaufsichtigung seiner jüngeren Geschwister.

86) Wegradt [Demonstration stereoskopischer Ab- bildungen der Präparate, gewonnen sub herniotomia bei einem als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter in der Ärztlichen Gesellschaft in Magdeburg; siehe Münchener Medizinische Wochenschrift 28. V. 1901]: Beiderseitige Herniotomie bei einem Individuum, dessen äußere Geschlechtsteile weiblich veranlagt waren. Die rechtsseitige Hernie enthielt einen Hoden, die linkseitige ein Fibroadenom. [Einzelheiten fehlen in dem Referate].

Auf Grund der Ergebnisse dieser Operation wurde da« Geschlecht als männlich erkannt.

^87) B. Will („Ein Fall von Hermaphroditismus roasculinus." D. I. Greifswald 1896) beschrieb die erreur de sexe bezüglich der 54jährigen unverehe- lichten Kristine W. aus der Umgegend von Greifs- wald, welche in die Klinik eingetreten war mit der Bitte, sie von einem beiderseitigen Leistenbruche zu befreien. Niemals hatte Kristine die Regeln gehabt, wohl aber

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von dem 17. bis zum 40. Jahre allmonatlich ziehende Schmerzen im Unterleibe. Körperhöhe groß, Knochen und Muskelsystem stark entwickelt. Stimme männlich, Brüste schlecht entwickelt, Warzen prominent, unbe- deutender Bartanflug im Gesicht. Schamgegend sehr spärlich behaart, große und kleine Schamlippen von nor- maler Gestalt, Scheidenöflnung eng, die Scheide in der Höhe von anderthalb Zentimetern blind geschlossen, die Harnröhre ist aber so stark erweitert, daß sie ohne Weiteres die Spitze des großen Fingers einläßt. Per rectum tas- tete man weder Uterus noch Geschlechtsdrüsen, sondern nur einen bleistiftdicken Strang von der Mittellinie nach links zu verlaufend. Jederseits in der Leistengegend ein Tumor, linkerseits deutlicher als rechterseits ; ein jeder Tumor schien aus zwei Anteilen zu bestehen; der link- seitige Tumor bestand aus einem hühnereigroßen fluk- tuierenden Anteile und einem kleineren härteren von Taubeneigröße, der bis in die Schamlefze herabreichte. Der obere flüssigkeitserfüllte Tumor hing strikt mit dem unteren weicheren zusammen. Der rechtsseitige Tumor war kleiner, ließ sich teilweise reponieren und bestand ebenfalls aus einem fluktuierenden und einem weicheren Anteil. Außer dem Tumor existierte auch ein Leisten- bruch. Nach Reposition des Bruches drang der Finger in den Leistenkanal ein. Man machte linkerseits einen Einschnitt parallel dem Poupärt'schen Bande, unterband die blutenden Gefäße und legte den Tumor bloß, wobei eiuige Unzen einer klaren, serösen Flüssigkeit abflössen« Auf der äußeren Kuppe des glattwandigen, harten Tu- mors von rosenroter Farbe hing eine taubeneigröße Cyste mit durchsichtigen Wänden. Man zog den Tumor, soweit es anging aus dem Leistenkanale heraus, unter- band den Stiel, durchschnitt ihn dann, fixierte ihn durch einige Seidennähte unter gleichzeitiger Vernähung des Leistenkanales und schloß dann die Hautwunde mit

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8 Nähten. Rechterseits konnte nach Entfernung des Tumore der Finger bequem in die Bauchhöhle eindringen, linkerseits gelang das nicht Prima reunio vulnerum. Kristine W. wurde am 7. I. 1896 geheilt entlassen. Erst die mikroskopische Untersuchung der entfernten Ge- bilde wies hier eine erreur de sexe nach. Der links- seitige Tumor hatte vier und einen halben Zentimeter Länge und zwei und einen halben Breite, der rechts- seitige fünf und einen halben und zwei und einen halben Zentimeter Länge und Breite. Die Tumoren waren jeder von einer mehrschichtigen Bindegewebskapsel umhüllt, die Schnittfläche sehr uneben, für den Hoden charakte- ristisch. Die Farbe des Durchschnittes war bronzeroi. Auf dem linken Hoden saß eine kleine Cyste gestielt auf, auf dem rechten eine ebensolche ungestielt. Wo der Nebenhoden am linken Hoden liegen sollte, sieht man ein härtliches, bohnengroßes Gebilde, auf dem Durchschnitt den drüsigen Bau verratend. Sonst fand man keinerlei Spuren von Nebenhoden oder Vasa deferentia. W. gibt eine sehr detaillierte Beschreibung der mikroskopischen Präparate, die ich hier nicht wiederholen will; es genüge zu wissen, daß die Untersuchung eine erreur de sexe konstatierte. Der rechte Hoden war fibrös degeneriert. Kristine besaß also Hoden, hatte aber keine Aus- führungsgänge für deren Produkt wegen Obliteration der Wolf frohen Gänge. Das geschlechtliche Empfinden der Kristine W. war ein rein männliches, doch folgte sie dem Beispiele anderer Frauen und kohabitierte mit Männern, aber ohne jede Libido. Obgleich sie eine rudi- mentäre Scheide besaß, so benützte sie doch für den Beischlaf die Harnröhre, welche mit der Zeit dadurch sehr erweitert wurde. Kristine empfand nur einen auf Frauen gerichteten, also männlichen Geschlechts- drang, hat es jedoch nie gewagt, einen Beischlaf mit einem Weibe zu versuchen.

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38) v. Winckel soll ein Mädchen von männlichem Aussehen beschrieben haben, weiblicher Kopfbehaarung, gut entwickelten Schamlefzen und Clitoris peniformis Eine spätere Herniotomie soll erreur de sexe, also männliches Geschlecht, erwiesen haben, indem die aus den Schamlefzen entfernten Gebilde sich als Hoden er- wiesen. Persönlich habe ich die Beschreibung eines solchen Falles aus v. Winkels Feder stammend nirgends finden können, erwähne aber diesen Fall, weil er von anderen Autoren erwähnt wird.

[Sollte der Fall von Shattock sich nicht auf eine erreur de sexe beziehen, resp. auf einen irrtümlich als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter, so wäre dieser Fall aus vorstehenden 38 Fällen zu eliminieren. N.J

Zweite Gruppe.

Vier Herniotomien bei weiblichen Scheinzwittern mit 2 Fällen von irrtümlicher Geschlechtsbestimmung.

1) Brohl („Hernia uteri bei Pseudohermaphroditimus femininus" Deutsche Medicinische Wochenschrift 1894 No.: 15.) Eine 36 jährige Person, seit dem 18. Jahre normal menstruiert, die sich stets für eine Frau gehalten hatte, wünschte sich zu verheiraten. Gesicht und Behaarung, Stimme und Kehlkopf männlich, Bart- wuchs ausgesprochen, Brüste aber weiblich. Clitoris 65

Anmerkung: Beiläufig erwähne ich folgenden Fall von Pozzi u. Grattery (Progres medioal 16. IV. 1887. Referat: Repertoire Universel d'Obst, 1887 p. 467): Eine 69 jährige Frau wurde wegen Einklemmung eines Leistenbruches in das Hospital gebracht und starb trotz Reduktion des Bruches, welche Marohand vollzog, infolge Peritonitis. Die Nekropsie erwies eine „Erreur de sexe." Hypospadiasis peniscrotalis, in den Hoden Spermatozoiden gefunden. Kein Uterus vorhanden, Behaarung spärlich, Allgemein- aussehen männlich.

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Millimeter lang, wird sub erectione 11 Centimeter laDg! Große Schamlippen gut entwickelt, die kleinen mangel- haft. Scheideneingang von einem Hymen garniert. Die linke Schamlefze enthält einen Tumor, welcher seit 1881, also seit 13 Jahren schon, der Dame viele Schmerzen verursacht. Dieser Tumor soll plötzlich erschienen 6ein nach Aufheben einer schweren Last Da der Tumor während der Regel an Größe zunahm, also offenbar anschwoll, vermutete man, es handle sich um eine Hernia uteri und ovarii. Von diesem Tumor zog eine Art Strang nach dem Leistenkanale zu. Da eine Reduction der Hernie nicht gelang, so machte Brohl die Hernio- tomie: er fand in dem Bruchsacke den Uterus und beide Ovarien. Er amputierte den ektopischen Uterus au niveau des Collum uteri und fixierte den Stumpf in der Inguinal- wunde mit einigen Nähten. Nach 5 Wochen verließ das Mädchen das Hospital kastriert und von den Beschwerden befreit. Der linke Eierstock war atrophisch, der rechte lag in ligamento lato. Beide Tuben waren bedeutend erweitert. Der Uterus war bicornis und die Höhle durch ein Septum im oberen Teile zweigeteilt. Collum uteri stark verlängert (wohl infolge der Ektopie des Fundus ? N) Weder Hoden noch Nebenhoden noch Prostata gefunden. Es handelte sich also um eine im extrauterinen Leben erworbene Hernia inguinolabialis uteri bicornis et utriusque ovarii bei ganz ungewöhnlicher Hypertrophie und Erektilität der Clitoris und einigen männlichen secundären Geschlecbtscharakteren. [Wäre es nicht rationeller gewesen, den Leistenkanal soweit als nötig zu spalten und die ektopischen Gebilde in die Bauchhöhle zu reponieren? N.]

2) Pe*an (Bulletin Me*dical, 3. April 1895 und Gazette des Höpitaux 1890 No.: 41) Ein 15 jähriges Mädchen wurde schon seit drei Jahren in ihrem Aussehen immer mehr und mehr männlich, es trat Stimmbruch ein,

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die Stimme wurde männlich, es trat männliche Gesichts- behaarung auf, es traten Erektionen der Clitoris ein! Ein Arzt schickte das 15jährige Mädchen nach Paris, wo eine erreur de sexe konstatiert wurde, das Ge- schlecht für männlich erklärt. Das bisherige Mädchen erhielt männliche Kleider und sollte nun einen männlichen Beruf erlernen. Der Junge fand aber an männlicher Be- schäftigung keinen Gefallen, er wurde von einem Meister zum anderen gebracht in verschiedenen Handwerken, wollte aber nicht lernen. Endlich klagte er über allmonatlich sich wiederholende Schmerzen im Unterleibe. Einer seiner Lehrmeister schöpfte Verdacht, ob der Junge nicht doch ein Mädel sei und nun wurde das Kind zum zweiten Male nach Paris gebracht behufs erneuter Untersuchung und zwar zu Pöan. Pe*an konstatierte eine Hypos- padiasis peniscrotalis und Krvptorchismus und vollzog einen Einschnitt in den Leistengegenden wie bei Herniotomie, um die Hoden aufzusuchen, fand aber nicht einmal die Oeffnungen der Leistenkanäle da, wo sie sein sollten. Er eröffnete jetzt die Bauchhöhle, holte ein Organ hervor, das. er anfänglich für einen Hoden gehalten hatte, es war der Uterus; daneben lag die rechtsseitige Tube, regelmäßig geformt, er fand endlich auch die linksseitigen Adnexa, aber weder Prostata noch Samenblasen. Er beschloß nunmehr, da eine erreur de sexe sich ergeben hatte, auf plastischem], Wege eine Vagina zu bilden, um einen Kanal zu schaffen, durch den im Falle von Entstehung einer Hämatometra das Blut nach außen abgeleitet werden konnte, er mußte jedoch auf diesen Plan verzichten, da die Harnröhrenwand zu nah der vordem Mastdarmwand anlag. Er fürchtete auch die Corpora cavernosa penis resp. clitoridi8 dabei zu verletzen. Er dilatierte also nur die einmal gesetzte Wunde zwischen Urethralmündung und Analmündung, indem er darauf rechnete, wenn das Mädchen einmal heirate, so werde der Gatte allmählich

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den heute geschaffenen Recessus erweitern per cohabita- tiones. Endlich fügte er noch den Bauchschnitt hinzu und entfernte beiderseits die Uterusadnexa, um der Bildung einer Hämatoraetra, Hämatosalpinx, Häraatocele vorzubeugen. Cornil und Briault konstatierten mikros- kopisch am Präparat, daß die Geschlechtsdrüsen wirklich die Ovarien waren. Es handelt sich also um einen weib- lichen Scheinzwitter mit Defectus vaginae, hypertrophischer erectiler Clitoris, allgemeinem männlichen Aussehen, Behaarung, Andromastie etc. In diesem Falle würde wohl ein jeder Gynäkologe denselben diagnostischen Fehler gemacht haben wie Pe*an. Interessant ist, daß das Kind gleich nach seiner Geburt richtig als Mädchen erkannt und auch als Mädchen getauft wurde, die Aenderung der Metrik in späteren Jahren in eine männliche falsch war. Dieser Fall steht, was mehrfache Änderung der Metrik anbetrifft, nicht einzig da!

3) Sujetinow [Medicinskoje Obozrenje [Russisch] 1897 pg.] beschrieb eine 45jährige Frau, welche in jüngeren Jahren zwei Jahre lang unregelmäßig ihre Menstruation gehabt haben soll, später aber gar keine. Männliche Gesichtsbehaarung mit Schnurrbart und Backen- bart ; Andromastie, männliches Becken, männlicher Typus der Extremitäten. Rechterseits ein reponibler Leisten- bruch. Die rechte Schamlefze enthält ein Gebilde von der Gestalt eines Hodens, von letzterem zieht eine Art Strang nach dem Leistenkanale hin. Clitoris 5 Zentimeter lang und zwei Zentimeter dick, macht eher den Eindruck eines hypospadischen Penis. Kleine Schamlippen fehlen ganz. Die Scheide eng, in der Tiefe blindsackartig ge- schlossen, läßt den Finger nicht ein. Per rectum keinerlei charakteristischen Gebilde getastet, bezüglich Ent- scheidung fraglichen Geschlechtes. Es wurde später bei Incarceration die Herniotomie gemacht. Das in der einen Schamlefze enthaltene Gebilde war der Eierstock und

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der Strang die Tube. Es handelte sich also um einen weiblichen Scheinzwitter mit Hernia uteri, salpingis et ovarü lateris dextri, hypertrophischer erectiler Clitoris und zahlreichen männlichen secundären Geschlechts- charakteren bei mangelhafter Ausbildung der Müll einsehen Gänge, sowie Mangel der kleinen Schamlippen. (In dem Referate [Journal für Geburtshülfe und Frauenkrankheiten. Petersburg 1898 pg. 248] ist leider nicht gesagt, ob eine mikroskopische Untersuchung der Geschlechtsdrüse vor- genommen wurde oder nicht, welche für die endgültige Entscheidung des. Geschlechtes ein wichtiges Desiderat sein muß, da makroskopisch man sich mehr als leicht in solchen Fragen irren kann. N.).

4) Walther [Bulletins et Mdmoires de la Socidte de Chirurgie der Paris 1902, Tome XXVIII. No. 31 pg. 938 undN: 32 pg. 9721 : „Anomalie genitale" Höchst interessante Beobachtung von erreur de sexe. Ein 24jähriger Sattler trat in das Hospital de la Pitie* ein am 3. IX. 1902 und verlangte operative Abhilfe wegen Mtßgestaltung seiner Geschlechtsorgane. Gleich nach der Geburt war sein Geschlecht als weiblich bestimmt worden später wurde jedoch auf den Rat eines Arztes hin die Metrik in eine männliche geändert. Am 4. März 1902 stellte Petit dieses Individuum in der SocieHe* Medicale des Höpitaux vor. Die äußeren Geschlechtsteile sehen aus wie bei Hypospadiasis peniscrotalis oder wie eine Vulva mit bedeutender Clitorishypertrophie. Das Scrotum fissum resp. die Schamlefzen leer, aber dicht unterhalb der äußeren Öffnung des rechtsseitigen Leistenkanals fühlte man ein kleines eiförmiges Körperchen, eine weiche Inguinalhernie, in der man ein härteres Gebilde tastete, das den Eindruck einer Geschlechtsdrüse machte und sehr druckempfindlich war. Eine ähnliche Hernie mit einem analogen Körperchen wurde nun auch links getastet Per rectum waren Keine für das eine oder andere Ge-

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schlecht charakteristischen Gebilde zu tasten. Das Aus- sehen dieses Individuum war weder männlich noch weib- lich, sondern gemischt. Man bemerkte eine gewisse Infan- tilität der Entwickeluog, keine Spur von Gesichtsbehaarung trotz des Alters von 24 Jahren. Becken imd Brüste weiblich, Taille eher männlich, Stimme indifferent, weder männlich noch weiblich. Den Harn gibt der Sattler nach Frauenart ab; seit dem 16. Jahre sollen alle Monate etwa 160 Gramm Blut aus der Harnröhre entleert werden, die Blutung dauert jedesmal 2 3 Tage, die Blutaus- scheidung ist jedesmal begleitet von Anschwellen der in den Leisten getasteten Gebilde (der Ovarien?) Trotz dieser anscheinenden Menstruation ist der Geschlechtstrieb rein männlich, sowie auch der Sattler von seinem männ- lichen Geschlechte überzeugt ist.

Der Penis fissus hypospadiaeus verrät sofort Erektio- nen, wenn der Sattler sich in weiblicher Gesellschaft befindet und nur die Krümmung nach abwärts zu ist die Ursache, weshalb der Sattler bis jetzt noch keinen Beischlaf mit einer Frau versucht hat. Während der Erektionen kommt es zur Ejakulation einer klebrigen Flüssigkeit, in der jedoch Laignel-Lavastine keine Spermatozoiden fand. Einige Tage nach dieser Demon- stration vollzog Walther die beiderseitige Herniotomie und fand rechterseits einen atrophischen Eierstock und die rechte Tube, die er in die Bauchhöhle zurückschob, den Inhalt des linksseitigen Bruches trug er ab; es war das zusammengeknickte Mittelstück der linken Tube, deren Abdominalende sowie das uteri ne in der Bauch- höhle lagen eine Sactosalpinx verbacken mit dem sklerotischen Ovarium, das cystisch entartet war, und mit dem Netz. Der linke Eierstock enthielt ein Corpus luteum. Die operative Entfernung dieser Gebilde war sehr schwierig. Walther fügte einen kleinen diagno- stischen Leibschnitt hinzu um den Zustand des Netzes zu

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kontrollieren, das er in vier einzelnen Bündeln unterbunden, teilweise hatte abtragen müssen, sowie die zwei Stümpfe der linksseitigen Adnexa, und fand bei dieser Gelegenheit einen kleinen Uterus vor. Die Herniotomie konstatierte hier also weibliches Scheinzwittertum bei einem Indivi- duum, das absolut den Eindruck eines Mannes machte. In der Diskussion hatten vor Ausführung dieser Operation sowohl Lucas-Championnidre als auch Fe Ii zet dieses Individuum mit aller Bestimmtheit für einen Mann erklärt.

Bruno T. Carreiro: „Pseudohermaphrodismo audrogynoide on un caso de supposto hernia inguinal d'ovario." O Correio med. de Lisboa. Octob. 1896 p. 149. [Da mir der Aufsatz nicht zugänglich, vermag ich keinerlei Einzelheiten anzugeben.]

Dritte Gruppe.

13 Leistenschnitte bei Männern resp. männlichen Scheinzwittern mit Konstatierung eines mehr oder weniger entwickelten Uterus oder einer oder der bei- den Tuben in hernia resp. in der Bauchhöhle.

1) Billroth (siehe Klotz: „Extraabdominelle Hystero-Ovariotomie bei einem wahren Zwitter" Archiv für klinische Chirurgie Vol. XXIV pg. 454 1880 siehe Referat : Zentralblatt für Gynäkologie, 1880 No. 1. pg. 15) (siehe Fig. 19 u. 20). Ein 24 jähriger jüdischer Kaufmann, Israel Jaroszewski aus Rußland, kam zu Bill - roth wegen einer Leistenhernie. Billroth konstatierte eine Hypospadiasis peniscrotalis mit einer Pseudovulva mit großen und kleinen Schamlippen und weiblicher Urethralmündung. In der linken Sohamlefze lag ein Hode, Nebenhode und Samenstrang, rechterseits jedoch enthielt die Schamlefze einen Tumor und wies eine Fistel- öffnung in ihren Hautdecken auf, welche eine Sonde einige Millimeter tief einließ. Der Tumor soll nach

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Aussage des Patienten schon viele, viele Jahre existieren, fing jedoch erst im 1(5. Jahre an, sich zu vergrößern und von eben diesem 16. Jahre an bekam Israel J. alle vier Wochen periodisch starke Schmerzen im Kreuz und diverse Molimina, welche jedesmal 4 10 Tage anhielten. Während dieser Schmerzperiode entleerte sich stets Blut sowohl aus der Harnröhre als auch aus der vorgenannten Fistel des rechten Labium pudendi majus. Diese Blutung wiederholte sich alle Monate und dauerte gewöhnlich vier Tage. Israel verfiel sowohl infolge seiner Leiden, sowie auch infolgedessen, daß er sich angesichts seiner genitalen Mißbildung nicht verheiraten konnte, in einen Zustand von Melancholie, welche sich mit der Zeit so steigerte, daß er sich sogar mit Selbstmordsgedanken getragen hatte. Er gestand ein, geschlechtlich sowohl mit Knaben als auch mit Mädchen verkehrt zu haben, wobei er Erektionen und Ejakulationen hatte. Billroth konstatierte zunächst einen rechtzeitigen Leistenbruch, der aber keinen Darm zum Inhalte hatte, wie ihm schien, und setzte ein Neoplasma des rechten Hodens voraus. Am 25. Juli 1878 schritt er zur Herniotomie. Er fand in dem Bruchsacke eine cystische Bildung, deren Stiel in den Leistenkanal hineinreichte. Er unterband diesen Stiel, wobei er teilweise die Bauchhöhle öffnen mußte, unter sehr starker Blutung. Er durchschnitt dann den Stiel und unterband die Gefäße einzeln und vernähte dann die Hautdeckenwunde. Nach zwei Tagen erfolgte unter Kollapserscheinungen der Tod. Als Ursache ergab sich eine Blutung in die Bauchhöhle hinein infolge von Abgleitens einer arteriellen Ligatur. Die Sektion des Leichnames wurde von Chiari gemacht. Die Brüste waren groß, weiblich, in der linken Schamlefze fand man Hoden, Nebenhoden und Samenstrang von normaler Anlage, der exstirpierte Tumor bestand aus mehreren Teilen : es hatte eine hernia inguinolabialis uteri unicornig

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bestanden, mit. einer cystischen Bildung, scheinbar aus einem Ovarium hervorgegangen. Der Uterus war durch den Leistenkanal so eingeschnürt, daß er die Gestalt einer Sauduhr hatte, er war im Leistenkanale incarceriert gewesen! Billroth hatte den oberen Teil des Uterus amputiert. Die Scheide von einem Hymen am Aus- gange garniert öffnete sich in die männliche Harn-

Fig. 11. Außeres Genitale des 24 jähr. Israel Jaroszewski, eines männlichen Scheinzwitters mit Hernia ingninoserotalis dextra uteri. Beobachtung von Billroth.

röhre. Das linke Vas deferens eröffnete sich neben der Vaginalmündung in die Urethra so, daß dieses Vas deferens der Uterovaginalkanal und die Harn- röhre sich gemeinsam in einen Sinus urogenitalis eröffnen. Klotz behauptet durchaus nicht, daß das cystisch ent- artete Organ, welches dicht bei dem Uterus lag, ein Ovarium sei in welchem Falle hier ein wahres Zwittertum vorläge, sondern spricht nur eine derartige

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Hypothese aus! Nach unseren [heutigen Kenntnissen ist ein derartiges Vorkommnis beim Menschen bisher über- haupt nicht zweifellos erwiesen worden. Es scheint viel- mehr, daß es sich um einen cystisch degenerierten rechten Hoden handelte. Schambehaarung weiblich, die allgemeine Behaarung jedoch sowie die des Gesichtes männlich,

Fig. 12. Außere Genitalien desselben Individuum bei Spreizung der

Pseudovulva.

a, b = Geschlechtssäcke (Scrotalhältten), c =a Gesohlechtsglied, d Frenulum, f = Oriticiuin sinus urogenitalis, g = Präputium, h = Nymphen, i = fistulöser menstruierender Ausfiihrungsgang der in hernia inguinoscrotali liegenden Uterushälfte.

Hypospadiasis peniscrotalis; Penis 8 Centimeter lang. Keine Prostata gefunden, linker Hoden normal. Das Ergebnis der Sektion lautete: Uterus unicornis hohen Entwickelungsgrades samt V'agina und Hymen der Uterus teilweise in hernia inguinali liegend bei einem männlichen Hypospaden mit Mangel eines Vas deferens,

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der Samen blasen und der Prostata. Eine Erklärung der allmonatlichen Blutungen ex Urethra und aus der Fistel im rechten Labium majus steht aus. Geschlechtsdrang männlich. (Siehe Fig. 11 u. 12).

2) Bockel [„Exstirpation d'un uterus et d'unetrompe hernile chez un homme". Acad^mie de Me'decine de Paris. 19. Avril 1892. Semaine MeMicale 1892 Vol. XII, pg. 146]: Bockel fand in einer Inguinolabialhernie bei einem männlichen Individuum einen Uterus bicornis, welcher eine Höhle enthielt, eine Tube und einen Hoden samt Nebenhoden und Vas deferens, welche letzteren Ge- bilde im Ligamentum latum gelagert waren. [Da mir die Arbeit von ekel nicht vorliegt so muß ich mich auf das kurze Referat von Prof. Stumpf beschränken].

3) Carle [siehe Gruner: „Utero e trorabe di Fal- loppio in un uomo* Giornale della Reale Academia di Torino. 1897 Anno LX. pg. 229 und pg. 257—286]. Die mikroskopische Untersuchung wurde im Laboratorium des Professors Giacomini gemacht. Am 9. November 1894 trat ein 36-jähriger Telegraphist in die chirurgische Klinik von Carle in Turin ein wegen eines links- seitigen Leistenbruches, der vor einem Monate erst unter heftigen Schmerzen entstanden war. Der Kranke selbst glaubte, der linke Hoden habe sich vergrößert und sei härter geworden. Carle machte die Herniotomie und fand in hernia einen nicht schmerzhaften, beweglichen Körper von Hühnereigröße, welcher sich leicht reponieren ließ auf dem Wege der Taxis. Der Patient vertrug ab- solut ein Bruchband nicht und kam deshalb in das Hospital. Der Hodensack enthielt nur den linken Hoden und ober- halb dieses linken Hodens jene reponible Hernie, einen Tumor. Nach zwei Monaten kehrte der Patient am 26. IV. 1894 wieder in die Klinik zurück und wurde jetzt die Hernitomie gemacht mit gleichzeitiger Eröffnung der Bauchhöhle. Man überzeugte sich hierbei, daß dieser

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Mann einen Uterus samt zwei Tuben besaß, deren linke in jener Hernie lag. Beim Leistenschnitte erwies sich der linke Hoden pathologisch entartet und wurde deshalb abgetragen. Oberhalb des Hodens fand sich ein läng- liches Gebilde, welches durch den Leistenkaual hindurch sich in die Bauchhöhle fortsetzte. Es war dies eine Tube, welche mit dem Hoden durch einen fibrösen Strang in Verbindung stand. Bei Eröffnung der Bauchhöhle vom Leistenschnitte aus fand sich ein Uterus auf der rechten Fossa iliaca gelagert und die zweite Tube. Neben der linken Tube fand sich das linke Vas deferens. Der Uterushals stand nach unten zu im Cavum rectovesicale mit der Prostata in Verbindung. Es wurde der Hoden linkerseits abgetragen samt dem Uterus, die Wunde ge- schlossen. Wegen postoperativen Fiebers wurde die Wunde wieder geöffnet, es fand sich aber kein Eiter; die Wunde heilte per secundam inten tionem. Später erfuhr Giacomini, daß dieser Mann gestorben sei infolge eines intraabdominellen Tumors (?) und zwar nach Heimkehr in sein Haus. Von der Frau dieses Telegraphisten erfuhr er, daß ihr Mann normalen Verstand hatte und gutmütigen Charakters war, daß er seinen ehelichen Pflichten regelmäßig nachkam, aber die Ehe war eine kinderlose; weiter erfuhr er, daß, soweit der Frau bekannt, ihr Mann niemals genitale Blutungen ir- gend welcher Art gehabt hatte. Bei der Operation war die linke Tube, ein Uterus bicornis und das zentrale Ende der rechten Tube entfernt worden. Gruner, welcher das postoperative Präparat untersuchte, gibt die Ab- bildung von vorn und von hinten gesehen, und Bilder der mikroskopischen Schnitte von Uterus, Tube und Vas deferens und eine sehr detaillierte Beschreibung. Uterus und Tuben viabel, linke Tube 8 Centimeter lang, 7 Milli- meter im Umfange. Bezüglich des Tumors der ent- arteten linksseitigen Geschlechtsdrüse konnte das Mikros-

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kop einen sicheren Entscheid nicht geben, G. rechnete diesen Tumor zu den Teratomen. Per i preparati fatti dal tumore PA. lo ascrive alla categoria dei tumori da resti fetali in proliferazione : Questi appartenavo con tutta probilita ad una ghiaodola sessuale gia ditferenziate in testicolo,' G. gibt au, er sei absolut nicht im Stande, auf Grund der sorgfältigsten mikroskopischen Unter- suchung in diesem Falle zu entscheiden, ob der Tumor aus einem Hoden oder einem Ovarium entstanden war. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte es sich doch um einen degenerierten Hoden gehandelt haben.

4) D e r v eau , Uterus, trompe et testicule contenus dans une hernie inguinale congdnitale chez un homme" Cercle Mddical de ßruxelles 5. IV. 1902 siehe: Re- ferat: Zentralblatt für Chirurgie Vol. XXVIII. pg. 952j. Bei einem 69 jährigen Manne, der Ejakulationen hatte und aus dessen Ehe 6 Kinder hervorgegangen waren, fand Derveau bei der Operation eines angeborenen Leistenbruches im Bruchsacke einen Uterus, Tuben und ein scheidenähnliches Gebilde, welches wahrscheinlich in die Harnröhre mündete. Der Hodensack enthielt außer der Hernie keinen Inhalt, in jedem der ligamenta lata fand sich ein normaler Hode. Die Blase kam während der Operation nicht zu Gesicht. Uber den Zustand der äußeren Genitalien wird nichts berichtet, schreibt Mohr in dem Referate; ich schliesse daraus, daß wahrscheinlich der Penis normal gebildet war. Kryptorchismus bilateralis bei hochgradiger Entwickelung der Müller'schen Gänge.

5j Fantino (Giuseppe): Der Prof essor der Gynäko- logie Fantino in Bergamo teilte mir am 10. HI. 1902 brieflich mit, er habe am 5. III. bei einem Manne in hernia inguinali im Bruchsacke einen Uterus gefunden mit beiden Tuben und zwei Hoden. Der linksseitige Leistenkanal war leer. (Der Fall scheint bis jetzt noch nicht publiziert zu sein.)

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6) Filippini [D Morgagni. Dicembre 1900 siehe Referat: Mlinchener Medizinische Wochenschrift 1901 No. 10 pg. 403] beschrieb einen Fall von angeblich wahrem Zwittertume: Er fand bei einem 23 jährigen Manne bei Operation eines rechtsseitigen Leistenbruches in hernia einen Uterus und eine Tube und angeblich ein Ovarium, während linkerseits im Scrotum ein Hode lag. Die Allgemeinerscheinung dieses Mannes war rein männlich. Offenbar liegt hier ein Jrrtum in der mikros- kopischen Deutung der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse vor. [Leider bin ich nicht im Besitz der Originalarbeit, das Referat ist aber so kurz, daß damit nicht viel anzu- fangen ist, obwohl ein so seltener Fall gewiß ein ein- gehenderes Referat verdiente.]

7) Griffith [siehe Gruppe I Fall 9: Uterus bei einem männlichen Scheinzwitter sub Castratione entdeckt].

8) Guldenarm [siehe: Siegenbeck van Heu- k elom: Ueber den tubulären und glandulären Hermaphro- ditismus beim Menschen. „Z i egl e r's Beiträge zur patho- logischen Anatomie und allgemeinen Pathologie." 1898 Vol. XXIII. Heft I. pg. 144 160]. S. beschreibt einen Mann mit rechtsseitigem Kryptorchismus und Leistenbruch. Penis und Scrotum normal. In dem offen gebliebenen Pro- cessus vaginalis pcritonaei fand sich ein LTterus, sehr wohl ausgebildet. Am 7. XII. 1896 sandte Guldenarm aus Rotterdam das postoperative Präparat an Siege nbeck van Heukelom zur Untersuchung. Guldenarm hattedie Herniotomie gemacht, weil der Mann absolut kein Bruch- band vertragen konnte. Ein Arzt hatte ein Bruchband wegen von ihm vorausgesetzter Hernia omenti verordnet. Guldenarm entfernte sub operatione die in dem Bruche enthaltenen Gebilde sowie den linken Hoden und Neben- hoden. Rechterseits lag Kryptorchismus vor. Statt des Omentum fand sich in hernia ein vom Peritoneum um- hülltes Körperchen von 13 Mill. Länge und zylindrischer

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Gestalt; das rechtsseitige Ende dieses Gebildes endete frei, das linksseitige war in strikter Verbindung mit dem linken Hoden. Das Gebilde hatte eine dreieckige Ge- stalt und saß an einem Stiele, der durch den Leisten- kanal in das kleine Becken ging. In diesem Stiel konnte man eine Art Strang tasten, welcher in der Richtung nach dem kleinen Becken zu immer dünner wurde, nach außen zu aber immer dicker. Dieser Stiel inserierte in der Mitte jenes dreieckigen Gebildes. Der Stiel wurde bei der Operation durchschnitten und es zeigte sich, daß er einen Kanal enthielt, in welchen eine Sonde tief eindringen konnte bis zur Pars prostatica urethrae. Dieses zylindrische Gebilde war abgetragen worden dicht bei der Epididymis. Schon während der Operation ver- mutete Guldenarm, dieses zylindrische Körperchen sei ein Uterus und jener sondendurchgängige Kanal ein ductus genitalis femininus, der sich in die Urethra in capite gal- linaginis eröffnet. Keine Prostata getastet. Das Präpa- rat enthielt den amputierten Uterus bicornis, Hoden und Nebenhoden. Letztere Gebilde standen in inniger Ver- bindung mit dem peripheren Ende der linken Tube. Es gelang sub operatione auch den rechten Hoden und Nebenhoden aus der Bauchhöhle herauszuziehen, wenn man an jenem Stiele zog.

Die Hernie hatte also das rechte Horn eines Uterus bicornis enthalten. An dem Präparate fand man den Ductus genitalis femininus 10 Mill. lang, eine cervix uteri mit Plicae palmatae ausgestattet, die rechte Tube war 56 Mill. lang und ohne Morsus diaboli, sie verlor sich im rechten Nebenhoden. Man fand am Präparate sowohl eine Hydatis peduneulata als auch eine Hydatis sessilis; rechterseits von dem ductus genitalis femininus verlief das rechtsseitige Vas deferens, verbunden mit dem rechts- seitigen Nebenhoden. Man fand Spuren eines ligamen- tum rotundum, konnte aber eine Arteria uterina nicht

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mit Sicherheit am Präparate nachweisen. Siegenbeck gibt eine genaue mikroskopische Beschreibung. Man hatte sub operatione den Uterus bicornis samt beiden Tuben entfernt und auch den rechtsseitigen Hoden und Nebenhoden, welche aus der Bauchhöhle durch den links- seitigen Leistenkanal herausgezogen worden waren. Die Gegenwart so hochgradig entwickelter Mülle r'scher Gänge bei diesem Manne erinnert an das normale Verhalten beim Biber, wo normal die Müller'schen Gänge auch beim Männchen zur Entwickelung gelangen. Siegen- beck van Heukelom fügt hier eine sehr interessante Bemerkung hinzu: Die strikte Vereinigung der beiden Hoden miteinander durch den Uterus bicornis, ein mus- kulöses, nicht dehnbares Organ, war die Ursache, wes- halb der rechte Hoden nicht seinen descensus vollziehen konnte angesichts derKürze des Uterus und seiner Tuben. Der tubuläre Herraaphroditismus war in diesem Falle die^ Ursache, weshalb rechtsseitig Kryptorchismus vor- liegen mußte. Die rechte Tube durchbohrte in schräger Richtung den rechten Nebenhoden und reichte bis an jene, zwischen Hoden und Nebenhoden belegene Hydatis pedunculata, wo sie mit epithelbedeckten Fimbrien en- dete. Das soll die Richtigkeit der 1871 von Fl ei sc hl ausgesprochenen und von Waldeyer acceptierten Ver- mutung beweisen, daß die Hydatis Morgagnii nichts Anderes sei als das persistierende periphere Ende des Müll ergehen Ganges.

Siegenbecks Ansicht, daß bei einem so stark aus- gebildeten tubulären männlichen Hermaphroditismus, wie er hier vorliegt, entweder ein Kryptorchismus bilateralis oder Kryptorchismus unilatcralis mit einer hernia conge- nita da sein muß, erscheint mir durchaus gerechtfertigt. Er motiviert dieselbe folgendermaßen: Die M üll er'schen Gänge haben sich, statt zu schwinden, zu einem überall dickwandigen Gange umgestaltet. Während die oberen

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Teile sich jeder für sich entwickelt haben, sind die unteren von einer Cervix uteri zusammengeschmolzen und so sind die Hoden und Nebenhoden mittelst eines un- unterbrochenen, dicken und verhältnismäßig kurzen Stranges fest mit einander verbunden. Dadurch wird bei inten- diertem Descensus testiculorum das Eintreten der Hoden in je eine Scrotalhälfte unmöglich. Es können sich da- raus nach Siegenbeck 2, nach meiner Ansicht 3 ab- norme Lagerungen der Hoden entwickeln. Entweder bleiben beide Hoden in der Bauchhöle zurück, oder einer kann in die Scrotalhöhle eintreten, der andere muß in der Bauchhöhle bleiben nach Siegenbeck, in welchem Falle der Uterus und die Tuben fest verbunden mit dem descendierten Hoden notwendig den Descensus des anderen Hodens verhindern; ich betone als dritte Möglichkeit den Austritt von Uterus und beiden Hoden in eine und dieselbe Scrotalhälfte wie im Falle Fantino's (s. i. Vorhergehenden).

9) Pozzi (siehe im Vorgehenden Fall No. 25]. Bei einem als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter in einer Inguinalhernie neben dem Hoden ein Horn eines Uterus bicornis.

10) Sänger [siehe im Vorgehenden Fall 27). In einer Inguinalhernie ein Uterus samt Tube und Parovarialcyste neben dem Hoden liegend.

11) Stonham [siehe im Vorgehenden Fall 32]. Die Sektion eines nach Herniotomie verstorbenen Mädchens ergab männliches Geschlecht, Hvpospadiasis peniscrotalis mit Kryptorchismus. Neben inneren männlichen Genita- lien fand sich ein Uterus bicornis nebst Tuben und Vagina. Hoden lagen da, wo die Ovarien bei Frauen liegen, keine Samenblasengefunden. Hier ist Siege nb eck's theoreti- sches Postulat des Kryptorchismus bilateralis erfüllt

12) Thiers ch [siehe Schmorl: „Ein 'Fall von Hermaphroditismus" Virchow's Archiv. Bd. CXI. 1888. pg. 229 244]. Schmorl beschrieb eine interessante Be-

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obachtung von Thiers ch. Ein 22-jäbriger Schüler der Leipziger Kunstakademie trat in die chirurgische Klinik 1887 ein mit der Bitte, auf operativem Wege ihm die Möglichkeit zu schaffen nach Art der Männer harnen zu können und daß er auch als Mann den Beischlaf ausüben könne. Thiersch sagte ihm nach der Untersuchung, er halte nicht viel von derartiger Plastik, was das Endresultat anbetreffe. 1882 war ein rechtsseitiger Leistenbruch ausgetreten, welcher bis in die Tiefe des gespaltenen Scrotum herabreichte, in derselben Hälfte des Scrotum tastete man Hoden und Nebenhoden, die linke Hälfte des Scrotum erwies sich geschrumpft und leer. Thiersch vollzog eine ganze Reihe plastischer Eingriffe, um den hypospadischen nach unten gekrümmten Penis gerade zu machen ! Nachdem er Wasser in die Harnblase eingespritzt hatte, bemerkte er ein Anschwellen der linken Leisten- gegend, in der Folge aber erwies sich sowohl die normale Entleerung der Harnblase erschwert als auch diejenige durch einen Katheter. Um die Ursache dieser eigentüm- lichen Erscheinung festzustellen, machte Thiersch jetzt eine andere Operation, er machte einen Einschnitt wie bei Herniotomie und fand im Leistenkanale ein Gebilde von 5 Centimeter Länge und 2 Centiraeter Dicke, welches er zunächst für den linken Hoden ansah. Nach Unter- bindung des Stieles trug er diesen scheinbaren Hoden ab, den Samenstrang kauterisierte er mit Paq uelin's Brenner. Gleich nach dieser Operation stellte sich eine Peritonitis ein mit Singultus, Coraa und Tod am nächsten Tage. Bei der Sektion fand man einen Uterus bicornis und eine Scheide, welche in eapite gallinaginis der Urethra mündete. Der Uterovaginalkanal hatte 15 Centimeter Länge. Das von Thiersch als Hoden abgetragene Gebilde erwies sich als das periphere Ende der linken Tube mit zwei kleinen Cysten. Das Abdominalende der rechten Tube lag im rechten Leistenkanale, die rechtsseitige Inguinalhernie ent-

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hielt das große Netz. Neben der rechten Tube fand ich ein Parovarium, die rechte Hälfte des gespaltenen Scrotum enthielt einen atrophischen Hoden ohne Neben- hoden und ohne Vas deferens." Schmorl betrachtete ein atrophisches kleines Gebilde, halbkirschengroß rechterseits im Bindegewebe unterhalb des abdominalen Endes der Tube belegen, als einen rudimentären Eierstock, freilich ohne den geringsten Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme bringen zu können. In diesem Falle wies nicht die Hemiotomie, sondern die postmortale Leichenschau das Existieren eines Uterus bicornis und einer Scheide nach. Kryptorchismus unilateralis bei hochgradiger Ent- wickelung der Müller'schen Gänge.

13) Winkler [„Uber einen Fall von Pseudoherma- phroditismus masculinus externus*. I. D. Zürich 1898]. 52-jähriger Mann behaftet mit einem angeborenen Leisten- bruche. Während einer Hemiotomie im Jahre 1878 hatte man Kryptorchismus konstatiert 1892 kam es zu einem Recidiv des Bruches. Man machte den Bauchschnitt und durchschnitt einen Adhaesionsstrang, welcher die Darm- unwegsamkeit veranlaßt hatte. Der Kranke starb trotz- dem am nächsten Morgen infolge von Peritonitis acutissima. Die Nekropsie wies einen Hoden, den rechtsseitigen, in der Bauchhöhle nach, linkerseits fand man in der Mün- dung des Leistenkanales das periphere Ende der linken Tube. Man fand in der Bauchhöhle einen Uterus bicornis mit Scheide, der Uterovaginalkanal hatte eine Länge von 17 Centimetern. Der Uteruskanal war 9 Centimeter lang, die Vagina 8. Das untere Scheidenende war von der Prostata umschlossen. Penis klein aber normal, Scrotum leer. Oberhalb der Prostata fand man die Mündung des linken Vas deferens in die Vagina, die linke Samenblase lag seitlich von der Vagina. Fundus uteri 2 Centimeter breit. Man fand natürlich eine Excavatio rectouterina und vesicouterina. Die linke Tube verlief in Ligamento

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Riö"bert<fel

Vig. 13.

Anatomisches iv.ipar.it der inneren' Genitalien eines 52j.1hr.* Kryptorchisten 'mit hochgradiger Entwicklung der M ü I ler 'sohen'Gilnge. Beobachtung von Wi nck 1er, Nekropsie ron Ribbert vollzogen. Der weibliche (ieuitalschlauch ist" vonjhinten der Lftpgc nach eröffnet. Ei = Einmundungastelle'dtsjrteru« in die. Urethra, ent- sprechend dem Sitz einer normalen Vesdcula prostatica ; Pnmt. Prostata; du. ej. = Ductus ejoculatoriu» ; 1. Sa. - linker Samenleiter; r. Sa. rechter Samenleiter; Vag. = Vagina; Ut. Uterus; 1. vas'def. - linkes Vas lieferen»; r. Tu. rechte Tube ; Cy. Cysten ; r. Ho. rechte Hode; Lig. la. = Ligamentum latum ;*). Tu. : linke Tube ; Ne. Ho. N'ebwnbodenkaniilcheu; ;l.**Ho. linker Hode ; Firn. -

Fimbrien der. ÜukenVrube. a8'-ktionsprJl>ar»t votn^Utorus masculinus eines'Kryptorchistcn.

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lato. Das periphere Ende der rechten Tube lag der Bauchwand an, hatte aber kein Ostium, statt des Morsus diaboli fanden sich nur einige Cvstchen. Nur das linke Ligamentum rotundum war vorhanden, das rechte fehlte. Man fand beide Hoden, Nebenhoden, Vasa deferentia und Samenblasen. Der linke Hode lag an Stelle des Ovarium, der rechte ganz nahe der Bauchwand. Ductus ejaculatorii ohne Lumen. Wi n c k 1 e r gibt detaillierte anatomische Be- schreibung. Dieser Kryptorchist hatte also neben seinen männlichen inneren Genitalien auch hochgradig entwickelte weibliche Geschlechtsgänge. [Siehe Fig. 13. Kryptor- chismusbilateralisSiegenbeck'sbei tubulärem männlichen Hermaphroditismus.l Die Operation von Prof. Kroen- lein ausgeführt. Die Sektion von Prof. Kibbert.

Bei der Bruchoperation wegen Einklemmung 1878 fand man, daß der rechte Hoden und Samenstrang mit dem Brnchinhalt vor dem äußeren Leistenringe lagen und bei der Reposition der Darmschlingen der Hoden große Tendenz zeigte, mit in die Bauchhöhle zurückzugleiten. Scrotum geschrumpft, Penis pueril, Pubes männlich, Stimme männ- lich. Als Patient 1892 in die Klinik kam, erwies sich der recidivierte Bruch reponibel, man machte also eine Herniokoeliotomie.

Im Anschluß an die dritte Gruppe teile ich hier eine in ihrer Art einzig dastehende Beobachtung von Prof. Garre* (Königsberg) mit: „Ein Fall von echtem Herraaphroditis- mn.s." Deutsche med. Wochenschrift 1003. N. 5 fm. Abbild g.l

Anmerkung: Im II. Jahrgänge dieses Jahrbuches pg. 845 ist ein Telegramm ans Brescia vom 14. November wiedergegeben. Es wurde daselbst ein verheirateter Mann, dessen Ehe Kinder ent- sprossen sind, wegen doppelseitigen Leistenbruches operiert: in der Tiefe der rechten Leiste fand sich ein Uterus mit 2 Tuben und einem Ovarium. Zunächst dürfte wohl hier irrtümlich ein Hoden 9 für ein Ovarium angesehen sein. Ich habe diesen Fall nicht regi- striert, weil ich vermute, daß sich dieses Telegramm auf den Fall von Filippini betieht. N.

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Ein 20jähriges aus Rußland stammendes Individuum wurde im Sommer 1902 in die chirurgische Klinik auf- genommen. Es war das als Knabe erzogene Individuum angesichts einer Reihe in letzter Zeit auftretender Er- scheinungen an seinem männlichen Geschlechte zweifelhaft geworden. Die Brüste, besonders die linke, entwickelten sich stark und schwollen periodisch au, aus dem Genitale traten in regelmäßigen vierwöchentlichen Intervallen Blutungen auf, überdies ging bisweilen unter sexueller sich stets an die Vorstellung eines weiblichen Wesens knüpfender Erregung ein weißlicher Schleim ab. All- gemeiner Körperbau mehr weiblich : runder Kopf, langer Hals, langer Thorax mit sehr gut entwickelten Brüsten, gerundetem Abdomen, breite Becken mit breit ausgeladenem Schamwinkel. Genitale: stark entwickelt, penis hypo- spadiaeus, schlaüe gutbehaarte Geschlechtsfalten, die eine mit niedrigem Hautsaum umgebene Öffnung umschließen, von der aus man mit einem Katheter in die Blase gelangt. Per rectum fühlte man scharf die D o u g 1 a s falte (?), sodann links einen Strang, der sich seitlich an die Urethra an- zusetzen schien, zur Linea innominata hinaufzog und hier neben sich zwei etwa taubeneigroße, gegen einander gut verschiebliche Körper fühlen ließ, von denen der eine etwas höckrig erschien.

Rechts nichts Sicheres fühlbar, hingegen hier ein ovoider, etwa taubeneigroßer vor den Leistenkanal ge- legter Körper, der wohl als Geschlechtsdrüse anzusprechen war, ohne aber eine Entscheidung ob Hoden oder Eier- stock zu gestatten. Unter Kreuzschmerzen in der dritten Woche des Hospitalaufenthaltes eine geringe Blutung aus dem Genitale. Da das Geschlecht klinisch sich nicht entscheiden ließ, so schlug Garre* einen Probeeinschnitt vor auf das rechterseits vor dem Leistenkanal liegende Gebilde zu. Patient* der unter allen Umständen sich Anerkennung als Mann verschaffen wollte, ging auf den

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Vorschlag ein. Die Operation ergab folgenden merk- würdigen Befund: Nach Durchtrennung des als Bruch- sack vorgewölbten Peritoneal blattes ließ sich an einer Peritonaealfalte ein sicher als Tube anzusprechendes Gebilde hervorziehen, das sich in seinem uterinen Ende in der Peritonäalplatte verlor; unter ihr subperitonaeal lag ein höckriger, anscheinend aus einem Schlauchgeflecht zusammengesetzter Körper, der als Parovarium bezw. Ovarium aufgefaßt wurde; aus dessen in die Bauchhöhle ziehenden Peritoneal blatt trat sodann ein etwa taubenei- großer gelblicher Körper hervor, dem kappenartig ein halbbohnengroßer, mehr weißlicher Knoten, ursprünglich als Epididymis angesprochen, aufsaß; es zeigte sich jedoch, daß in dem von diesem als Keimdrüse imponierenden Gebilde abgehenden Peritonäalblatt ein festerer Strang verlief, der nur als Vas deferens aufgefaßt werden konnte, und neben diesem subperitonäal ein erbsengroßer, höck- riger Körper, mutmaßlich der Nebenhoden.

Da somit der männliche Geschlechtsapparat vorhanden zu sein schien, wurden als unbrauchbar die Tube und der unter ihr gelegene Körper abgetragen, aus den übrigen Teilen der Keimdrüse kleine Keile excidiert, desgleichen ein Teil des neben dem Vas deferens gelegenen Körpers exstirpiert.

Die Präparate wurden von Dr. Simon, Volontärarzt der Klinik, mikroskopisch untersucht. Der größere untere Teil der Keimdrüse soll darnach einen Hoden mit den Charakteren des Leistenhodens ohne Zeichen von Sper- matogenese darstellen, der kleinere dem unteren kappen- artig*^ufsitzende weißliche Knoten ein Ovarium, der unter der Tube gelegene Körper ein Parovarium und das neben dem Vas deferens gelegene Gebilde eine Epididymis. Ovarium und Hoden sollen beide histologisch gut ausge- bildet sein. Garre* vermutet, daß die beiden bei Unter- suchung per rectum linkerseits getasteten Körperchen, von denen der eine flacher, der andere rundlicher er-

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schien, Ovarium und Hoden seien, es würde dann bila- teraler glandulärer Hermaphroditismus vorliegen. Es sollen in diesem Falle zum ersten Male am lebenden Individuum sowohl grob anatomisch als auch histologisch an frischen Präparaten Testis und Ovarium nebeneinander konstatiert worden sein.

Wie bekannt hat von sämtlichen Fällen, wo bisher glandulärer, also echter Hermaphroditismus beim Menschen beschrieben wurde, keiner der älteren einer mikros- kopischen Kontrol Untersuchung Stand gehalten, nicht ein- mal die von Black er und Lawrence beschriebene Ovotestis eine Geschlechtsdrüse mit gemischtem Bau. Bisher ist nur der einzige Fall von v. Sal£n noch nicht angefochten worden. Gleichwohl wäre es dringend zu wünschen, daß sowohl die Präparate dieses Falles als auch diejenigen des von Keller (Bloom fontein) ver- öffentlichten, eines neuerdings im Anatomischen Anzeiger angezeigten Falles und diejenigen von Garre* und Simon einer strengen mikroskopischen Kontrole unterworfen würden. Theoretisch muß die Möglichkeit des Vorkommens von glandulärem Uermaphroditismus beim Menschen laut Analogie mit der Tierwelt zugegeben werden, es wäre unendlich wichtig, wenn die Behauptungen Simonis bezüglich der Königsberger Präparate sich als tat- sächlich begründet erweisen würden.

Vierte Gruppe.

45 Fälle von Coincidenz von gut- oder bösartigen Neubildungen mit Scheinzwittertum einschliesslich der an Scheinzwittern vollzogenen Bauchhöhlen- operationen.

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1) Abel [„Ein Fall von Hermaphroditismus mas- culinus mit sarkomatöser Cryptorchis sinistra* Vir- chow's Archiv Bd. CXXVL Berlin 1891}

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Am 21. Oktober 1890 kam die 33jährige Albertine R. aus Schlawe in die Greifswalder Frauenklinik. Das Mädchen war verlobt, wurde von ihren Freundinnen vielfach gehänselt wegen ihres immer stärker werdenden Leibes und suchte nun die Klinik auf, um von der im Bauche sich entwickelnden Geschwulst befreit zu werden.

Patientin soll früher stets gesund gewesen sein, vom 20. Jahre an soll sie die Regel allmonatlich drei Tage lang ohne Beschwerden gehabt haben. Im Frühling 1890 fühlte Patientin einmal unabhängig von der Regel heftige Schmerzen im Leibe, bald darauf begann der Leib stärker zu werden und nahm bis jetzt unausgesetzt an Grüße zu. Auch während dieser ganzen Zeit blieb die Regel schmerz- los. Die letzte Regel vor 14 Tagen etwas schwächer als sonst Miktion und Defäkation normal.

Patientin war klein, zart gebaut, von gesunder Gesichts- farbe ohne Ödeme. Der Körper scheint normal gebaut. An den Genitalien und in den Achselhöhlen fehlt jede Spur von Behaarung. Patientin fühlt sich wohl, verlangt aber trotzdem eine Operation. Leib aufgetrieben, besonders unterhalb des Nabels, namentlich links. Ein elastischer cystischer Tumor liegt größtenteils links im Leibe. Der Tumor reicht nach unten zu bis an den Beckeneingang, wo er etwas spitz zuläuft. Der Tumor hat die Gestalt einer Birne, deren spitzes Ende nach unten rechts zu, das obere breite nach oben links zu gerichtet ist, sodaß auch die Kuppe des Tumors links von der Mittellinie liegt, 6 Centimeter oberhalb des Kabels, während der Tumor in der Mittellinie den Nabel nur um 4 Centimeter überschreitet Oberfläche glatt> Konsistenz gleichmäßig prall, elastisch. Scheideneingang eng, Hymen vorhanden, der Finger findet die Scheide als einen kurzen Blindsack ; drängt man den Tumor herab, so kann man ihn durch das Scheideugewölbe fühlen.

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Eine Portio vaginalis uteri tastet der Finger nicht; im Speculum sieht man im linken Scheidengewölbe eine Andeutung der Portio vaginalis uteri, welche aber eiue Sonde nirgends einläßt. In der rechten Leistengegend fühlt man einen Körper von der Größe und Gestalt eines Eierstockes, welcher sich leicht nach der Bauchhöhle zu verschieben, aber nicht in dieselbe hinein schieben läßt. Vom unteren Rande der Urethralmündung hing ein etwa bohnengroßer Polyp herab. Die Diagnose wurde auf congenitalen Verschluß der Vagina und Haematometra gestellt Man versuchte sub narcosi mit einer Sonde durch die Portio vaginalis uteri sich einen Weg zu bahnen, nachdem die Kuppe der Vagina im Speculum eingestellt war. Da es nicht gelang, das Gewebe bis zu dem Tumor stumpf zu trennen, so spitze Lanze. Man schafft einen Kanal, der Finger dringt ein und fühlt jetzt den Tumor deut- licher. Man führt einen Katheter in die Stichkanalwunde ein und daneben eine Kornzange, welche jetzt geöffnet wird, um den Kanal zu erweitern. Endlich wird ein Troicart eingeführt und in den Tumor eingestoßen: dann seine Canüle weiter eingedrängt. Es entleeren sich bei Druck auf den Tumor nur einige Klümpchen geronnenen Blutes und einige Bröckel einer glasigen, grauen, weichen Masse. Man spricht jetzt den Tumor als bös- artig an. Taraponade der Scheide. In derselben Sitzung entfernte man mit einem Scherenschlage den Urethral- polypen. Abends Fieber + 39° C, am nächsten Tage bis + 41" und nach 36 Stunden Tod an Peritonitis.

Sektion: Aussehen der Leiche weiblich, Brüste klein mit kaum erkennbaren Warzen, in der Beckenhöhle ein Tumor, welcher einem 8 Monate schwangeren Uterus ungemein ähnlich sieht. Im rechten Leistenkanale ein nach der Bauchhöhle zu verschiebliches Gebilde, welches aus zwei Anteilen besteht, die wie Hoden und Neben- hoden aussehen, durch einen breiten Strang au den Boden

Jahrtmch V. 1H

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der rechten Schamlefze fixiert. Der Leistenkanal ist für einen Finger durchgängig, aber sein Abdominalende ver- schlossen. Die Scham sieht aus wie die eines 12jährigen Mädchens. Möns Veneris fettarm und nicht behaart. Die Lefzen liegen einander an und vereinigen sich unten unter einem spitzen Winkel. Damm drei Centimeter lang. Kleine Schamlippen ganz normal gebaut, vom Charak- ter einer Schleimhaut (?), umfassen nach oben zu die kleine etwa drei Mill. weit vortretende Clitoris. Urethra 4 Cent. lang. Vagina mündet in vestibulo, ihr Eingang von Hymenairesten umgeben (Einrisse sub operatione entstanden oder nach Beischlafsversuch ?-N.) Columnae rugarum an den Scheidenwänden deutlich. 4,8 Centimeter oberhalb des Scheideneinganges sieht man keine Schleim- haut mehr, sondern den neugeschaffenen Wundkanal. Nach links von dessen Öffnung sieht man einen kleinen Wulst als Rest der Portio vaginalis uteri. Von der Öffnung aus verläuft der Stichkanal 4,7 Centimeter weit durch straffes oberhalb der Vagina liegendes Gewebe, durchbohrt zweimal die Harnblasenwand und dringt ein wenig in den Tumor ein. Der mannskopfgroße Tumor erwies sich als ein Sarkom des linken, in der Bauchhöhle retinierten Hodens. Cryptorchis sinistra sarcomatosa rechts mit dem Omentum inajus verwachsen. Das Bauch- fell überzog den Tumor und bildete an seiner Arorder- seite eine Duplikatur, einer Wagentasche ähnlich, deren freier Band 12 Centimeter in der Länge maß, deren Tiefe bis zu drei und einen halben Centimeter reichte. 1 Centi- meter nach unten und rechts vom Grunde dieser Tasche entsprang retroperitoneal ein fester Strang von Bleistift- dicke, völlig solid und an der einen Seite in der Ge- schwulst endend, an der anderen Seite verlor er sich im Bindegewebe der linken Leistengegend. Die Gebilde im rechten Leistenkauale erwiesen sich als der rechte Hoden und ein ihm aufsitzendes Leiomyom, wohl aus dem

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Nebenhoden entstanden. Samenleiter und Sanienbläschen fehlten. Der Strang, welcher von dem Tumor nach der linken Leistengegend verlief, wird von Abel als Guber- naculum Hunteri aufgefaßt. Was nun die angebliche regelmäßige Periode anbetrifft, schon vom 20. Jahre an, so glaubt Abel, es seien Blutungen, veranlaßt durch den Harnröhrenpolypen, irrtümlich als menstruelle Blutung von der Patientin aufgefaßt worden. Was das geschlecht- liche Empfinden anbetrifft, so fühlte sich Albert ine als Madchen und liebte innig ihren Bräutigam. [Per- sönlich möchte ich vermuten, die Entstehung des Harn- röhrenpolypen stehe in Zusammenhang mit Beischlafs- versuchen als Produkt eines künstlich geschaffenen Ektropium urethrae deficiente vagina oder vagina pro immissione membri virilis nimis arcta. N.j

Dieser von Abel beschriebene Fall zeigt zur Evidenz, welchen groben diagnostischen Irrtümern der Chirurg hier unterworfen sein kann und wie unendlich vorsichtig man in der klinischen und anatomischen Beurteilung solcher Fälle vorgehen muß! Welcher Gynaekologe würde wohl hier die richtige Diagnose gestellt haben? Es erscheint ja rationell, in einem solchen Falle zunächst einen diagnostischen Leisteneinschnitt, in diesem Falle rechterseits zu machen, um den Charakter der dort getasteten Geschlechtsdrüse festzustellen, selbst mit Exstir- pation derselben. Hätte man dies ausgeführt und kon- statiert, daß dieselbe ein Hoden ist, so wäre selbstver- ständlich die Operation per vaginam, welche den Tod herbeiführte, nicht ausgeführt worden, sondern man hätte sofort den Bauchschnitt gemacht um den jetzt von vorn- herein diagnosticierten Hodentumor zu entfernen. [Die Kasuistik solcher Fälle ist reicher als der Chirurg ahnt, aber sie ist noch zu wenig berücksichtigt wer dieselbe kennt, der wird natürlich leichter solche grobe diagnostische Mißgriffe vermeiden. Gerade auf diese Kasuistik in

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weiteren Kreisen aufmerksam zu machen, ist der Zweck meiner heutigen Zusammenstellung. N.]

2) Audain [„Hermaphrodisme double, k)rste der- raoide des ovaires" Annales de Gvndcologie et d' Obst£- trique Vol. XI. 1893 pg. 362], Ks handelt sich um eine beiderseitige Ovariotomie bei Dermoidcystomen bei einem Individuum mit männlicher Behaarung und bedeutender Clitorishypertrophie. Die Clitoris der 29 jährigen Krauken war fingerlang und 3 Centimeter dick. Schnurrbart Neben dem größeren der beiden Dermoide fand sich auch eine Parovarialcyste. Die Person genas. [Da ich die Original- arbeit nicht gelesen habe, sondern nur ein Referat von Stumpff, so kann ich nicht sagen, ob der ovarielle Charakter der Tumoren mikroskopisch festgestellt worden ist ; wo nicht, so bleibt immer noch ein Zweifel erlaubt, ob es sich nicht um Tumoren der in der Bauchhöhle retinierten Hoden eines verkannten männlichen Schein- zwitters gehandelt hat. Die vorstehende Kasuistik würde uns zu so einem Zweifel vollauf berechtigen, da makros- kopisch eine Bestimmung, ob ovarieller oder testiculärer Tumor, lange nicht in allen Fällen möglich, geschweige denn leicht ist. N.J

3) Bacaloglu und F ossär d [„Deux cas de Pseudo- hermaphrodisme (Gynandroides) La Presse Medicale 6. XII. 1899 pg. 331 333]: Die 31jährige A. Lefrancois trat am 15. August 1899 wegen starker Leibschmerzen, welche schon vier Tage dauerten, in das Hospital ein und wurde auf dem Krankensaale des Dr. Troisier untergebracht. Die bisher absolut gesunde Person giebt an, sie habe ganz plötzlich nach dem Abendessen am 12. August sehr starke Schmerzen rechterseits im Unterleibe bekommen. Sie wandte zunächst keinerlei Mittel an, in der Hoffnung, die Schmerzen werden über Nacht vergehen es kam jedoch anders! Am nächsten Tage wurden die Schmerzen [noch stärker trotz Kata-

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plasmen mit Opiumzusatz. Wegen habitueller Verstopfung verordnete man Clysmata mit Zusatz von Glycerin. Am 14. August Status ideni. Am 15. Meteorismus des Leibes, stark galliges Erbrechen, ständige Uebelkeiten. Darum entschloß sich die Kranke in das Hospital zu gehen. Es fiel den Aerzten sofort auf, daß diese Person trotz an- scheinend normalen weiblichen Körperbaues einen männ- lichen Gesichtsausdruck hatte. Behaarung weiblich, außer Anflug von Bart an Oberlippen und Kinn. Extre- mitäten klein, weiblich. Becken weiblich, Brüste minimal. Leib sehr aufgetrieben, besonders schmerzhaft in der Gegend der fossa iliaca dextra. Erbrechen von kopiösen grünlichen Massen. Facies peritonitica, trockne Zunge, Puls 130 pro Minute. Man vermutete zunächst eine Appendicitis oder eine Erkrankung der rechtzeitigen Uterusadnexa und untersuchte per vaginam. Zu ihrem größten Erstaunen bemerkten nun die Aerzte, daß gar keine Vaginalöffnung vorlag, sondern daß der Finger in der ganz bedeutend erweiterten Analöffnung sich befand. Der Finger tastete per rectum ausgezeichnet sowohl den Uterus als auch die beiderseitigen nicht druckschmerzhaften Adnexa. Man schloß jetzt eine Genitalerkrankung aus, vermutete eine Appendicitis und holte einen Chirurgen Dr. Bougle. Derselbe vollzog nachts um 1 Uhr den Bauchschnitt in der Mittellinie. Aus der Wunde ergoß sich sehr viel Eiter; man fand den Wurmfortsatz stark geschwellt und hyperämisch. Man fügte einen Einschnitt der Bauchdecken in der rechten regio iliaca hinzu, öffnete den Wurmfortsatz, der fäkale Massen enthielt, und resecierte ihn; hierauf wurde die Bauchhöhle aus- gespült und die Wunden vernäht. Trotz Kochsalz- infusion etc. erfolgte der Tod nach zwei und einer halben Stunde. Am 17. August Sektion: Penis 8 Centimeter lang und 5 Centimeter im Umfange statt einer Clitoris gefunden, Scham üppig behaart. Unterhalb der weib-

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liehen Harnröhrenöffnung keine Spur von Vaginalostium gefunden, zwischen den Schamlefzen zog sich eine glatte Haut von der Urethral Öffnung bis zur Analöffnung hin; ein Damm von 10 Centimetern fand sich. Bei der Er- öffnung der Bauchhöhle fand man einen rudimentär ent- wickelten Uterus mit Tuben, Ovarien und Ligamenta rotunda. Uterushöhle 5 Centimeter lang, Cervix andert- halb Centimeter lang. Arbor vitae deutlich. Die Scheide 8 und einen halben Centimeter laug, schließt unten blind, infolge von Verwachsung der großen Schamlippen mit einander. Die cystisch entarteten Ovarien haben, das rechte 6 Centimeter Breite und 5 Höhe, das linke 6 und 4. Man fand mikroskopisch in den Ovarien keine Graafschen Follikel, sondern nur ein sklerotisches Gewebe, wenig Blutgefäße, sehr viel Bindegewebe mit kleinen proliferierenden Embryonalzellen. De facto sahen mikroskopisch die Ovariengewebe aus wie Narben- gewebe. „On y peut distinguer des vaisseaux ä parois hypertrophides et scleros£es et des bandes de tissu fibreux adulte." Auch in dem Uterusgewebe fanden sich die Auzeichen einer ausgesprochenen Sclerose. Co rnil kon- statierte, daß es sich um Ovarien und nicht um Hoden handelte. Die Periode hatte diese Person niemals gehabt, sonst wäre es zur Bildung einer Hämatokolpometra ge- kommen. Dieser Fall würde also in das Gebiet der weiblichen Genitalatresien gehören mit Hypertrophie der Clitoris und einigen männlich entwickelten secundären Geschlechtscharakteren.

4) Bazv [Bulletins et Mömoires de la Socie*t<? de Chirurgie de Paris, Tome XXVIIIl 1902. N: 31 pg. 943]; Eine Weibsperson trat in das Hospital ein wegen Appendicitis und wurde von Chevallier operiert. Nach der Operation wurde diese Person Herrn Bazy als Mann vorgestellt. Es war ein männliches Individuum mit Hypospadiasis peniscrotalis und Anwesenheit beider

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Hoden in dem gespaltenen Scrotum. Trotz seiner 26 Jahre hatte dieser Scheinzwitter dennoch keine Spur von Bartanflug im Gesicht. Mangel der Brüste. Bis jetzt keinerlei Geschlechtstrieb ausgesprochen. In diesem Falle führte die Appendicitis zu einem Kontakt mit dem Chirurgen und führte so die Aufklärung einer Erreur de sexe herbei.

5) Carl Beck [,,A case of Hermapbrodism" Medical Record. 25th July. 1896 Vol. I. N: 1342 pg 135, und pg. 694 und 14. XI. 1896. N: 1358 pg. 724 und Medical Record 20. II. 1897 pg. 260: „Description of specimen taken from a hermaphrodite"] : L. M., 21 Jahre alt, als Mädchen getauft, hatte bis zum 19. Jahre als Mädchen gegolten, war aber zu dieser Zeit als Mann er- klärt worden und wechselte demnach seinen Civilstand. Allgemeinaussehen, Gesichtsausdruck, Stimme und Be- haarung weiblich; gleichwohl hatte dieses Individuum schon im 15. Jahre den Beischlaf als Mann praktiziert, Penis hypospadiaeus zwei und einen halben Zoll lang. Scrotum gespalten. An der Unterfläche des Penis sieht man die Narbe nach einer plastischen Operation, um die Abwärtskrümmung des Penis zu beseitigen. Die Scheide, vier Zoll lang, weist einen eingerissenen Hymen auf, läßt den Finger ein. Im Scheidengrunde tastet man das Collum uteri. Niemals Menstruation. Während des Bei- schlafes entleeren sich aus zwei Öffnungen jederseits des „Infundibulum", wie der Mann sich ausdrückte, mit Ejakulation einige Tropfen einer klebrigen Flüssigkeit. Der Penis wird sub coitu strotzend und zweimal größer als sonst. Man fand einen schmerzhaften, fluktuierenden Tumor rcchterseits im Unterbauche und einen kleineren linkerseits. Am 25. Juli 1896 entfernte Beck mit Bauchschnitt beide Tumoren, die er für sarcomatös ent- artete Hoden ansah. Die Operation war sehr schwierig wegen zahlreicher Verwachsungen der Tumoren mit der

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vorderen Bauchwand und den Därmen. Während der Operation gelang es nicht, eine genauere Inspektion der Bauchhöhle vorzunehmen. Der Patient starb am 18. Tage nach der Operation infolge einer Pneumonie. Bei der Sektion fand man einen Uterus von zwei und einem Viertel Zoll Länge, dessen Höhle im oberen Teile von Flimmerepithel, im unteren von plattem Epithel ausge-

Fig. i4. Vulva eines als Mädchen erzogenen mUnnlichen Scheinzwitters. Beobachtung von Beck.

kleidet war. Die Tuben enthielten kein Lumen, besaßen aber Ampullae. Unterhalb der Tuben soll man angeblich Ovarien gefunden haben (? N. ) Brooks unter- suchte mikroskopisch die Tumoren und erklärte sie für Teratome oder Blastoderme; einige Anteile der Tumoren boten das Aussehen und den Bau eines alveolaeren

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Sarcomes. Man fand weder B arthol in i 'sehe noch Cowper'sche Drüsen, welche ja Produkte der gleichen Anlage sind, also einander entsprechen. Becken und Schambehaarung männlich. Der Patient war untersucht worden von Garrigues, Bangs, Wallach, Irwin, Sprague, Dowling, .Tohnston, Little, Schoene- berg, Cavanagh. Da eine mikroskopische Unter-

Fig. lf>. Vulva eines als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitters. Beobachtung von Beck.

suchung der angeblichen Ovarien nicht ausgeführt wurde, so muß man Munde [Med. Reeord 1896 pg. 214] und Keller ( ibidem | Recht geben, wenn sie das Individuum einfach für einen männlichen Hvpospaden ansahen mit Bildung von Uterus und Vagina. (»Siehe Fig. 14 GL. 15.)

6) Carle [siehe im Vorhergehenden: Dritte Gruppe No. 3| fügte in seinem Falle von Herniotomie den Bauch-

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schnitt hinzu, um sich über diesen Fall Klarheit zu ver- schaffen.

7) Chevreuil [siehe Georgus Steglehner: „De Hermaphroditorum Natura tractatus anatomo physiologico pathologicus.* Banibergae et Lipsiae 1817 pg. 91]: Anna Bergault, Andegariensis, habitu masculino et barba nigra instructa virorum moribus , amictu femiuarum ex tumore magno in inguine sinistro gravibus sympto- matibus afflictatur; petit auxilium chirurgi Pelletier, qui examine de tumore instituto, insuetam genitalium fabricam advertit, de quo certiorem reddit celeb. Bon- denarium Parisiensem et Dr. Chevreuil Andegariae medicinam exercentem. Hic quae vidit et in viva et in cadavere, sequentibus refert. Instructa erat pene clitorideo, Septem ad octo linearum diametri, pollices unum et dimidium longo, glande terminato praeputio cincta; sub glande sulcus aderat, qui pro recipienda Urethra destinatus videbatur. Canalis urethrae tenuis sed dilatatus sub virgae medium orificio desiit, et sulco glandis ad urethram usque frenulum apparuit cutaneum. Ab orificio urethrae in dextro latere descendit plica cutanea major, quae pudendi labium simulabat; in sinistro latere haec cutis plica a tumore qui cutim distenderat, deleta erat Vaginae ostium nullum sed annus infra patuit. Ex annulo prodiit tumor, qui capitis infantilis magnitudine ab ilei ossis spina superiori versus pubis arcum oblique ductu procedens in immi ventris cava versus hypochondrium sinistruni et epigastrium ascendit. Post mortem aegrotae Chevreuil cadaver apperiebat, qui sub tumore vesicani deorsum urgente uterum cavum pollicem longum et uteri cervicem detexit, qui in urethram ovali ostio hiabat, superius labio rubente obtecto. In latere uteri dextro ligamentuni rotundum adhaesit et inter ligamenti lati laminas ovarium et tubae reperie- bantur, in sinistro latere obscrvatus fuit tumor hydropicus

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ovarii, cui tuba sinistra imponebatur; pars hujus tumoris in abdomine erat, pars ejus autem per annulum transiit» et tumorem exterius visendum constituit, in abdomine mesenterium in massam scirrhosam ab ilei regione ad processum sterni xyphoideum coaluerunt."

In diesem Falle scheint es sich also um einen Tumor einer Geschlechtsdrüse zu handeln, der sanduhrförmig teilweise in der Bauchhöhle lag, teilweise durch den Leistenring nach außen getreten war. Ste glehner gibt C h e v re u i 1 s Angabe wieder, es habe sich um einen Ovarial- tumoi gehandelt. Möglich ist ja dieses, aber es erscheint auch nicht ausgeschlossen, daß es ein Hodentumor war bei Zurückhaltung des anderen Hodens in toto in der Bauchhöhle und Vorhandensein eines hochgradig ent- wickelten Uterovaginalkanales, der in die männliche Urethra mündete. Heute ist natürlich von einer Ent- scheidung solcher zweifelhaften Fälle nicht zu reden, da nur das Mikroskop, aber nicht das makroskopische Aus- sehen einer Geschlechtsdrüse entscheiden kann. Zum Beweise führe ich den oben erwähnten Fall an, wo Martin in dem Glauben, ektopische inguinolabiale Ovarien exstirpiert zu haben, noch bei makroskopischer Betrachtung der exstirpierten Gebilde fest überzeugt war, es seien Eierstöcke ja er glaubte sogar Follikel zu sehen , wo doch das Mikroskop auf Hoden mit aller Bestimmtheit verwies.

8) Clark [„Nephrolithotomie chez un hermaphrodite" MeMecine Moderne 1896 No. 43 Referat: Frommel's Jahresbericht für 1897 pg. 927 No. 18]: Eine Frau starb nach einer von Clark vollzogenen Nephrolithotomie. Die Sektion erwies, daß diese Person, die zeitlebens als Frau ge- golten hatte, ein männlicher Scheinzwittcr war. Penis hypo- spadiaeus rudimentarius, rudimentaere Prostata, kein Uterus, Brüste männlich angelegt, Scrotum gespalten, der rechte Hoden lag in der Schamlefze, der linke im Leistenkanale.

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9) Delageuiere aus Tours berichtete der Pariser Soctfte' de Chirurgie [siehe Progres Medical 1899 No. 2| folgende interessante Beobachtung: Er fand bei einer 27jährigen Frau eine absolut normal gestaltete Vulva mit ganz kleiner Clitoris, regelrechten Schamlippen, sodaß absolut nichts und nichts vorlag, das einen Zweifel an dem Geschlechte hätte hervorrufen können. Die Scheide erwies sich aber in der Höhe von 5 Centimetern blind geschlossen. Von Zeit zu Zeit sollen menstruale Phaenomene aufgetreten sein. Er konstatierte jederseits einen „petit point d'hernie inguinale". Ein Bruchband vertrug die Person absolut nicht: Taxisversuche waren äußerst schmerzhaft. Delageniere machte also den Bauchschnitt, fand dabei weder einen Uterus noch Spuren von breiten Mutterbändem. Die von ihm ent- fernten Geschlechtsdrüsen erwiesen sich unter dem Mikroskop als Hoden. [Siehe auch: Semaine Mcklicale 1899, No. 2 pg. 13J: Delageniere hatte dieser Frau den Bauchschnitt vorgeschlagen, um den Uterus aufzu- suchen und mit dem oberen Ende der blind endenden Scheide zu vereinigen und vollzog die Operation am 5. VIII. 1897 unter Assistenz von Dr. Parisot. Er operierte in Trend el enbu rg*s Hängelage und fand zunächst nichts von inneren Genitalien als zwei anfäng- lich von ihm für Ovarien angesehene Gebilde, deren je eines an der inneren Otlnung je eines Leistenkanales lag. Später glaubte er den Eindruck zu gewinnen, als seien es atrophische Hoden. Um diese Gebilde entfernen zu können, mußte er die innere Otlnung eines jeden Leisteu- kanales etwas spalten. Bauchwunde geschlossen. Heilung. Das Mikroskop erwies atrophische Hoden. [Siehe auch: Annales de Gynecologie et d'Obstetrique. 189G. pg. 57—63, mit zwei Abbildungen.]

10) v. Engelhardt [„Ueber einen Fall von Pseudo- hermaphroditismus femininus mit ( arcinom des Uterus*

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Monatsschrift für Geb. u. Gyn. December 1900 pg. 729—744 mit drei Abbildungen] :

Als Todesursache eines lange Jahre hindurch ver- heirateten Mannes von 59 Jahren, Karl Menniken, wurde ein Carcinoma uteri erhärtet. Die Sektion stellte fest, daß Karl Menniken keine Hoden sondern Ovarien hatte und ein Weib war, obwohl er jahrelang cum uxore den Beischlaf ausgeführt. Bezüglich Einzelheiten siehe meinen Aufsatz im vorigen Jahrgange diese Jahr- buches sub I No. 18.

11) Fehling (»Ein Fall von Pseudohermaphro- ditismus femininus externus' Archiv für Gynaekologie. Bd. 42. pg. 361. 1892J: Im Januar 1891 trat die (s. Fig. 16 u. 17) 21 jährige P. . in die Klinik ein. Die Periode trat im 15. Jahre ein und wiederholte sich regelmäßig; anfangs im 16. Jahre war sie postponierend und blieb im 17. ganz aus. Schon damals bemerkte das Mädchen einen apfelgroßen Tumor im Bauche. Die ständig zu- nehmenden Leibschmerzen zwangen sie endlich unter Aufgabe ihres Dienstes in das Hospital einzutreten. Man konstatierte Scheinzwittertum. Becken weiblich, Brüste rudimentär entwickelt, Stimme eher männlich, sehnurr- bartartige Gesichtsbehaarung. Scharabogen weit, Clitoris 5 Centimeter lang, von Daumendicke, erectil, mit aus- gesprochener Eichel und Vorhaut. Die Erektionen traten sogar auf während einer libidinösen Unterhaltung. Vagina von Hymen am Eingange umgeben. Die liuke Schamlefze ist schwach entwickelt, aber behaart, das rechte Labium majus stellt im oberen Teil einen rundlichen Sack dar, wie eine Scrotalhälfte. Man fühlt darin einen kleinen druckempfindlichen Körper nebst dünnem Strange. Der Finger läßt sich hier in den Leistenkanal, in die Bauchhöhle einstülpen. Darmschlingen sind im Bruchsacke nicht nachweisbar. Unter Narkose stellte man eine retro- versio uteri fest mit nicht durchgängigem Cervikalkanal.

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Fig. IG. Äußere Genitalien eines weiblichen Scheinzwitters mit Hypertrophie der Clitoris, Inguinolabialektopie des rechten Ovarium u. der rechten Tube. Ansicht bei hängender Clitoris.

Beobachtung von Fehling.

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Im vorderen Scheidengewölbe fühlte mau einen fluk- tuierenden Tumor, der nach einigen Schwanken als

Fig. 17. Äuüere Genitalien eines weiblichen Scheinzwitters, bei dem wegen Neoplasma des linken üvarium der Leibschnitt gemacht wurde. Beobachtung von Fehling.

Haematometra angesehen wurde. Fieber. Eine zweimalige Punktion des Tumors durch die vordere ßauchwand

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ergab keinen positiven Bescheid. Da es endlich gelaug, die Uteruskontouren zu tasten, so wurde ein uteriner Sitz des Tumors ausgeschlossen und angenommen, er entstamme dem linken Ovarium, während wahrscheinlich der rechte Eierstock in hernia labiali liege. Der Bauch- schnitt am 21. Januar bestätigte vollkommen diese Voraussetzung: Es fand sich ein Myxosarcoma ovarii sinistri: der Tumor wurde abgetragen, das rechte Ovarium, welches mit der Tube in die rechte Schamlefze ausgetreten war, wurde in die Bauchhöhle hineingezogen, wo diese Organe auch in der Folge verblieben. R. P. war also ein weiblicher Scheinzwitter mit ganz bedeutender Hyper- trophie der erectilen Clitoris peniformis, und nicht ein männlicher Scheinzwitter wie man wohl von vornherein hätte vermuten können. Die ektopische Tube konnte leicht einen Saraenstraug, der ektopische Eierstock einen Hoden vortäuschen, die Vulva eine peniscrotale Hypospadie. Der Uterus war infantil entwickelt. Fehling unterließ die beabsichtigte Vernähung der inneren Oeffnung des Leistenkanales, weil er die Operation angesichts schlechter Atmung schneller beenden wollte. Neben dem Myxo- sarcoma ovarii sinistri globocellulare fand sich ein kleines Fibrom mit starker Verkalkung. Der Tumor wog 5 Pfund.

12) G ruber [M£moires de 1'AcadtSmie Imperiale des Sciences de St. Pi'tersbourg 1859 Tome 41. No. 13] beschrieb mit einer Abbildung ein 22 jähriges Individuum infolge von Carcinom einer Geschlechtsdrüse verstorben. Es war ein männlicher Scheinzwitter mit Hypospadiasis peniscrotalis; im sinus urogenitalis lagen die Offnungen der Urethra und der Vagina. Es fand sich ein Uterus und eine Vagina von je 8 Centimeter Länge. Linkerseits fand man neben der Tube eine carcinomatös entartete Geschlechtsdrüse, seiner Zeit von G r u b e r für ein Ovarium angesehen, in der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse faud man canaliculi seminiferi und konstatierte, daß letztere ein

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Hoden war. Man fand auch den dazugehörigen Neben- hoden und das Vas deferens, konnte aber dessen peri- pheres Ende nicht entdecken. Offenbar liegt hier in der Deutung der ovariellen Natur der carcinomatösen links- seitigen Geschlechtsdrüse ein Irrtum vor und handelt es sich um männliches Scheinzwittertum und Kryptorchismus mit bösartiger Entartung des einen Hodens (siehe Fig. 18).

Fig. 18.

Innere Genitalien eines männlichen Scheinzwitters mit hochgradiger Entwickelung der Müller 'sehen Gänge und Carcinom einer Ge- schlechtsdrüse. Zeichnung kopiert nach Ahlfeld's Atlas. Beob- achtung von Grub er. ves. = Harnblase, prost. = Prostata, ter. = Ligamentum teres uteri sinistrum, pro«, v. per = processus vaginalis

peritonaei.

13) Gunkel [„Uber einen Fall von Pseudoherm- aphroditismus." I. D. Marburg 1887.] erwähnt einen inter- essanten Fall folgender Art: Ein Mädchen verriet im geschlechtsreifen Alter geschlechtlichen Hang zu Frauen, also männlichen Geschlechtsdrang. Infolge einer De- nunciation wegen Incest wurde das Mädchen 1863 einer gerichtlich-medizinischen Untersuchung unterworfen und für einen männlichen Scheinzwitter erklärt, einen Hypo- spadiaeus mit Kryptorchismus bilateralis behaftet [männ- licher Bart, Penis hypospadiaeus etc.] aber ein Decret der Regenz gestattete dem Seheinzwitter, auch weiterhin

Jahrbuch V. 20

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weibliche Kleidung zu tragen. Im 50. Lebensjahre starb diese Person. Die Sektion konstatierte zur Überraschung der Experten, daß sie sich geirrt hatten: Obgleich das Aussehen der äußeren Scham tatsächlich mehr einer männlichen als einer weiblichen ähnlich sah, fand man einen Uterus und zwei Ovarien, Tuben und die zum Uterus gehörigen Ligamente. Die Vagina, nach unten zu sehr verengt, öffnete sich in capite gallinaginis in die männlich veranlagte Harnröhre. Die äußere Öffnung der Harnröhre lag aber nicht in der Glans, wie es beim Manne sein sollte, sondern zwei und einen halben Centi- meter nach hinten unten von dieser Stelle der vorderste Teil der männlichen Harnröhre war also hvpospadisch. Auch eine Prostata wurde gefunden. Der Uterus war myomatös entartet. Dieser Fall gehört zu den selten vorkommenden Fällen von clitoris peniformis. [Sind die Ovarien mikroskopisch als solche bestätigt? N.|

14) W. Hall [„Carcinoma of the ovary in a herni- aphrodite". Transactions of the St. Louis Obstetric. and Gyn. Society. 17. VIII 1898, siehe: American Gyn. and Obstetric Journal. Vol. XIII. 1898 pg. 181, siehe: Referat FrommePs Jahresbericht für 1898 pg. 901 1 Scham weiblich, aber hypoplastisch und miniaturell, dagegen Clitoris anderthalb Zoll lang. Becken schmal, Brüste sind nicht da, Stimme männlich, Extremitäten und Oberlippe des 17jährigen Individuum behaart. Im 14. Lebensjahre soll einmal eine Blutausscheidung aus dem Genitale stattgehabt haben; in der rechten Beckenhälfte lag ein Tumor, in dem nach Exstirpation ein Carcinoma ovarii erkannt wurde. Der andere Eierstock erschien klein, atrophisch. Das Original der Arbeit war mir nicht zugänglich.

15) Hansemann [Drei Fälle von Hermaphroditis- mue." Berliner Klinische Wochenschrift 1898. No. 25. pg. 149 u. ff.]: Eine 82jährige Frau Kristine Bock-

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fleisch, durch lange Jahre in Amerika verheiratet, starb im Berliner Krankenhause am Friedrichshain. Der Leichnam wurde von Professor Fürbringer seziert. Ein Sektions- protokoll fand sich nicht vor, dagegen vier Photo- gramme und die Krankengeschichte. In der pathologisch- anatomischen Sammlung des Hospitals rinden sich die Beckenorgane mit den äußeren Genitalien sowie der Kehlkopf. [Präparat I, 268J. Die Sektion fand am 27. V. 1887 statt. Der Tod war eingetreten infolge von Sepsis und Xierenabscessen bei Blasenkrebs. Es bestand niemals Zweifel über den männlichen Charakter dieser Person, obwohl sie als Frau verheiratet gewesen war. Auch die Photogramme zeigen ein starkknochiges männliches Individuum und raachen trotz Bartlosigkeit und dem lang ausgewachsenen Haupthaar den Eindruck eines verkleideten Mannes. Das Scrotum ist gespalten, an jeder Seite befindet sich ein normal gebildeter Hodeu. Penis hypospadiaeus an der oberen Fläche gemessen 8 Centimeter, an [der unteren 3 Ceutimeter lang, haken- förmig nach unten gekrümmt. An der gespaltenen männlichen Harnröhre sieht man eine Anzahl von Lacunae Morgagnii in der Mittellinie belegen. Vorhaut kurz. Die Urethra ist weit und mag im Leben für den kleinen Finger durchgängig gewesen sein, jetzt in dem ge- schrumpften Zustande kann man noch leicht einen Blei- stift einführen. In der Umgebung der Urethra ist die Epidermis etwa in Centimeterbreite glatt, ähnlich einer Vaginalschleimhaut. Nach außen wird sie runzlig und geht in die Bedeckung der beiden Scrotalhälften über. Diese glatte Stelle erweckt den Eindruck eines Introitus vaginae, da die beiden Scrotalhälften dicht bei einander liegen. Nach hinten biegt diese Partie zum Damm in einer scharfen Kante um und von hier bis zum After sind noch 5,5 Centimeter. Die Urethra ist bis zum Eintritt in die Blase 10,5 Centimeter lang, eine Prostata

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nicht vorhanden, dagegen Corpus gallinaginis gut ent- wickelt. Die Mündungen beider Vasa deferentia sicht- bar. Samenblasen atrophisch, aber an normaler Stelle gelegen. Jn der Harnblase sieht man den flachen ulcerierten Krebs. Ureteren und Nierenbecken erweitert, in beiden Nieren zahlreiche Abscesse. Kehlkopf etwas klein, aber nicht unverhältnismäßig.

IG) Howitz | siehe: Blom: Gynaekolog. obstetr. Middelelser. T. X. Heft HI pg. 194— 210]. Eine 49jährige Frau trat in die gynaekologische Klinik in Kopenhagen ein wegen eines Rauchtumors. Howitz exstirpierte einen myomatüsen Uterus, die Frau starb am 5. Tage nach der Operation infolge von Embolie. Obwohl das Aussehen der äußeren Genitalien für männliches Geschlecht sprach, fand man doch bei der Nekropsie weibliches Geschlecht, aber die Ovarien enthielten keine G raaf'schen Follikel! Diese Person war unverheiratet und hatte kaum einige Mal eine Blutung aus dem Genitale gehabt zwischen dem 30. und 40. Lebensjahre und zwar in Abständen von einem oder mehreren Jahren. Diese Blutungen waren stets minimal, dauerten kaum wenige Tage und waren stets ohne irgend welche Molimina menstrualia gewesen. Vor 6 Monaten bemerkte die Person zum ersten Male einen Bauchtumor, welcher aber schnell wuchs und immer größere Beschwerden hervorrief. Die Frau war klein von Wuchs, spärlich behaart bis auf das lange Haupthaar, mager, mit scharfen Gesichtszügen, mußte sich oft rasieren wegen Bartwuchses; Stimme und Brustkorb männlich, Kehlkopf vorspringend, Brüste fehlten. Schambehaarung und Becken männlich; die Schamlefzen waren leer, kleine Schamlippen mäßig ent- wickelt, Clitoris 0 Centimeter lang und zwei Centimeter dick; die glans Clitoridis zwei Centimeter lang, an ihrer unteren Fläche sieht man sowie an der unteren Fläche des Corpus clitoridis eine Rinne wie bei eiuem hypo-

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spadischen Penis und in dieser Rinne einige Krypten. Sinus urogenitalis eine flache einen Centimeter lange Vertiefung, eine Fingerspitze nicht aufnehmend. Keine Spur von einem Hymen zu entdecken. Durch eine feine Oeffnung am Boden des Sinus urogenitalis dringt eine dünne Sonde auf 7 Centimeter in eine Vagina ein. Damm 8 Centimeter breit, weist eine deutliche Raphe auf. Am 29. VI. vollzog Howitz den Bauchschnitt in der Meinung, es handle sich um einen myomatösen Uterus, er entfernte einen Tumor von der Größe einer Kokosnuß, bildete eine Art Stumpf und nähte den- selben in die Bauchwunde ein. Am vierten Juli starb die Frau plötzlich infolge von Embolia arteriae pulmonalis. Der Tumor erwies sich als ein Fibromyom und enthielt einen mit Schleimhaut ausgekleideten Kanal; nach unten zu erweiterte sich dieser Kanal bedeutend und konnte man in seinem unteren Abschnitte deutlich die Zeichnung des Arbor vitae erkennen an Vorder- und Hinterwand. Die Cervikalhöhle kommunicierte durch eine nur steck- nadelkopfgroße Öffnung mit einer Vagina. Portio vagi- nalis uteri nur einen Mill. lang, die Cervix dagegen war sieben und einen halben Zentimeter laug. Ligamenta rotunda uteri normal, ligamenta lata sehr niedrig, linker- seits eine normale Tube aber ohne Fimbriae um die sehr enge abdominale Öffnung. Rechterseits fehlte die Tube, an Stelle der Ovarien lag jederseits eine Gebilde von Gestalt und Größe einer Mandel: linkerseits außerdem ein gänseeigroßes Fibromyom. Keine Spur von einer Prostata. Die Scheide war 7 Centimeter lang und einen halben Centimeter breit. An der hinteren Wand der Urethra einen Centimeter unterhalb der Blasenmündung sah man jederseits eine feine Öffnung, kaum nadelspitzen- weit, welche jederseits in einen feinen Kanal führte, welcher in der Höhe von 1,35 Centinietern blind schloß. Diese Gartn er'schen Kanüle verliefen nach außen und

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nach hinten zu unter der Schleimhaut der Harnröhre. Chiewitz untersuchte die Geschlechtsdrüsen und kam zu dem Schlüsse, es seien Ovarien aber ohne Follikel- bildung. Das Stroraa war härter als das Stroma eines normalen Eierstockes einer erwachsenen Frau, erinnert aber in nichts an das Stroma eines Hodens. Keine Spur von Vasa deferentia gefunden.

| Meines Erachtens muß das Geschlecht in diesem Falle unentschieden bleiben, denn Chiewitz lieferte keinen Be- weis, daß die Geschlechtsdrüsen wirklich Ovarien waren, er fand Geschlechtsdrüsen in rudimentärem Entwickelungs- zustande, die meiner Ansicht nach ebensowohl rudimen- täre Hoden sein konnten als rudimentäre Ovarien. N.]

17) Dixon- Jones [siehe im Vorhergehenden: Erste Gruppe: Fall 14] fügte in seinem Falle von doppel- seitiger Herniotomie den Bauchschnitt hinzu, um sich von dem Aussehen der intraabdominalen Geschlechts- organe zu überzeugen.

18) Kapsaramer [Zentralblatt für die Krankheiten der Harn- und Sexualorgane. 1900. No. 1J hat eine in ihrer Art einzig dastehende Beobachtung beschrieben: Nitze in Berlin entfernte bei einem 30 jährigen Manne operativ einen Kalkphosphatstein von 165 Gramm Ge- wicht, welcher in der Höhle eines Utriculus masculinus lag, der mit enger Oeffhung in die Pars prostatica urethrae sich öffnete. „Gänseeigroßer Kalkphosphatstein in einem Vaginalsack beim Manne" [siehe Referat: Deutsche Medicinische Wochenschrift 1900, No. 4, Litteraturbeilage No. 3 vom 25. I. 1900, pg. 20.]

19) Kr ab bei [Vortrag in der Vereinigung nieder- rheinisch-westphälischer Chirurgen in Düsseldorf, am 20. Juli 1901 siehe: Monatsschrift für Geb. und Gvnaekologie, Oktober 1901, pg. 597] beschrieb eine Ovariotomie bei einem 32 jährigen Manne. Dieses Indi- viduum war als Knabe getauft und als Mann erzogen

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worden, indem man eine Hypospadiasis peniscrotalis diagnosticierte mit Existenz von Schamlefzen und einer engen Vagina. Nachdem der junge Mann das Gymnasium und die Universität beendigt hatte, erhielt er eine staat- liche Anstellung als Lehrer in einer höheren Schule. Niemals Periode. Es wurde ein Bauchhöhlentumor diagnosticiert [wie alt war das Individuum zu dieser Zeit? N.] und ein multilokulares Cystom des linken Eierstockes entfernt. Sub operatione fand man in der Bauchhöhle einen kleinen Uterus und ein Organ, welches man für den rechten Eierstock ansah. Der Uterushals ließ eine Sonde eindringen, wie man sich vor der Operation überzeugt hatte. Anderthalb Jahre nach dieser Operation wurde wegen Recidivs abermals der Leib geöffnet; der jetzt entfernte Tumor wurde von Professor Marchand als Teratom charakterisiert mit sarkomatösem Bau. Seit dieser Operation soll der Mann sich gesund fühlen. Erst im Februarheft 1902 der Monatsschrift für Geb. und Gyn. (pg. 227) fand ich einen etwas eingehenderen Bericht über diese seltene Beob- achtung: Der Mann war klein von Wuchs und von zartem Körperbau, mit Schnurrbart versehen und knappem Backenbart, weiblicher Stimme, nicht prorai- nierendem Kehlkopf und flachen Brüsten. Hypospadiasis penis; die Glans schien ohne Vorhaut. Statt eines Scrotum und der Hoden fanden sich zwei Schamlefzen. Sub narcosi tastete man per vaginam eine portio vaginalis uteri. Nach Entfernung eines Bauchhöhlen- tumors von 23 Pfund Gewicht fand man einen kleinen Uterus und rechterseits ein Ligamentum latum. Der Tumor war aus den linkseitigen Adnexa uteri hervor- gegangen, auf dem Tumor lag das linke Ovarium auf, das gleichzeitig mit entfernt wurde. Bei der mikro- skopischen Untersuchung jedoch erwies sich das als Ovarium aufgefaßte Gebilde als ein Parovarium. Der

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postoperative Verlauf war gut, aber nach anderthalb Jahren mußte, wie gesagt, wegen Recidivs der Leibschnitt wieder- holt werden. Der jetet entfernte Tumor war so groß wie der früher entfernte und erwies sich als Teratom von ge- mischtem Bau mit sarkomatösem Bau. Inhalt teilweise rayxomatös ; hier und da fauden sich auch Epithelnester. Krabbel sah in dem Tumor ein Embryom (Wilms). Dieser Mann hatte weder Menstruation noch Ejakula- tionen und soll seit der letzten Operation gesund sein.

20) Krug [„Ovariotomv in a herraaphrodite* Referat: The British Gynaecological Journal, August 1891 Vol. VII. No. 26. pg. 254 J in Newyork machte den Bauchschnitt bei einer jungen Polin von 19 Jahren. „When ten years old, a copious growth of hair appeared all over the body, especially the face. At sixteen ab- dominal pains with epistaxis occurcd monthly, but there was never any show. A swelling appeared a few months before she entered hospital. lt was diagnosed as haema- tometra and haematokolpos. Krug noted the masculine appearence of the patient. Nothing womanly exists save here long tresses. The wiskers and moustache were well developed and she shaved daily. The skeleton, espe- cially the pelvis, was massive. The external genitals at tirst sight were like thosc of a male; the clitoris was two inches long. Two folds, resembling a serotum, when they lay together, eoncealed a narrow vaginal orifice. The Ure- thra opened, immediately under and behind the penis like clitoris. The vagina contained no rugae. The Portio vaginalis of the cervix was minute. It' as a pinhole orifice, admitted a fine sound for about two inches. The tumor desceuded into the pelvis and appeared as though connected with the Uterus. It caused extreme distension of the Abdomen. Bronchitis and kidney disease compli- cated the case. A large sarcoma of the right ovary was removed. Its base had „to be shelled out of the right

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broad ligament. The left ovary formed a smaller sarco- matous tumour also sensible ; it was rerooved. The stumps on either side of the small Uterus, where two ligatures had been employed, were normal. Knifj hatte die irrtümliche Diagnose einer Haematometrokolpos gestellt vor dem Bauchsehnitte. Die Operation erwies weibliches Scheinzwittertum mit gewissen arrhenoidaleu Erscheinungen. Pseudohermaphroditismus femininus der Fall ähnelt demjenigen von Fehling in mancher Beziehung.

21) Lesse r (Deutsche Zeitschrift für praktische Medizin 17 1878 No. 10 Keferat: Schmidt 's Jahr- bücher Jahrgang 1878, Band 178. pg, 42].

Die 25jährige L., als Mädchen erzogen, hielt sich ganz abseits von jeglichem Verkehr, sei es mit Männern, sei es mit Frauen. Ihre reine Stimme sowohl als ihr allge- meines männliches Aussehen, erweckten schon seit langer Zeit in ihrer Umgebung den Verdacht, sie sei ein verkleideter Mann. Um endlich einmal diesen Gerüchten die Spitze abzubrechen, nahm die L. zu einer Lüge Zuflucht, sie erzählte nämlich, sie habe vor einigen Jahren unehelich ein Kind geboren, welches aber kurz nach der Geburt verstorben sei. Die L. selbst starb eines plötzlichen Todes. Sektion: Körperlänge 14*> Centimeter, männliche Gesichts- behaarung, Schnurrbart und Backenbart, Gesichtsausdruck gleichwohl weiblich. Pomum Adaini hervortretend, Brüste sehr schwach entwickelt; in der Bauchhöhle ein Tumor. Im linken Leistenkanale ein weiches verschiebliches ovales Körperchen von Pflaumengröße. Schani stark behaart. Man fand ein peuisartiges Glied von 5,5 Cent. Länge ohne Frenulum pracputii und ohne Praeputium, Penis hypospadiaeus. Die Kinne an der unteren Fläche des Penis reicht nach unten herab bis zwei Centimeter vor dem Anus und schließt mit einer Art Delle, welche die Kuppe des kleinen Fingers aufnimmt. Jederseits von dem Penis ein Hautdecken wulst von 10 Centinietor

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Länge und drei Centimeter Breite. Auf der runzligen Oberfläche dieser Hautwülste hier und da einige rötliehe stecknadelgroße Erhabenheiten. Hände und Füße weib- lich aussehend. In der Bauchhöhle fand man ungefähr 3000 Kubikcentimeter dunklen flüssigen Blutes, das kleine Becken war von einem fluktuierenden Tumor ausgefüllt, der Tumor hatte die Größe des Kopfes eines erwachsenen Mannes. Die Därme, ja sogar das Coecum erwiesen sich durch den Tumor stark nach oben dislociert. Der Tumor war mit der vorderen Bauchwand verwachsen in der Ausdehnung eines Fünfmarkstückes in der Gegend der inneren Öffnung des linken Leistenkanales. Kings um diese Stelle war das Bauchfell besät mit kleinen blut- infiltrierten Knötchen von verschiedener Größe und ver- schiedenem Aussehen. Die Lymphdrüsen und die linke Niere entartet. Von dem Tumor zieht ein 5 Millimeter dicker Strang zu dem im linken Leistenkanale liegenden ovalen Gebilde. Der Tumor war ein Alveolarsarcom. Der in die vorgenannte Delle am Damme eingeführte Finger gelangt in einen zylindrischen Kanal, in dessen Tiefe sich zwei Öffnungen befanden. Der Kanal war der Sinus urogenitalis, 2 Centimeter lang und anderthalb im Umfange messend. Wand sehr dick. Die obere der beiden Öffnungen im Sinus urogenitalis war die Harn- röhrenöffnung, die untere führte in eine 1 und einen halben Centimeter lange Vagina, die unten drei und einen halben Centimeter breit, weiter oben oberhalb einer Striktur 5,5 Centimeter breit war. Der Tumor entstammte dem Uterus und umgab teilweise sogar die Scheide in deren oberem Abschnitte. Der Tumor war an einer Stelle geplatzt und hatte so eine tötliche Verblutung herbei- geführt. Man fand keine Spur von Ovarien oder Pro- stata oder Samenbläschen wofür wurde denn jenes im linken Leistenkanale liegende Gebilde angesehen? Der Penis besaß deutlich drei Corpora cavernosa. | Wenn

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der Penis hypospadiaeisch war, so ist mir die Möglichkeit der Existenz von drei Corpora caversa mindestens zweifel- haft, jedenfalls ganz unverständlich. N]. Lesser er- klärte die Verstorbene für ein Weib mit gewissen Mängeln, da sie niemals menstruiert hatte. Einen Beweis bringt er jedoch für die Richtigkeit seiner Vermutung nicht meines Erachtens erscheint es viel wahrscheinlicher, daß L. ein männlicher Scheinzwitter war und daß wahrschein- lich der Tumor ein Sarkom eines in der Bauchhöhle reti- nierteu Hodens war, während der andere Hoden im linken Leistenkanale lag. Selbstverständlich sind das nur ver- mutete Möglichkeiten. Da ich die Originalarbeit Lesser's nicht besitze, so möchte ich einen Kollegen, welchem die Deutsche Zeitschrift für praktische Medizin für das Jahr 1878 zugänglich ist, ersuchen, die Arbeit Lesser's auf diesen Punkt hin kritisch durchzusehen.

22) Levy [Berliner klinische Wochenschrift. XX. Jahrgang 1882 pg. 620] stellte in der Berliner geburts- hülnich gynaekologischen Gesellschaft am 8. XII. 1882 (Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynaekologie IX. Bd. 1883 pg. 235: „Hermaphroditismus spurius femininus mit Tumor in Abdomine"] ein 16 jähriges Mädchen Anna Schulze vor. Da ich in der Sitzung zugegen war, damals noch Volontair in der Klinik des verstorbenen Professor Karl S c h r o e d e r, so benützte ich die Gelegenheit, um ein Modell der äußeren Genitalien dieses Mädchens anzu- fertigen. Das Mädchen hatte seit einem halben Jahre die Regel, wie es aussagte ; die Regel soll stets schmerz- haft sein. Körperhöhe 145 Centimeter, Haupthaar lang, Mammae wenig entwickelt, Allgemeinaussehen weiblich, ( litoris peniformis ähnelt einem hypospadischen Penis, ist drei Centimeter lang, sub erectione 5 Centimeter; die Erektion ist sehr energisch, sub narcosi. In jeder Scham- lefze tastet man ein härtliches verschiebliches Gebilde von 10-Pfennigstückgröße. Unterhalb der Harnröhren-

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mündung liegt die von einem Hymen garnierte Vaginal- öffnung. Die Vagina ist 5 Centimeter lang. Die Schara- lefzen sind schwach behaart und runzlig, über dem rechten horizontalen Schambeinaste sieht man eine Hervorwölbung, fühlt aber dort keine vergrößerte Resistenz; niemals Menstruation, wohl aber Molimina vorhanden. Ob der Tumor eine Haematometra oder ein Neoplasma des rechten Eierstockes ist, schreibt L e v y, wird die weitere Be- obachtung zeigen. Per rectum fühlte man einen Strang, nach oben etwas dicker werdend, und darüber mehr nach rechts gelagert, einen Tumor von der Größe einer großen Orange, festweich, nicht fluktuierend, mit glatter Ober- fläche; diesem liegt links oben ein mandelförmiges Gebilde au, das aber auch von dem Tumor abhebbar ist. Unter- halb des Tumors findet sich noch ein erbsengroßes Gebilde, aber außer Zusammenhang mit ihm. „Das Aussehen der Clitoris sowie die in den Schamlefzen getasteten Gebilde müssen den Verdacht einer erreur de sexe" wecken, für mich muß das Geschlecht in diesem Falle vorläufig unentschieden bleiben, da ja die Angabe der stattgehabten Menstruation eine fragliche ist,

23) Ernst Levy |„Über ein Mädchen mit Hoden und über Pseudohermaphroditismus" Hegaus Beiträge zur Geburtshülfe und Gynäkologie. Leipzig 1901. Bd. IV. Heft III. pg. 347— 3t>0.| beschreibt einen von Do e der- lei n operierten Fall, der nach Kastration eines Mädchens feststellte, daß die exstirpierten Geschlechtsdrüsen Hoden waren und giebt im Anschlüsse hieran die Kranken- geschichte einer von v. Saexinger mit letalem Aus- gange operierten Person. Die 20jährige M. Str. bot ein weibliches Allgemeinaussehen, sowie auch manche sekun- dären Geschlechtscharaktere weiblich waren. Als sie geboren wurde, sagte die Hebeamme, das Kind sei ein männliches mißbildetes Kind, es wäre aber besser, das- selbe als Mädchen zu erziehen, weil der Harn nicht vorn

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am Gliede abgegeben werde. Niemals Regel bisher, wohl aber schon seit zwei Jahren alle drei Wochen je 4 5 Tage andauernde Leibschmerzen mit ärztlicherseits dabei konstatierten Tempenitursteigungen. Seit drei Monaten schon bemerkte Patientin, daß ihr in der rechten Hälfte des Unterleibes ein Tumor wachse. Seit dieser Zeit ist sie sehr abgemagert und arbeitsunfähig geworden. Patientin ist 168 Centimeter hoch, anaemisch, ohne Spur von männlicher Gesichtsbehaarung. Stimme und Kehlkopf männlich, Andromastie. Im rechten Hypogastrium ein schmerzhafter glattwandiger, harter ovaler Tumor von Kindskopfgröße: der Tumor entspringt aus dem kleinen Becken und läßt sich nicht in das große Becken hervor- heben. Linkerseits ein ähnlicher kleinerer Tumor, da- hinter ein sehr druckempfindliches Gebilde, welches den Eindruck eines etwas vergrößerten Ovarium macht. Der bei Druck auf diese Gebilde empfundene Schmerz gleicht absolut dem sonst periodisch allmonatlich em- pfundenen Schmerze. Schambehaarung weiblich. Statt einer Clitoris fand man einen hypospadischen Penis von 5,7 Centimeter Länge, hakenförmig nach unten gekrümmt, an der Unterfläche drei Centimeter lang. Die Glans kastaniengroß. Der Penis erwies sich ercctil. An seiner unteren Fläche eine Rinne, die bis zwei Centimeter oberhalb der Aualöffnung reicht Nach hinten unten zu wird diese Rinne ständig breiter und wird zuletzt einen Centimeter breit. Hier liegt eine Oeffnung, welche den Katheter in die Blase einläßt. Das Präputium, nach hinten gestreift, läßt sich soweit vorziehen, daß es die ganze Glans Penis bedeckt.

Keine Spur einer Vagina zu finden, wohl aber existieren große Schamlefzen, mit einer Spur von kleinen Schamlippen, welche die Harnröhrenöffnung seitlich um- geben. In jeder Leistengegend tastet man ein festweiches kleines Gebilde von Haselnuß- resp. Bohnengröße. Diese

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Gebilde lassen sich leicht in die Bauchhöhle hineinstoßen. Beide waren sehr druckschnierzhaft. Per rectum fühlte man zwischen per urethram eingeführtem Katheter und Finger kein Gebilde in der Art einer Vagina. Per rectum tastete man den rechtsseitigen sehr schmerzhaften Tumor, welcher hier Fluktuation aufwies. Während des Aufenthaltes in der Klinik hatte das Mädchen 'seine Monatsschmerzen und die Tumoren erschienen dabei ver- größert. Am 14. März vollzog Professor v. Saexinger den Bauchschnitt, konnte aber die Tumoren nicht ent- fernen. Die Operation blieb unvollendet, zudem mußte, da es an einer Stelle kontinuierlich blutete, ein Gaze« tampon eingelegt werden, also die Bauchwunde nicht ganz geschloßen. Die Kranke starb am nächsten Morgen. Die beiden Tumoren erwiesen sich sub nekropsia als Rundzellensarcome, und zwar entsprangen sie an den Stellen des Beckens, wo normal die Ovarien liegen. Man fand aber nirgends auch nur die geringste Spur von O variaige webe; man fand aber zwischen den Tumoren hinten und rechterseits gelagert ein Gebilde von dreieckiger Gestalt, welches als Uterus angesprochen wurde. Uterus- wände sehr dünn, die Uterinhöhle komraunicierte nach unten zu mit einem Kanäle von 18 19 Centimeter Länge, einer Vagina, welche sich dicht hinter der Urethral- mündung in jene vorgenannte Rinne am Damme öffnete. [Man hatte in vivo diese Oeffnung übersehen? X.] Das Lumen der Scheide war im oberen Teile so groß, daß der Zeigefinger einging, im Scheidenausgange aber nur kleinfingerweit. Die Cervix uteri war mit den Tumoren eng verwachsen und so verlängert, daß man eine deutliche Grenze zwischen Cervix und Corpus uteri nicht feststellen konnte, ebensowenig fand man eine ausgesprochene Grenze zwischen Uterus und Vagina. Die Eileiter waren da, ebenso die Ligamenta rotunda, welche außerhalb der Leistenkanäle abschlössen mit einer Art cystischen Bildung

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von zwei Centiraeter Länge. [Hydrocele? N.J Hinter der Vagina fand man zwischen ihr und Rectum in der Höhe des äußeren Muttermundes einen fluk- tuierenden Sack mit gespannten Wandungen. Dieser faustgroße Sack war eine mit seröser Flüssigkeit gefüllte Cyste mit glatter blasser Innenwand. Harnröhre vier Centimeter lang, von weiblichem Bau, ohne Spur einer Prostata, eines Caput gallinagiuis oder Öffnungen der Ductus ejaculatorii. Die Cyste war mit Flimmerepithel ausgekleidet. Die härtlichen Gebilde, in der Gegend der Leistenkanäle unter den Hautdecken getastet, erwiesen sich als Metastasen der Tumoren. Man fand keine Spur von Hodengewebe. Doe der lein, welcher den v. Saexinger operierten Fall beschreiben ließ, vermutete, die Person sei ein weiblicher Scheinzwitter gewesen mit maligner Degeneration der Geschlechtsdrüsen, penisartiger, hypertrophischer und erektiler Clitoris, bei großer Enge der äußeren Scheidenmündung und Existenz einer Cyste aus einem Wol ff sehen Körper entstammend wohl Parovarialcyste. [Da keine Spur von Ovarialgewebe ge- funden wurde, ebensowenig wie eine Spur von Hoden- gewebe, so kann hier von einer Entscheidung des Ge- schlechtes gar nicht die Hede sein ich persönlich würde eher männliches Scheinzwittertum in diesem Falle vermuten, gestützt auf analoge Fälle von Hodensarkom bei Vorliegen eines hochgradig entwickelten Uterovaginal- kanales. N.]

24) Liebmann [ßudapesti Kir. Orvooseg. 1890. 10. V. siehe: Referat: Centraiblatt für Gynaekologie. 1890 pg. 928j: Bei einer 45jährigen Frau war vor einem Jahre ein elastischer Tumor in der linken Leiste ent- standen, schnell bis Faustgröße anwachsend. Man fand keine Spur von Uterus oder Ovarien. Die äußeren Schamteile dürftig angelegt; Brüste gut entwickelt. Weder jemals Periode noch auch Molimina menstrualia.

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Die Person heiratete im 27. Jahre einen Mann von 66 Jahren und hatte auch nicht die geringste Ahnung von ihrer Mißbildung. Der Tumor sollte ein Lipom sein. [Leider ist das Referat zu kurz, um alle die Fragen zu beantworten, die sich in diesem zweifelhaften Falle von selbst aufwerfen. N.J

25) Litten [Ein Fall von Androgynie mit malignem teratoidem Kystom des rechten Eierstockes mit doppel- seitiger Hydrocele cystica processus vaginalis peritonaei Virchows Archiv 1879 Bd: 75|.

Am 31. Mai trat in die Klinik von Professor Frerichs die 16jährige Klara Hacker ein, angeblich wegen Ascites. Gleich bei der ersten Inspektion fiel das eigen- tümliche Aussehen der Genitalien auf und schwankte man, ob die Patientin in einem Frauensaal oder in einem Mäunersaal unterzubringen sei. Der allgemeine Körperbau weiblich, aber das Aussehen des Geuitale rein männlich, nur fiel ein klaffender Spalt auf, welcher sich in der Raphe der als Scrotura imponierenden stark gerunzelten Hautfalten bis gegen das hintere Ende derselben hin erstreckte* Penis am Dorsum 5 und einen halben Centimeter lang, zwei und einen halben an der unteren Fläche. Sub erectione wird das (Ilied 10 Centimeter lang, man tastet die Schwellkörper. Man gewinnt das Bild einer Hypospadiasis peniscrotalis mit einer Rinne, welche bis 4,5 Centimeter vor der Analöffnung reicht. Zu beiden Seiten dieser Rinne fanden sich derbe, gerunzelte und mit kurzen Härchen besetzte Hautfalten, welche in ihrer Beschaffenheit auf's Lebhafteste an die Scrotalhaut erinnerten. Beim Auseinanderziehen dieser fettreichen Falten erkannte man in dem nunmehr geöffneten Kanal deutlich die oben liegende Urethralmündung und darunter den außerordentlich engen, eben noch für die Sonde passierbaren Scheideneingang. Klara war als Mädchen erzogen, hatte aber die Stimme eines 20jährigen Mannes.

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Sie war das älteste von 8 Kindern ihrer Eltern, die Geschwister waren alle normal gebaut. Es fiel jedermann auf, wie ungemein rasch sich der Verstand Klara's ent- wickelt hatte sowie ein ausgesprochener Trieb zu Selbst- ständigkeit und Unabhängigkeit. Sobald Klara bemerkt hatte, daß sie anders körperlich gebaut war, als ihre Freundinnen, zog sie sich von jedem Verkehr mit ihnen zurück. Die Regel trat im 15. Jahre ein, war stets spärlich und schmerzhaft und mit Anschwellen der Brüste verbunden. Im zweiten Jahre nach Eintreten blieb die Periode einige Monate lang aus, in dieser Zeit fing der Leib an, an Umfang zuzunehmen. Die Harnsecretion nahm sehr zu und das Harnen wurde schmerzhaft. Der Tumor, die Bauchhöhle ausfüllend, reichte bis 11 Centi- raeter oberhalb des Nabels, erschien nicht einheitlich, sondern gelappt, mit ungleicher Konsistenz, asymmetrischen Kontouren etc. Im ersten Augenblicke dachte man an Schwangerschaft um so mehr als die Regel ausgeblieben war, aber die Gestalt des Tumors sprach gegen Schwanger- schaft, ebenso das Aussehen der äußeren Genitalien, ganz besonders aber die Enge der Scheidenmündung, welche kaum eine dünne Sonde einließ. Da man also eine Schwangerschaft ausschloß, so wurde der Uterus sondiert. Die per vaginam eingeführte Sonde drang 19 Centimeter tief ein in der Richtung nach rechts oben. Die Kuppe der Sonde konnte man in dem kleineren rechts- seitigen Tumor tasten, der dem größeren gleichsam aufsaß. Dieser kleine Tumor wurde also für den Uterus an- gesprochen, nach rechts dislociert durch einen von links ausgehenden Tumor. Scheide, Uterus und Blase wiesen sämtlich eine bedeutende Verlängerung auf, der Katheter drang auf 15 Centimeter Tiefe in die Blase ein! In der linken Scrotalhälfte tastete man ein Gebilde von Mandel- größe; rechterseits lag ein ebensolches Gebilde vor der äußeren Öffnung des Leistenkanales ; von jedem dieser

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Gebilde schien ein Strang nach dem Leistenkanale zu zu verlaufen. Nach einer am nächsten Tage vollzogenen Punktion stellte man die Diagnose auf einen Ovarialtumor, ein vielkämmeriges Cystom. Die mandelförmigen Ge- bilde in scroto fisso sah man für Hoden an, jene Stränge für Samenstränge. Die Kranke starb unoperiert nach siebenwöchentlichem Aufenthalte im Hospital an Erschöpf uug. Die Sektion wurde von Professor Virchow gemacht.

Er hatte die Klara Hacker noch vor ihrem Tode gesehen und damals das Geschlecht für weiblich erklärt, obgleich die Hypertrophie der Clitoris sowie jene in den Schamlefzen tastbaren Gebilde auf männliches Geschlecht hinweisen. Virchow schloß männliches Geschlecht aus, weil er neben den als Hoden gedeuteten Gebilden keine Nebenhoden tasten konnte, und glaubte, es handle sich um inguinolabiale Ektopie der Ovarien. Dafür sprach auch das Anschwellen dieser Gebilde intra Menses. Trotzdem hatte Virchow sich geirrt; die von ihm für ektopische Ovarien angesprochenen Gebilde waren aller- dings nicht Hoden, wie man in der Klinik von Frerichs vorausgesetzt hatte, aber auch nicht Ovarien, sondern abgeschnürte praeinguinale Teile der Processus vaginales peritonaei. Linkerseits war daraus eine kleine Hydro- cele, rechterseits eine Haematocele entstanden. Der Bauchtumor erwies sich als ein Myxosarcom des rechten Ovarium, das linke erwies sich als normal. Da der rechte Eierstock degeneriert war, der linke aber eine glatte Oberfläche hatte, ohne Spuren geplatzter Follikel, so bezweifelte Virchow den menstruellen Charakter der von Klara Hacker angegebenen Blutungen, eine An- sicht, die sich wohl heute nicht mehr halten lässt, da, wie wir wissen, manche Frauen auch nach operativer Entfernung beider Ovarien trotzdem noch eine Zeit lang ihre katamenialen Blutungen behalten können. Man

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fand auch Metastasen des Myxosarcoius in der Leber und eine Nephrolithiasis ulcerosa.

26) Merkel [Beiträge zur pathologischen Anatomie und allgemeinen Pathologie. Bd. XXXII. I. Heft, pg. 157—1902]. Bei der Sektion eines 52jährigen Mannes fand Merkel in einer Leiste eine Hernie. Der Mann

Ut T

P

Fg. 19: Uterus eines männlichen Scheinzwitters von 52 Jahren. Sektionspräparat. Beobachtung von Merkel. Ut = Uterus, T^Tube, N = Nebenhoden, H = Hoden, V = Vas deferens, Ur = Ureter, B = Blase, A = Ampulle, S = Samenblasen, D = Duct. ejaculatorii, P = Prostata.

war infolge von Carcinoma recti gestorben. In hernia fand er einen gut gestalteten Uterus und jederseits von demselben je eine Geschlechtsdrüse, die wie ein Ovarium jede aussahen : sie waren oval und taubeneigroß. Pseudo- hermaphoditismus masculinus internus mit gleichem Ent-

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wickelungsgrade der Müll ergehen und der Wolffschen Gänge, da die Geschlechtsdrüsen sich mikroskopisch als Hoden erwiesen. Der Uterovaginalkaual war 20 Centi- me ter lang. Die Vagina mündete in capite gallinaginis in parte prostatica urethrae. Prostata normal. Merkel fand vier Samenblasen. Das linke Vas deferens war in ganzer Länge viabel, das rechte nur im oberen Abschnitte. Die Samenblasen enthielten normales Sperma. Allgemein- aussehen, Stimme und Behaarung männlich; der Maun hatte normal mit seiner Frau kohabitiert und, wenn die Ehe kinderlos blieb, so muß die Sterilität von den Or- ganen der Frau und nicht von dem Manne abgehangen haben. Der Uterus enthielt weder Blut noch Schleim und ging ohne eine Spur einer sichtbaren Portio vaginalis nach unten zu sehr dünnwandig in die Vagina über. Das Lumen der Vagina war bleistiftweit, die Hoden lagen da, wo bei Frauen die Ovarien liegen; man fand j euerseits ein Ligament, dem Ligamentum ovarii proprium entsprechend. (Siehe Fg. 19). Merkel gibt an, er habe in der Literatur 16 Fälle von Uterus masculinus von hoher Entwickelung gefunden, die Fälle sind aber, wie ich ge- legentlich nachweisen werde, ganz bedeutend häufiger. Ich werde die gesamte Kasuistik der Entwickelung der Müller 'sehen Gänge bei Männern, resp. männlichen Scheinzwittern, Foeten an anderer Stelle veröffentlichen.

27) Mies [„Pseudohermaphroditismus masculinus" Münchener Medizinische Wochenschrift 1899. Bd. XLVI. pg. 998]. Man vermutete eine „Erreur de sexe" bezüglich der 6&jährigen Else G., in das Hospital aufgenommen wegen Krebs der Unterlippe angesichts dessen, daß diese Lokalisation des Krebses bei Frauen eine äußerst seltene ist, angesichts der männlichen Stimme der Kranken, ihrer männlichen Behaarung, des Mangels von Brustdrüsen, des absoluten Mangels der Kegel zeitlebens. Bei der näheren Untersuchung konstatierte man eine Hypospa-

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diasis peniscrotalis mit Hoden und Nebenhoden in jeder Schamlefze, man tastete auch eine Prostata. Dieser Fall beweist eklatant, wie wichtig es ist, bei der Kranken- aufnahme auch den Zustand der Geschlechtsorgane zu untersuchen.

28) F. N e u ge b a u e r. Persönlich behandelte ich einen weiblichen Scheinzwitter, die 50 j. Anastasie K., behaftet mit sehr bedeutender Hypertrophie der Olitoris, die drei und einen halben Centimeter lang und erectil war. Die Kranke hatte ein weit vorgeschrittenes Uteruscarcinom und Carcinoma ovarii sinistri.

29) F. Neugebauer: „Sarkom einer Geschlechts- drüse durch Bauchschnitt entfernt bei einem als Frau verheirateten Scheinzwitter auch jetzt noch zweifelhaften Geschlechts." Am 2. III. 1903 vollzog ich den Bauchschnitt an einer 35jähr. seit drei Jahren steril verheirateten Frau von hohem männlichen Körperwuchs, großem, vorspringen- den Kehlkopf und allgemeinem männlichen Aussehen, ab- dominalem Athmungstypus. Niemals Menstruation, niemals irgend welche sog. Tormina menstrualia, niemals irgend welcher Geschlechtsdrang. Außere Scham weiblich, aber hypoplastisch, Möns Veneris fettarm, Behaarung sehr spärlich. Hymenalspuren vorhanden, Vagina in der Höhe von einigen Centimetern blind geschlossen. Ascites, kachektisches Aussehen. Seit einem Jahre ständig zu- nehmende heftige Leibschmerzen. Diagnose: Tumor malignus der inneren Genitalien. Tumor größer als eine Kokosnuß, das Cavum Douglasii mit einem weicheren Anteile ausfüllend, mit härteren Anteilen im linken Hypogastrium tastbar. Beim Bauchschnitt gelang es, den gesamten Tumor aus dem Becken stumpf herauszu- holen nach Resektion eines Anteiles des mit ihm ver- wachsenen Netzes. Der Tumor von Herrn Dr. Stein- haus mikroskopisch untersucht, erwies sich als Sarkom einer Geschlechtsdrüse ohne Spur von ovariellem oder

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testiculärem Gewebe; die größte Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß es sich um eine Cryptorcbis sinistra sarcotnatosa handelt, umsomehr als ein in einer Duplikatur des Bauch- fells über den Tumor verlaufender Strang sich als Vas defe- rens erwies. Das centripetale Ende dieses Stranges senkte sich in einem schmalen Spalt ein zwischen 2 scheinbare Gyri an der Tumoroberfläche, das periphere Ende verlor sich spurlos in der lateralen Oberfläche des Tumors. Ich fand nirgends eine Spur der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse, weder in der Gegend vor dem Leistenkanale noch im Becken, fand dagegen einen Strang, der an der hinteren Beckenwand nach oben zu verlief, wahrscheinlich liegt die zweite Geschlechtsdrüse höher oben lateral von der Lenden- wirbelsäule, in welchem Falle der rechtsseitige Strang des Vas deferens dextrum sein dürfte. Der Tumor hatte eine Art Mesenterium, eine Art Gekröse, das behufs Entfernung des Tumors durchschnitten wurde mit nachfolgender fortlaufender Naht und Unterbindung eines arteriellen Gefäßes am lateralen Ende des Gekröses. Ich vermutete, es liege vielleicht ein höchst rudimentärer Uterus unicornis sinister vor wobei der linksseitige Strang als Tube sich deuten ließ, fand jedoch keinen Anhaltspunkt für diese Annahme. Eine Prostata fand ich nicht Das Geschlecht dieser Person bleibt zweifelhaft, trotz Exstirpation einer malign entarteten Geschlechtsdrüse. Aus der Bauchhöhle er- gossen sich einige hundert Gramm Ascites. Die Frau verlor ihre Schmerzen sofort und verließ meine Klinik nach glatter Wundheilung am 20. Tage nach dem Bauch- schnitte. Werde diesen Fall gesondert mit Abbildungen veröffentlichen. Es ist dies in der Kasuistik von ca. 400 von mir vollzogenen Bauchhöhlenoperationen der erste Fall zweifelhaften Geschlechtes.

30) Obolonski [„Beiträge zur pathologischen Ana- tomie des Hermaphrodit ismus." Zeitschrift für Heilkunde. Bd. <>. pg. 211 1. In der Klinik von Chiari starb eine

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50jährige Arbeiterin, welche zeitlebens als Weib gegolten hatte. Sie soll vom 17. bis zum 49. Jahre stets ihre Kegel gehabt haben. Gleichwohl erwies die Sektion mann- liches Scheinzwittertum mit Hypospadiasis peniscrotalis ; der gespaltene Penis war 6 Centimeter lang; unterhalb der HarnröhrenmUndung fand man die Öffnung der 6 Centimeter langen Vagina, von einem Hymen garniert: die Scheide war unten 1 Centimeter breit. Man fand einen rudimentär entwickelten Uterus bicornis, linkerseits vom Uterus einen Hoden und Nebenhoden und Samen- st rang, rechterseits fand man keine Geschlechtsdrüse, wahrscheinlich war aus derselben ein maligner Tumor hervorgegangen, das bei der Sektion gefundene Sarkom, welches den Tod herbeigeführt hatte. Zu Lebzeiten hatte man an ein Carcinoma uteri gedacht. Dieses Neoplasma hatte auf dem Wege der Kompression eine beiderseitige Hydronephrose hervorgerufen. DaObolonski rechterseits ein Vas deferens fand, welches ganz dem linksseitigen entsprach, so vermutete er ganz mit Recht, daß auch die rechtsseitige Geschlechtsdrüse ein Hodenge wesen sein mag, daß also die Verstorbene ein Mann war, wie schon Wrany vor ihr behauptet hatte. Eigentümlich berührt die An- gabe von der angeblichen periodischen Genitalblutung, Regel, so viele Jahre hindurch, der wir natürlich vor- läufig skeptisch gegenübertreten müssen. Allgemein- aussehen ganz weiblich, auch das bis heute in Prag konservierte Skelett weist absolut einen ganz weiblichen Bau auf.

[Ich werde in einer anderen Arbeit die sämtlichen Fälle von angeblicher Menstruation bei männlichen Scheinzwittern kritisch zusammenstellen. N.].

31) Paton, (der Assistent der Chirurgischen Ab- teilung des Londoner Westminster-Hospital) beschrieb eine bisher einzig dastehende Beobachtung [„A case of vertieal or complexe hermaphroditism with pyometra and

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pyosalpinx ; removal of the pyosalpiox". Lancet 1902. 10. VU. No. 4116. Vol. CLXIII. pg. 148—149]: Am 17. V. 1902 kam zu ihm ein 20 jähriger Mann wegen Schmerzen in der Harnblase und erschwerten Harnens. Er konstatierte eine Hypospadiasis peniscrotalis mit beiderseitigem Kryptorchismus. Der Penis hatte kaum 2 3 Zoll Länge. Auf den Bauchdecken des recht- seitigen Hypogastrium sah man eine ausgedehnte Operationsnarbe nach Discision eines Abscesses vor einem Jahre. Nach letzterer Operation war eine eiternde Fistel hinterblieben, welche sich erst nach Ablauf eines halben Jahres geschlossen hatte. Man fühlt in der Gegend der Narbe eine ausgesprochene Resistenz, ohne jedoch weiteren Bescheid über deren Charakter erlangen zu können. Der Harn enthält zeitweilig Eiter, zeitweilig Blut. Der Katheter entleert dicken Eiter. Stimme und Gesichtsausdruck weiblich, keine männliche Gesichts- behaaruog; Schamgegend spärlich behaart. Der Mann ist klein von Wuchs und hager. Brüste wie bei einem Mädchen von 15 Jahren. Der Mann war nach dem Tode seines Vaters in einem Waisenhause erzogen worden und hatte immer für schwächlich gegolten; ober jemals die Periode hatte, ist nicht bekannt. Ein Bruder und eine Schwester sollen normal gebaut sein. Das Individuum wurde bisher stets als Mann angesehen und scheint bis jetzt keinerlei Geschlechtstrieb em- pfunden zu haben. Eine Ausspülung der eiternden Harnblase wenigstens glaubte man, es handle sich um eine solche brachte dem Kranken Linderung seiner Beschwerden. Am 7. April tastete man sub narcosi im Unterleibe einen fluktuirenden Tumor von bedeutender Grösse, den man für die Harnblase hielt, aber der Katheter entleerte kaum einige Tropfen Harn und Eiter. Per rectum tastete man ein Gebilde wie eine sehr bedeutend nach oben verlängerte Prostata, deren

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oberes Ende der Finger, als zu kurz, nicht zu erreichen vermochte. Man tastete auch einen zweiten Tumor unter der Bauchdeckennarbe gelegen rechterseits ! Drei Tage später wurde sub narcosi der Bauchschnitt ge- macht. Dabei fiel zunächst auf, dass der früher getastete grosse Tumor verschwunden war; man tastete jetzt nur den kleinen linksseitigen Tumor. Man machte einen medianen Einschnitt unterhalb des Nabels und fand in- mitten zahlreicher Verwachsungen einen Uterus mit zwei Eileitern, deren rechtsseitiger mit der Bauchwand ver- wachsen war und im Zusammenhang mit jener post- operativen Bauchdeckennarbe stand. Dieser rechtsseitige Eileiter war mit Eiter gefüllt, heißt es in der Beschrei- bung. Der linksseitige sah normal aus. (?) Man fand jederseits vom Uterus ein Ligamentum rot und um und an der Rückfläche des linken Ligamentum latum ein Gebilde, das wie ein Ovarium aussah. Der frühere Tumor war offenbar die momentan leere Harnblase, die sich als sehr erweitert erwies. Man resecierte den links- seitigen Eileiter sowie die linksseitige Geschlechtsdrüse, rechterseits fand man keine Geschlechtsdrüse aller- dings konnte man angesichts der schlechten Narkose und drohender Asphyxie nicht allzusehr gewissenhaft darnach suchen. Mau mußte wegen schlechten Zustandes des narkotisierten Patienten die Operation möglichst bald beendigen. Fortwährend floß Eiter mit Harn gemischt aus der Harnröhrenraünduug ab. Am 8. Mai, als dieser AbHuß fortbestand, beschloß man, die Harnröhrenöffhung durch einen Einschnitt zu erweitern, aber wegen schlechten Allgemeinbefindens des Kranken wurde dieser Eingriff auf später verschoben. Eine durch die Harn- röhre vier Zoll tief eingeführte Sonde drang nicht in die Harnblase ein, sondern in eine andere Höhle. Nach einiger Zeit verließ der Kranke das Hospital in relativ gutem Zustande: es wurde beschlossen, falls sich dns

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notwendig erweisen werde, auch die rechtsseitigen Adnexa uteri zu entfernen. Die mikroskopische Untersuchung des linken Eileiters wies eine Pyosalpinx nach; die Ge- schlechtsdrüse, welche dem Ligamentum latum hinten auflag, war ein Hoden von rudimentärer Entwicklung.

die Urethralmündung angesehen hatte, war keineswegs eine solche, sondern das Ostium vaginae, die Harnröhre öffnete sich in die Vagina, in welche also sowohl die Harnröhre als auch die Cervix uteri mündeten.

Man hatte sub operatione, sowie sich aus der Be- schreibung zu ergeben scheint, den Uterus samt links- seitigen Adnexa, welche statt eines Ovarium einen Hoden enthielten, entfernt; ob rechterseits eine Geschlechtsdrüse existierte und welcher Art, diese Frage blieb offen. Ob eine Prostata existierte und Samenleiter blieb ebenso fraglich. Das Allgemeinaussehen dieses Mannes war eher weiblich als männlich.

32) Pfannenstiel [siehe Emil v. Swi narski: „Beitrag zur Kenntnis der Geschwulstbildungen der Genitalien bei Pseudohermaphroditen." D. I. Breslau 1900]. Die 55 jährige unverehelichte Chr. Sc hm., niemals menstruiert und aller Geschlechtstriebe bar, hatte schon vor drei Jahren einen Tumor im Leibe bemerkt. Da der Leib stetig wuchs, mußte sie ihre Beschäftigung aufgeben und trat in das Hospital ein: Gesichtsausdruck mänulich, ebenso die Gesichtsbehaarung, Patientin mußte sich jede Woche rasieren wegen starken Bartwuchses. Stimme männlich, Brustbeingegend und Brüste behaart um die Warzen herum. Brüste schwach entwickelt, Bauch- und Schamgegend stark männlich behaart, ebenso die Perianal- gegend und die Extremitäten. In der Bauchhöhle ein harter, wenig beweglicher Tumor, bis an den Rippenbogen reichend. Clitoris stark hypertrophisch, drei Centimeter, sub erectione 5 Centimeter lang. Langes mobiles Prae-

welche man für

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putium clitoridis an der großen Glans. Unterhalb der Clitoris liegt eine 1 Centimeter lange Öffnung, unterhalb sind die Schamlefzen durch eine Raphe miteinander ver- einigt. Durch jene Öffnung dringt der Finger zwei Centimeter weit in einen Sinus urogenitalis ein und ent- deckt in dessen Tiefe sowohl die Harnröhrenmündung als auch die Öffnung der Scheide, welche einen kleinen Finger einläßt. Im Grunde der Scheide tastet der Finger eine bohnengroße portio vaginalis uteri, die in enger Verbindung mit dem Tumor zu stehen scheint. Am 19. VI. 1897 diagnostizierte Pf an nen stiel ein Uterusmyom und machte den Bauchschnitt mit uteroovarieller Ampu- tation. Der Tumor, acht und ein halbes Kilo wiegend, erwies sich als ein Kugelfibromyom des Uterus, die ver- längerten Eileiter waren 14 und 17 Centimeter lang: beide Ovarien vergrößert, verlängert mit glatter Ober- fläche, ohne Spur irgend welcher Einschnürungsfurchen, und ohne Spur von Ovarial-Parenchym auf dem Durch- schnitte. Der Bau der Ovarien wies nur ein binde- gewebiges Stroma auf mit einigen Blutgefäßen: Keine Spur von Graafschen Follikeln oder corpora albicantia. Es fehlte bei allgemeinem weiblichen Baue der inneren Genitalien absolut das essentionelle Charakteristicum der Weiblichkeit der Geschlechtsdrüsen. Diese Person von allgemeinem männlichen Aussehen, mit Persistenz des Sinus urogenitalis, besaß ein Uterusfibromyom und Ovarien ohne Spur von ovariellem Parenchym. Es war in dem hypoplastischen Uterus ein hyperplastisches Ge- bilde, jene Neubildung, entstanden. Das Individuuni verriet eine hochgradige psychische Depression, mied jede menschliche Gesellschaft und saß stets einsam schweigend in der Klinik. [Da kein typisches Ovarial- gewebe nachgewiesen werden konnte, so möchte ich vorsichtigerweise auch hier das Geschlecht für zweifel- haft erklären. Die, wie sich herausstellt, verhältnismäßig

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zahlreichen Fälle, wo man einen hochgradig entwickelten Uterus beim Manne fand zugleich mit Hoden an der Stelle der Ovarien liegend (Kryptorchismus bei fehlendem Deseensus beider Hoden) geben viel zu denken. N.]

33) Pdan [siehe im Vorhergehenden Gruppe II No.2] fügte in seinem Falle von vergeblichem Suchen nach den Testikeln mit beiderseitigem Leistenschnitt den Bauch- schnitt hinzu, um sich von dem Zustande der inneren Genitalien zu überzeugen und vollzog schließlich noch die Abtragung der beiderseitigen Uterusadnexa um der späteren Entstehung einer Haeraatometra vorzubeugen.

34) Primrose [,,A case of Uterus masculinus" British Medical Journal 1897. Vol. II pg. 881]. Man diagnosticierte bei einem 25jährigen mit beiderseitigem Kryptorchismus behafteten Manne einen Tumor eines Hodens und machte den Bauchschnitt mit Entfernung eines Hodensarkomes. Der Mann starb, die Sektion wies nach, daß ein Uterus saramt Tuben und Vagina existierte; die Vagina öffnete sich in parte prostatica urethraein capite gallinaginis. [Referat: Frommeis Jahresbericht für 1897 pg. 933 j.

35) Quisling [Pseudohermaphroditismus femininus externus* Kristiania. Sep. Afdr. af Norsk Magazin for Laegevidenskab. No. 5. 1902]: Am 20. VI. 1893 kam zu Quisling ein 18jähriges Fräulein wegen Bleich- sucht und bisherigem Ausbleiben der Periode. Das Mädchen glaubte bemerkt zu haben, es sei körperlich anders veranlagt, als andere Frauen und verlangte des- halb eine Untersuchung. Körperwuchs niedrig, schwäch- liche Konstitution, männliche Stimme. Dolichocephalische Kopfform mit hoher Stirn. Gesichtsausdruck männlich. Starke männliche Gesichtsbehaarung, so daß das Mädchen sich diesen Bartwuchs durch Scheere oder Ausreißen der Haare beseitigt. Der Haarwuchs nimmt trotzdem ständig zu. Schmaler flacher Brustkorb ohne Brustdrüsen. Der

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gesamte Unterleib ist stark behaart, ganz besonders der Möns Veneris und die Innenflächen der Oberschenkel, sowie die Perianalgegend ; Schambehaarung männlich. Betrachtet man das Mädchen, nachdem es die Kleidung gauz abgelegt, so fällt die Gegenwart eines Membrura virile auf, wenn das Mädchen steht. Das Becken er- scheint schmal, ein Scrotum ist bei geschlossenen Schenkeln nicht zu sehen. Die Vorhaut bedeckt nicht die Glans penis, läßt sich aber soweit vorziehen um die Glans zu bedecken. Harnröhrenöffnung weiblich. Die Schamlefzen erscheinen als zwei stark behaarte Hautdecken wülste , aber sie sind wenig entwickelt, viel mehr dagegen die kleinen Schamlippen, die nach oben zu in die Crura clitoridis und die Vorhaut des Präputium übergehen. Man findet eine untere Kommissur der Schamlefzen, ein Frenulum labiorum! Die Hymenalöffnung ist sehr eng, unterhalb der Harnröhrenöffnung belegen. Per rectum tastet man einen viereckigen in der Mittellinie gelegenen Körper und linkerseits daneben ein rundliches Gebilde. Eine Art Strang verbindet diese beiden Gebilde, welche wahrscheinlich Uterus und Adnexa sind. Kechterseits tastete Quisling ein härteres Gebilde dicht an der seitlichen Beckenwand liegend; es war von ovaler Gestalt. Der Vater des Mädchen ist vor drei Jahren gestorben, die Mutter, drei Schwestern und drei Brüder leben und sind normal gebaut.

Am 31. Juli klagte das Mädchen über Schmerzen in der Art von Molimina menstrualia. Zum zweiten Male sah Quisling dieses Mädchen am 18. I. 1895 und konstatierte damals eine leicht verlaufende Appendicitis. Am 29. Juli fand ein Nasenbluten statt, welches sich in letzter Zeit periodisch wiederholt laut Angabe des Mädchens und jedesmal drei bis vier Tage dauern soll (Menstruatio vicaria?) Das Mädchen ist fest überzeugt von seiner Weiblichkeit und empfindet weiblichen Geschlechtsdrang.

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Als Quisling dem Mädchen riet, sich fürderhin männ- lich zu kleiden angesichts des Bartes, so rief es aus „Aber, Herr Doktor!" Am 24. XI. 1897 sah Quis- ling das Mädchen zum dritten Male: er fand abermals Symptome der Appendicitis und zugleich Schmerzen im linken Hypogastrium sowie hartnäckige Stuhlverstopfung ; während der Untersuchung konstatierte er Erektionen des Penis. Der Scheideneingang ließ kaum die Kuppe des kleinen Fingers ein, eine Sonde drang aber 10 Centi- meter tief in eine Vagina ein. Per rectum tastete man dasselbe wie vor 4 Jahren. Am 8. III. 1899 gestand das Mädchen Masturbation zu, seit lange prakticiert. Zur Zeit war das Mädchen 23 Jahre alt

Seit dem letzten Besuche starke Abmagerung. Die heute von Patientin angegebenen Schmerzen hingen aus- schließlich von der Appendicitis ab, waren also ganz unabhängig von der genitalen Mißstaltung. Quisling erstaunte, als es ihm jetzt gelang, ohne Schwierigkeiten seinen ganzen Finger in die Vagina einzuführen das Mädchen erzählte zu seiner Rechtfertigung, es habe sich wegen seines Bartwuchses von einem Dermatologen be- handeln lassen. Letzterer habe um die Erlaubnis einer vaginalen Untersuchung gebeten und dabei sei wahr- scheinlich die Jungfrauenhaut eingerissen. An der Ge- sichtshaut sah man zahlreiche von dem Gebrauche des Thermokauters herrührende Narben, aber die männliche üppige Gesichtsbehaarüng war dieselbe geblieben. Der Uterus erschien jetzt als ein Körperchen von drei Centi- meter Länge und zwei Zentimeter Breite, Uterus foetalis. Von ihm geht jederseits eine Art Strang aus zur vorderen Beckenwand hin verlaufend. Man konnte jetzt bequem in die Vagina ein Milchglasspeculum 10 Centimeter tief einführen und fand in speculo eine Vaginalportion eines Uterus einen Centimeter weit in das Lumen der Vagina vorragend. Linkerseits vom Uterus tastete man ein läng-

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liches Gebilde, wahrscheinlich ein Ovarium; ein ähnliches Gebilde reehterseits lag nach der seitlichen Beckenwand. Aus dem Muttermunde trat etwas Schleim hervor. Die Sonde drang in den Uterus drei Centimeter tief ein. Der Penis resp. die hypertrophische Clitoris maß jetzt 4 Centi- meter Länge, 2 Centimeter Dicke. Man sah deutlich eine Raphe perinaei. Im Oktober 1901 erfolgte wieder ein schmerzhafter Anfall von Appendicitis in regione ileocoecali: darnach will Patientin etwas Blutabgang aus den Genitalien bemerkt haben, vielleicht infolge einer zufälligen Verletzung sub masturbatione. Die Mutter dieses Mädchens erzählte Quisling, sie habe nach der Geburt dieses Kindes selbst eine Zeit lang Zweifel ge- hegt, ob denn das Kind auch ein Mädchen sei, desto mehr sei sie später beunruhigt worden durch den Bart- wuchs bei der Tochter. Als Quisling der Mutter mitteilte, ihre Tochter sei wirklich eine solche und kein verkannter Junge, äußerte die Mutter alle Anzeichen großer Befriedigung. Augenblicklich lebt die Mutter nicht mehr, sie wurde von einem Leberkrebs dahingerafft. Im gegebenen Falle hat sich Quisling für das weibliche Scheinzwittertum geäußert; es bleibt abzuwarten, ob eine eventuelle Nekropsie seine Vermutung bestätigt oder nicht 36) E. v. Salin (Stockholm) [„Ein Fall von Herm- aphroditismus verus unilateralis beim Menschen." Ver- handlungen der deutschen pathologischen Gesellschaft, herausgegeben von Professor Ponf ick. Zweiter Jahr- gang. Berlin 1900. pg. 241 siehe Referat: Zentral- blatt für Gynaekologie. 1900. No. 32. pg. 862.]: Au- guste Persdotter, 43jährig, unverehelicht, menstruiert seit ihrem 17. Jahre. Coitus mit einem Manne schmerz- haft, Coitus mit Mädchen oder Frauen bisher nicht ver- sucht. Allgemeinaussehen weiblich, Clitoris 5 Centimeter lang mit Glans von Haselnußgröße. Schamlippen normal gebildet, sowohl die großen als auch die kleinen. Unter-

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halb der Harnröhrenöffhung liegt die enge Öffnung der Vagina, welche kaum eine dünne Sonde einläßt. Die Sonde dringt 8 Centimeter tief ein. v. Saldn entfernte mit Bauchschnitt ein cystisches Fibroid von der Größe des Kopfes eines erwachsenen Mannes, an einem Stiele sitzend, sowie die Geschlechtsdrüsen, welche da lagen, wo bei Frauen die Ovarien liegen. Tuben und Ligamente des Uterus normal. Die Patientin verließ am 8. 1. 1899 geheilt das Hospital. Die mikroskopische Untersuchung der einen Geschlechtsdrüse sollte einen gemischten testi- culoovariellen Bau aufweisen, die Drüse sollte eine Art Ovotestis sein; eine Hälfte der rechten Geschlechtsdrüse soll Hodenstruktur aufgewiesen haben, die Andere Ovarialstruktur. In dem ovariellen Stroma wurden, wie es in dem Referate heißt, Graafsche Folikel entdeckt und typische Eier; inmitten reichen Spindelzellengewebes fand man in dem Hodenstroma nirgends Spermatogonien oder andere Samenzellen. Die linke Geschlechtsdrüse erwies sich als Ovarium. Die wörtliche Beschreibung lautet so: „Die Untersuchung der Geschlechtsdrüsen ergab linker- seits ein ziemlich kleines höckriges Ovarium mit Graafschen Follikeln und Eiern, rechterseits eine Zwitter- drüse, deren eine Hälfte Eierstoekgewebe, deren andere Hodengewebe zeigte. Der Ovarialteil ist grobhöckrig, von gelber Farbe und derber Konsistenz und zeigt bei der mikroskopischen Untersuchung Graafsche Follikel und ganz typische Eizellen in einem spindelzellenreichen Stroma eingebettet. Der Hodenteil ist oben von ziem- lich weicher Konsistenz, mit weißglänzender Tunica albuginea. Das Parenchym ist locker, von braungrauer Farbe und von weißen Bindegewebssepta durchzogen; mikroskopisch zeigt es tubuli seminiferi, die in einem lockeren, von größeren und kleinereu Anhäufungen fett- und pigmentreicher Zwischenzellen durchsetzten Binde- gewebsstroma liegen. Die Tubuli sind stark geschlängelt

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von beinahe gleicher Weite. Ihre Membranae propriae sind größtenteils verdickt, sehr reich an concentrisch an- geordneten Fasern. Das Epithel besteht aus Follikel- zellen und Sertolini'schen Zellen. Nirgends Spernia- togonien oder andere Samenzellen. Die Struktur zeigt im Ganzen eine auffallende Ähnlichkeit mit derjenigen des ektopischen Hodens nach der Pubertät"

[Ich weiß nicht, ob die mikroskopischen Präparate auch von anderen Forschern die gleiche Deutung er- fahren haben. Blacker und Lawrence waren die Ersten, die in ihrem Falle eine solche Zwitterdrüse ent- deckt zu haben glaubten. Ihre Deutung des mikro- skopischen Präparates hat jedoch einer Kontrollunter- suchung und Kritik des Herrn Professor Nagel nicht Stand gehalten.] Neuerdings hat Prof. Landau diese mikroskopischen Präparate in Berlin demonstriert.

37) Snegirjow [siehe im Vorhergehenden: Gruppe I, Fall 30] fügte in seinem Falle von Herniotomia bilateralis bei einem irrtümlich als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter die Koeliotomie hinzu, um sich von dem Zustande der inneren Genitalien zu überzeugen, also eine diagnostische Koeliotomie.

38 j E. Sorel und Che*rot |„Un cas de pseudo- hermaphrodisme" Archives Provinciales de Chirurgie. T. VII. 1. Juni 1808. pg. 367.]: Die 36jährige Aline C, als Mädchen erzogen und niemals menstruiert, hatte ein allgemeines männliches Aussehen. Der männliche Bartwuchs zwang das Mädchen vom 21. Jahre an sich täglich zu rasieren. Andromastie. Brust nicht behaart, aber die unteren Extremitäten bedeutend behaart. Stimme männlich. Statt der Clitoris sah man zwischen den Schamlefzen einen Penis hypospadiaeus von fünf und einem halben Centimeter Länge, in der Höhe der Corona glandis von 6 Centimeter Umfang. Die volle Erection dieses Gebildes wurde sehr erschwert

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durch die „bride", welche das Glied nach unten zu hakenförmig gekrümmt erhält. Labia majora reich be- haart, aber gut gestaltet. Die Harnröhre erweist sich gespalten an der unteren Wand; keine Spur von Hoden zu entdecken, keine Spur von Vulva oder Vagina. Der Charakter von Aline erscheint ernst, ohne eine ausge- sprochene Leidenschaft; sie hat Erektionen ihres Gliedes und fühlt einen männlichen Geschlechtsdrang, auf Frauen gerichtet, und hat sogar den Beischlaf mit Frauen ver- sucht, aber „sans pouvoir y aboutir". Früher war Aline stets gesund, aber seit einiger Zeit empfindet sie starke Schmerzen rechterseits im Unterbauche. Augen- blicklich, am 15. III. 1898, fühlt sie sich schon seit 6 Wochen krank: die früheren Schmerzen haben sich wieder gemeldet zugleich mit Erbrechen und Durchfall. Am 12. III. 1898 trat sie wegen eines Bauchtumors in das Hospital ein. Fieber und Meteorismus. Der harte, schmerzhafte, druckempfindliche Tumor nahm die ganze rechte Hälfte der Bauchhöhle ein, reichte bis zur Linea alba und bis drei Querfingerbreit unterhalb der Leber. Perkussion oberhalb des Tumors ergab tympanitischen Schall. Am 15. März wurde der Bauchschnitt vollzogen und zwar rechterseits seitlich ; es ergoß sich etwa ein halber Liter Eiter aus der Wunde, welcher dunkel ge- färbt war und faekaloid aussah. Der Finger tastete in der Wundhöhle höckrige Gebilde, welche den Eindruck von epitheliomatösen Wucherungen machten, so daß man an Carcinom des Blinddarmes dachte! Man legte in die Wunde einen Gazedrain ein und verschloß den Rest der Wunde. -|- 38,0 0 C. Am nächsten Morgen war der Verband von Faeces durchtränkt, 16. III; am 17. IU. Tod.

Bei der Nekropsie fand man eine allgemeine Peritonitis: die gesamte rechte Hälfte des Unterbauches war von einem Tumor eingenommen, der carcinomatös

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war, mit zahlreichen cystischen Bildungen. Auf der Höhe des fünften Lendenwirbels fand man keine Hoden, in der Beckenhöhle fand man keine Spur von inneren weiblichen Genitalien. Harnblase normal. Zwischen Harnblase und Mastdarm fand man einen Sack, gefüllt von Flüssigkeit, 8 Centimeter lang und ö Centimeter breit. Die Wände dieses Sackes, ebenso dick wie die Blasenwände, waren innen von einer Schleimhaut ausge- kleidet, nach unten zu kommunizierte dieser Sack durch eine feine Öffnung mit der Harnblase. „A la partie infe*rieure et sur la face peritoneale de cette poche aboutit de chaque cote* un can/il gros comme une plume a parois epaisses, dans lequel on peut enfoncer un stylet fin; chacun de ces canaux a une longueur de 6 8 Mill.J Cette ve*sicule conti ent un liquide jaune dpais, visqueux et est accole* sur les cötes de la poche." Man fand weder in den Schamlefzen noch in den Leisten- kanälen noch in der Bauchhöhle Hoden. Verlauf der Harnröhre wie bei Frauen. Keine Prostata gefunden. Der Sack zwischen Vesica und Rectum entsprach einem hypertrophischen Utriculus masculinus, die beiden seit- lich gelegenen Blasen sollten die Samenblasen sein. Mangel der Vulva, Vagina, der Hoden ; Gegenwart eines Utriculus masculinus und Spuren von Müll cr'schen Gängen.

Kommentare lassen sich zu diesem Falle nicht geben, da sie allzu willkürlich ausfallen würden. Das Geschlecht bleibt hier zweifelhaft resp. unentschieden für immer.

39) L. Stimson [BA case of rare form of pseudo- hermaphrodism". Med. Record. 24. IV. 1879. Siehe Referat: Zentralblatt für Gynaekologie 1897. Xo. 43 pg. 1306]: Nach dem Autor handelt es sich um interne Zwitterbildung (Klebs), bisexuelle Entwickelung des Herrn an n'schen mittleren Segmentes. Ein 48jähriger

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Neger von männlichem Aussehen konsultierte Stimson wegen eines Bauchhöhlentumors. Penis normal gestaltet, von mittlerer Länge; der kleine Ilodensack enthält nur den rechten Hoden. Rechterseits eine leicht reductible Leistenhernie. Damm normal. Dieser Mann ist zum zweiten Male verheiratet und hat einen 25 jährigen Sohn. Man tastet in der Bauchhöhle linkerseits oberhalb der Schamfuge einen faustgroßen Tumor, der auch bei der Untersuchung per rectum tastbar ist. Man vermutete ein Neoplasma des einen in der Bauchhöhle retinierten Hodens. Beim Bauchschnitte fand man einen unregel- mäßig gestalteten Tumor von einer weißen Hülle um- geben, beweglich und durch eine Art Strang in Verbin- dung stehend mit einem Uterus bicornis mittlerer Größe beide Tuben vorhanden. Man fand keine runden Mutterbänder. Rechterseits gelang es, den Finger durch den Leistenkanal von der Bauchhöhle aus in den Hoden- sack einzuführen. Es gelang nicht, das untere Ende des Uterus zu tasten und sein Verhältnis zur hinteren Blasenwand sowie zur Harnröhre festzustellen. Der entfernte Tumor erwies sich als ein Sarcom des linken Hodens. Stimson vergleicht seine Beobachtung mit 6 ähnlichen von Hermann zusammengestellten Beob- achtungen.

40) H. Stroebe [„Ein Fall von Pseudohermaphroditis- raus masculinus internus, zugleich ein Beitrag zur patho- logischen Eutwickelungsmechanik". Beiträge zur patho- logischen Anatomie und zur Allgemeinen Pathologie. Her. v. Professor Dr. E. Ziegler. Bd. XXII. (Siehe Fig. 20 u. 21.)] beschrieb in ganz ausgezeichnet genauer Weise ein Sektionspräparat, abstammend von einem im Alter vou 63 Jahren in Hannover infolge von Carcinoma oesophagi verstorbenen männlichen Schein z witters Ernst L. Da diese Beobachtung ungemein interessant ist, sei sie hier wiedergegeben. Ernst L. verstarb bereits am

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13. Tage nach seiner Aufnahme in das Hospital. Allgemeinaussehen männlich, Gesichtsbehaarung spärlich. Äußere Genitalien männlich. Penis 10,5 Centimeter lang. Harnröhrenöffnung an normaler Stelle. Scrotum ein leerer Sack. Schambehaarung männlich. In der Bauch- höhle fand sich ein hochgradig entwickelter Uterus mit Ligamenta lata und Tuben. Die Tuben waren dünner und länger als normal. Der Uteruskörper, in fundo 6 Centimeter breit, verschmälerte sich bedeutend nach unten zu. Schon 5 Centimeter unterhalb des Fundus stellt der Uterus nur einen cylindrischen Strang vor von der Dicke des Mittelfingers, von vorn nach hinten zu etwas abgeplattet. Der Uterus reicht nach unten zu bis in das Cavum Douglasii. Die größte Länge des Uterus, an der Hinterfläche gemessen, beträgt 20 Centimeter, auf der Vorderfläche hingegen nur 10 Centi- meter, hier geht das Bauchfell, ohne irgend ein Falte zu bilden auf die hintere Blasen wand über. Anus nor- mal. Die rechte Tube reicht bis auf die rechte Fossa iliaca. Das Ligamentum latum dextrum teilt sich am peripheren Ende in zwei Blätter, deren vorderes auf das Coecum und den Wurmfortsatz übergeht. In der Ecke zwischen Wurmfortsatz und Tube lag ein ovales, plattes, bohnengroßes Gebilde, eine Geschlechtsdrüse, darunter ein kleineres, nicht ganz vom Bauchfell überzogenes Gebilde. Das rechte Ligamentum latum ist 26 Centi- meter lang. Das rechte Ligamentum rotundum verliert sich in der rechten Scrotalhälfte im Bindegewebe. Der rechte Leistenkanal ist verschlossen. Vom Uterus ver- läuft nach der erwähnten rechtsseitigen Geschlechts- drüse zu eine Art Ligamentum ovarii. Die linke Tube, nur 14 Centimeter lang, ist bleistiftdick, an ihrem peripheren Ende liegt die linke Geschlechtsdrüse, daneben ein kleineres Gebilde wie rechts. Der Uterus macht den Eindruck eines Uterus bicornis mit stärkerer Entwicke-

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Fi*. -V. lti'ol>;irlituiisf von Strorln- i ->< kt lonsprflparaO. < < Ii i i < 1 1 1-< •riii» ti •■ de« '>.;j;ihr. mftnolichen Schein/wittet- E. L. von von« «jcsohi'n (,'., der natürlichen UrR*w) L' Fundu* uteri j KU link«— l'teruaborn, U l'teras, T. Tuben an «lor K-.< ■■ <h r Li xg. lata il»as rechts Lig. latum i-t kün-tlich etwa» torquiert, so da»* nahe Ikmiii L'teniK M'ine vordere Flüche, n«"K«-n dio »oitlichu Beckenwand «lago^en »«•in« llinter- fWch* /in Anaicbl kommt, dadurch tritt die rechte Geacblochtadrüsa hervor.) II Motion. K = Neheohoden, My : Elydatlden de« rlodeni und Sebenbndcn* rocht»), U lAng. rotund.i. ondigond in «ler recht- tc<'»chlo<«»«-ucn, links mit «.vorn atif<.'«»ehnittene r) Pcritomu-alau»- »t ülpuni: verseh«-nen Semtalhidfle. S 1, <;. v n-1 (let* Li i-tenrinxc*. Sp Struiiir mit Vaaa s|«ermatica interna (links), N, N . N . Vorl>mduin:>t)rlick«n zum unteren Kami«' dos grosaeit

Netze- rom Unken Nebenhoden iJfjl und dem linken rtifrdfocmia; ausgesogenen Ligamentum

latum (N. N;i, N groaaea Xol/. C Coeoinn, 1 Ilenin, Pr, PriM-o-sus \> iniifonni», lt = Harnhla-«- vorn uiifn« M-hiiilt> ri durch Nadt in auseinandergehalten, l'r rretoren, der reefate nach Oben, der linke nach unten ue/n^en, Pr _ Pro-lala mit vom auf^e-t hnittoner Mamr<>hro, P P«ni», «licht hinter der (Slam subcutan aufgt**ehnilten mit unn-n xdtlieh uuf^eschtiitli nor 1 1 i n »• Ii r. I i. M scillieh aufwM-lmiti. m i Ma-ttlarm. Anus.

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Fig. 21. Beobachtung von Stroebe (Sektionspräparat). Halbschematische Zeichnung des Genitalapparates (von vorn gesehen). U = Uterus mascnlinus mit Uterushorn links. Aus den beiden Ecken des Uteruslumens zweigen die Tubenlumina ab; nach unten tritt eine allmähliche Verengerung des Uteruslumens, dann wieder eine Erweiterung ein (Scheiden- teil); Mündung des schließlich wieder sehr eng werdenden Kanales auf dem Colliculus seminalis (C) in die Pars porstatica der Harnröhre mit längsovalem Schlitz. An beide Seiten des Uterus schließt sich je ein Ligamentum latum an. B = Harnblase, deren oberer Teil abgeschnitten ist mit Ureteren; Pr— Prostata. P = Penis, hinter der Glans durchschnitten. Harnblase und Pars prostatica der Harnröhre sind vorn in der Mittellinie aufgeschnitten und auseinandergeklappt, ferner sind in der Zeichnung diese beiden Teile durch- sichtig gemacht, so daß man die hinter ihnen verlaufenden Geschlechts- stränge bis zu ihrer Mündung auf dem Colliculus seminalis C hindurch sehen kann. H = Hoden, E = Nebenhoden, Hy = Hydatiden, V = Vasa deferentia geschlängelt), A = Ampullen derselben, D Ductus ejaculatorii auf dem Colliculus seminalis C = mündend, T = Tuben, G = Ligamenta testis, R äs Ligamenta rotunda, rechts in der geschlossenen, links in der mit einer (vorn aufgeschnittenen) Peritonaealausstülpung versehenen Scrotal- bälfte (8) endigend, L = Gegend der Leistenkanäle, 8p Strang, enthaltend die Vasa spermatica interna (links), N1 N2 N* = Verbindunjjsbriicken vom linken Nebenhoden (E) und dem stielartig ausgezogenen linken Lig. latum zum unteren Kand des großen Netzes. Die punktierten Linien markieren den Verlauf der Arterien: an beiden Seiten des Uterus je einer Arteria uterina, von welcher ein mit dem Lig. testis zum Hoden verlautender Ast abgeht; bei Sp die linken Vasa spermatica interna im unteren Strang der freien recht- eckigen Platte des Lig. latum, sie auastomosieren durch eine schräge ge- schlängelte Getäßverbindung mit dem im linken Lig. testis verlautenden Gefäße. Von letzterem geht ein Ast in das linke Lig. rotundum Uber. Sp Arteria spermatica interna dextra.

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lung des linken Hornes. Von ihm zieht ein Strang in den linken Leistenkanal, der offen ist und einen Finger in die leere Scrotalhälfte einläßt^ deren Höhlung von dem Bauchfell ausgekleidet ist. Man fand in diesem Strange das linke Ligamentum rotundum sowie parallel der Tube belegen ein Ligamentum ovarü. Auf einem Durchschnitte des Uterus, 10 Centimeter unterhalb des Fundus, sieht man drei Lumina: das Lumen der Uterus- höhle und die Lumina der beiden Wo lff 'sehen Gänge, welche in der Uteruswand nach unten zu verlaufen. Das Lumen der Uterushöhle ist mit einer gelblichen, teigigen Masse erfüllt. Man kann die Kuppe einer von obenher in die Uterushöhle eingeführten Sonde am Blasengrunde tasten. Penis klein, die Prostata hat sehr kleine Lappen. Am Caput gallinaginis sieht man ausgezeichnet den Sinus prostaticus in Gestalt einer Rinne von 5 Milli- meter Länge und 2 Millimeter Breite. Trigonum Lieutaudii und Urethralmündungen normal, Nieren normal. Der Uteruskanal mündet in capite gallinaginis. Das Mikroskop ergab, daß die rechtsseitig und linksseitig peripher gelagerten Gebilde die Hoden und Nebenhoden waren. Es handelt sich also um hochgradige Entwickelung der Mülller'schen Gänge bei einem Manne, der mit Kryptorehismus behaftet war. Der Kryptorchismus ist für mich auch ein für die Hypothese von Siegenbeck van Heukelom bestätigendes Moment. Die Wo lff 'sehen Gänge sind vollständig normal entwickelt, sie treten in die Uteruswand ein unterhalb des Angulus tubouterinus, nachdem sie bisher in ligamentis latis verlaufen waren. Die Tuben besaßen keine Fimbrien und keine Ampullen, die rechte dünne Tube endete dicht beim Nebenhoden, die linke schwand in Fettgewebe in der Nähe des linken Hodens. Was die Geschlechtsfunktionen des Ernst L. intra vitam anbetrifft, erfuhr Stroebe nichts weiter, als daß Ernst L. kinderlos verheiratet gewesen war, ob er aber

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Erektionen hatte, den Beischlaf ausführen konnte etc. ist nicht bekannt, ebensowenig, ob Pollutionen oder menstru- elle Entleerungen vorgelegen haben mögen. Stroebe vermutet, die gelbe, teigige Masse im Uteruslumen könnte von Blut abstammen, da sie durch Salzsäure und Ferrocyankalium blaugefärbt wurde. Stroebe liefert eine ganz ausgezeichnete detaillierte mikroskopische Beschrei- bung seiner Präparate. Im Interesse des Lesers will ich hier 2 mikroskopische Abbildungen des Präparates wiedergeben, welche sehr instruktiv sind. (S. Fig. 20 u. 21).

41) Unterberger [„Ein Fall von Pseudoherni- aphroditimus femininus externus mit Coincidenz eines ( harialsarkoms. Laparotomie* Monatsschrift für Geb. u. Gyn. April 1901 pg. 436J: Am 17. XII. 1900 stellte Unterberger in dem Verein für wissenschaftliche Medicin in Königsberg ein Mädchen von vierzehn und einem halben Jahre vor, welches man an. ihn gewiesen hatte behufs Exstirpation eines Unterleibstumors. Das Geschlecht des Kindes erschien zweifelhaft; sein Allgemein- aussehen 6o\vie sein Glied, aussehend wie ein hypospadischer Peuis, sprachen für männliches Geschlecht, ebenso die Hypospadie des Scrotura; auf Grund der Untersuchung der inneren Geschlechtsorgane jedoch glaubte Unter- berger, das Kind sei ein Mädchen. Drei Brüder und vier Schwestern sind normal gebaut, desgleichen die Eltern. Das Kind war als Mädchen erzogen worden, weil die Hebamme sofort nach der Geburt es für ein solches erklärt hatte. Das Kind spielte lieber mit Mädchen als mit Knaben, half jedoch angesichts seines kräftigen Körperbaues am liebsten dem Vater bei dessen Arbeiten. Im April 1900 trat einmal eine 8 Tage andauernde Blutung aus der Scham auf, von der Mutter für die erste Periode angesehen; diese Blutung wiederholte sich jedoch in der Folge nicht mehr. Seit jener Zeit fing das Mädchen über Unterleibsschmerzen zu klagen an, endlich bemerkte

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man vor einem hallten Jahre den Tumor im Leibe, welcher rasch wuchs. In den letzten Monaten wurde dieser Tumor recht druckschmerzhaft bei Berührungen. Das Mädchen ist übermäßig hoch gewachsen 164 Centimeter hoch, die Extremitäten sind lang, männlicher Knochenbau sehr kräftig, männliche Stimme, männliche Gesichts- behaarung fehlt dagegen. Becken sehr schmal im Ver- gleiche zu der Größe des Körpers. Behaarung von Scham

Fig. 2*J. Vulva eines I i jähr, als Mädchen erzogenen Scheinzwitters. H«'obachtung von V nterberger. 1 Urethralmiindimg.

und Damm spärlich, weiblich. Der Tumor überragt den Nabel. Die Scham sieht durchaus männlich aus. Penis hvpospadiaeus von der Größe und Dicke des großen Fingers. Vorhaut nach hinten retrahiert. Zwischen den getrennten Scrotalhälften sieht man eine Art Schamspalte, in deren Grunde die Öffnung der Harnröhre, seitlich von ihr je eine kleine Schamlippe. Wenn man das Kind drängen heißt, RO stülpt sieh in jeder Leiste eine An-

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Schwellung vor wie eine Hernie; rechterseits kann man sich leicht vom Danninhalt dieser Hernie überzeugen, außer Darm liegt aber in diesem rechtsseitigen Leisten- bruche noch ein kleines, rundliches Gebilde, welches weder ein Hoden noch ein Ovarium zu sein scheint Per rectum tastet man in der Mittellinie eiu Gebilde, welches in Zusammenhang mit dem Tumor steht; nach unten zu

Fig. 23 Vulva eines 14 jähr, als Mädchen erzogenen Scheinzwitters. Beobachtung von Unterb erger. 1 s Vaginalhernie im Scrotalsack. 2 = Urcthralmündung. 3 = Dellenformige Einziehung, vielleicht entsprechend der Vagina.

verjüngt sich dieses Gebilde und scheint am unteren Ende eine Art Delle zu besitzen. (?) Die äußere Scham sprach für männliches Geschlecht, besonders, wenn man annehmen wollte, daß das Gebilde in der rechtsseitig n Hernie eiu Hoden sei. Unterberger jedoch glaubte, daß der per rectum getastete Körper ein Uterus sei. der rasch wachsende Tumor ein Ovarialsarkom und daß die

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Vagina sich wahrscheinlich in die Urethra offene, daß jene Blutung aus dem Genitale eine katameniale gewesen sei Am 19. XII. entfernte er durch Bauchschnitt den Tumor, der sich als mannskopfgroßes Sarkom des linken Ovarium erwies. Man fand einen kleinen Uterus, die linke Tube auf dem Tumor liegend, in dessen Substanz die Ovarialsubstanz gänzlich aufgegangen war. Man fand auch die rechte Tube und den rechten sehr kleinen Eierstock, kaum haselnußgroß. Man fand ferner die runden Mutterbänder und glaubte ein unterhalb des Uterus getastetes Gebilde wie einen aus zwei Wänden bestehenden Schlauch für eine Vagina ansehen zu dürfen, welche sich wahrscheinlich in die Urethra eröffnete oder mit ihr zusammen in den Sinus urogenitalis in der oben angegebenen Öffnung in der Schamspalte. Nirgends Hoden gefunden, die Offnungen der Leistenkanäle waren von Darmschlingen bedeckt. Das Mikroskop erwies ein typisches Endotheliom oder Sarkom der Geschlechtsdrüse. Uuterberger gibt jedoch nichts darüber an, ob dieses Sarkom wirklich aus einem Ovarium entstanden war und nicht etwa aus einem in der Bauchhöhle retinierten Hoden. Da die andere Geschlechtsdrüse nicht herausgeschnitten wurde, also nicht zur mikroskopischen Untersuchung gelangte, so dürfte man wohl sagen, die Entscheidung von Unterberger beruhe auf seiner Vermutung, aber nicht anatomischen Beweisen. Das Kind konnte demnach ebensowohl ein männlicher Scheinzwitter sein, wie ein weiblicher; freilich wurde die Blutung aus dem Genitale eher zu Gunsten der Annahme Unt er berge r's sprechen. Jedenfalls hatte Unterberger wohl angesichts der sarkomatösen Entartung der linken Geschlechtsdrüse das Recht, auch die rechtsseitige Geschlechtsdrüse mit heraus- zuschneiden, deren mikroskopische Untersuchung vielleicht das fragliche Geschlecht entschieden hätte wenngleich ihr Entwickelungszustand auch so rudimentär seiu konnte,

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daß auch das Mikroskop nicht im Stande wäre auf die uns vorliegende Frage zu antworten. Meines Erachtens erscheint auch in diesem Falle das Geschlecht fraglich trotz der Exstirpation einer Geschlechtsdrüse (s. Fig. 22 u. 23).

42) West er mann [„Over een geval van Herrn - aphroditism* Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1901. No. 11 siehe Referat: Monatsschrift für Geb. u. Gyn. Juni 1902. pg. 955]: Ein 30 jähriges Mädchen starb infolge von ulceröser Appendicitis. Schon die Mutter war im Zweifel über das Geschlecht dieser Tochter gewesen und zwar wegen deren absoluter Amenorrhoe. Bei der Sektion konstatierte man Mangel der Brustdrüsen, einen Penis hypospadiaeu8 von 6 Centimeter Länge mit nicht von der Vorhaut bedeckter Glans. Auch das Scrotum war gespalten. Unterhalb der Urethralmündung lag die von einem Hymen garnierte Öffnung der Vagina Männliche Schambehaarung; die auf der Innenseite be- haarten Schamlefzen enthielten keine Hoden. Von der Rückwand der Harnblase geht linkerseits eine 7 Centi- meter lange Tube aus mit ausgesprochenen Fimbriae, mcsosalpinx und Ligamentum rotundum. Wo das Ovarium 6inistrum liegen sollte, fand man fest zusammengeballtes sklerotisches Bindegewebe. In den äußeren Schichten dieses Gebildes fand das Mikroskop ein aus zahlreichen Zellen bestehendes, von einer Schicht weniger zahlreicher Zellen umgebenes Gewebe, in der inneren Schicht Binde- gewebe, Fett, einige blutgefüllte Bläschen und einige Blutgefäße, aber keine Spur von Graafschen Follikeln, Pflüg er'schen Schläuchen. Erst nach Abpräparieren des Bauchfelles von der hinteren Blasenwand fand man einen Uterus von 5 und eine Vagina von 8 Centimeter Länge. Der gesamte Uterovaginalkanal war für eine Sonde viabel. Mit Mühe entdeckte man den rechten Mülle r'sehen Gang, 22 Centimeter lang, mit seiner Tube, welche jedoch nur im peripheren Auteile eine

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kurze Strecke weit viabel war. Rechtersetts fand ruan im Leistenkanale den Processus vaginalis peritonaei offen und in ihm ein Gebilde von Bohnengröße: einen Hoden mit seiner Tunica albuginea und zahlreichen Tubuli oontorti. Man fand keine Spermatozoiden. In Mesosal- pinge lag der cystisch entartete Nebenhoden. Erst die Nekropsie wies in diesem äußerst lehrreichen Falle die erreur de sexe nach und den hohen Entwickelungs- grad der Mtiller'schen Gänge.

43) Winckler [siehe im Vorhergehenden: Dritte Gruppe, No. 12j. 14 Jahre nach einer erfolgreichen Herniotomie wurde wegen Occlusio intestinorum der Bauchschnitt gemacht und zwar mit letalem Ausgang bei einem männlichen Scheinzwitter von 56 Jahren, der einen hochgradig entwickelten Uterus besaß.

44) Zahorski [in Wilnoj (Gazeta Lekarska 1900. No. 26. Polnisch) beschrieb folgende eigene Be- obachtung von Pseudohermaphroditismus femininus externus. Er wurde von Dr. Waszkiewicz behufs Konsultation zu einem 25jährigen Dienstmädchen geholt wegen eines fluktuierenden Bauchtumors und beginnender Peritonitis. Allgemeinaussehen, Stimme, Brüste, Be- haarung ganz weiblich, aber Clitoris drei und einen halben Zentimeter lang, einem hypospadischen Penis sehr ähnlich. Wegen großer Schmerzhaftigkeit konnte eine genaue Tastuntersuchung weder per vaginam noch per rectum durchgeführt werden. Im Sa wicz -Hospital wurde eine Parancetese durch die Bauchdecken vorge- nommen und ungefähr ein Liter einer sanguinolenten Flüssigkeit entleert; rechterseits eine große Inguinolabial- hernie. Momentan folgte auf die Paracentese eine subjective Erleichterung, aber der Tumor wuchs in der Folge so rasch, daß er schon nach drei Wochen die gesamte Bauchhöhle auszufüllen schien. Angesichts dessen, daß offenbar ein maligner Tumor vorlag, verzichtete man auf

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eine Operation, entgegen dem Verlangen der Patientin, die in der vierten Woche nach der Aufnahme starb. Bei der Nekropsie fand man in der ßauchhöhle viel sanguinolente Flüssigkeit, einen *bis an die Leber reichenden Tumor, mit dem großen Netze, mit dem Bauchfell und den Darmschlingen verwachsen, ein riesiges, weiches Sarkom, ausgehend aus dem rechten Ovarium. Der linke Eierstock klein, flachgedrückt, der rudimenätre Uterus kaum 2 Centimeter lang. Niemals Periode oder Molimina menstrualia. Da der Autor mit keiner Silbe einer mikroskopischen Untersuchung des linken, für ein flachgedrücktes Ovarium von ihm an- gesehenen Geschlechtsdrüse erwähnt, so hat wahrschein- lich eine solche mikroskopische Untersuchung nicht statt- gefunden. Es ist also auch in diesem Falle ein gerechter Zweifel an der ovariellen Natur dieser Geschlechtsdrüse gestattet, die ebensogut ein Hoden sein konnte. Für mich bleibt also auch hier das Geschlecht trotz der stattgehabten Nekropsie zweifelhaft.

45) S. Pozzi vollzog an einen von ihmundMagnan in Paris behandelten verheirateten Manne den Bauchschnitt wegen eines Tumors, der sich hinterher als Ovarialtumor erwies. Der Mann, ein weiblicher Scheiuzwitter, über- stand die Operation gut und ist jetzt Witwer. [Laut mündlicher Mitteilung durch Herrn Pozzi im Februar 1903 1.

Fünfte Gruppe.

23 Fälle von teils ausgeführten, teils von Ärzten vor- geschlagenen oder von einem Scheinzwitter verlangten chirurgischen Eingriffen an den Genitalien mit An- schluss einiger Hypospadieoperationen bei männlichen

Scheinzwittern.

1) Aetius und Paulus Aegineta erwähnen, daß in Ägyten bei den Stämmen der Ibbos und Mandingos

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häufig vor der Hochzeit die hypertrophische Clitoris amputiert wurde.

2) Arnaud [„Dissertation sur les Hermaphrodites* Paris 1766], dessen ^Sammelwerk dreißig Jahre lag, ehe es im Druck erschien und eine Fundgrube für die ältere Kasuistik des Scheinzwittertumes ist, erzählt folgende interessante eigene Beobachtung [siehe Fig. 24.]

Im Jahre 1725 untersuchte er eine unverehelichte Näherin aus M£nilmontant bei Paris, welche all- monatlich schreckliche Leiden ausstand infolge von heftigen Molimina menstrualia: Leibschmerzen, Schwindel- anfälle, Erbrechen etc. plagten jedesmal die Kranke. Allgemeinaussehen, Gesichtsbehaarung, Brüste, Stimme männlich, in jeder Schamlefze tastete man Hoden, Neben- hoden und Samenstrang. Hypospadiasis totius penis neben Hypospadiasis partialis scroti. Die Schamlefzen erschienen in ihrem untersten Teile mit einander ver- wachsen, indem sie eine Art Frenulum labiorum bildeten. Der Damm erschien infolgedessen ausnehmend hoch. Keine Spur einer Raphe zu sehen. Man konnte die Hautdecken zwischen der Analöffnung und der Öffnung in der Schamspalte mit dem Finger ziemlich tief ein- stülpen in eine nach außen hin durch die Hautdecken verschloßenen Höhle, wenigstens ergab der tastende Finger so eine Vorstellung für Arnaud. Während jener katamenialen Beschwerden stülpte sich diese Partie der Hautdecken am Damme etwas konvex nach außen vor, aber „ohne gleichzeitige auflallende Verfärbung der Hautdecken an dieser Stelle,* Die Anschwellung wurde stets sehr schmerzhaft zu jener Zeit ; nach einigen Tagen ließen die Schmerzen nach und es erfolgte eine mehr- tägige Blutung ex ano, obgleich keine Haemorrhoiden vorhanden waren. Arnaud hielt diese Näherin für einen regelmäßig menstruierenden Mann. Die Bluten- leerung werde aber aufgehalten, weil die Seheide keine

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Ausführungsöffnung nach außen zu besaß er hielt jenen geschlossenen, oben erwähnten Hohlraum für eine nach außen zu verschlossene Scheide, in welche man von außen her die} Hautdecken am Damme einstülpen konnte. Dieses retinierte^Menstrualblut sollte sich alsdann durch eine Fistel e vagina in den Mastdarm ausscheiden und dann aus diesem abfließen. Arnaud hatte sich persönlich

Fig. 24. Vulva eines erwachsenen als Mädchen erzogenen Schein- zwitters von fraglichem Geschlecht; Beobachtung von Arnaud.

mehrmals überzeugt von der Wahrheit aller der kata- menial auftretenden Beschwerden und der darauf folgenden Blutung ex ano, wie er sagt Er machte unter Assistenz zweier Kollegen einen Einschnitt in die Hautdecken an der schon erwähnten Stelle am Damme und drang mit dem Finger in eine zwei Zoll tiefe Höhle ein, in deren

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Grunde er eine Portio vaginalis uteri zu tasten glaubte. Die folgenden Menstrualblutungen entleerten sich be- schwerdefrei durch die von Arnaud geschaffene Öffnung. Leider aber wurde trotz Drainage die künstlich ge- schaffene Fistel immer enger, schloß sich nach ü Monaten ganz und die alten Beschwerden waren wieder da. Die Patientin ging auf die Wiederholung der Operation nicht ein, verlangte aber statt dessen durchaus, Arnaud solle ihr das Geschlechtsglied abschneiden, den hypospadischen Penis, resp. die hypertrophische Clitoris, welches Organ ihr sub erectione sehr lästig falle. Da Arnaud das Individuum für einen Mann hielt, so schlug er diese Operation rundweg ab. Die Patientin wurde auch von Malaval, Puzos, Gue>in, Morand, Garengeot und anderen Ärzten untersucht, welche sämtlich Ar- naud's Diagnose billigten, wie er schreibt. Als die un- glückliche Näherin im Jahre 1740 starb, 15 Jahre nach der von Arnaud vollzogenen Operation, bestimmte die Pariser Akademie zwei Delegaten für die Ausführung der Nekropsie: die Herren Verdi er und Foubert. Verdier vollzog die Sektion des Leichnams und nahm die herausgeschnittenen Geschlechtsorgane mit sich nach Haus. So oft auch Arnaud und Foubert auf eine Aufforderung Verdiers hin zu ihm gingen, um gemein- sam das Präparat zu untersuchen, so wußte es Verdi er so einzurichten, daß sie ihn niemals zu Hause antrafen, bis schließlich das Präparat so verfault war, daß es nicht mehr zu untersuchen war. Arnaud sah in diesem Vor- gehen Verdi er^s eine Intrigue, um vorzubeugen, daß ein Bericht an die Akademie abgesandt wurde. Nach Arnaud sollte es sich hier um einen menstruierenden männlichen Scheinzwitter mit mangelnder Vaginalöffnung handeln, also mit Haematokolpometra per rectum pro- fluens. Wenn man auch diesen älteren Mitteilungen mit Recht skeptisch gegenübertritt, so ist andererseits ihnen

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doch nicht von vornherein jeder Wert abzusprechen. Wollen wir heute diesen Fall beurteilen, so werden wir eher annehmen, die Näherin war vielleicht ein weiblicher Scheinzwitter mit Hypertrophie und Erektionen der Clitoris und teilweiser Verwachsung der Vulva mit Atresie der Scheidenöilnung. Arnaud glaubte wohl, daß die in den Lefzen vorhandenen Gebilde Hoden, Nebenhoden und Samenstränge waren, das schließt jedoch keineswegs aus, daß es sich um ektopische Ovarien und Tuben z. B. gehandelt hat. Die Geschichte mit dem Verhalten Verdier's hat sich auch wohl später schon in Arztekreisen wiederholt, so etwas kommt leider vor, da nicht immer das gegenseitige Handeln der Arzte von wissenschaftlichem Interesse und Kollegialität geleitet wird.

3) Mc Arthur (Gynaecological Society of Chicago. 7. I. 1902 Referat: Monatsschrift für Geb. u. Gyn. 1902. pg. 993]: Hermaphroditismus und Atresia ani." Es wurde ein neugeborenes Kind wegen Atresia ani 12 Stunden post partum operiert, aber es starb trotzdem. Bei der Sektion konstatierte man weibliches Schein- zwittertum mit Persistenz der Kloake.

4) Aveling erwähnt ein Individuum zweifelhaften Geschlechtes, welches im Londoner Saint Georges Ho- spital untersucht wurde. Es war eine Frau mit ganz besonderer Hypertrophie der Clitoris, welche Aveling amputierte, weil sie infolge der Reibung an den Kleidern der Frau lästig fiel. Aveling hatte bei dieser Person die Menstruation konstatiert.

5) Benoit [Journal de la Socidte* de M£decine pra- tique de Montpellier. Novembre 1840] beschrieb folgende interessante Beobachtung: „Consultation sur un cas d'hermaphrodisme" : Ein 27jähriges verlobtes Mädchen wandte sich behufs Untersuchung an einen Arzt, welcher eine Atresia hymenis konstatierte. Er machte einen Ein-

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schnitt, um die Scheide zu eröffnen, traf jedoch auf kein Lumen und die Operation blieb resultatlos. Trotzdem blieb das Fräulein in dem Glauben, dem weiblichen Ge- schlechte anzugehören. Es schob den Termin der Hochzeit unter stetig neuem Vorwande immer wieder hinaus, bis der Bräutigam endlich die Geduld verlor da gestand es ihm die Ursache des Zögerns ein, es wisse, daß es mißgestaltet sei inbezug auf die Geschlechtsorgane. Der Bräutigam bestand dennoch auf der ehelichen Verbindung sobald wie möglich. Marie erbat sich noch einige wenige Tage Bedenkzeit und ging jetzt zu Benoit. Sie hatte jetzt begonnen an ihrem weiblichen Geschlechte zu zweifeln. Sie fragte Dr. Benoit direkt, zu welchem Geschlechte sie gehöre, ob sie einen Mann heiraten könne und ob bezüglich der Eheschließung eine Operation nötig sei oder nicht? Nach genauer Untersuchung konstatierte Benoit männliches Scheinzwittertum, erklärte dem jungen Mädchen direkt, es sei ein Mann, keine Operation könne etwas daran ändern und die Hochzeit dürfte demnach nicht stattfinden.

6) Berendes [siehe Koesters: „Ein neuer Fall von Hermaphroditismus spurius masculinus" I. D. Berlin 1898, siehe auch Jahrgang für 1902 dieses Jahrbuches in meiner Arbeit: Gruppe IV. Fall IV. von Landau] amputierte einem Mädchen von vier Jahren auf Wunsch der Eltern die hypertrophische Clitoris. Das Mädchen erwies sich in der Folge als männlicher Scheinzwitter [siehe auch die farbige Abbildung in meiner vorerwähnten Arbeit].

7) W. Bittner [ Hermaphroditismus spurius mas- culinus completus", Prager Medizinische Wochenschrift 1895 N: 43 pg. 491 mit zwei Abbildungen]: Interessante Beobachtung von erreur de sexe aus der Klinik von Bayer in Prag. Emilie P., 13 jährig, macht den Ein- druck eines Weibes, aber ihr Charakter und ihre Gewohn-

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heiten kontrastieren damit ganz auffällig. Die Körper- kontouren weisen nirgends die weibliche Rundung auf, die Schulterbreite übertrifft die Beckenbreite, das Haupt- haar ist in zwei lange Zöpfe zusammengeflochten. Man «uchte an den oberen Extremitäten vergeblich den Puls- schlag der arteria bracchialis, cubitalis, radialis, ulnaris, was auf einen abnormen Verlauf dieser Gefäße hinwies. Die Genitalien sahen aus wie die eines Weibes mit be-

Fig. 25. Äußeres Genitale des von Bittner beschriebenen

Scheinzwitters.

deutender Clitorishvpertrophie: die Clitoris ist 5 und einen halben Centimeter lang, hat eine deutlich sichtbare Glans mit langer Vorhaut. An der Spitze der Glans sieht man die Mündung eines Kanales, welcher eine dünne Sonde 5 Centimeter tief einläßt (!). Aus diesem Kanal kann man etwas Schleim ausdrückeu, der ganz ähnlich dem Prostataschleim aussieht. Bei Betastung entdeckte man in dieser Clitoris einen zentral verlaufenden

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Strang, der erst unterhalb der Schamfuge verschwand. Dieser Penis ist an seiner unteren Fläche gespalten und weist hier eine 3 bis 4 Millimeter breite Rinne auf, die nach unten zu immer schmäler werdend, im Abstände von drei Centimetern von der Spitze des Penis endet. Harnröhrenöffnung weiblich, der Katheter weist eine be- deutende Dilatation der Harnblase auf, indem er beinahe bis in Nabelhöhe eindringt. Dr. Busch in Teplitz

Fig. 26.

Fig. 'J6 u. 27 : Genitale eines männlichen Scheinzwitters von 13 Jahren, irrtümlich als Mädchen erzogen. Beobachtung von Bittner.

wegen Dysurie gerufen, hatte die Harnröhre mittels Bougies erweitert. Diese Erweiterung der Blase nach obc :i zu würde für eine Persistenz des Urachus sprechen. Die untere Harnröhrenwand stülpt sich etwas nach unten vor, so als ob eine portio vaginalis uteri existierte. Unter- halb der llarnröhrenötfnung liegt die Mündung der Vagina. Beide Öffnungen liegen in dein 8 Millimeter langen Sinus"

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urogenitalis, der ganz glattwandig ist und ohne Spur von kleinen Schamlippen. Anus normal, Damm breit. In jeder Schamlefze tastete man ein Gebilde, von dem eine Art Strang bis in die Bauchhöhle verläuft. Diese Ge- bilde machen den Eindruck rudimentärer Hoden. Per rectum tastend, gewahrt man ein bohnengroßes Gebilde in der Mittellinie querliegend und leicht verschieblich, dicht hinter der Blase liegend und bei Anfüllung der Blase dem Finger entweichend Tuben oder Ovarien nicht getastet.

Man betrachtete die in den Schamlefzen liegenden Gebilde als Hoden. (Siehe Fig. 25, 26, 27). Das per rectum getastete Gebilde war anscheinlich ein rudimen- tärer Uterus. Die Mutter verlangte durchaus die Ampu- tation der hypertrophischen Clitoris, man willfahrte diesem Verlangen jedoch nicht, weil man das Kind für einen männlichen Scheinzwitter hielt.

8) M. R. Blond el [, Observation de Pseudoherma- phroditisme* Soctete* Obst^tricale et Gyn£cologique de Paris, Seance du 12. Janvier 1899 Bulletins et Me*moires de la Socidte" Obste*tricale et Gyn^cologique de Paris. Paris 1899] beschrieb eine äußerst interessante Beobachtung folgender Art: Frau X. aus Angers, 45 Jahre alt, seit 18 Monaten verheiratet, kam am 14. X. 1998 in seine Klinik mit Klagen über Unterleibschmerzen Schwindelanfälle, Mattigkeit und Abgeschlagenheit und in letzter Zeit häufiges Nasenbluten; außerdem bemerkte sie seit zwei Jahren krampfhafte Zuckungen der Augen- lieder, welche von Herrn Landolt behandelt worden waren. Frau X. glaubt^ alle diese Beschwerden stehen mit ihrem Alter, einer beginnenden Climax, im Zu- sammenhange. So hatte sich auch der Okulist ausge- drückt, so äußerten sich auch ihre Bekannten. Sie hat aber von all' diesen Beschwerden ihrem Hausarzte nichts gesagt, sondern zog es vor, einen Spezialisten in Paris zu konsultieren, da in ihrer Organisation etwas Absonder-

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liches vorliege, was weder sie noch ihr Mann sich zu deuten im Stande seien. Sie verlangte jetzt eine genaue Untersuchung. Sie hatte niemals die Periode und konnte mit ihrem Gatten niemals den Beischlaf normal ausführen, weil sie dabei jedesmal vehemente Schmerzen empfinde; sie glaubt bemerkt zu haben, es müsse ein mechanisches Hindernis für die Vollziehung des Beischlafes vorliegen. Eltern normal gebaut und gesund, drei Schwestern haben normal die Periode, zwei haben Kinder. Frau X. hatte im Alter von 12 13 Jahren alle die Symptome an sich beobachtet, welche dem Eintritt der Regel vorauszugehen pflegen. Schmerzen in der Lendengegend, Schweregefühl im Unterleibe, Schwindelanfälle. Der Hausarzt verord- nete verschiedene Emmenagoga: Apiol, Senf, ließ Blutegel setzen, natürlich ohne jeden Erfolg. Ihre Leiden ver- loren sich später nach etwa zweijähriger Dauer! Als sie 19 Jahre alt war, bewarb sich ein junger Mann um ihre Hand. Obgleich der junge Mann ihr wohlgefiel, so zerschlug sich doch das Heiratsprojekt nach einem Jahre infolgedessen, daß sowohl die Eltern als auch das junge Mädchen voraussahen, die Ehe werde nicht glück- lich ausfallen angesichts zu erwartender Kinderlosigkeit, denn wie sollte sie eine Mutterschaft erwarten können, da sie noch nie die Periode gehabt hatte? Aus dem gleichen Grunde wurden auch mehrere andere Freier abgewiesen. Jetzt, wo Fräulein X. bereits 44 Jahre alt war, meldete sich abermals ein Freier, ein GOjähriger Wittwer, welcher von vornherein erklärte, er habe Kinder aus erster Ehe und verzichte auf weiteren Kindersegen freiwillig. Die Heirat kam zu Stande, aber der Beischlaf erwies sich als ganz unmöglich. Vor 6 Monaten stürzte Frau X. aus einer Höhe von vier Metern herab und wurde mit einem Armbruch und der Verstauchung einer Hand aufgehoben: sie empfand gleichzeitig starke Schmerzen im Leibe, in den Leisten-

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gegenden und Schweregefühl in den Schamlefzen. Der Arzt legte auf den Arm einen Gipsverband, bezüglich der Leistenschmerzen erkannte er einen doppelseitigen Leistenbruch als Ursache und verordnete ein Bruchband. Frau X. erklärt jetzt, sie könne dieses Bruchband auch nicht einen Augenblick missen, da sie sonst sofort von heftigen Schmerzen befallen werde in den Leistenringen. Sie hat auch bemerkt, daß seit jenem Falle in jeder Schamlefze ein Tumor existiere, den sie früher niemals bemerkt hatte. Blondel vollzog nun die Untersuchung und fand zunächst absolut nicht«, was eine erreur de sexe hätte voraussetzen lassen. Körperhöhe 170 Centi- meter. Das Gesicht ist vielleicht nicht ausgesprochen weiblich zu nennen, entbehrt aber jeder Spur männlicher Behaarung. Haupthaar lang, fein, wellig geringelt.

Stimme etwas scharf, aber nicht gerade unweiblich, eher eine Art Mezzo-Sopran als Contraalt. Hände und Füße groß, Taille breit, Hüften stark, Muskelsystem üppig entwickelt. Bei Betrachtung der Vulva wird man zunächst frappiert von der Größe der Clitoris sowie auch der Schamlefzen. Die Hautdecke der Schamlefzen sieht gerunzelt aus wie das Scrotum; hier und da auf den Schamlefzen Haare. Clitoris kleinfingerdick, im fiacciden Zustande 4, sub erectione 6 bis 7 Centimeter lang. Das Praeputium reich, umfaltet die Corona glandis und geht nach unten zu in die kleinen Schamlippen über. Zieht man die kleinen Schamlefzen auseinander, so ge- wahrt man eine schmale, enge, infantile Schamspalte. Es fallen hier mehrere Eigentümlichkeiten auf, welche Blondel wörtlich so beschreibt:

„A la partie infdrieure de Porifice vulvaire existent une fourchette et un vestibule indentiques a ce qu'on trouve ii Pdtat normal. Au milieu on trouve un orifice dtroit, borde* d'un bourrelet hange*, tout-a-fait serablable a certains hymens. Au-dessus de celui-ci se montre la

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vofite formte par la face infe>ieure du clitoris. : le raphe" parti du sillon median de celui-ci et qui correspond bien a la bride decrite dans un cas semblable par Buisson la divise suivant son milieu en deux parties dgales et vient se perdre un peu au-dessus de la partie supeYicure de Thymen; ä ce niveau existent deux orifices ä la direc- tum longitudinale; situe* de part et d'autre du raphe* ils sont rt'lativement volumineux et admettent chacun sur un trajet d' un demi a un centimetre l'extrdmite* d'un fin stylet : un liquide Alant, tres transparent, tout ä fait sem- blable a la sfore'tion prostatique de l'homme, s'e'cbappe devant nous de ce deux orifices.* Man sah zunächst nirgends eine Harnröhrenöfthung: dieselbe lag scheinbar in einer pseudovaginalen Höhle, etwas nach hinten und nach innen zu von der Hymenalöffnung. Einen Katheter kann man längs des Fingers in die Blase einführen: Urethra etwa vier Zentimeter lang. Die Einführung des Fingers in die Hymenalöffnung bereitet der Frau viele Schmerzen, die Ränder des Hymen sieht man auf dem Fingergliede gelagert. Die Hymenalränder sind dünn und sehr gespannt. In der Tiefe von drei Zentimetern erscheint die Vagina blindsackartig geschlossen. Per rectum tastet man sowie auch per vaginam an der Hinter- fläche der Harnblase zwei längliche Gebilde von vagen Kontouren, welche vielleicht einer Prostata oder den Samenblasen entsprechen. Beim Harnen mag ein Teil des Harnes in die Vagina fließen infolge der versteckten Lage der Urethralöffnung. In jeder der auffallend großen Schamlefzen tastet man je einen Hoden: der linke ist atrophisch, weich, abgeplattet, mit kleinem Nebenhoden und Samenstrange, die rechtsseitigen Geschlechtsdrüsen- gebilde sind normal. Man kann Kopf und Schwanz des Nebenhodens und den Samenstrang unterscheiden. Die Hodeu gleiten unter Fingerdruck in ihrer Tunica vaginalis hin und her, die eine offenbar mit Lumen versehene

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Tasche bildet. Die Hoden lassen sich erheben bis zur Leistenkanalmündung; der Versuch einen Hoden in den Leistenkanal einzuschieben ist zu schmerzhaft, obwohl die Hoden, wie oben gesagt erst vor 6 Monaten infolge eines Trauma in das Scrotum fissum herabgestiegen waren. Bei dieser Frau wurde also eine erreur de sexe kon- statiert, Hypospadiasis peniscrotalis mit Persistenz eines Utriculus masculinus [resp. Vagina], welcher von Vesti- bulum pseudovulvare durch eine Art Hymen geschieden ist. Der Sinus urogenitalis, der Pseudovaginalkanal, das hinter dem Hymen belegene Stück eingerechnet, ist immerhin 5 0 Centimeter lang, läßt den Finger ein, aber nicht das Membrum conjugis. Der Gatte war bisher nicht im Stande den Widerstand jenes Hymen zu brechen. Der Mann hat gleichwohl mehrmals eine Immissio in jene Vulvargrube versucht mit Ejakulation in dieselbe hinein, aber jeder Angriff auf den Hymen ist von einem Schmerzenschrei der Frau gefolgt. Die Frau sagt, daß sie gleichwohl bei diesen Versuchen ihres Gatten Wollust empfinde, deren Kulminationspunkt der Moment sei, wo bei dem Gatten die Ejakulation erfolgte. In diesem Moment empfindet sie eine Art krampfartiger Erschütterung des ganzen Körpers rhytmischer Natur, und sie fühlt, daß bei ihr selbst eine Flüßigkeit sich in die Vulva ergießt. Nach diesen Spasmen erfolgt eine tiefe Prostration und hochgradige nervöse Depression. Die Frau unterscheidet sehr wohl diese Gefühle, welche sie erst seit der Hochzeit kennen gelernt hat, von anderen mehr oder weniger aus- gesprochenen aber vagen Wollustempfindungen mit Erektion der Clitoris und von Ejakulation gefolgt aber nicht ruckweise sondern kontinuirlich diese Ejaku- lation — , welche sie schon früher vom 20. Jahre an manch- mal empfunden, wenn sie einen Roman las oder träumte.

Ob die Hoden während jener Spasmen nach oben wandern, vermag sie nicht anzugeben, sie sind aber äußerst

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druckempfindlich und, wenn zufällig einmal ein Hoden einer Quetschung unterliegt, so empfindet die Frau starken Schmerz, den sie selbst als nauseös bezeichnet.

Blonde 1 war Zeuge einer Erektion und Ejakulation einer durchsichtigen, fadenziehenden, stark riechenden FlUßigkeit, welche vollständig dem Prostatasecret ent- sprach: er sammelte sogar etwas davon auf ein Schälchen zur Untersuchung. Die beiden Öffnungen, aus welchen diese FlUßigkeit ausgeschieden wurde, lagen unter- halb der Clitoris aber oberhalb der Harnröhrenöffnung. Es war leicht, diese beiden Offnungen mit bloßem Auge zu sehen ; man sah die FlUßigkeit aus ihnen hervorquellen. Die Flüßigkeit enthielt nur einige platte Zellen, aber keine Spermatozoiden. Keine Brustdrüsen vorhanden, nicht einmal merkliches Fettgewebe. Die Sternalregion war leicht behaart. Die scheinbar vaginale Mündung der Urethra in seinem Falle bezeichnet Blondel als einzig dasteheud. Blondel wagt nicht zu sagen, ob jene beiden Offnungen oberhalb der Urethra den Offnungen von Cowper'schen Drüsen entsprachen oder Prostata- ausführungsgängen ; jedenfalls funktionierten die drüsigen Gebilde, deren Secret sie ausschieden, energisch. Ob das per rectum getastete Gebilde eine Prostata war oder Samenblasen oder ein Uterus bicornis, kann Blondel nicht entscheiden. Keine männliche Gesichtsbehaarung. Neigungen und Geschmack dieser Person waren ganz weiblich und hat sie niemals männlichen, auf Frauen gerichteten Geschlechtsdrang empfunden. Was die kon- gestiven Erscheinungen der Pubertätsperiode anbetrifft sowie raensuelle Nasenblutungen im Alter der Menopause, so hat man solche Erscheinungen auch bei anderen männlichen Scheinzwittern ausgesprochen gefunden, die noch weit mehr männlich veranlagt waren als diese Frau. Was die sociale Stellung dieser Frau anbetrifft, so ist es klar, daß die Ehe eine nichtige sein muß. Durfte

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man, fragt sich Blondel, in diesem Falle sowie die Frau es verlangte, einen operativen Eingriff unternehmen, um den Beischlaf in der Rolle einer Frau zu erleichtern? Er beriet sich mit Maigrier und die Herren kamen dahin überein, daß das Verlangen der Frau ein berech- tigtes sei, er beschloß also den Hymen mit dem Messer zu spalten und dann die Pseudovagina zu verlängern durch einen Schnitt im Scheidengewölbe mit dedoublement des Septum rectovaginale und eventueller plastischer Bedeckung der geschaffenen AVunde. Die Frau gab an, sie werde sich am 20. November behufs Ausführung der Operation melden, kam aber nicht wieder.

Beiläufig erwähne ich, daß Herr Kociatkiewicz in dem von mir früher beschriebenen Falle nach Exstir- pation der Hoden eines als Mädchen erzogenen männ- lichen Schei dz witters, behaftet mit Hypospadiasis peni- scrotalis, um den Beischlaf in der Rolle einer Frau zu ermöglichen, eine Erweiterung des Aditus ad vaginam versuchte ohne jedoch eine wesentliche Veränderung zu erzielen.

Bezüglich des Blondel 'sehen Falles ist hervorzuheben, daß diese Frau, ein verkannter Mann, absolut weiblichen Geschlechtsdrang empfand.

8) Realdo Colombo [siehe Debierre] „L'Ethio- pienne de Realdo Colombo de Cremone*: Clitoris zu groß, Scheidenöffnung zu klein; Beischlaf weder mit Männern noch mit Frauen möglich. B Elle ne pouvait agir ni patir commodement." Diese Person verlangte die Amputation des männlichen Gliedes: Colombo schlug aber die Aus- führung dieser Operation ab, indem er die Verantwortung für diese Operation vor den Behörden scheute.

Steglehncr ]1. c. pg. 89] schreibt bezüglich dieses Falles: „Realdus Columbius observavit mulierem, eni erat genitale raembrum ambiguum crassum digiti minimi longitudinem aequans sed perforatum, sub eodem

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ostium canalis sie angustum ut non nisi digiti minimi apicem admitteret. Yiros haec ita coneupivit ut penis clitoridei resectionem et ostii vaginalis dilatationem a chirurgo expeteret. Qua strueturae vicissitudine maoifesto patet, clitoride increscente muliebris genitalis canaleiu eadem proportione contrahi et coaretari." Nach dieser Beschreibung scheint es sich hier um einen männlichen Scheinzwitter zu handeln mit Hypospadie des Scrotum und mehr oder weniger hochgradiger Entwickelung der Müller'schen Gänge jedenfalls scheint eine Scheide existiert zu haben. Der Fall ähnelt am meisten dem- jenigen von Mau de aus der neueren Kasuistik.

9) W. A. H. Coop |„A curious anomaly of the female genitalia with striking resemblance to sonie of the external male elements changed by plastic surgery into a woman of normal appearance." American Gyn. and Obstetric. Journal-New York. May 1895. pg. 594 1: 24jährige Frau, verheiratet bei vollständig männlichem Aussehen der äußeren Genitalien infolge von Verwachsung der Schamlefzen untereinander. Plastische Operation mit gutem Ausgange. Coop ermöglichte durch eine Discision der Verwachsung die Ausführung des Beischlafes sowie auch Hu guier in einem später zu erwähnenden Falle so wie auch eine solche einfache Operation den Bei- schlaf in der Rolle einer Frau Marie Magdaleue Lefort ermöglicht hätte, wenn die Person sich der An- sicht von Bdclard angeschlossen hätte, der ihr Geschlecht als weiblich richtig erkannt hatte entgegen der Meinung der sämtlichen anderen Ärzte, welche sie untersucht hatten.

10) Coste [Marseille] [Journal des connaissances mtfdico-chirurgicales par les Docteurs A. Trousseau, J. Lebaudy, H. Gouraud: 3-eme annee, 1835, pg. 276 „Conformation vicieuse des organes g£uitaux chez une femme. Operation."] ermöglichte den Beischlaf in der

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Rolle einer Frau einer Person von zweifelhaftem Ge- schlechte. Im September 1834 kam zu ihm Frau X. mit ihrer 21jährigen Tochter, weche eine genitale Mißstaltung hatte. An Stelle der zu erwartenden Clitoris fand Coste ein männliches, unten gespaltenes Glied, so groß wie bei einem etwa 12jährigen Knaben. Die Glans dieses Gliedes war infolge von Retraction des Praeputium vollständig entblößt. Aus der weiblichen Harnröhrenöffnung entleert sich nicht nur der Harn, sondern vom 13. Jahre au auch regelmäßig alle vier Wochen das menstruelle Blut; Unterhalb der Harnröhrenöffnung keinerlei Vertiefung zu sehen, man sah dort zwischen den kleinen Schamlippen nur eine behaarte Haut mit Anzeichen einer Raphe. Die großen Schamlippen waren rudimentär entwickelt, reprä- sentierten einfach zwei Hautfalten. Allgemeinaussehen dieses Mädchens, sowie die Brüste und allgemeine Be- haarung ganz weiblich, ebenso die Schambehaarung, aber das Becken und die Extremitäten waren männlich ver- anlagt. Charakter und Neigungen vollkommen weiblich, das Mädchen liebte zärtlich seinen Bräutigam, kannte keine Masturbation und hatte niemals eine Erektion seines Geschlechtsgliedes bemerkt. Die Mutter kam zu Coste mit der Frage, ob ihre Tochter heiraten könne oder nicht? Coste antwortete, daß ein Beischlaf nicht möglich sein werde, es sei denn nach Ausführung einer Operation. Da allmonatliche Blutungen vorlagen, so war Coste überzeugt von der Existenz eines Uterus: die Ausscheidung des Blutes durch die Harnröhre wies darauf hin, daß eine Kommunikation zwischen Uterus und Harnröhre existiere. Es ging nun um zwei Sachen : erstens um Schaffung einer Vagina zwischen Urethra und Rectum, zweitens um Amputation der hypertrophischen Clitoris. Das Fräulein ging im Prinzip auf die Operation ein, die auch von Coste am 20. IX. 1834 vollzogen wurde. Aus Rücksicht auf die Schamhaftigkeit der

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Patientin, sowie darauf, daß es darauf ankam, das größte Geheimnis zu wahren, begnügte er sich mit einem einzigen Assistenten, Dr. Dune"s. Er begann die Operation mit einem Längsschnitte in der Raphe dartos zwischen Urethral- und Analmündung, wobei die Kranke so ge- lagert war wie bei einem Steinschnitt. Da Coste selbst in der Tiefe von einem Zoll keine Scheide antraf und er befürchtete, die naheliegende Urethra oder das Rectum zu verletzen, so führte er jetzt einen Katheter in die Blase ein, indem er aber dem Katheter eine Richtung gab nicht nach der Harnblase sondern nach der Gebär- mutter zu. Die Sonde drang spontan in einen Kanal ein, welcher die Vagina zu sein schien. Jetzt entschloß sich Coste unter dem Risiko, eine Urethrovaginalfistel zu schaffen, dazu, das Septum zwischen dem in Urethra liegenden Katheter und der vermuteten Vagina von der Urethralmündung aus mit einem Messerschnitte zu spalten bis zu dem vermuteten Scheideneingange. Der in die Tiefe der Wunde eingeführte Finger gelangte in eine Höhle, die mit Schleimhaut ausgekleidet war; er tastete aber auch in dieser Höhle eine Portio vaginalis uteri. Coste tamponierte nun diesen ganzen Kanal mit Charpie, die er mit Wachs durchtränkt hatte. Dann zog er die Vorhaut der hypertrophischen Clitoris soweit er konnte nach hinten zurück und amputierte die Glans clitoridis mit einem Messerzuge so nah als es möglich war an der Symphysis ossium pubis. Er legte einen Heftpflaster- verband an und brachte die Operierte zu Bett. Das postoperative Fieber wurde durch strikte Diät bekämpft. Am dritten Tage nach der Operation erfolgte eine starke Blutung aus den durchschnittenen Corpora cavernosa clitoridis, welche Coste nicht fürchtete, weil diese Blutung eine vorteilhafte Depletion setzte!!!! Druckverband. Am 7. Tage nach Amputation der Clitoris war deren Wunde vernarbt. Nach zwei Monaten war die chirur-

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gische Pflege der neugeschaffenen resp. eröffneten Vagina mittels Tamponade und Lapisgebrauch vollendet. Die Ränder der Harnröhren wunde sollen spontan mit einander verwachsen sein, sodaß schließlich der Harnweg ganz separiert erschien von dem Genitalwege der Vagina. Die Periode erschien zur erwarteten Zeit und wurde per vaginam entleert. 8 Monate nach der Hochzeit hieß es: Matrimonium est consummatum. Die junge Frau sagte ihrem Operateur, der Beischlaf finde statt ohne Schwierig- keiten und sie sei zufrieden und habe auch Annehmlich- keit dabei, aber schwanger sei sie noch nicht seit dem letzten Besuche des Arztes. Es scheint, daß es sich in diesem Falle um einen weiblichen Scheinzwitter handelt mit inguinolabialer Ektopie eines Ovarium, welches Coste fälschlich für einen Hoden angesehen hatte, um eine Verwachsung der Schamlefzen unter einander und Mün- dung der Vagina in die Urethra oder in den Sinus urogenitalis. Interessant ist für den modernen Chirurgen die Art und Weise, wie damals solche Wunden behandelt wurden, wie z. B. die nach Amputation der Clitoris und ihrer Schwellkörper entstandenen.

12) Duval [siehe: Debierre 1. c. pg. 46): De- moiselle d'Anjou „Nach Angaben von Duval ver- langte der Gatte die Scheidung" : „La cause du di- vorce pretendu tftait que cette demoiselle avait un membre viril, long de deux travers de doigts en la partie sup<5- rieure de l'ovale mulii-bre, lieu auquel devoit etre le* clitoris, qui se dressait alors que son mari voulait avoir sa compagnie, et le blessait, de sorte qu'il n'avait encore eu dtfccnte habitation et copulation avec eile." Das Gericht entschied, daß die Ehe aufrecht erhalten werden wird, insofern die Gattin sich einverstanden erklärt zur Abschneidung „de la dicte partie superflue et inutile a une femme." Da jedoch die junge Frau auf eine Ope- ration nicht eingehen und nicht das verlieren wollte, was

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die Natur selbst ihr verliehen, „le mariage füt de con- sentement des deux parties declare* solu et cassd* Diesen Fall habe ich früher schon erwähnt in meiner Kasuistik der Mißeheu Bpar erreur de sexe", deren ich bis jetzt 63 gesammelt habe.

13) Hartmann [Bulletins et M^moires de la Societe* de Chirurgie de Paris. Tome XXVIII. 1902. Nr. 31. pg 931 und No. 34]. Im Jahre 1892 schnitt Hart man n bei einem 7 jührigen Mädchen, welches hartnäckig masturbierte, auf Wunsch der Mutter hin die hypertrophische Clitoris ab. Nach 10 Jahren sah Hartmann das Mädchen wieder. Angesichts einer Diskussion über das von Walt her in der Pariser Societe* de Chirurgie vorgestellte Individuum erinnerte er sich an dieses Kind und be- richtete einige Details: das 7jährige Kind verriet vor- zeitige geschlechtliche Entwickelung: der fette Möns Veneris und die Schamlefzen waren schon behaart. Während normal bei einem 7 jährigen Mädchen die Clitoris nicht länger am Dorsum ist als 47 (?) Millimeter lang, so hatte in seinem Falle die Clitoris die Größe des kleinen Fingers, sub erectione erschien sie noch größer. Das Organ sah aus wie ein hypospadischer Penis, die Crura clitoridis gingen über in die kleinen Schamlippen. An der unteren Fläche der scheinbar gespaltenen männ- lichen Penisharnröhre sah man eine weißliche glänzende Membran und darin hintereinander liegend mehrere 'Öffnungen: Lacunae Morgagnii. Hymen falciformis läßt den Finger in Vaginam eindringen bis an den Mutterhals. Die Schamlefzen vereinigen sich nicht mit einander oberhalb der Clitoris, sondern haben dort einen Abstand von einander von anderthalb Zentimetern. Per rectum tastete man das Corpus uteri, aber der Uterus lag nicht antevertiert, wie es sein sollte, sondern in retroversione. Jederseits tastete man im Becken in der Region der Articulatio sacroiliaca einen bohnengroßen

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druckempfindlichen Körper . Die Oberlippe wies eine männliche Behaarung auf. Die Clitoris glich an Größe dem Membrum eines 7jährigen Knaben, wurde bei Digitalberührung steifer und näherte sich dabei der Schamfuge. Da Hartmann überzeugt war von dem weiblichen Geschlechte des Kindes und um der Onanie ein Ende zu machen, entschloß er sich zu der Amputation des inkriminierten Gliedes. Jetzt nach 10 Jahren bot das Mädchen ein absolut männliches Aussehen. Das Gesicht war üppig behaart, Brustkorb und Becken männlich. Das Individuum erwirbt sich den Unterhalt als Näherin und soll bis jetzt keinerlei Geschlechtstrieb empfunden haben. Schambehaarung weiblich. Der Stumpf der einstens amputierten Clitoris strotzt fingerdick unter- halb der Schamfuge, ist von rosaroter Färbung. Die 10 Centimeter lange Scheide läßt ein Speculum bis an den Mutterhals vordringen, eine dünne Sonde dringt in den Uterus vier und einen halben Centimeter tief ein. Regel bis jetzt noch nicht aufgetreten, aber alle Monate 2 3 Tage lang Leibschmerzen, mehr linkerseits als rechterseits ausgesprochen und bis auf die Fossae iliacae ausstrahlend. Hartmann hält das Individuum für ein Mädchen, ich möchte dieses Urteil doch nicht ohne Weiteres unterschreiben und halte das Geschlecht bisher für zweifelhaft und die ausgeführte Operation für un- berechtigt, solange nicht das weibliche Geschlecht sicher- gestellt war erinnere dabei an einen bekannten Fall, wo ein berühmter französischer Chirurg von einem seiner männlichen Patienten ermordet wurde aus Rache dafür, daß er ihm während einer Varicocelenoperation einen Hoden abgeschnitten hatte !

14) Hector le Nu wurde zu der 0jährigen Tochter des Wilhelm Fre*rot gerufen, um deren hypertrophische Clitoris zu amputieren, schlug aber die Operation ab, weil er in jeder Schamlefze je einen Hoden und Neben-

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hoden getastet, somit eine erreur de sexe konstatiert hatte. Hypospadiasis peniscrotalis.

15) Huguier: Es handelte sich um die 1839 in Saint-Quentin geborene Louise D. [siehe Ldon Je Fort: „Les vices de conforniation de Put<?rus et du vagin* Paris 18(52. pg. 200—207.] (s. Fig. 28 u. 29.) Es waren die kleinen Schamlippen mit einander verwachsen, indem sie so die untere Wand eines Kanales bildeten, welcher

Fig. 28 u. 2'J. Vulva eines 20jährigen weiblichen Scheinzwitters Louise D. mit Verwachsung der Schamlefzen. Abbildung vor

und nach Discision durch Huguier. A == Clitoris, B Sonde in die Vulvaüffnung eingeführt, C = Linkes Ovarium in hernia labiali, D=Urethralmiindung, I Vaginalostium.

unterhalb der Clitoris nach außen mündete. Louise D. hatte sich sonst regelrecht entwickelt und hatte vom 18. Jahre an ihre Perioden, die allerdings jedesmal sehr schmerzhaft waren. Das Menstrualblut entleerte sich stets mit Harn gemischt durch jene unterhalb der Clitoris belegene Öffnung. Im 20. Jahre sollte Louise heiraten. Der Hausarzt erklärte eine Heirat für unmög- lich. Am 14. IX. 1859 stellte Debout in der Pariser

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Socie*te* de Chirurgie ein Gipsmodell der Geschlechtsteile der Louise D. vor, welche für einen Hermaphroditen angesehen wurde. Clitoris 1—5 Centimeter lang mit starken Erektionen. In einer Schamlefze lag ein Ovarium, welches eventuell für einen Hoden angesprochen werden konnte. So oft eine Erektion der Clitoris eintrat, sah man „un mouvement ascensiouel se produire dans les grandes levres comme si elles e*taient double*es d'un muscle Cr^master". Oberhalb jenes ektopischen Ovarium tastete man einen nach dem Leistenkanale zu verlaufenden Strang! Die Sonde, in die Öffnung unterhalb der Clitoris eingeführt, drang nicht in die Harnblase ein, sondern 11 Centimeter tief in die Vagina und konnte per rectum nicht getastet werden. De b out war daraufhin fest über- zeugt, daß Louise ein Mädchen sei, und brachte sie in das Hospital Beaujon zu Huguier, welcher die ver- langte Discision der mit einander verwachsenen kleinen Schamlippen vollzog bis auf den Abstand von zwei Centimetern von der Analöffnung. Sofort erblickte man das Orificium vaginae von einem Hymen garniert, sowie die Harnröhrenmündung. Uterus sehr klein. In der Folge fügte Huguier noch einen zweiten kleinen Ein- griff hinzu, da die Öffnung der Schamspalte sich als sehr eng erwies.

16) Als Seitenstück zu diesem Falle füge ich hier den berühmten Pariser Fall betreffend Maria Magdalena Lefort hinzu samt einigen Abbildungen sehr instruktiver Art. Dieser Fall ist vielfach diskutiert und mehrfach von französischen Autoren beschrieben worden, weil er in der Tat lehrreich ist. Die beiden Abbildungen stellen die Person vor im Alter von IG und von 65 Jahren. [Siehe Debierre: L'Hermaphrodisme. Paris 1881. pg. 70— 83J (s. Fg. 30, 31, 32, 33). Am 10. Februar 1815 wurde die damals 16 Jahre alte Maria Magdalena iu der Pariser Ärztlichen Gesellschaft vorgestellt.

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C haussier, Petit-Radel und Beclard sollten sie untersuchen. Das Mädchen war von mittlerem Wuchs, hatte viele paradoxe Erscheinungen an sich; einen auf- fallenden Kontrast bildete die üppige männliche Gesichts-

Fig. 80. Maria Magdalena Lp fort, weiblicher Scheinzwitter

im Alter von 16 .Jahren.

behaarung mit gleichfalls üppig entwickelten weiblichen Brüsten. Üppige Schambehaarung. Die Clitoris, mög- licherweise ein hypospadischer Penis, war im flacciden Zustande 7 Centimeter laug, sub erectione länger. Prae-

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I »utium mobil. In der Mittellinie sieht man an der unteren Fläche dieses Gliedes eine seichte Rinne und darin fünf hintereinander liegende feine Offnungen, Lacunae Mor- gagnii. Zwei kurze schmale Schamlefzen sind stark

Fig. 31. Maria Magdalena Lcfort im Alter von GT> Jahren. Beobachtung von Beclard.

behaart an ihrer Außenseite und reichen von der Clitoris bis etwa 10 Linien vor dem After. Zwischen den Scham- lefzen liegt eine Haut, durch die hindurch man eine da- rüber liegende Höhle zu tasten meint. Die Schamlefzeu

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sind leer, enthalten also keinerlei Geschlechtsdrüsen. Unterhalb der Clitorisbasis liegt eine Öffnung, durch welche der Harn abfließt und in die man eine dünne Sonde einführen kann. In den Leistengegenden tastet man nichts von Geschlechtsdrüsen. Magdalena gibt an, der Harn fließe ab aus der besagten Öffnung unterhalb

Fig. 32. Schematischcr extramedianer Sagittaldurchschnitt durch das Becken von Maria Magdalena Lefort. J = Sonde unterhalb der Clitoris in das Orificium vulvae eingeführt, M = Vagina, 0 = Ovarium, T = Tube, U = Uterus, 1 s lig. rotundum, V = Blase, U = Ureter, d - Orificium urethrae R = Rectum, g = große Schamlippen.

der Clitoris sowie aus den vorher als Lacunae Mor- gagni i erwähnten feinen Öffnungen, was wohl auf einem Irrtum beruhen mag. Das Mädchen gibt an, schon vom 8. Jahre an menstruiert zu sein Menslruatio praecox. Sie ist absolut außer Stande, vor Zeugen zu urinieren.

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Ein durch jene Öffnung eingeführter Katheter entleert keinen Harn, gerät nicht in die Blase, sondern nimmt eine Richtung nach hinten zu. Am nächsten Tage trat die Menstruation ein, wovon die Ärzte sich persönlich überzeugten. Der Katheter, jetzt eingeführt, wurde blut- gefüllt extrahiert aus einer Höhle, welche offenbar nicht die Harnblase war und vor dem Rectum lag. Zwischen dem Katheter und der Haut, welche die Schamlefzen miteinander verband, tastete man eine Scheidewand, welche etwa zweimal so dick erschien als die Haut selbst. In der Tiefe von 8 10 Centimetern stieß der Katheter

Fig. 33. Vulva der Maria Magdalena Lefort. ;

in dieser Höhle auf einen Widerstand. Bdclard gelang es sogar, per rectum ein Gebilde wie eine Portio vaginalis uteri zu tasten. B^clard allein erklärte das Kind för ein Mädchen und proponierte die Durchschneidung der Labialverwachsung, welche von der Clitoris an bis zur Commissura labiorum posterior reichte. Auf diese Operation ging jedoch das Mädchen unvernünftigerweise nicht ein. Die Harnröhre erschien länger als sonst bei Frauen, sie reichte bis „au de la Symphyse pubienne se pro- longeant BOUS le clitoris disposition qui le rapproche

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du ptfnis et est fort rare* Maria Magdalena hatte die Regel vom 8. bis zum 49. Jahre, empfand stets rein weiblichen Geschlechtsdrang auf Männer gerichtet und soll auch einen Beischlafsversuch gemacht haben, der aber natürlich nur ein Beischlafsversuch blieb. Trotz der so eingehenden und geuauen Untersuchung durch Be"clard und der richtigen Deutung des Untersuchungsbefundes durch Bdclard blieb die Mehrzahl der Parsier Chirurgen der Ansicht, daß hier Hypospadiasis mascula mit Krypt- orchismus vorliege. Man stritt sich so lange hin und her, bis Maria Magdalena Lefort am 20. XIII. 1864 infolge einer Pleuritis im Hospital in Paris starb. Bdclard machte die Sektion, welche 40 Jahre nach seiner ersten Untersuchung glänzend seine früher geäußerte Meinung bestätigte. Die Person hätte, wenn die von Bt'clard geforderte Operation vollzogen worden wäre, selbst conci- pieren können, wie die Sektion zeigte. Die Sektion erwies, daß die vorgenannten 5 Offnungen in der Kinne an der unteren Fläche der Clitoris nicht mit der Harnröhre kommunizierten, sondern einfach den Lacunae Mor- gagni i entsprachen. Die Öffnung unterhalb der Clitoris führte zunächst in ein durch Verwachsung der Scham- lefzen miteinander in eine Höhle umgewandeltes Vesti- bulum vaginae von 6 Zentimeter Höhe und 2 Zentimeter Umfang. Man fand, wie B^clard vermutet hatte, einen Uterus, normal gebaut, und eine normale Vagina von 6 Centimeter Länge und 74 Millimeter Umfang. Columnae rugarum vorhanden. In Utero fand man drei kleine Fibrome. Uterus von normaler Größe. Der rundliche Muttermund ließ eine Sonde nur 51 Millimeter tief ein. Tuben je 7 Centimeter lang, Ovarien normal mit rupturierten und vernarbten Graafschen Follikeln. Legros untersuchte mikroskopisch die Ovarien, fand aber keine Ovula mehr, was ja nicht zu verwundern steht, da M ari a Magdalena im Alter von 65 Jahren gestorben war.

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17) Beiläufig füge ich hier ein Bemerkung ein be- treffend die ihrer Zeit berühmte Katharina Hohman aus [Mellrichstadt, den späteren Karl Hohmann. Kat harina Hohmann war als Mädchen getauft worden, obgleich das Aussehen der Genitalien nichts Mädchen-

Fig. 34. Katharina Hohmann, männlicher Scheinzwitter.

haftes bot. Die Hebamme schämte sich in der Folge ihrer Bestimmung so, daß sie von Mellrichsstadt fortzog. Katharina erreichte im 15. Jahre die Geschlechtsreife und es stellten sich Pollutionen ein. Damals begann sie mit Frauen 'zu kohabitieren, aber die Ejakulation erfolgte da- bei stets sehr schnell und die Immissio penis wurde wegen

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seiner Abwärtskrümmung niemals eine vollständige. Bis zum 20 Jahre verriet sich bei ihr nur das männliche Geschlecht, später aber traten die angeblich menstruellen Blutungen ein und zwischen dem 20. und 30. Jahre sah sie Colostrum in den Brüsten. Damals begann Katharina weiblichen Geschlechtsdrang zu empfinden und kohabitierte jetzt mit Männern. Während des Beischlafes mit Männern erfolgte keine Erektion, Katharina hatte aber dabei Samenergüsse, auch hatte sie mehr Geschlechtsgenuß, wenn

Fig. 35. Äuttere Genitalien der Katharina Höh mann.

sie mit Frauen kohabitierte. Der männliche Geschlechts- drang war bei ihr stets am stärksten in den ersten 2 3 Tagen nach der angeblichen Periode. Diese Periode soll vom 20. 30. Jahre regelmäßig, dann seltener geworden sein, aber bis zum 42. Jahre gedauert haben.

Diese Person, welche von Virchow, Rokitansky, Schultze, Friedre ich und vielen anderen hervorragen- den Ärzten untersucht und vielfach beschrieben wurde, hatte durch die Zweifelhaftigkeit ihres Geschlechts lebhafte

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Kontroversen hervorgerufen, indem sie bald für einen Mann, bald für ein Weib, bald für einen echten Zwitter erklärt worden war. Tatsache ist, daß Virchow nor- males Sperma bei ihr konstatierte, es kann also keinem Zweifel unterliegen, daß Katharina Hohman ein männlicher Scheinzwitter war, damit stimmt auch die Angabe, daß Katharina, welche mehr als 40 Jahre als Frau gelebt hatte, später als Mann in New-York heiratete und einen Sohn erzeugte. Eigentümlich und bisher nicht aufgeklärt erscheint nur der Umstand, daß Katharina bis zum 38. Jahre die Periode gehabt haben soll. Unter- halb des hypospadischen Penis lag die Scheidenöffnung. Als Katharina, 40 Jahre alt, untersucht wurde, konnte man per vaginam die Portio vaginalis uteri tasten. In der scheinbaren rechten Schamlefze tastete man den rechten Hoden, der linke lag unterhalb der äußeren Öffnung des linken Leistenkanales. Die Schamlefzen waren im unteren Teile in großer Ausdehnung mit ein- ander verwachsen, also das Scrotum nur im oberen Teile gespalten. Billroth proponierte Klara Hohman die Durchschneiduug dieser Verwachsung: sie ging jedoch auf die Operation nicht ein. Dieser Vorschlag Bill- roth's ist es, weshalb ich diese Beobachtung hier er- wähne. Katharina hat sowohl mit Männern als auch mit Frauen kohabitiert, was ja auch verständlich ist, insofern die physische Möglichkeit dazu vorlag. Katha- rina resp. Karl Höh mann starb 1881 in New-York zur Zeit als Mann verheiratet. Sie war ein männlicher Scheinzwitter mit stark entwickelten Brüsten, Hypospadie des ganzen Penis und teilweiser Hypospadie des Scrotum und angeblicher Menstruation. Siehe Abbildungen: Fig. 34 u. 35.

K. Virchow („Vorstellung eines Hermaphroditen" Berliner klinische Wochenschrift 1872, No. 49, pg. 585J stellte die Katharina Hohmanu in der Berliner ärzt-

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liehen Gesellschaft vor, nachdem sie bereits 1867 in Berlin untersucht worden war. Der Erste, welcher Katharina für einen Zwitter erklärt hatte, war Dr. Reder in Mellrichstadt, dem Geburtsorte Katharina's: sie hatte ihn wegen eines Leistenbruches konsultiert. Friedreich beobachtete Katharina lange Zeit hindurch iu seiner Heidelberger Klinik, dann Bernhardt Schultze in Jena, dann v. Koelliker und v. Reck- linghausen in Würzburg, Krause in Budapest, Hoff- mann in Basel und Andere. Fried reich konstatierte zuerst normales Sperma der Katharina, konnte aber weder eine Prostata noch Samenblasen als reeeptaculum seminis tasten, v. Franqut', v. Scanzoni, v. Reck- linghausen garantieren dafür, daß die von Katha- rina angegebene regelmäßige Blutausleerung aus den Genitalien, die angebliche Menstruation, auf voller Wahr- heit beruhe. Die Blutungen dauerten je zwei Tage, das ausgeschiedene Blut war mit Schleim gemischt. Alle diese Autoren behaupten, das 'Blut sei aus der Harn- röhrenöffhung ausgeschieden. Fried reich untersuchte das Blut mikroskopisch und schlug jede Vermutung nieder, daß das Blut kein menschliches sondern tierisches sei. Virchow sagt, die Blutungen seien zwar nicht absolut periodische, regelmäßige gewesen, sollen sich aber von Zeit zu Zeit wiederholt haben. Wenn eine menstruelle Blutung einer Eireifung entspricht, wo soll man also hier den Eierstock suchen? fragt Virchow.

Rokitansky gab an, er halte das vor dem linken Leistenkanale liegende Gebilde nicht für eine Geschlechts- drüse, sondern für einen obliterierten Bruchsack. Vir- chow möchte diese Behauptung nicht ohne Weiteres aeeeptieren, er verzichtete darauf, eine bestimmte Ansicht über die Natur dieses linksseitigen Gebildes auszusprechen.

Virchow schreibt bezüglich der von den Forschern bei Katharina gesuchten Ovarien wörtlich folgendes:

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„Man ist daher, weil das Ovarium bisher nirgends in den äußeren Genitalien getastet wurde, nach Innen gewiesen und hier stehen sich die Angaben der verschiedenen Untersucher stark entgegen. Zuerst hat Bernhard Schult ze die positive Angabc gemacht, daß er innerlich auf der linken Seite und zwar ziemlich weit nach außen einen mehrere Zentimeter großen gegen Druck stark empfindlichen Körper gefunden habe, der durch einen Verbindungsstrang mit einem noch zu erwähnenden Uterus im Zusammenhange stehe. Er spricht diesen Körper als Ovarium an, welches demnach relativ au der richtigen Stelle liegen würde. Friedreich erklärte jedoch ebenso positiv, daß es ihm unmöglich sei, irgend etwas von diesem Körper zu finden. Die Höh mann sagte mir nach langjähriger Erfahrung, daß ein längerer Finger dazu gehöre, als der meinige ist. In Breslau sei nur ein einziger Professor gewesen, der soweit habe hinaufreichen können. Ich muß also in diesem Punkte mein Urteil salvieren. Jedenfalls habe ich diesen Körper nicht gefühlt. [Nach dem Buche, welches die Höh mann mit sich führt, haben die Erlanger Professoren Ziemssen, Zenker, Roßhirt, C. E. E. Hoffmann, Hegar, Breiskv und Spiegelberg diesen Körper gefühlt, in- dessen differierten ihre Angaben erheblich in bezug auf seine Größe.] Anders verhält es sich in Beziehung auf den mittleren Teil des Geschlechtsapparates. In dieser Beziehung darf ich wohl hervorheben, daß alle Herma- phroditen hierin die größte Ubereinstimmung bieten. Alle Zwitter, auch die unvollständigen, kommen darin übereiu, daß der mittlere Teil des Geschlechtsapparates für einen Mann zu stark, für eine Frau zu schwach entwickelt ist. Auch bei männlichen Hermaphroditen findet sieh statt der Yesicula prostatica, die, wie man gewöhnlich sagt, Repräsentantin des Uterus ist, während man eigentlich sagen sollte, der Vagina, ein wirk-

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lieber Uterus. Wenn mau in die Urethra eingeht, so kann man, wie es auch bei der Höh mann der Fall ist, den Katheter ohne Schwierigkeit bis in die Blase bringen: die Urethra ist länger als beim gewöhnlichen Frauenzimmer. Geht man mit dem Katheter aber an der hinteren Fläche fort> so stößt man in gewisser Ent- fernung auf einen klappenartigen Widerstand, und wenn man hier sehr vorsichtig, etwa mit einer Sonde eindringt, so gelangt man in einen Kanal, die Vagina. Dieselbe ist durch ein langes Stück Urethra [Canalis urogenitalis], welches in diesem Falle also gleichzuachten ist einem verlängerten Vestibulum vaginae, von der äußeren Ober- fläche getrennt. Die Vagina ist allerdings klein und kurz, aber unverkennbar. Dagegen ist der Uterus höchst rudimentär. Das Verhältnis ist so, daß an der verhältnis- mäßig langen Vagina ein ganz kurzes Endstück sitzt und von diesem aus ein Strang nach links hinabgeht, an dessen Ende man, nach Schultzeu. A. auf ein wirkliches Ovarium stößt. Wenn man durch das Rectum eingeht, so kann man den nach links gehenden Strang deutlich fühlen. Ob am Ende dieses Stranges ein besonderer Körper liegt, kann ich nicht angeben, nur kann ich bestätigen, daß die Person an dieser Stelle sehr empfindlich ist. Das ist Dasjenige, was ich über den Befund an den Genitalien mitteilen kann: ein sehr kurzer, stark nach rückwärts gebogener, unter den Hautdecken größtenteils verborgener hypospadischer Penis, über dessen Oberfläche zwei nymphenartige Krausen sich hinziehen, ein entwickeltes rechtes Scrotum mit einem Hoden, ein stark verkümmertes linkes ohne einen solchen, eine für ein Weib unverhältnis- mäßig lange Urethra, welcher nach rückwärts ein feiner, enger Vaginalkanal ansitzt, der in ein kleines, ver- kümmertes Ende [Uterus] ausläuft, von welchem noch ein kleiner, vielleicht dem Ligamentum ovarii oder der Tuba entsprechender Teil entspringt, auf der linken

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Seite eine Tuba, endlich keine Samenbläschen und keine Prostata, sondern nur ein Vas deferens, von welchem man allerdings vermuten kann, daß es in den eigentlich urethralen Teil münden wird. Die Mammae der 48- jährigen Katharina sind sehr stark entwickelt, obwohl sie schon im Rückgange begriffen sind seit Aufhören der Menstruation. Katharina behauptet, daß zuweilen auf Druck sich aus den Mammae weißliche Flüssigkeit ent- leerte. Haarwuchs im Allgemeinen mehr dem weiblichen Typus entsprechend. Kopfhaare mäßig lang, glatt, schwarz. Katharina behauptete, die Haare seien früher länger gewesen, sie seien sehr ausgegangen und haben nicht mehr die frühere Läuge angenommen, nach- dem ein Lehrer der Anatomie ihren Testikel so sehr gedrückt hätte, daß sie nicht blos vor Schmerz umge- fallen, sondern auch eine Zeit lang darnach infolge einer Entzündung krank gelegen habe. Virchow bestätigt, daß das Haupthaar früher länger gewesen ist. Umge- kehrt ist der Bartwuchs nicht so sehr entwickelt, es existiert kein Bart in der Art eines männlichen, sondern nur hier und da einige längere Haare, welche sich die Katharina herunterschneidet."

Virchow hat Katharina Hohmann als Mann und als Weib gekleidet gesehen und behauptet entgegen früheren Beobachtern, der Gesaramteindruck, den er empfangen, sei eher weiblich als männlich, die weibliche Erscheinung sei viel mehr harmonisch. Auch die Form des Rumpfes und der Extremitäten sei mehr weiblich, nur das Becken sei männlich. Katharina hat den Beischlaf mit Mann und Frau versucht und gibt an, in ihrer Jugend habe sie mehr die Neigung empfunden, sich als Weib zu gerieren, in späteren Jahren aber die um- gekehrte, als Mann. In ihrer Heimat trat sie in den letzten Jahren nur als Frau gekleidet auf ; die männliche Kleidung, die sie auf ihren Schaustellungsreisen trägt,

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legt sie auf der letzten Station vor ihrer Vaterstadt ab. Sie war auf den Namen Katharina getauft und galt bei sich zu Hause rechtlich und gesellschaftlich als Frau, als Kind dürfte sie also wohl einen weiblichen Eindruck gemacht haben. Schwerlich würde sie die Schulzeit als Mädchen durchgemacht haben, schreibt Virchow, wenn man sie für einen verkleideten Jungen angeschen hätte. Von besonderer Bedeutung ist, daß die linke Seite, auf welcher sich an den Genitalien die wesentliche Anomalie concentriert, auch am übrigen Körper weniger entwickelt ist. Es gilt dies nicht bloß von den Extremitäten, an denen ein solches Zurückbleiben weniger auff ällig wärt«, sondern auch vom Rumpfe und Gesicht, An letzterein ist die mangelhafte Entwicklung schon von weitem recht auffällig. Daraus scheint hervorzugehen, daß es sich nicht bloß um eine lokale Bildungshemmung handelt, daß vielmehr der Hermaphroditismus nur eine Teilerscheinung einer allgeraeiuen Störung ist." Soweit Virchow.

Ich habe absichtlich an dieser Stelle dieses ausführ- liche Citat nach Virchow eingefügt, weil in demselben Gedanken angeregt sind, denen sonst in der Betrachtung von Scheinzwittern und in der Beschreibung nur selten einmal Rechnung getragen wurde so z. B. in der Be- merkung bezüglich eines Falles, die rechte Gesichtshälfte habe einen männlichen Ausdruck gehabt, die linke einen weiblichen, die obere Körperhälfte habe einen männlichen Eindruck gemacht, die untere einen weiblichen etc. An anderer Stelle werde ich auf diese Punkte näher ein- gehen.

18) K ei ff er [Un cas de virilisme „Soci&e* Beige de Gyndcologie et d'Obst^trique 1896 No. 10 pg. 214.] (Referat; Centralblatt für Gynäkologie 1897 No. 17 pg. 479) stellte ein Individuum vor, eine Frau, bei der er infolge von intermittierender Amenorrhoe und Dysmenorrhoe den Uteruskanal erweitert und eine Auskratzung vorgenommen

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hatte. Trotz rudimentärer Entwickelung der Genitalien war die Periode schon im 10. Lebensjahre eingetreten, wiederholte sich aber nur in Abständen von je 7 8 Monaten. Die äußeren Genitalien sehen kindlich aus, die inneren Genitalien machen einen weiblichen Eindruck, die äußeren dagegen einen männlichen bei Hypospadiasis, also die Scham sieht männlich aus. Die 25jährige .losephine X. mit langem Haupthaar trägt weib- liche Kleidung, rasiert sich oft ihren Schnurrbart und Backenbart. Wegen mangelnden Unterhautfettpolsters kontourieren sich die Muskeln sichtbar. Unterleib und untere Extremitäten sehr reich behaart. Mammae rudimen- tär entwickelt, Mamillae behaart, Skelett und Becken ganz männlich. Josephine macht sowohl in sitzender Position sowie auch in stehender ganz den Eindruck eines Mannes. Die sehr gering angelegten kleinen Schamlippen liegen zur Seite einer sehr engen Scham- Spalte; oberhalb der Schamspalte eine erectile Clitoris- Pseudopenis so groß wie bei einem 10jährigen Knaben. Harnröhrenölfnung weiblich, aber an der unteren Fläche der hypertrophischen Clitoriseine deutlich sichtbare Rinne. Scheide eng und tief, Uterus sehr klein, G cm lang, mit engem Kanal. Auch sub narcosi gelang es nicht, Ge- schlechtsdrüsen irgendwo zu tasten. Aus der Beschrei- bung ist es nicht ersichtlich, ob K e i f f e r seine Opera- tion bei einem männlichen oder bei einem weiblichen Scheinzwitter gemacht hat. Das Einzige, was für weib- liches Geschlecht zu sprechen scheint, ist die Angabe der stattgehabten menstrualen Blutungen, wenn es sich tatsächlich um solche gehandelt hat.

19) P£an [siehe im Vorhergehenden, Gruppe II. No. 2) versuchte auf plastischem Wege durch einen Ein- schnitt zwischen Orificium urethrae und Orificium ani eine Scheide zu schaffen bei einem ursprünglich als Mäd- chen erzogenen, später irrtümlich als Knaben bestimmten

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Individuum, bei dem er schliesslich auf dem Wege des Bauchschuittes weibliches Geschlecht konstatierte.

20) Roux |Aunales de Gym'cologie et d'Obste*trique 1891 Vol. XXXV pg. 324] beschreibt eine 30jährige verheiratete Frau mit Atresia vaginae und labialer Ektopie beider Ovarien. Niemals Periode. Nach Vollziehung eiuer plastischen Operation wurde diese Frau beischlafs- fähig. Leider stand mir die Originalbeschreibung nicht zu Gebote, sodaß ich nicht sagen kann, ob man nur ver- mutete, daß die in den Schamlefzen liegenden Gebilde Ovarien waren oder ob ein Beweis dafür geliefert wurde.

21) Sonnen bürg | siehe Jacoby. „Zwei Fälle von Hermaphroditenbildung" O. I. Berlin 188öj operierte in einem Falle von weiblichem Scheinzwittertum im Berliner Israelitischen Krankenhause. Er durchschnitt eine Ver- wachsung der großen Labia pudendi bei einem Mädchen mit Clitorishypertrophie behaftet. Das Original von .Jacoby war mir nicht zugänglich, auch konnte Herr Professor Sonnenburg mir nicht mehr mit einem Exemplare der Dissertation aushelfen.

22) Tauber [Warschau] amputierte den hypospadi- schen Penis in einem schon im vorigen Jahrgange dieses Jahrbuches von mir ausführlich beschriebenen Falle von Erreur de sexe [Gruppe IV., Fall 7] Bei dem 21jähri- gen verlobten Mädchen wurde nach Abtragung der Hoden aus den Schamlefzen durch Dr. Kociatkiewicz zweifellos männliches Scheinzwittertum konstatiert, gleich- wohl amputierte Professor Tauber zwei Jahre später das hypospadische Membrum virile. Die Person wurde nach dieser zweiten Operation noch korpulenter als nach der Kastration und sehr melancholisch, soviel ich gehört habe. Eine Berechtigung zu dieser Operation sehe ich in diesem Falle nicht ein.

23) Vincent |„Sexe incertain" Lyon Med ical 1897] wurde zu einem sechswöchentlichen unehelich geborenen

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Kinde geholt. Defectus ani et urethrae. In der Gegend der Scham zwei „bourgeons cutaneV4: es blieb fraglich, ob dies rudimentäre Schamlefzen waren oder Hälften eines Scrotum fissum? Zwischen diesen „bour- geons" lag eine dellenförmige Vertiefung, von einer glatten Membran ausgekleidet. Vincent durchschnitt diese Membran, eine Sonde drang jetzt 5 Centimeter tief in einen Kanal ein, aus dem der Harn floss: es sollte dies die Vagina sein, eine Urethra fehlte. Er machte künstlich eine zweite Öffnung, legte einen Anus coecygeus an. Das Kind lebt, wurde also durch diesen Eingriff gerettet, das Geschlecht blieb fraglich.

Anhang: Sechste Gruppe:

Auf die Beseitigung der peniscrotalen Hypospadie gerichtete Operationen.

Anhangsweise füge ich hier die Kasuistik der Fälle hinzu, wo bei männlichen Scheinzwittern resp. bei Hvpo- spadiasis peniscrotalis ausgedehntere plastische Operationen zur Anwendung kamen, um dem Manne das Harnen nach Männerart zu ermöglichen, resp. einen Beischlaf und Schwängerung zu erleichtern.

1) C. Beck [A case of Hermaphrodism (?) Medical Record 25. Juli 1899) beabsichtigte in seinem im Vorhergehenden erwähnten Falle auf dem plastischen Wege nach Thiersch eine penile Urethra herzustellen, jedoch kam es dazu nicht, da das Individuum nach dem Bauchschnitte verstarb [siehe im Vorhergehenden, Gruppe IV, Fall 5.) Nachdem Hoden-Sarkome aus der Bauchhöhle herausgeschnitten worden waren, erkrankte die Person am 18. Tage nach dem Bauchsohnitte an Lungenentzündung und starb drei Tage darauf. | Medical

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Record 25. Juli 1896 pg. 2 und 3 des Separatabdruckes finden sich die Abbildungen der äusseren Genitalien. Carl Beck: „Die Operation der Hypospadie.* Münch. Med. Woch. 1901, Nr. 45, pg. 777. *

2) Thomas Brand vollzog in Gegenwart von Hunter an einem bis zum 7. Jahre als Mädchen geltenden männlichen Schein zwitter eine Operation wegen schmerz- haften Harnens. Der Penis war nach abwärts gekrümmt aber von der Urethra durchbohrt. Die äußeren Ge- schlechtsteile sollen wie bei einem Mädchen ausgesehen haben. (Scrotalhypospadie?) [„The case of a boy had been mistaken for a girl.") London 1787.

3) Ca Stella na vollzog eine ausgedehnte Plastik bei einem als Mädchen erzogenen Scheinzwitter mit so glän- zendem Resultate, dass die neugeschaffene Harnröhren- mündung kaum einige Ceutimeter rückwärts einer nor- malen männlichen Harnröhrenöffnung zu liegen kam und das Individuum den Harn abgeben konnte nach Männer- art „senza bagniarsi i Calzoni.* (Uretroplastia e chiusura dell orificio vaginale in uno caso d'ipospadie perineale con Cryptorchismo e vagina rudiraentale bifida," Riforma Medica. Aug. XV. N. 213—215 pg. 769). Siehe meinen Aufsatz im vorigen Jahrgange dieses Jahrbuchs, Fig. 5 daselbst.

4) Fdlizet [Bulletins et MtSmoires de la Socitfte* de Chirurgie. Paris 1902. Tome XXVIII. Nr. 32 pg. 973]. Im Jahre 1899 wurde in das Pariser Hospital Tenon ein lOjähriges Mädchen gebracht, ein Zwitter mit sehr hypertrophischer Clitoris. Grosse Scham- lefzen gut entwickelt, die kleinen rudimentär. Die grossen Schamlefzen waren trotz des jugendlichen Alters schon behaart, eine Vagina fand man nicht. In jeder Schamlefze tastete man Hoden, Nebenhoden und Samen- strang. Keine Hernie vorhanden. Per rectum tastete

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man eine 5 Millimeter dicke Membran, welche das kleine Becken in eine vordere und hintere Hälfte zu teilen schien. Kein Uterus getastet. Man konstatierte also eine Erreur de sexe und brachte zunächst das Mädchen aus der Frauenabteilung in einen Männersaal herüber. F^lizet frischte die Ränder der Schamlefzen, also der beiden Scrotalhälften, an und vernähte sie miteinander. Die Plastik an dem Penis hypospadiäus ergab momentan nicht den gewünschten Erfolg, weil das Kind sich nicht vernünftig genug betrug für eine aussichtsvolle Nach- behandlung. Jetzt nach drei Jahren kam der Knabe wieder in das Hospital, um die Hypospadie von Penis und Glans zu beseitigen. Der Knabe masturbierte be- reits und hatte Erektionen und Ejakulationen. Fe Uz et beabsichtigt jetzt die noch nötigen Eingriffe zur Voll- endung der Plastik vorzunehmen.

5) Garre* [siehe Do er f ler: „Hypospadia perinaealis" Rostocker Aerzteverein II. VI. 1898. Referat: Münchener Medicinische Wochenschrift 1898 Bd. XLV. pg. 356 361]. Ein löjähriges Mädchen wurde von den Eltern in das Hospital gebracht, weil dieselben dessen weibliches Geschlecht bezweifelten. Man konstatierte eine erreur de sexe. Hypospadiasis peniscrotalis, Hoden und Zubehör lagen in den Scrotalhälften; der hypo- spadische rudimentäre Penis lag zwischen den Scrotal- hälften verborgen nach unten gekrümmt. Eine Vaginal- öffnung fand man nicht; orificium urethrae drei Centimeter oberhalb der Analöffnung belegen. Garre* vollzog eine Reihe plastischer Eingriffe mit dreifachem Ziel : erstens um das Glied gerade zu richten und zu verlängern, zweitens, um nach der Methode von Duplay eine Penis- harnröhre zu schaffen, drittens, um die so neu geschaffene Penisharnröhre zu vereinigen mit der scheinbar weiblichen Harnröhrenöffnung. Das Resultat war so vorzüglich, daß heute auch der Laie nicht mehr an dem männlichen

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Geschlechte zweifeln dürfte. Das Kind verließ die Klinik in männlichen Kleidern.

6) Krajewski begann eine Plastik bei peniscrotaler Hypospadie in einem von mir beschriebenen Falle von erreur de sexe, ein 18 jähriges Mädchen betreffend, jedoch wurde nur die quere Durchschneidung des den Penis hypospadiaeus nach unten biegenden Stranges ge- macht mit Längsvernähung der gesetzten Wunde, dann entzog sich diese Person der weitereu Behandlung.

7) Malt he [Magazin for Laegevidenskab 4 - de raekke, 10 -de Bind, pg. 58: Forhand linger Med. Selskab Moede 20 - de Marts 1895]. Man konstatierte bei einem 28jährigen Mädchen eine erreur de sexe und fand Hypospadiasis peniscrotalis: die Hoden lagen in scroto fisso. Anna Marie diente als Milchmädchen in einer Milchwirtschaft. Man machte 8 Operationen nach der Reihe behufs Plastik und h'/ute öffnet sich die neugeschaffene Harnröhre in glande penis. Die Ejakulationen finden so statt, daß der Mann jetzt ohne Weiteres befruchtungsfähig erscheint.

8) Marwedel: »Erfahrungen über die Beck 'sehe Methode der Hypospadieoperation." Beiträge zur klinischen Chirurgie XXIX. 1 pg. 25 1901.

9) Thiersch vollzog eine Reihe plastischer Opera- tionen bei einem männlichen Scheinzwitter, der jedoch infolge einer Peritonitis zu Grunde ging siehe im Vorhergehenden Gruppe III Fall 11.

10) Tuffier Traitement de l'hypospadiasis par la tunellisation du pdnis et Papplication des greffes Olli er Thiersch (Annales des maladies des organes geuito- urinaires. Paris Avril 1899.)

11) Villemin [Societe* de Pädiatrie. Sdance du 14. Mars 1899. L' Independance mtfdicale 1899 No. 12 pg. 94] stellte einen 15jährigen Knaben vor nach von ihm vollzogener Plastik bei Hypospadiasis peniscrotalis.

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:m

Der verkannte Junge war bisher als Mädchen erzogen worden und hatte man dem Mädchen ein Bruchband angelegt, in der Meinung, es liege ein Bruch vor, während dieser durch den Hoden vorgetäuscht worden war.

12) Waitz: , Perinaeale Hypospadie bei einem Knaben durch plastische Operation behoben." Münchener Medicin. Wochenschrift 1899 pg. 300.

Es liegt auf der Hand, daß eine Analyse der vor- liegenden Kasuistik nach sämtlichen Richtungen hin eine Arbeit liefern würde, welche den Rahmen eines Beitrages für dieses Jahrbuch weit überschreiten würde, würde doch z. B. die Betrachtung jeder einzelnen zu berücksichtigenden Frage ein umfangreiches Kapitel bilden, z. B. die Zusammen- stellung des Verhältnisses der secundären Geschlechts- charaktere zum anatomischen Charakter der Geschlechts- drüsen, die kritische Sichtung des überaus reichen Materials von katamenial wiederkehrenden Molimina bei männlichen Scheinzwittern, welche den Molimina menstrualia gleich- kommen, das Verhältnis des Geschlechtstriebes zu den Geschlechtsdrüsen, die mangelnde oder excessive Energie des Geschlechtstriebes etc., die kritische Beleuchtung der als menstruell bezeichneten periodischen Genitalblutungen bei männlichen Scheinzwittern und viele andere Fragen. Ich werde, soweit meine Zeit es gestattet, jede dieser Fragen gesondert erörtern und muß mich heute gemäß dem Plane dieses Aufsatzes auf die Erörterungen der für den Chirurgen in Frage kommenden Tatsachen beschränken. Die Kasuistik liefert uns ein überreiches Material.

Da in der dritten Gruppe drei Fälle von Konstatierung der Gegenwart eines Uterus mit aufgezählt wurden, welche schon in der ersten Gruppe aufgezählt waren | Fälle von Pozzi, Sänger und Stonham], so reduziert

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sich die Zahl der in Frage kommenden Individuen auf 54. Auf 54 Individuen kommen nicht weniger als 42 Fälle von Erreur de sexe vor, eiu für die Diagnose des Geschlechtes schwerwiegendes Moment, umsomehr als in den meisten Fällen das angebliche Geschlecht der einer Operation unterworfenen Person gar nicht angezweifelt worden war in den weitaus meisten Fällen war das Resultat der Operation quoad sexum ein für den Operateur überraschendes, unerwartetes! Nur Buchanan (Gruppe I, Fall 5), Green (Gruppe I, Fall 8), Doederlein (Gruppe I, Fall 17), Porro (Gruppe I, Fall 24), Sänger (Gruppe I, Fall 27), Swiencicki (Gruppe I, Fall 38), Tillaux (Gruppe I, Fall 34) vermuteten vor der Operation eine Erreur de sexe, also nur 6 mal auf die 38 Operationen der ersten Gruppe wurde eine Erreur de sexe vermutet. Bei 35 Mädchen, 2 ver- heirateten Frauen und 1 Witwe wurden Hoden entdeckt In der zweiten Gruppe wurde zweimal weibliches Geschlecht eines Knaben resp. eines erwachsenen Mannes konstatiert (Fälle von P£an und Walther). In der dritten Gruppe wurde 13 mal tubulärer Hermaphroditismus, also mehr weniger hochgradige Entwickelung der Müller* scheu Gänge bei Männern resp. bei 3 als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwittern entdeckt.

Die Veranlassung zu dem Leistenschnitt ergaben meist Bruchbeschwerden, und in den Fällen von Pean, Porro, Tillaux und Thierse h wurde der Leisten- schnitt resp. Labial- resp. Scrotalschnitt ausschließlich zu diagnostischen Zwecken vorgenommen. Bei dea 38 als Mädchen erzogenen Scheiuzwittern lag in den wenigsten Fällen ein Bruch mit Darm-, Netz- oder Harnblasen- anteil als Inhalt vor, meist handelte es sich um einseitigen oder beiderseitigen Descensus testiculi retardatus.

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Erste Gruppe.

38 Operationen an männlichen Scheinzwittern, als Mädchen erzogen. In welchem Alter wurde die Erreur de sexe konstatiert?

Fall 1: Nach rechtsseitiger Heruiotomie bei der 6 jähr. Klara Hacker. Der Bruch war vor 8 Tagen plötzlich aufgetreten. Im 13. Jahre war ein linksseitiger Bruch operiert worden: Hoden, Nebenhoden und Samenblase entfernt.

Fall 2: Einseitige Herniotomie im 24. Jahre bei ander-

seitigem Kryptorchismus. Fall 3 : Beiderseitige Herniotomie bei einem Hjähr. Mädchen. Fall 4 : Beiderseitige Herniotomie bei einem Hjähr. Mädchen. Fall 5 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 9jähr. Mädchen. Fall 6 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 24jähr. Mädchen. Fall 7: Beiderseitige Herniotomie bei einer 42jähr. Witwe.

Der Descensus testiculorum war erst vor einigen

Tagen, also im 42. Lebensjahre, nach Aufheben einer

Last plötzlich entstanden. Fall 8: Beiderseitige Herniotomie bei einem 24 jähr.

Mädchen. Erreur de sexe vor der Operation erkannt.

Castration auf ausdrückliches Verlangen des Mädchens

hin.

Fall 9: Beiderseitige Herniotomie bei einem 23jähr. Mädchen.

Fall 10: Beiderseitige Herniotomie bei einem 3jähr.

Mädchen. Castration, angeblich um späteren sozialen

Unannehmlichkeiten vorzubeugen. P'all 1 1 : Beiderseitige Herniotomie bei einem erwachsenen

Mädchen: erst einerseits der Hoden entfernt, dann auf

ausdrückliches Verlangen des Mädchens hin auch der

andere.

Fall 12: Bei einem 2Sjähr. Mädchen trat ein rechtsseitiger Leistenbruch auf, Hoden entfernt, der linke durch

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Leistenschuitt, im Leistenkanal, liegend in die Bauch- höhle hineingestoßen. Nach kurzer Zeit trat der linke Hoden heraus, jetzt wiederholter Leistenschnitt links, Abtragung.

Fall 13: Im 20. Jahre bei linksseitiger Herniotomie angeblich labiale Ovarialektopie konstatiert, nach 3 Jahren war rcchterseits ein Hoden herabgetreten [keiue Operation].

Fall 14: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21 jähr. Mädchen bei Diagnose einer Ovarialektopie. Kastration: Hoden.

Fall 15: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21jährigen Mädchen.

Fall 16: Einseitige Herniotomie bei einem jungen Mädchen bei Diagnose einer Labialcystc: als Bruchinhalt Netz, eine Cyste und ein Hoden, die entfernt wurden. Ander- seits Kryptorchismus.

Fall 17: Im 16. Jahre war der rechte Hoden, im 18. der linke herabgetreten. Im 19. Jahre „erreur de sexe" vermutet, Kastration.

Fall 18: Im 12. Jahrenach einem Fall linkerseits Hoden herabgetreten, später der rechte. Im 33. Jahre beider- seitige Herniotomie bei der verheirateten Frau. Diagnose: Ovarialektopie, auch nach der Kastration die Gebilde für Ovarien angesehen: Mikroskop.: Hoden.

Fall 19: Beiderseitige Herniotomie bei einem 19jährigen Mädchen. Kastration: Hoden.

Fall 20: Im 19. Jahre rechtsseitige Herniotomie, im 20. linksseitige. Hoden entfernt.

Fall 21: Im 6. Lebensjahre Leistenbruch rechts, im 20. Jahre links. Im 32. Jahre linkerseits Herniotomie. Nur Hoden und Hydrocele gefunden. Die dringend verlangte rechtsseitige Herniotomie in Dresden, Halle, Leipzig verweigert. Im 59. Jahre Tod infolge Ein- klemmung des rechtsseitigen Bruches (Inhalt *?)

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Fall 22 : Im 18. Jahre Leistenbruch rechts, im 28. Jahre links Herniotoraie erst einerseits, später auch anderseits. Kastration. Mikroskop: Hoden.

Fall 23: Im 12. Jahre eine angebliche entzündete Leisten- drüse linkerseits entfernt, nach 7 Jahren mikroskopisch als Hoden erkannt. Kechterseits Krvptorchismus.

Fall 2i: Bei einem 22jährigen Mädchen bei vermuteter „Erreur de sexe" beiderseits diagnostischer Labialeiu- schnitt konservativ: Hoden, keine Kastration.

Fall 25: Im 12. Jahre linkerseits Leistenbruch, im 23. Jahre beiderseitige Heruiotomie bei Diagnose: Ektopie der Uterusadnexa beiderseits. Nach einem Jahre Bruchrecidiv linkerseits: Jetzt nur linkes Horn eines Uterus bicornis und linker Hoden entfernt, auch das früher rechterseits entfernteGebilde erwies sich als Hoden.

Fall 26: Rechterseits Leistenbruch im frühen Kindes- alter, linkerseits in der Pubertät. Im 23. Jahre beider- seitige Herniotomie: Rechterseits Hoden und Neben- hoden entfernt, linkerseits Bruchinhalt: Ein Harn- blasendivertikel. Linkerseits Krvptorchismus.

Fall 27: Im 18. Jahre linkerseits Leistenbruch, im 32. Jahre Herniotomie bei vermuteter ,Erreur de sexe" : Uterus samt linker Tube, Parovarialcyste und einer jetzt für ein Ovarium angesehenen Geschlechtsdrüse entfernt: Mikroskop.: Hoden.

Fall 28: Beiderseitige Herniotomie im 42. Jahre, Hoden entfernt.

Fall 29: Beiderseitige Herniotomie bei einer 25jährigen Frau: Kastration bei Diagnose: Ovarialektopie. Mikros- kop: Hoden.

Fall 30: Beiderseitige Herniotomie bei einem jungen Mädchen: Kastration. Mikroskop: Hoden.

Fall 31 : Beiderseitige Herniotomie im 21. Jahre bei an- geborenen Leistenbrüchen. Diagnose: Ovarialektopie. Kastration. Mikroskop: Hoden.

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Fall 32: Tod eines Kindes nach einseitiger Herniotomie [Bruchinhalt: Darm]. Sub nekropsia beiderseitiger Krypta orchismus gefunden.

Fall 33: Im 23. Jahre nach Entleerung einer linksseitigen Hydrocele Hoden und Nebenhoden getastet Der andere Hoden gleichfalls in scroto fisso. Konservative Operation.

Fall 34 : Beiderseitiger diagnostischer Labialeinschnitt bei vermuteter „Errcur de sexe*. Hoden. Konservative Operation.

Fall 35: Angeborener linksseitiger Leistenbruch, im 14. Jahre Herniotomie : Hoden entfernt.

Fall 36 : Beiderseitige Herniotomie (in welchem Lebens- jahre ?) rechts Hoden, links ein Fibroadenom entfernt.

Fall 37: Beiderseitige Herniotomie im 54 Jahre. Kastra- tion: Hoden.

Fall 38: Beiderseitige Herniotomie: Kastration: Hoden.

Inhalt des echten oder vermeintlichen Bruches.

Auf die vorstehenden 38 Leistenschnitte kam also ein echter Bruch nur wenige Male vor:

Fall Pech (Darminhalt), Fall Pozzi (Uterushorn) Fall Sänger (Uterus), Fall Sänger (Ein Blasen- divertikel), Fall Stonham (Darminhalt), Fall Lanne- longue (Netz), sonst handelte es sich bei den vermeint- lichen Brüchen stets um Descensus retardatus oder in einigen Fällen congenitus eines oder beider Hoden. Zweimal führte eine Hydrocele zur Operation. Fall Pech, Fall Swiencicki. Was das Alter, wann der an- gebliche Leistenbruch entstand, anbetrifft, ist leider nur in wenigen Fällen eine Angabe gemacht.

4 mal wurde konservativ operiert in den Fällen von Pozzi, Swiencicki, Tillaux, Stonham.

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7mal wurde nur ein Hodeu entfernt: Fälle: Jablonski, Lannelongue, Pech, Pozzi, Sänger, Sänger, Turner,

27mal wurden beide Hoden entfernt: Fälle: Alexander Av£ry, Brycholow, Brjuchanow, ßuchanan, Chambers, Clark, Green, Griffith, Groß, Halloppeau, Heuck, Dixon-Jones, Kociat- kiewicz, Levy, A. Martin, A. Martin, Ch. Mar- tin, Philippi, Pozzi, Shattock, Snegirjow, Sn egirjo w, Solowij , Wegradt, Will, v. Winckel-

2 Operationen betrafen verheiratete Frauen : Fälle : A. Martin, Snegirjow, 1 eine Witwe: Fall Clark, 35 Operationen an Mädchen im Alter von 3 bis zu 54 Jahren.

Nur in sehr wenigen Fällen war eine „Erreur de sexe* vor der Operation erkannt resp. vermutet worden, in einem Falle vermutete man männliches Geschlecht der in den Schamlefzen enthaltenen Geschlechtsdrüsen wegen ausgesprochenen CremasterreHexs.

Zweite Gruppe.

Vier Leistenbrüche bei Frauen resp. 2 als Männer erzogenen weiblichen Schein Zwittern.

Im Falle Brohl ein linksseitiger Leistenbruch bei einem 3(3 jähr. Fräulein, seit mehr als 13 Jahren be- stehend. Diagnose: Ektopie des Uterus und linken Ovarium, der Bruch enthielt Uterus bicornis, beide Tu- ben und beide Ovarien. Kastration.

Im Falle Sujetinow: Incarceration eines rechts- seitigen Leistenbruches, Operation, Uterus, Tuben und Ovarium in hernia. Dreimal auf diese 4 Fälle „Erreur de sexe" konstatiert.

Im Falle P£an wurde ein 12 jähriges Mädchen für einen Knaben erklärt, mehrfache operative Eingriffe im 15. Jahre erwiesen weibliches Geschlecht.

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Jm Fall Waith er wurde ein Mädchen noch im Kindesalter für einen Jungen erklärt. Beiderseitige Her- niotomie im 24. Jahre bei dem Manne. Rechts Ovarium und Tube in hernia, die in die Bauchhöhle geschoben wurden, linkerseits Mittelstück einer Sactosalpinx, Ovar und ein Stück Netz abgetragen.

Auf diese 4 Fälle kam also dreimal ein echter Bruch und zwar zweimal ein einseitiger, einmal ein beider- seitiger Bruch.

Dritte Gruppe.

Dreizehn Leistenbrüche bei Männern resp. männlichen Scheinzwittern mit Konstatierung eines Uterus.

In den Fällen Bill roth, Bockel, Carle , D erveau, Fantino, Filippini, Gulden arm, Sänger, Pozzi, Thiersch fand man einen Uterus, resp. ein Uterushorn resp. eine Tube in hernia neben dem Hoden, in den Fällen Winckler und Stonham sub nekropsia früher oder später nach Bauchoperationen einen Uterus in der Bauchhöhle, im Falle Griff ith tastete man nach Ent- fernung beider Hoden einen Uterus. Vier von diesen Männern waren als Mädchen erzogen worden (Fälle von Griff ith, Pozzi, Saenger und Stonham).

Vierte Gruppe.

Betrachten wir nun die 45 Einzel beobachtungen dieser Gruppe von einzelnen Gesichtspunkten aus:

Es kommen auf diese 45 Fälle nicht weniger als 17 Fälle von „Erreur de sexe".

11 Mädchen als männliche Scheinzwitter er- kannt: Fall Abel, Audain, Bazy, Delage- nidre, Grub er, (sub nekropsia), Hausemann (Nekropsie einer 82jührigen Witwe), Dixon-Jons, Mies, Obolonskv, Sncgirjow, Westermann Nekropsie: Hoden).

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*5 Mädchen als weibliche Scheinzwitter er- kannt: Fall Bacaloglu u. Frossard, Fehling, Hall, Krug, Litten, Neugebauer.

9 Männer als Schei nzwitter erkannt : Fall Beck (21 jähriger Mann bis zum 19. Jahre als Mädchen er- zogen) Carle, Kapsammer, Merkel, Paton (Pyosalpinxoperation] bei einem Mann), Primrose, Stimson, Stroebe, Winckler.

5 Männer als weibliche Scheinzwitter er- kannt: Fall v. Engelhardt (sub nekropsia eines verheirateten Mannes Ovarien und Uteruscarcinom gefunden.) Gunckel (Geschlecht eines Mädchens irr- tümlich für männlich erklärt, sub nekropsiaim 50. Jahre: Ovarien), Krabbe 1 (Ovariotonie bei einem Manne), Pe*an, Pozzi (Ovariotomie bei einem verheirateten Manne.

11 mal blieb das Geschlecht fraglich:

a) Trotz operati ver E r ö f f n ung der Bauchhöhle: ITowitz, Neugebauer, v. Saexinger und E. Levy, Pfannenstiel, Sorel u. Ch<5rot, Unter- berger: 6 mal,

b) Trotz Nekropsie: Chevreuil, Howitz, Lesser, v. Saexinger u. E. Levy, Sorel und Che>ot, Zahorski: 6mal,

c) bei klinischer Untersuchung: Levy, Lieb- mann, Quisling: 3mal.

lraal angeblich wahres Zwittertum einer Geschlechts- drüse erkannt: Fall von v. Sal<5n. Da von diesen 45 Beobachtungen 2 bereits in der 1. Gruppe (No. 14 Di xon -Jones und No. 30 Snegirjow) und 1 in der 11. Gruppe (No. 2 P£an\ mitgezählt sind, so kommen nur 42 Beobachtungen hier zur statistischen Verwertung : auf diese 42 Fälle wurden 9 mal männliches Scheinzwittertum bei Mädchen und 5 mal weibliches Scheinzwittertum bei Männern konsta-

.Ubrbuch V. 26

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tiert, also im ganzen 14 mal eine erreur de sexe, 11 mal blieb das Geschlecht fraglich.

8 mal konstatierte man einen mehr oder weniger ent- wickelten Uterus samt Tuben event. Ligamenten bei männlichen Scheinzwittern. 1 mal einen Harnstein in utriculo masculino (Fall Kapsammer).

32nial fand sich Coincidenz des Scheinzwitter- tums mit gut- oder bösartigen Neubildungen: Fall 1 (A bei): Sarkomatoese Cryptorchis sinistra [rechter-

seits Hoden und Nebenhoden im LeistenkanalJ bei einem

33jähr. Mädchen. Fall 2 (Au da in): 2 Ovarialdermoide bei einem weib- lichen Scheinzwitter. Fall 5 (Beck): 2 Teratome der Hoden bei einem bis zum 19.

Jahre als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter. Fall 7 (Chevreuil): Multilokularer Ovarialtumor (?) bei

einem Scheinzwitter. Fall 10 (v. Engelhardt): Carcinoma uteri eines 59jähr.

als Mann verheirateten weiblichen Scheinzwitters. Fall 11 (Fehling): Myxosarcoma eines Ovarium bei

einem 26jähr. Scheinzwitter. Fall 12 (Grub er): Carcinom eines Hodens bei beider- seitigem Kryptorchismu8 eines 22jähr. als Mädchen

erzogenen männlichen Scheinzwitters. Fall 13 (Gunckel): Myomatosis uteri bei einem 50 jähr.

weiblichen Scheinzwitter, der irrtümlich früher für

einen Mann erklärt worden war. Fall 14 (Hall): Carcinoma ovarii unius eines 17jähr.

weiblichen Scheinzwitters. Fall 15 (Hansemann): Carcinom der Harnblase eines

82jähr. männlichen Scheinzwitter, der als Frau verheiratet

gewesen war.

Fall IG (Howitz): Myomatosis uteri bei fraglichem Geschlecht.

Fall 19 (Krabbel): Cystosarcom eines Ovarium, später

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ein neues Gewächs: Teratom bei einem als Mann

erzogenen weiblichen Scheinzwitter. Fall 20 (Krug): 2 Ovarialsarkome bei einem ltyähr.

weiblichen Scheinzwitter. Fall 21 (Lesser): Alveolarsarkom (des Uterus?) eines

25jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitters. Geschlecht

fraglich.

Fall 22 (Levy): Unterleibstumor fraglicher Natur bei

einem lbjähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitter

fraglichen Geschlechts. Fall 23 (E. Levy v. S ä x i n g e r) : Maligne Degeneration

der in der Bauchhöhle liegenden Geschlechtsdrüsen

eines 20jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitters von

fraglichem Geschlecht. Fall 24 (Liebmann): Inguinolabialtumor fraglicher

Natur [cystisch?] bei einem 45jähr. als Frau verheirateten

Scheinzwitter fraglichen Geschlechts. Fall 25 (Litten): Myxosarkom des rechten Ovarium

eines lbjähr. weiblichen Scheinzwitters. Fall (Merkel): Carcinoma recti eines 63jähr. männ- lichen Scheinzwitters. Fall 27 (Mies): Unterlippenkrebs eines 66jähr. als

Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitters. Fall 28 (Neugebauer) : Carcinoma ovarii unius et uteri

eines 56jähr. weiblichen Scheinzwitters. Fall 29 (Neugebauer): Sarkom einer Geschlechtsdrüse

bei einer verheirateten Frau, wahrscheinlich Sarkoma

cryptorchidis.

Fall 30 (Obolonsky): Sarkom des rechten Hodens eines 56jähr. als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitters. Kryptorchismus bi lateralis.

Fall 32 (Pfannenstiel): Fibromyoma uteri eines 55-jäh- rigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters von frag- lichem Geschlecht.

Fall 34 (Pr im rose): Sarkom eines Hodens eines 25-jäh-

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rigen männlichen Scheinzwitters bei Kryptorchismus bilateralis.

Fall 3t> v. (Sälen): Fibroruyoma uteri eines 43-jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitters, angeblich ein Ova- rium links gefunden, rechts eine Ovotestis.

Fall 38 (Sorel u. Ch(?rot): Carcinom des Blinddarms eines 36-jährigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters, von fraglichem Geschlecht

Fall 39 (Stimsou): Sarkom des linken Hodens eines 4oj ährigen männlichenScheinzwitters. Cryptorchissiuistra.

Fall 40 (Stroebe): Carcinoma oesophagi eines 63-jähr männlichen Sch ei uz wittere., beiderseits Cryptorchismus.

Fall 41 (Unterberge r): Sarkom eines Ovarium eines 14-jährigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters vou fraglichem Geschlecht.

Fall 44 (Zahorski): Sarkom einer Geschlechtsdrüse in der Bauchhöhle belegen bei einem 25jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitter fraglichen Geschlechts.

Fall 45 (Pozzi): Ovarialtumor bei einem als Mann ver- heirateten weiblichen Scheinzwitter.

Auf diese 32 Fälle kommen: Carcinom des Ovarium: Fall 14, 28

des Hodens: Fall 12, des Uterus: Fall 10, Fall 28, des Rectum : Fall 2t), der Harnblase: Fall 15, des Blinddarms: Fall 38, des Oesophagus: Fall 40, der Unterlippe: Fall 27, Sarkom eines Ovarium: Fall 11, 19, 20, 25,

einer Cryptorchis: Fall 1, 30, 34, 39, des Uterus: Fall 21. Maligne Degeneration fraglicher Geschlechts- drüsen: Fall 23, 29, 41, 42.

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Dermoide der Ovarien: Fall 2. Teratome der Hoden: Fall 5.

Multilokulare Cysten einer fraglichen Ge- schlechtsdrüse: Fall 7. Myomatosis uteri: Fall 13, 16, 31, 30. Tumoren fraglicher Natur: Fall 22, Fall 24. Welcher Art Operationen wurden in diesen

45 Fällen vollzogen?

Nephrolithotomie: Fall 8.

Pyosalpinxoperation mit Bauchschnitt bei einem Manne:

Fall 31. Harnsteinoperation: Fall 18. Bauchschnitt wegen Darmocclusion: Fall 43. Bauchschnitt wegen Appendicitis: Fall 3, 4 in einem

dritten und 4. Falle von Appendicitis (Fall 35 u. 42)

wurde nicht operiert. Diagnostischer Bauchschnitt hei zweifelhaftem Geschlecht:

im Falle 9 mit Entfernung des Hoden, im Falle 33

der Ovarien, Konservativ: Fall 37, Fall 6, 17. Amputation des myomatösen Uterus: Fall 16, 32, 36. Bauchschnitt bei Carcinom des Blinddarmes: Fall 38. Bauchschnitt mit Exstirpation von Ovarialtumoren: Fall

2, 11, 14, 19, 20, 45. Bauchschnitt mit Exstirpation von Hodentumoren bei

Kryptorchismus: Fall 5, 29, 34, 39. Bauchschnitt mit Exstirpation von Tumoren fraglicher

Geschlechtsdrüsen: Fall 23, 29, 41. Paracentese von Bauchhöhlentumoren durch die Bauch- wand: Fall 11, 44. Paracentese einer als Haematometra angesprochenen

Cryptorchis sinistra per vaginam: Fall 1. Entleerung einer Hydrocele durch Paracentese: Fall 34.

Auf diese 45 Beobachtungen kommen 26 Fälle, wo nicht operiert wurde, sondern das Scheinzwittertum nur

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a) klinisch oder b) sub nekropsia koustatiert wurde, a: Fall 22, 24, 27, 28, 35, = 5 mal. b: Fall 7, 10, 12, 13, 15, 21, 25, 26, 30, 40, 42, = 11 mal.

Scheinzwitter wurde sub nekropsia nach tötlich ver- laufener Operation konstatiert:

Fall 1, 3, 5, 8, 10, 23, 34, 38, 43, 44 = 10 mal.

Fünfte Gruppe:

Auf die hierher gehörigen 23 Einzelbeobachtungen kommen:

Verlangte aber abgeschlagene Amputation der angeblichen hypertrophischen Clitoris: Fall 2, 7, 9, 12, 14.

Ausgeführte Amputation der hypertrophischen Clitoris: Fall 4 und 11.

Ausgeführte Amputation des irrtümlich für eine hypertro- phische Clitoris angesehenen hypospadischen Penis: Fall 6, 17 (?) 22.

Es kommen auf diese Gruppe 8 Fälle von konstatierter „erreur de sexe" Fall 5, 6, 7, 8, 9 (?), 12, 14, 17,

Fraglich blieb das Geschlecht: Fall 2, 13, 18, 23.

Männliches Scheinzwittertum im Fall: 5, 6, 7, 8, 9, 12, 14, 17, 22.

Weibliches Scheinzwittertum im Fall: 3, 4, 10, 11, 15, 16, 19, 20, 21.

Eine Discision einer Schamlefzenverwachsung bei weib- lichen Scheinzwittern wurde vorgeschlagen Fall 16, aus- geführt in Fall 10, 11, 15, 20, 21. Dieselbe Operation wurde einem männlichen Scheinzwitter vorgeschlagen: Fall 17.

Im Falle 2 wurde angeblich ein Hämntokolpometradureh

Einschnitt vom Damme aus entleert. Einmal wurde wegen Atresia ani bei einem Neonaten

operiert mit tötlichem Ausgange: Fall 3, einmal mit

gutem Ausgange, Fall 23.

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Einmal wurde ein Hysteroekpetasis gemacht bei frag- lichem Geschlecht: Fall 18.

Einmal vergeblicher Versuch zwischen Urethral- und Anal- mündung eine Vagina zu schaffen: Fall 19.

Sechste Gruppe.

Bezüglich der in der VI. Gruppe erwähnten plasti- schen Hypospadieoperationen an männlichen Schein- zwittern ist zu bemerken, daß eine „erreurde sexe" vorlag in den Fällen von Beck, Brand, Castellana, Felizet, Garr£, Krajewski, Malthe, Villemin.

Zum Schluß bleibt noch| Folgendes zu bemerken:

1. Die gesamte Kasuistik dieser Arbeit von 137 Beobachtungen erstreckt sich, da einzelne Beobachtungen in mehreren Gruppen figurieren, auf 118 Scheinzwitter, wovon

männlichen Geschlechts : 79, weiblichen Geschlechts: 23, fraglichen Geschlechts: 16.

Auf diese 118 Scheinzwitter kommen 53 irrtümliche Geschlechtsbestimmungen, darunter merkwürdigerweise 2 Fälle, wo das Geschlecht bei der Taufe des Kindes richtig als weiblich angegeben war, später aber irrtümlich für männlich erklärt worden war (Fälle von Po" an und von Gunc kel).

2. Sind die zur Nekropsie gelangten Fälle zu vermerken :

a) Todesfälle nach vorausgegangener Operation : aus Gruppe III; Fall 1 (Billroth) Verblutungstod nach Herniotomie, Fall 12 (Thiersch) Tod nach Herniotomie an Peritonitis, Fall 13 (Winckler) Tod nach ßauchsehnitt an Peritonitis. Aus Gruppe IV: Fall 1 (Abel) Tod an Peritonitis nach vaginaler Paracentese einer Kryptorchis sinistra sarcomatosa« Fall 3 { Bacaloglu und Fossard) Tod an Peritonitis

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nach Appendicitis-Bauchschnitt, Fall 5 (Beck) Tod infolge von Pneumonie 3 Wochen nach Bauchschnitt Fall 8 (Clark) Tod nach Nephrolithotomie, Fall 16 (Howitz) Tod an Peritonitis nach Bauchschnitt Fall 23 (Levy v. Saexinger) Tod an Peritonitis nach Bauchschnitt ohne Entfernung des Tumors, Fall 34 (Primrose) Tod an Peritonitis nach Bauch- schnitt bei Hodensarkom, Fall 36 (E. v. Sal£n) Tod an Peritonitis nach Amputation eines myomatösen Uterus, Fall 38 (E. Sorel und Ch^rot) Tod nach explorativem Bauchschnitt bei Blinddarmcarcinom. Aus Gruppe V: Fall 3 (Mc. Arthur) Tod nach Operation wegen Atresia ani.

b) 14 Todesfälle ohne vorausgegangene chirurgische Eingriffe :

Gruppe 1 Fall 21. (Pech) Tod infolge Einklemmung des rechtsseitigen Leistenbruchs, dessen operative Beseitigung verweigert worden war.

Gruppe IV Fall 7 (Chevreuil) Tod infolge eines Ovarial- resp. Hodentumors. Fall 10 (v.Engelhardt) Tod infolge von Uteruscarcinom. Fall 12 (Gruber) Tod infolge eines Hodencarcinoms. Fall 13 (Gun- ckel) Tod aus unbekannter Ursache. Fall 15 (Hanseraann) Tod infolge von Blasenkrebs. Fall 21 (Lesser) Tod infolge von Blutung in der Bauch- höhle nach spontaner Ruptur eines Tumors. Fall 25 (Litten) Tod infolge Myxosarcoma ovarii unius. Fall 26 (Merkel) Tod infolge Carcinoma recti. Fall 30 (Obolonski) Tod infolge eines Hodensarkoms. Fall 30 (Ströhe) Tod infolge eines Carcinoma oesophagi. Fall 41 (West ermann) Tod infolge von Appendicitis ulcerosa. Fall 44 (Zahorski) Tod infolge von Kachexie bei Sarkom einer Geschlechts- drüse.

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Gruppe V. Fall 2 (Arnaud) Tod aus unbekannter Ursache.

Indem ich mir vorbehalte, in nächster Zukunft das hier zusammengestellte kasuistische Material auch in Beziehung auf andere als chirurgische Beziehungen zu sichten, schließe ich diese heutige Arbeit, die hoffentlich dazu beitragen wird, dem Gebiete des Scheinzwittertums auch in weiteren Arztekreisen ein regeres Interesse zu widmen. Wenn wir auch in den wenigsten Fällen dem physischen Ge- brechen Abhilfe schaffen können, so können wir doch viel dazu beitragen, diese unglücklichen Existenzen, die Schein- zwitter vor den psychischen Leiden und Qualen zu be- wahren, die aus einer irrtümlichen Geschlechtsbestimmung erwachsen !

An sämtliche Fachgenossen richte ich die Bitte, jede neuere zu ihrer Kenntnis gelangende Beobachtung von Scheinzwittertum möglichst eingehend beschrieben, mir übermitteln zu wollen, womöglich mit Photogrammen und Berücksichtigung aller in Frage kommenden Einzel- heiten.

Dr. med. Franz Neugebauer.

Warschau, Leszno 33, am 3. Februar 1903.

Inhaltsübersicht.

Erste Gruppe.

38 Leistenschnitte bei Mädchen, bez. Frauen mit Konstatierung

männlichen Geschlechtes.

1. Fall von Alexander: Klara D., 16 jährig, im 13. Jahre links- seitige Herniotomie durch Erasmus , im 16. Jahre rechtsseitige durch Hahn: Beiderseits Hoden und Nebenhoden abgetragen. Vagina vorhanden ohne Uterus, Gonorrhoe, Beischlaf mit Männern.

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2. Fall von Avery: Einseitige Herniotoraie der 24jährigen Ann y C: Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.

8. Fall von Brycholow: Beiderseitige Herniotoinie bei der 14- jährigen Marie X.

4. Fall von Brjuchanow: Beiderseitige Herniotoinie bei einem 14jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt.

5. Fall von Buchanan: Beiderseitige Herniotomie bei einem 9jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt. Vagina von nor- maler Länge vorhanden ohne Uterus. B. vermutete richtig eine erreur de sexe wegen vorhandenen Cremasterrcflexes an den .Schamlefzen.

6. Fall von Chambers: Beiderseitige Herniotoraie bei einer 24- jährigen Frau: beide Hoden entfernt Vagina vorhanden, ohne Uterus.

7. Fall von Clark: Beiderseitige Herniotomie bei einer 42jährigen Witwe: beide Hoden entfernt. Beischlaf mit dem Gatten. Vagina vorhanden ohne Uterus.

8. Fall von Green: Konstatierung der errettr de sexe bei einem 24jährigen Dienstmädchen. Kastration auf das aus- drückliche Verlangen des .Scheinzwitters hin.

9. Fall von Griffith; Beiderseitige Horniotomie bei einem 23- jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt. Uterus und Vagina vorhanden.

10. Fall von Groß: Doppelseitige Herniotomie bei einem 3jährigen Mädchen: beide Hoden entlernt.

11. Fall vou Hallopeau: Konstatierung der erreur de sexebei einem Mädchen nach Exstirpation eines Hodens. Auf das ausdrückliche Verlangen der Person hin wurde auch der an- dere Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.

12. Fall von Ho tick: Bei einem 28jährigen Dienstmädchen rechts- seitiger Leistenbruch: Netz als Inhalt vermutet Hoden und Nebenhoden entfernt. Später auch der linke Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus. Beischlaf mit Männern ohne Libido.

13. Fall von Jablonski: Bei der 28 jähr. Anna Luise E. kon- statierte J. die Gegenwart eines Hodens und schließt daraus, daß auch die sub herniotouiia 8 Jahre zuvor in hemia vorge- fundene Geschlechtsdrüse, für ein ektopisches Ovarium damals angesehen, ein Hoden gewesen sei.

14. Fall von Dixon Jones: Beiderseitige Herniotoinie bei der 21 jähr. Emma E. und diagnostischer Bauchsehnitt: beide Ho- den entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.

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15. Fall von Kociatkiewicz- Neugebauer: Beiderseitige Her- niotomie bei der 21jährigen verlobten Josephine K., beide Hoden durch Kociatkiewicz entfernt Vagina vorhanden ohne Uterus. Nach der Kastration starke Obesität und Me- lancholie.

IG. Fall von Lannelongue: Einseitige Herniotomie bei einem jungen Mädchen: (Notzinhalt) Unterhalb des Bruches eine Cyste in der Schamlefze und darüber ein Hoden, der entfernt wurde. Vagina vorhanden ohne Uterus.

17. Fall von Levy: Bei der 19jährigen Näherin Chr. L. vermutete Doederlein Hoden als Bruchinhalt. Beiderseitige Herniotomie: beide Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.

18. Fall von A. Martin: Bei einer 38jährigen, seit 10 Jahren ver- heirateten Frau entfernte Martin sub diagnosi einer beider- seitigen Ovarialektopie beide Hoden. Erst das Mikroskop klärte den Irrtum auf. Vagina vorhanden ohne Uterus.

19. Fall von A. Martin: Beiderseitige Herniotomie bei einem 19- jährigen Hausmädchen Martha W.: beide Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.

20. Fall von Chr. Martin: Bei einem 20 jähr. Kindermädchen hatte man vor einem Jahre sub herniotomia rechterseits ein fUr ein ektopisches Ovariura gehaltenes Gebilde in die Bauchhöhle geschoben. Jetzt Herniotomie links, ein Hoden entfernt. Scheide vorhanden ohne Uterus.

Fall von Munde: In der Vermutung einer erreur de sexe schlug M. der 46jähr. Köchin Marie O'Neill den beiderseitigen Leistenschnitt vor, es kam jedoch nicht zur Operation. Vagina vorhanden, ohne Uterus.

21. Fall von Pech: Linksseitige Herniotomie bei der 32jährigen Marie Rosine, dem späteren Gottlieb Goettlich: der Bruch enthielt weder Darm noch Netz sondern eine Hydroeele und einen Hoden. Im 69. Jahre Tod infolge Einklemmung eines rechtsseitigen Leistenbruches. Rosine huldigte der freien Liebe, erkrankte zuerst an einem Ulcus molle, später an Syphilis. Sie kohabitierte mit Frauen und mit Männern, mit letzteren lieber. Die diktierte Urethra vertrat die angeblich mangelnde Vagina.

22. Fall von Philippi: Bei einem 28 jährigen Mädchen erst rechts- seitige, nach einigen Monaten linksseitige Herniotomie: beide Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.

23. Fall von Poore: P. entfernte bei einem 12jähr. Mädchen eine angebliche entzündete Drllse durch Leistenschnitt, 7 Jahre

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später erhärtete das Mikroskop, daU diese Drüsen ein Hode war. Vagina vorhanden, ohne Uterus.

21. Fall von Porro: bei einem 22 jähr. Mädchen vermutete P. eine erreur de sexe, legte durch diagnostischen Einschnitt beide Drüsen bloü, konstatierte Hoden, die er nicht exstierpierte.

2"». Fall von Pozzi: Bei einem 32jährigen Stubenmädchen Marie C. diagnosticierte Po y rot einen beiderseitigen Leistenbruch mit Diagnose einer Ektopio der beiderseitigen Uterusadnexa bei fehlendem Uterus. Beiderseitige Herniotomie: Linkerseits eine Cyste, ftir Hydrosalpinx angesehen, ein Gebilde für ein ektopisches Ovarium angesehen und ein Körperchen für einen rudimentären Uterus angesehen. Cyste reseciert, Uterus und Ovarium in die Bauchhöhle gestoßen. Rechterseits 2 nicht reponible Gebilde abgeschnitten, eine Cyste und eine Drüse, für das rechte Ovarium angesehen. Nach 1 Jahr Bruchrecidiv linkerseits. Jetzt operierte Pozzi und entfernte den Bruch- inhalt: 2 Gebilde: den linksseitigen Hoden und das linke Horn eines Uterus bicornis. Das Mikroskop wies nach, daü auch die rechtsseitige von Peyrot entfernte Geschlechtsdrüse ein Hoden war. Vagina und Uterus vorhanden. Nach der ersten Operation erwachte der Geschlechtstrieb und zwar ein weiblicher, gleich- zeitig stellte sich Melancholie ein, die nach der zweiten Operation noch znnahm. Hymen eingerissen bei einer Stupration im 8. Lebensjahre.

26. Fall von M. Saenger: Beiderseitige Herniotomie bei einem 23 jähr. Dienstmädchen sub diagnosi : Ovarialhernie. Rechter- seits Hoden und Nebenhoden entfernt, im linksseitigen Bruchsack ein Blasendivertikel. Scheide vorhanden ohne Uterus.

27. Fall von M. Saenger: Bei einer 32 jähr. Lehrerin vermutete S. bei linksseitigem Leistenbruch eine „erreur de sexeu, Hoden mit Hydrocele, fand aber bei der Herniotomie einen Uterus samt Tube, eine Parovarialcyste und eine Geschlechtsdrüse, die er jetzt makroskopisch für ein Ovarium ansprach. Das Mikroskop erwies einen Hoden. Bruchinhalt entfernt mit Uterusamputation. Uterus und Vagina vorhanden.

28. Fall von Shattock: Beiderseitige Herniotomie bei einem 12jährigen Scheinzwitter: Beide atrophischen Hoden entfernt. Nach der Kastration starke Obesität.

29. Fall von Snegirjow: Bei einer 2öjähr. verheirateten Köchin beiderseitige Herniotomie : beide Hoden entfernt. Vagina vor- handen ohne Uterus. Beischlaf mit dem Gatten anfangs cum libidine, später perhorreseiert.

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30. Fall von Snegirjow: Beiderseitige Herniotoinie bei einem Mädohen: beide Hoden entfernt. Diagnostischer Bauchschnitt hinzugefügt.

Hl. Fall von Solowij: Beiderseitige Herniotoinie bei einem 21- jährigen Mädchen bei Diagnose: Ovarialhernien. Beide Hoden ontfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.

32. Fall von S ton harn: Tod eines Mädchens nach Horniotomie. In der Bauchhöhle neben Hoden ein Utorus bicornis mit 2 Tuben gefuuden, Vagina existierte.

Fall von Stratz: S. vermutete eine erreur de sexe bei Nainbrok Sadinah und schlug einen diagnostischen Leisten- (resp. Labial-) einschnitt vor, Operation vorweigert.

33. Fall von Swioncioki: Labialtumor linkerseits bei einem 23- jährigen Bauernmädchen: Hydrocele, Punktion, Entleerung, Hoden, Nebenhoden und Samenstrang getastet, gleiche Gebilde in der rechten Schamlefze. Gescbleohtsdrang männlich, schon im 16. Jahre. Beischlaf mit einem Mädchen versucht. Vagina V

31. Fall von Tillaux: Bei einem 12jährigen Mädchen beider- seitiger Leistenbruch: T. sollte ein Bruchband anlegen, ver- mutete erreur de sexe. Diagnostischer Labialschnitt. Hoden

3ö. Fall von Turner: Bei einem 14jährigen Mädchen linksseitige Uvarialhernie diognosticiert, Bruchband nicht vertragen, Her- niotomie mit Entfernung eines Hodens. Vagina vorhanden ohne Uterus, noch keinerlei Geschlechtstrieb.

3G. Fall von Wegradt: Beiderseitige Herniotomie bei einem Mädchen: rechterseite ein Hoden entfernt, linkerseits ein Fi- bn. :idenom.

37. Fall von Will: Beiderseitige Herniotomie bei einem 51jährigen Mädchen Kristine W.: beide fibrös entarteten Hoden ent- fernt. Vagina vorhanden ohne Uterus. Geschlechtsdrang männlich, aber K. S. hatte niemals einen Beischlaf mit einem Weibe versucht, sondern stets nur mit Männern unter Benutzung der dadurch stark dilatierten Urethra, obgleich eine Vagina vor- handen war.

3S. Fall von v. Winckel: (?) Beiderseitige Herniotomie bei einem Mädchen. Entfernung beider Hoden.

Zweite Gruppe:

Vier Leistenschnitte bei weiblichen Scheinzwittern, von denen 2 als Männer erzogen waren.

1. Fall von Brohl: Bei einer SGjährigen Dame linksseitige Her- niotomie: Uterus und beide Ovarien im Bruchsaeke. L'terus-

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amputation und Kastration. Uterus bicornis. Clitoris 6,5 cm, sub erectione 11 cm lang. Seit dem 18. Jahre normale Men- struation.

2. Fall von Pean: Ein löjähr. Mädchen wurde für einen Knaben erklärt mit Kryptorchismus. Beiderseits Leistenschnitt, um die Hoden aufzusuchen. Bei späterem diagnostischen Bauchschnitt Uterus und Ovarien konstatiert. Kastration. Mangel der Vagina. Clitoris erectil. Männlicher Stimmbruch. Keine Menstruation.

.'5. Fall von Sujetinow: Herniotomie rechterseits wegen einge- klemmten Leistenbruches bei einer 4öjähr. Frau. Vagina blind- sackförmig geschlossen, in hernia Uterus, eine Tube und Ovarium. Clitoris h cm lang. Nur 2 Jahre lang Menstruation und sehr unregelmäßig. ( '{ V V)

1. Fall von Walther: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21- jährigen Sattler: rechtsseits Tube und atrophisches Ovarium in die Bauchhöhle reponiert, linkerseits Sactosalpinx, seierotisches Ovarium und ein Stück Netz abgetragen. Clitoris stark hyper- trophisch, erectil, starker rein männlicher Geschlechtsdrang mit angeblicher Ejakulation sub erectione. Bis jetzt bat der Sattler, der sich flir einen Mann hält, noch keinen Beischlaf als Mann versucht, weil sein Glied, das wie ein hypospadischer Penis aussieht, hakenförmig nach abwärts gekrümmt ist. W. fUgte einen Bauchschnitt hinzu, um die Netzstiimpfe zu kon- trollieren und fand einen kleinen Uterus. Vagina mündet wahrscheinlich in die Urethra. Seit dein 16. Jahre alle Monate 2 9 Tage lang Blutungen aus der Harnröhre.

Dritte Gruppe:

13 Leistenschnitte bei Männern, bez. männlichen Schein- zwittern mit Konstatierung eines mehr oder weniger ent- wickelten Uterus unl- oder bicornis, einer oder beider Tuben in hernia bez. in der Bauchhöhle.

1. Fall von Billroth: Rechtsseitige Herniotomie bei einem 24- jährigen Hypospaden. Tod infolge von Verblutung nach Ab- gleiten einer Ligatur. Das sub herniotomia resezierte Ge- bilde erwies sich als ein amputierter Uterus mit Tube. Vagina mündete in die Urethra. In der linken Schamlefze Hoden und Nebenhoden. Vom 16. Jahre an periodische Blu- tungen ex Urethra und aus einer Fistel der rechten Schamlefze ex utero ectopico. Obwohl der Geschlechtsdrang männlich, hatte dieser Mann mit Knaben und Mädchen kobabitiert.

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2. Fall von Boecke!: In einer Leistenhernie bei einem Manne sub operaüone ein Uterus bicornis mit einer Tube, eiu Hoden und ein Nebenhoden gefunden.

X. Fall von Carle: Linksseitige Herniotomie bei einem 30jährigen Telegraphisten. In hernia ein Uterus bicornis mit Tuben neben Hoden (Toratom V) und Nebenhoden, die Organe wurden abgetragen. Der Mann übte den Beischlaf mit seiner Gattin aus, aber die Ehe war kinderlos. Bei der Operation wurde vom Leisteukanal aus die Bauchhöhle eröffnet.

I. Fall von Derveau: Herniotomie bei einem 09jähr. Manne, Vater von 6 Kindern trotz Kryptorchismus. In hernia Uterus mit Tuben und oberer Anteil der Vagina, die wahrscheinlich in urethraro mündete.

Fall von Fantino: Rechtsseitige Herniotomie bei einem Manne mit Entfernung eines Uterus mit 2 Tuben und beider Hoden. Linke Hodensackhälfte leer. t>. Fall Fillippini: Rechtsseitige Herniotomie bei einem '23 jähr. Manne: Uterus, Tube und angeblieh ein Ovarium ex hernia entfernt, in der linken Scrotalhälfte ein Hoden.

7. Fall von Griffith: siehe Gruppe I No. 9: Uterus entdeckt nach beiderseitiger Herniotomie mit Entfernung beider Hoden bei einem 23 jähr. Mädchen.

8. Fall von Guldenarm: Linksseitige Herniotomie bei einem Manne mit rechtsseitigem Kryptorchismus. Ex hernia ein Uterus bicornis, Hoden und Nebenhoden entfernt. Vagina mündete im urethral».

i). Fall von Pozzi: siehe Gruppe I Fall 25: Uterushorn in hernia neben Hoden.

10. Fall von Sa eng er: siehe Gruppe I Fall 27: Uterus mit einer Tube und Parovarialcyste in hernia neben dem Hoden.

11. Fall von Stonham: siehe Gruppe I Fall 32: Uterus neben Hoden.

12. Fall von Thierseh. Bei einem 22jährigen Hypospaden links- seitiger Leistenschnitt mit unbewußter Amputation der linken Tube. Tod an Peritonitis: Uterus bicornis, Vagina mündet in urethram. Kryptorchismus unilateralis.

i

13. Fall von Winkler: Herniotomie rechterseits. Später Bruch- recidiv, Bauchschnitt, im 25. Jahre Tod an Peritonitis. Uterus bicornis mit Tuben und Vagina, linke Tube im Leistenkanal, beide Hoden in der Bauchhöhle, Vagina mündet in urethram.

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Anhang: Fall von Garre: angeblieh Hoden und Ovarium in einer Leistenhernie gefunden bei einein als Mann erzogenen Individuum.

Vierte Gruppe:

45 Einzelbeobachtungen betreffend 32 Fälle von Coincidenz gut oder bösartiger Neubildungen vorherrschend der Ge- schlechtsorgane mit Scheinzwittertum, 29 an Scheinzwittern vollzogene Bauchschnitte, 1 Nephrolithotomie, 1 Stein- operation bei Sitz des Steines in utriculo masculino. Auf diese 45 Beobachtungen kommen nicht weniger als 20 Fälle von erreur de sexe, 9 mal blieb das Geschlecht fraglich, darunter 5 mal trotz vollzogenen Bauchschnittes, ein einziges mal sollen Hoden- und Ovarialgewebe gleichzeitig vorgelegen haben in einer Geschlechtsdrüse (?) (Fall

von v. Sälen).

1. Fall von Abel: Tod der 33 jährigen Albertine R. an Peritonitis nach vaginaler Paracentese einer vermeintlichen Haemtometra, die sich sub necropsia ala sarkomatbse Cryptorchis sinistra erwies. Vagina vorhanden, man glaubte eine rudi- mentäre Portio vaginalis uteri im Scheidengrunde zu tasten. Krre ur de sexe.

2. Fall von Audain: 2 ovarielle Dermoide bei einem weib- lichen Scheinzwitter entfernt. Bedeutende Clitorishypertrophie.

3. Fall von Bacaloglu und Fossard: Bauchschnitt bei der 31 jähr. A. Lefran^ois mit tütlichem Ausgange. Glitoris 8 Centimeter lang, 5 Oentimeter dick, Vaginalostium fehlte infolge Verwachsung der Schamlefzen miteinander. Weibliches Schein- zwittertum.

4. Fall von Bazy: Gelegentlich einer Operation wegen Appen- dicitis bei einem 2tijähr. Fräulein männliches Geschlecht mit Hypospadiasis peniscrotalis konstatiert. Keinerlei Geschlechts- trieb bisher ausgesprochen. Erreur de sexe.

6. Fall von BcjI;: Bauchsehnitt bei einem 21 jähr. Manne der bis zum 19. Jahre als Mädchen gegolten hatte. (Syphilis acquiriert). Vagina vorhanden, collum uteri getastet. 2 Teratome der Geschlechtsdrüsen, angeblich Ovarien, wahrscheinlich Hoden entfernt." Tod am 18. Tage an Pneumonie. Sub coitn Ejaku- lation ans 2 seitlich vom „Infundibulura" belegenen Oeffnungen. Hvpospadiaais peniserotalis, Hymen eingerissen.

<5. Fall von Carle: sub herniotomia Bauchhöhle zu diagnostischen Zwecken eröffnet (siehe: Gruppe III, Fall No. 3).

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7. Fall von C he v reu iL Sanduhrförniiger angeblicher Ovarial- tumor sub necropsia der Anna Bergault entdeckt, teils in der Bauchhöhle belegen, teils durch einen Leistenring in eine Schainlefze hineingetrieben. Clitorishypertrophie. (Geschlecht fraglich).

8. Fall von Clark: Die Nekropsie einer Frau nach Nephrolitho- tomie wies eine Erreur de sexe nach, ein Hoden in scroto fisso, der andere im Leistenkanal.

9. Fall von Delageniere: Bauchschnitt bei einem Mädchen um die blind endende Vagina mit dein Uterus zu vernähen. Kein Uterus gefunden, aber 2 atrophische Hoden in der Bauchhöhle. Erreur de sexe.

10. Fall von Engelhardt: Als Todesursache des 59 jährigen Witwers Karl Menniken wurde Carcinoma uteri subnecropsia gefunden, üvarium vorbanden. Vagina mündete in Urethra. Clitoris hypertrophisch, von der Harnröhre durchbohrt. Erreur de sexe. Der Mann hatte in seiner Ehe mit der Gattin zu deren Zufriedenheit kohabitiert, obgleich er selbst ein verkanntes Weib war.

11. Fall von Fehling. Bei einem 21 jähr. Mädchen erst Fehl- diagnose einer Haematometra, nach vergeblicher Paracentese Diagnose richtig aul Tumor eines Ovarium gestellt bei inguino- labialer Ektopie des anderen. Myxosarcom des linken Üvariums durch Bauehschnitt entfernt, rechtes Ovarium und Tube in die Bauchhöhle hineingezogen. Clitoris hypertrophisch und erectil.

12. Fall von Gruber: 22jähr. Mädchen an Carcinora einer Ge- schlechtsdrüse verstorben. Vagina und Uterus vorhanden, die andere Geschlechtsdrüse ein Hoden. Erreur de sexe, Kryptorchismus.

Vi. Fall von Gunkel. Ein Mädchen mit männlichem Geschlechts- trieb wegen Incest angeklagt wird nach Untersuchung für einen männlichen Scheinzwitter erklärt, erhält aber die Erlaubnis auch lerner weibliche Kleider zu tragen. Im 50. Jahre Tod. Sektion erweist Erreur de sexe. Ovarien, myomatöser Uterus mit Tuben, Vagina mündet in capite gallinaginis urethrae. Prostata vorhanden, Clitoris hypertrophisch, penisartig von der Urethra durchbohrt bis an eine Stelle 2'/« Centimeter nach rückwärts von der normalen männlichen Harnröhrenöffnung belegen.

11. Fall von Hall: Carcinoma ovarii unius durch Bauchschnitt entfernt bei einem 17 jähr, weiblichen Scheinzwitter. Clitoris hypertrophisch.

Jahrl.uch V. 27

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15. Fall von Hansemann: Die Sektion der 32jähr., lange Jahro hindurch verhreiatet gewesenen Kristine Hoc kl leise Ii , verstorben an Blasenkrebs, ergibt eineErreur de sexe. Hypo- spadiasis peniscrotalis mit Hoden und Nebenhoden jederseits in scroto. Keine Vagina vorhanden, Urethra 10,5 Centinieter hing. Hell den kleinen Finger in die Blase ein. Beischlaf als Frau. Fall von Howitz: Sektion eines 49jährigen Mädchens nach letal verlaufenem Bauchschnitte mit Amputation eines tibronia- tösen Utems. Vagina vorhanden. Clitoris 0 Centinieter lang. Die mandelgroüen Geschlechtsdrüsen von Chicwitz fllr rudi- mentäre Ovarien gehalten. Beweis fehlt, Geschlecht fraglieh trotz Mikroskop.

17. Fall von Dix on-J one s : Diagnostischer Bauchschnitt einer beiderseitigen Herniotomie hinzugefügt bei Erreur de sexe (siehe Gruppe I, Fall 14).

1H. Fall von Kaps am in er: Unicum! Nitze entfernte operativ bei einem 30jährigen Manne einen Harnstein von 165 Gramm aus dem Utrieulus masculinus. Pseudoherm. masculinus internus.

19. Fall von Krabbel: Bauchschnitt bei einem 32 jähr. Manne er- gab einen Ovarialtumor, also Erreur de sexe. Clitoris hypertrophisch, Vagina vorhanden, Uterus klein, das rechte Ovarium normal. Linksseitiger Ovarialtumor ein multilokulaerea Cystom. Nach l1/» Jahren zweiter Bauchschnitt mit Entfernung eines Teratoms von sarkomatösem Bau.

20. Fall von Krug: Ovariotomie bei einem 19jährigen Mädchen. Clitoris 2 Zoll lang, 2 Ovarialsarkome. Uterus und Vagina rudimentär. Weibliches Scheinzwittertum.

21. Fall von Lesse r: Tod eines 25jährigen Mädchens durch Ver- blutung infolge von Platzen eines Alveolarsarkoms, von Lesser auf den Uterus bezogen. Sektion: Keine Ovarien gefunden, Vagina vorhanden, Clitoris 5f5 ein lang. Geschlecht fraglich.

22. Fall von Levy: lojähriges Mädchen, Anna Schulze, mit hypertrophischer erectiler Clitoris und Tumoren der Geschlechts- drüsen. Geschlecht fraglich.

23. Fall von E. Levy: Bauchschnitt bei einem 20jährigen Mädchen durch v. Saexinger. Tod nach unvollendeter, wegen Blutung abgebrochener Operation. Clitoris 5,8 cm lang, erectil. Uterus und Vagina vorhanden. Sektion ergab 2 Sarkome der Ge- schlechtsdrüsen. Es war weder Hoden- noch Ovarialgewebe gefunden worden. Geschlecht fraglich.

24. Fall von Liebmann: Elastischer Tumor in der linken Leiste Huer 45jährigen Frau, die mit 25 Jahren einen Mjährigen Mann

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heiratete. Keine Spur von Uterus, Vagina, Ovarien zu ent- decken. Geschlecht fraglich. 2o. Fall von Litten: Die lGjährige Klara Hacker wegen Bauch- tuuiur aufgenommen, man .schwankte ob Mädchen oder Knabe. Clitoris 5,ö, sub erectione 10 cra lang. Uterus und Vagina vorhanden. Nach Paracentese Tumor für ovariell erklart, die Gebilde in den Schamlefzen für Hoden entgegen Virchow, der sie für ektopische Ovarien hielt. Nekropsie: Myxosarcom den rechten Ovariums, linkes glattwandig klein. Die Gebilde in den Schamlefzen ein Ilaemato- resp. Hydrocele processus vaginalis peritonaei. Weibliches Scheinzwittertum.

26. Fall von Merkel: Sektion eines 63jährigen an Carcinoma rect. verstorbenen Mannes ergab die Gegenwart eines Uterus und einer Vagina. Normales Sperma, normaler Beischlaf mit der Gattin.

27. Fall von Mies: Die 66jährige Else G. wegen Unterlippen- krebs aufgenommen. Die Seltenheit dieser Krebslokalisation bei Frauen sowie diverse männliche Erscheinungen erweckten den Verdacht einer Erreur de sexe. Männlicher Schein- zwitter mit Hypospadiasis peniscrotalis, Hoden und Nebenhoden in scroto fisso, Prostata.

'28. Fall von F. Neugebauer: Carcinoma uteri et ovarii sinistri bei der 56jährigen Anastasia K. Clitoris 3'/'« cm lang. Weibliches Scheinzwittertum.

21». Fall von Neu ge baue r: Bauchschnitt bei einer 35 jähr, als Frau verheirateten Person von männlichem Aussehen. Niemals Periode, Scheide rudimentär, Sarkom einer Geschlechtsdrüse, die andere Geschlechtsdrüse nicht zu finden. Geschlecht fraglich.

30*. Fall von Obolonsky: Sektion einer ~>0 jährigen Arbeiterin er- wies Erreur de sexe. Vagina, Uterus bicornis, Kryptorehis- mus bilateralis, Sarcoma testiculi dextri. Hypospadiasis peni- scrotalis.

31. Fall von Paton: Bei einem Batichschnitte fand man bei einen» 20jährigen jungen Manne einen. Uterus, pyosalpinx duplex pro- tluens, eine in scroto tisso mündende Vagina; die Urethra mün- dete in die Vagina. Uterus und linksseitige Tube samt an Stelle des Ovarium liegendem Hoden entfernt. Hypospodiasis peniscrotalis mit Kryptorchismus. Noch kein Geschlechtstrieb. U n i c u tn.

32. Fall von Pfannenstiel: Bauchschnitt bei einem 55jährigen Mädchen Chr. Schm.: Clitoris 3, sub erectione 5 cm lang. Vagina und Uterus vorhanden. Uterus wegen Fibromen am-

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putiert. Tuben stark verlängert. Die exstirpierten Geschlechts- drüsen als Ovarien angesprochen aber ohne Nachweis ovariellen Baues. Geschlecht fraglich trotz Mikroskop. Melancholie.

33. Fall von Pean: Diagnostischer Bauchschnitt nach beiderseiti- gem Leistenschnitt bei einem Knaben: Erreur de sexe. Ab- tragung der Uterusadnexa. (siehe Grnppe II. Xo. 2).

31. Fall von Primrose: Tod eines 25jährigen Kryptorchisten nach Entfernung eines Hodensarkoraes durch Bauchschnitt. Nekropsie: Uterus entdeckt. Vagina mündet in capite gallin:> ginis urethrae.

35. Fall von Quisling: Appendicitisanfälle bei einem angeblich weiblichen 27jährigen Scheinzwitter mit Uterus und Vagina, Clitoris 4 ( Zentimeter lang, Masturbation, weiblicher Geschlechts- drang. (Geschlecht fraglich V)

30. Fall von E. v. Sälen: Bauchschnitt bei der 43jähr. unverehe- lichten Auguste Persdotter mit Entfernung eines grossen Cystolibrom (des Uterus?) und der Geschlechtsdrüsen: linke Geschlechtsdrüse ein Ovarium, die rechte soll (Ovotestis) ova- riellc und testiculaere Struktur aufgewiesen haben. Uterus und Vagina vorhanden, Clitoris 5 (Zentimeter, Beischlaf mit Männern schmerzhaft, mit Frauen nicht versucht.

37. Fall von Snegirjow: Diagnostischer Bauchschnitt einer beiderseitigen Herniotomie mit Kastration hinzugefügt. Erreur de sexe. (Siehe Gruppe 1 Fall 30).

3£. Fall von Sorel u. Che rot. Bauchschnitt bei der 30jährigen AI ine C. Careinom des Bunddarines. Clitoris 6 Centimeter lang, erectil, Geschlechtsdrang männlich, aber Beischlafver- suche mißglückten. Tod. Nekropsie: Mangel der Vulva, Vagina, der Hoden und Ovarien, Utriculus masculinus gefunden. Geschlecht fraglieh.

3t». Fall von Stimson: Bauchschnitt bei einem 40jährigen Neger, der Vater war. Sarkom des linken Bauchhodens, der rechte in seroto non tisso unterhalb eines Leistenbruches. Uterus bieornis mit beiden Tuben.

40. Fall von Stroebe: Sektion eines 03jährigen an Carcinoma oesophagi verstorbenen Mannes. Kr\ ptorchisinus beiderseits. Ausgebildeter* Uterus mit beiden Tuben und Vagina, in die capite gallinaginis urethrae mündet. Penis normal, Scrotum leer. Der Mann war kinderlos verheiratet gewesen.

41. Fall von Unterberger: Bauchschnitt bei einem 14jährigen Mädchen: Diagnose Ovarialsarkom trotzdem die Scham das Aussehen einer llypospadiasis peuiscrotalis bot. Mannskopf-

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groües Sarkom der linken Geschlechtsdrüse, Uterus vorhanden, Vagina öffnet sich wahrscheinlich in tirethraui, rechtsseitige atrophische Geschlechtsdrüse flir Ovarium gehalten, aber ohne mikroskopischen Beweis. Geschlecht zweifelhaft.

42. Fall von Westermann: Sektion eines 30 jährigen an Appen- dieitis ulcerosa verstorbenen Mädchens: Errenr de sexe. Hvpospadiasis peniscrotalis, Kryptorchisnius beiderseits, Uterus mit Tuben und Vagina vorhanden.

43. Fall von Win ekler: Bauchschnitt wegen Darmocclusion bei einem oßjähr, männlichen .Scheinzwitter: Uterus sub nckropsia entdeckt. (Siehe Gruppe III No. 12).

44. Fall von Zahorski: Bauchparacentese wegen Bauchtumor bei einem 25jährigen Dienstmädchen. Tod an Erschöpfung. Sarkom der linken Geschlechtsdrüse, rechte klein, flachgedrückt, Uterus und Vagina vorhanden. Clitoris 3'/« Ccntimeter lang. Geschlechtsdrüsen für Ovarien angesehen ohne mikroskopische Untersuchung. Geschlecht zweifelhaft.

45. Fall von Pozziu. Magnan: Bei einem verheirateten Manne ein Bauchtumor entfernt, der sich als Ovarialtumor erwies. Erreur de sexe.

Fünfte Gruppe:

23 Fälle von teils ausgeführten, teils nur von dem Arzte, dem Scheinzwitter oder seinen Eltern verlangten chirur- gischen Eingriffen an den Genitalien mit Anschluss einiger Hypospadieoperationen bei männlichen Scheinzwittern.

1. Amputation der hypertrophischen Clitoris bei den Stämmen der Ibbos und Mandingos im antiken Aegypten.

2. Fall von Arn au d: Verlangte aber vom Arzte abgeschlagene Amputation der hypertrophischen erectilen Cütoris bei einer 35jähr. Nähterin: angebliche Hämatokolpometra per rectum profluens bei unterem ScheidenverschluU, Eröffnung, Wieder- verschluß. Angeblich Hoden, Nebenhoden und Samenstränge in scroto fisso getastet. Nach 15 Jahren Tod, Nekropsie. Geschlecht fraglich. Fall aus dem 18. Jahrhundert.

3. Fall von Mc Arthur: Operation wegen Atresia ani bei einem neugeborenen Scheinzwitter fraglichen Geschlechts. Nekropsie: weibliches Scheinzwittertum mit Persistenz der Kloake.

4. Fall von Aveling: Amputation der hypertrophischen Clitoris bei einer Frau nach Konstatierung der Menstruation.

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f>. Fall von Benoit: Vergeblicher operativer Versuch bei einem 27jährigen verlobten Mädchen, die angeblieh verwachsene Seheidemündung zu eröffnen. Erreur de sexe, Hypospadiasis peniscrotalis. Verlobung gelöst.

<>. Fall von Berendes: Amputation der angeblichen hypertrophi- schen Clitoris bei einem 4jährigen Mädchen auf Verlangen der Eltern, später von Landau Erreur de sexe, männliches Seheinzwittertnm konstatiert. Verlobung gelöst (siehe Neu- gebauer: dieses Jahrbuch für 1902: Gruppe IV. Fall 4).

7. Fall von Bittner: Die Mutter eines 14jährigen Mädchens ver- langte durchaus, Bittner solle die f>1/« Centimeter lange Clitoris amputieren, wurde aber abschlägig beschieden wegen Erreur de sexe. Hypospadiasis peniscrotalis. Vagina vorhanden, vielleicht auch Uterus. Harnröhrenöffnung weiblich, früher von Dr. Busch künstlich erweitert. An der Spitze der Glans penis öffnet sich ein Kanal, welcher eine Sonde 5 Centimeter tief einlässt, schleimgefüllt. Es scheint aber nur die basale Partie des Penis, resp. nur das Scrotum gespalten zu sein, eine seltene Form der Hypospadie.

8. Fall v<?n Blond el: 4öjährige Frau seit 18 Monaten verheiratet Beischlaf stets schmerzhaft aber libidinös, früher mehrere Be- werber abgewiesen wegen befürchteter Kinderlosigkeit einer Ehe wegen genitaler Miüstaltung. Ein Sturz vor 6 Monaten führte zur Entstehung eines beiderseitigen Leistenbruches. Der jetzt erst im 45. Jahre erfolgte Decensus testiculorum retar- datus führte zur Erkenntnis einer Erreur de sexe. Hypospa- diasis peniscrotalis mit Vagina, noch unzerrissenem rigiden Hymen, der incidiert werden sollte mit nachfolgender plastischer Er- weiterung der Vagina. Penis fissus sub erectione (>— 7 Centi- meterlang. Hoden und Nebenhoden in den Schamlefzen getastet. Vagina eng, ohne Uterus (V). Geschlechtsdrang absolut weiblich.

\K Fall von Kealdo Colombo: Amputation der Clitoris ab- geschlagen bei einer Aetliiopierin, die weder mit Männern noch mit Frauen bequem sexuell verkehren konnte. Wahrscheinlich männlicher Hypospade mit rudimentärer Vagina, deren künst- liehe Erweiterung verlangt wurde. Geschlechtsdrang wohl weiblich.

10. Fall von l'oop: Diseision einer Seliamlefzenverwachsung bei einer 24jährigen verheirateten Frau, einem Scheinzwitter, er- möglichte den Beischlaf,

11. FjiII von Coste: Bei einem weiblichen Scheinzwitter, einem 21jährigen Mädchen, welches heiraten wollte. Beischlaf ermöglicht

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durch Durschneidung einer Atresie mit teilweiser Spaltung der Urethra. In der so eröffneten Vagina ein Collum uteri ge- tastet. Amputation der hypertrophischen Clitoris. Die Vagina mündete in urethram. Hochzeit, Beischlaf gelingt. Periode tritt ein.

12. Fall von Dural: Behufs verlangter Ehescheidung vom Forum ecclesiasticum verfugt: falls Amputation der angeblichen hyper- trophischen Clitoris gestattet wird von der Frau, soll die Ehe fortbestehen. Die Frau geht darauf nicht ein, Ehe geschieden, Erreur de sexe. Männlicher Scheinzwitter, ein Hypospade, war als Frau verheiratet gewesen.

18. Fall von Hartmann: Auf Verlangen der Mutter Amputation der angeblichen hypertrophischen Clitoris wegen Masturbation bei einem 7jährigen Mädchen. Clitoris kleinflngergroß, sub erectione noch größer. Vagina und Uterus vorhanden. Geschlecht fraglich, möglicherweise Hypospadiasis peniscrotalis mit Kryptorchismus, Vagina und Uterus.

11. Fall von Ilector le Nu: Vom Vater Amputation der angeb- lichen hypertrophischen Clitoris bei der 6 jähr. Tochter verlangt, aber abgeschlagen, weil männlicher Scheinzwitter. Erreur

de sexe.

15. Fall von Huguies: Die 20jähr. Louise D. sollte heiraten, Menstruation vorhanden, Clitoris 5 Centimeter lang, erectil, Schatnlefzen, verwachsen mit einander, täuschen ein leeres Scrotum vor. Discision bei zutreffender Diagnose. Beischlaf ermöglicht Erfolg genügend.

16. Fall von Beel ard u. Anderen: Weiblicher Scheinzwitter Maria Magdalena Lefort mit ereetiler hypertrophischer Clitoris und partieller Verwachsung der Seharalefzen mit einander. Discision verweigert.

17. Fall von Virchow: Katarina, der spätere Karl Hohmunu, ein männlicher Seheinzwitter, angeblich menstruierend. Penis hypospadiaeus, Scrotum teilweise gespalten. Billroth schlug die Durehschneidung der Schamlefzenverwachsung vor, um den Aditus ad vaginam bloßzulegen. Operation verweigert. Bei- schlaf mit Männern und mit Frauen. Vom 10.— 2<>. Jahre nur männlicher Geschlechtsdrang, nach dem 20. Jahre weiblicher, nach dein 10. Jahre heiratete Karl, früher Katarina Hoh- mann, ein Mädchen.

IS. Fall von Keift er. Hysteroekpctasis wegen intermittierender Amenorrhoe und Dysmenorrhoe bei einem 2öjähr. Mädchen

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Josephine X. Hypertrophische, erectile Clitoris, Geschlecht fraglich, eher weiblich als männlich.

19. Fall von Pean: Vergeblicher Einschnitt zwischen Urethral- und AnalmUndung im Bestreben eine Vagina zu schaffen bei einem irrtümlich als Knabe erzogenen Mädchen. (Siehe Gruppe II No. 2.)

20. Fall Roux: Verheiratete Frau mit beiderseitiger labialer Ovarialektopie und teilweiser Schamlefzenverwachsung wurde durch Discision der Verwachsung beischlafsfähig. Das weib- liche Geschlecht nur vermutet.

21. Fall von Sonnenburg: Durchschneidung einer Schamlefzen-

verwachsnng bei einem Mädchen mit hypertrophischer Clitoris.

22. Fall von Tauber: Amputation des Penis- hypospodiaeus bei einem 23jährigen männlichen Scheinzwitter, der bis zur Kastra- tion (Hoden) vor 2 Jahren als Mädchen galt und mit einem Manne verlobt war, jetzt einem männlichen Kastraten (siehe Gruppe IV. Fall 7).

23. Fall von Vincent: Bei einem mit Defectus ani et urethrae ge- borenem Kinde zweifelhaften Geschlechtes ein Anus coccygeus angelegt Lebensrettender Eingriff. Geschlecht fraglich.

An ha n g. Sechste Gruppe.

Auf die Beseitigung der peniscrotalen Hypospadie ge- richtete Operationen.

1. Beck, 2. Brand, 3. Castellana, 4. FeTizet, 5. Garri', 6. Krajenoski, 7. Malthe, 8. Marwedel, 9. Thier sc h, 10. Tulfier, 11. Villemin, 12. Waitz.

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Brief Wolfgang von Goethes über die mannmännliche Liebe in Rom.

Dr. P. I. Möbius Ubersandte uns zur Veröffentlichung im Jahrbuch folgenden bisher wenig bekannten Brief Goethes, welcher für den vorurteilsfreien Blick des großen Mannes auch in dieser Hinsicht Zeugnis ablegt.

Am 29. December 1787 sehreibt Goethe aus Rom an den Herzog von Weimar:

„Midi hat der süße kleine Gott in einen bösen Weltwinkel relegiert. Die öffentlichen Mädchen der Lust sind unsicher wie überall. Die Zibellen (unverheurathete Mädchen) sind keuscher als irgendwo, sie laßen sich nicht anrühren und fragen gleich, wenn man artig mit ihnen thut: e che con- cluderemo? Denn entweder soll man sie heurathen oder verheurathen und wenn sie einen Mann haben, dann ist die Messe gesungen. Ja man kann fast sagen, daß alle ver- heuratheten Weiber dem zu Gebote stehn, der die Familie erhalten will. Das sind denn alles böse Bedingungen und zu naschen ist nur bey denen, die so unsicher sind als öffentliche Kreaturen. Was das Herz betrifft, so gehört es garnicht in die Terminologie der hiesigen Liebeskanzley.

Nach diesem Beytrag zur statistischen Kenntniß des Landes werden Sie urlheilen, wie knapp unsere Zustände sein müssen und werden ein sonderbar Phänomen begreifen, das ich nirgends so stark als hier gesehen habe, es ist die Liebe der Männer untereinander. Vorausgesetzt, daß sie selten biß zum höchsten Grade der Sinnlichkeit getrieben wird, sondern sich in den mittleren Regionen der Neigung und Leidenschaft verweilt: so kann idi sagen, daß ich die schönsten Erscheinungen davon, welche wir nur aus grie- chischen Überlieferungen haben (S. Herders Ideen III. Band pg. 171) hier mit eigenen Augen sehen und als ein aufmerk- samer Naturforscher das psichische und moralische davon beobachten konnte. Es ist eine Materie, von der sich kaum reden, geschweige schreiben läßt, sie sei also zu künftigen Unterhaltungen aufgespart."

(Goethes Briefe. 8. Band p. 314. Weimar 1890.)

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Felicita von Vestvali.

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Felicita von Vestvali.

Von

Rosa von Braunschweig.

Das Quellenmaterial, welches uns zuverlässige Mit- teilungen aus dem Leben urnisch veranlagter Frauen bietet, ist bei weitem nicht so vielfältig als über ihre männlichen Genossen. Nicht etwa, weil diese eigenartige Veranlagung bei Frauen weniger verbreitet wäre es kommt weit öfter vor als man ahnen kann sondern weil sich die Frauen eine größere Zurückhaltung auf- erlegen. Ks ist dies eine Folge ihrer Erziehung, denn sc hon als Kinder werden die Mädchen zu größerer Scham- haftigkeit erzogen als die Knaben, und dieses sensible Empfinden hindert sie später, wenn der sexuelle Trieb in seine Rechte tritt, sich zu decouvrieren.

Zwar bedroht in Deutschland die homosexuelle Liebe zwischen Frauen kein Gesetzparagraph, doch gesellschaft- lich leiden sie vielleicht noch mehr unter dem Vorurteil als die Männer, da ihre Neigung von der unwissenden Menge meist als niedere Sinnlichkeit gebrandmarkt wird. Wie anders wäre es, wenn die Eltern sich über das Wesen der Homosexualität aufklären ließen und erkennen lernten, daß dieselbe etwas von der Natur Gegebenes ist. Leicht würden sie dann schon im Kinde die eigenartige Ver- anlagung erkennen ; wenn z. B. die Mädchen mehr Inter- esse für knabenhafte Spiele haben, als für ihre Puppen,

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und sich bei der späteren Entwicklung des Charakters deutliche Spuren einer männlichen Richtung zeigen. Bricht dann schließlich durch irgend einen nebensächlichen Umstand veranlaßt die homosexuelle Neigung deut- licher durch, so könnten die Eltern manche Unbesonnen- heit der Tochter zum Guten lenken. Wie oft treibt man Mädchen gegen ihren Willen in eine Ehe, durch die sie nicht allein sich, sondern noch einen zweiten unglücklich machen. Lernten es die Eltern, aus den ihrem Geschlecht widersprechenden Charaktereigentümlichkeiten ihrer Kin- der auf deren sexuelle Veranlagung richtig zu schließen und diese mit mildem Sinn gerecht beurteilen, so würde viel Unheil in der Welt verhütet werden.

Daß die urnische Veranlagung keineswegs den Charakter verdirbt oder minderwertig macht, beweisen unzählige Beispiele. Vereinigt der weibliche Urning doch meist mit spezifisch weiblichen Eigenschaften, wie Zart- heit der Empfindung und Gefühlstiefe, zugleich männliche Energie, Tatkraft, zielbewußtes Wollen und ist frei von der Kleinlichkeit, Eitelkeit und Unselbständigkeit der Frauen, während anderseits ihm allerdings auch oft Sinn- lichkeit und Leichtsinn des Mannes bescheert sind doch vollkommene Geschöpfe sind schließlich die hetero- sexuellen Menschenkinder auch nicht. Jedenfalls bildet der Verein männlicher und weiblicher Eigenschaften unter günstigen Bedingungen entwickelt sehr oft Wesen, deren Begabung die der Mutter weiber weit über- flügelt, und sie leisten in Kunst und Wissenschaft der Menschheit oft ebenso wertvolle Dienste, als die der Fortpflanzung des Menschengeschlechtes dienenden Frauen.

Zu diesen außergewöhnlichen Geschöpfen gehörte Felicita von Vestvali. Sie hat die alte und neue Welt mit ihrem Ruhm erfüllt und nicht zum geringsten Teil dankte sie es ihrer urnischen Natur, daß sie mit männ- licher Energie alle Hindernisse zu überwinden wußte und

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ihr unbegrenztes Streben siegreich das hohe Ziel erreichte, zu dem ihr Genie sie prädestinierte.

Vielfach ist behauptet worden, sie sei ein weiblicher Zwitter gewesen. Die Anfeindungen, die sie von den Herren der Schöpfung erfuhr, waren zahllos, und man scheute keine Verdächtigung, um sie herabzusetzen. Diesem gegenüber wollen wir mit aller Bestimmtheit erklären, daß alles, was über dieseu Punkt gefabelt worden ist, in's Reich der Märchen gehört. Sie ist sogar Mutter einer Tochter, welche heute noch in Amerika lebt.

Ks gehört eben nicht zu den Seltenheiten, daß ganz homosexuelle Frauen ihr Wesen erst erkennen, nachdem sie durch einen Mann in die Mysterien der Liebe einge- weiht sind. So erging es Felicita von Vestvali. Als sie aber näher aufgeklärt war, hätte sie wie viele urnische Frauen einen ferneren intimen Verkehr mit einem Mann als eine Unmoralität betrachtet, da er ihrem innersten Empfinden auf das Entschiedenste widersprach. Allerdings fühlte sie oft mit tiefem Schmerz den Konflikt, in den sie dadurch mit den bestehenden Gesetzen der Sitte geriet, aber die Wahrheit gegen sich selbst stand ihr höher, als ein Sittenkodex, der ohne Rücksicht auf das dritte Geschlecht gemacht ist, dessen Dasein nun einmal nicht weggeleugnet werden kaun und über welches die Menge aufzuklären sich jetzt hervorragende Männer der Wissenschaft bestreben.

Felicita von Vestvali's wirklicher Name war Anna Marie Stägemann. Sie war die jüngste Tochter eines höheren Beamten in Stettin und dort am 25. Februar 1829 geboren. Die Eigenartigkeit ihres Wesens trat schon früh hervor. So wünschte sie als Kind Missions- prediger zu werden. Wenn das Schulzinimer im elter- lichen Hause leer war, achlich sie sich hinein, stellte sich auf«* Katheder und predigte mit einer über ihr Alter hinausgehenden Begeisterung, wie sie die Menschen

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bessern wolle. Ihr Vater hörte ihr einst vom (jarten aus zu und umarmte dann tränenden Auges sein Kind. Zu anderen Zeiten tollte sie wieder mit ihren Brüdern um die Wette, wie der wildeste Junge.

Furchtlosigkeit und Edelmut war eiu Grundzug ihres Wesens bis zu ihrem Tode, und diese Eigenschaften zeigten sich schon in ihrer Kindheit. Sollte eines der Geschwister von dem sehr strengen Vater bestraft werden, dann trat sie nicht selten vor und nahm die Schuld auf sich. Als sie das Theater kennen lernte, erwachte in ihr der glühende Wunsch Schauspielerin zu werden, doch wie so oft wollten auch ihre Eltern absolut nichts davon wissen und kurz entschlossen enttoh sie in Knabenkleidern. Bei einer herumziehenden Schauspielgesellschaft Brökelmann fand sie ein Engagement. Der Direktor, ein alter Theater- praktikus, erkannte sehr bald das hervorragende Talent des jungen Mädchens und wollte dasselbe für längere Zeit an seine Bühne fesseln. Felicita oder Marie, wie sie damals noch hieß, zog es jedoch bald aus den klein- lichen Verhältnissen fort, sie fand in Leipzig ein Engage- ment und hier wurde sie Protege*e der berühmten Wilhelmine Schröder -Devrient. Unter deren Leitung sang sie dort recht erfolgreich Partien wie Agathe, Kegimeutstochter und schließlich sogar Norma. Ihr dem Höchsten zustrebender Geist fühlte aber den Mangel wirklichen Könnens; was das Publikum entzückte, war ihre jugendfrische Stimme. Um gründliche Gesangsstudien zu machen, begab sie sich nach Paris an das dortige Konser- vatorium. Sie studierte mit unermüdlichem Eifer, aber daneben genoß sie auch das Leben mit vollen Zügen. Hier war es auch, wo sie durch eine Freundin über ihre urnische Veranlagung aufgeklärt wurde. So sehr nun auch ihre nach Lebensfreude dürstende Natur Liebes- glück verlangte, so war ihr dasselbe doch stets nur eiue Blume, welche ihren Lebeuspfad schmückte, der Kern

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ihres Strebens galt ihrem Beruf. So ergriff* sie ein Anerbieten zu einer größern Konzerttournee, ehe sie ihre Studien vollendet hatte. Diese Tournee, die sie auch auf die Insel Jersey führte, wurde dort jäh unterbrochen, da der Impresario mit der Kasse das Weite suchte. Kurz entschlossen ließ sich unsere junge Künstlerin dort als Gesangslehrerin nieder und spielte Sonntags in der Kirche Orgel. Ihr Unternehmungsgeist, vereint mit ihrer jugend- schöuen Erscheinung, verhalfen ihr zu einem glänzenden Erfolge, und schon nach einem Winter war sie in der Lage, ihre Gesangsstudien bei Mercadante in Neapel wieder aufzunehmen. Unter seiner Leitung entwickelte sich ihre Stimme zu einem Kontra-Alt von so phänomenaler Tiefe, daß spekulative Impresarien ihr rieten, Tenor- partien zu studieren, aber die Ärzte erklärten, ihre Stimme würde dies Experiment höchstens 10 Jahre aushalten. Das war zu wenig für ihren Ehrgeiz. Um nun ihre schwere Stimme auch für den leichten Gesang gefügig zu machen, ging sie noch zu dem in Florenz lebenden berühmten Gesangsmeister Romaui und trat bald darauf zum ersten Mal öffentlich auf in der Scala zu Mailand, gelegentlich der ersten Aufführung von Verdi's „Tro- vatore* als „Azucena". Sie nahm nun den Namen Felicita von Vestvali an. Ihre nächsten Rollen waren „Romeo* in Bellini's „Romeo und Julia" und „Tancrcd*. Ihr Erfolg war ein grandioser. Daun sang sie in ver- schiedenen Konzerten in London und wurde von der dortigen Aristokratie so ausgezeichnet, wie wenig Säuger- innen vor und nach ihr. Im Hause von Lord und Lady Palmerston verkehrte sie wie eine Freundin.

Das Land ihrer Sehnsucht war jedoch Amerika und im Jahre 1854 schiffte sie sich dorthin ein. Die Yankees trieben gleich nach ihrem ersten Auftreten einen förmlichen Kultus mit ihr, man verglich ihre Erscheinung mit der amerikanischen Freiheitsgöttin und nannte sie: Vestvali,

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the Magnificent! In New- York erhielt sie eine Monats- gage von 10,000 Franks. Nun folgte eine Tournee durch sämtliche große Städte der Union.

In Mexiko war die berühmte Sängerin Henriette Sonntag, welche die Direktion des dortigen National- theaters leitete, gestorben und man bot der Vestvali das Theater mit einer jährlichen Subvention von 45000 Dollars an. Sie reiste nach Europa, um sich eine auserlesene Gesellschaft zusammen zu stellen. Als sie mit derselben in Mexiko eintraf, war die ganze Stadt wie zu einem Nationalfest geschmückt, der damalige Präsident Caminfort empfing sie mit den Spitzen der Behörden, man machte ihr 6 herrliche Pferde zum Geschenk, gab ihr im Palast Iturbid ein großes Fest, und brachte ihr einen Fackel- zug. Wahrlich Ehrungen, wie sie wohl selten einer Frau, einer Künstlerin zuteil geworden.

Auf ihre große Beliebtheit pochend, machte sie in Mexiko das Experiment, den „Figaro" im „Barbier von Sevilla" in spauischer Sprache zu singen.

Als später die Revolution ausbrach, konnte man ihr die ganze Subvention nicht auszahlen und gab ihr ein Stück Landes, welches noch heute nach ihr den Namen führt

Des aufreibenden Lebens müde, kehrte sie nach Italien zurück, um sich zu erholen. Allein ihr blieb nur kurze Ruhezeit. Das neue Theater in Piacenza wurde eingeweiht und mau ersuchte sie, in der Vorstellung mit- zuwirken. Dann bot sich ihr ein Engagement an der großen Oper in Paris, wo sie mit mehreren hervor- ragenden Sängerinnen, so auch der bekannten Tietjens, in Konkurrenz trat und alle besiegte. Kaiser Napoleon schenkte ihr sogar für ihren .Romeo" eine Rüstung aus gediegenem Silber. Zwei Jahre blieb sie in Paris, und in ihrem Salon vereinigte sich alles, was Anspiuch machte in der literarischen Welt einen Namen zu haben, sowie

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die Geburts- und Geldaristokratie. Viel schöne Frauen wetteiferten um die Gunst der Vestvali und mancher Ehemann hatte Grund, auf den schönen, ritterlichen Romeo eifersüchtig zu sein.

Wieder zog es sie jedoch nach Amerika. Sie wollte dort Glucks Orpheus* aufführen. Felicita hätte aber den Geschmack der Amerikaner besser kennen sollen, die stilvolle, klassische Musikweise des Altmeisters Gluck war nichts für den Geschmack der Yankees. Das Unter- nehmen scheiterte. Zeit, Mühe, Geld waren verschwendet und erbittert zog sich die Vestvali auf eine Villa in der herrlichen Umgebung vou St. Franzisko zurück.

Zu ihrer Erholung studierte sie hier den „Hamlet", für den sie seit Jahren schwärmte. Sie führte das Buch auf allen Reisen mit sich und ebenfalls den „Romeo" des großen Briten, denn schon in der Oper hatte sie dem Bellinischen „Romeo" stets etwas Shakespeareschen Geist eingehaucht.

Da erkrankte am Theater in St Franzisko der erste Liebhaber, und man bestürmte die Vestvali, als „Romeo" aufzutreten. Der Mißerfolg vom „Orpheus" hatte ihr den Geschmack an der Oper genommen, und mit Be- geisterung ergriff sie die Gelegenheit zum Schauspiel überzugehen und diese ideale Jünglingsgestalt im Drama und in englischer Sprache zu verkörpern. Das Publikum bereitete ihr eine enthusiastische Aufnahme, wieder be- reiste sie die Städte der Union und abermals folgte ein Triumphzug ohne gleichen, zu den Rollen des Romeo" und „Hamlet" hatte sie noch einige Männer- und Frauen- rollen genommen.

Vou dieser Zeit datierte auch eine Freundschaft mit einem Fräulein E. L., einer deutschen Schauspielerin, die bis zu ihrem Tod währte, und der sie den größten Teil ihres Vermögens vermachte, obwohl diese Verbindung ihr kein ungetrübtes Glück gewährte.

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Im Jahre 1868 gastierte die Vestvali am König]. Lyeeum-Theater zu London. Sie spielte dort 20mal den , Hamlet" und 22mal den „Romeo", sowie den Petruchio (Bezähmte Widerspenstige). Auch hier wurden ihr her- vorragende Ehrungen zu teil. Die Königin Viktoria em-

Felicita von Vestvali

als Petruchio in: „Die bezähmte Widerspenstige."

pting die Vestvali in Privataudienz. Lord Bulver ver- sicherte, nie eine geistvollere Wiedergabe des „Hamlet" gesehen zu haben und die englischen Zeitungen nannten sie den „weiblichen Kean". Die „Union of Art" in

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London ernannte die Vestvali zum Ehrenmitglied, eine Auszeichnung, die sie von der Santa Cecilie" in Rom schon lange besaß.

Bisher hatte sie, die Deutsche, alle ihre Erfolge nur in fremden Sprachen erzielt. Sie hatte in italienischer, französischer uud spanischer Sprache gesungen und in englischer Sprache im Drama gewirkt. Plötzlich regte sich aber der deutsche Geist in ihr und sie, die beide Hemisphären mit ihrem Ruhm erfüllt hatte, wollte auch in ihrem Vaterlande zeigen, was Genie mit unbezähm- barem Schaffensdrang und außergewöhnlicher Energie zu erreichen vermochte.

Vielfach hatte man ihr abgeraten. Leider ist Deutsch- land ja das Land, wo mau dem Außergewöhnlichen am wenigsten Berechtigung zugesteht, selbst wenn geistige und körperliche Vorzüge dasselbe rechtfertigen. Aber Vestvali ließ sich nicht abschrecken. In Hamburg trat sie zuerst als , Romeo" in deutscher Sprache auf. Das große Publikum nahm sie sofort enthusiastisch auf, aber die Presse hatte viel zu nörgeln, so auch, daß ihre Aussprache etwas englischen Accent verriet. Sie arbeitete mit Eifer, sich die langentwöhnte Muttersprache wieder mundgerecht zu machen und schon als Hamlet war der Fehler beseitigt. In Leipzig schrieb der bekannte Kritiker Gottschall :

„Der weibliche Hamlet. Gastspiel von Felicita von Vestvali. Bei ihrem gestrigen Debüt konnte man annehmen, daß wohl der größte Teil des Publikums nur der Absonderlichkeit willen und teilweise sogar mit dem Vorsatz gekommen waren, eine Dame, die so kühn war, den Hamlet zu spielen, mindestens „abfallen* zu lassen. Als die Vestvali zuerst als Hamlet erschien, empfing man sie lautlos. Die edle Gestalt die den König uud viele andere mitspielen- den „Helden" an Größe der Gestalt, alle aber an

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Noblesse der Haltung überragte, das ausdrucksvolle Gesicht zu Boden geheftet entwaffnete schon das Vorurteil. Der zweite Zweifel fiel als sie zu sprechen begann dieses sonore Altorgan, diese verständliche und dialektlose Deklamation zeigten die ihrer Aufgabe auch in dieser Beziehung gewachsene Künstlerin und der erste Akt war noch lange nicht zu Ende, als man ihr schon reiche Beifallsspenden zuteil werden ließ, die sich bald in dem Maße steigerten, daß die Gastin am Schluß etliche 18 mal gerufen worden war. Ver- gessen war vor der Macht des Genies alles, was man vorher von den verschiedenartigsten Standpunkten aus gegen das Männerrollenspielen einer Frau hatte geltend machen wollen; der Eindruck, den dieser Hamlet her- vorbrachte, war ein gewaltiger. Frl. v. Vestvali gab ihn nicht bloß als sentimentalen Träumer, sondern sie brachte auch das energische Wollen, den drängenden und bohrenden Entschluß zur Tat und seine Schwankungen bis zum Augenblicke der Ausführung zu lebendiger Anschauung. Die bedeutendste Szene war vielleicht der Kampf am Grabe Ophelia's und das Hervorbrechen der Liebe zu ihr und um neben der geistigen Auf- fassung auch das Technische nicht zu vergessen : fechten sahen wir auf der Bühne noch niemals besser."

Frl. von Vestvali setzte ihr erfolgreiches Gastspiel in Leipzig als Romeo*, „Elisabeth" in Laube's „Essex" und „Isabella" in „Braut von Messina" fort. Laube selbst erklärt sie als seine beste Elisabeth-Darstellerin.

Von Leipzig aus eroberte sich die Vestvali durch ihr Gastspiel am National-Theater in Berlin dasselbe, schon vor Jahren ein Raub der Flammen geworden, wird nur noch älteren Theaterbesuchern erinnerlich sein die Gunst der Metropole und somit gewissermaßen erst volle künstlerische Anerkennung ihres Wertes für Deutschland.

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Ein gefürchteter Kritiker des Berliner Tageblattes schrieb damals:

„Nation al -Theater. Am 20. Januar: Hamlet, Prinz von Dänemark. Hamlet, Fräul. von Vestvali als Gast.

Felicita von Vestvali

als Hamlet.

„Ein blonder Xordlandssohn, mit hellem Haar und frischer, gesunder Farbe", behäbig, schon ein wenig „embonpointieit* und darum von Haus aus hypochon- drischer Neigung so der Hamlet Felicita von Vestvali's. Er ist mit Recht eine der berühmtesten

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und ohne Zweifel eine der originellsten und genialsten Leistungen der gesamten Schauspielkunst ja er steht einzig in seiner Art und Bedeutung da.

Zur äußeren Verlebendigung eines weiblichen Hamlet hat Mutter Natur wohl Keine, Keine so glänzend begabt und specifisch „männlich" bemittelt, wie eben Felicita von Vestvali. Schon der ganze Gliederbau dieser Gestalt gemahnt an den sogenannten Herrn der Schöpfung. Dazu ein machtvolles Organ, das oft tiefer gestimmt scheint als ein Tenor.

Was die geistige Auffassung der Rolle anlangt, so deuteten wir unsere Meinung schon an: von den zirka zwei Dutzend Hamlete, welche wir im Laufe der Jahre sahen, ist der unserer Gastin jedenfalls der originellste gewesen auch hier nicht vom Äußer- lichen gesprochen, sondern lediglich vom Intellektuellen, nicht von der Schale, sondern vom Kern der Leistung.*

Auch aus Wien liegt uns noch der Ausspruch einer der beliebtesten Dichter Österreichs vor, derselbe sagte:

„Eine hervorragende Existenz wie die Vestvali hat die Berechtigung, ihrem vulkanischen Genie die Zügel schießen zu lassen. Weder die Sitte, noch der ästhetische Regelzwang kann für das geistige Bedürfnis eines solchen schrankenlosen Kunstnaturells maßgebend sein. Daß dem so ist, ist keineswegs ein Kunst Verderbnis, es ist nicht darüber „Wehe" zu rufen, wie einige Kritiker es tun. Die bewundernswerte Intelligenz der Vestvali macht alle Angriffe zu Schanden.*

Wir haben hier Stimmen der Presse aus den maß- gebendsten Städten angeführt, die beweisen, wie siegreich die Vestvali aus den vielen ihr entgegentretenden An- feindungen hervorging. Sie bereiste denn auch Deutsch- land mehrere Jahre und gastierte stets überall mit größ- tem Erfolg.

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Aber die großen Anstrengungen, die sie Zeit ihres Lebens durchgemacht, blieben nicht ohne Einfluß auf ihre Gesundheit Immer öfter wurde sie genötigt, ihrem rastlosen Streben Ruhe zu gönnen. Sie zog sich denn auf ihre Villa in Warmbrunn zurück. Ein ganz tatenloses Leben war ihr jedoch unmöglich ; war sie also nicht durch die Ausübung ihrer Kunst in Anspruch genommen, so warf sie sich auf Bauspekulationen. Sie baute in Warra- brunn die ganze russische Kolonie. Ein Besuch bei ihrer in Warschau lebenden, verheirateten Schwester ließ sie auch dort Terrain ankaufen und Bauten ausführen, die sie selbst leitete und beaufsichtigte. All diesen Strapazen war ihre Gesundheit nicht mehr gewachsen. Eine un- heilvolle Krankheit warf sie nieder und machte diesem reichen, tatenvollen Leben ein zu frühes Ende. Sie starb in Warmbrunn am 3. April 1880, im 52. Lebensjahr.

Wir lassen noch einige kurze Auszüge aus Briefen an eine junge Schauspielerin folgen, mit der aufrichtige Freundschaft sie bis zu ihrem Tode verband. Treue Freundschaft war ein Grundzug ihres edlen und idealen Wresens, und diejenigen, die sie derselben würdigte, hängen noch heute mit rührender Verehrung an dieser hervorragenden Natur, die sich oft selbst „Hamlet* nannte, wie sie jene junge Schauspielerin ich bin es selbst in ihren Briefen »Horatio* anredete. Die Briefe beleuchten in kurzen Blitzen sowohl ihre künstlerische Anschauung, als auch ihre urnische Natur. In einem derselben heißt es u. a.:

„Ach, es ist schrecklich langweilig, so von Stadt zu Stadt zu gastieren. Ich komme mir schon wie ein Dorfküster vor, der mit dem Klingelbeutel herumgeht. Amen! Wenn man nur immer tüchtig darin vor- findet, meinte E.1), dann geht es schon. Auch ein

*) Ihre langjährige Freundin und Begleiterin. Anni. d. Verf.

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Standpunkt für einen idealen Schöngeist, nicht wahr, Horatio? Nein, ein ordentliches Theater möchte ich in Berlin haben und nirgends anders, ausgenommen Amerika. Ach, wenn die verdammte Reise nicht wäre so wäre ich gewiß schon längst drüben, mir sagen nun mal abenteuerliche Sachen zu ich bin nun wie ich bin."

Der letzte Brief, den sie von ihrem Krankenbett aus in Warschau an mich schrieb, lautete wie folgt:

„Wie ist alles anders gekommen, wie ichs mir gedacht, mein nervöses Leiden, das furchtbar ist, ist mir durch G.V) Gegenwart versüßt. Sie ist himmlisch gut. Sie können mir glauben, Horatio, ich fühle meine Leiden nicht die Hälfte, wenn sie bei mir ist. Ich bin ihr rasend gut und möchte ihr Tag und Nacht was Liebes tun. Jetzt ist's auch gleich, ob's unterm Pfirsich- baum oder Apfelbaum war, ob sie mich oder ich sie verführt, wir haben uns rasend lieb. Ich möchte bloß, daß Sie bei uns wären, lieber Horatio. Sie hätten Ihre Freude an uns. Gedenken Sie noch unseres Gesprächs nachts in der Charlottenstraße a propos von G. ? Das Resultat ist, ich liebe sie rasend. G. wird Ihnen bald selbst schreiben, sie muß jetzt auf die Bahn und F. abholen und hat die ganze Nacht nicht geschlafen, sie wohnt nämlich jetzt Bett an Bett neben mir. Wir beide grüßen Sie herzlich und ich drücke Sic an mein Herz in alter Freundschaft

Ihr Hamel-fett.»

Die Vestvali, welche bei ihrer Schwester in Warschau erkrankte, wurde dort von einem Frl. G. mit rührender Sorgfalt gepflegt, erst in der letzten Zeit kam auch

') „G." war die letzte Liebe der Vestvali, doch konnte sie von ihrer langjährigen Freundin E. sich nicht trennen, es spielten da pekuniäre Verhältnisse mit, die zu lösen, Vestvali zu ehrenhaft dachte.

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Frl. E. gleichfalls zu ihrer Pflege, da die Beziehungen zwischen der Vestvali und der E. längst nicht mehr be- glückende waren, so vermochte sie dieselben doch nicht zu lösen, während ihr ganzes Herz der MG." gehörte. Dieser Zwiespalt drUckte die Vestvali sehr, obwohl sie die ganze Sache, wie vorstehender Brief zeigt, immer noch mit einem gewissen Humor behandelte. Mit welcher Liebe dies Frl. G. an der Vestvali ihrerseits hing, zeigt folgender Brief:

Lieber Horatio, mit Feli geht es immer schlechter; gestern den ganzen Abeud hatte sie so rasende Schmerzen im Rücken und im rechten Arm, daß sie laut stöhnte, dann leise wimmerte und Gott um Hülfe anflehte, daß Einem das Herz hätte brechen mögen. Die Arzte sagen nun auch, daß es die alte Krankheit sei und große Blutarmut. Und nicht helfen zu können, sein Liebstes auf so schaudervolle Weise zu Grunde gehen zu sehen. Sie will die E. kommen lassen und ich kann ihr nicht widerraten, denn es regt sie alles so sehr auf. Vielleicht also sehen wir uns bald in Berlin, lieber Horatio. Erschrecken Sie nicht, wenn ich frühmorgens bei Ihnen auftauche. Tausend Grüße von Ihrer G.* So wollen wir denn das Bild der Vestvali, welches wir hier in diesen Blättern entrollt haben, schließen. Sie war ein an Geist, Gemüt und Talent gleich hervorragender Mensch, und niemand, der je mit ihr in nähere Berührung gekommen, wird den Zauber ihrer Persönlichkeit ver- gessen. Die bestrickende Liebenswürdigkeit ihres Wesens lag wohl in der Natürlichkeit, mit der sie sich gab, denn trotz ihrer großen Erfolge, war sie frei von jedem Hoch- mut, förderte bereitwillig jedes aufstrebende Taleut, doch trat sie unnachsichtig jedem Nichtskönnen entgegen. Sie betonte nie ihre urnische Natur und darum fühlten sich auch Männer, die dieser Veranlagung durchaus abhold waren, durch ihre geistige Begabung zu ihr hingezogen

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und es bestand manch kameradschaftliches Band zwischen ihr und hervorragenden Vertretern des männlichen Ge- schlechts. Auf Frauen wirkte sie in geradezu fascinieren- der Weise und es würde weit über den Rahmen dieser kleinen Skizze führen, wollte man anführen, wie vielfach sie angebetet worden war. Jedenfalls gehörte Felicita von Vestvali zu den Ausnahme-Krscheinungen sowohl in der 'Kunst, wie im Leben, deren Eigenartigkeit nur von einem Kenner der Homosexualität verstanden werden kann.

Rosa Braunschweig,

die Verfasserin vorstehender Arbeit, in einer Offiziersrolle.

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Quellenmaterial zur Beurteilung angeblicher und wirklicher Uranier.

Zusammengestellt

von

F. Karsch

Dr. phil., Privatdozent in Berlin.

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Zweite Reihe.*)

„Es ist besser, in jeden andern, als in sich selbst verliebt zn sein." Jean Paul.

Auf die erste, drei der Geschichte angehörende Männer: Theodor Beza, Johann von Müller und Alexander von Ungern-Sternberg enthaltende Reihe angeblicher und wirklicher Uranier folgt hier die zweite Reihe, welche wiederum drei Mäuner, den Ver- fasser des »Eros14: Heinrich Hößli von Glarus, den Mörder seines Geliebten: Franz Desgouttes von Bern und den Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg: Emil Leopold August, außerdem aber noch eine der interessantesten tribadischen Gestalten der Neuzeit, die Opernsängerin Madame (genannt Mademoiselle) Maupin, darzustellen unternimmt.

Zwischen den drei männlichen Gestalten dieser Reihe besteht ein gewisser Zusammenhang. Als der einfache Mann aus dem Volke, der Putzmacher Heinrich Hößli von Glarus (1784 1864), als erster Kämpe unsrer Zeit- rechnuug im Jahre 1836 für die absolute natürliche und sittliche Berechtigung des gleichgeschlechtlichen Liebes- triebes mit allen Waffen des Geistes und mit mutiger Preisgabe seines Namens in seinem tiefgründigen wissen- schaftlichen Werke „Eros", 52 Jahre alt, in die Schranken

*) Erste Reihe in diesem Jahrbuche für sexuelle Zwischenstufen, IV. Jahrgang 1902, Seite 289—571 : 1. Theodor Beza (1519—1605) S. 291-349, 2. Johann von Müller (1752—1809) S. 349— 457 und 3 A. von .Sternberg (1806—1868) 8. 458—571.

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trat, hatte bereits dreißig Jahre vorher (1805) der deutsche Herzog A u g u s t ( 1772—1822), 33 Jahre alt, die Leidenschaft desselben Liebestriebs an einem anschaulichen, konkreten Beispiel als erster Novellist in seiner Novelle „Kyllenion" mit dichterischer Naivetät geschildert und darin die gleichgeschlechtliche Liebe als mit der gegengeschlecht- lichen Liebe vollkommen auf der gleichen Stufe stehend dargestellt. Den Rechtsanwalt Dr. Franz Desgouttes (1785 1817) aber, der nicht das Geringste von Bedeu- tung, weder für seine Zeit noch für die Nachwelt, leistete und dessen Persönlichkeit man kaum irgend etwas Rühmenswertes wird nachsagen können, unter den beiden obengenannten Männern einen Platz anzuweisen, erscheint absurd; insofern lag jedoch dazu ein Zwang vor, als seine Leidensgeschichte zum .Eros* Heinrich Hößli's den Anstoß gab.

Nur die Maupin (1673—1707) steht ohne Beziehung da. Sie gibt sich bei äußerlicher Weiblichkeit als einen Uebermaun, als eine überaus seltene Erscheinung, wie solche in mehreren Jahrhunderten wohl nur einmal vor- kommt; diejenigen Gelehrten und Ungelehrten, welche es für ihre Pflicht halten, in den Erscheinungen gleich- geschlechtlichen Liebestriebs nicht etwas Urwüchsiges, nicht etwas von der Natur durch die Allmacht der Vari- ation Gegebenes, sondern überall nur Degeneriertes, Ent- artetes zu sehen, werden diese Kraftgestalt für ihre Schwächenhvpothese zu verwerten schwerlich im Stande sein.

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4. Heinrich Höfsli (1784—1864)

(mit 5 Textbildern und 1 Kupfertafel)

„Findst da eine Wahrheit an deinem Wege, HUlflos und nackt und sonder Pflege, Viel Schriftgelehrte gehn vorbei, Du aber ihr Samariter sei."

Paul Heyse.

Die seit einigen Jahren in Deutschland erwachte und von Jahr zu Jahr gewachsene Bewegung zu Gunsten der Beseitigung des § 175 des geltenden Strafgesetzbuches befindet sich in der Lage, auf ein vor mehr als 60 Jahren in der Schweiz erschienenes deutsches Buch sich zu berufen, welches die gleichgeschlechtliche Liebe nicht als „widernatürliche Unzucht", sondern als eine in den ewigen Gesetzen der Natur begründete, zu Recht bestehende Erscheinung auffaßt und darstellt, den Glauben an deren Unnatürlichkeit mit dem Hexenglauben und die Ver- folgung der dieser Liebe Unterworfenen mit den Hexeu- prozessen auf eine Stufe stellt. Das Buch führt den Titel: „Eros. Die Männerliebe der Griechen: ihre Beziehungen zur Geschichte, P^rziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten* und den Untertitel: „Die Unzuverlässigkeit der äußern Kennzeichen im Ge- schlechtsleben des Leibes und der Seele. Oder: Forschungen über platonische Liebe, ihre Würdigung und Entwürdigung für Sitten-, Natur- und Völkerkunde* *); gewidmet ist

') Erster Band, Glarus, 1836, bei dem Verfasser, XXXIII und 304 Seiten. Zweiter Band, St. GaUen, 1838, in Kommission bei C. P. Scheitlin. XXXII und 352 Seiten in Oktav.

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es dem Schutzgeist des menschlichen Geschlechts." Das Buch hatte seine eigenen Schicksale: von der Behörde des Schweizerkantons, in dem es zum größten Teile gedruckt wurde, verboten, ward der Restbestand der Auf- lage bei einer Feuersbrunst vollständig vernichtet.

Was vom Leben und Streben, Wesen und Charakter des Verfassers dieses zweibändigen „Eros", Heinrich Hüßli, bisher bekannt geworden ist, beschränkt sich auf die im „Eros* selbst enthaltenen gelegentlichen Angaben; wir erfahren aber nur bitter wenig: Im Jahre 1817 fiel ihm die Binde von den Augen und 1819 reiste er mit Büchern bepackt von Glarus nach Aarau zu dem damals populärsten Schweizer Volks-Schriftsteller Heinrich Zschokke1), um diesen durch Zurede und Unterweisung zur Abfassung und Herausgabe einer aufklärenden Schrift über seine Idee des Eros oder der gleichgeschlechtlichen Liebe als Natur- und Sittengesetz zu veranlassen, weil er selbst „der Regeln der Schulen seines Landes" sich nicht kundig fühlte und daher sich nicht für geeignet hielt, als Schriftsteller aufzutreten und erfolgreich zu wirken. Wirklich erschien im Jahre 1821 aus Heinrich Zschokke's Feder eine Novelle im Druck „Der Eros oder über die Liebe" 2); hier läßt Zschokke den edlen Vater Holmar, Mitglied des Obergerichtshofes, die Erosidee Heinrich

') Joh. Heinr. Dan. Zschokke, geb. 22. März 1771 zu Magdeburg, gest. 27. Juni 1848 zu Aarau ; anfangs Schauspieldichter, seit 1792 Privat- dozent in Frankfurt, dann 1795 Leiter einer Erziehungsanstalt in Reichenau (Graubiindten), kam er 1798 als Deputierter nach Aarau, dem damaligen politischen Mittelpunkte der Schweiz, wurde Mitglied des großen Rats und ein fruchtbarer Volksschriftsteller. Als solcher zeigte er weniger kühne Genialität und theoretische Tiefe als Gesund- heit und praktischen Verstand.

*) Nach Höüli's Eros I S. 277 bildet der Eros von Zschokke das achte Heft von Zschokke's Erheiterungen, Jahrgang 1821, und erschien in seinen Ausgewählten Schriften als X. Teil, in den 1836 erschie- nenen Ausgewählten Novellen und Dichtungen als 14. Stück. Mir

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Hoßli's vertreten; allein die Bedeutung seiner Anschauung und seiner Beweisführung läßt Zschokke am Schlüsse des Ge- sprächs durch Holmar's Zugeständnis wieder abschwächen, daß er sich so gut irren könne, wie seine Gegner: „Die Natur*, läßt er ihn sagen, „hat in ihrem Buche viele dunkle Stellen; kein Wunder, daß die Ausleger von ein- ander abweichen." Solches war nun durchaus nicht in Heinrich Hoßli's Sinne; und im Innersten empört über die Halbheiten der Zschokke'schen Schrift, fand sein Geist keine Ruhe mehr und zwang ihm die Feder in die Hand. So kamen die beiden gedruckten Bände seines in drei Bänden geplanten philosophischen Werkes „Eros* zuStande, die er „unter Drangsalen und Rutenstreichen", jedoch mit unentwegter Begeisterung nach einem Zeit- räume von 17 Jahren vollendete; erst dann haben ihn Vertrauen und Hoffnung auf den Sieg seiner Idee, die als ewige Wahrheit ihn bis in seinen Tod begleitete, verlassen.

In Heinrich Hoßli's „Eros" pulsiert eine gewaltige Kraft, die nie versagt und sich nirgends erschöpft; er überzeugt, er reißt fort; er ermüdet nie; er scheut nicht Wiederholungen, wenn er wuchtig und eindringlich wir- ken will; und wirken will er; eigene Gedanken belegt er womöglich mit zahlreichen Stellen aus den Werken der hervorragendsten Schriftsteller aller Völker und Zeiten. Seine Idee vom Eros als Natur- und Sittengesetz beleuchtet er von allen Seiten und immer wieder neu mit anders- farbigem Licht. Aus den Schätzen aller Wissenschaften, aller Künste sucht er mit kundiger Hand geschickt hervor, was immer geeignet ist, erklärend und verklärend

UVgt nur eine spätere Ausgabe vor in: „Ausgewählte Novellen und Dichtungen von Heinrich Zschokke. Erster Teil. Mit der Abbildung von H. Zschokke's Landhaus: die Blumenhalde. Taschen- Ausgabe in zehn Teilen. Sechste vermehrte Original- Auflage." Aarau, Sauer- länder. 1813. Seite 231-292.

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für seine verachtete und verlassene Wahrheit zu wirken. Ein hohes Pathos beherrscht ihn und sein Satzbau flutet in oft gedehnten Perioden dahin; vom höchsten sittlichen Ernste getragen arbeitet er seine Ideen rastlos heraus und schreckt nie vor vielfältigem Ausdruck eines und desselben ihm fruchtbar erscheinenden Gedankens zurück. Heinrich Hößli's „Eros" ist nicht mit dem Kopfe allein geschrieben und darf nicht allein mit diesem beurteilt werden; er ist mit dem Herzen verfaßt und solche Bücher sind selten; selten müssen wohl auch Menschen sein, die solches zu Wege zu bringen fähig sind, und man ist beständig versucht, man glaubt ein Recht zu haben, Miß- trauen in Hößli's wiederholte Versicherung zu setzen, daß er die Regeln der Schulen seines Landes nicht gekannt, ja nicht einmal eigentlich lesen und schreiben gelernt habe. Seit des großen griechischen Philosophen Plato „Gastmahl* ') und „Phädrus* ist Heinrich Hößli's „Eros- das bedeutendste Werk über Männerliebe; was jene unsterblichen Schriften für das Altertum gewesen sein mögen, eben das bedeutet Hößli's »Eros* für die Neu- zeit oder wird es ihr noch bedeuten; mit vollster, bewußter Klarheit erkennt er die Liebe von Mann zu Mann als ein unzerstörbares Natur- und Sittengesetz und stellt dieses lichtvoll und allseitig mit höchstem sittlichen Ernste dar.

So war denn wohl der Wunsch selbstverständlich, über diesen einzigen, merkwürdigen Menschen, so lange die Möglichkeit noch vorlag, mehr in Erfahrung zu bringen, als das bescheidene Maß dessen betrug, was er selbst in seinem „Eros" über seine Person mitzuteilen für gut befunden hatte, und das Gefundene der drohenden Ver- gessenheit zu entreißen. Von diesem Verlangen beseelt,

') Deutsch von Schleiermaoher in Pb. Keclain's Universal- BiMiothek, Nummer 927 (20 Pfennig).

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unternahm Verfasser dieses im Herbste 1902 eine For- schungsreise in die Schweiz; das Glück war ihm hold; es ließ gar Manches sich noch feststellen und das Wich- tigste des Ermittelten tindet sich hier gewissenhaft zu- sammengetragen.

Angenehmste Pflicht wäre mir Nennung aller meiner Quellen, meiner Gewährsmänner und Gewährsfrauen. In Glarus und in Zürich gelang es mir, bejahrte Leute aufzufinden, welche mit Heinrich Hößli in persönlichen Beziehungen gestanden hatten und mancherlei über ihn und von ihm zu berichten wußten; auch jüngere, ihm näher oder entfernter Verwandte wußten Wichtiges, bald vom Hörensagen, bald durch Augenschein ; ihre Namen alle hier mitzuteilen, wird mir leider durch die Verhält- nisse verwehrt.

Die absolut genauen und zuverlässigen Angaben über Heinrich Hößli's und seiner nächsten Anverwandten in aufsteigender und in absteigender Linie, sowie seiner sämtlichen Geschwister Geburts- und Todestag, welche im allgemeinen Interesse mir geboten erschienen, verdankt man einzig dem überaus freundlichen Entgegenkommen des Herrn Polizeiinspektors J. J. Kublv-Cham in Glarus, welcher mit unermüdlicher, fast übermenschlicher Arbeitskraft eine ihrer Vollendung entgegenreifende, viele Foliobände füllende, kalligraphische, vollständige und übersichtliche Genealogie aller Glarner Leute ausarbeitet

Allen genannten und ungenannten liebenswürdigen Landsleuten des unvergeßlichen Heinrich Hößli, welche Anteil an diesem Biogramme haben, des Verfassers herz- lichster Dank!

I. Heinrich Hößli's äußeres Leben.

Heinrich Hößli wurde zu Glarus in der Schweiz im Hause 525 der Straße Innere Abläsch, im fünften Hause der Abläsch vom Landsgemeindeplatze aus, am 0. August

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1784 geboren; in diesem Hause hatte Heinrichs Vater, der Hutmachenneistcr Hans Jakob Hößli, sein Geschäft. Vorher war dasselbe Haus Eigentum des Besitzers Stein- müller gewesen, bei welchem die am 21. Juli 1782, also nur zwei Jahre vor Heinrich Ilößli's Geburt* als Hexe hingerichtete Anna Göldin gewohnt hatte, deren Hößli in seinem „Eros* gedenkt.1) Heinrich war seiner Eltern, die es auf nicht weniger als 14 Kinder 8 Mädchen uud 6 Knaben gebracht haben, viertes Kind und erster Sohn ; seine Mutter Margreth war eine geborene Vogel aus Glarus.

Sein ganzes Kindesalter scheint Heinrich in seiner Geburtestadt verlebt fu haben; erst als im Jahre 1799 die Russen unter dem General Suwarow*) die Schweiz und speziell Glarus heimsuchten und daselbst Hungersnot herrschte, gaben Heinrichs Eltern einige ihrer Kinder an andre Leute in der Schweiz; und so kam Heinrich nach Bern, wo er seine Handelschaft erlernt haben dürfte, später aber wieder nach Glarus zurück.

Am 5. Mai 1811 verheiratete sich der noch nicht siebenundzwanzigjährige Mann mit der Elisabeth Grebel von Zürich, des A dj utanten Rudolf Grebel Tochter ; das j unge Paar blieb aber nicht beisammen; Elisabeth lebte in Zürich weiter und Heinrich in Glarus; doch besuchte er öfter sein Weib und zeugte mit ihm zwei Söhne: den am 19. April 1812 geborenen Jakob Rudolf und den am 9. Januar 1814 geborenen Johann Ulrich, auf welche wir später noch zurückkommen werden.

In seinem bürgerlichen Berufe war Heinrich Hößli Putzmacher; er besaß einen ausgebildeten weiblichen Geschmack, den sogenannten Schick; in den zwanziger

') Eros von Höüli I. S. 62*)

5) Eine Gedenktafel kennzeichnet jetzt zu Riedern bei Glarus das Haus, in welchem der russische General Suwarow am 1. Ok- tober 175>9 Aufenthalt genommen hatte.

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Heinrich Hößli's Geburtshaus in Glarus auf der Abläsch,

vom großen Brande in der Nacht des 10. auf den 11. Mai 1861 verschont; nach einer photographischen Aufnahme im Januar 1903; links erblickt man den Gipfel des Glärnisch.

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Jahren des Jahrhunderts war er „die erste Putz- macherin* von Glarus; er war auch zeitlich der erste, welcher dort Damenhüte herstellte; diese lieferte er geleimt, nicht genäht, und er war so ganz bei seiner Arbeit, daß man im schwarzen Adler sein Mittagessen um 7 Uhr Abends noch unberührt neben ihm stehen fand. Er hat auch das erste „Trüböri", einen dreieckigen Hut, Napoleons- hut oder Dreimaster, verfertigt und eingeführt, die Kopf- bedeckung des Landammanns, des Souverains des Kan- tons Glarus, dessen Landgemeinde, was auch heute noch der Fall ist, am ersten Sonntage im Mai jeden Jahres zusammentrat. Auch dekorierte er mit einem Faltenwurfe aus grünem Stoffe die Kanzel der Kirche zu Glarus- Am württembergischen Hofe zu Stuttgart, woselbst sein Eheweib, die Elisabeth Grebel, als „höhere Hülfe" an- gestellt war, hat Heinrich Gardinen aufgesteckt, war er doch auch geschickter Dekorateur.

Weil Heinrich Hößli die Mode angab und Mode- waren verkaufte, so erhielt er den Spitznamen Modenhößli.

Aber Heinrich war nicht allein Putzmacher und Dekorateur, er war auch Handelsmann und lebte als solcher stets gut situiert und in durchaus geordneten Verhältnissen, sodaß er in Hinsicht seines Auskommens nicht LTrsache zu klagen fand. Ein offenes Geschäft betrieb er zuerst in der „Meerenge* zu Glarus im Gast- hofe zum schwarzen Adler (1827 1832); alsdann hat er eine Zeit lang dieses Geschäft aufgegeben und „im Sand* gewohnt, später aber wieder einen gut frequentierten kleinen Laden auf dem Kirch weg (Glarnerisch Kilchweg),1)

l) „Im Kilchweg auf den Wurzeln der alten Birn- und Apfel- bäume an einer Reihe von 20 neuen Häusern bewohne ich jetzt ein eigenes recht artiges Haus, das ich letzten Winter kaufte, schnurgrad Seckelmeister Dinners gegenüber mit freier fröhlicher Aussicht." (Brief vom 9. July 1842 an seine Schwester Regula Rehlinger in Kaiifbeuern.)

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Ecke der äußeren Zaunstraße am jetzigen Volksgarten, auf- getan. Hier handelte er mit Damenkleiderstoften aller Art, besonders englischen Ursprungs (bedruckte Indienne u. dergl.), aber auch mit Futter-, Bettzeug-, Vorhang- stotfen u. s. w., alles solider, praktischer Ware. Drei Häuser von seinem Geschäft wohnte ein ihm Zeit seines Lebens befreundet gebliebenes Fräulein Margaretha Brunner, die spätere Frau Präsident Vögeli-Brunner. Heinrichs Eigentum war auch das nahe seinem Ge- schäft gelegene Haus Ecke der Bärengasse, welches er seinem langjährigen Ladendiener und Neffen Jakob Kubli für 2500 Franken billig abtrat Im Kirch weg liquidierte Heinrich 1848, verkaufte sein Geschäft, wohnte zuerst auf der Almei als Privatier und führte alsdann bis April 1851 ein neues Geschäft auf dem Spielhofe im Löwen (Leuen). Zur Hülfeleistung im Geschäfte bediente sich Heinrich seines Neffen Jakob oder Jogg Kubli, der Margaretha Hößli Sohn, welcher von seinem zwölften Jahre an fast bis zum 30. Lebensjahre als Ladendiener bei dem Onkel aushielt und dessen bevorzugter Lieb- ling blieb.

Bald jedoch begann für Heinrich Hößli ein unruhiges Wanderleben; er verließ Glarus als dauernden Aufenthalt für immer und ließ sich zuerst in Stäfa am Nordufer des Zürichsees nieder, woselbst er im Mai und Juni im Stern und dann bis Oktober 1852 in der Mühle im Kehlhof wohnte. Von Stäfa zog es ihn nach Schmerikon am obem Ende des Zürichsees unweit der Einmündung der Linth; hier stieg er in der Krone ab und mietete gleich am 1. Oktober 1852 drei neben einander liegende Kammern beim Kronenwirt Franz Wenk; im November 1854 hatte er Wohnung beim Landammann Kriech; im Oktober 1855 machte er einen Abstecher nach Zürich und besorgte sich 1856 einen auf 12 Monate lautenden Paß nach Deutsch- land. 1857 siedelte er nach Lachen am Südufer des

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Zürichsees über, woselbst er im Gasthaus zum Ochsen ver- kehrte; aber schon im November 1858 finden wir ihn wieder im Kanton Glarus, in Mollis, am rechten Ufer des Escher Kanals; bis September 1860 hielt er sich in Vogelsang bei Winterthur auf, zog Ende Oktober 1860 nach Wülfingen nahe Winterthur, wo er seinen .fort- währenden Aufenthalt" bis April 1861 im Pfarrhause beim Pfarrer Freuler nahm, und zog von da nach Winterthur selbst, wo er zur Zeit des großen Brandes im Mai 1861, welcher halb Glarus einäscherte, weilte; bis Ende Juni wohnte er hier im gelben Ring an der Metzgasse, mietete am 29. Juni 1861 in S. Grüblers Haus den zweiten Stock und Platz für Holz, wofür er diesem vierteljährlich 60 Franken bei 8 Wochen vorheriger Kündigung zu zahlen hatte; den Monat November 1861 hat er in Haltli bei Mollis zuge- bracht; April 1862 hatte er Wohnung im Seidenhof, im Mai in der Steinhütte zu Winterthur und hier ist er im einund- achtzigsten Lebensjahre am 24. Dezember 1864 Morgens 97a Uhr nach kurzer Krankheit im Spital verstorben.

Seine beiden Knaben hat Heinrich Hößli nicht selbst erzogen, vielmehr tat dieses deren Mutter Elisa- beth Hößli-Grebel. Was über diese einzigen Nachkommen Heinrichs zu erfahren war, dürfte, so weit es für ihre Individualität charakteristisch ist, nicht ohne Interesse sein.

Heinrichs älterer Sohn Jakob Rudolf, kurz Jogg oder Jöggi genannt, wurde Ingenieur und wanderte nach Amerika aus; er hat sich daselbst verheiratet, blieb dann aber vollständig verschollen; sein Totenschein lautet auf den 1. Januar 1871; er war Erbe der gesamten Hinterlassenschaft seines Vaters; diese belief sich zwanzig Jahre nach Heinrichs Tode mitsamt den Zinsen auf etwa 28 000 Franken; lange Jahre, bis zur Teilung, verblieb das Vermögen im Waisenarate in Glarus. Vor seiner Auswanderung nach Amerika, wo er zuletzt in Otisco Onondago County, State of New- York, gelebt haben

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soll, war Jakob Hößli am Hofe des russischen Kaisers in St Petersburg beschäftigt gewesen und hatte für seine dortigen Verdienste vom Zaren ein Diplom erhalten. Er dürfte demnach durchaus nicht ohne Talente gewesen sein.

Heinrich Hößli's jüngerer Sohn Johann Ulrich oder kurz John, Heinrichs »lieber Hansi", „hatte des Vaters im „Eros" niedergelegte Anschauungen geerbt" ; er war als „Weiberfeind* bekannt, was ihn jedoch nicht hinderte, an seiner Mutter mit der innigsten Liebe zu hängen, seine Jugendfreundin Ammann als Universalerbin einzusetzen und mit vielen Damen sowohl in Amerika als in Europa in regem freundschaftlichen Verkehr zu stehen. Er wird als ein großer, schöner und intelligenter Mann von nobel- ster Gesinnung geschildert. Während des amerikanischen Krieges zwischen Nord und Süd hatte er in seine Schweizer Heimat aus New- York geschrieben, er habe Besitz genug im Norden, wenn dieser siegen sollte, und Besitz genug im Süden, falls jener unterliegen sollte. Sein erstes Vermögen erwarb sich John durch seine Ge- schäfte in „Dry Goods* in Galveston,dann spekulierte er in großartiger Weise in Bauterrains und zwar besonders in New- York. Sobald er jenseits des Meeres festen Fuß gefaßt hatte, ließ er seine Mutter nachkommen; Ende Mai 1842 trat er, fast zehn Jahre nach seiner Aus- wanderung, in Begleitung der geliebten Mutter von Texas aus »mit aller möglichen Bequemlichkeit* die erste Heim- reise an ; später aber kam er, da er die Mutter iu Europa zurückgelassen hatte, alle zwei oder drei Jahre in sein Heimatland und besuchte Mutter und Vater, mit welchem er in regelmäßigem Briefwechsel stand. Niemals unter- ließ er dann, bei der Familie Jakob Kubli's einzukehren, dessen jüngere Tochter Rosina Magdalena (Rosalina) sein Patenkind war. In Glarus traf er anfangs der vierziger Jahre auf der Straße vor dem Rathause einen weinen- den Knaben und fragte ihn voll Mitleid, warum er weine.

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Die Antwort des Bürschchens lautete, seine Mutter habe sich als Salzverkäuferin gemeldet, sei aber nicht gewählt worden und nun fehle es ihr und ihren Kindern am täglichen Brode. „Ich nehme dich mit nach Amerika, wenn du mit mir kommen willst", bot nun John dem weinenden Knaben an; hatte er doch schon vergeblich ein gleiches Angebot dem Jakob Kubli früher gemacht; dieser war aber zu ängstlicher Natur und überdies bereits Vater eines Sohnes geworden ; bei dem fremden Knaben Heinrich Rosenberger aber stieß Johu Hößli nicht auf Widerstand. Er schickte den Knaben in eine Fabrik bei Glarus und bevor er ihn nach Amerika mitnahm, beließ er ihn noch einige Zeit im Geschäfte seines Vaters in Glarus, damit er hier einige Wareukenutnisse sich an- eigne. In Amerika stand John mit dem jungen Rosen- berger in freundschaftlichem Verhältnisse; sie führten anfangs ein gemeinsames Geschäft, blieben aber nicht dauernd beisammen; Rosenberger wurde Schweizer Konsul in Galveston, blieb jedoch an Johns Geschäft beteiligt. Als John im Juni 1854 wieder in seiner Heimat weilte, entschloß sich die Mutter zum zweiten Male, dem ge- liebten Sohn nach Amerika zu folgen, wo sie 1858 starb. Der Sohn sollte die Mutter nicht lange überleben; am 11. Mai 1861 geriet das Schiff, welches ihn von Halifax (('anada) aus in die Heimat zum geliebten Vater tragen sollte, zwischen zwei gewaltige Eisblöcke, welche es mit allem auf ihm Befindlichen erdrückten. Die merkwürdige Geschichte zweier Testamente Johns, in welcher Hein- rich Rosenberger eine nicht wenig zweideutige Rolle spielte, muß hier übergangen werden. Als Haupterbin war im ersten Testamente von 1851 mit einem Vermögen von 20 000 Franken das Fräulein Ammann, eine Gold- schmiedstochter in Zürich, von John Hößli eingesetzt worden, weil dieselbe den beiden bedürftigen Knaben Hein- rich Hößli's und der Elisabeth Grebel, denen es mit

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ihrer Mutter oft recht traurig erging, viel Unterstützung hatte zu Teil werden lassen. Auch der Knabenanstalt Linthkolonie und Bilten im Kanton Glarus hatte John in diesem Testamente 20 000 Franken mit dem Bemerken vermacht, daß ein Teil der Zinsen zur Unterstützung für junge intelligente, nach Amerika auswandernde Söhne verwendet werden sollte.

Genealogie des Heinrich Hößli von Glarus.

1. Heinrich HößH's Eltern:

Hans Jakob HO Uli, Hutmachermeister, auf der Abläscb, Sohn des Tucbhandelsmanns und Ltfwenwirts Heinrich Hüßli und der Elisabeth Elmer, geb. 25. November 1758, gest. 18. September 1846.

Margret h Vogel von Glarus, Tochter des Meisters Johannes Vogel und der Margreth Ltitschg, geb. 11. August 1757, gest. 2. März 1831, kopuliert mit dem Vorigen 21. Juli 1780.

2. Heinrich HößH's Geschwister:

1781. 6. Januar: Anna Magdalene, ehelichte den Uhrmacher Bernhard Milt.

1781. 19. Dezember: Margaretha; ehelichte den Melchior Kubh*

von Glarus. 178a 26. März: EJisabeth . . .

1784. 6. August: Heinrich, siehe unter 3.

1785. 14. September: Barbara, ehelichte den Feldwebel Heinrich Tschudi von Glarus.

1786. 23. September: Johannes, gest. an der Schwindsucht 12. Juü 1793.

1787. 26. Oktober: Regula, gest. 27. März 1789.

1789. 4. Februar: Johann Jakob, wohnhaft in Chur.

1790. 12. Mai: Johann Ulrich, Hutmacher in Glarus.

1792. 30. Januar: Cosinus, gest. an den Blattern 28. März 1797.

1793. 4. März: Regula, ehelichte den Jonas Daniel Rehlinger von Kaufbeuern.

1796. 3. August: Verena, ehelichte den Hans 'Heinrich Gamper

von Stettfurt, Kanton Thurgau. 1800. 23. Februar: EUbeth, gest. an den Blatternll. August 1801. 1802. 6. September: Johannes, gest 2. Dezember 1802.

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3. Heinrich Höfiii jünger nebst Eheweib:

Heinrich Hößli von Glarus, Putzmaoher und Tuchhandelsmann.

Verfasser des „ErosM 1836,38, Sohn des Hutmachere Johann

Jakob Hößli und der Margaretha Vogel, geb. 6. August 1784,

gest. 24. Dezember 1864 in Winterthur. Elisabeth Grebel von Zürich, des Adjutanten Rudolf Grebel

Tochter, kopuliert mit Heinrich Hößli jünger am 5. Mai 1811.

4. Heinrich Höfili's Nachkommenschaft:

1812. 19. April: Jakob Rudolf, zuletzt in Otisco-Onondago County, State ol New -York, dann verschollen; sein Toten- schein lautet auf den 1. Januar 1871.

1814. 9. Januar: Johann Ulrich (John), nach Amerika aus- gewandert, * ertrank während einer Heimreise auf dem Ozean am 11. Mai 1861.

II. Heinrich Hößli's Wesen und Charakter.

Heinrich Hößli war von mittelgroßem Wüchse und erschien in Folge kurzer Beine von fast kleiner Gestalt; er war nicht schön, aber von gesunder Stärke; er hatte einen breiten Mund und trug das Gesicht glatt rasiert, das braune Kopfhaar struppig, ungepflegt, wild genial, indem er sich selten eines Kammes bediente. In seiner Erscheinung durchaus männlich ohne das geringste Weibi- sche, zeigte er ein Benehmen wie eine höfliche Frau und besaß ganz das Temperament seiner um ein Jahr jüngeren Schwester Barbara, der Ehefrau des Feldwebels Heinrich Tschudi, als Witwe unter dem Namen „Hebamme Hößli" in Glarus bekannt, von Heinrich zärtlich »Baby* genannt.1)

') Von Heinrich Htfüli als Mann in den mittleren Jahren habe ich ein Portrait nicht aufgetrieben. Die hier als Titelbild beigegebene Kupferradierung mit Autogramm beruht auf einer nach der Erinne- rung und unter Benutzung der Autotypieen des Jünglings und des Greises vom Zeichner Caspar MUUer in Glarus mit Bleistift ausge- führten Zeichnung. Caspar Müller bemerkt dazu: „Eine Charakte- ristik eines Bildes von HitUli liegt in dessen schwarzseidenem Hals- tuche, ebenso auch in diesem Hauskäppchen, das er sich immer selbst anfertigte."

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Auf der Straße vor dem Hause, am Brunuen, selbst in der Wirtsstube erschien Heinrich oft im Schlafrock; er zeigte sich stets freundlich und zuvorkommend gegen jedermann, besonders liebenswürdig gegen seine ausschließ- lich weiblichen Kunden, und pflegte wohlgefällig zu lächeln. Nie ist er Soldat gewesen. In Glarus war er Mitglied der Kasinogesellschaft und, gern gesehen über- all, galt er als Mann von Lebensart. Sein Geist war von außerordentlicher Lebhaftigkeit, unruhig, rastlos, sein Temperament nicht jedoch eigentlich sanguinisch. Daheim schlief er selten in einem Bett, sondern auf Matrazen mit einem Dutzend zusammengehäufter Leinentücher am Boden oder auf einer Kiste; diese Schlaf weise faud er sauber. Er fegte seine Zimmer selber aus, kochte seinen Kaffee selbst und säuberte auch eigenhändig sein Tafel- geschirr; zu seiner Freundin, Fräulein Brunner, die ein- mal bei ihm Kaffee trank und ihr Mißbehagen nicht überwinden konnte, äußerte er, sie solle sich nicht ekeln, er sei sehr säuberlich. In Heinrichs Geschäftsräumen sah es wohl recht unordentlich aus; die Ellenwaren hingen da oft wüst über den Ladentischen; selbst die Kasse für die Kupfermünzen stand offen da, so daß jeder hätte hineingreifen können. In Glarus gab es ein Sprich- wort: „Das ist eine Ordnung wie beim Hueter-Hößli." Auf diesem Mangel an Ordnung beruhte wohl auch vor allem ein gewisser Grad von Mißtrauen, der Heinrich stets fürchten ließ, bestohlen zu werden; man sagte ihm nicht nur nach, daß er überall Spiegel anbringe, um zu wissen, ob, wann und von wem er bestohlen würde, .sondern er tat dieses wirklich. Wurde er nun bestohlen, so gewahrte er es leicht und wußte sich dann ohne viel Aufhebens wieder in Besitz seines Eigentums zu setzen. Brillen hatte Heinrich wohl ein halbes Hundert und kaufte solche auch dutzendweise, jedoch fand er sie nicht am rechten Ort und zur rechten Zeit und während er

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Heinrich Hößli

als Jüngling von neunzehn Jahren nach einer anscheinend am II. Februar 1804 vollendeten Aquarellzeichnung.

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Heinrich Hößli

als Greis nach einer Daguerrotypie. Von sechs Personen, welche Hößli gekannt haben, ist mir bestä- tigt worden, daß dieses Bild den Verfasser des „Eros" „leibhaftig" darstelle, wenn auch gealtert und verbittert.

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zwei bis drei Stück auf der Nase hatte, suchte er solche gleichwohl in allen seinen Taschen. Auf Reisen verbarg er sein Geld in einem Strumpfe und versteckte es, wenn er irgendwo zu Besuch weilte, hinter einem Spiegel.

Auch in seiner Kleidung war Heinrich nachlässig und zerstreut; an einem Leichenbegängnisse nahm er einmal mit einem Stiefel und einem Pautoftel bekleidet teil und bemerkte das erst, als er sich schon im Zuge befand; ein andermal wollte er seinen Hut abnehmen, trug aber keinen auf dem Kopfe. Er gab nicht viel auf eigenen Kleiderputz und eigene Eleganz, wo es aber Andern daran fehlte, bemerkte er es sofort. Demunge- achtet zeigte er sich nicht ganz ohne Eitelkeit; stets trug er einen schweren goldenen Ring und eine goldene Uhrkette.

Der Gewohnheit des Rauchens hat Heinrich nicht gehuldigt, doch soll er einer Prise nicht abgeneigt ge- wesen sein.

Heinrich war ein wenig rechthaberisch, besaß eine nicht geringe satirische Anlage und konnte von göttlicher Grobheit sein; diesbezüglich weiß man in Glarus mancher- lei zu erzählen. Jedoch auch rührende Züge großer Gut- mütigkeit und reichen Gemütslebens werden von ihm berichtet. In Glarus pHegte Heinrich im Löwen auf dem Spielhofe zu speisen, da er in jenem Gasthofe, wie frü- her bei der gleichen Familie im schwarzen Adler, seinen Verkaufsladen und sein Logis im Erdgeschoß inne hatte. Zeitlebens stand er mit dieser Familie in aufrichtiger Freundschaft, welche sich auf deren Kinder übertrug; dieses Freundschaftsverhältnis war so bekannt, daß der jüngste Sohn des Löwenwirts, mit dem uud mit dessen Frau Heinrich stets freundschaftlich verkehrte und in regelmäßigem Briefwechsel stand, anläßlich seiner zum Tode führenden Krankheit in Wiuterthur von den Glarner Behörden kurz vor Hößli's Tode zum Vormunde

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und Liquidator seines Vermögens ernannt wurde. Für Heinrichs fast zarte Liebe zum hülflosen Tiere erlebte ein jetzt achtzigjähriger Greis in Glarus einen äußerst charakteristischen Fall. Einst kam dieser mit einem Freunde nach Lachen und traf im dortigen Gasthause zum Ochsen auch Heinrich Hößli an. Nach Tische lud dieser seine Ortsgenossen zur Besichtigung seines schön gelegenen originellen Ileimwesens ein; in der Wohnstube befand sich hier ein großer runder Tisch mit Büchern aller Art überlegt und mitten darin ein Vogelkäfig mit einem Kanarienvögelchen. Auf des Ortsgenossen Bemer- kung: „Sie halten also auch ein Vögelchen?" erwiderte Heinrich: „Ja, leider! Ich kann Ihnen damit den Beweis liefern, daß einer kein freier Mann ist, wenn er nur ein Vögelchen besitzt. Ich begab mich auf eine Reise, als mir unterwegs, da eben mein Schiff1 in Stäfa landete, plötzlich in den Sinn kam, daß ich mein Vögelchen zu füttern vergessen hatte. Was tun ? Um das Tierchen am Leben zu erhalten, mußte ich mit dem nächsten Schiffe wieder umkehren und die geplante Heise aufschieben."

Heinrich war ungeachtet mancher Fehler und Schwächen, wie solche wohl jedermann eigen sind, ein edler, ideal gesinnter Mensch. Ganz besonders stark war sein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt. Hörte er, daß man mit einem Steine oder dergl. nach einer Katze geworfen hatte, so brummte er: .Teufel auch! Wenn man die Menschen so hetzte wie eine Katze, so würden auch sie falsch und diebisch!" Eine seltene Willenskraft, welche weder durch die Ueberzeugung von der eigenen Unzulänglichkeit zurückschreckte, noch durch äußere Widerwärtigkeiten schlimmster Art lahm gelegt wurde, hat Heinrich durch die Herausgabe des zweiten Bandes seines „Eros* hin- länglich dargetan ; auch daß er seinem einmal ergriffenen Berufe treu geblieben, ohne je höher hinaus zu wollen, ungeachtet des Vorherrschens seiner Hinneigung zu an-

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gestrengter geistiger Tätigkeit, zeugt für seine intensive Willensstärke nicht weniger als verschiedene kleine, mehr augenfällige positive Züge seines Wesens, so z. B., daß er, wenn er am 1. eines Monats Zahnschmerzen hatte, mit Kreide an die Wand schrieb: Am 4. habe ich sie nicht mehr. Ueberhaupt schrieb er alle Wände voll mit allerlei Notizen, selbst über der Türe, so daß manche einfältige Leute glaubten, daß er ein halber Zauberer oder Hexen- meister sei, was ihn oft recht belustigte, uud in seinem Nachlasse fanden sich hunderte beschriebener Papier- schnitzel vor, zumeist geschäftlichen Inhalts. In seiner Einsamkeit gewöhnte er sich an, laut mit sich selbst zu sprechen.

Heinrich gehörte der evangelischen Kirche an, war aber vollkommen freidenkerisch und spottete freisinnig über Religionsbekenntnisse und „Pfaffen", ohne aber dabei im Geringsten Atheist zu sein; auf die Geistlichkeit hatte er einen gewissen scheinbar unversöhnlichen Haß geworfen, welcher jedoch sicherlich nur der von derselben vertretenen Sache, keineswegs der Person galt, wie seine Freundschaft mit mehreren geistlichen Herren, dem Pfarrer Freuler in Wülflingen, dem Pfarrer Speich in Glarus, genugsam beweist; diesem Hasse gab er auch durch Spott gelegentlich deutlichen Ausdruck; seine vertraute Freundin Fräulein Brunner, die er aus der Kirche kommen sah, fragte er höhnisch: „Nun, was hat der Herr Pfarrer gepregelt ?*, wo- rauf sie ihm erwiderte: „Wenn Sie so fragen, werde ich es Ihnen niet sagen". Heinrich spottete aber nur über die bigotte Geistlichkeit und „Pfaffenwelt" und deren oft eng begrenzten Horizont; und wenu er die Geistlichkeit zum Teil haßte, so war dazu wohl auch ein Grund der, daß manche Geistliche s. Z. sich hervortaten, damit der weitere Druck seines Buches „Eros" verboten werde. Wenn er vom Sterben und vom Tode sprach, so betonte er oft: Er werde dereinst ruhig vor den Richterstuhl

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Gottes treten, denn er habe stets nur das Gute gewollt und er hoffe, Gott werde ihm seine Irrtümer und Fehler wie allen sündigen und reuigen Menschen verzeihen.

Für alles Gute, Edle und Schöne war Heinrich stets begeistert; er schwärmte für Gesang, besonders für die Lieder des Sängervaters Hans Georg Naegeli von Zürich; auch war er ein aufrichtiger Freund der Natur und ein scharfsinniger Beobachter derselben.

Vermöge seiner hochentwickelten Intelligenz zeigte er sich auf keinem geistigen Gebiete verlegen; er konnte sich mit Künstlern und Gelehrten, unter denen er ver- traute Freunde besaß, unterhalten, obwohl er Schule nicht genossen hatte; und dieses war nicht nur die Meinung derer, die ihn dieses Vorzuges wegen zu beneiden Ursache hatten, sondern ebenso auch die Auffassung der gebildeten Kreise. Als Zeugnis dessen diene das nachfolgende in der Orthographie des Originals wiedergegebene Schreiben des Dr. Müglich an die Gräfin v. Bentzel-Sternau:

„Ihrer Hochgeboren der

Frau Gräfin v. Bentzel-Sternau gebornen Baronin v. Seckendorf

Mariahalden.

Gnädige Frau Gräfin.

Wenn ich auch sonst auser Berührung mit Ihrem edeln Hause bleiben solte, so nehme ich mir doch die Freiheit, mich zuweilen durch die Feder mit demselben noch in Verbindung zu sezen. So jezt. Herr Heinrich Hößli von Glarus wünschte auf einer Reise nach Zürich Ihre Gemälde zu sehen. Ich sagte ihm, Sie seyen so ge- fällig, ihm dieselben auch ohne mein Billet sehen zu lassen: er drang aber in mich und ich wilfahre ihm. Diser Mann ist mir äuserst merkwürdig erschinen. Er ist ein Autodidakt und ich mögte wohl sagen, ein Filosof, ob er gleich bürgerlich nur ein Puzmacher

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ist. Ich fürcht also nicht, daß Ihre Excellenz ihn so sarkastisch aufnehmen werde, wi Napoleon diStael, indem er si fragte, wivil kostet eine Elle der Spizen hir an Ihrer Halskrause?

Hochachtungsvol

Ihrer Excellenz ergebenster Diner Mollis, 1827. Dr. J. K. A. Müglich".

Und diese Auffassung von Heinrich Hößli's Geistes- art galt nicht nur zu der Zeit, als er noch am „Eros" arbeitete, sondern auch noch, als dieser längst er- schienen und verboten war, blieb sein Verfasser überall äußerst beliebt und jedermann hielt ihn für einen ge- scheidten Kopf. Er interessierte sich lebhaft für jeg- lichen Fortschritt; in den vierziger Jahren pflegte er be- züglich der Erfindungen seines Jahrhunderts zu äußern : „Es kommt noch so weit, daß man in den Hafenkübel hineinhockt und zum Fenster hinausfliegt." Eine be- sonders große Liebe war Heinrich zum gestirnten Him- mel eigen und kundig war er der Sterne und ihrer Bahnen, ihres Standes und ihres Erscheinens. Er war ein leidenschaftlicher Freund guter Bücher und hielt streng auf deren sorgfältige Behandlung; „Eselsohren" waren ihm ein Greuel; seiner vertrautesten Freundin, Fräulein Brunner, lieh er Werther's Leiden, weil er wisse, daß sie das Buch angemessen behandeln würde, er gäbe es aber nicht einem jeden. Aus dem Hause des Pfarrers Freuler zu Wülflingen ersuchte er noch am 22. November 1860, bereits über 70 Jahre alt, J. J. Siegfriede Buchhandlung und Antiquariat in Zürich um Zusendung von 37 wissenschaftlichen und dichterischen Werken aus dessen 127. Verzeichnisse; s/8 davon wolle er jedenfalls behalten, wahrscheinlich alle ; und er sendete 20 Franken Vorschuß ein. Seine erstaunliche Kenntnis

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der Literatur war seinen Freunden wohl bekannt; sie ließ nicht nach, als Heinrich die Fortsetzung seines „Eros" definitiv aufgegeben hatte; ein Brief des W. E. von Gonzenbach am Berg aus St. Gallen vom 24. No- vember 1854 hebt diese Kenntnis Hößli's und seine Liebe zur Literatur hervor.-1) Bei seinem Tode hinter- ließ er 8 Kisten mit Büchern. Heinrichs um sechs Jahre jüngerer Bruder Johann Ulrich, mit dessen weder lieb- reichem noch aufrichtigem Charakter sich Heinrich nicht zu befreunden vermochte, nannte ihn nur den „gefehlten Gelehrten".

Ein langjähriger Bekannter Heinrich Hößli's zeich- nete diesen mit den sechs Worten: „Er war Idealist Eros sein Steckenpferd."

Mit dem eingetretenen Greisenalter scheint nicht zum mindesten das trostlose Schicksal seiner Idee vom Eros an Heinrichs Herzen genagt zu haben; er galt mehr und mehr als Sonderling, wurde im Verkehr mit seinen Mitmenschen eher wortkarg als mitteilsam und äußerst vorsichtig und zurückhaltend in Rede und Urteil. Auch verfiel er auf Sonderbarkeiten, die bei

*) Von der Tiefe seines Interesses lür Philosophie und Dicht- kunst zeugt auoh die Tatsache, daß er aus den Vorlesungen an der Universität Zürich im Wintersemester 1853/54 nach der „Neuen Zürcher Zeitung", Nummer 238, Beilage, in seinem Notizbuch notierte:

„Philosophische Fakultät Prof. ord. Dr. H. A. Th. Kochly

1. Geschichte der griechischen Weltliteratur (der allge- meinen griechischen Literaturgeschichte zweite Hälfte) 4 Stunden.

2. Vergleichende Erklärung der Elektra des Sophokles und der Elektra des Euripides; 3 Stunden.

3. Ausgewählte Gedichte der römischen Elegiker; 3. St.

4. Uebungen der philologischen Gesellschaft (Erklärungen von Piatons Phädrus), unentgeltlich; 2 Stunden.

Anfang 31. Oktober."

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seinem sonst so ausgesprochen edlen Wesen nicht recht verständlich sind.

Ein glücklicher Mensch iit Heinrich Hößli nie gewesen. In einem Briefe an seine sehr unglücklich ver- heiratete Schwester Frau Regula Kehlinger geb. Hößli in Kaufbeueru, aus Glarus vom 9. Juli 1842 datiert, in welchem der 58jährige Mann schildert, der Vater sei noch so gesund wie ein junger Hirsch und die Brüder befänden sich in Wohlstand und ziemlichem häuslichen Frieden, findet sich der nachfolgende erschütternde Satz :

„Bei diesen1) Dingen aber kenne ich, liebe Schwester, das Leben und Schicksal der Menschen, ich darf wohl sagen, von allen seinen fürchterlichen Seiten. Meine Vergangenheit ist eine Reihe beinahe unaufhörlichen Un- glücks und Leidens; ich sehe mit Schaudern zurück; und wenn Du einmal hörst, daß ich auch den letzten Streit vorüber habe, so falle vor Dank und Freude nieder vor Deinem Gott*

Allein trotz dieser durch manches Bittere, das er erleben mußte, notwendig hervorgerufenen düsteren Stimmungen, die Heinrich nicht Herr über sich werden ließ, sah man ihn oft heiter und froh, besonders dann, wenn freudige Ereignisse in den ihm befreundeten Fa- milien eintraten oder wenn in den Zeitungen von einem weltbewegenden Fortschritte zu lesen war.

Als Rekapitulation und zugleich als Dokument aus der damaligen Zeit folgt hier der Nekrolog Hößlis im Republikaner.44

W i n t e r t h u r. (Einges.) Ende letzter Woche verschied hier im 83. 2) Lebensjahre ein auch in weitern Kreisen bekannter origineller Glarner, Namens Heinrich Hößli. Derselbe wurde im Jahre 17823) von unbemittelten

*) (d. h. Heinrichs Wohlstand betreffenden) e) Im 81. Lebensjahre nach Seite 1«>0 und 404. *) 1784 nach Seite 454 und 4G4.

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Eltern geboren, kam dann in den auch fürs Glarnerland so verhängnißvollen neunziger Jahren mit einem Transporte armer Kinder nach Zürich und später in ein Handlungs- geschäft in Bern.

„Im Anfang dieses Jahrhunderts eröffnete er in Glarus ein sogenanntes Putzgeschäft, das er mit Erfolg bis Ende der vierziger Jahre betrieb, und gab es damals wohl wenige Familien landauf und ab, die nicht mit dem Putzmacher Hößli verkehrten. Neben seinem Geschäfte hatte derselbe einen unermüdlichen Drang nach Wissen und Bildung und verausgabte auch einen großen Theil seiner Ersparnisse für Bücher und Schriften aller Art. In Folge dessen eignete er sich eine tiefe Denkungsart an und erhielt sein Geist einen philosophisch gelehrten Zug. Hößli stand s. Z. auch in Verbindung mit Zschokke und Troxler und erzählte stets mit Freuden, daß auf seine Eingebung hin jener den „Eros* in seine Novellen schrieb.

„Mit seinem selbstgeschriebenen Werke „Erosw hatte der Verfasser jedoch wenig Glück, indem der damalige Rath von Glarus dasselbe weiter zu schreiben1) verbot; immerhin wird dieses Buch, wie wir schon Gelegenheit hatten zu hören, vou sehr gelehrten Personen weit milder beurtheilt und sagten einst die Verleger selbst, daß frag- liches Buch von Laien meist nicht verstanden, dagegen oft von Literaten gekauft werde, um daraus zu schöpfen, und es bewundernswerth sei, wie es einem ungeschulten Manne möglich geworden, einen solchen Schatz von Ge- lehrsamkeit und eigenen neuen Ideen darin niederzulegen. *

„Nach Aufgebung seines Geschäfts in Glarus arbei- tete der Alte mit regem Interesse an einem dritten Bande seines Werkes2), um Unterlassenes nachzuholen und über-

l) Zu drucken, nicht zu schreiben, nach S. 450 u. S. 500 9) Dieser war von vornherein geplant nach S. 451 u. S. 477.

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haupt seine Idee verständlicher und klarer zu machen, konnte denselben jedoch nicht mehr beenden, indem er von seinem unruhigen Geiste stets hin und her getrieben wurde und ein wahres Wanderleben führte.

*

„Von Jugend auf ein Freund der Natur, fesselten ihn besonders die Gestade des schönen Zürichsees und so wohnte er oft in Glarus, dann in Stäfa, Richterswyl, Lachen, Mollis, wieder Glarus und endlich zog er nach Winterthur.

„Bis zu der Zeit, wo jenes in den Blättern veröffent- lichte eigenthümlicheTestament seines Sohnes „John Höß Ii aus New-York" ihm zu Ohren drang, blieb der Alte, seine angebornen Eigenheiten abgerechnet, immer heiter und froh und als guter Gesellschafter stets gerne gelitten ; seither war aber eine Veränderung an ihm wahrzunehmen, die ihu nach und nach körperlich und geistig zerstörte. Hößli behauptete nämlich immer und vielleicht nicht mit Unrecht, daß fragliches Testament nicht das richtige sei und noch ein anderes späteres Dokument existiren müsse.

„In der That klingt es etwas sonderbar, wie ein unver- heirateter Sohn, der ein Vermögen von beiläufig einer halben Million besaß, seinen alten, nicht sehr bemittelten Vater in seinem letzten Willen nur mit Fr. 5000 beden- ken und seinen einzigen Bruder ganz übergehen konnte, währenddem die Hauptsumme seiner damals schon seit vielen Jahren abgeschiedenen Mutter zukommen soll oder nach deren Tod einer ehemaligen Jugendfreundin des Erblassers, die außer der Familie steht. Um so mehr, da der Sohn seinen Vater einige Monate vor seiner Ver- unglückung auf dem Meere noch von seiner Ankunft unterrichtete mit der freudigen Mittheilung, daß er nun in der Schweiz zu bleiben und irgendwo einen hübsch gelegenen Landsitz zu kaufen gedenke, auf welchen er ihn dann zu sich nehmen wolle, um ihm den Rest seines un- ruhigen Lebens noch zu verschönern.

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„Hößli bemühte und härmte sich vergebens, dieses Dunkel zu lösen, es sollte ihm nicht mehr beschieden sein, diese Sache in klarem Lichte zu sehen.

„Er hat nun ausgekämpft mit der Welt, die ihn so oft mißverstanden. Ruhe seiner Asche!"

Aus: Der Republikaner. Zürcher Intelligenzblatt, Elfter Jahrgang. Nr. 1. Sonntag, 1. Januar 1805. Seite 2.

III. Heinrich Hößli's zweibändiger „Eros".

Den Entschluß zur Abfassung seines Lebenswerkes ,Eros* hat Heinrich Hößli erst einige Jahre nach dem Erscheinen der durch ihn angeregten Novelle „Der Eros oder über die Liebe* von Heinrich Zschokke (1821) ge- faßt; seine Erosidee aber, nachdem sie 1817 in Hößli's 33. Lebensjahre geboren war, hat ihn bis in sein Todes- jahr unablässig begleitet und ihn nicht früher Ruhe finden lassen, als bis er 1836 den ersten und 1838 auch den zweiten Rand gedruckt vor sich sah. Dann erst gab er den Plan, einen dritten Rand folgen zu lassen, auf und es blieben die zu demselben fertigen Kapitel ungedruckt, die auf ihn bezüglichen Notizen unfertig liegen.

Es dürfte nunmehr eine dreifache Aufgabe mir zu- fallen: erstlich den wesentlichen Inhalt der beiden ge- druckten, 721 Oktavseiten füllenden Rande und, soweit es sich feststellen läßt, auch den geplanten Inhalt des dritten, ungedruckt gebliebenen Randes in möglichster Gedrängtheit wiederzugeben; alsdann den Werde- gang und das Schicksal des „Eros" zu verfolgen; und drittens dem Leser einige der bedeutendsten Stellen des Eroswerkes unverkürzt vorzuführen, Stellen, welche die geistige Redeutung Hößli's hervortreten lassen und entweder durch die Eigenartigkeit oder durch den Reich- tum der Gedankeu oder aber durch ihre Kraft oder

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ihren individuellen Ausdruck für die Denkweise und die Schreibart Hößli's charakteristisch sind.

1. Der wesentliche Inhalt von Heinrich Hößli's „Eros".

Versuchen wir, den Erosinhalt unter Vermeidung aller subjektiven Phraseologie aus dem an allgemeinen Gedanken und eigenen Gesichtspunkten, besonders in den Vorreden zu beiden Bänden, überreichen Buche rein herauszuschälen, ohne uns streng an den Gedankengang des Werkes zu halten.

Eine außergewöhnlich fürchterliche Hinrichtung, die des Doktors der Rechte und Bürgers von Bern Frauz Desgouttes,1) der 1817 seinen Schreiber und Liebling Daniel Hemmeier ermordete und dafür gerädert wurde,2) hatte bei ihrem Bekanntwerden in Hößli die noch schlummernde Empfindung der Notwendigkeit einer aufklärenden Schrift über die den alten Griechen als Natur bewußt gewesene, der Neuzeit jedoch als Unnatur dunkle und mit schweren Strafen bedrohte Knaben- oder Männerliebe geweckt. Hößli schmerzte es als das unerträglichste aller Leiden, zahlreiche seiner Mitmenschen ohne jede Schuld unaufhörlich von den Gesetzen bedrängt zu sehen.3) Die Liebe zu den Lieb- lingen hatte er aus seinem durch vieljährige Prüfung4) erlangten Wissen und durch seine von der Literatur be- stätigte und bestärkte Ueberzeugung5) als eine von der

') Ueber ihn handelt das folgende (5.) Biogramm dieser Quellen- materialien. Hößli's Eros handelt Uber ihn I S. IX, S. XVI, S. 61 u. S. 278 ; ferner II S. 53, S. 212—213, S. 225, S. 239, S. 263—264, S. 279, S. 327*) und S. 351.

«) Darüber in Hößli's Eros 1 S. IX; S. XVI; S. 61; S. 278; Eros II S. 53; S. 212-213; S. 225; S. 263-264; S. 279; S. 327*); S. 351.

*) Eros I S. XXIII— XXIV. 4) Eros I S. XXIX.

A) Eros I S. XXV-XXVI.

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Natur geforderte, reine, einfache, ewige, unwandelbare, sittlich berechtigte Naturerscheinung längst erkannt.1)

Diese Natur, die gleichgeschlechtliche Liebe, kann als Naturerscheinung zum Laster, zum Verbrechen führen,1) braucht es aber nicht notwendig. Solche Eigenschaft hat sie mit der zweigeschlechtlichen Liebe gemeinsam und ebenso wie diese beruht sie auf geschlecht- licher Anziehung.8) Sie ist aber, obschon sie ihre Wur- zeln im Erdreiche hat, auch zugleich göttlichen Ursprungs und sie ist vom Schöpfer für höhere Zwecke, gleich der zweigeschlechtlichen Liebe, bestimmt.4) Dieserhalb ist sie auch, wie diese, der Veredlung, der Vergöttlichung, der Idealisierung nicht nur fähig, sondern bedürftig.*) Die der Männerliebe zu Grunde liegende Natur zeigt über- all sowohl die weiblichen als die männlichen Hauptzüge und Eigenschaften der Seele und des Gemüts mit allen ihren mannigfachen Kräften und Stimmungen in sich vereinigt,6) derart, daß die bloß äußerlichen Kennzeichen des Geschlechtes, welche für die Bezeich- nungen „Mann" und „Weib" maßgebend sind, für das Geschlechtsleben des Leibes und der Seele nicht den Ausschlag geben.7) Genau so wurde die gleichgeschlechtliche Liebe von Plato und den alten Griechen überhaupt aufgefaßt und von ihnen nach Möglichkeit veredelt, vergöttlicht und idealisiert.8} In der griechischen Kunst ist auch der Gegenstand der Männerliebe durch jungfräuliche Männlichkeit, die nicht weibische Mannheit ist, zur Darstellung gebracht9)

Ganz anders in der Neuzeit. Alle jene Wahrheiten hat man völlig vergessen und daher müssen sie von

') Eros I S. 35. 2) Eros I S. 148; II S. XV— XVI; S. 240. *) Eros II S. XVI; S. 36—36: S. 295—296. *) Eros II S. 29—38. ») Eros II 8. 24-25. «) Eros II S. 299-301. Eros I S. 44; II S. 16—53. *) Eros I S. 120 ; II S. 194-195 u. öfter. •) Eros II S. 325.

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neuem bewiesen werden.1) Zwar haben in neuerer Zeit drei deutsche Schriftsteller, von Ramdohr, Meiners und Zschokke, die der Neuzeit dunkle Sache aufzu- klären versucht,*) allein ihre Auffassungen sind nur halb wahr und daher auch halb unwahr.8) Diese unsere Neu- zeit übersah ganz den göttlichen Ursprung der gleich- geschlechtlichen Liebe; sie vereitelte den Plan des Schöpfers, verhinderte ihre mögliche Veredlung, drückte sie in den Sumpf hinab und führte sie so naturnotwendig zum Laster und zum Verbrechen [bei Desgouttes], ent- göttlichte sie, anstatt, gleich den Griechen, sie zu ver- göttlichen.4) Individuen, deren äußere Kennzeichen als unzuverlässig für das Geschlechtsleben ihres Leibes und ihrer Seele sich erwiesen, gab es stets, bei allen Völkern und zu allen Zeiten, B) solche gibt es auch in der Gegenwart ; von ihrer Gefährlichkeit spricht jedermann so halblaut, gerade so wie unsere in Gott ruhenden Väter von den Hexen geredet haben.0) Man kann sie nicht nennen, ohne sie zugleich dem Verderben durch unsere Henkersanstalt preiszu- geben, und man ist genötigt, auf Stimmen und Zeugen, die derMenschhcitsgeschichte angehören, sich zu beschränken.7) Als solche Stimmen und Zeugen führt Hößli in 42 Nummern, fast 100 Seiten füllend, Dichtungen und Aussprüche, die gleichgeschlechtliche Liebe betreffend, aus allen Zeiten und von allen Völkern stammend, auf.8) Iudem das Christentum die Tatsache der Unzuverlässigkeit der äußeren Geschlechtskennzeichen übersieht,9) bemüht man sich, andere Erklärungen für die Erscheinung, die man weder leugnen, noch aus der Welt schaffen kann, aufzufinden; sosoll die Ursache der gleichgeschlechtlichen Liebe bald Schönheitssinn, bald

«) Eros I S. 44. 3) Eros I S. 275—280. *) Eros I S. 66. •) Eros I S. 116—119; S. '272. ft) Eros II 8. 43—44. ö) Eros IL S. 18i>. ') Eros II S. 44; S. 172. <) Eros II S. 53—150. »)Eros II S. 161.

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Ausartung, bald Willkür oder Selbstbestimmung, bald bloß griechische Liebe sein, bei uns aber weniger oder gar nicht mehr vorkommen, bald soll sie ein Laster wie andere, bald bloß ein Heidenlaster, ja selbst Knaben- schändung sein : allein alle diese Erklärungsversuche siud nur untergeschoben1), und gegenüber der auf geschlecht- licher Anziehung beruhenden, gegenüber der reinen, naturnotwendigen, der Veredlung fähigen gleichgeschlecht- lichen Liebe sind sie hinfällig.

An und für sich wäre die Liebe zu den Lieblingen nicht ein so bedeutender Gegenstand, daß ein dreibän- diges aufklärendes Werk über sie brauchte geschrieben zu werden; allein bei den irrigen Vorstellungen, welche das falsche Christentum der Neuzeit von ihr hat, wird sie dazu gestempelt.8) Der Naturforscher, der Erforscher der Wahrheit, hat nicht danach zu fragen, ob durch die erkannte Wahrheit und ein dieser entsprechendes Aufgeben falscher Vorstellungen geltende Sitten-, Natur- und Uechts-Lehren und -Begriffe in Trümmer fallen, da er nur einen Richter, die Natur, über sich anerkennt; was durch Naturwahrheit gestürzt wird, war nicht selbst Natur und kann nur durch Vernichtung der unschuldigen Natur mit Gewalt aufrecht erhalten werden.3) Das über die Ausübung der gleichgeschlechtlichen Liebe gesetzte Ge- richt unserer Zeit ist die größte Unrechteanstalt auf der ganzen Erde.4) Auch ist es eine unmenschliche Scham, zu glauben, daß ein diesen so dunklen Gegenstand aufklärendes Buch dem Christentum irgend welchen Schaden stiften könne.5) Wer sich Erzieher, Aver sich Lehrer nennt und den nicht kennt, nicht kennen will, den er erziehen, den er lehren soll, führt einen Spottnamen und ist in Wirk- lichkeit nur Barbar oder Halbmensch.6)

') Eros II S. 214—269. *) Eros I S. %. ») Eros I S. 172-173 *) Eros I S. XXV. ») Eros I S. XXXII. «) Eros II S. 274-275 Jahrbuch V. 31

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Hößli gibt im 2. Bande des „Eros" 1838 seiner be- sondern Befriedigung darüber Ausdruck, daß er in dem 1837 erschienenen Drama «Die Freunde" von Wiese schon so bald nach Ausgabe seines 1. Bandes (1836) eine Unterstützung seiner Bestrebungen fand.1)

Tch lasse nun eine einfache Inhaltsübersicht des Eroswerkes folgen, welche den Besitzern desselben gewiß nicht unwillkommen sein wird, da eine solche dem AVerke fehlt und Gesuchtes ohne solche nicht leicht auf- findbar ist.

Inhalt des ersten Bandes:

Dem Schutzgeist des menschlichen Geschlechts S. V X.

Einleitende Worte als Vorrede S. XI XXXIX.

Erster Abschnitt: Hexenprozeß und -glaube, Pfaffen und Teufel als würdiges Soitenstück zu dem Wesen unserer Meinungen und Begriffe vom Eros der Griechen, wie er in seinen Folgen und Einflüssen mitten in unserm Leben waltet S. 1— (274 statt) 30.

Zweiter Abschnitt: Wahn und Wahrheit, Aberglaube und Unwissenheit, unsere Meinungen und Begriffe vom Eros der Grie- chen, unser Irrglaube an eine Zuverlässigkeit der äußeren Kenn- zeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele S. 31 72.

Dritter Abschnitt: Deutungen des Charakters der Mensch- heit zu allen Teilen und Bestimmungen ihrer geistigen und leib- lichen Natur S. 72$ 92.

Vierter Abschnitt: Nähere Bezeichnungen und Bestimmun- gen der Aufgabe dieses Buchs und des Unterschieds zwischen uns und den Griechen in Betreff des Eros, oder der Natur, der An- sichten und der Behandlung der Liebe zu den Lieblingen, wie unseres Glaubens an eine (nicht vorhandene) Zuverlässigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele, in sittlicher, moralischer und anthropologischer Hinsicht und . Be- ziehung S. 93—112.

Fünfter Abschnitt: Das Wesen der menschlichen Ge- schlechtsliebe (Erfahrungen und Glaubensbekenntnis) S. 113 154.

Sechster Abschnitt: Natur S. loa 174.

Siebenter Abschnitt: Plato S. 175—192.

») Eros II S. 327**).

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Achter Abschnitt: Leben und Wissenschaft der Griechen in der Idee der Männerliebe und die späteren Zeiten außer derselben

S. 198—238.

Neunter Abschnitt: Unsere Schriften und Schriftsteller über die Liebe des Plato, welche Resultate geben sie uns, was leisten sie uns filr das Studium der Griechen, des Geschlechtslebens und des Eros und was die Schriften der Alten für Wissenschaft und Leben? S. 239—304.

Verbesserungen (Druckfehler) 2 Seiten.

Inhalt des zweiten Bandes:

Verbesserungen (Druckfehler).

Einleitende Worte als Vorrede und Fortsetzung derjenigen im ersten Band S. I— XXXI L

Erster Abschnitt: ■) Die Zuverlässigkeit der äußern Kenn- zeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele ist Wrahn; platonische Liebe nach unHern Begriffen: ein Hirngespinst; die M&nnerliebe der Griechen: reine und unwandelbare Natur S. 1 352.

Stimmen und Zeugen: 1. Bejli Hassau S. 53 65; 2. FLavius Philostratus S. 55—56; 3. Des persischen Dichters Sadi 5 Blumen S. 56—57; 4. Hornz S. 58: 5. Hiero, Simonides u. Xenophon S. 59—61; 6. Griechische Anthologie S. 61—64: 7. Agesilaus und Xenophon S. 64—66; 8. Zeugnis der männlichen Liebe «ms Persien. Sechs Dichtungen, verdeutscht von v. Hammer S. 66 71 ; 9. Xenophon undSokrates S. 71—73; 10. Apollodor S. 74; 11. Valerius Maximus und Ephialtes S. 74 75; 12. Mohamed Ferdi (aus dem Türkischen übersetzt von Thomas Schabert) S. 75—78; 13. Aristoteles S. 78; 14. Sokrates und Plato S. 79; 15. Monla Abdul Latin" mit Scheich Elwan Schirasi S. 79—80, Ssubhi (Brnssa) S. 80—81 und Bassin (Herat) S. 81—82: 16. Anakreons Grab S. 82—88; 17. Schejch Kuscheni, Saadi Tschelebi und Ssaji S. 88—93; 18. Der Divan des Mahomed Schemsed- Din Hafis (nach v. Hammer) S. 93—95; 19. Tibull's 4. und 9. Elegie S. 95— 99; 20. Erasistratus und Plutareh S. 99—104; 21. Perikles, Sophokles und Valerius Maximus S. 105: 22. v. Hammer s Zueignung des persischen Divans an den Grafen v. Harrach und drei von ihm übersetzte Oden aus demselben S. 105—109: 23. Plato und sein Zeitalter S. 109—110; 24. Arian. Alexander und Aelian S. 110—112; 25. Xenophon (Ana-

') .Per /w< iu? Barnl rscheint durch Zufall nicht in »«•omK-n* Ali»clinitte tieordncl." Hüßli : Kr.* II. S. 44.

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basis 2. VI) S. 112—114; 26. Sadi (Rosengarten, nach v. Rara- dohrs Venns Urania IV. S. 25) S. 114—115; 27. Virgil (zweite Ekloge) S. 110 118; 28. Lucian im Eingang seines Gespräches: Das Schiff oder die Wünsche 8. 118—121: 29. Ishak Tschelebi S. 121—122, Ussuli S. 123 nnd Affitabi S. 123—124; 30. Ahmed Pascha S. 125—126; 31. Theokrits siebente Idylle S. 126-129: 82. Antinous und Hadrian S. 129: 83. Morgenländische Stimmen und Zeugen der platonischen Liebe S. 129—131 ; 34. Die Insel der Liebe (von Herder aus dem griechischen) S. 182; 85. Griechische und römische Geschichte (Aelianus und Athenaus) S. 132 bis 133; 36. F. W. B. von Ramdohr, Uber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. 3. Bandes 1. Abteilung, 12. Kap. S. 134 135; 37. Persische Stimmen und Zeugen S. 135 bis 136: 88. Theokrits Idyllen S. 136—141; 39. Ahmed Daji, Dichter aus dem Lande Kennjan in Kleinasien S. 141; 40. Xenophon im Symposion S. 141—143; 41. Durch v. Hammer Ubersetzte kleine orientalische Dichtungen S. 143—148; 42. Plutarch S. 148—150.

Die Mannerliebe der Griechen war weder A: Schön- heitssinn S. 215—219, noch B: Seelenliebe S. 219—224, noch C: Ausartung S. 224—226, noch D: Willkür, Selbstbestimmung S. 226 bis 234, noch E : bloß griechische Liebe S. 234—287, auch ist sie F: nicht bei uns weniger oder gar nicht vorhanden S. 237—239, noch G: ein Laster und Verbrechen wie andere S. 239—264, noch H: bloß « in Heidenlaster S. 264, noch I: Knabenschandung S. 264—269.

Für den dritten Band des „Eros" waren außer der Leidensgeschichte Desgouttes' von Hößli die folgenden

fünf Kapitel geplant:

1. Die Bedeutung und Heiligkeit der Gesehlechtsnatnr, physisch, psychisch und intellektuell, die innerhalb ihrer Schranken möglichen Gefahren und Entwürdigungen und was an ihr zu bilden oder zu zerstören ist (nach Eros II. S. XII und S. XV).

2. Die besondere gleichgeschlechtliche Gesehlechtsnatur, jetzt unterdrückt und verwahrlost, bleibt trotzdem vorhanden und ab- solut wirksam (nach Eros II. S. 343—314).

3. Der grolle und unabwendbare Einfluß des jetzt verworfe- nen Teils der Geschlcchtsliebo (der gleichgeschlechtlichen) auf alle Gebiete des Lebens mit besonderer Kücksicht auf den körperlichen Punkt (nach Eros II S. VII und S. 316-317).

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4. Versittlichung der Männerliebe; der Lichtkreis, in welchem uns künftig alles Rätselhafte, Rechtliche und Unrechtliche, Sittliche und Unsittliche, kurz, der ganze Geist, die Moral und Idee des Eros und der Lehren des Plato aufgehen wird (nach Eros II S. XXIII und 8. 342—343).

5. Was hat die Religion aus dem Eros zu machen und die diesem Versuche zu widersprechen scheinenden Bibelstellen (nach Eros II 8. 351 *).

2. Entstehung, Werdegang und Schicksal des „Epos".

Als Heinrich Hößli 1817 bei Bekanntwerden der Ermordung des unglücklichen Bureauschreibers Daniel Henirneler durch die Hand des nicht minder unglücklichen Rechtsagenten Dr. jur. Franz Desgouttes in Langenthal die „Fesseln dieser Zeit um seinen Geist" sich lösen fühlte, war er 33 Jahre alt, schon 6 Jahre Ehemann und bereits Vater seiner beiden begabten und später so unternehmungs- lustigen Söhne geworden. In seinem überaus empfäng- lichen, allem Unrecht abholden Gemüte verschmolz mit dem lodernden Zorne, in welchen er durch den ihm überall entgegentretenden Mangel an Erkenntnis der Natürlichkeit und Naturnotwendigkeit der gleich- geschlechtlichen Liebe geriet, der Unmut über den von der Geistlichkeit seines Landes geduldeten, wenn nicht gar genährten Aberglauben an Hexen, dereu letzte, Anna Göldin, in Heinrichs Geburtshause zu Glarus ge- lebt hatte und kurz vor seiner Geburt durch Menschen- hand vom Leben zum Tode gebracht worden war, zu einer in seiner Seele gewaltig kochenden Empörung. Die völlige Verständnislosigkeit seiner Zeitgenossen für das nach seiner Ueberzeugung auf der gleichen Stufe mit der zweigeschlechtlichen Liebe stehende Problem der Liebe zu den Lieblingen war im Falle Desgouttes wieder einmal grauenvoll an das Tageslicht getreten. Hößli zermarterte sein Gehirn mit dem Versuche, in unwiderleglicher Dar- stellung der Welt zu zeigen, wie sie in Hinsicht ihrer Verfolgung der Erscheinungen gleichgeschlechtlicher

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Liebe Doch völlig demselben ßnstern Aberglauben ver- fallen, in einer analogen Wahnidee befangen sei, wie die Welt des früheren Jahrhunderts bezüglich der Hexen. Aber noch fühlte Hößli sich nicht reif für ein wirksames eigenes Unternehmen, noch fehlte ihm die Kraft, ein Werk zu schaffen, das um ein Jahrhundert den Zeit- genossen vorauseilen sollte, noch vermochte er nicht, seine Gedanken so zu sammeln und zu sichten. Es kam ihm der Einfall, einen seiner Meinung nach würdigeren Mann, als er selber war, zum Mundstück seiner Ideen zu gewinnen. Er schrieb nun einen Aufsatz „über Ge- schlechtsverhältnisse* nieder und suchte 1819 Heinrich Zschokke in Aarau auf, um ihn außer durch Uebergabe seines Aufsatzes auch mündlich zum Schreiben über seine Idee für den Druck anzuregen. Der damals als Lehrer der Philosophie in Luzern tätige, Hößli befreundete Troxler1) übernahm es, Hößli bei seinem Duzfreunde Zschokke einzuführen; Abends spät traf er mit Hößli in Aarau ein und beide suchten noch am selben Abend Zschokke in dessen Laudhause, der Blumenhalde, auf. Schon im Gange rief Troxler seinem Freunde Zschokke seinen Gruß entgegen und fügte hinzu: „Ich bringe Dir hier einen halben Gelehrten," worauf dann Zschokke schlagfertig erwiderte: „Entweder ist's ein ganzer Ge- lehrter oder ein Narr!" Von dem Empfange bei Zschokke teilt Hößli in seinem „Eros"2) mit, daß jener ihn als Fremd- ling mit großer Güte und Gastfreundschaft aufgenommen und behandelt, auf seine Ansicht hingegen, seiner eigenen

l) Ignaz Paul Vital Troxler, geb. 11. Aug. 1780 zu MUnster hu Kanton Luzern, wurde von Jesuiten erzogen, widmete sich kurze Zeit der praktischen Medizin, ergab sich dann ganz seiner Lieblings- wissenschaft, der Philosophie, und war nacheinander Lehrer der- selben in Luzern und Hasel und Professor der Philosophie in Bern. Seine „Metaphysik" hat Heinrich Hößli in seinem „Eros" benutzt.

*) Hößli: Eros 1 S. 278.

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vielen allbekannten Arbeiten, Amtsgeschäfte und Lieb- lingsforschungen wegen, äußerst wenig Zeit verwendet habe. Als Zschokke's sehnlichst erwarteter „Eros" 1821 erschien, sah Hößli sich um so bitterer getäuscht, je mehr er sich von ihm versprochen hatte; er erkannte voll- kommen die Vergeblichkeit seines Schrittes. BIhra be- wies ich" heißt es in Hößli's handschriftlichem Nach- lasse — »mit meiner Reise und Mittheilung die größte Achtung, das größte Zutrauen, eigentliche Verehrung . . . In meinem Aufsatz hat es ganz offenherzig Desgouttes geheißen, was Herr Zschokke in Lucasson verwandelte . . . Ich erstarrte gleichsam über diese Schrift (Eros), in der Holmar meistens raeine eigenen Worte ausspricht da- mit die Anderen ihn widerlegen können, verlor meinen Glauben an Mensch und Wahrheit und nahm mir vor, zu schweigen und zu sterben. Jahre vergingen und nun rufen Stimmen von außen und innen ... Die männ- liche Natur und Liebe nicht entmannte in solcher Gestalt theilte ich meine Idee Herrn Zschokke mit und vorn in seinem Gespräch scheint's, als wolle er nichts Castriertes zum Besten geben aber auf einmal muß das Geschlechtliche weg und das Verstümmelte an dessen Stelle, aber da erkenne ich meine Wahrheit in Herrn Zschokke's Gewand nicht."

Um den ganzen Ingrimm Hößli's gegen Zschokke's Schändung seiner Eros-Idee zu verstehen, müssen wir Zschokke selbst zu Worte kommen lassen.

Heinrich Zschokke's Novelle „Der Eros oder über die Liebe** kennt von urnischen Liebespaaren Dämon und Pythias, Achilles und Patroklus, Orestes und Pylades, Theseus und Pirithous, Harmodiuä und Aristogiton, Epaminondas und Kaphisodor, Sokrates und Alcibiades, Jonathan und David, Jakob I. von England und Bucking- ham, Lucasson und Walter (erdichtete Namen für Franz Desgouttes und Daniel Hemmeier); von Urningen macht

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die Schrift namhaft: Heinrich III. und Ludwig XIII. von Frankreich, Pabst Julius II. und Lord Byron. Bei vielen schiefen Auffassungen erscheint als wichtigste Stelle der Passus Menschenkenner"1), welcher als eine Art Selbstbekenntnis Zschokke's, zum mindesten aber als em Bekenntnis Zschokke'scher Auffassung des Uranismus anzusehen ist. Hier erklärt er die Liebe zwischen Per- sonen einerlei Geschlechts für eine Zauberei, mit welcher der vermummte Amor ein Herz schlagen macht, das sich selbst noch nicht versteht; es gebe wohl wenige Männer von gefühlvoller Gemütsart, welche nicht auch als Knaben von irgend einem andern hübschen Knaben stärker denn von allen andern sich angezogen fühlten und diesem mit einer fast leidenschaftlichen Zuneigung anhingen, welche sie nachher nie wieder in dieser Art gegen Personen ihres eigenen Geschlechts em- pfänden. Er erinnere sich eines solchen Zuges aus seinem eigenen Kindesalter. Daher stamme die lange bleibende Sehnsucht nach einem Freunde, wie man ihn sich gern träumt und nie findet, besonders im Ungestüm der Jünglingsjahre, wo mancherlei Verhältnisse noch vom nähern Umgang mit Frauenzimmern entfernt halten oder noch keine weibliche Schönheit den Sieg über uns errang. Daher die überspannten Begriffe sowohl bei jungen Männern als bei Jungfrauen, welche sie von der wahren Freundschaft zwischen Personen einerlei Ge- schlechts hegten. Die mancherlei Verhältnisse aber, welche vom nähern Umgang mit Frauen entfernt halten, sind nach ihm diese: Der wildere Knabe spiele am liebsten mit seines Gleichen und plage das kleine Mädchen, weil es immer etwas voraus haben wolle oder weine. So bleibe er immer von diesem entfernt; als werdender Jüng-

J) Zschokke: Der Eros, Ausgabe 181», S. 281—281, siehe S. 151 Fuünote.

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ling nicht minder, denn teilweise reife er viel später als die Jungfrau, teils zerstreuten ihn Anstrengungen und Arbeiten auf dem Felde, in den Werkstätten, in den Schulstuben. Und wann im Jüngling die dunkle Sehnsucht des Herzens heller werde, trete er scheu vor dem andern Geschlecht zurück, sei es, weil ihm der Zwang lästig sei, welchen er seiner ungebundenen, noch knabenhaft-rohen Art in Gegenwart fein gesitteter Frauenzimmer auflegeu müsse; oder weil er im Gefühl einer gewissen Unbeholfen- heit, die dem Alter eigen sei, welches Jean Paul das der Flegeljahre heiße, blöde und scheu dastehe; oder weil er stark und besonnen genug sei, zu begreifen, daß er auf seiner erwählten Lebensbahn noch mit keinem Ernste an irgend eine Liebe denken dürfe ; oder weil ihm bei seiner eigentümlichen Sinnesart der Umgang mit Weibern, wie sie ihm bisher erschienen, nicht zusage. Während so vom andern Geschlecht mehr oder minder willkürlich sein Herz entfernt bleibe, verstumme die Stimme der Natur in diesem Herzen nicht. Sie rede der Freund- schaft das Wort für irgend einen Liebling und erhöhe diese mit Leidenschaft zu irgend einer Schwärmerei, von deren Ursprung es sich selbst nicht Rechenschaft zu geben wisse. Je entschiedener und standhafter die Denkart des Mannes sei, um so dauerhafter werde seine Neigung; je weniger befriedigend diese neben seiner ewigen Sehnsucht stehe, um so stürmischer, alles über- wältigend werde die Zuneigung, welche zuletzt sein ganzes Wesen so verzehre, wie die unglückliche Liebe eines Werth er oder Sieg wart oder eines Mädchens ver- zehrend werde, das hoffnungslos um den Geliebten seufzt. AVenn es bei uns in Europa möglich sei, daß junge Männer von der Sehnsucht ihrer von ihnen selbst ver- gessenen Natur sich irre führen lassen: um wie viel leichter sei es im alten Griechenland gewesen, wo die Scheidung beider Geschlechter schärfer als bei uns

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gezogen gewesen wäre; dort hätten mehr und längere Zeit als bei uns Männer ausschließlich mit Männern gelebt; in Werkstätten, Schauspielen, Bädern, auf Märkten und Feldzügen hätten sie meistens nur sich gesehen, während die Weiber in den Gynäceen verschlossen mit Vätern, Brüdern, Verlobten und Ehemännern umgingen. Alle Wissenschaft, alle Kunst, alle geistige Bildung sei das Gut des Mannes gewesen, während das Weib auf das Treiben im engen, häuslichen, ruhmlosen Leben und auf die Kunst des Putzes beschränkt geblieben sei. Daher hätte sich früh die Achtung des Mannes dem Mann zu- gelenkt, während das durch die bürgerlichen Ordnungen stiefmütterlich versäumte Weib selten oder nie durch Hoheit des Gemütes und durch Reichtum geistiger Bildung bleibendes Wohlgefallen hätte erregen können. Die vergängliche Schönheit der Jungfrau, ihr schwäch- liches Wesen seien des heldensinnigen Griechen und seiner Leidenschaft für Ruhm und Vaterland unwert gewesen. Seine Neigung hätte sie daher nur auf kurze Zeit und nur, weil sie Weib war, fesseln können. Dauer- hafter und genußreicher hätten die Freundschaften der Männer unter einander sein müssen, oft durch gegenseitige Hülfe, oft durch gleiche staatstümliche Ansichten, bürger- liche Bestrebungen und andere Interessen gestärkt. Denke man sich noch hinzu: die Schwärmerei der Jugend, das Fernstehen vom weiblichen Geschlecht, den Zauber des Schönen für den allem Schönen aufgeschlossenen Sinn des Griechen. Es sei nicht zu leugnen, daß im Antlitze eines schöuen Jünglings weit .seelenreichere Züge sprächen und mehr Heldenmut, Hochgefühl, Zärtlichkeit und Schwärmerei uns darin anrede, als im Gesicht des schönsten Mädchens, weil jener schon früh seine Leidenschaft offen spielen lasse, die dann seinen zarten Mienen die ersten Spuren eingrabe, während das Mädchen mit sittiger Klugheit ihr Innerstes verhehle und gerade das Gesicht,

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statt zum Spiegel, nur zum Schleier ihres Gemütes mache. Die erste Liebe des Jünglings und der Jung- frau sei in ihrem Streben heilig, alles vergöttlichend und voll Grauen vor roher Tierheit. Anschauung und schweigende Anbetung und ein beseligendes Er- widern des liebebekennenden Blickes seien ihnen höch- ster Genuß; der bloße Gedanke an einen Kuß sei schon Entweihung und frevelvolles Vergehen am Heilig- tum. Diese gegenseitigen Vergötterungen zweier Lie- bender hätten ihren Ursprung im allgewaltigen Gebot der Natur, deren Zepter alle beseelten Geschöpfe wissend oder unwissend gehorchten. Plato, Xenophon und Plutarch, die Gesetzgeber und die Dichter Griechenlands erwiesen die angebliche Heiligkeit ihres Eros unverkennbar als Selbsttäuschung. Er entspringe bei Einzelnen wie bei Völkern zwar aus der Verirrung des Naturtriebes; doch sei die gleichgeschlechtliche Liebe rein und erhaben, wie immer die erste und wahrhafte Liebe; aber zuletzt gehe bei Einzelnen und Völkern diese Liebe ekelhaft aus. Alle Weisen hätten die herrschenden, selbst üblen Sitten ihrer Nation nur mit sorgsamer Umsicht berührt und, wenn sie nicht hoffen konnten, dieselben auszurotten, nur getrachtet, dieselben vom Unflat zu reinigen und zu adeln, oder sie zu Stützen und Unterlagen des Edlern zu machen. Je länger er über diesen Gegenstand denke, je schauderhafter sei ihm der Gedanke, Griechenlands Gesetzgebung in dieser Hinsicht zum Muster zu nehmen.

Uber solchen „Verrath" konnte Hößli sich nicht be- ruhigen; sein handschriftlicher Nachlaß enthält darüber bündige Belege: „Hätte Herr Zschokke damals nur seinen

Holiuar und nicht alles reden lassen es gilt hier nicht

einen Menschen; es gilt hier tausend und tausend Men- M-hendasein und eine unumwundene, schlichte, einfache? nicht gekräuselte Wahrheit, unabänderliche, feste, ewige Naturerscheinung und nicht eine in allen Fahnen und

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Fähnchen gezierte Meinung, es gilt tausend und aber- mal tausend Menschendasein . . . Ich wage nicht zu sagen, daß die Liebe eine Krankheit sei, wage auch nicht zu behaupten, daß sie keine sei doch ist sie eine gebä- rende Gährung der menschlichen Wesen sie ist eine gewaltsame, in unsrer Natur wirkende Kraft und es wird wohl kein Moment im Kreislauf des Menschenlebens geben, in dem alles Inuere der Menschennatur sich le- bendiger offenbarte, als in der Liebe mögen wir sie für Krankheit oder für Gesundheit halten, und darumist die Liebe zu kennen auch von dieser Seite wichtig . . . Ich theilte früher meine Ansicht dem Verfasser mit, und, wie es scheint, hat er solche seinem Holmar in der Ab- sicht, mich zu widerlegen, in den Mund gelegt; und doch sind Holmar's Reden die Wahrheit und diese zu suchen uud retten zu wollen ist Menschenpflicht und Menschen- beruf, da allervörderst, wo es unmittelbar um die Rettung oder die Schändung von tausend Mitmenschen zu thun

ist. Meine Idee sie ist mein Kind, von

den innersten Falten des Lebens habe ich sie geboren, ohne ihr damals Obdach und Kleidung, Heimath und Pflege zu wissen ; das arme Kind trug ich mit Vertrauen und Thränen zu ihm aber er entließ es zur unglück- lichen Schaar der Heimatlosen nackend und kalt . . . wäre Holmar je einer gewesen, so wäre er's noch und wäre er's jetzt, so wäre er's immer gewesen . . . daß er es noch bis zu diesem Verrath fortsetze, das habe ich nicht gedacht aber Z. gewiß auch nie, wie gleichgül- tig er mir ist dieser Verrath und wie zwecklos von ihm denn gesetzt, ich sei selbst oder ich sei es nicht so gleich als zwei Wassertropfen so gleich wie blondes oder schwarzes Haar u. s. w."

Indem Hößli sich diese Gleichgültigkeit einredete, brachte er es fertig, an Zschokke nachfolgendes Schreiben zu entwerfen:

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„Glarus im Juny 1820.

„Verehrungswürdiger Herr!

„Ich habe vor etlichen Jahren meine Freude, Sie kenneu gelernt zu haben, meinem Freunde, dem Herrn Pfarrer Speich, nicht verborgen. Er kommt jetzt, im Begriff, nach Aarau abzureisen, zu mir, daß ich ihn Ihnen empfehlen möchte, wenn Sie ihm Rath geben könnten, eine Pfründe in Ihrem Canton zu erhalten, seine hiesige beträgt nur f. 350, was zu wenig ist. Wenn er nicht so still und recht und fromm sein ganzes bis- heriges Leben seiner jetzigen Gemeinde gewidmet hätte ohne Tadel, so würde ich gewiß nicht wünschen, daß Sie ihm Rath ertheilen möchten. Er hat mich über- rascht, ich weiß ihm jetzt nicht zu entgehen, kein schicklicher Vorwand stellt sich mir dar, so verwegen es ist, Ihnen nach Ihrem letzten Schreiben wieder mit einem Briefe beschwerlich zu sein. Vergeben Sie mir! Es soll Jahre lang nicht wieder geschehen .... und hier noch das allerletzte Wort des Eros halber . . . . Vor etlichen Monaten erst habe ich zu meinem Er- staunen eingesehen, daß ich geradezu eine Sache ver- theidigte, deren Dasein in der Natur ich nur be- weisen wollte, ich bin mit sammt der Thür ins Haus gerannt, dunkel ahnend, daß Gutes lieber gehört werde als Böses, und schöner sei, dem Guten das Wort zu reden als dem Bösen u. s. w. so ist, was ich schrieb, eine Art Apologie geworden, mit der ich mir Ihr Schreiben zugezogen habe. Piaton beschreibt genau die Natur der Männerliebe, er schildert und glaubt sie, wie ich sie geschildert habe und ewig glauben muß, aber der göttliche Plato lehrt, wie das Thierische dieser Natur überwunden werden soll er will for- schen, er will reinigen, bilden, gerecht sein, erziehen, erheben, nicht ersticken, nicht wegwerfen, nicht un-

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gehört verdammen, nicht verwahrlosen; wirkliche Na- turen, die unter seinen Augen stehen, nicht leugnen, ihnen sagen: „Ihr seid nicht," aber wie durch des Geistes Macht sie sich vom Staub erlösen sollen, lehrt sie sein himmlischer Geist, der es nicht könnte und sich auch nicht dazu gedrungen fühlen würde, wenn er an ihrem Dasein gezweifelt hätte. Das, was Ihr Schreiben meine Hauptidee nennt, verachtet Piaton, wie Sie es verachten, und schreibt ebendeßhalb seine Er- lösungslehre von derselben. In Ihrem Eros aber sehe ich jene Naturen bezweifelt nicht angenommen und ich, indem ich das Dasein einer Sache erweisen wollte, schrieb eine erbärmliche Apologie derselben, was ich, gegeißelt durch Ihr Schreiben, mit Scham und Reue einsehen gelernt habe. Dagegen habe ich aber dennoch eine der jetzigen Welt, selbst Ihnen und Herrn Doktor Troxler unbekannte Wahrheit laut und rein und ohne Scheu und ohne Furcht ausgesprochen und ver- diene von dieser Seite her keine Verachtung. Zwar bis auf weiteres schweige ich und keinem Freund und keinem Bruder wird darüber sich mein Herz aufthun; ich habe das meinige gethan das ist süß! und sehe, was die Menschheit ist, das ist bitter!!

„Ueber die im Xenophon (der die Frauen liebte) angestrichenen Stellen darf ich der Weitläufigkeit wegen, die Sie mir nicht vergeben würden, nicht ein- treten, was mich Ueberwindung kostet. Aber beweist nicht die kürzeste derselben streng das, was ich eigent- lich will, nämlich, Liebe sei ihrer Natur nach nicht Freundschaft beim Homer und Freundschaft nicht Liebe sie lautet also: Achilles rächt den Tod des Patroklus nicht als den Tod eines Lieblings, sondern eines Freundes. Und was sind die Lob- reden auf des Sokrates Keuschheit ohne das Dasein dieser Liebe, welcher auch der Liebhaber des herr-

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liehen Dichters Agathon sogar in ihrer ungereinigten Sinnlichkeit eine Lohrede gehalten hat, welche Xeno- phon zwischen von mir angestrichenen Stellen aus- schwatzt."

„Ich schließe mit dem innigsten Wunsch, daß Sie und Ihr theures Haus gesegnet sei und stets ge- segnet bleibe, und mit der Bitte, daß Sie mir groß- müthigst alles vergeben, und mit der Versicherung meiner unveränderlichsten Hochachtung

Herr Cantons Rath

Dero ergebenster Diener.*

Mit Sicherheit geht aus dem obigen an Zschokke gerichteten Schreiben Hößli's hervor, daß dieser im Juni 1826 die begreifliche Scheu, mit seiner Idee selbst schrift- stellerisch hervorzutreten, noch nicht überwunden hatte und der mutige Entschluß zu seinem „Eros" damals noch nicht von ihm gefaßt war ; und doch war er bereits 42 Jahre alt. Den Zeitpunkt, in welchem diese Wandlung in seiner Seele vorging, habe ich nicht ermittelt.

Als Heinrich Hütiii zu Anfang der dreißiger Jahre am „Eros" arbeitete, wohnte er auf dem Spielhofe im „süßen Winkel" beim Schlossermeister Andreas Stüssi. Die Gedanken an seinen Gegenstand beschäftigten ihn derart, daß er Schiefertafeln und Kreide mit in's Bett nahm, um deren über Nacht entstandenen Inhalt am nächsten Morgen zu ordnen und abzuschreiben; auch schrieb er im dunkeln Hinterzimmer des schwarzen Adler seine Ideen, so wie sie ihm kamen, um sie nicht aus dem Gedächtnisse zu verlieren, mit Kreide an die getäfelte Wand; er spannte eine Schnur an der Wand aus, um beim Schreiben in der dunkeln Stube die Linie innehalten zu können; Licht anzuzünden verschmähte er, vielleicht, weil im Dunkeln die Gedanken reichlicher und ungestört ihm zuflössen.

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Vom 11. Dezember 1834 bis über den 13. Juli 1835 hinaus stand Heinrich Hößli, damals im schwarzen Adler zu Glarus wohnhaft, in Unterhandlung mit dem Buch- händler Fr. Schultheß in Zürich bezüglich des Druckes seines „Eros". Er hatte sich erboten, 200 Franken zu zahlen oder die Hälfte der Druckkosten für die beiden ersten fertigen Bände tragen zu wollen gegen Ueber- lassung der Hälfte der zu druckenden Exemplare. Die Verhandlungen liefen aber zunächst ohne positives Er- gebnis aus, indem die Schultheß'sche Buchhandlung an Heinrich Hößli schon unter dem 31. Dezember 1834 schrieb: „Wir bedauern wirklich sehr, Ihnen hinsichtlich derVerlagsübemahme eine ablehnende Antwort ertheilen zu müssen, denn obgleich wir den Werth der Schrift vollkommen anerkennen und den Fleiß des Verfassers bewundern, so können wir uns doch nicht überzeugen, daß der Absatz der Schrift mit den Kosten des Druckes im Verhältnis sein werde." Auf der Rückseite des Schreibens der Firma steht von llößli's Hand vermerkt: „20 Bogen würden höchstens 30, vielleicht nur 25 Ldors. kosten". Später jedoch betraute dieselbe Firma einen Freund, „einen Geist-, nicht Buchstaben-Philologen", mit der Durchsicht des Hößli'schen Manuskriptes zu den bei- den ersten Bänden ; und da der vorsichtige Freund, be- vor er ein Urteil fällte, auch noch das Manuskript zum dritten Bande zu sehen wünschte, so erbat sich die Firma unter dem 13. Juli 1835 auch dieses, erhielt es aber nicht, da es noch nicht fertig war. Endlich schrieb die Schultheß'sche Buchhandlung auch noch an den Buchdrucker Cosmus Freuler in Glarus, nachdem dieser von Heinrich IJößli mit dem Druck des „Eros" beauftragt worden war: „Hinsichtlich des Werkes des Herrn Hößli möchte ich Ihnen rathen, vorsichtig zu sein, indem ich nicht glaube, daß der Debit die Druckkosteu decken könne; ich habe dies dem II. Verfasser mehrmals ge-

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sagt und ihn von der Herausgabe abzunehmen gesucht.

Aus dem gleichen und noch einem andern Grunde müßte ich es ablehnen, daß meine Firma auf den Titel gedruckt werde und ich mich des Absatzes im Auslande annehme, der ganz gewiß auch mehr Kosten als Ein- nahme nach sich zöge.*

Bevor Hößli sein Manuskript der Buchdruckerei Freuler übergab, wünschte er dessen Durchsicht von Seiten eines Gebildeten; er wählte zu diesem Behufe den Lehrer an der Elementarschule zu Glarus Burghard Marti; dieser jedoch wies Hößli's Ansinnen zurück. Da- gegen übernahm diese Revision bereitwillig der Lehrer an der Sekundärschule zu Glarus Gottlieb Strässer

Noch während des Druckes des ersten Bandes seines „Eros* erhielt Hößli durch den Studenten der Philosophie Joh. Christ. Tschudi aus Zürich Anfangs Juli 1836 von diesem erbetene Bücher zugesendet mit dem brieflichen Vermerk: „Es wird überflüssig sein, zu bemerken, daß Sie in Platon's Symposion, das ich gerade in der Ur- sprache durchlese, bedeutende Materialien zu Ihrer

') Gottlieb Strässer wurde 1801 zu Remscheid geboren, war bis J852 Lehrer an der Sekundärschule zu Glarus, einer vier- klassigen Realschule, welche von den jungen Leuteo, nachdem sie diej Elementarschule im 12. Lebensjahre absolviert, im 18. besucht wurde, und kam von da nach Aschaffenburg, woselbst er erkrankte, von seinen ehemaligen Glarner Schülern durch eine freiwillige Kollekte unterstützt wurde und am 23. Juli 1862 arm verstarb; er war eine Zeit lang auch Vorsteher der ehemaligen „Evangel. Lan- desbibliothek" in Glarus, welche jetzt im Gerichtshanse unter- gebracht ist; hier wird ein Manuskript aufbewahrt des Titels: „Quellen zur Glarnergeschichte. Mit Vorrede von G. St. 1845. Mit Nachträgen von Peter Leuzinger. Fol." In diesom Manuskripte fin- det sich die Notiz: „IL Hößli f 1864. Verf. d. Eros, die Männer- liebe der Griechen. Der größte Theil wurde seiner Zeit confiscirt."

Dieso Notiz brachte mich erst auf den richtigen Weg, um wel- chen von den zahlreichen Heinrich Hößli von Glarus es hier sich handelt.

Jahrbuch V. 32

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Schria finden- ein Beweis, daß Hößli für ihn frucht- bare Hülfe zu finden verstand, daß man seinen Wert zu schätzen wußte und daß es ihm an entgegenkommen- dem Verständnis nicht fehlte. Erst im Dezember 183G hatte des „Eros" erster Band die Presse- verlassen und konnte versendet werden; hierüber Aufschluß gibt ein Schreiben des H. Dietrich Schindler aus Mol Iis vom 20. Dezember 1836, welcher das ihm zum Kaufe ange- botene Exemplar mit dem Bemerken zurücksandte: «Ich las nur einige Abschnitte und halte es nach diesem für einen interessanten Versuch, über einen in mannigfacher Hinsicht wichtigen Punkt mehreres Licht zu verbreiten oder zur weiteren Untersuchung Veranlassung zu geben." Hößli's reine Freude über das gelungene Werk bezeugt folgendes Fragment seines Schreibens an einen Unge- nannten (wahrscheinlich Troxler):

„Aber ob wir dies Denkmal unter eines Galgens schauderhaftem Schutt zu errichten Pflicht hatten oder nicht das entscheide der Genius der Menschheit der Geist wahrer Religion.

„Was Sie, Freund der leidenden Menschheit, hier empfangen, hatte bei den Griechen nicht gefunden werden können; es sind Resultate jener und späterer Zeiten und ich schreibe über ein Verkennen und dessen Folgen und über eine Unwissenheit, die Griechenland nicht um- nachtet haben. Die Humanität der Griechen und das spätere Versinken unsers Geschlechts haben nur vereint mir diesen Blick in's innere Menschenthum geben können.

„Ich zweifle nicht, daß, wenn ich hier die Erzeugungs- und Fortbildungs-Geschichte meiner Idee beschrieben hätte, auch sich mein Endzweck sicherer gefunden haben würde. Aber das wäre der Arbeit für Jahre genug und in einer Lage wie die meine nie möglich.

„Wenn das, was ich hier Gott weiß wie hingeschrie- ben habe, zu überzeugen hinreicht so ist mein Triumph

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der größte eines Sterblichen, man hat nur alsdann einen Maßstab für ihn, wenn man glaubt, daß ich mit meinem Leben der Menschheit diese Wahrheit kaufen wollte. Sie steht in ihrer Himmelshoheit vor mir, aber ich vermochte keinen Zug in seiner Majestät von ihr zu geben und Winke sind es nur und Wünsche. Ob sie verstanden und erfüllt werden können oder nicht? Im letzt ern fFall hab* ich die schwere Pflicht erfüllt meinen Schlaf und Schweiß und vieles noch zum Opfer dargebracht und mich ver- senkt in alle Dunkel einer Menschenseele wegen der ewigen Wahrheit und der namenlosen Dulderin, der Mutter und ihres Sohns am Rad. Jetzt thun Sie das Beste ich weiß es die Seele eines edlen Mannes umarmt eine Welt. Im erstem Fall ertrüg ich ihn ? vermag ich ihn zu denken? empfing noch vor dem Tode der Dulderin des Sohnes gebrochenes Bein ein Friedhof? Und meine Lehre schrieb ich besser hin ein anderes Denkmal der erlösenden Wahrheit und der Völkertugend Griechenlands.

„Zu unsrera Gebäude ist die Naturlehre das Funda- ment, hier sind zwar noch roh durch einander geworfen, die Materialien dazu, weihen Sie! den Eckstein ein so bau* ich fort der Entwurf zu einer Sitten- und Bildungs lehre ist da. Diese zwei letzteren Theile werden erst, was jetzt noch roh und frucht- und planlos scheint, erklären.

„Wäre es vielleicht ein Scherflein auf dem Altar Griechischer Weisheit, wenn Herr Professor Daünecker, den ich zwar nie gesehen habe, aber wegen seines Eros1) um ein Urtheil über meine Idee gebeten würde?

„Soviel ich noch zu sagen hätte, muß ich schließen. Gott segne Ihr Thun, Wohlthäter der Menschheit! Ich bin mit tiefster Hochachtung Ihr Verehrer."

') Heinrich Hüüli: Eros I S. 296.

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Allein sein Glück sollte dem Verfasser des „Eros" bald vergällt werden. Denn kurz nach dem Er- scheinen des ersten Bandes, am 13. Januar 1837, wurde Heinrich Hößli auf Veranlassung des Evangelischen Rates von der Kanzlei der Regierung von Glarus eingeladen und aufgefordert, von seiner Schrift „Eros", dessen 1. Band nebst den bereits gedruckten Bogen des 2. Bandes ein- zureichen der Buchdrucker Freuler als Verleger schon beauftragt wäre, den ganzen Rest des Manuskriptes zum 2. Bande umgehend ,zu geeignetem Gebrauche* zu übermitteln.1) Hößli scheint der Aufforderung auch nachgekommen zu sein, aber zugleich eine Rechtfertigung seines Buches versucht zu haben, indem er dem Evange- lischen Rate seine Meinung nicht vorenthielt. Zeugnis dessen sind in seinem handschriftlichen Nachlasse be- findliche Papiere mit Bemerkungen, welche nicht wohl

') Das Schreiben lautete:

Herrn Heinrich Hößli, Handelsmann, Dahier.

Glarus den 13ten Jänner 1837.

Im letzten Evangelischen Rathe wurde die von Ihnen dem Druck übergebene Schrift, betitelt „Eros oder Männerlieb e" besprochen und uns von demselben der Auftrag ertheilt, sich den gedruckten ersten Band sowie die gedruckten Bogen zum 2 ten Band und zugleich das Manuscript zu verschaffen.

Wir wandten uns sofort an Herrn Buchdrucker Freuler als Verleger dieser Schrift, der uns auch den ersten Band sowie die gedruckten Bogen des 2. Bandes Ubermittelte, dabei aber bemerkte, daß das Manuscript in Ihren Händen sich befinde.

In Folge dieser erhaltenen Rückäußerung wenden wir uns an Sie mit der Einladung und Aufforderung, uns umgehend das Manuscript dieses besagten Werkes zu geeignetem Gebrauche zu übermitteln.

In dieser bestimmten Erwartung besteht achtungsvoll

Die Kanzlei. Für dieselbe

Schmid Landschreiber.

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anders denn als Entwürfe zu einer solchen Antwort ge- deutet werden können:

,H. Pfr. * * *

„Richter Anatomen Gesetzgeber Natur- forscher — sind alle ihre Angelegenheiten und Stoffe Gegenstände geselliger Unterhaltung?!!

„Habe ich eine Schrift für Ihren Wirkungskreis ge- schrieben? oder wird ein vernünftiger Mensch sie in solchen hineinreißen ? ! !

„Man kann nicht bezweifeln, daß gerade diejenigen Dinge, über die man sich in einer öffentlichen Gesell- schaft zu reden billigermaßen schämte, dennoch zuweilen zu den wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens ge- hören können; es ist also eine tiefe Bosheit oder Dumm- heit, die diese Schrift gewaltsam in einen Kreis hinüber- reißt, für den sie nicht bestimmt ist, in den sie nicht gehört, also bloß, um sie dann da zu verdammen; in der Bibel sind mehr Stellen, die sich ohne Erröthen in keiner Gesellschaft verhandeln ließen, als in meinem Buch.

»Dem Buch, das durch den Stillstand von Glarus jetzt zum Gegenstand Ihrer Verhandlung geworden, hat sein Verfasser absichtlich den nicht anziehenden Titel gegeben, den es nun hat, damit es sowohl hier als anderwärts nur von wenigen wissenschaftlichen Männern gekauft und verstanden werden möchte. Daher kann es ihm nur höchst erwünscht sein, Hochdemselben hiermit die schriftliche Erklärung ehrerbietigst zu überreichen, nämlich daß er dieses Buch im hiesigen Canton (außer an seine wenigen Herren Subscribenten als nunmehrige Besitzer des 1. Bandes) an niemand weiter mehr verkaufen, noch sonst abgeben, ankündigen oder fortdrucken lassen werde. Er bittet aber dagegen Hochdenselben um seine Schrift, sein Eigenthum, damit er gelegentlich den ehrenden Still- stand der Gemeinde sowohl als den Hohen Uath des

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Cantons Glarus über die vollständige Idee und Gefahr- losigkeit seines Buches beruhigen könne. Inzwischen er sich in dieser Angelegenheit mit ehrfurchtsvollster Er- gebung dem Schutze seiner hohen Obrigkeit empfiehlt.

„Meine Schrift führe zu einem Verbrechen Knaben- schänderei also ich schrieb über dieses Verbrechen, ich will es prüfen und damit jedem Richter einen Dienst leisten, dafür ich allen Dank erwarte: man ist über einen Kriminalgegenstand hoffentlich doch gern im Reinen.

„Will man eine Schrift, Idee oder Lehre verurtheilen, ohne sie zu kennen und kennt man ein nicht halb geborenes Werk? weiß man jetzt schon ganz, was ich will? Man muß mich ganz abhören, das heißt, mir gnädig erlauben, mein Buch mit meinem Geld zu drucken und ihm alsdann sein Recht widerfahren lassen.

„Man will hier die Obrigkeit vorführen, man will sie hier zum Werkzeug der Unwissenheit und Bosheit mißbrauchen.

„Ich sage immer und zwar mit allem Recht: dieses Buch ist ein rein wissenschaftliches und man will da diese hohe Behörde gegen mein Buch und mich zu einer rein wissenschaftlichen machen man spielt mit ihr gegen einen Bürger, der nicht weniger werth als meine Gegner.

„Die zwei Titelblätter, genau, buchstäblich, wie sie jetzt vor beiden Bänden stehen, gab ich, gedruckt bei C. F., herum auf diese hin machte man sich für den Ankauf eines Exemplars verbindlich. Nun fragen wir: sprachen diese zwei Titelblätter mit ihren Motto's eine bestimmte, begreifliche, menschliche, vernünftige Aufgabe aus oder keine ?

„Herr Straßer hat gesagt, das Buch ist wahr, aber Ich Monarch verbiete es Griechenland ist durch die Ausschweifungen der Männerliebe untergegangen Stehlen ist ein Verbrechen und man kann mit dieser Natur geboren sein Mau kann doch gleich heirathen,

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*

*

es gibt ja nur unglückliche Ehen Abnormitäten, Aus- artungen, Auswüchse, Unkraut! Poesien sind Phantasie, gelten und bedeuten nichts.

„Ich erinnere mich eben, daß einst ein Mann anläß- lich zu mir sagte: Alle diese (oder solche) Menschen machen nie ein Glück, sie kommen immer in Zerfall

und erst nach Jahren ward es mir sonnenklar,

daß dieses eine höchst wichtige Beobachtung und Wahr- heit sei die wohl wenig eingesehen wird; so sind sie ganz richtig durch uns zum Fluch geboren, ja durch uns zum Fluch geboren, und das ist die ganze Wahrheit, der ganze Triumph unsers diesfühlig herrlich- sittlichen Standpunkts.

»Preßfreiheit ist nicht Lasterfreiheit. Durch die Presse tritt der Urheber des Guten und Schlechten, eben in diesen Eigenschaften, ans Licht; und es tritt der Mensch, die Wahrheit, die Oeffentlichkeit, die allgemeine Vernunft in ihrer vom Schöpfer beabsichtigten Thätigkeit auf darin liegt eben der Werth der Presse. Ein schlechtes Buch wird durch sein Erscheinen nicht sicher, es über- liefert sich selbst wie rasend dem Gericht der Welt, der Verachtung, dem Spott, und es muß, was in seiner Absicht nicht liegt, gerade dem Guten und Wahrhaften Thür und . Thor öffnen.

y, Wollten Hochderselbe mir mein nun einziges Ehre- Rettungsmittel untersagen? (das heißt, den Druck meines Buchs) Wenn Sie mich das Buch drucken lassen, alsdann geschieht gewiß, was in der Pflicht liegt, ich werde gerichtet durch das Buch oder geschützt und gerettet durch das Buch und das liegt beides in der Obliegenheit.

„Geben Hochderselbe auch zu, daß sich verlarvte Menschen, das heißt solche, die sich mir nicht nennen (ich habe mich genannt), geheim gegen die h. Wahrheit

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meines Buchs und auch gegen mich, meine bürgerlichen Rechte stellen? Ich heiße hier und vorn auf meinem Buch

Heinrich Hößli."

Das Endergebnis der Verhandlungen Heinrich Hößli's mit der Behörde war dieses, daß er die Auflage seines Werkes zwar behielt, auch sein Manuskript zurück- bekam, daß er aber innerhalb des Kantons Glarus weder ein weiteres Exemplar des bereits Gedruckten verkaufen, noch sein Manuskript weiter drucken lassen durfte. Ge- mäß einer Bekundung soll er eine schwere Buße (angeb- lich 2000 Franken oder mehr) haben zahlen müssen, nach einer andern Quelle kam er dagegen ohne Buße davon. Seinem bisherigen Buchdrucker Freuler war damit die Möglichkeit des Weiterdruckes abgeschnitten.

Man wird sich schwer des Argwohns entschlagen können, daß das Vorgehen des Evangelischen Rates gegen Hößli nicht lediglich Heinrich Hößli's wenn auch entschiedener so doch von jeglicher Lüsternheit freier Ver- teidigung der gleichgeschlechtlichen Liebe gelten sollte, sondern mehr und vielleicht besonders seine religiös-freie Denkungsweise, der er durch Einbeziehung von Hexen- prozeß und -glauben, Pfaffen und Teufeln in sein Werk von der Männerliebe der Griechen unverhohlenen Aus- druck gab, zu treffen bestimmt gewesen ist. Wrar schon die Darstellung der geschlechtlichen Natur der Männer- liebe zu damaliger Zeit eine sehr bedenkliche Kühnheit, welche höchste Vorsicht erforderte, so muß gar ihre Verquickung mit Angelegenheiten des Glaubens als äußerst unvorsichtig bezeichnet werden. Der Gedanke eines Parallelismus zwischen Verfolgung gleichgeschlecht- licher Liebe und den Prozessen gegen Hexen, welche wie ein roter Faden durch beide Bände des „Eros'4 sich hindurchzieht, mag dazu mitgewirkt haben, daß auch Solche Hößli nicht verstehen wollten, die ihn hätten ver-

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stehen und der Verbreitung seiner Erosidee hätten förder- lich werden können, daß er zur Zeit seines Auftretens, im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts, unbeachtet blieb oder totgeschwiegen wurde, daß er tauben Ohren predigte und nach dem Erscheinen seines ersten „ErosM-Bandes be- reits einem geschlossenen Widerstand sich gegenüber sah, an dem selbst seine im höchsten Maße opferwillige und trotzige Energie und seine von un unterdrückbarer Ueber- zeugung getragene Willenskraft nach kurzem Kampfe zerschellte; diese unglückselige Verquickung von Liebe mit Glauben, welche freilich in seinem Gerechtigkeits- gefühle wurzelte, mag vorzugsweise die Schuld tragen, daß Hößli am Siege seiner Wahrheit für absehbare Zeit endgültig verzweifeln mußte und ein Prediger in der Wüste nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern bis auf die heutige Stunde geblieben ist. Sein großes unsterbliches Lebenswerk, sein zweibändiger „Eros*, hat denn auch tat- sächlich das Schicksal erlebt, daß es an der Wende des 19. Jahrhunderts, fast 60 Jahre nach seinem Erscheinen und fast 30 Jahre nach Hößli's Hinscheiden, von einer Seite, welche Hößli's Wesen und Bedeutung mit Ver- ständnis zu erfassen vermochte, in zwei völlig getrennte Bücher zerlegt worden ist in .Hexenprozeß und -glauben, Pfaffen und Teufel" einerseits und in „Männerliebe der Griechen* andererseits.1)

%) 1. Hexenproceß und Glauben, Pfaffen und Teufel. AU Beitrag zur Cultur- und Sittengeschichte der Jahrhunderte. Von Heinrich Hößli, Leipzig, H. Barsdorf. 1892. 80 Seiten in Oktav. Diese Schrift enthalt manches ausgeführt, was in Hößlis „Eros" nur angedeutet ist, außerdem vieles von Hößli gar nicht berührte, sodaß über die Hälfto ihres Inhalts gar nicht von unserem Heinrich Hößli stammt.

L\ Eros. Die Mannerliebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten. Oder Forschungen Uber Platonische Liebe, ihre Würdigung und Ent- würdigung für Sitten-, Natur- und Völkerkunde. Von H. Hößü. Zweite

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Dieses Mißgeschick jedoch, das Verbot des Vertriebes und des Weiterdruckes seines Eros innerhalb der Gren- zen des Kantons Glarus, brach Hößli's Wagemut noch nicht; er sah sich nur genötigt, nach einem Ersätze für den Drucker Freuler in einem anderen Kanton sich umzusehen, und einen solchen fand er alsbald in der Person des J. Fr. Wartmann in St Gallen. Mit Hülfe dieses ausgezeichneten Mannes gelangte Heinrich Hößli sicher und schnell zu seinem ersehnten Ziele. Vom zweiten Erosbande waren bereits 8 Bogen gedruckt, nur die Seiten 43 und 4-1 mußten als unbrauchbar verworfen werden; der schriftliche, den Druck des Eros betreffende Verkehr zwischen beiden Männern währte vom 17. März 1837 bis zum 31. Oktober 1838; alsdann war der Druck auch des 2. Erosbandes vollendet. Der Austausch der Gedanken zwischen Wartmann und Hößli hatte in- zwischen vertraulich, fast herzlich, ja freundschaftlich sich gestaltet ; öfter war die Rede von geplanten persönlichen Zusammenkünften, bei denen dann auch der liebe Kubli" immer eine Rolle spielte. Wartmann führte Klage bei Hößli über unleserliches Manuskript: »Bei diesem Anlaß* schreibt er am 10. Juni 1837 „nehme ich mir die Freiheit, eine Bitte an Sie zu richten, die Sie mir gewiß nicht übel deuten werden. Es kommen nämlich in dieser Manuskriptsendung einige Blätter vor, wovon ein paar nur mit der größten Mühe und eines (wie Sie in der Korrektur finden werden) an einigen Stellen gar nicht entziffert werden konnten. Ich muß Sie deß wegen im Interesse der Sache wirklich driugend bitten, etwas mehr

Auflage Münster i. d. Schweiz. II. und 125 Seiten in Oktav.' Von H. Barsdorf, Leipzig, übernommen. Diese Schrift ist ein etwas dürftiger, stark vernüchterter Auszug ans dem Originalwerke mit Auslassung aller auf Hexenprozeü und -glauben, Pfaffen und Teufel bezüglichen Stellen; die Wortstellung HüÜlTs ist z. T. modernisiert, die Reihenfolge der Sätze willkürlich gewechselt.

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Sorgfalt auf dasselbe zu verwenden; denn äußerst unan- genehm ist es für den Verfasser eines Werkes wie für den ehrliebenden Buchdrucker, wenn auf diese Weise sinn- und geiststörende Fehler einschleichen." Ein an- deres Schreiben Wartmann's vom 10. Oktober 1837 nimmt Bezug auf den Evangelischen Rat: »Die Glarner Sperren scheinen Retraite schlagen lassen zu wollen und zu dem lieben Juste-milieu zurückzukehren. War es dann wohl der Mühe werth, einen so gewaltigen Lärm in der Welt zu machen, wenn man am Ende doch den Muth nicht hat, einigen intriganten Pfaffen den Hals zu brechen?" Wartmann gelang es, auch die Verlagsbuchhandlung C. P. Scheitlin in St Gallen zur Uebernahme der Kommis- sion für beide Erosbände mit 50 % Provision zu ge- winnen: »Dem mit dem Buchhändlergeschäft nicht Ver- trauten" — schreibt er unter dem 28. Januar 1838 an Hößli „mag allerdings diese Forderung etwas hoch erscheinen; allein es ist zu bemerken, daß Hr. Scheitlin allen andern Buchhandlungen 25 % geben muß, daß ferner alle Spesen für Fracht, Ankündigungen des Werkes und dergl. auf seine Rechnung fallen. Den Preis der zwei Bände dürfte man auf 3 fl. oder mindestens auf 2 fl. 42 stellen."

Ueber Heinrich Hößli's Gemütsverfassung während des Druckes des 2. Bandes seines „Eros* in St Gallen giebt ein Schreiben Auskunft, welches aller Wahrschein- lichkeit nach für den von Hößli im „Eros* zitierten Ver- fasser einer Metaphysik, den Professor Troxler, bestimmt war und dessen Konzept in Hößli's Nachlasse vorliegt:

„Glarus, im May 1838.

„Hochzu verehrender Herr Professor!

„Obschon mich die so vollständige Unverhältniß- raäßigkeit meines geistigen Standpunktes zu dem Ihrigen : abschrecken will von dem Schritt, den ich hier wage:

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so ermuthigt und treibt mich dagegen wieder der Geist, den ich bald am Himmel, bald über der Erde, bald außer mir, bald in mir wandeln und wirken sehe, der mich genöthigt hat, diese Schrift, die ich Ihnen, ehrwürdiger Herr! hier in Demuth und Ehrfurcht lasse zuschicken, und die auch in Ihrem Geist in viel weiterem Sinn und Raum als in mir wirksam ist.

„In den zwei platonischen GespTächen Phädrus und Symposion sind, obwohl von unsrer Zeit noch nicht erkannt, Religion, Natur und Kunst von deren Ein- heit oder ewigen Unzertrennlichkeit Ihre Seele so tief erleuchtet ist dennoch gleich gewiß vorhanden, als diese zwei Schriften selbst vorhanden sind. Da indessen aber das ihnen zu Grunde liegende Prinzip oder ihr eigent- liches und ausschließliches Natur-Element uns darum im Dunkeln liegt, weil wir es bisher immer nur umgangen, statt erforscht, aufgesucht oder festgehalten haben und uns dadurch dann auch zugleich ihre Religion und Kunst, wie sie mit der Natur unzertrennlich Hand in Hand gehen eben gerade weil sie in ihrem eigentlichen Leben untrennbar sind, in die größte Verwirrung, Un- bestimmtheit und Nutzlosigkeit gestellt, verloren oder, da wir ihre Natur im Begriff, in der Idee nicht haben, so haben wir auch ihre Kunst nicht und ihre Religion nicht. Aber die in menschlicher Natur tief und unzer- störbar begründete, ewige Idee derselben umfaßt und bedingt., ganz angemessen Platon's geweihter Seele, wahrlich weit andere, bestimmtere, unaufhörlichere, wichtigere und heiligere Beziehungen zur Menschen- gesellschaft, als wir bisher eingesehen, geahnt oder unsere schwankenden Begriffe enthalten und angedeutet haben.

„Der Wink ernster Menschenliebe, über die Folgen und Bedeutungen unsres da so irrigen, so unbestimmten Standpunktes und des griechischen, nicht irrigen zu

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Plato und der Menschheit in Betreff des so wichtigen, positiven und uuverborgenen Naturgegenstandes der beiden benannten Kunstwerke den ich Ihnen hier zur Beurtheilung durch gefällige Vermittlung des Herrn J. F. Wartmann zu tiberreichen wage, ist freilich nur das überaus mangelhafte und rohe Werk eines eben so wohl Schule und Erziehung, als Hüfsmittel und Muße ermangelnden, iu aller Verlassenheit leidenden und zum Theil auch verfolgten Menschen. Ich will Ihnen, ehrwürdiger Herr, hier keine von den Gedanken der Vorworte beider Bände wiederholen, sondern nur auch für diese Sie um einen Ihrer Tiefblicke in das Wesen der Religion, Natur und Kunst oder des Menschen eben so dringend bitten, als um ein kurzes Resultat Ihrer mir so hochwichtigen Ansicht und zugleich dann endlich auch um großmüthige Vergebung der Freiheit, die ich an mit zu nehmen mich gedrungen fühlte, und diesen Anlaß nur noch dazu benutze, der besondern, individuellen Verehrung zu gedenken, mit der ich zeit- lebens sein werde, hochzuverehrender Herr Professor,

Ihr ergebener

H. Hößli jünger."

Bis zur Fertigstellung des 2. Bandes des „Eros* reichte Hößli's Kraft und Energie; dann hat er jede Absicht öffentlichen Wirkens jäh aufgegeben. Die zahlreichen Vor- arbeiten zum 3. Bande ließ er unverändert liegen, aber ohne sie zu vernichten. Er redete sich fortan ein, daß sein Werk nichts tauge, daß der wirksamen Darstellung seiner Erosidee er selber nicht gewachsen sei. In einem Briefe wegen der jüngsten Schrift über den Hexen-Prozeß und eine ältere von J. F. Rübel schreibt er: „Bios um Wort zu halten, kommt der Eros hier auch mit. Sie werden ihn nicht lesen wegwerfen, denn schlechter ist kein Buch geschrieben; und es ist auch zum Theil dieses

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Gefühl, diese Ueberzeugung, daß ich den 3. Thl. liegen ließ; je tiefer ich von der großen Bedeutung der Idee ergriffen bin, um so sicherer ist auch meine traurige Ueber- zeugung, daß sie nur durch einen großen, gebildeten, gelehrten Mann unsrer Zeit gemäß darstellbar ist; wie einst den Griechen durch Plato, der noch so prächtig dasteht. Der Stoff, wie jedes Element der ganzen Schöpfung ist immerwährend vorhanden: zum Heil oder zum Ver- derben ... da aber sitzt der Verfasser des ersten oben berührten Schriftleins Pag. 157 Zeile 4, 5 u. 6 wahrlich noch im dicken Nebel."

Allein wie sehr seine Erosidee bis in sein Greisen- alter Hößli beschäftigte und ihm am Herzen lag, davon zeugt die verlorene rührende Klage im Konzepte eines Briefes von ihm aus dem Jahre 1855: »Wie froh wäre ich, alle meine die Idee des Eros betreffenden zahlreichen Bücher einem fähigen Manne im Interesse einer ver- lassenen Wahrheit überlassen zu können: und der hätte bei mir den Rechtstitel darauf weil ich heute oder morgen sterbe, denn ich bin schon 71 Jahre alt." Und hatte Hößli auch mit dem Jahre 1838 alle Hoffnung auf öffentlichen Erfolg vollends aufgegeben, so verlor er da- mit gleichwohl nicht die Lust, seine Erosidee weiter zu begründen, zu erforschen und zu vertiefen. Zeugnis dessen sind zahlreiche Auszüge und Bemerkungen seines handschriftlichen Nachlasses, Notizen, welche bis in das Jahr des Todes des achtzigjährigen Greises reichen, von deuen eine beschränkte Auslese hier Aufnahme finden möge :

Nov. 1854: Es war der Fluch unserer Irridee, die auch am Leben dieses Göttlichen (J. v. Müller) nagte.

24. December 1858: Glarnerzeitung. Bern. Die Fleischvergehen scheinen sich auch in diesem Cauton, wie in Zürich, zu vermehren. So werden nächstens vor den Geschwornen des Mittellandes wieder 3 Anklagen auf widernatürliche Unzucht verhandelt.

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4. Juni 1859: Neue Glarnerzeitung, 3. Jahrgang, kriroinalstatistische Notizen vom May 1858 bis 59. .... jene Prozeduren moderner Raffiniertheit, die ander- wärts im Vordergrund der schwurgerichtlichen Dramen stehen, kennen wir bei uns noch nicht und auch das wüste Feld der unnatürlichen Fleischverbrechen, die anderwärts in der ganzen Abscheulichkeit ihrer Formen immer wieder auf den Traktanden stehen, ist unter uns Gottlob unbekannt!

1859: Die Liebe von J. Michelet. Uebersetzt von F. Spielhagen. Leipzig, J. J. Weber. 1859. Dir habe ich Michelet's ewig bewunderungswürdiges Buch „von der Liebe* oder vielmehr von der göttlichen Tiefe des Weibes zu danken und durch solches die Ueberzeugung gewonnen, daß es wirklich Menschen, Männer, Geister gibt wie dieser Michelet; das sind Seher, Lehrer, Ge- müther, Seelen, Engelszungen, Priester und Diener an den Altären der Menschheit, der Tugend, der Religion, der Natur. Von diesem Buch möchte ich viel reden das ist ein Sinn, ein Griffel, eine Sprache, ein Geist. Daß du den Sinn hattest, mir dieses Buch mitzutheilen, freut mich sehr. O daß wir auch über andre Sphären der Wunder dieser Weltschöpfung solche Bücher hätten. *)

18. Nov. 1860: ja! ja! aber um der Tugend und der Vergöttlichung der männlichen Liebe willen wie bei der zweigeschlechtlichcn die Venus Urania war für die Männerliebe der Eros in Tempeln und Gym- nasien ....

9. April 1861 : Landbote No. 84. Winterthur. Ver- mischtes. — Unter den Miszellen eines deutschen Blattes

*) Das Werk J. Michelet's, Die Liebe, übersetzt von Friedr. Spieibagen, bildet 3 Bändchen (2523 2525) der Philipp Reclam'schen Universal-Bibliotbek (Preis 60 Pfennige).

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lesen wir folgendes : In Vevey am Genfersee genießt das Hotel des Trois Couronnes, auch Hotel Monnet genannt, eines altbewährten Rufes. Aber Herr Monnet, der dieses Etablissement gründete und so glücklich emporbrachte, genießt nunmehr einer behaglichen Ruhe. Und die Sache ist folgender Maßen gekommen. Vor etwa zwei Jahren logierte in dem Hotel ein reicher Russe und fand an dem ihn empfangenden Oberkellner, einem Frankfurter- kinde, ein besonderes Wohlgefallen; ja seine Zuneigung stieg so weit, daß er den jungen Mann um seine An- sichten und Pläne für die Zukunft befragte. Diese waren so bescheidener Natur, daß er die Frage seines Gönners, „ob er nicht gern dieses Hotel übernehmen würde?", für einen Scherz nahm. Aber der Russe meinte es anders; nach Jahresfrist kehrte er nach Vevey zurück, hat das große Etablissement für 1250000 Franken ge- kauft und unter bestimmten, sehr mäßigen Bedingungen dem glücklichen Oberkellner überlassen, der es hoffentlich eben so gut verwalten wird, als der Gründer desselben.

3. December 1862: Landblatt No. 288. Lucern. Jener Heini, Bedienter des Nuntius, der wegen unnatür- licher Vergehen verhaftet wurde, ist vom Kriminalgericht zu 6 Jahren Zuchthaus verurtheilt worden.

4. Juni 1863 : Neue Glarner Zeitung No. 67. Unter Verschiedenes. Turin. In dem Skandalprozeß der Priesterkongregation der unwissenden Brüder „lgnoran- telli* kommen täglich neue Fakta zur Kenntniß, welche es unbegreiflich erscheinen lassen, wie diese Gesellschaft ihr Gewerbe so lange ungestraft treiben konnte. Von den 250 Zöglingen, welche das Institut von San Primi- tivo umfaßt, soll mehr als ein Drittheil der viehischen Gemeinheit der Brüder zum Opfer gefallen sein. Der Prozeß gegen die Ignoranteili soll auch zu Untersuchun- gen bei einem ihnen verbündeten Frauenorden geführt

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haben, wobei sehr ärgerliche Dioge an das Tageslicht gekommen seien.

6. Juli 1863: Landblatt No. 159. Turin. Bekannt- lich ist vor längerer Zeit ein Prozeß gegen die Brüder „Ignorauti" (eine klerikale Genossenschaft) wegen Ver- brechen gegen die Sittlichkeit anhängig gemacht worden. Das nun gefällte Urtheil lautet auf 5 Jahre Gefängniß- straf e gegen Bruder Arcadius wegen Unzucht ; zwei an- dere Brüder wurden auch der Unzucht schuldig erkannt, mußten aber, da kein Privatkläger aufgetreten, frei ge- sprochen werden.

Der schwerste Schlag, der Heinrich Hößli überhaupt treffen konnte, war ihm für sein Greisenalter vorbehalten. Als er 1857 oder 1858 nach Lachen, Richterswyl (oder Wadeuschwyl) zog, übergab er den ganzen ihm noch verbliebenen Rest seiner „Eros "-Auflage dem Besitzer der Eisenhandlung im Löwen zu Glarus, Herrn Josua Dürst, der ihn oben im Rittersaale unterbrachte und hier ist, was vom „Eros* den Weg in die Welt noch nicht gefunden hatte, vom 10. bis 11. Mai 1861 bei dem großen Brande von Glarus *), der die halbe Stadt einäscherte, noch 3 Jahre vor Heinrich Hößli's Ableben, durch Feuer vollständig vernichtet worden.

') Die Literatur Uber den großen Brand von Glarus 1861: 1. Der Brand von Glarus am 10 11. Mai 1801. Berichterstattung des Hülfskomito in Glarus. Glarus, Friedr. Schmid jun., 1862. 80 Seiten nebst Beilagen von 11 und 60 Seiten in Quart. 2. Der Brand in Glarns in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1861. Ab- druck aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Mai 1861. Zürich, Orell, FUÜü und Comp. 1861. 16 Seiten nebst Karte von Glarus, aufgenommen am 12. Mai 1861. In Oktav. 3. Das alte Glarus, Album mit Plan und 20 Ansichten aus Glarus vor dem Brande von 1861 nach Aufnahmen von H. Brunner Ilaffter in Glarus, in Licht- druck vervielfältigt von liömmler & Jonas in Dresden. Mit er- läuterndem Text herausgegeben von der Casinogesellschalt in Glarus. Glarus 1901. 10 Seiten und 18 Tafeln.

Jahrbuch V. 38

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Zum Schicksal eines Buches gehört auch die Er- örterung, wie es vom Publikum verlangt und wie es be- urteilt wird.

Durch den großen Brand von Glarus zu einer Rari- tät geworden, ist der ,Eros* Hößli's im Buchhandel äußerst selten ; da aber Hößli mit geschenkten Exemplaren nicht kargte, so kann man am ehesten noch darauf rechnen, ein Exemplar aufzutreiben, wenn man sich an die noch lebenden Freunde oder Verwandten Hößli's oder deren Nachkommen wendet; allein auch dann wird man oft eine Enttäuschung erleben.

Gedruckte literarhistorische Urteile über Heinrich Hößli's „Eros" sind mir keine bekannt; in dem Riesenwerke „Allgemeine deutsche Biographie" (Leipzig, Duncker und Humblodt) ist Hößli nicht aufgenommen. Von einem guten Freunde Heinrich Hößli's wurde mir gesagt, daß der schweizerische Schriftsteller Iwan vonTschudi mündlich den .Eros" als ein gutes Buch bezeichnet habe. Ein- zig Karl Heinrich Ulrichs, Heinrich Hößli's Nach- folger *) im Kampfe für Anerkennung der Natürlichkeit und sittlichen Berechtigung der gleichgeschlechtlichen Liebe, hat Hößli wiederholt zitiert *) und auch ein kriti- sches Urteil über seinen „Eros" geäußert. s) Er tadelt an» „Eros", daß er ermüdend weitschweifig sei, 2 starke Bande

') U Iriehs trat mit seiner ers t en Schrift Uber mannmännlicho Liebe „Inclusa" als Numa Xumantius 1864 also im Todesjahre Beinrieb Hößli's hervor; erst am 12. Februar 1866 erfuhr er vom „Eros" seines Vorgängers, nachdem er bereits den letzten Federstrich an seiner fünften Schrift „Ära spei" (1865) getan (nach Ulrichs' siebenter Schrift „Memnon" 1868, Abt. II S. 128).

«) Ulrichs, sechste Schrift „Gladius furens" 1868 S. 1—2; S. 4, Fußn. 3; S. 11, Ftißn. 10; S. 18, Fußn. 16; S. 21, Fußn. 16 u. 20; siebente Schrift „Memnon" 1868 1 S. XIV; II S. X, 6, 7; S. 94, § 109 u. 110; S. 128—180, § 134,8; neunte Schrift „Argonauticus" 1869, S. 157, 12.

3) Ulrichs siebente Schrift „Memnon- 1868 II S. 112—130.

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umfasse, daß er etwas zu viel mit Phrasen und etwas zu wenig mit Gründen die Verfolger angreife und daß alle und jede Gliederung des Stoffes fehle. Jedoch sei auch dem „Eros", wie ihm, das Angeborensein der Männer- liebe das Fundament, auf das er ihre Berechtigung gründe. Freilich werde dies Fundament von ihm nur behauptet, nicht bewiesen. Wenigstens sei das kein Be- weis, was er dafür anführt: urnische Liebesgedichte, griechische, römische, persische u. a. Diese bewiesen ja nur die gar nicht bestrittene Tatsache, daß Männerliebe existiert. Die ganze naturwissenschaftliche Seite des Gegenstandes, so namentlich die Muliebrität, werde nicht berührt. Einmal nur (Eros I S. 296) könne er nicht umhin, diesen Punkt wenigstens zu streifen. Aber er furchte, von ihm in ein Labyrinth geführt zu werden ohne Ausweg. Dennoch sei Hößli's.Eros" reich an glän- zenden Partieu. Erschütternd sei neben allem edlen Zorn «las unendlich tiefe Gedrücktsein, das fast aus jedem Satz hervorleuchte und das noch gar fern sei von jener inneren Sicherheit, welche allein durch die Vorahnung der Freiheit verliehen werde. Gegen Ulrichs' Kritik ist einzuwenden, daß Hößli die Muliebrität des Urnings sehr wohl erkannt hat und nicht nur im Band 1 S. 296 streift, sondern im Band II S. 325 eingehender behan- delt; alle anderen Vorwürfe aber treffen auch Ulrichs selbst; sein angeblicher Beweis ist nicht ein solcher, sondern eine Hypothese, welche viel Wahrscheinlichkeit für sich hat; auch seine Schriften lassen in Folge der Art ihres Erscheinens in 12 Heften innerhalb eines Zeit- raumes von 15 Jahren die gewünschte Gliederung und Uebersicht des Stoffes vermissen. Und schließlich war Hößli noch nicht fertig mit seinem zweibändigen „Eros", sondern hatte noch einen dritten Band geplant.

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3. Stellen aus Heinrich Hößli's „Eros" a. Allgemeine Sentenzen.

Wir stehen uns beim Suchen immer selbst im Wege! (II 263).

Es gibt einen religiösen, einen politischen, einen sittlichen Fanatismus (I 52).

Wir liegen erst in den Wehen für wahrhaft menschliche Sitten und Gesetze (II, X).

Zeit ist es, aus diesem Sündenschlaf zur Wahrheit, zur Vernunft und zum Recht zu erwachen .... (I 113).

Gesetze ohne Wissenschaft sind Henker ohne Obrig- keit (I 113).

Religion ohne Liebe, Staaten ohne Gerechtigkeit, Kirchen ohne Wissenschaft das sind vollkommen teuf- lische Dinge (II 175).

Wir sind vielleicht zu unheidnisch, um einzusehen, daß wir kein einziges Laster weniger als die Heiden haben (II 2(34).

Aller Forschung voran geht die Naturforschung . . . Die Geschlechtsnatur des Menschen ist nicht Wille des Menschen, nicht Wahl des Menschen; so darf sie nicht stehen in unsern Menschen-Natur-Lehren, denn sie ist es nicht; die dießseitige Auffassung, Darstellung und Behandlung des Menschen ist darum von der höchsten Wichtigkeit, weil eben hier alle Radien seines Lebens, entweder verbindend oder auflösend, verwirrend oder erklärend, verherrlichend oder entwürdigend, glücklich oder unglücklich machend, ausgehen und zusammen treffen (II 4).

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Keine Naturwahrheit hat eine andere Behörde über sich anzuerkennen, als wieder eine Naturwahrheit, also gar keine weil es in der Wahrheit keinen Widerspruch und keine Rangordnung, nur eine ewige Harmonie giebt, und Wahrheiten nicht über- und untereinander, sondern nebeneinander stehen, wie die Blumen des Feldes, der Flur oder des reichen und wohlbestellten Gartens (II, XI).

Im Samen, im Keim, im Embryo ist der ganze Mensch; wir können nichts in solchen hineinbringen, nur sich entwickeln lassen das in ihm Verschlossene, und wenn schon viel, das in ihm ist, zur Verkrüpplung nöthigen, ersticken und nicht aufleben lassen, es doch nicht tilgen (IT 201—202).

Der Hexenglaube und Hexenprozeß, der schreck- lichste Abgrund, in den unser Geschlecht je versank, be- stand im Mangel der Naturlehre; durch deren erste Schritte war er weg: weil man Gespenster nur sieht wenn's Nacht ist (II, XXVII).

Es ist in unserer und jeder Zeit nicht genug, das, war wahr, was recht, was schön ist, zu studieren, man muß auch, es ist noch wichtiger, das, was unrecht, was Unwahrheit, was befleckt und entstellt ist, erforschen, enthüllen, retten, um eine bessere Menschheit zu werden (II, IX).

Wir sollten freudig Alles, was uns auf irgend eine Weise an der Ausübung eines Unrechts auch gegen den geringsten unsrer Mitmenschen verhindert, was das Be- gehen eines solchen, erspart oder erwehrt, segnen. Aber das einzusehen, mangelt es uns vielleicht an der dazu nöthigen Demiith, und wir zanken lieber darüber (II, XV).

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Weder übersehen, noch verachten, weder entstellen, noch verdammen soll der Mensch etwas an seiner Schöpfung nur kennen, leiten, erziehen und dahin stellen, wo seine Endzwecke sichtbar werden können (II 243).

Nur der Wahnmensch sagt zum Bruder: „Das ist nicht deine Natur, weil sie die meine nicht ist Sünde ist die deinige, weil sie wie meine nicht ist verderblich ist deine, weil es außer der meinigen keine andere giebt, du bist nicht da, Staat und Kirche wissen dich nicht und darum will ich mitwirken, dich zu verderben, zu verdammen; denn außer unsrer Wissenschaft und meinen Begriffen kann es nichts geben8 (I 116—117).

Wie durch die Liebe, so ist der Mensch auch zur Liebe erschaffen, und zwar zu der, die sich von selbst, ohne Hinzuthun eines Menschen, in ihm kundgiebt, reget; wie es auch noch in keines Menschen Gehirn, nicht ein- mal in dem eines Verrückten, zur Frage gekommen sein kann: was will ich lieben? Dazu brauchts eine National- verrücktheit, für Individualitäten ist sie unmöglich . . . (II 240—241).

Bei uns kennt man rechtlich, sittlich und wissen- schaftlich nur die allgemeine Liebe der zwei Geschlechter; was nicht zu ihr gehört, ist uns Willkühr, Selbstbestim- mung und Verbrechen; das ist unser Standpunkt; den Griechen aber wäre ein solcher in aller auf Geschlechts- liebe bezüglichen Menschenbehandlung und Menschendar- stellung Frevel an der allgemeinen wie an der besondern Menschennatur gewesen (I 100).

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Wo ein Mensch mit gutem Willen und klarer Ein- sicht gegen irgend ein Anliegen der Menschheit eine Er- gänzung, einen Einklang, Erklärung und Genugthuung für und gegen einen geachteten oder verachteten Gegen- stand aufzufinden bemüht und dazu von der Natur gleichsam bestimmt und gestimmt ist, da kann nur ein entartetes Geschlecht ungeprüft verfolgen; die Schädlich- Erklärung eines Unschädlichen ist nichts anderes als Schuldige machen, um sie bestrafen zu können (II, IX).

So grundfalsche Ansichten haben wir gräßlicher Weise bei der Leitung, Erziehung und aller Behandlung von Millionen eben so menschlicher als schuldloser Einzel- wesen für ihre leibliche und geistige Zerstörung gesetzt und festgehalten und, erblindet für Wahrheit und Natur, das Vorhandene nicht gesehen und das Nichtvorhandene am Platz des Vorhandenen behandelt und verkündiget. Aber die Lügen, die sind wahrlich schlechte Grundlagen der Menschenerziehung, der Sitten und Gesetze. Wahrheit mangelt unserm Leben und Wahrheit seinen Richtungen. Auf Lügen gebaute Sitten verwandeln endlich das Leben selbst in eine Lüge (II 197).

Der Gesetzgeber muß jede vorhandene, wirkliche Natur, die der Gesellschaft gefährliche Handlungen be- gehen könnte, wissen, beachten, durchschauen, unter das Gesetz stellen; aber das Gesetz darf nicht den Menschen aufheben, darf nicht lügen, und darf keine Naturerschei- nung als Nichtnatur erklären, um sie verfolgen zu können. Der Mensch- soll im Gesetz groß, nicht klein werden. Der Gesetzgeber muß überall Wahrheit suchen und über- all Wahrheit reden, denn wichtiger als bei ihm ist sie nirgends. Das Gesetz ist in der Natur von Gott und im Gesetz ist das Wesen Gottes. Im Gesetz ist der Mensch von Gott und sich selbst am höchsten gestellt. Laster

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und Verbrechen verhüten, oder sie im Geheimen und Oeffentlichen gleichsam künstlich erzeugen, hervorbringen, nothwendig machen, das sind verschiedene Dinge. Am gewissesten wird die unterdrückte Natur lasterhaft und begeht Verbrechen, denn sie sind alle auf eine Natur, die wir ehren und leiten sollen und die kein Verbrechen ist, zurückzuführen und sind darum aber, wegen ihrer Folgen und Einflüsse, wieder nichts desto weniger Ver- brechen (II 250).

b. Bemerkungen über Zweck und Bedeutung

des Eroswerkes.

Wer ein mit Blut gefärbtes Samenkorn auf den Brachfeldern des Guten auferweckt, der arbeitet im Garten und Vertrauen Gottes an der Menschheit (I 189 190).

Das Schicksal dieser zwar äußerst mangelbaren Schrift wird deuuoch ein Meilenzeiger und Gericht dieser Zeit sein für den Geist der Geschichte der Menschheit (II, XXIII).

Habe ich meine Wahrheit und Erfahrungen unge- lehrt geschrieben, so schreibe sie gelegentlich ein anderer gelehrt; habe ich sie nicht christlich geschrieben, so schreibe sie ein anderer christlicher. Wahrheit aber ist sie und wenigstens doch rein menschlich geschrieben eben so gewiß, als sie aller Christenheit neu ist und wenn es unchristliche Wahrheiten geben könnte, es läge die Schuld nicht an der Wahrheit weil es weder im Himmel noch auf Erden eine einzige gibt, die eine andere zu widerlegen vermöchte (I, XXV— XXVI).

Ja, es sind da nun große Menschennamen (die Stimmen und Zeugen) entweder wissenschaftlich zu reinigen oder mit neuem Unflat und alter Blindheit zu ver-

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unstalten; die Wissenschaft dieser Zeit aber wird nun von diesen beiden das thun, was sie kann (II 52).

Wer sich über das bisher Aufgeführte, über diesen Theil der alten klassischen Litteratur, über diese Stimmen des Erdkreises jener und aller Zeiten nicht nach Licht und Erklärung umsehen mag, der sitzt wahrlich unwürdig auf jedem Lehrstuhl, er sei der Alterthumskunde, dem Recht, der Philosophie, kurz, dem Genius des Menschen- geschlechts, in welcher Richtung es immer sei, geheiliget, er befleckt ihn! (II 161).

„Ueber nichts Göttlicheres kann wohl ein Mensch einen Beschluß zu fassen haben, als über seine eigene und seiner Angehörigen Ausbildung" ') und „Manches, was im Allgemeinen als unbedeutend erscheint, kann dennoch auch aus besonderen Gründen, für viele oder einige, von Werth sein, wenn das Kennerauge solches entdeckt und an's Licht zieht"3). So wäre und ist der Gegenstand dieser Schrift, über welchen wir noch ganz im Finstern sitzen, an und für sich unbedeutend, aber unsere Mei- nungen, unsere Urtheile, Vorstellungen von ihm, das, was wir aus ihm gemacht habeu, was wir auf ihn gründen, das ist jetzt über den halben Erdkreis noch eine weit gefährlichere Pest, als die blos vorübergehende Cholera- Epidemie. Weun einer an und für sich allenfalls unbedeu- tenden Sache eine solche Richtung gegeben wird, daß dadurch Millionen Menschen vernichtet werden, auf tausendfache Weise, alsdann ist sie nicht mehr klein und unbedeutend, vielmehr aller Untersuchung reif und werth (I 95—96).

') Plato.

?) t. Rotteck.

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. . . wir haben in diesem Gebiete nur Schriften, die uns nichts erklären, und andere, die uns nicht erklärt sind. Die gegenwärtige, unter völlig ertödtenden Um- ständen und Drangsalen, unter unaufhörlichen Ruthen- streichen, aber auch unter unaufhörlicher Begeisterung für alle Wahrheit geschrieben, ist nur bloße Hindeutung auf die hier ja nicht kunstgerecht entwickelte oder be- leuchtete Idee, und noch viel weniger ist sie die Spezial- Charte zum entdeckten neuen Land aber sie ist gleich- sam das Gefühl, die Ueberzeugung von dessen Dasein, von seiner noth wendigen Nähe und von der Lücke auf unserm Globus der Anthropologie. Aufmerksame Reisende hören und sehen ohnehin in dieser Gegend immer so wunderlich und bedeutsam brausen und tönen und leuchten, die einen Gespenster und die andern Geister durch dicke Nebel auf- und abhuschen, und es sollen da die Alten laut Bericht und Versteinerungen sogar eine ihrer kostbaren und wichtigen Pflanzungen besessen haben und Metallgruben, aus denen jetzt immer noch Kobolde aufhüpfen und hie und da eine Apotheke noch Gift aber nur granweise und gegen die polizeilichen Be- stimmungen, mithin nicht ohne Gefahr für ihre eigene Existenz, verkauft (II, II).

Für Menschen, die noch nie eingesehen, nie empfun- den haben, welchen Raum die Liebe in ihrem irdischen, individuellen Dasein einnimmt, habe ich nicht geschrieben, auch nicht zum Zeitvertreib, denn Menschen haben doch keine zu vertreiben. Ich weiß, es ist dieses ein trau- riges Buch, aber ich weiß auch, daß es ein Samenkorn reiner Menschlichkeit ist; ich werfe es trauernd und hoffend unter Disteln und Dornen dazu fiel mir das ernste Loos; und der Mensch mag ja solchem Schicksal nicht entgehen. Mit ertödtenden Lebensverhältnissen ringend, bin ich wohl auch schon im Begriff und in Ver-

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stichuDg gestanden, diese Schrift auf zugeben ; aber es war der Satan ; und dann standen wieder vor mir das Gericht und die ewigen Griechen und von seinen Weisen und Helden, seinen Sängern und Rednern, seinen Künstlern und Gesetzgebern diejenigen, die der Natur des Eros, von der Plato immer redet, selbst angehörten, und die in ihr und durch sie geworden sind, was sie in ihr und ihrem Griechenland der Menschheit werden konnten; und ich fragte und sah wieder vor mir, was wir aus ihnen gemacht hätten unsere Erwürgten die todten Hingerichteten und die lebendigen Hingerichteten und die noch nicht gebornen Hingerichteten und die unseligen Mütter an den Wiegen der schuldlos Verdammten, die Richter und Erzieher mit verbundenen Augen und der Todten- gräber zuletzt den Sargdeckel über meine Nase schiebend . . . dann faßte mich wieder siegend die Macht der Menschen- liebe und der Wahrheit mit ihrer ganzen Gewalt an und ich suchte, dachte und schrieb wieder fort und wendete sorglos, selbstvergessend meine Augen vorsätz- lich ab von allen denen, die dafür, wie ich wohl weiß, an meinem Verderben arbeiten. Zu schon begangenen Verbrechen schweigen, das lasse ich hier liegen; wenn aber Greuelthaten begangen, wenn Feuer eingelegt, ver- giftet und das Vaterland verrathen und der Unschuldige geschlachtet werden will alsdann habe ich menschlicher Weise durchaus keine Wahl mehr zwischen reden und schweigen zwischen Schuldlosigkeit und Theilhaftig- keit an dem, so geschieht! Das, Mitmenschen, ist wieder der individuelle Ursprung dieses Buchs. Wer aber mit über Tod und Leben entscheidendem Wahn und der solchen aufhellenden Wahrheit blos geistreich uud gewissenlos um Geld spielt, mit beiden seinen Spott treibt, Wahrheiten nach Gewinn und Ruhm wiegt und mißt und feil bietet, an geheiligte Lügen sich festklammert, in allerlei Narrentrachten verschachert, um seiner ver-

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ächtlichen Ruhe, um seiner verächtlichen Mitwelt willen, ist Antheilhaber an dem Verderben und dem Elend der Völker und Zeiten .... (II, XXXI— XXXII).

c. Gedanken über die Männerliebe und den Eros.

Die Griechen fanden ihre Erklärung in der Erschei- nung selbst, wir aber wollen erst in der Erklärung die Erscheinung finden. Aber es richten sich die Erschei- nungen eben nicht nach unsern Erklärungen, wie sich diese nach jenen richten sollten (I 295 296).

Wir sind da von einer ebenso schädlichen als schänd- lichen Ehrbarkeit besessen (II, XXV).

Wenn verpfuschte, verderbte Menschen aus einer Natur Wahrheit Gift ziehen, Mißbrauch von ihr machen soll man sie ihrer wegen unterdrücken oder ver- schweigen? sind sie die Menschheit, Ziel und Endzweck der Schöpfung! ? (II, XIII).

Theile des schuldlosen, bessern, innern, unwillkühr- lichen Menschendaseins in die Sphäre der Verbrechen und Laster versetzen das ist Gang und Richtung der Völker zur Barbarei, zur Hölle, zum Ketzer- und Hexen- glauben und -Prozeß (II 242).

In dem dem Satan ähnlichsten Menschen kann die allerentschiedenste Geschlechtsnatur für das Weib vor- handen sein, dagegen in einem stillen, zartsinnigen, bedäch- tigen, frommen nicht, und eben an deren Stelle die Sympathie für Wesen seines eigenen Geschlechts .... (II 243—244).

Und wer aus diesem Gegenstand eine Streitsache, statt eine Angelegenheit der Naturforschung und Natur- wissenschaft macht und im Vertrauen auf altes Her- kommen, bei dem er für sich nichts einzusetzen hat und

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nichts verlieren kann, zeigt selbst am besten, auf welcher Stufe er steht Aber wenn das Christen sind, dann sind Christen abscheuliche Geschöpfe!! (II 155).

. . . und es entsteht dann da das Uebel und das für uns wahrhaft Nachtheilige, daß wir uns gerade da noch tugendhaft fühlen, wo wir nicht lasterhaft sein können, und Andere als lasterhaft taxiren, wo sie ihrer Natur gemäß uns gegenüber oft noch wahrhaft reine und edle Menschen sind. Auf solche Weise haben wir eine erlogene Summe des Guten in unsern Verdiensts- Ver- zeichnissen, eine, die gerade auf unserm Soll statt auf unserm Haben stehen sollte und die uns aber auch nur Zinsen trägt, wie einst der Hexenglaube trug. Der wahrhaft erleuchtete Mensch aber denkt und fühlt für alles Ge- fühl, für alles Recht, für alle Wahrheit, für jedes Ge- schöpf, der blinde Halbmensch nur für sich selbst (II, XXVI).

Die Erforschung der menschlichen Natur ist überall ein ebenso heiliges als verfolgtes Werk. Was wir über den Plato hinsichtlich der Geschlechtsliebe lehren, be- sitzen und praktiziren, zerfällt von selbst in zwei Theile; der eine ist das prächtige todte Gefieder, das wir dem Adler des göttlichen Plato ausgerissen haben, und der andere Theil ist dieser mißhandelte, entfiederte, der gan- zen nördlichen Fastnacht zum Gespött preisgegebene nackte Adler selbst. Diese Masken aber werden weg- gehen über die Bretter und es wird Auferstehung sein, nicht des Heiden-, aber eines durch Menschenwissen- schaft neu begründeten Christenthums (II 1G8 169).

Spricht die Natur nicht, wo sie auflodert in innerer Fülle und Wonne und Seligkeit, und nicht, wo sie ab- welkt und verstummt und verschmachtet? Wo sie auf-

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geht und sich verschließt, wo sie sucht und wo sie fin- det, wo es ihr Tag ist und Nacht ist und Reich thum ist und Armuth ist und ihr Himmel ist und ihre Hölle ist? Muß die Wissenschaft am Menschen das Vorhandene aufsuchen oder das Nichtvorhandene? Muß die hier zu erledigende Frage von der Natur beantwortet werden oder nicht? An wen kann und wird da eine wahre Menschenforschung ihre Fragen stellen ? Oder soll oder darf oder muß sie da gar nicht fragen, nur verurtheilen, verfluchen, verzerren, verwirren, tödten, läugnen, hin- richten? (II 163).

Wenn diese Neigung in der wirklichen Natur, wenn sie Natur und Wirklichkeit selbst ist und als ihr Gesetz in tausend unabänderlich nur für sie bestimmten Wesen besteht; kann es in diesem Fall noch schwer zu ent- scheiden sein, wer da als Unmenschen und Barbaren ge- handelt habe und wer menschlich, wir oder die Griechen ! ! Und welche Folgen uns und ihnen da zuTheil werden mußten und konnten. Und wenn sie ist, diese Liebe, ist es gut, recht, rathsam, daß sie als solche außer unsern Gesichts- kreisen sei und durch die, so fälschlich an ihr nichts zu verlieren glauben, in den Verbrechertafeln klebe? (II 282).

Der Griechen Behandlung der Männerliebe eröffnete den männerliebenden Naturen eben so ein sittliches Heiligthum wie sie und wie wir, in der Ehe, für die Liebe der beiden Geschlechter eines eröffnet haben. Die Griechen waren durch ihr Wissen und Festhalten der Unzuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechts- leben des Leibes und der Seele auf ein weit geistigeres, sinnigeres und mannigfaltigeres Beachten alles mensch- lichen Innenlebens und eben dadurch auch auf einen vielseitigeren Kreislauf von Kräften und Formen und

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Richtungen des allgemeinen Menschthums geleitet als wir (I 297—298).

Naturwurzeln haben alle Verbrechen; Gut und Habe besitzen wollen ist Natur, Zorn und Rache sind Natur, in der zweigeschlechtlichen Liebe sind die Wur- zeln zahlloser Verbrechen und zahlloser Tugenden und großer Handlungen. Die wahrste Menschenkunst und Wissenschaft hat aber keinen wesentlicheren Beruf, als der ist, die Wurzelfasern der menschlichen Verbrechen und Tugenden aufzusuchen und darzulegen und ihnen in ihre untersten Tiefen nachzuspüren; beide sollten gerade da, wo ihre Blicke die natürlichen Wurzeln eines Verbrechens nicht erreichen, nachdenkend stille stehen und eben so ernst als deraüthig eine neue Aufgabe der Seelen forschung glauben lernen. Griechen haben keine Tugenden zu begründen und eben so keine Laster zu be- strafen gesucht, deren innerer Zusammenhang mit der Menschennatur ihnen nicht klar gewesen wäre; aber unsere hohe Menschenkunst die ist über solche Kleinigkeiten weit erhaben (II 152—153).

Sitten und Gesetze für Erschaffung oder Zernichtung einer Liebe sind lächerlicher, oft aber verbrecherischer Unsinn gegen die Schöpfung, gegen die Natur des Menschen! Die Griechen siud frei von ihm wir aber, indem wir die eigentümliche Daseins-Sphäre der Natur des Eros der der andern, allgemeinen, zweigeschlechtlichen auferlegen, begehen ihn in beiden Richtungen zugleich und im Sitten- und Criminalwesen wird das Lächerliche zum bittern Ernst. Wir glauben eine Proklamir- und Trans- portirbarkeit der Geschlechtsliebe; wir bilden uns ein, es sei durch uns, durch unsere sittliche Erhabenheit das- ienige nicht mehr vorhanden, was den Griechen durch ihre Sittenlosigkeit, durch die Art und Weise ihres un-

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gebundenen Lebens in das Leben gekommen sei. Diese schamlose Verkündigung steht wieder ganz neu, als ein Götze dieser verrosteten Zeit, breit und frech in einer bei uns vielgelesenen Zeitschrift (II, XXIX).

Eben weil wir jene Liebe als Natur nicht kennen und als Unnatur weglästern aus allem Leben, aus dem unsrigen wie aus dem der Griechen, seine ganze Entfaltung, alle seine geistigen Einflüsse, alle im Wesen des Menschen wurzelnden und vorbereiteten Natur- und Kunstgestal- tungen, was alles, theils durch den Natursinn der Griechen, wie durch die Hände ihrer Weisen als die zarteste und reinste Lebensentwickelung aufblühte, noch nie mit Ehrfurcht und Bewunderung, nicht einmal mit Schonung oder frommem Nachdenken angeschaut haben, so halten wir nur ein Teufli- sches, ein vom Göttlichen Abgetrenntes oder ihm in und an sich entgegenstehendes Scheusal in allen unsern Forschungen und Lehren und Auslegungen und An- wendungen der Griechen fest. Aber nur verworfenen Menschen, ohne allen Kunst- und Natursinn, kann dieses ohne Bedeutung sein. Es mangelt uns da an allem Licht und vorzüglich an dem heiligen Element der Menschen» liebe Jesu (II 203).

Der Lasterhafteste kann die Frauen und der Tugend- hafteste die Männer lieben. Die Erde, die Geschichte ist dieser Erweise voll ; keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster, so wenig als Wille und Selbstbestimmung. In diesen wenigen und einfachen Wahrheiten liegt wahrlich ebensowohl der Erweis unseres Irrglaubens als unsers Irrwissens, ebensowohl unseres Unrechts als unserer Schmach und die volle Gewißheit, daß wir bis auf diese Stunde, schon durch unsere finstern Lästerungen allein, noch in jener entmenschenden Stockfinsterniß der

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Hexen- und Ketzerzeit sitzen und einem gräßlichen Wahn- götzen einen bedeutenden Theil unsere gesunkenen Ge- schlechts hinmorden. Der Wahn würgt mit verhüllten Augen, er kennt seine Schlachtopfer nicht; er ist der Abgott wähnender, unwissender, blinder Völker und Zeiten. Die Priester seiner Tempel sind nicht blos Pfaffen; auch unsere Geld- und Mode-Schriftsteller, die ihre Produkte nach Thalern und Zeitumständen modeln und schwelgen, sind es; ihre Gegner darben jederzeit gefährdet, ver- folgt und verdächtigt (II 233).

Hat die Liebe der beiden Geschlechter Zwecke und Rechte und Pflichten ? Giebt der Mensch sie sich selbst oder ist sie ihm gegeben? Kann er sie ablegen, wenn er sie hat? Kann er sie annehmen, wenn er sie nicht hat ? Giebt es keine Menschen ohne sie oder sind die, so sie nicht haben, keine Menschen ? Was sind sie dann? Was können, was sollen, was müssen sie sein? Was waren sie den Griechen ? Was haben wir ein Recht aus ihnen zu machen? Und was sie aus sich selbst? Ge- hören sie keinem Plan, keinem Zweck, keiner Idee der Schöpfung an? Sind sie wirklich außer diesem allem und doch da? Soll man ihnen zu dem, was sie werden können, verhelfen, wie die Griechen? Und warum sich ihnen entgegenstellen ? Sind sie von Gott selbst außer seine Haushaltung gestellt, kann er sie erschaffen haben, wenn es ein Recht zu ihrer Verfolgung giebt? Kann er sie erschaffen haben, wenn es ein wahres Naturrecht für die Zernichtung dieses ihres Daseins giebt ? Gehören sie, in diesem Fall, nicht in den Plan eines weltregierenden Satans und keinem Gott an ! ! Und wenn sie sind, diese Wesen, und in diesem Augenblick ihrer wieder eben so viele, als in jeder Vergangenheit, sich der Stunde ihrer Geburt für diese Erde nähern, hat die Menschheit und die Wissenschaft ihnen kein Menschenschicksal zu be-

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reiten ? Und endlich, wer, welche Kunst, welche Wissen- schaft löset alle diese Fragen? (II 165—166).

Unsere Antipathie gegen eine vorhandene, an ihrem Dasein und dessen Wirkungen völlig schuldlose Menschen- natur hatten die Griechen (was eben mit und bei ihrem vollendeten Schönheits- und Zartsinn uns als ein höchst wichtiger Umstand auffallen sollte) nicht, sondern vielmehr das unbedingteste Mitgefühl, das absolut auf nichts An- derem, als da diese Liebe Natur ist, auf Menschensinn, Gefühl, Güte und Liebe beruhen konnte. Sie hatten eine geläuterte Abneigung gegen Unnatur, wir dagegen haben eine solche gegen die Natur. Wenn wir von da aus den merkwürdigen Bedingungskräften, die unser Ge- fühlsvermögen beherrschen, nachsinnen, so werden wir gar mannigfaltige Aufschlüsse über die Macht des Wahns, der Vorstellung, der Irrideen, des Hexenglaubens und Hexenprozesses aufzufinden und festzustellen Anlaß und Gelegenheit finden. Der Irrthum unserer Ansicht, nach welchem es sich hier um gar keine Natur handelt, ist all- zugroß, als daß seine Folgen und Wirkungen nicht noth- wendig schrecklich sein müßten. Diese Sphäre ist uns völlig leer an Licht, an Werth, an Wahrheit, an Gott, also im engsten und eigentlichsten Sinne gottlos (II, XVII).

Man kann nichts Armseligeres sagen, als man dürfe irgend einem rein psychischen Leben, seiner leiblichen und sinnlichen Offenbarungen wegen, nicht in die Augen sehen, oder, da wo das Leibliche eines Psychischen her- vortrete, oder, da wo unsere Augen nur das Physische wahrzunehmen vermögen sei kein Seel- und Geistleben im Innern und Plato habe, wie dieser Versuch, da blos zur Beschönigung eines Lasters geschwärmt! Laster und Plato! Laster und Liebe!! Griechen und Unnatur!!!

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Da sind die Stempel unsers sittlichen Verfalls, unsers geistigen Elends; ja wir würden, wenn man uns die Aus- fertigung eines Verzeichnisses abscheulicher Gesetze, die die Menschen zu allen Zeiten gemacht haben, auftrüge, solches mit denen der Griechen, bezüglich auf den Eros, nicht blos erweitern, nein, anfangen und ein Verzeichniß unsrer sittlichen und moralischen Vorzüge vor den Griechen auch von dieser Seite her beginnen und krönen nicht wahr? Wer aber einen Plato begreift, der begreift auch leicht, daß es mit unsrer Ansicht ja nicht so ganz richtig sein könnte, wie wir glauben. Wir sind eine Nation, welche ihr Geschlechtsleben noch nicht zu der ihm ein- wohnenden geistigen Erhabenheit und Bedeutung in die freie Idee empor zu heben gelernt hat (II, XVI).

Wir haben diese Keim- und Wurzelgewalt, Neigung, Sympathie, Instinkt, Fleisch, Gemüth nur verdammen, nicht ertödten und nicht erziehen mögen ! Und wahrlich, wahrlich, kein Barbar und Unmensch aller Zukunft wird sie ausrotten, denn sie sind Wahrheit und andere Natur bedingende Natur von Gott sie werden immerdar sein, wie sie immerdar waren ; sie müssen, als gegebenes, erschaffenes Fleisch- und Sinnengesetz, erzeugen ent- weder was sie den Griechen erzeugten oder was sie uns erzeugen! ! Was sie aber seien als Gesetz der Natur, unabhängig und völlig geschieden von dem, was wir von ihnen lehren, wie von dem, was die Griechen vou ihnen gelehrt haben, und wo und warum darüber, kalter Sünder, willst du rechten mit dem Ewigen und anspeien und verurtheilen einen Plato, und dich aber baden in den Lüsten deiner, andern Zwecken dienenden, sonst gleichen Natur . . . und eine andere anders machen, als sie ist und zur brennenden Sonne aufwärts kehren und dörren die frevelhaft vom Erdreich entblößten Wurzeln und gewaltsam reißen abwärts aus dem ener-

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gischen Licht und dem luftigen Aether und Glanz und Duft des Ewigen, Geistigen, in den Erdenkoth die Kronen und Wipfel der Seelen, des Lebens, der Liebe, und wenn sie zerstampft sind und erwürgt sind und entheiliget sind und gebrandmarkt von deinem Wahne, alsdann predigen deine Rechte und deinen Triumph der Hölle über deiue Schande, über dem Zerstörten, und verkündigen die Herr- lichkeit und das Heil deiner Völker und Zeiten den Völkern und Zeiten und das Ermordete abnagen, wie ein Hund, und tausend Lügen, frech und entmenscht, hinauf- heulen zum verspotteten Gott und hinab zur betrogenen, verführten, entstellten und nicht verstandenen Mensch- heit!!! (II 24—25).

Daß diese Liebe, die kein Wesen des andern Ge- schlechts anfachet, wohl aber das eigene, diese griechische Liebe, nicht oder wenig mehr sei, gegen diese größte aller gedruckten Lügen auf Erden rufe ich, so laut ich vermag, Jedem das Gegentheil zu ; sie ist noch und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie Natur ist, weil sie es einmal war und deßhalb auch nie als mit dem Menschengeschlecht selbst aufhöreu kann .... Und ihr fraget nun, wo und was sie denn jetzt sei, diese Liebe der Griechen, und ich will euch antworten: O, es ist sehr leicht. Sie schleicht als Laster unter den Lasten einer allgemeinen Verdammung, zerstöret und zerstörend, segen- und kraft- und thatenlos, voll Schuld und Qualen, außer aller Menschenwürde und Idee, meist in abstoßenden, nicht Griechengestalten, einen ganz eigenen Kreis der Verdorbenheit, der Laster, der Sünden, der Verderben, deren Ursprung wir nicht suchen, bildend, in unserer Mitte umher, sie durchrinnet als eine eigne vergiftete, reiche Quelle der Entwürdigung und des Elends, als Irridee ein ganzes Reich des Guten und Menschlichen verschlingend, alle Kreise unsers häuslichen und öflent-

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liehen Lebens, nachtet als schreckliches Räthsel, verwahr- loset, in sich selbst zerrüttet und versunken, über tausend schuldlosen Familien, heulet ausgestoßen in tausend Ge- fängnissen unseres Welttheils, sich selbst und der Stunde ihrer Geburt fluchend, in Nacht und Finsterniß gehüllet, ein täglich sich erneuendes, selbst verzehrendes und un- aufhörlich widersprechendes Ungeheuer, und liefert, so gestaltet, Kerkermeistern und Henkern Arbeit und Brod oder löset auch zuweilen hie und da die Schmach fesseln eines also verdammten Erdenlebens, das Räthsel solchen Daseins, durch uns unerklärliche Selbstmorde .... Und es spricht in ihnen die heilige Nemesis und redet der Engel der Menschheit fürchterlich warnend und weinend für meine Idee! (II 237—239).

Unsere ganze Behandlung dieser Erscheinung, wie wir alle gar wohl wissen, beruht lediglich auf dem Aus- spruch: „Sie ist nicht Natur." Das menschlichste und in sich klarste Volk, das je gelebt hat, vor dem wir nichts voraus haben, als etliche mechanische und physikalische Erfindungen und Maschinen (von denen die jetzige Menschheit selbst die größte und merkwürdigste ist), dieses Volk aber sagte: .Sie ist Natur." Wir aber und die Schand- und Schmachzeiten alles Menschlichen sagen das Gegentheil ; aus diesen ganz entgegengesetzten Ansichten, Aussprüchen und Behandlungsweisen sind dann auch die sich so vollständig entgegengesetzten Wirkungen und Einflüsse entstanden; ob darin denn nun für uns auch weiters keine Bedeutung und keine fernere Lösung für Menschenrecht und Wissenschaft mehr liege, das ist wieder eine andere und ebenfalls noch nie beantwortete Frage. Der Griechen Menschensinn und Menschenbe- handlung war auf Menschennatur-Wissenschaft gegründet; unsere aber wurzeln in Zeiten, wo das Wort und der Begriff Natur auf den Scheiterhaufen führte. Sollte es

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iu der That noch nicht möglich und noch nicht an der Zeit sein, sowohl der Griechen Ja als unser Nein auf die Wage fichter Menschen- und Naturforschung zu legen? Schaudert uns etwa vor den Verbrechen, die durch solchen Entscheid auf uns erweislich würden? Wollen wir sie lieber noch anhäufen und auf den Nacken unserer Kinder richten, als einschen? Ina Namen der wissenschaft- lichen Dreifaltigkeit: der Wahrheit, der Menschlichkeit und des Rechts, lege ich diese Frage, an Gottes schönem Sonnenschein, ich weiß, zwar nicht eigentlich, wem, vor; nehme sie auf, wer ihrer werth ist, gewiß ist sie ein Samenkorn des Bessern (II 182—183).

Hr. Goldhagen läßt in seiner Uebeisetzung des Gesprächs zwischen Simonides und Hiero das ganze, sich ausschließlich auf die Liebe zu den Lieblingen be- ziehende Blatt, ohne Umstände zu machen, weg! Ach, wenn man so einen Hrn. Goldhagen neben Xenophon sieht wie er ihn corrigirt und amputirtü Wir begehen aus lauter Zucht und Ehrbarkeit solche literarische Unzucht! Unsre Schriftsteller sind, durch unsern Gesichtspunkt, mit dem wissenschaftlich vielsagenden Wörtlein .unnatür- lich" immer so unvorsichtig als freigebig, obschon es das Menschengeschlecht zu unaussprechlichen Unthaten gestimmt und bestimmt hat . . . Man sollte nie un- natürlich sagen, bis man recht wüßte, was Natur ist . . . Es braucht schon Natur, um Natur zu beurtheilen (I 260).

Das ist wahrlich in der Literatur ein Frevel, wie wir uns unter Sodomiterei in der Liebe einen zu denken gewohnt sind, und wie der auch ist, wenn unsre Geist- lichen im Tempel des Herrn, im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Wesen zu unaus- weichlichem Verderben zusammenschmieden, die sich ihrer, ihnen völlig dunklen Natur gemäß ewig abstoßen und

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sich selbst eben so fremd sind, wie ihrem Priester. Hätten uusere Gelehrten schon längst über diesen Theil der Menschennatur Licht gesucht und zu verbreiten verstan- den, so läge über diesem fürchterlichen, das Glück und Heil, die Tugenden und Laster, den Tod und das Leben vieler Tausenden entscheidenden und bedingenden Gegen- stand nicht noch solche Mordnacht solcher Fluch der Ketzer- und der Hexenzeit, der tiefsten Unwissenheit! Ihr, die ihr durch Unwissenheit die Schätze des mensch- lichen Gemüths veruntreuet und mit ihnen Spiel und Spott und Wucher treibet, wisset, die Folgen eurer Verhunzungen der Klassiker, eurer literarischen Schinderstreiche und Dieb- stähle sind die hauptsächlichsten Stützen der kalten, alten, eisernen Mörderanstalten des neunzehnten Jahrhunderts (I 2öS— 260).

Bei uns und uuserm Wahn nimmt hier jeder Narr und Sündenknecht und Sinuensclav voll eitlen Wahns noch immerfort mit aller Gravität seinen hohen Ehrensitz im Tempel der Sittlichkeit und Keuschheit ein und dünkelt sich rein von einer Sünde, die mit seiner iunern Geschlechtsorganisation und Stimmung in gar keiner Be- rührung steht, und weiß nicht, daß da seine Tugend etwa die eines Schweines, das nicht davon fliegt, ist; er meint, seine Natur sei die jenes Frevlers und die jenes Frevlers sei ursprünglich wie die seinige; er aber habe sie bewahret und heilig gehalten, er ehre sie, er habe sich selbst bestimmt und an sie angeschlossen, er sei in ihr, nicht sie in ihm, der andere aber habe sich von seiner Natur entfernt u. dgl. m. So schaut er richtend und ver- achtend und behaglich, oft vom Unflat seiner Unenthalt- samkeit, auf andere Menschen auf Griechenland und Plato hoch herab und schämt sich ihrer und mißt und demonstrirt sich selbst und andern diese Höhe seiner Kraft und seines Werths und sein Verdienst vor Gott

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und seiner Zeit und zeigt durch die Verdammung anderer die Herrschaft seiner Seele über solche Sünden an. Ja es ist, als wie wenn wir an diesem stummen, aber viel entscheidenden Ungeheuer gerade noch darum festhielten, damit der Auswurf unserer Gesellschaft, damit der Greuel und Abscheu unsers Geschlechts, alle die tausend non plus ultra der Charakterlosigkeit, der Bosheit und Ent- würdigung, der physischen und moralischen Verworfenheit, damit alle diese Schmachwesen, alle diese Muster der eigentlichsten und vollständigsten Scham- und Sitten- und Gottlosigkeit, in jeder Gemeinde zerstreut, für ihre innere Verruchtheit noch Etwas unter sich selbst aufzuweisen und zu verurtheilen wissen, statt sich selbst .... Auch das, diese Schutzwehr der Ver- worfensten im Schooße der menschlichen Gesellschaft, war den Griechen nicht vorhanden und bewirkte ihnen nicht in tausend Fällen die Vergeblichkeit unsers Erziehen« und unserer sittlichen Bestrebungen und gab den Schlechtesten ihrer Menschheit nicht ein scheinbar noch Schlechteres zu ihrer Rechtfertigung und Beruhigung an die Hand. Wahrhaft wissenschaftliche, stille und ge- wissenhafte Menschen werden da prüfen, der ihnen gegen- überstehende Troß aber urtheilen und verurtheilen, ohne untersucht ohne gelesen zu haben (II 13 15).

Ich frage euch Menschen alle: Könnte jetzt einer von uns aufhören, das, was er ist, zu sein ? Könnte jetzt einer von uns unberührt bleiben von Allem, was ihn bis- her berührte, oder ergriffen von dem, was bisher seinem innersten Menschen fremd war, seine Natur aufgeben, sie nicht mehr haben, nicht mehr fühlen und ein leidenschaft- licher Knabenliebhaber werden? Jeder, der da Ja sagt, lügt, und Jeder, der da Nein sagt, widerspricht und verläugnet sich also selbst. Hexen und Gespenster^ Wunder und Teufel sind aus unsern Listen der Wirklich-

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keit gestrichen; aber die Sünder und Sünde wider die Natur deren es in der Natur nie gegeben hat, so we- nig als Hexen die sind uns noch mit allen Einflüssen des Hexen- und Zauberglaubens geblieben. Hier ist der erste ernstliche Versuch dagegen. Ich kann mich vor dem, was man einem Menschen in solchen Fällen anlügt und andichtet, wissenschaftlich noch lange nicht so ent- setzen, als wie über das, was man ihm abspricht, weg- disputirt, wegdichtet, weglügt oder an ihm nicht einsieht. Wir verfolgen und verdammen in wirklichen, rein und deutlich gegebenen Menschennaturen, die wir aber weder wissen noch sehen, ganz andere, die gar nicht sind, deren es, solange die Welt steht, keine gegeben hat, so wenig als Hexen. Wrir richten tausend Wesen moralisch hin, als solche, die ihre Natur verlassen haben, als solche, die in sich die Liebe zum andern Geschlecht zwar tragen, aber, um sie in sich zu ersticken, mit frevelndem Willen widernatür- liche Neigungen und Begierden, das heißt, unsere Sünde wider die Natur, in sich aufgenommen haben. Wir setzen in ihnen eine Natur voraus, die sie nie gehabt haben, die ihnen ewig fremd bleiben muß, und die sie nie haben können, nie haben sollen und nie haben werden; und ihre eigentliche, einzige, wahrhafte, ihre wirkliche, wahre, unwandelbare aber, die sprechen wir ihnen ab und erklären sie blos für die Handlung einer freien Willkühr und Selbstbestimmung und verabscheuen in und an ihnen eine Handlung, die nie ein Mensch begehen kann . . . . So trug die Allmacht eines blutigen Wahns, in die Nebel geweihter, geheimnißvoller Unwissenheit, in die Prunk- gemächer der Gelahrtheit, des Herrscher- und Kirchen- thums gehüllet, als Mordprivilegium, als Saat und Zeichen des Todes, den Eros über anderthalbtausend Jahre durch alle Abgründe einer versunkenen Menschheit triumphirend in alle Winkel unsere Erdtheils . . . Und dadurch nun ist es jedem Haus eine schwarze, verhäng-

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nißvolle Stunde des Verderbens, unter dessen Dach eine unglückselige Mutter ein neues Opfer unsere Irrwahns und unserer Unwissenheit mit Schmerzen gebiert, und, o es wäre besser, daß der Tod beider Leben in dieser un- heilvollen Stunde zernichtete Oder wenn ihr

ihnen, ihrem Dasein hienieden eine andere Erkläruug, andern Spielraum des Lebens außer in eurer Henkeransicht oder meiner Idee wisset, so thut das Eure, wie ich hier das meine . . . damit fürderhin keine Eltern mehr die Stunde jener Zeugung zu verwünschen haben und nicht mehr ein über alles Dasein, über Zeit und Grab hinausrei- chendes Unglück, ohne alle Selbstverschuldung, auf ihr ruhen könne! ! (II 280—288).

Wo aber freche Wuth statt frommem Menschensinn und blinder Stolz statt reiner Wissenschaft ein Volk er- greift, da mordet es. Keinem Wahne ward je so viel geopfert, als dem: Der Mensch kann seine Natur aus- ziehen, wie ein Kleid, oder es giebt eine Zuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele, was man auf diesen Tag noch wühnt, noch träumt, noch glaubt nämlich, daß jeder, der in einen Jüngling sich verliebe, zuerst seine Uruatur, die wir nach den äußern Kennzeichen bestimmen, ausgezogen, mit Füßen getreten uud weggeworfen habe .... Das kann nur Unwissenheit wähnen, die weiters wähnet^ es sei jedes Geschlecht nur das andere zu lieben von der Natur augewiesen, von innen aus bestimmt und gestimmt, und jedes We.sen anderer Art und anderer Neigung sei nur Willkühr, Selbstbestimmung und frecher Sünden willen und liege in keinem Plan und Gang der Natur und sei darum reif zu aller Verfolgung, Schmach und Entwürdigung, es sei entweder der Gesellschaft unschäd- lich zu macheu oder aber im menschlichsten Fall wieder durch die Kraft der Ueberzeugung und der Moral zu

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seiner angebogen und wahren Natur zurückzuführen. . . Das Schandmal solchen Glaubens trägt unsere stolze Zeit (für die Zukunft als Stempel ihrer Unwissenheit und ihres Barbarenthums) noch an ihrer Stirne, sie sieht eine Blumen wiese (Plato's Garten des Menschlichen) noch immerfort für einen Abgrund an und baut noch immer- fort ein Feld mit Henkern, das Griechenland durch seine Koryphäen der ewigen Kuust gepflegt, und brütet noch Schmach und Verderben und Entehrung und schmiedet noch Ketten für Wesen ohne irgend eine Schuld, mit denen und für die Plato einst so geredet, wie ich zeigen werde und es geschrieben steht in der heiligen Schrift der Klassiker und der noch heiligern der ewigen Natur, mit ganz wahr- haften und natürlichen Menschen, die immerhin im Plan der Schöpfung und unablöslich in der Wesen wandel- loseu, lebendigen Reihen sind und bleiben!! .Nein ihr seid nicht! Ihr macht euch selbst und wir zernichten euch, nach Recht und Gesetz," so spricht unsere Zeit der Weisheit und der Wissenschaft, gewöhnt, Mitmenschen, die Griechenland als solche erkannt, begriffen und be- sessen hat, durch die es seine Unsterblichkeit mitbe- gründete — für naturabtrünnige Scheusale, physisch und moralisch, tausendweis zu erwürgen und immerhin be- müht, sie mit Mord und Tod durch Gewalt und Nacht von ihrer einzigen und wahren, von ihrer einen und reinen, von ihrer unabänderlichen, innern, unwandelbaren Wesenheit mit Schmach und Schwert abzuschrecken, in sich selbst zu ersticken, zu verwirren, umzubringen und postulirt, entblöst von allem Menschensinn und Wissenschaft, die da einzig retten können, auf Priester und Barbaren vergangener Zeit verweisend, so gräuel- haftes Handeln, auf heiligen blutgefärbten Mordwahn und mordet tändelnd noch immerhin ihr eigenes Ge- schlecht und verdammt im Arm der fürchterlich ge- täuschten Mutter noch den Säugling, denn ich sage, sie

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ist ewig Natur und schlummert im Kind so gewiß und so wahr vorbereitet, als sie im Leben des vollendeten männerliebenden Mannes ist und so gewiß der Keim der allgemeinen Geschlechtsliebe in jedem für sie ge- bornen Kind auch vorhanden ist. Die Nachwelt wird über die Verhältnisse, die wir den Geschlechtern an- gewiesen, wie wir dießfalls den Menschen erfasset, er- zogen, behandelt, was wir an ihm zertrümmert, benutzet, entwürdiget und gepflegt haben, Rechenschaft fordern, wir fordern sie auch von den Griechen aber wir verstehen sie nicht, wir lästern sie lieber, es ist leichter, als wissenschaftlich prüfen. Natur heißen wir Frevel und Sünde wider sie; wir haben Criminalgesetze gegen sie, wir haben einen Irrwahn, eine Einbildung, ein Phan- tom, einen Machtspruch, eine stumpfsinnige Lüge, mit Menschenblut eingeweiht, auf den Richterstuhl gesetzt und diesem Gespenst schon Millionen Menschen ohne alle Schuld geschlachtet, ihm die Würde und Kraft unsres Geschlechts hingeopfert, wie seiner Zeit dem Phantom der Hexen und Ketzer; wir wähnten der Menschheit Würde zu retten und entwürdigten sie logen ihr Verbrechen an, die sie nie beging und verübte; und ver- herrlichten solche, die ihr ewiges Schandmal bleiben werden; man wähnte ein Uebel, das nicht war, auszu- rotten, und zog eine Pest über die halbe Welt; man brüstete sich, Laster auszutilgen, die nie gewesen sind, und beging die grauenvollsten Verbrechen an der Gesellschaft, an Mensch und Natur, man gab Menschen- rettung vor und versenkte Millionen in den Ab- grund innern Widerspruchs und äußerlicher Schmach und rettete keinen! Die Menschheit hat nie einen Frevel an Größe diesem ähnlich begangen und ahnet ihn auf diesen Tag noch nicht! Im Reiche mensch- licher und unmenschlicher Verirrungen hat kein Wahn so lange als dieser gewüthet; bis auf diese Stunde ist

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uns unser Geschlecht im Allgemeinen mit dieser Liebe, mit der Wahrheit, die ich nun zu bewähren habe, eben so wenig gedenkbar, als solches den Griechen ohne sie gedenkbar war. Ihnen war sie Garten und Treibhaus herrlicher Menschen und göttlicher Thaten, so wie sie, die uns nun durch Irrwahn und Unwissenheit und Bar- barenthura geschändete und verworfene Natur, noth- wendig oder ununterdrückbar nur Verbrechen, Unrecht und Verwirrung und aus diesen Un- und Halbmenschen für Familien Jammer und Elend, für Rad und Galgen, für Kerker und Galeere liefert; diese Notwendigkeit, diese völlig naturgemäße Folge, wird sich im Fortgang unserer Prüfung von selbst ergeben. Die Entdeckung alles dessen, so uns in der Menschennatur noch verborgen und räthselhaft, aber der Zukunft zu beleuchten aufbe- halten ist, wird uns, wenn's denn einmal tagt, dieses alles ebenso bejammern lehren, wie wir jetzt die Millio- nen dem Hexen- und Ketzerglauben Erwürgten bejam- mern ; denn alles, was Barbarenmacht und Nacht Zer- störendes an der Menschheit je verübt, ist für den Gang und das Leben, für die Formen und Schicksale der Menschen und der Menschheit, weit weniger als diese Saat des Todes, ist wenig gegen den Glauben an eiue Zuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechts- leben des Leibes und der Seele, sobald er einer Menschen- behandlung unterlegt wird, und wenig gegen den Glau- ben, eiu Theil der Gesammtnatur unsers Geschlechts sei entweder gar nicht vorhanden oder nicht Natur oder freier Menschenwille, Selbstbestimmung, Verbrechen oder Spiel der Natur, das Menschen an Menschen zu rächen oder zu strafen hätten; kein Wahnglaube, dem die Men- schen je für ihre Verkrüppelung gehuldigt und irrig zum Richtmaß ihrer Sittlichkeit und Erziehung erhoben haben, ist so entsetzlich als der, Menschen können die Grund- richtung der Triebe und Sinne, also ihres Wesens tiefste

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Urneigungen, ihr wahrhaftigstes und eigentlichstes Seihst, ihren Geschlechtssinn, ihr Geschlechtsleben, mithin immerfort währende und in tausend Richtungen wirkende Theile und Gesetze der ewig unabänderlichen Natur, ihre Liebe mit ihren unzählbaren Fasern des Lebens könnten Menschen willkührlich, wie ein Kleid, ausziehen und mit einer andern verbotenen, mit einer Nichtnatur vertauschen man könnte eine Natur behalten oder nicht behalten oder unter zweien wählen, annehmen oder wegwerfen, man könne in einer leben oder nicht leben

wie nian's nach den Aussprüchen Anderer gut und nöthig, erlaubt und nicht erlaubt finde, und die OetFent- lichkeit, das Gesetz, die Sitten, die Theorien und Lebens- lehren, die dürfen und sollen und können dann nach Gutdünken verfügen, anerkennen, gutheißen oder ver- dammen, sehen oder nicht sehen . . . Nicht die Forschung und die Wissenschaft und das Vorhandene in der Natur,

Staat und Kirche, die haben da zu wählen, zu befehlen, zu taxiren, zu erschaffen ; es gebe da ganz un- bedingt und durchaus ein willktihrliches Abirren, ein Um- und Austauschen, ein An- und Ausziehen seines Innenlebens, seines Seins und derjenigen Grund- eigenschaften der Menschennatur, von denen aus und unbedingt und einzig sich der Faden ihres Daseins und ihrer tiefsten Naturbestimmung auch naturgemäß und ohne Störung spinnt und abwindet; da seien keine als ihre, der Barbaren, Gesetze und Aussprüche nöthig und gültig und heilig und unabänderlich und gut und gerecht,

da, wo Gottes Finger gedeutet, geordnet, festgestellt, gewogen und erschaffen hat, könne der Mensch für sich und Andere gebieten, verfügen, unterdrücken, wählen, verbessern, ändern, ausrotten, richten, verdammen, gut oder schlecht heißen; damit sei alles Nöthige gethan und des Menschen Innenleben und Innennatur nicht weiters zu fragen, die äußern Kennzeichen seien da Richter und

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Gesetz, und der, einst auch aus Wahn entstandene Ab- scheu vor Hexen, der jene Millionen Morde ruhig und pflichtgemäß beging, könne jetzt in anderer Richtung, im Wahn, der Mensch solle oder könne über die Grundan- lagen seines Geschlechtslebens verfügen, wieder eben so ruhig und pflichtgemäß wie ehemals im ähnlichen Irr- glauben fortwirken und walten und morden ! Nicht Strick und Schwert allein, auch Meinung und Gesetz mor- den oft eines und dasselbe Menschenleben tausendmal. Aus frevelhaftem, licht- und liebeleerem, blindem und wissenschaftlosem Unsinn, der keine Griechenmenschheit schändete, aus dem sind unsere Barbarenansichten und unsere Mördergesetze hervorgegangen. Durch ein sol- ches Gesetz wider alle Natur, nicht nur gegen eine, mußte auch im Allgemeinen der Glaube an den heiligen Ernst und die Einfalt, an die Kraft und das Wesen aller Natur selbst gleichsam untergehen. Kirchen, die in ihrem Schooße Hexen brüteten und Ketzer gebratet haben die konnten auch Plato's Liebe, diese zu allen Zeiten und überall vorhandene, unwandelbare und fest bestimmte Menschennatur, die ich erweisen werde, statt erfassen und erziehen, mit ihrem Geifer also be- flecken und ihr denn von Sodom, von Athen nicht Na- men suchen und geben daher sind wir nun schon seit Jahrhunderten gewöhnt, sie, diese bestimmten Natur- wesen, diese Menschen, als der Natur abtrünnige Ver- brecher und Nichtmenschen zu behandeln und sie zu- folge unserm Glauben an eine Zuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele als in der Natur nicht gegebene zu erklären, von ihnen anderes Leben als ihr Leben fordernd, ihnen das größte Verbrechen gegen die Natur als Pflicht auferle- gend und sie dadurch in einen eigenen und besondern Kreis von Nacht und Widerspruch, von Sünden und Vergehen drängend, und dieses alles gegen eine Natur-

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erscheinung und eine Naturwissenschaft, die einst Griechenland, beide, in sein ganzes Leben in seine ewige Kunst der Menschheit verflochten ... Ihr Leben aber und unser Leben und aller Menschheit Leben ist eines und dasselbe Leben, ein Bleibendes, ein Unwandel- bares, ein Ewiges, aus diesem haben wir im Wahn- und Irrglauben an die nie vorhandene und von aller Mensch- heit und aller Zeit widerlegte ZuverläßigkeitderäußernKenn- zeichen imGeschlechtsleben des Leibes undder Seele einen zu großen Zwecken (wie der Griechen allgemeines Leben dem Nichtblinden zeigt) bestimmten Theil verdammend ab- gelöset (zernichten können wir ihn nicht), dieser nun dergestalt entwürdigte und verfolgte Theil brütet und trieft Verderben und Elend, als Saat des Todes und Sold der Völkermissethat und Blindheit, als physischer und moralischer Pesthauch, voll schrecklicher Verhäng- nisse und Schicksale über Einzelne, über Familien, über Völker und Staaten, wie ich zeigen werde. Und da diese so hingerichtete Liebe als Natur unvertilglich wie unaus- löschlich nie aufhören kann, nie aufhören konnte, aber das, was sie ist, nicht mehr heißen im Leben, und in der Idee nicht mehr sein durfte, dagegen aber von der Eisen- haud des Wahns am schwarzeu Höllenzug der Laster angeschmiedet, als Verbrechen nun denn einen Namen haben mußte; da gaben ihr versunkene, Wissenschaft- und M'ürdelose Völker, entgegen den Griechen, Namen, die keine andere gebildete Menschheit, worunter wir Israels auch nicht zählen mögen, je kannte also zur Unnatur und zum Verbrechen und zur willkührlichen Abirrung ge- stempelt und verkündigt entwürdigt sie nun in der That und Wahrheit, in solcher Form und Gestalt, wie jede andere Zeit, die so verfügte, auch diese unsere noch! Als unvertilgbare Natur aber, entblößt vom Menschlichen und abgelöst von allem Menschensiun und allem Menschen- wissen, entstellet und mit Fluch bedeckt, muß sie auch

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diese unsere Zeit und Menschheit mitten im Schooße ihres innern und äußern Lebens an ihren Wunden darbend tragen, mit allen Schrecken und aller Nacht und allen Lebenszerrüttungen und allem leiblichen und geistigen Verderben und allem physischen und moralischen Elend und allem blutigen Unrecht und allen Menschenmorden, deren wirkliches Dasein und Quelle ich in unseren Wahn- wort und aller Nacht, in der es waltet, aufdecken will . . . Von Gnade rede ich nicht, es ist da um Recht und Wahrheit, um Licht und Wissenschaft, und nicht und nie um Gnade zu thun. „Es ist schändlich, o Kaiser, eine Ueberzeugung zu hegen von etwas, das du nicht unter- sucht hast" (Apollonius bei Flav-Philost.). Wer eine Wahrheit verwirft, verschmäht, verdreht, verachtet, von der Hand weist, um durch den ihr gegenüberstehenden Wahn und Aberglauben Brüder, Menschen ohne Schuld, zu verderben, wäre der kein Mörder? Bedarf die Obrig- keit keiner Wissenschaft, nur Gesetze und Henker? Ist es nicht jedem, der durch Ansicht und Gesetz, durch Stand und Amt, in enger oder weiter Umgebung einen Einfluß ausübt, Amts-, Berufs- und Menschenpflicht, mit Ernst ohne Wahn und Vorurtheil zu untersuchen und untersuchen zu lassen, als bestimmte Natur für un- natürlich mit Füßen zu treten, mit Kacht und Geifer zu bedecken, zum Weltverderben zu gestalten. Solche Prüfung wird, was ich wohl hoffen darf, hier leicht gemacht Zeit ist es, aus diesem Sündenschlaf zur Wahrheit, zur

Vernunft und zum Recht zu erwachen Wehe dem,

der keine Thränen hat über seiner Brüder Elend und seiner Väter und seines Vaterlandes Unrecht und Misse- thaten der nicht einsehen, der nicht bereuen, und nicht bejammern kann, was er selbst, und andre mit und vor ihm, aus Unwissenheit und Stumpfsinn, an seinen Mitmenschen, in blindem Wahn verbrochen. Solcher ist der eigentliche Sünder wider die Natur und der Frevler Jahrbuch v. 35

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wide rallen Beruf des Menschen für die Menschheit!! Gesetze ohne Wissenschaft sind Henker ohne Obrigkeit; und selbst ihr alle, die ihr mit Ernst am Heil der Mensch- heit arbeitet, mit Kraft, mit Willen und Würde nach dem Licht und den Polen, um die wandellos sich alles wahre Heil der Sterblichen beweget, hinweiset selbst ihr seid in dieser Beziehung noch Inquisitoren, wie jene, die auch sonst in allem Uebrigen empören Diener des Unrechts und der Unwissenheit und der Nacht, wie jene schwarzen Spaniolen, blinde Werkzeuge barbarischer Macht und frevelnder Gewalt und jeder aus euch bildet da in dieser Angelegenheit noch mit Plato die Gruppe des Erzengels und des Satans (I 102 118).

Im achtzehnhundert und siebenunddreißig- sten Jahr unserer Zeitrechnung glauben wir, daß Un- menschengesetze, etliche Mährchen, das Geschwätz alter Weiber, die Erklärungen der Universitäten, wie im Ketzer- und Hexenproceß, und Bibelstellen, die man noch nie zur Ehre der Bibel ausgelegt hat, was leicht ist, . . . hin- reichen, eine Menschennatur aufzuheben, anders zu macheu oder zu ersticken, eine nicht vorhandene hervor zu bringen. Das ist der pure, leibhaftige Hexenglaube, die voll- ständigste Teufels-Wirthschaft, eine auf gleiche Funda- mente gegründete Finsterniß, in der man noch alle Gräuel jener Mörderzeiten an Schuldlosen, denen man die Natur eines Andern und Verbrechen aufbürdet, die nie ein Mensch verüben kann, begeht (H 293—294).

Die Geschlechtsnatur Heinrich Hößli's.

Es darf die Frage nicht unerörtert bleiben : war der Mann, welcher mit einer Entschiedenheit ohne Vorbild und mit edler Unerschrockenheit für die Natur- und Sittengesetzlichkeit der gleichgeschlechtlichen Liebe zu

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einer Zeit und bei einem Volke in die Schranken traty wo die Ausübung derselben mit schweren Strafen ge- ahndet wurde war Heinrich Hößli selbst Uranier?

Er hat sich im Alter von 26 Jahren vermählt und zwei Söhne als seine leiblichen Kinder anerkannt; allein er führte nicht, wie sonst Eheleute pflegen, mit seinem Weibe gemeinsamen Haushalt, sondern lebte von Anfang andauernd und sogar örtlich von seinem Weibe getrennt. Es scheint dieser Umstand für die Auffassung seiner wahren Geschlechtsnatur um so bedeutsamer, als er selbst bekennt, erst 1817, alsoG Jahre nach seiner Verheiratung und 3 Jahre nach der Geburt seines zweiten und letzten Sohnes, sei ihm durch einen äußern Anlaß (Desgouttes' Hinrichtung) die Binde von den Augen gefallen. Es bleibt demnach zum mindesten zweifelhaft, ob ihn nicht doch mehr Unklarheit über sich selbst, vielleicht gar bloßer Nachahmungstrieb, geachteten Vorbildern es gleich zu machen, als persön- liche Zuneigung in die Ehe getrieben habe.

In den zahlreichen Briefen der Frau Elisabeth Hößli geb. Grebel an Heinrich Hößli ') redet sie diesen ihren Ehemann niemals als das an, was er für sie doch war; vielmehr nennt sie ihn durchweg Meinen Freund" und sich selbst bezeichnet sie als seine Freundin", seine , wahre Freundin44; nach einem dieser Briefe vom 21. September 1846 aus Zürich fühlt sie für ihn eine „alte unauslöschliche Freundschaft, wie es in unserm Ver- hältniß nicht anders sein kann*. Sie macht ihm sanfte,

,) Die Reihe dieser Briefe, etwa 100, beginnend mit dem 28. Januar 1825 und endend mit dem 30. Oktober 1854, weist nur für die Jahre des ersten Aufenthalts der Frau Hößli in Amerika 1834 bis 1843 eine erhebliche Llicke auf; allermeist sind sie aus Zürich datiert, einige wenige aus Meilen, Cannstatt, München und Rheinck; die Schreiberin zeigt sich darin als eine liebevolle und resignierte, in der Sorge für ihre beiden Söhne aufgehende und um das Wohl und die Gesundheit ihres von ihr getrennt lebenden Ehemannes bekümmerte echte Frau.

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aber entschiedene Vorwürfe wegen seines unmännlichen vielen und langen Besinnens, seines Eigenwillens und seiner Schwerfälligkeit im Entschluß und im Handeln.

Mit seinem Sohne Hansi stand Heinrich Hößli in regem Brief verkehr; leider sind von dieser Korrespondenz nur die Briefe des Sohnes erhalten; aus ihnen geht aber bestimmt hervor, daß Vater und Sohn nicht nur über den „Eros* ihre Gedanken austauschten, sondern auch, daß der Sohn dem Vater gegenüber aus seiner Geschlechts- natur duchaus kein Hehl machte. Unterm 27. Dezember 1848 schrieb Hansi aus Galveston (Texas) seinem Vater: „Ich würde recht gut und angenehm in der Schweiz leben und wegen Dir wäre es mir über Alles . . . aber siehe, die mehreren Gründe dagegen rühren von Einer Quelle her oder doch meist von einer Quelle. Ich will sagen Efros]. Besonders die verflossenen Sachen von der Zeit des rothen Löwen in M. herrührend, das war eine un- angenehme Geschichte, es wirkten dort viele Umstände zu- sammen. Ich war wohl unvorsichtig und ich wäre auch eher verschwatzt worden als andere, es war mein Fehler, aber wie kannst Du böse darüber sein, ich that doch nichts mit bösem Herzen .... Hier bin ich verhältniß- niäßig glücklich und frei . . . Etwas ganz Anderes auch, wovon ich Dir sagen will. Einen Jungen in N. York, den ich gleich einem nahen Verwandten liebe, ohne Eltern, irländischer Abstammung, habe ich im Sinn, als Sohn anzunehmen; er ist 16 bis 17 Jahre alt, heißt Henry Wilson, er könnte daher eiumal Deinen Namen bekommen. Er ist arm, sehr arbeitsam, ohne Fehler, nicht besonders hübsch oder groß. Ich konnte noch nie irgend etwas für ihn thun, da er alles da hat, wo er arbeitet. Wie ich das letzte Mal in N. York war, sah ich ihn blos ein Mal und stehe auf sehr ceremoniellem Fuße mit ihm, da er so jung ist; ich bin nie in seiner Gesellschaft wie mit den zwei jungen Männern, die, obschon jung, doch

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erwachsen sind. Henry ist noch Bube. Er kann ziem- lich deutsch sprechen, auch deutsch lesen. Nun, ehe ich in die Schweiz gehe auf einen allfälligen Besuch, treibt es mich, eine Art Geschäft oder Heimath, wenn auch eine Farm, zu haben und daß er bei mir zuerst angestellt sei. Er scheint sehr anhänglich gegen mich und würde mit mir auf Land oder Stadt in irgend etwas gehen, ich versprach ihm das schon lange. Solches und Aehnliches halten mich immer ab.* Noch deut- licher redet die Einlage eines nicht vorgefundenen Briefes Hansis an den Vater vom Februar 1853: „Zerstöre den Zettel! Ich muß Dir auch sagen, wie es mit der Sache vom letzten Sommer. Jener junge H. ging von Hause weg d. h. er war in Deutschland und kam hieher. Sein Vater schrieb zuerst, ich soll doch machen, daß er zurück gehe, er wolle ihn nicht strafen und in Deutschland lernen lassen was er wolle. Ich sprach zum Sohn und er ging zurück. Aber es kamen andere Briefe, welche Monate lang unterwegs geblieben, ich solle ihn doch nicht zurückgehen machen, wenn er in der Bucbdruckerei gut sei, das Wechseln sei nicht gut, ich solle mich seiner annehmen und zu ihm sehen, und er wolle mir für seinen Sohn eine artige Summe Geldes geben, für ihn zu ver- wenden. Er war aber schon weg, was mir auch recht war, indem ich nicht weiß, wie er ausfallen wird. Seinem Sohn schrieb der Vater, mir zu folgen aber nicht andern in der Schweiz zu sagen, daß er mit mir in einem Verhältnisse sei, er, der Vater, sage es nicht. Er bat mich sehr, ihn nicht aus deu Augen zu lassen und „rüstete mich mit väterlicher Gewalt aus/ Es war zu spät, da der Brief mehrere Monate unterwegs war. Ich schrieb dem Sohn durch den Vater in Z[ürich], mir nicht mehr zu schreiben und ganz den Wünschen des Vaters zu leben. Er schrieb mir aber doch seine Ankunft von Hamburg und er will wieder aufs Meer, was nicht gut

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ist; ich schreibe ihm aber nicht mehr. Er war hier in einer Buchdruckerei, wo er sich gut hielt. Es war eine Verläumdung. In der Schweiz möchte ich natürlich jetzt nicht mehr leben, denke aber etwa für 2 Monate im Sommer zu kommen. Nach der Schweiz geht der junge II. jedenfalls nicht.* Zerstöre den Zettel! Der Vater hat den Zettel nicht nur nicht zerstört, sondern ihn noch einmal abgeschrieben, so daß er nun doppelt in seinem Nachlasse erhalten ist!

Als dann später Heinrich seinem Hansi schrieb, ihm möge das Heil, einen wahren Freund für das Leben zu finden, zuteil werden, diese Aussicht für ihn erschüttere sein Herz vor Freude und Hoffnung, schrieb Hansi zurück, daß das wohl oft sehr schwer sei, wenigstens für seine Person finde er das. Und in demselben Schreiben aus N. York vom 21. April 1857 äußerte er sich in Beant- wortung vom Vater gestellter, auf den „Eros" bezüg- licher Fragen: „Ich glaube gar nicht, daß in mir Kraft liegt oder Mittel mir zu Gebote stehen. Ich glaube eben nicht so sehr an menschliche Unwissenheit, sondern an der Menschen Bosheit und Gefühllosigkeit gegen Andere und Lust, Andere zu erniedrigen, und eine Art Neid, besser Mißgunst. Von Allem, was aus dem Alterthum und auch für Natur-Anlage ich spreche immer spe- ziell von diesem Falle bewiesen werden kann, wird gesagt: „Das ist eine alte Sache, das ist allbekannt" und „das macht die Sache nicht besser". Die Meinung Ein- zelner gilt nicht viel. Allerdings wenn die Unwissenheit des Volkes im Ganzen nicht wäre, so würde Alles anders sein; Unwissenheit aber ist hier, in diesem Falle, mehr Vorurtheil, und es ist (in der Politik) bekannt, daß all- gemeine Vorurtheile, selbst von starken Regierungen, innerhalb einiger successiven Generationen nicht gehoben werden können, daher alle Regierungen, die bestehen wollen, die Vorurtheile sich zu Nutzen ziehen müssen.

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Meine Ansichten sind in diesem Falle unangenehm. Es ist gegen meine Natur, die Menschen so anzusehen; aber wie helfen, wenn die Sache so liegt? Eine gewisse negative oder doch zweiseitige Anschauung in einem Werk wie das Buch in vier Bänden V(enus) U(rania) oder wohl auch Zschokke's mögen eher angehen, aber wie wenige lesen Alles und Solches, und wenige, die Solches lesen, sind eigentlich unwissend, haben aber doch Vorurtheil oder kein Gefühl für Andere und die Besten scheuen sich wenigstens so, daß sie eigentlich neutral sind, aber nicht ein Mal so viel Bekenntniß ablegen. Die Hebung des Vorurtheils würde wohl Tugend för- dern und Laster vermindern, in großen Städten wie hier muß das sehr bemerkt werden. Es hat zwar auch eine andere Seite füVs Allgemeine: Würden Gesetze weggethan, ohne andere Gesetze zu machen, so gäbe es viel Böses, und wie könnten andere gemacht werden? An eine solche Möglichkeit ist unter bestehenden Umständen und Ansichten ja nicht zu denken. Das Liebste ist mir, wenn ich mit meinen Vettern (von denen Du redest) unter obwaltenden Umständen in keine Berührung komme.*

Meine Aufgabe kann es hier nicht sein, den Nach- weis zu führen, Heinrich Hößli sei nicht weibliebend gewesen; diese Aufgabe könnte selbst dann mir nicht zufallen, wenn es überhaupt logisch zu den Möglichkeiten gehörte, überzeugend nachzuweisen, daß etwas nicht sei. Aber auch für mehr als bloß hohe Wahrscheinlichkeit, daß Heinrich Hößli rein mann liebend gewesen ist, kann aus dem von mir Ermittelten irgend ein zwingender Beweis nicht hergeleitet werden, weit weniger noch der Nachweis irgend einer Art gleichgeschlechtlichen Verkehrs. Wir erfahren aus dem Leben des Ver- fassers des „Eros* nichts von einer großen

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Liebe, die ihn fortgerissen habe. Eine lange Reihe von Jahren hat er treue Freundschaft oder Kameradschaft mit seinem Neffen Jakob Kubli gehalten; es war das um eben die schwere Zeit, als sein „Eros* entstand; die geschäftige Fama brachte den .Eros" mit Kubli in Verbindung; sie machte aber ein enttäuschtes Gesicht, als bei darauf aus- gehenden Prüfungen Jakob Kubli sich als völlig unschuldig erwies und es sich zeigte, daß dem Harmlosen der Gegen- stand des „Eros" spanische Dörfer waren. Damit war es also nichts ! Es wird bestimmt versichert, Heinrich Hößli sei ein alter lieber Freund der Familie des Löwenwirts gewesen, ein edler, sittenreiner und makelloser Charakter, dem Eltern und Kinder stets die höchste Achtung zollten; den Kindern gab Heinrich nie den leisesten Anlaß zu einer Klage, weder in Tat> noch Wort, noch Blick; wäre ein solcher Anlaß vorgekommen, so hätte deren sehr guter, aber leicht heftiger Vater den Freund, trotz bisherge- pflogener echter Freundschaft, erwürgen können; um Hößli's im „Eros" niedergelegte Anschauungen habe man sich nicht in der Familie gekümmert, da man der Sache gänzlich fern stand und diese Frage im Familien- kreise überhaupt nie wäre besprochen worden. Dem jüngsten der drei Söhne des Löwenwirts hatte Heinrich auf seinen Wunsch hin im späteren Alter den „Eros" gegeben, in der Erwartung, daß er ihn sorgfältig studieren werde; aufrichtig gestand ihm der jüngere Freund, daß er zwar im „Eros" geblättert, die Sache aber nicht be- griffen habe, die vielen Zitate langweilig fände und das Buch wieder bei Seite gelegt habe; der alte Freund lächelte und sprach: „Recht so! Du hast Besseres zu tun in Deiner Familie und in Deinem Geschäfte!"

Ein ausgesprochen urnischer Zug in Heinrich Hößli's Wesen war lediglich seine Geschicklichkeit in weiblichen Arbeiten. Um sein selbstloses mannhaftes und furchtloses Eintreten für seine heiligsten Ueberzeugungen aber hätte

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unser sich selbst hochpreisendes Männervolk alle Ursache, ihn ehrlich zu beneiden!

Was Heinrich Htfßli in seinem zweibändigen „Eros* von Selbstbekenntnissen offenbart, das bezieht sich auf seine Anschauungen, nicht notwendig auf seinen Geschmack, nicht notwendig auf seine Lebensfüh- rung; da er bestimmt erklärte, daß die Männerliebe der Griechen zwar auch dem Leben und der Wirklichkeit seiner Zeit noch angehöre, jedoch ohne schwarzen, „ver- dammlichen Brüderverrath* an ringsum lebenden Menschen und Lebensverhältnissen sich nicht zeigen lasse „und ich bin kein Judas", fügt er (Eros II S. 44) in Klammern bei so lag ihm auch die Pflicht nicht ob, sich selber bloß zu stellen.

In dem hinterlassenen ungedruckten Manuskripte zum dritten Bande seines „Eros" findet sich der nach- folgende Passus wortgetreu:

»(Aus den Selbstbekenntnissen eines Unglücklichen ohne Liebe zum andern Geschlecht)

„Ich sitze im Reisewagen, mir gegenüber eine männ- liche Schönheit tausend andre hätten sie nicht für eine solche genommen oder vielmehr es hätte sich in den tausend andren für diesen Menschen nichts be- wegt und dieser Mensch nichts in diesen tausend andren. Die Stadt ist zurück; Berge und Thäler und Bilder am Himmel und auf Erden wogen und rollen dahin; ich hatte schon große Reisen gemacht; aber so gerollt und so gewogt solchen Himmel, solche Erde, solche Selig- keit — und ich wußte eigentlich nicht, ob sie in mir oder im Postwagen oder rings um denselben her sei ich war trunken und, o du guter Gott, hätte ich's ewig bleiben können

es war der Eros! „Ich bin in der Kirche, mir zur Rechten eine ver- klärte Menschengestalt, die auch meine ganze Seele ver-

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klärt und mit glühender Andacht, mit dem Himmel selbst erfüllt Der Tempel erbebt* er verschwindet . . . und warum dachte ich: zu den Füßen dieses göttlichen Jünglings wäre es selig zu sterben?

es war der Eros!

„Ich sehe die Lichter brennen unter dem Thron Gottes die Glanzmeere unendlich ausgesäet am wolken- losen Himmel ... er feiert einen Sabat der Welten und seine Flammen funkeln Ewigkeit und Liebe; ich sinke nieder, ich liege im Staub . . . und ... ich weiß nicht o Gott woher . . . die Gestalt eines holden Jünglings steht neben mir

Stimme des Eros!

„Ich stehe im Winter uliein am einsamen Fenster; es schneit; der Fink für sein Weibchen sucht Körnlein vor der Scheuer . . . und ich bin voll Liebe und voll Wehmuth und denke, wie selig so ein paar vereinte Menschen auf dieser Welt voll Sehnen und Trübsal leben . . . und wie viel Herrlichkeit im Hintergrund einer Menschenseele sei . . . und wenn Gott mir noch so ein Menschenwesen gäbe und ich mein ganzes Leben mit ihm raeinen Bissen Brod theilen könnte. Es saß

ein freundlicher Jüngling am Ofen es war eine

Erscheinung

es war der ewige Eros, der in den Zeugen und Stimmen redet und im Plato und in der ewigen Natur und bei den

Griechen!

„Ich sitze am Bach und denke und fühle und sinne so hin und her und auf und ab . . . und bin voll Heim- weh — und weiß nicht wohin ich vor allem diesem soll . . . denn es ist Frühling . . . und sagen möchte

ich's, wie es in mir wogt und Wellen schlägt und

so einsam ist und mir all' die Herrlichkeit so zu keinem

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Frieden hilft . . . und meine Sehnsucht nach dem Engel in Jünglingsgestalt mich in namenlose Traurigkeit ver- senkt, wo soll ich hin? . . .

„Ich wandle allein in einer schönen, einsamen Ge- gend, ich sitze in dem Schatten des kleinen Gartens vor einer unbewohnten Hütte, wie ich in selig hoffenden Träumen schon manche erbaut habe. Daß du da dein Leben zubringen und diesen Acker pflügen könntest und säen und erndten und im Sommer und Winter die Abend- röthe sehen und diese Bäume blühen, und leben und sterben könntest mit dem Einzigen unterm Himmel und auf Erden. Ihr tiefsten stillen Bilder des Lebens, ihr goldnen unvergeßlichen Träume . . . ich saß noch da, als die ersten Sterne durch die Zweige redeten ... ich mußte fort, denn es wohnten keine Menschen in dieser Gegend und ich kannte nicht

den Eros in des jungfräulichen VirgiPs und Theokrit's Hirtengedichten.

„Eine Mutter traf ich auf einem Dorfkirchhof an; ihre Tochter war gestorben und ihr Sohn; und was sie da that, fragt wohl kein Mensch. Ich erfuhr, daß die Tochter Braut gewesen, und daß sie Anna geheißen, sah ich am Kreuz und daß ihr Heinrich nun in die weite Welt geflüchtet und Johann der beste und schönste Mensch weit und breit gewesen sei. Nachdem die Mutter fort gegangen war und ich so . froh, allein zu sein, und ringsum alles so still und kein Menschenwesen weit und breit und die Auferweckten wieder wie Nebel verschwanden und meine Seele überfloss von unsäglicher Wehmuth, hätte ich zu dem schönen gestorbenen Jo- hann in das Grab hinab und mich zu ihm in sein Leichen- tuch wickeln und dort bei ihm sein mögen ewig wegen alP der Trübsal und dem Heimweh und der Liebe

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auf dieser Welt .... und ich wußte nicht, warum das alles so wundersam in mir war und nichts

von der Anthologie der Griechen den Sängern der Vorwelt!"

*

Wer war der Schöpfer dieser Bilder, die uns zeigen, daß der Eros der Griechen auch heute noch unter uns weilt? Daß er Menschenherzen erfüllt und Menschen- verhältnisse beeinflußt? Wer schrieb so? Schrieb so noch ein anderer? Hößli verrät es uns nicht; er läßt es uns erraten aber er fügt an dieser Stelle bei:

in diesen Bildern, in diesen Begriffen, in

diesen Wahrheiten, an die ich noch so manche eigene tiefere Erfahrung knüpfen könnte . . . in ihnen ist der Eros der Griechen sie, ihre Stimmen und Zeugen sind da gültig . . . nicht Greuellehren der Hexen- und Ketzer-Prediger* . . .

Nach allem halte ich für wahrscheinlich, daß Hein- rich Hößli zeitlebens mannliebend war und daß sein „Eros" nicht bloß ein Produkt seines Nachdenkens und Studiums und seines ausgesprochenen Rechtsempfindens war, son- dern vorwiegend als der Ausfluß seines innersten Seelen- lebens aufzufassen ist. War der Verfasser des „Eros* aber nicht mannliebend, so wiegt sein Zeugnis für die Männer- liebe nur noch um so schwerer.

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Franz Desgouttes (1785—1817)

„Alle« kommt mir wie im Traume vor."

Franz Desgouttes.

Da der „Eros" Heinrich Hößli's nach dessen eigenem Geständnisse ein Ausfluß seines unendlichen Mit- leidens mit den Qualen und seines zornigen Ingrimms über die ungewöhnlich fürchterliche Hinrichtung des reumütigen Mörders, des Berner Bürgers Franz Desgouttes gewesen ist, Hößli selbst aber die Schilde- rung der Leiden und der Verworfenheit dieses Unglück- lichen in den beiden erschienenen Bänden seines „Eros" unterlassen und sich wahrscheinlich für den dritten Band aufgespart hat, so wird durch Nachholungdes von Hößli Ver- säumten an dieser Stelle lediglich eine Pflicht schuldiger Pietät gegenüber dem so verdienstvollen Verfasser des „Eros* erfüllt. „An meiner Idee," sagte Hößli, „ist Desgouttes' innere Zerstörung, sein Elend und sein schauer- vollcs Ende zu prüfen und Fluch dem Menschen, der diese Prüfung verschmähte, wenn sie ihm für noch nicht verlorene Mitmenschen Licht und Rettung an die Hand geben könnte" (Eros II, 213).

Als seine Quelle gibt Hößli (Eros I, 277—278) die Schrift an:

„Leben und Lebensgeschichte, Verbrechen und Hinrichtung des Herrn Joh. Franz Xiklaus Desgouttes, Doktors der Rechte und Bürgers der Stadt Bern", Bern, 1817 in 4°. Da die damalige Regierung das Erscheinen dieser Geschichte in ihrem

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Gebiete unterdrückte, so erschien nach H ößli diese Schrift darauihin französisch in Lausanne und 1827 wieder deutsch in Berlin. Desgouttes' Schicksal hat bei seiner Bekanntwerdung Hößli's Gemüt mit Grausen erfüllt, er konnte nicht schweigen und Mensch bleiben. Die Schrift „hat keinen andern als den Werth eines Beitrags zur Geschichte des namenlosen Elends der Opfer unserer Unwissenheit und Unkenntniß der Menschennatur in allen Zweigen. Nach meiner Ansicht gehört sie zu unserer Literatur des Eros das ist fürchterlich, aber natür- lich; wie wir dieses Feld bestellt, so trägt es uns Früchte* (Eros I, 278).

Diese einzige von Hößli angeführte Quelle für Desgouttes ist aller Mühe ungeachtet mir völlig unzu- gänglich geblieben; sie fehlt auch den drei öffentlichen Bibliotheken in Bern, woselbst man sie am ehesten noch erwarten könnte.

Die übrigen das Schicksal Desgouttes' behandelnden, mir bekannt gewordenen Druckschriften bieten für den Zweck dieses Biogramms wenig Belangreiches und deuten eigentlich nur an. So

Heinrich Zschokke, Der Eros oder über die Liebe, in: „Ausgewählte Novellen und Dichtungen von Heinrich Zschokke. Erster Theil, Aarau, 1843*, S. 231 bis 292. Desgouttes heißt hier Lukasson, sein Geliebter Hemmeier wird Walter genannt Seite 232—233, 244, 252—254, 256, 270—271, 289, 291—292.

Heinrich Hößli, Eros. Die Männerliebe der Griechen u. s. w. I. Band, Glarus 1836; II. Band, St. Gallen 1838. üeber Desgouttes handeln Band I S. IX, XVI, 61 und 278, Band II S. 53, 212—213, 225, 239, 263—264, 279, 327*) und 351.

Anonym, Dr. Franz Desgouttes, Dieb und Mörder. In: „Die interessantesten Kriminal-Geschichten aus alter

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und neuer Zeit. Ein Buch zur Unterhaltung, Warnung und Belehrung für Jung und Alt, nach den vorgelegenen Akten bearbeitet und herausgegeben von einem viel- jährigen höhern Gerichtsbeamten. St. Gallen. Altwegg- Weber.* IV und 706 Seiten in 8°, Seite 633—050. Das Erscheinungsjahr fehlt; das Datum des Vorworts ist November 1866.

Während Zschokke und Hößli nur zusammen- fassende Urteile geben, bringt der anonyme Verfasser der Kriminal-Geschichten viel interessantes Detail, aber gerade bezüglich der hier in Frage stehenden Materie schweigt er sich aus und begründet seine Zurückhaltung S. 644 mit den Worten: „Es ekelt uns nachgerade an, von dieser »Freundschaft* mehr zu schreiben, leider aber hängt sie mit der ganzen Geschichte unzertrennlich zusammen."

Ich würde nun ratlos dastehen und Hößli's Zusage nicht einlösen können, wenn ich nicht durch das freund- liche Entgegenkommen des Staatsarchivars des Kantons Bern, des Herrn Dr. Heinrich Türler, in die dankens- werte Lage versetzt worden wäre, die im Staatsarchiv in Bern befindlichen schriftlichen Prozeßakten nebst dem Tagebuche Desgouttes' auf das Eingehentiste studieren zu können, derart, daß alles, was im Nach- folgenden über Desgouttes mitgeteilt wird, einzig dem genannten Akten-Material entnommen ist

I. Ein Mord und seine Folgen.

Am 29. Juli 1817 Morgens nach 9 Uhr erstattete der Bärenwirt Gustav Wiedmer in Langenthal im Kan- ton Bern dem Gerichtstatthalter daselbst die Anzeige, der Schreiber des Rechtsagenten Dr. Franz Desgouttes, Daniel Hemmeier von Aarau, liege tot in seinem Bette und scheine ermordet zu sein. Der Gerichtstatt- halter ließ die Anzeige an den Amtsstatthalter in Aar- wangen weiter befördern und dessen Gegenwart erbitten.

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Dieser erschien mit dem Amisschreiber alsbald in Langen- thal behufs Besichtigung von Oertlichkeit und Leiche. Im Hause des Bärenwirts befand sich zu ebener Erde gleich links von der Eingangstür die Schreibstube des Kechtsagenten Dr. Desgouttes; ihre Besichtigung er- gab nichts Absonderliches; eine Treppe hoch bildeten eine Flucht von drei Vorderzimmern und diesen gegenüber zwei Zimmer und die Küche die Privatwohnung des Dr. Des- gouttes und hier wurde folgendes festgestellt : Im ersten Zimmer stand links neben der Tür ein völlig in Un- ordnung gebrachtes Bett, auf dem unter anderm ein blut- bespritztes, ,F. D." gezeichnetes Hemd und ein Offiziers- säbel mit eiserner Scheide lag, während am Fußboden um das Bett herum viele unvollkommene blutige Fuß- spuren sichtbar waren; eine halboffene Tür führte in das Mittelziramer, dessen Boden zahlreiche blutige Fuß- spuren von solcher Deutlichkeit aufwies, daß die fünf Zehen unterschieden werden konnten, ein Beweis dafür, daß unbekleidete Füße sie hervorgerufen haben mußten; auf einem kleinen Tischchen lag ein großes ledernes halboffenes Säckchen mit drei verschiedenen Behältern, welche Bleikugeln, Patronen und ein kleines Ladestöckchen zu einer Pistole enthielten; im letzten Zimmer endlich, dem Schlafgemache des Schreibers Hemmeier, lag ein junger Mann im Bette auf dem Rücken, kalt, bleich und starr, den Kopf hoch auf dem Hauptkissen mit halb- geschlossenen Augen und offenem Munde, die Arme dem Leibe nach gekrümmt haltend, die Hände auf dem Unter- leibe gefaltet und den linken Fuß aus dem Bette hervor- streckend; eine wollene Decke reichte dem Jüngling bis fast an den Hals, das eigentliche Deckbett bildete einen Knäuel am Fußende des Bettes ; der mit dem Hemde be- kleidete entseelte Körper zeigte wie das Bett überall Blutspuren; dicht am Leibe zwischen dem Ellenbogen und der Achsel des rechten Armes fand sich ein fast

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offenes blutbedecktes großes Sackmesser mit zwei frisch- geschliffenen Schneiden; auch hier wies der Fußboden ungezählte Spuren blutiger nackter Füße auf.

Der Tote war Daniel Herameier von Aarau, ein junger Mann von 22 Jahren. Geboren am 2. März 1794 hatte er sich von früher Jugend auf durch Ordnungsliebe, Lernbegierde und gute Aufführung ausgezeichnet und wurde auf Verwendung seiner Tante Salome Anderes, der Dienstmagd des Herrn Fürsprech Franz Jakob Desgouttes, vom 1. November 1810 an in dessen Schreibstube beschäf- tigt, um den Advokatendienst zu erlernen. Bei der voll- ständigen Mittellosigkeit seiner mit sieben Kindern ge- segneten Eltern war die Dauer seiner Lehrzeit auf fünf Jahre festgesetzt worden; vom 1. November 1815 an war alsdann Hemmeier in derselben Kanzlei als Gehülfe tätig geblieben und nach dem am 6. Juli 1816 erfolgten Ableben des alten Desgouttes zugleich mit der Kanzlei von dessen Sohne Dr. Franz Desgouttes übernommen worden. Hatte Hemmeier schon als Lehrling viel für seinen leidenden Vater und seine kränkliche Mutter ge- tan, so war er als Gehülfe die Stütze, der Trost und die Freude seiner bis dahin in drückender Armut leben- den Eltern geworden ein stiller und strebsamer, wohl- geratener und hoffnungsvoller Sohn.

Gleich nach dem Bekanntwerden der Auffindung des Hemmeier als Leiche lief vom Markte zu Langenthal aus, wo Wochenmarkt tagte, durch das ganze Amt mit Blitzesschnelle das Gerücht von Mund zu Mund, daß kein anderer, als der Dr. jur. Franz Desgouttes, der des guten Jünglings Berater und Wohltäter hätte sein sollen, der Urheber des grausigen Mordes wäre. Dieser hatte am 29. Juli sein nur durch ein Zwischenzimmer vom Schlafzimmer des Ermordeten getrenntes Schlaf- gemach nicht vor 8 Uhr Morgens verlassen, war dann mit einem Portefeuille unter'm Arm auf der Straße nach

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Aarwangen von verschiedenen Personen angetrofl'eu wor- den, hatte sich im Dorfe Aarwangen autgehalten und sich nach dem Dorfe Muhmenthal begeben wollen, wurde jedoch auf dem Wege dahin mit Hülfe von zwei Bauern durch einen Polizei Wächter, der ihm mit einer eisernen Schnur die Hände fesselte, angehalten; er schien zer- schlagen, müde und traurig und mußte starke Getränke zu sich genommen haben; auch seufzte er viel, faßte sich an die Stirn und klagte über Zahnschmerzen. Zu den sich einfindenden Neugierigen sagte er : „Ihr lieben Leute, ich will Kuch gewarnt haben, ergebt Euch nicht dem Trünke* und „Im Rausche und im Zorn soll man nicht sündigen11. So wurde er drei ihn suchenden Landjägern übergeben, welche ihm anfangs Handschellen anlegten, als sie aber gewahrten, daß er sehr schwach und Wider- stand zu leisten unfähig war, vielmehr sagte, sie könnten mit ihm machen, was sie wollten, ihm auch einen Schuß geben, ihn wieder davon befreiten und gegen 1 Uhr Mittags als Untersuchungsgefangeuen in das Schloß Aar- wangen abführten. Im Wartezimmer daselbst gab er dem Schloßknecht eine silberne Uhr mit dem Ersuchen, sie zu verkaufen; der Erlös solle zur Erleichterung seiner Gefangenschaft dieneu. Als der Knecht später hörte, daß des Hemmeier Uhr vermißt werde und die in seinen Händen befindliche die gesuchte sei, gab er sie zurück; Desgouttes hatte sie nach dem Morde von der Wand genommen und zu sich gesteckt; ebenso Taschentücher des Ilemmeler; beides hatte er selbst dem Henimeler geschenkt und dachte nun bei sich: Ich habe sie ihm ge- schenkt und er braucht sie nicht mehr.

Schon am Tage nach dem Morde nahm der Amts- statthalter im Beisein von drei Amtsrichtern und dem Aktuar das Präliminar verhör mit dem des Mordes Verdächtigen vor, in welchem dieser die Tat unumwun- den eingestand; zu seiner Tat, die Vorsatz und Absicht

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gewesen sei, habe er sich den nötigen Mut durch starke Getränke getrunken; seine Tat sei eine prämeditierte Handlung; in einem an Wahnsinn grenzenden Zustande habe er den Hemmeier so zugerichtet, daß er hätte ver- bluten müssen; hätte er nur ein wenig Besinnung ge- habt, so würde er Aerzte oder anderweite Hülfe herbei- geholt haben; in seinem Zustande über sei das ausge- schlossen gewesen. Im zweiten Verhöre am 5. August führte der Geständige aus, wie ihn die Absicht des Mordes gepackt habe; auch Handlungen im betäubten Zustande, in welchem alles zu tun möglich sei, seien mehr oder weniger mit Absicht verbunden. Nebenher legte er das Geständnis ab, mit seinem Lehrling Hans Ulrich Leib und Gut Unzucht- getrieben zu haben.

Bereits am 2. August hatte die Kriminal-Kommission zu Bern wegen Behinderung des Oberamtmanus in Aar- wangen durch Krankheit die Transportierung des Des- gouttes nach Bern und Uebertragung der Untersuchung au das Verhörrichteramt in Bern vom Präsidenten des Justizrats der Stadt und Republik Bern erbeten und der Auftrag dazu war am 4. August erfolgt. So wurde der geständige Mörder am 5. August nach Bern ge- schafft und ihm die Zelle 12 der „oberen Gefangenschaft" angewiesen; nach Aussage des Gefangenen in der Nach- barzelle 11 ging Desgouttes bis über Mitternacht vom 7. auf den 8. August in seiner Zelle umher, klopfte an Tür und Wände, warf sein Lager hin und her und schrie immer: „Hemmeier, ich hab's nicht gern getan! Ihr Herren, laßt mich doch heraus! Mau bringe mir doch Schnupftabak!" Mit dem gefangenen Nachbarn hat er endlich durch die Wand gesprochen und gesagt, wie er heiße und warum er gefangen sitze; hernach ward er wieder ruhig und still wie bei Tage und verlangte nur immer nach Schnupftabak. Seitens des Berner Verhör- richteramtes wurden durch den Verhörrichter v. Wat-

3«*

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tenwyl vom 9. bis zum 19. Augut noch sieben Ver- höre mit Desgouttes vorgenommen, in denen dieser viele seiner Antworten dem Schreiber in die Feder diktierte; er verblieb bei dem Bekenntnisse seiner Ta', erklärte, sie sei mit Vorbedacht begangen und er hatte, obwohl er betrunken gewesen sei, Beson:.?nheit genug bewahrt, um vor und bei der Ausführung des Mordes genau zu wissen, daß er dem Hemmelcr das Leben nehme ; er machte nur die eine Einscln Unkung, der Mord sei un- streitig mehr seiner unglücklichen Imagination beizu- messen als seinem Verstände. Um sein Gewissen zu entlasten, bekannte er, mit dem Hemmeier Jahre hin- durch „unzüchtigen Umgang" gehabt und auch mit an- deren männlichen Personen , Unzuchthandlungen* verübt zu haben. Außerdem gestand er zahlreiche auf anderen Gebieten liegende Straftaten und Verbrechen ein: Diebstahl au Geld und sonstigem Gut, zweimalige De- sertion vom Militär und eine ungerechtfertigte Quartier- bestellung, mehrmalige Fälschung seines Namens, Ur- kundenfälschung, Betrug und Uebervorteilung in seiner juridischen Amtstätigkeit, Mißbrauch von Canthariden bei seinen nächsten Angehörigen, bei den Dienstmädchen seiner Eltern und beim Hemmeler, Mordversuche, end- lich Raub- und Mordpläne, die er nur deshalb nicht ausgeführt habe, weil es ihm an dem dazu nötigen Mute gefehlt hätte. Noch nach Abschluß der Vernehmungen schrieb er an den Verhörrichter eigenhändig sechs frei- willige ausführliehe Bekenntnisse zwischen dem 27. August und 22. September nieder; in diesen fügte er den früheren immer wieder neue Geständnisse hinzu; durch seine Geständnisse hat er sich allmählich in eine solche Scham, in einen so tiefen Abscheu vor sich selbst hineingelebt, 'daß er in all' seinem Tun und Lassen nur noch Aus- fluß seiner Eigenliebe, Unzucht, Völlerei, Verschwen- dung, Genußsucht und Bosheit zu erkennen vermag und

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in Absicht und Tat für das verworfenste Scheusal der Erde, für das größte Ungeheuer, das die Erde getragen, angesehen seiu will. Tief hat ihn die Leichenrede auf Hemmeier gerührt; der bloße Anblick seines Opfers senkt ihn in des Jammers Tiefen. Er erklärt, auf einen Verteidiger zu verzichten und seiner eigenen „Ver- teidigung* eine schriftliche „demütige Supplikation" an seine Richter vorzuziehen. Er hält sich des Todes für schuldig und wünscht den Tod auf dem gesetzlichen Wege.

Am 20. August legte der Verhörrichter die Unter- suchungsakten Desgouttes der Kriminal-Kommission des Obersten Appellations-Gerichts der Stadt und Republik Bern vor und am 23. August konnte der Präsident der Kriminal-Kommission zu Bern an das Oberamt Aarwangen berichten, daß die Prozeß Verhandlung zu Ende, die wichtigsten Zeugen vernommen und die nötigen Infor- mationen eingeholt seien; er übermittelte die Akten dem Amtsgericht Aarwangen als erstinstanzlichem peinlichen Richter zur Beurteilung, wobei er der Meinung Ausdruck gab, die Eingeständnisse des Delinquenten eigneten sich so wenig zur Bekanntmachung wie zu einer längeren Behandlung. Das Oberamt zu Aarwangen, bestehend aus drei Amtsrichtern und zwei Suppleanten unter dem Vor- sitze des Amtsstatthalters, erkannte am 2. September einmütig auf schuldig des Meuchelmordes und der Ver- urteilung zur Hinrichtung durch das Schwert. Woraufhin das Oberste Appellationsgericht zu Bern revisionsweise zu Recht sprach und am 27. September erkannte : Der Delin- quent solle, nachdem er in Sachen seines Heils unter- richtet sein würde, auf der Richtstätte vom Leben zum Tod hingerichtet, zuerst erwürgt und dann gerädert, sein Leichnam hernach auf das Rad geflochten, erst am Abend davon abgenommen und zuletzt an dem verschmäheten Orte verscharrt werden. Aus seinem allfälligen Ver- mögens-Nachlaß sollen sowohl Schaden-Ersatz als auch

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die Kosten der Prozedur, Gefangenschaft und Hinrichtung bestritten werden.

Diese Exekution wurde au dem Verurteilten zu Aarwangen am 30. September vollzogen; der Delinquent zeigte bis zum Lebensende eine außerordentliche Geistes- gegenwart und Standhaftigkeit und ging seinem Tode mit Reue und Ruhe entgegen.

Die letzte Stunde des Mörders behandelt eine kleine Druckschrift, deren wortgetreuer Abdruck hier folgt:

Rührende Standrede des hingerichteten Johann Franz Nikiaus Desgouttes von Bern, ehemaligen Doktors der Rechte in Langen- thal, mit Christlicher Unerschrockenheit vor- getragen auf dem Hinrichtungsplatze zu Aar- wangen den 30. Herbstmonat 1817. (Sein Vortrag war feurig und schnell.) Bern, gedruckt bey Ulr. Niki. Schönauer, No. 218 am Stalden. ')

Zahlreich versammelte Zuschauer meiner wohlver- dienten Todesstrafe, die Mehrern ohne Zweifel auch Zeugen meines ungläubigen sünden vollen Lebens!

Höret! ach höret nun die letzten Worte eines reuig sterbenden Uebelthäters ! Ja! ich bin es der Allerheiligsten Ehre meines tief beleidigten himmlischen Vaters und Heilandes, ich bin es Seiner mit Füßen getretenen göttlich wahren Religion schuldig, ich bin es allen durch mich Geärgerten, im Glauben Irregemachten und Ver- führten und auch dem Heil meiner eigenen armen Seele schuldig, noch vor meinem Ende ein lautes öffentliches Bekenntniß vor Euch abzulegen und Euch zu sagen, wohin die verbleuderische Zaubergewalt der von mir so vergötterten sogenannten Welt- Weisheit, die vor Gott wahre Thorheit ist, mich in meinem Leben gebracht und durch was für erbarm ungs volle Führungen und ehemals

*) 4 Seiten ohne Paginierung in Quart, mit Trauerrand.

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von mir verachtete Kräfte raein ganz verarmter Geist aus dem tiefen Abgruude, worinnen ich mit Leib und Seele ewig verloren gewesen wäre, zu dem gegenwärtigen glückseligen Zustand wieder erhoben worden sey.

Glaubt mir, theure Freunde! daß, wenn an irgend einen Menschen alle Aufopferungen, Mühe und Unterricht zur höchstmöglichen Bildung seines Verstandes verwendet worden, welche heutzutage meist für hinreichend gehalten wird, um den Menschen wahrhaft gut und glückselig machen zu können, so ist es gewiß an mir geschehen. Auch habe ich bey der Welt aller daraus fließenden schönen Vorzüge genossem

Aber ach! was ist bey aller hohen Erziehung des Verstandes eine von angeborner Ehrsucht, Hochmuth, Fleischeslust und Liebe zur Eitelkeit irregeführte und überdieß noch von Unglaubens- und Romanbücher-Gift verfinsterte menschliche Vernunft, die sich selbst über- lassen und vom allmächtig verbessernden Lichte des Geistes und Wortes Gottes leer bleibet? Ein unge- staltes Ungeheuer, ein gefährliches Irrlicht, eine Seelen- mörderin und höchste Feindin zeitlichen und ewigen wahren Glücks! bey welchem allem sie doch auf eingebildete Weisheit und Kräfte so stolz ist.

Ja! vor den Ohren meines Obersten Richters, vor dem keine Heucheley mehr möglich ist, bekenne ich hier mit bald sterbendem Munde, aus aller Kraft meines Herzens: ,Einzig und allein diese thörichte Vernunft und die Verführerin so vieler Tausenden, die falsche Weltweisheit war es, welche zuerst zum verborgenen Fall den Grund legte, dann von einem Laster zum andern mich verstrickte, mein Herz zu einer unreinen Wohnung aller bösen Anschläge machte und mich, da ich nach völliger Sünden-Freyheit und Ruhe vor dem Nagen meines Gewissens dürstete, auch noch in die schrecklichsten Finsternisse der Verachtung und Verspott-

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ung alles Glaubens an einen Gott und Heiland, an Unsterblichkeit und ewige Vergeltung hineinsenkte, worinnen ich dann der vollkommensten Herrschaft aller wilden Geister und Leidenschaften und endlich auch dem Mord-Geiste so preisgegeben war, daß ich keine Ruhe mehr hatte, bis ich hier anlangen mußte/

Aber wer hat mich dagegen aus diesem Elend heraus- gezogen? O, wer anders als alleine die göttliche Barmherzigkeit, die auch mir, ihrem Verächter, immer noch mitleidsvoll nachgieng! Ja, durch sie allein bin ich in die heilsame Stille der Gefängnisse geführt, über meinen schrecklichen Seelenzustaöd erleuchtet und zum Nachdenken gebracht, durch sie allein* bin ich vor völliger Verzweiflung bewahret und endlich als ein tief gedemüthigter armer Sünder mit allen meinen unnenn- baren Sündengräueln, zu meiner allertiefsten Beschämung, zu unbegreiflicher Gnade wieder angenommen worden ; wofür ich sie ewig nie würdig genug werde preisen können.

Und nun bekenne ich aus innigst dankbarem Herzen ebenfalls öffentlich: Daß allein Jesus Christus, der wahre Gott- Mensch, mein Heiland und Retter geworden sey; daß Er auch für mich hier gelebt, Sein unschuldiges Blut vergossen und den Kreuzestod zur Versöhnung für meine Sünden ausgestanden habe, daß Er alleine mich ewig fluchwürdigen Süuder aus dem Sumpfe von Elend, worin jene verkehrte Weltweisheit mich bereits versenkt hatte, errettet; ja daß ich auch nur durch Seine Kraft alleine (indem ich aus mir selber nichts bin noch vermag) bis auf diesen Augenblick noch von der Furcht des Todes frey und ruhig geblieben und nun vertraue, daß Er mich auch zur letzten Arbeit bev der Zerstörung meines schwachen Fleisches allmächtig stärken und in Sein herrliches Reich hinüber führen werde!

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O Ihr alle, lieben Freunde! höret doch diese Stimmen eines sterbenden Sünders an Eure Herzen ! Glaubet doch an Euere Gott und Heiland! Haltet Euch ganz und ewig an Ihn! Ohne Ihn seid Ihr fast ohne Rettung verloren, Ihr möget thun, was Ihr wollet! Der Herr er- barme sich über Euch alle! Betet nun für mich, daß Er sich auch über mich erbarme!

Und nun will ich eilen! [Hier erhob er mit in die Höhe gerichteten, gefalteten Händen einen unaussprech- lichen Blick in den heitern Himmel] Denn meine Seele sehnet sich nach dem Himmlischen Vater und seinem liebenswürdigsten Sohne Jesu Christo, vor welchem ich nun bald erscheinen zu können mich freue! Ihm übergebe ich zum letztenmale meinen Leib und meine Seele zum ewigen Eigenthum! Amen.

(Hierauf entkleidete er sich selbst mit aller Ruhe und legte sich sanft auf das Todeswerkzeug nieder, bis er mit ernstem Blicke, aber standhaft ruhig bis an's Ende, die Augen schloß.)

II. Franz Desgouttes' Leben und Charakteranlagen.

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Das zu Bern 1785 ehelich geborene Kind des Proku- rators Franz Jakob Desgouttes und seiner Ehefrau Jo- hanna Margaretha geb. Holzer erhielt am 8. März bei seiner im großen Münster zu Bern nach katholischem Ritus erfolgten Taufe die Namen Johann Franz Nikiaus. Franz hatte drei Geschwister: einen Bruder Emanuel und zwei Schwestern, die späteren Ehefrauen Steinhäusli und Debary. Sein Großvater väterlicher Seits hatte nach Angabe des Pfarrers Friedrich Rütimeyer nicht wenig Ueberspanntes in seinem ganzen Wesen gehabt und sein Großonkel war ein „blödsinniger Verrückter.* Franz

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blieb nur bis in sein 7. Jahr im Vaterhause zu Langen- thal unter der Aufsicht seiner Mutter und wurde als- dann in verschiedene Pensionsanstalten gegeben. Erst den 14 Jahre alten und ziemlich verwahrlosten Knaben nahm der Vater wieder auf und übergab ihn dem Reli- gionsunterrichte eines Pfarrers, bei welchem sich der junge Mensch mit großem Eifer zum hl. Abendmahle vor- bereitete; nicht leicht habe, gesteht er selbst, jemand diese Handlung so feierlich begangen und sein Leben sei dazumal fleckenlos und untadelhaft gewesen. Bis Juli 1800 blieb er im Vaterhause mit den Vorbereitungen zu einem Lebensberufc bes. durch Kopieren von Rechtsschriften beschäftigt und kam, nachdem er in Lützel flüh beim Pfarrer Moser sich schöne Kenutnisse in Philosophie und Sprachen angeeignet hatte, 1802 nach Lausanne, wo er leichtsinnig Schulden machte, in seiner Not einen Ge- nossen bestahl, ertappt entfloh, aber nach erfolgter Fest- nahme nach Langenthal geschafft wurde. Der ratlose Vater gab den ungeratenen Sohn 1803 einer Frau de Feiice zu Yverdon in Kost, nahm ihn aber 1804 wieder zu sich, da der junge Mensch nichts lernte, allerhand Unfug trieb und „nur eine Tugend, die der Mäßigkeit im Trinken, zeigte," woher er den Namen boi l'eau (Wasser- trinker) erhielt. Im Herbst 1804 bezog er die Univer- sität Tübingen* welche er 1806 mit dem Diplom eines Doctor juris wieder verließ. Im Elternhause wurde er nun vom Vater, der viele Schulden für ihn zu bezahlen hatte, streng gehalten, was ihn mißmutig machte und ihn nicht nur zu tollen Streichen trieb, sondern auch zum unmäßigen Trinken, dem er sich in Tübingen schon er- geben hatte, veranlaßte, um seinen Unmut zu betäuben; er trat in ein sinnliches Verhältnis zur Dienstmagd seines Schwagers und zog mit ihr Monate hindurch im Lande umher, bis er 1807 bei einem Einbruchsversuche fest- genommen und zu seinem Oheim nach Bern geschafft

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wurde; als er auch hier sich schlecht führte, ward er ge- zwungen, im 3. Schweizer Regiment zu Beifort franzö- sische Dienste zu nehmen ; nach zweimaliger Desertion, einem tollen Leben und einer Gefangenschaft von 135 Tagen wurde er im Mai 1809 nach Hause entlassen, ob- wohl er erst 1812 seinen eigentlichen Militärabschied erhielt. Im Elternhause geriet er 1813 in schwere Ver- schuldung, die ihn außerordentlich drückte; ein Lotterie- gewinn im Jahre 1814 deckte zwar einen Teil derselben, machte jedoch den glücklichen Gewinner um so kühner im Einsetzen. Alles in allem war dieser Zeitraum der glücklichste in seinem unruhigen Leben, indem Franz ganze 7 bis 8 Monate hindurch des Genusses geistiger Getränke sich enthielt. Aber nach einem Mägdewechsel im Eltern- hause ergab er sich sinnlichen Ausschweifungen mit der neu eingetretenen Dienstmagd; diese erklärte, um ihn auszu- nutzen, sich als von ihm geschwängert und da er nun beträchtliche Summen bezahlen mußte, verlor er bis in den Herbst 1815 alle Besinnung, machte zu seiner Zer- streuung kostspielige und unsinnige Reisen und ergab sich dem Trünke, so daß ihn bald wieder eine große Schuldenlast drückte. Eine Prokuratorstelle, auf welche er rechnete, erhielt er nicht, ein Unglück, welches seinem starblinden Vater den physischen, ihm den moralischen Todesstoß versetzte. Sein Verkehr mit Hemmeier be- darf einer gesonderten Behandlung.

Frauz Desgouttes war ein Mann von schlankem, hohem Wüchse mit kastanienbraunem Haar und eben- solchen Augenbrauen, grauen Augen, mittelgroßem Munde und langer Habichtsnase. Er war Gemütsmensch und nichts weniger als kalter Verstandesmensch. Seine Seele war voller Einbildungskraft und seine Phantasie von außerordentlicher Lebhaftigkeit; nachdem er ein medi- zinisches Buch studiert, glaubte er alle Krankheiten zu besitzen, von denen er gelesen hatte; die Schilderungen ge-

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schichtlicher und dichterischer Werke vergegenwärtigte er sich mit solcher Unmittelbarkeit, daß er bei ihrer Wiedergabe, mit der er einsame Stunden ausfüllte, in starke Er- regung geriet und dann bisweilen ganz unkenntlich wurde; besonderes Wohlgefallen fand er am Ueber- triebenen; die Musik besaß eine große Macht über sein Gemüt; obwohl ein Verächter des „Pfaffenwesens* und der Klosterbrüder zeigte er sich besonders als werdender Jüngling und als Delinquent von tiefgehender Religiosität. Bei solch' eigenartiger Veranlagung fanden sich in seinem Wesen die widersprechendsten Charaktereigenschaften nebeneinander; bald war er lange Zeit völlig nüchtern, bald ergab er sich dem Trünke bis zur Besinnungs- losigkeit; in der Trunkenheit faßte er Entschlüsse zu Diebstahl, Einbruch und Mord, vor deren Ausführung er nach erfolgter Ernüchterung mutlos zurückbebte: „Alle Ausführungen unterblieben, nicht aus Tugeud, sondern aus Mangel an Mutb"; ja die Furcht vor Gespenstern und Mördern in seiner Knabenzeit ward er auch später nicht ganz los; einmal voll Offenheit, Lebensart und Witz, ja selbst kindischen Scherzen nicht abgeneigt, war er das anderemal launisch, verdrießlich und abstoßend ; bisweilen von einem solchen Jähzorn besessen, daß er alles zer- schlug, was ihm erreichbar wurde, schämte er sich im nächsten Augenblicke seiner selbst und verfiel dann in eine an Schwäche grenzende Gutmütigkeit; er brachte es fertig, zu stehlen, wo es etwas zu nehmen gab, und zeigte doch überall eine auffallende Geringschätzung des Geldes, indem er mit demselben mitleidsvoll Bedürftige beschenkte; fleißig und belesen, schlug seine anhaltende Arbeitskraft urplötzlich in Unfähigkeit und Widerwillen um ; dann raste er fort, durchjagte Flur und Wald und nahte nur nachts den Dörfern; ohne jede Spur von Eltern- und Geschwisterliebe erwies er sich fremden einfachen Leuten als einen herrlichen Ratgeber-. Den Verdacht der

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Blutgier wollte er nicht auf sich sitzen lassen: Wenn er mit Pistolen knallte, so sei es nicht geschehen, um Vögel und andere Tiere zu töten, sondern lediglich, um ein Echo hervorzubringen, an dem er seit seinem 13. Jahre ein lebhaftes Wohlgefallen gehabt; einem jungen Fuchs, den er eine Zeitlang gehalten und sehr geliebt hatte, habe er in plötzlicher Eingebung den Kopf vom Rumpfe getrennt, weil der Unhold ihn und andere gebissen habe. Sein Geschlechtstrieb erwachte bereits in seinem 14. Jahre und sofort gebieterisch; zeitlebens war er von gänzlich unge- bändigter und unbefriedigter Sinnenlust ; wenn schon das Lesen von Wieland's „Agathon" ihn zu sinnlichen Aus- schweifungen verleitete, wie müssen erst Beispiele, die er erlebte, auf ihn eingewirkt haben!

III. Franz Desgouttes' Liebesleben.

Für die Kenntnis des Liebeslebens Franz Desgouttes' liefert neben den Prozeßakten sein Tagebuch ein bedeut- sames Quellenmaterial. Wie aber einerseits die Prozeß- akten Angaben Desgouttes* über seine Pläne und Absichten enthalten, welche von ihm selbst als zweifelhaft hinge- stellt werden oder einander zu widersprechen scheinen, auch den Eindruck erwecken, als ob sie durch au ihn gerichtete Fragen beeinflußt oder unter dem Drucke seines Abscheus vor seiner eigenen übertriebenen Schlechtig- keit ihm in die Feder geflossen seien, so erstreckt anderer- seits das Tagebuch sich nur über den Zeitraum eines einzigen, des letzten Jahres seines Lebens. Scheint so viel gewiß zu sein, daß Desgouttes sich nicht allein in maßloser Weise der einsamen Onanie ergab, sondern auch seinen Mitmenschen gegenüber von fast schrankenloser Sinnlichkeit war, indem ihn das Verlangen trieb, alle hübschen Mädchen zu verführen und mit allen hübschen

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Knaben und Jünglingen sich zu vereinigen1), so ist nicht minder gewiß, daß er einzig den Hemmeier mit Leib und Seele geliebt hat, den Hemmeier, der das Glück und das Unglück seines Lebens war.

Desgouttes* Geschlechtstrieb war bereits erwacht, als der Knabe in der zweiten Hälfte des Jahres 1800, 15 Jahre alt, beim Pfarrer Moser iu Lützelflüh als einziger Schüler und Tischgenosse lebte; er war hier „leider zu oft einsam" und diese Einsamkeit entwickelte immer mehr die „unglücklichen" Anlagen seiner lebhaften Ein- bildungskraft; er hatte bereits „Visionen" aller Art, die verzerrtesten Bilder der Imagination* umlagerten ihn unaufhörlich; das war auch der Grund, warum er in dieser Zeit öfters „Unzuchtsüuden" trieb, die seine Nerven schwächten und ihn noch reizbarer machten. Ueberhaupt fing nach erwachter Phantasie seine Unzucht mit Onanie an, besonders geweckt durch die Lektüre von Wieland's Agathon „Dieses schreckliche Laster* verließ ihn nie und er hat es „in einem unglaublichen Maße* getrieben; zum letzten Male geschah das am 28. Juli 1817 Morgens nach einem Attentat auf Hernmeier, nur einen Tag vor der Ermordung dessen, den er von allen Menschen am meisten und innigsten liebte. Die Onanie und die Trunk- sucht redete er sich selbst als „Produkte" seiner Phantasie und als die Grundlagen aller seiner Verbrechen ein. In

l) Ob es richtig wäre, den Desgouttes wegen dieser Vielseitig- keit (mit dem Verfasser der Schriften „§ 143 des Preußischen Straf- gesetzbuchs" und „Das Gemeinschädliche des § 143 des Preußischen Strafgesetzbuchs vom 14. April 1851", Leipzig, Serbe 1869) als Mono-, Homo- und Normal-Sex ualisten zu rubrizieren, ist eine andere Frage. Gibt es doch Kenner des Sexuallebens, welche das Vorkommen von Bisexualität entschieden in Abrede stellen; ein Physiognom des Urningtums schrieb mir in Bezug auf Goethe . . . „in modo ejacutationis, ja, da kenne ich Menschen, denen ist es gleich, ob sie rechts oder links gehen; in modo araoris, nein, ganz entschieden nein, da kenne ich niemanden".

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eiuem seiner freiwilligen schriftlichen Bekenntnisse an den Verhörrichter von Bern sagt er: »Ich bitte den Hohen Richter um Gotteswillen, ich beschwöre Hochden- selben um des höchsten letzten Gerichts willen, alle Haus- und Familienväter furchtbar und ernstlich zu warnen, auf ihre Kinder ein unendlich wachsames Auge zu haben, denn diese Seuche herrscht allgemeiner, als Jemand glaubt In meinem Pulte in der mittlem Stube liegt ein von Hamburg gekommenes Mittel, weiches dazu dient, den geschwächten Körper herzustellen; aber man sollte darüber einen nicht selbstsüchtigen Arzt fragen, ehe man es bekannt macht. Doch wenn nur die Jugend streng beobachtet wird, so bedarf man solcher Mittel nicht. Solche schreckliche unnatürliche Verbrechen entquillen aus der Ouanie, wie ich begangen habe. Möchte ich der letzte Onanit gewesen sein!"

Von fast unbegrenzter Eindrucksfähigkeit gegenüber seiner Gattung fand seine Phantasie in Finsternis und Ein- samkeit Erlösung allein in der Onanie; im Bette wirkte die Imagination so ausgedehnt, daß sie ihm Bilder bestimmter männlicher oder weiblicher Personen vorspiegelte, ihm Gemälde von Wollust vorzauberte und Begierde nach Genuß in ihm erweckte, welche nach seinen Eingeständ- nissen hin und wieder nicht an der Sinnenlust der Liebe Ge- nüge fand, sondern mit Mordgedanken in Verbindung trat; nach erfolgter Erlösung durch Onanie unterblieb alsdann die Ausführung sowohl des Mordplanes als des erträumten Sinnengenusses; in diesen Zuständen kommt bei Des- gouttes das Pathologische unverkennbar zum Durchbruch.

Die dominierende Triebrichtung in Desgouttes' Ge- schlechtsleben vom Erwachen der Phantasie und der ersten Regungen an bis zur Mordkatastrophe war und blieb die auf jugendliche männliche Personen; hier fühlte sich seine Geschlechtsnatur in ihrem wahren, eigentlichen Elemente und wurde von einer Person auf Jahre hinaus gefesselt.

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In Zofingen schlief der junge Desgouttes 1799, 14 Jahre alt, gewöhnlich bei dem siebenjährigen Sohne des Schulmeisters Sutermeister ; schon hier begann er Wollust- trieb zu fühlen und „vereinigte- sich mit dem Knaben; allein aus Mangel an Kraft erfolgte nichts." In Lützel- flüh hat er 1801 „einen kleinen Knaben mißbraucht"; derselbe, gibt er an, sei «längst, aber nicht dadurch, verstorben.* 1802 trieb Desgouttes in Lausanne mit seinem Schlafkameraden Jakob Mettler öfters Unzucht" ; wie zu seiner Entschuldigung fügt er bei: „Dieselbe hatte aber keine Folgen für ihn". In seiner Soldatenzeit er- lebte Franz mannigfache Szenen von Ausgelassenheit der Soldaten mit dem anderen Geschlecht; doch scheinen solche ihn nicht sonderlich angefochten, seine Sinne zur Nachahmuug gar nicht gereizt zu haben. Dahingegen er- innerte er sich lebhaft, wie zu Lille im Bette neben ihm „ein Freiburgischer Bedienter mit einem jungen Trommel- schläger beinahe alle Nächte sein Wesen trieb", was seine Phantasie dazumal (1808) außerordentlich in Be- wegung setzte. Er selbst schlief zu Beifort gegen Ende seines Dortseins (1809) mit einem jungen Re- kruten in einem Bette, „woselbst leider das Laster der Unzucht öfter getrieben ward, und zwar von beiden Seiten." Im Januar 1811 befand sich beim Amtsweibel Johann Dennler in Langenthal ein Pensionär von 16 Jahren, Louis Vuillemier; schon bei seiner ersten Bekannt- schaft mit diesem Jünglinge, der vom Zeugen Dennler als „ganz verdorben" gekennzeichnet wird, faßte Des- gouttes den Entschluß, ihn sich anhänglich und dann willfährig zu machen. Er entführte ihn in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag und trieb während der Flucht im Bette mit ihm „Unzucht", wurde aber schon am Samstag mit dem jungen Menschen vom Knecht seines Vaters wieder eingeholt und kehrte willig zum Vater zurück ; er hatte geplant, auf einen von ihm selbst

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gefälschten Paß als Karl Meyer mit dem Vuillemier als seinem Bedienten Ludwig Ernst nach Zug zu seiner Schwester und von da nach Deutschland zu wandern. Kaum zu Hause wieder eingebracht, beschloß er einen zweiten Entführungsversuch des Vuillemier; er wollte in das Haus des Amtsweibels dringen, durch des Kostherrn Stube schleichen, bei Widerstand Gewalt gebrauchen, den Vuillemier zur „Unzucht" und Flucht bewegen und im Falle seines Widerstrebens oder selbst nach erreichtem Genüsse den jungen Menschen umbringen; zunächst aber berief er den Vuillemier in seine Wohnung und redete auf ihn zu einem nochmaligen Fluchtversuche ein; als aber der Gegenstand seiner Wollust ihm trotzig be- gegnete und nicht einwilligen wollte, so kam ihm in der Angetrunkenheit der teuflische Gedanke, schon jetzt den Widerstrebenden zu töten und in den Abort zu werfen; nur die Stimme eines Freundes des Vuillemier, der diesen auch mit Desgouttes zusammengebracht hatte und vor dem Desgouttes sich scheute, hielt letzteren von der Aus- führung seines Vorhabens ab. Auch den eigenen Sohn des Amtsweibels Dennler, ein Bürschcheu von 1 1 Jahren, schonte er nicht; ihn hat er um eben diese Zeit ,ein paar mal in sein Zimmer gelockt und mit ihm, jedoch nicht nackt, dieses Laster ausgeübt." Er fügt hinzu, der Knabe habe nichts davon gewußt und befände sich jetzt im Wraadtland. Späterhin hatte er noch geschlechtlichen Umgang mit einem Jakob Kummer, mit einem Nach- barssohne Johannes Madliger und mit dem zur Zeit des Mordes an Hemmeler 22 Jahre alten Analphabeten Jakob Herzig.

In allen diesen und überhaupt allen Fällen der Aus- übung seines Geschlechtstriebes an männlichen Personen bekennt sich Desgouttes als den „Selbstverführer* und gesteht: „Die Phantasie half mir leider nur allzu ge- treulich nach."

Jahrbuch V. 37

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Da trat 1810 Daniel Hemnieler, IG Jahre alt, als Kopist in den Dienst des alten Desgouttes, in dessen Hause er wie ein Familienmitglied gehalten wurde. Der junge Desgouttes, oberflächlicher Geselligkeit abhold und doch durch seine starke Liebesnatur genötigt, eng- sten Anschluß zu suchen, wo er irgend ihn finden konnte, gewann den um zehn Jahre jüngeren ordentlichen und fleißigen, guten und tugendhaften Hausgenossen lieb und immer lieber und bemühte sich, das Vertrauen und die Zuneigung desselben für sich zu erobern. Außer den Arbeitsstunden verlebte er die meiste Zeit mit dem Hemmeler; da er von seinen akademischen Freunden nur selten jemand bei sich sah und doch gelehrte Ge- spräche liebte, so war es seine größte und reinste Freude, seineu jungen Freund, die griechischen Philo- sophen nachahmend, spazierend zu unterrichten. Er machte ihm oft kleinere und größere Geschenke an Büchern, Waffen und dergleichen; auch sorgte er teil- nehmend für dessen körperliches Wohlergehen; er ba- dete mit ihm in einer Badeanstalt und teilte mit ihm die Genüsse des Weines und der Tafel. Er scheint es zuwege gebracht zu haben, daß der junge Mensch Reiz an seinem Umgang fand und ihm gern und allein angehörte. So wuchs durch die Gewohnheit und durch die Möglichkeit, den Freund immer zu haben, wenn er seiner bedurfte, Desgouttes' Zuneigung zum Hemmeler zu einer leidenschaftlichen Neigung heran und der Jüngling flößte durch sein unschuldvolles Wresen dein älteren Manne überdies eine unwillkürliche hohe Achtung ein, so daß Aussicht war, der leidenschaftliche Mann habe an dem ruhigen, besonneneu Jünglinge den ihm so nötigen Halt für sein Leben gefunden.

Im Jahre 1812 begann Desgouttes mit dem Hem- meler in geschlechtlichen Verkehr zu treten, während bei dem Jüngling der Geschlechtstrieb erst 1814 ' er-

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wachte; alsobald gab Desgouttes dem Unschuldigen wollüstige Bücher zu lesen, um dessen Begierde nach geschlechtlichen Genüssen in seinem eigensten Interesse anzufachen. Denn seine Liebe zum Hemmeier war doppel- ter Art, war „edler* und „phantastischer", aber auch „niedriger" und „grobsinnlicher* Natur. Aber diese bei- den Seiten seines Wesens flößen Hemmeier gegenüber völlig in einander. So oft er bei dem Geliebten schlief, gewann er es nicht über sich, den Jüngling in Ruhe zu lassen; wenn er dann bei diesem ein Entgegenkommen für sein Triebleben nicht fand und auch mit Gewalt und List nichts zu erreichen vermochte, so tat er, als ob er eigentlich immerdar „dieses Laster" verabscheue und seine Ausübung jedesmal besonders bereue; er unterlieft dann oft Monate lang, den geliebten Jüngling mit seinen Zudringlichkeiten zu belästigen, und fing nur wiederum an, wenn er angetrunken war; gelegentlich tat er dem Widerstrebenden den feierlichen Schwur, alles Geschlecht- liche ganz und gar zu unterlassen, insofern der Geliebte seine ganze Freundschaft ihm ungeteilt schenken und dafür ihm auch Sicherheit gewähren wolle. Aber der .bessere Mensch* in ihm vermochte nur so lange sieh zu behaupten, bis Hemmeier eine Probe seines Undanks für Desgouttes' Sorge und Aufwendungen dadurch ab- legte, daß er gleichsam zum Trotze den Liebhaber hint- ansetzte, was er dann freilich schon im nächsten Augen- blicke, seiner gutmütigen Xaturanlage entsprechend, wieder zu bereuen schien; aber auch dann noch fügte sich Hemmeler dem leidenschaftliehen Liebhaber immer nur mit Widerwillen. Diese Art der Führung eines halb zurückgewiesenen Liebeslebens kränkte den Lie- benden tief und er machte darüber dem Geliebten die bittersten Vorwürfe; nahm er doch wahr, daß durch ihren gemeinsamen Geschlechtsverkehr weder das physi- sche Wesen, noch die moralische Natur des. innigst Ge-

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liebten Schaden litt. Im höchsten Grade unglücklich, fiel Desgouttes wiederum der Onanie anheim und fühlte sich bald geschwächt; dann schämte er sich gegenüber der größeren Maunbarkeit des Hemmeier, der selbst sei- nen Körper nie befleckte, und in seinem Widerstande gegen die wechselseitige Selbstbefleckung ward dann Hem- nieler wieder durch seinen unglücklichen Liebhaber da- durch bestärkt, daß dieser in ruhigen Stunden ihm über das Abscheuliche dieses Lasters" allerlei Gedanken dar- legte, als ob es seine eigenen seien. Dieses ewige Widerspiel brachte den noch immer nicht verzagenden Liebhaber auf die sonderbarsten Versuche. Da Hemmeier seinen geschlechtlichen Umgang nicht suchte, so erregte Desgouttes, sobald seine Geschlechtslust wieder rege ward, oft künstlichen Streit oder führte den Anlaß zu einem solchen herbei, einzig, damit Hemmeier wieder mit ihm Frieden schließe und dann in guter Laune seine Wollustausbrüche gestatte; weigerte sich aber Herameier auch dann, so ließ Desgouttes ihn bei sich schlafen und erzwang die Unzucht"; kein Mittel ließ er unversucht, seine unbefriedigte, zu einer wahren Satyriasis ausartende Wollust an dem einzig Geliebten auszuüben. Um den- selben geschlechtlich anzuregen, ließ er den Hemmeier viel Wein trinken, nach dessen Genuß seiner Erfahrung gemäß auch regelmäßig die erwartete Wirkung sich ein- stellte; der Genuß von Canthariden aber, die Desgouttes dem Hemmeier heimlich beibrachte, um dessen Ge- schlechtsdrang zu steigern, hatte nur eine krankmachende Wirkung. Auch ließ er den Hemmeier starke Chocolade mit unsäglich viel Zimmet, den er hinzufügte, des Abends trinken, dann vielen Wein, alles in der gleichen Absicht, deren Erreichung fast immer mißlang oder ohne Hcmme- ler's Willen gelang. Wenn, was öfters vorkam, der an hektischer Anlage leidende Hemmeier erkrankte, an Magenschwäche, Durchfall oder Halsweh litt, st) wich

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Desgouttes ganze Tage und Nächte kann» von dessen Lager und verrichtete für den, den er über alles liebte, öfters die Geschäfte der niedrigsten Dienstmagd. Allein alles dieses konnte Hemmeler's Gegenliebe nicht er- wecken. Obwohl beide öffentlich in guter Zufriedenheit mit einander auszukommen schienen, brach Desgouttes' verhaltener Unmut mit der Zeit öfter und stärker her- vor. Dann klagte er wohl auch Personen seiner Um- gebung, daß Hemmeier von ihm angebotene Geschenke ganz ohne Danksagung annehme. Schlug aber Hemmeier solche Geschenke, die er für Bestechuugsgeschenke an- sehen mußte, gänzlich aus, so konnte das den Desgouttes bis zur Raserei empören und verleitete ihn zu den hef- tigsten Vorwürfen; doch augenblicklich bereute er sein übereiltes Verfahren, bat seinen Liebling um Vergebung und bot ihm, um dessen gänzliche Zufriedenheit zu er- wirken, wieder neue Geschenke an. Geschenke und Vorwürfe hatten immer wieder den Hauptzweck, den ungefügigen Hemmeier willfährig zu machen. Dieser ewige Wechsel von Verdruß und halber Seligkeit wirkte auch auf Desgouttes' sonstige Launen, so daß sein Zustand bisweilen schrecklich war; alsdann schonte er niemanden, mißhandelte die Mägde, schlug sie blutwund, mißhandelte den unschuldigen Hemmeier und zerschlug, was ihm unter die Finger kam. Und doch fühlte er sich so eins mit dem Geliebten, daß er einen Tadel über ihn aus fremdem Arunde nicht ertragen konnte; die Dienstmagd Salome Anderes, Hemnieler,s Tante, welche ihrem Herrn zu bemerken wagte, daß der Hemmeier des Morgens zu lange im Bette liege, zog sich augenblicklich des Gestrengen grimmigsten Haß zu, da dieses eine An- gelegenheit beträfe, in die sie nach seiner Ansicht sich nicht zu mischen habe. So ganz war der Hemmeier Desgouttes' zweites Ich geworden.

Desgouttes wollte seinen Liebling allein für sich be-

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sitzen und ihn ausschließlich wollüstig genießen; er duldete daher nicht, daß irgend ein Nebenbuhler daran Anteil habe; er hielt den Jüngling so lange wie möglich ganz davon ab, Bekanntschaften zu machen, und hoffte so zu verhindern, daß derselbe einen noch größern Abscheu gegen den geschlechtlichen Umgang mit ihm empfinden, Verachtung gegen ihn fühlen und zum Bewußtsein des Druckes seiner tyrannischen Freundschaft gelangen würde. Als aber der überall beliebte junge Mann endlich doch Bekanntschaften anknüpfte, entwickelte sich bei Desgouttes zu der unbefriedigten Liebe noch eine quälende Eifersucht. Desgouttes' Anhänglichkeit an den Hemmeier war un- begrenzt; er machte für denselben große Aufwendungen; von dem Geliebten fern zu sein, schien ihm unerträglich; er dachte daher sein Zusammensein mit dem ihm Unent- behrlichen so weit möglich zu verewigen und ihm ein Glück zu bereiten, das denselben über alle irdische Sorge hinausheben sollte; er wollte es Aufopferungen aller Art sich kosten lassen, um dem Hemmeier dieses Glück zu bereiten, selbst mit dem Opfer seines eigenen irdischen Glücks; so gedachte er durch vorteilhafte Verheiratung mit einer Person, welche, weil sie weit älter war als er und unangenehme Eigenschaften besaß, ihn gewiß unglücklich gemacht hätte, in den Besitz eines stattlichen Vermögens zu gelangen und vermittelst dessen dem Hemmeier sich zu assoziieren, um ihn so bis an sein Lebensende bei sich zu behalten. Wirklich fand sich bei seiner Festnahme am 29. Juli 1817 in seinem Besitze eine vom 25. Januar 181b* datierte Eheversprechuug zwischen Franz Desgouttes und der Jungfer Susanne von "Wagner vor. Er plante sogar, seinen anders gearteten Hemmeler dann ebenfalls zu verheiraten, unter dem Beding des immerwährenden Bleibens an des Liebhabers Seite. Für die Opfer, die er dem Geliebten brachte, wollte er schlechterdings keinen Rivalen neben sich dulden,

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der des Jünglings Freundschaft mit ihm teilte; auch war er überzeugt, daß es niemand so gut mit dem Jüng- ling meinen könne wie er und niemand daher dessen Freundschaft so wie er verdiene. Bloße Bekanntschaften wollte er dem Hemmeier wohl erlauben; dennoch war er immer eifersüchtig, wenn jemand sich vertraulich dem Hemmeier näherte, und er machte dem Freunde als- dann die bittersten Vorwürfe über seinen Undank, der, wie er selbst später seinem Richter zugestand, oft wirk- lich nur eingebildet war. Wenn Hemmeier dann sich beleidigt fühlte und aus purem Trotze oft Stunden oder halbe Tage lang fortblieb, den verlassenen Liebhaber in seiner ungewollten Einsamkeit dann aber die fürchterlichste Sehnsucht peinigte, so führte seine glühende Phantasie dem Unglücklichen die quälendsten Bilder der Untreue, des Undanks des Geliebten vor Augen; und besonders dann, wenn der so Gemarterte der großen künftigen Auf- opferungen gedachte, die bei seiner traurigen Vermögens- lage ihm nichts weniger als leicht wurden, gab es bei des Heißersehnten Rückkunft in Folge der Empfindlich- keit und des Jähzorns des unglücklich Liebenden die ärgerlichsten Auftritte. Und als dann Hemmeier nach und nach öfters und länger sich entfernte, so glaubte der Verlassene daraus schließen zu müssen, daß er dem Hemraeler nicht mehr so wert sei, wie ehedem; und Hemmeier ging, um mit jungen Leuten, besonders dem Kommis Kaspar Vogel und dem Johannes Trösch, beide jünger, als er selbst, sich zu zerstreuen; diese führten ihn zu verschiedenen Mädchen; Desgouttes aber hatte dem Hemmeier nur gestattet, die gute Jungfer Viktoria Dennler zu besuchen, weil er glaubte, es sei für den jungen Menschen besser, an eine Person sich zu halten, als allenthalben herumzuflattern ; auch fürchtete er, Hemmeier dürfte, wenn er jedem Mädchen nachgehe, gleich seinem Kameraden Trösch, alles Gedächtnis ver-

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lieren, seine Auftrüge vergessen und zu einer ernsthaften Arbeit nicht mehr aufgelegt sein; und schließlich besorgte er auch, Hemmeler möchte durch ein solches Schmetter- lingswesen ihn gänzlich vergessen und sich allen Leuten mitteilen, mit denen er täglichen Umgang pflegte. Bald aber wurden Einsamkeit und Eifersucht dem Aermsten unerträglich und sofort änderte er seinen Plan; er be- günstigte den Umgang, teils um bei dem Liebsten berechtigte Vorwürfe anbringen und bei einer Häu- fung des Unrechts seitens des Hemmeler gegen ihn dessen Handlungen mit seinen eigenen Wollust-Forder- ungen in's Gleichgewicht bringen zu können und auf diese Art zum Hechte der Ausübung des ersehnten Liebesaktes mit dem Geliebten zu gelangen; teils, um Reize in ihm anzufachen und aufzusammeln, welche seinem Wollustdrange gelegentlich zu Statten kämen. So ver- anlaßte er den harmlosen Jüngling zu nächtlichem Aus- bleiben, gab seinen Freunden und der Viktoria Denuler Geld, damit diese die Mittel hätten, den Hemmeler betrunken zu machen, ohne die eigentliche Absicht zu verraten, und wenn dann, was mehrmals geschah, Hemmeler be- trunken nach Hause kam, so gebrauchte er ihn zu seinen „schändlichen Lüsten"; aber meistens scheiterte sein Plan. Je mehr aber während dessen seine Satyriasis ge- wachsen war, um so dringender und ungestümer wurden seine Forderungen. Ex versuchte dann auf tausenderlei AVeise zum Ziele zu kommen und verfiel dabei auf alle nur erdenklichen Mittel.

Um den so viel abwesenden Freund einmal wieder ganz für sich zu haben, faßte er den Entschluß, ihn krank zu machen; er gab ihm Brechstein ein und redete ihm vor, es handle sich um eine Krankheit, die allein er heilen könne; er war dann so lange glücklich, als er bei dem Leidenden wachen und seiner Bangigkeit beiwohnen konnte. Aber als einen traurigen Erfolg aller seiner

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Mühen mußte er erleben, daß Hemraeler den Verkehr mit anderen Personen immer weiter ausdehnte und bald ungebührlich übertrieb; schließlich blieb dieser nicht nur des Abends bis in die Nacht hinein von Hause fort, sondern er vernachlässigte auch seine dienstlichen Pflichten, so daß sein Liebhaber als sein Brodherr im Geschäfts- interesse es nicht unterlassen durfte, ihm ernstliche Vor- stellungen zu raachen, deren Vergeblichkeit den doppelt Unglücklichen dann vollends zur Verzweiflung brachte. Immer unerträglicher wurde ihm die Vorstellung: „Wenn du tot bist, so genießt dann Hemmeier die Welt und genießt selbsttätig die Wollust; dann gedenkt er deiner nicht allein mit Abscheu, sondern dann hast du nichts davon*. Je mehr er nachdachte, desto schrecklicher kam ihm dieses vor, insonderheit, wenn er erwog, daß Hemmeier nicht mit Knaben, sondern mit Mädchen Umgang haben würde. Selbst nüchtern wogten solche mit Mord-Gedanken verknüpfte Bilder in seiner wollustatmenden Seele; je mehr seine Sinnlichkeit uud seine ungezügelte Phantasie durch Getränke noch gesteigert wurden, desto fester wurzelte bei ihm der Entschluß, all' dem Jammer einmal ein Ende zu bereiten; schon weidete er sich an der Vor- stellung, den Hemmeler vor und nach der gewaltsamen Ermordung seiner unzüchtigen Begierde zu unterwerfen, und der Entschluß, ihn zu ermorden, eroberte sich immer mehr Raum in des unglücklichen Mannes Seele. Es wechselten bei ihm unaufhörlich Satyriasis und unbefrie- digtes Liebesverlangen mit durch Onanie hervorgerufenen Schwächezuständen ab ; in diesen kam ihm der Einfall, bei Hemmeler Uebelkeiten deshalb hervorzubringen, um die Mannbarkeit desselben seiner Schwäche gleich zu stellen, damit Hemmeler nicht wegen überwiegender Mannbar- keit ihn verlassen möchte; so hoffte er des Jünglings aus- schließlichen Umgang und seine Häuslichkeit zu erzielen; er wünschte in solcher Verfassung, die Natur oder ein Zufall

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hätte den Hemmeier zum Kastraten gemacht, nur damit derselbe sich an Niemanden hünge; er verfiel auf den unseligen Gedanken, des Jünglings Pudenda zu schwächen; er wurde der Urheber, daß Hemmeier verschiedene „Kiltgänge* *) machte; dann wollte er seinem Opfer Mittel geben, um sein Beischlafsvermögen derart zu schwächen, daß er mehrere Jahre hindurch gar nicht an sinnliche Lust denken, sie gar nicht ausüben könnte, hingegen seine Freundschaft ausschließlich für ihn be- wahren solle. Diesen Plan gedachte Desgouttes auf einer Reise im August 1817 auszuführen; als er dann den Ruin seines Vermögens vor Augen sah, verwandelte sich dieses Bild in einen Mordplan für seine Reise, auf welcher er entweder mit Hemmeier sterben oder als Einsiedler bei dem teuern Leichnam leben und sterben wollte; nur die Verzweiflung, den innigst Geliebten ganz zu verlieren oder für andere zu behalteu, erfüllte seinen Geist mit Mordplänen.

Bei alledem versicherte Desgouttes, daß seine Wollust nicht das Ueberwiegende in seiner Neigung zum Hem- meier gewesen sei; er habe ihn geliebt, weil ihre Charaktere in vielen Stücken zusammentrafen, ausgenommen, daß Hemmeier keines der Laster seines Liebhabers an sich hatte; er liebte den Hemmeier, weil inneres Gefühl, Ge- wohnheit und langer Unigang ihn an den jüngeren Ge- fährten ketteten; er liebte ihn aus übersinnlichen" Gründen, von denen er Rechenschaft sich nicht zu geben wisse und wenn er nach dem ausschließlichen und ewigen Be- sitze seiner Freundschaft strebte, so sei es nicht aus sinn- lichen Motiven geschehen, denn diese paßten nicht für die Ewigkeit.

*) Dem Yerhtfrrichter gestand Desgouttes, daü es beim Hem- meler zu einem „unmoralischen Lebenswandel mit Mädchen" nie ge- kommen sei und daU er „nur einmal sich vergangen" habe.

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Um Neujahr 1817 sah Desgouttes rückwärts und vorwärts schauend den Zerfall seines Vermögens und seiner Liebe unrettbar vor Augen. Sylvester mit dem Hemmeier zu feiern, dünkte ihn in dieser trostlosen Aus- sichtslosigkeit ein unendliches Glück; aber Hemmeier kam äußerst spät nach Hause und da betrank sich Des- gouttes entsetzlich und seine Besinnung war wieder dahin. Fortan quälte er den jüngeren Genossen, um diesen seine Abhängigkeit von dem älteren Freunde recht herb fühlen zu lassen, noch mehr und raffinierter als vordem. Im Januar kassierte Desgouttes eine Barsumme von 1700 Franken für die Erbschaft Neukom ein, von welcher aber die Hälfte schon seit bald zwei Jahren verbraucht war; mit der anderen Hälfte entwich er planlos, er wußte nicht wohin; allein freiwillig kehrte er zurück, haupt- sächlich, weil er die Gesellschaft seines Substituten Hem- meier nicht entbehren konnte und ohne ihn ganz außer aller geselligen Verbindung war. Bei seiner Rückkehr machte ihm Hemmeier die schwersten Vorwürfe und brachte ihn nahe an den Rand der Verzweiflung; indessen überlegte er sich, daß aus diesem Verhalten Hemmeler's dessen wahre Freundschaft für ihn zu ersehen sei, und nun gelobte er sich und ihm, alles zu bessern, insofern die Umstände einmal nicht ungünstig wären; aber als bald darauf wieder ein Ruf von der Irmel'schen Schuld erschien und andere Schuldenrufe einliefen, wußte er durchaus nicht mehr, wie er sich helfen sollte. Da verhalf ihm starkes Trinken zum Vergessen für den Augenblick ; aber dann erfüllte ihn wieder mit Schaudern die Vorstellung, die Welt zu verlassen und den Hemmeier mitzunehmen oder diesen vorauszuschicken uud dann nachzufolgen. Die ganze Zeit vom Palmsonntag (30. März) bis zum Umzug in die neue Wohnung (17. Juli) blieb ernüchtern, ohne daß die unglückliche Idee, ausschließlich im Besitze Hemmeler's sein zu wollen, und die Furcht, traurige Ura-

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stände könnten denselben von ihm trennen, ihn jemals losgelassen hätten ; das alles, die Innersche Schuld uud das Benehmen Hemmeler's zu Beginn des Lebens im neuen gemeinsamen Heim leiteten in Verbindung mit Desgouttes' periodischem Hang zum Trnnke und mit seiner ausgesprochenen Anlage zum Uebertriebenen das, was nun folgte, ein. Am 17. Juli, dem Tage seines Umzuges in die neue Wohnung und des Anfangs eines eigenen Haushalts mit dem Busenfreunde erwartete Desgouttes, daß Hemmeler nun für alle seine Vernachlässigungen und seinen viel- fachen Undank den Liebhaber um Verzeihung bitten und zur Versöhnung und zu dauerndem Frieden die Hand zuerst bieten würde; Hemmeier hätte dazu um so stärker sich gedrungen fühlen müssen, als er wohl wußte, wie unendlich Desgouttes litt, wenn es unterblieb, und in welch' ratlose Verzweiflung er den unglücklichen Liebhaber stürzen würde; aber als er im neuen Heimwesen dem Hausherrn ganz allein gegenüberstand, sprach er kein Wort; er stand da wie ein Klotz und tat, als wäre gar nichts geschehen. Dieses empörte den ohnehin Gereizten aufs äußerste; er verlor alle Selbstbeherr- schung und geriet in fürchterlichen Zorn und dann in Wehmut ; er wußte sich weder zu raten, noch zu helfen ; alle seine Vorstellungen blieben fruchtlos und so nahm er wie früher seine Zuflucht zum Trinken; dieses besänftigte ihn in etwas und außerdem führten ihn auch notwen- dige geschäftliche Ueberlegungen dazu, einen halben Scheinfrieden mit dem Hemmeler zu schließen ; da er das Unzulängliche dieses Friedens schmerzlich empfand, so trank er mehr und weiter; in diesem Scheinfrieden gelang es ihm, in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli, mit dem Hemmeler zum letzten Male geschlecht- lich zu verkehren. Von diesem Tage an befand sich Desgouttes ununterbrochen in einem an Besinnungslosig- keit grenzenden Zustande, in einer durch starken Genuß

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voii Absinthextrakt, Wein und Liqueuren hervorgebrachten ausnehmend hohen Trunkenheit, welche seine Sinne im höchsten Grade aufregte, was dann wieder seine glühende Phantasie in Tätigkeit setzte, während sein Verstand und seine Ueberlegung gänzlich ausgeschaltet wurden, so daß ihm, was er tat, nicht zum klaren Bewußtsein kam. Hatte er sich in Tübingen schon dem Trünke ergeben, um die lebhaften Bilder seiner Phantasie noch zu erwei- tern und höher zu spannen, so geschah es in dieser Periode, um im Gaukelspiel seiner durch den Trunk her- beigeführten Phantasieen die erbärmliche Wirklichkeit vergessen und sich auf Augenblicke an diesem Gaukel- spiele ergötzen zu können. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli ließ er seinen, seit Neujahr 1817 bei ihm beschäftigten 15jährigen Lehrling Hans Ulrich Leib und Gut, der sonst allabendlich nach dem Dienste in das benachbarte Schoren zu seinen Eltern zu gehen pflegte, angetrunken bei sich im Bett schlafen, um sich au dem unschuldigen Knaben zu vergreifen, da er in dieser Nacht zu Hemmeier, dem er Opium zu trinken gegeben, nicht gehen mochte; zweimal mißlang sein Plan, da der Knabe erwachte; Desgouttes näherte sich ihm unter dem Vor- wande, ihm die Vorhaut zu erweitern. Weil sicli sonst dort Uureinigkeit sammle; er gab ihm den Rat, .sie öfter zu erweitern, und brachte durch Reiben einen »fast inflammablen Reiz" in des Knaben Rute hervor; er wollte ihn so zum Verluste der Unschuld und zum Mit- genusse bringen, was aber nicht erfolgte; erst der dritte Versuch gelang: der Knabe schlief fest und schlief weiter. Am nächsten Morgen fühlte Desgouttes sich allzu nüchtern, als daß er seinen Tags vorher gefaßten Plan, den Hemmeier zu betäuben und dann aus dem Fenster zu stürzen, hätte ausführen können. Aber einige Tage' später, als in der Frühe des Morgens bereits der „Weingeist" ihn benebelt hatte, entstand wieder der Kntschluß in seinem Kopfe,

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den Hemmeier umzubringen. Er ergritf eiue Pfanne mit nassem Stroh, um es in Hemmeler's Zimmer anzuzünden, den Schlafenden zu betäuben und dann zum Fenster hinaus zu werfen. Nur das Mitleid, das Bedauern mit dem unglücklichen, ihm so werten Jüngling und der Gedanke, er könnte Schmerzen fühlen, brachte ihn wieder gänzlich von dem Mordplane ab und nun wollte er eine Zeitlang keinen Gedanken mehr daran in sich aufkommen lassen, den Hemmeier zu töten.

Ein mit dem Todestage seines Vaters, zugleich dem Geburtstage seiner eigenen wirtschaftlichen Selbständig- keit, dem 0. Juli 1810 begonnenes Tagebuch führte der Unglückliche noch bis zum 25. Juli 1817 fort alsdann brach er es jäh ab. In diesem Tagebuche ist niederge- legt, wie der unglücklich Liebende in dem langen Zeit- raum vom 20. Juli 1810 bis dahin 1817 um den innigst Geliebten gebangt und was er um ihn gelitten hat. Lassen wir ihn selbst zu Worte kommen.

Aus dem Tagebuche des Dr. Franz Desgouttes:

1810: 20. Juli: Dem Daniel Hemmeler eine ßadfreude gemacht.

28. Juli: Der Daniel geht in's Bad und läßt den Freund allein, der düster und traurig zu Hause bleibt.

31. Juli: Reise nach Bern mit Freund Hemmeler. 15. August: Vorwürfe au Daniel H. wegen seinem Undank. . . Mit Daniel H. ins Bad. 10. August: Besichtigung des Perpetui mobilis bezahlt für den Daniel. 17. August: Besuch bei Daniels Eltern. 5., 0., 7. September: Dem Daniel Hemmeler ge- geben Wein, Chokolade u. dergl. Aber Er ist immer gleichgültig.

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1816: 11. September: Dem Dauiel Hemmeier gegeben Wein, Weggeld. Immer gleichgültig. 2. November: Ich hatte mich von jeher des Da- niel Hemmeier innigst angenommen; ich achtete Nichts für unmöglich, wenn es nur zu seinem physischen oder moralischen Wohl diente. Oft ent- zweite ich mich mit meiner Familie, weil ich mich des H. eifrigst angenommen und seine wehrlose Ju- gend geschützt hatte. Seine physische Constitution wäre ohne mein Zuthun zu Grunde gegangen. Er nähert sich jetzt der Festigkeit, die jedem Jüngling wünschenswerth ist. Er blühet gleich einer Rose, Er, der sonst Anlage zur Hektik hatte. Seine Garderobe ist wohl versehn. Seine Kennt- nisse hat Er einzig meinem immerwährenden Unterrichte zu danken. Nichts habe ich versäumt, ihn zu bilden, Nichts unterlassen, ihm das Leben von allen Seiten anschaulich zu machen. Geld, Reisen . . . Nichts sparte ich, ihm meine Pflicht- erfüllung zu beweisen. Zu hunderten habe ich- an ihm verwendet, vergeudet.

Des Tags dachte ich für ihn und sein Wohl und oft wachte ich des Nachts an seiner Seite. Ich empfahl ihn allenthalben, sprach, handelte für ihn, verwandte mich für ihn Kurz! ich lebte bloß für ihn und in ihm. Meine Freundschaft genoß er in vollstem Maaße und meine Zuneigung in vollsten Zügen. Bei Gott: ich hätte mein Leben für ihn gelassen, wenn Er es hätte nützen können. Ach! und was für Dank ernte ich jetzt von ihm? Jetzt, da ich gleichsam verlassen bin, da ich in ziemlichen Schulden stecke, da ich durch zweijäh- rigen Kummer mich krank, ja fast aufgerieben fühle, da ich ohne Aussicht bin, jetzt zeigt er seinen Undank! O kaltes, fühlloses Wesen, o

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starrer junger Mensch! Wie höchst unglücklich machst Du mich! Die Gefühle überwältigen mich so entsetzlich, daß Worte mir fehlen und die Hund mir ihren Dienst versagt! 1816; 4. November: Muß deun alles zusammenschlagen. Noch kein Patent, Mortifikationen aus dem Aargau, Mißverständnisse mit Herrn Gerber, daher sein Brief vom 3. h., wo ich ganz mißkannt werde. Muß ich denn ewig der Spielball der Menschen sein, während ich möglichst meine Leidenschaften bändige und der Phantasie Spiel verdränge ? Und Daniel, Daniel, den ich liebe, kehrt mir den Kücken?!!

10. November: Traurige, melancholische Stunde! Beinahe von Allen, ach! verlassen, in allen Hin- sichten! Daniel auch.

22. November: Dem Daniel wieder gegeben eine Flasche Wein. Anderer Dinge nicht zu gedenken.

Wenn ich die Menschen um mich betrachte, so überfällt mich alteruatim Wuth und Wehmuth, wenn ich bedenke, wie vielen Hunderten ich schon geholfen und wie mir alternatim Niemand hilft. Verdammter Eigennutz! Alles will an mir saugen ! Allen soll ich helfen und wenn ich, ich Etwas Will so ist Niemand zu Hause. Selbst meine Nächsten machen mir'sso. Wer mich nicht betrügen will oder nicht kann, der versagt mir sonst Alles, ja selbst die edelsten Gefühle, welche Natur einflößt. 4. Dezember: Weiuf'riiehte des Daniel Hemmeler, da er erst um yal Uhr Morgens heimkam. 15. Dezember: Den Daniel Hemmeler von s 4 auf 4 Uhr an mit Herrn Bachmann ins Wirthshaus gehen lassen. Er blieb aber bis fast 8 Uhr au9 und ich mußte annehmen, daß er von einem Haus in's andere sehwärmte, worüber ich ihm nachher

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deutliche, doch sanfte Vorwürfe machte. Ach! er mißkennt mich. Wüßte er doch, wie unendlich ich ihm anhänge und was ich für ihn entweder bereits aufgeopfert habe oder noch ferner auf- opfern werde o, Er würde keinen Augenblick mich verlassen oder selten. 1816: 16. Dezember: Daniel Hemiueler's Benehmen gegen mich. Wiederholte Rüge. Befragung vom letzten Band an mich.

So weicht Alles von mir! Auch er, an den ich Alles wende. Kalte Seele! Diese Pein möge dir nicht vergolten werden!

18. Dezember: . . . Und heute war auch der Tag, an dem ich dem Daniel Hemmeier bittere Vorwürfe wegen seinem Betragen gegen mich raachen mußte. Ach! daß ich ihm so anhänge, um ihm, gewiß aus Liebe, derlei Vorwürfe macheu zu müssen; aber Er treibt es zu arg. Alles, Alles, was ich ihm an den Augen ansehe, Alles thue ich ihm zu Gefallen und überhäufe ihn mit Liebkosungen aller Art. Wenn ich ihn betrachte, seitdem der unselige Geschlechtstrieb in ihm erwacht ist, so muß ich diesen verwünschen; denn mich vergißt Er und denkt nur an das Vergnügen, Ball, Mädchen und Wein, ohne doch ein Säufer oder Wüstling zu sein. Bedenke ich meine traurigen Umstände, meiue entsetzliche Lage und den Undank des Daniel, so nimmt's mich Wunder, daß nicht die vollste Verzweiflung mich ergreift. Doch Glauben an Gott, Philosophie, Hoffnung das hält mich empor! 21. Dezember: Dem Daniel Hemmeier Vorwürfe machen müssen : a. daß Er den 20. Dez. Abends den ganzen Abend bis 8 Uhr ausgeblieben; b. daß Er bis 7,10 Uhr den 21. Vormittags 3 4 Stunden lang bei Vogel geblieben.

Jahrbuch V. 38

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1816: 22. Dezember: Dem Daniel Hemmeier einige sehr herbe Vorwürfe machen müssen, weil Er ohne alle Aufmerksamkeit für mich sich nur mit Andern beschäftigt und ungeachtet aller liebreichen und ernsten Ermahnungen mich stehen läßt. Dann ihm Geld gegeben, um einen Schoppen zu trinken. Dann ihm erlaubt, bis um 10 Uhr Abends die Berg- knappenmusik anzuhören. Sechs ganze Stunden lang.

25. Dezember: Dem Daniel Hemmeier erlaubt, mit seinen Bekannten spazieren zu gehen. Er ging um >/,3 Uhr fort und returnirte um 5 Uhr. Ging um 6 Uhr wieder fort und returnirte erst um »/a9 Uhr.

26. Dezember: Dem Daniel Hemmeier, dem icb spaß weise Etwas vorbrachte, ohne ihn zu be- leidigen, und welcher sich plötzlich in seiner Eigenliebe höchlichst ergrifleu fühlte [:Gnug mi, gnug mi:], derbe Vorwürfe gemacht und ihn aus der Stube gewiesen.

27. Dezember : Dem Daniel II. allerhand gegeben. Frieden !

29. Dezember: Dem Daniel Hemmeier erlaubt, aus- zugehen. Er ging um 4 und kehrte erst um 8 Uhr zurück.

30. Dezember: Dem Daniel H. gegeben:

1. Einen derben Verweis wegen seiner Saum- seligkeit.

2. Eine Brochüre.

3. Geld für Neujahrsbelustigung.

30. Dezember: Dem Daniel II. gegeben zum Neu- jahrsgeschenk ein Jagdgewehr.

31. Dezember: Heute war Daniel H. fast immer abwesend und dennoch erlaubte ich ihm noch, zu Sylvestern. Er blieb auch aus von 5 Uhr bis 11 Uhr Abends: Mädchengosellschaft.

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So schließt sich dieses Jahr, schrecklich in seinem Anfange, traurig in seinem Verfolge und entsetzlich in seiuer Mitte; endlich in den Merkmalen des Schrecklichen, Entsetzlichen und Ungeheuren am Ende, ohne Aussicht, mit einer unendlichen Schulden- last, Verzweiflung im Herzen ach! wer hilft mir? Da mich Alles verläßt, so muß ich selbst für mich sorgen!!!

Jacta est a 1 ea!

Mit Dir, o Daniel, bin ich sehr unzufrieden; es ist, als wenn der Dämon der Zerstreuung oder aber der Gleichgültigkeit gegen mich in deine sonst gute Seele gefahren wäre. Ach! ich ver- diene das nicht; denn innigst liebe ich dich und wünsche dir allen erdenklichen Segen, alles mög- liche Glück und Heil. Ach! daß du mich mißkennst!

So rollt das Jahr ab und läßt mich einsamlich! 1817: Anfangs Januar: Schön begann das Jahr 1817 war aber nicht gut im Verfolge. Ach! guter Daniel, hab' ich auch gegen dich gefehlt, so ver- zeihe; denn dein kalt verwerfendes Wesen könnte mich verzweifeln machen.

Man könnte mich fragen warum den Daniel so in den Strudel der Vergnügen werfen, während du es ihm selbst verboten hast? Am Neujahr feierte ich meine seligsten Stunden im Kreise meiner Geliebten. Warum fehlte da Daniel ? Warum betrug Er sich schon am Morgen kalt? Warum blieb Er aus, da Er doch wußte, wie sehr ich daran hing, ihn auch bei mir am Abendessen zu sehen? Warum mußte ich selbst ihn holen? O, das war für mich ein Todesstich! Ich sah nun, daß Er mich gar nicht, Andre aber über 'Alles liebt! O Gott, welche marternde, verzweifelnde Empfindung! Dies betäubte mich fürchterlich, brachte mich halb

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zur Wuth. Ach ! die grimmige Empfindung folgte mir nach. Ich trank immer und immer mehr, bis ich von Tumult zu Tumult stürzte. Da, da ver- gißt sich der Mensch mit der glühenden Phantasie. Deswegen geschah, was leider geschehen ist. Hätte Daniel, eingedenk, daß ich ihn so manchen Abend vermißte, den Neujahrsabend mit mir gefeiert o, ich würde nie so derbe tumultuirt haben. 1817: 8. Januar: Gott gebe, daß an mir geholfen werde. 13. Januar: Dem Daniel H. gegeben Müller,s Sehweizergeschichte in 4 Bänden. Ende Januar: Seit dem 15. dem Daniel allerhand geschenkt und Er bringt mich dafür in Verzweiflung. Ende Miirz: Während dem März dem Daniel und seiueu Kameraden sehr viel an Wein und Objekten zum Vergnügen geschenkt, damit sie sehen, daß ich ihnen dergleichen in Maaße sehr wohl und gern gönnen möge.

<_>. April: Dem Daniel Hemmeier, meinem Sub- stituten, vorgestellt: 1. für seinen Körper Sorge zu tragen; 2. die Zerstreuungen einzustellen; 3. die beiden Mädchen aufzugeben und 4. mit Vogel und Trösch weniger Umgang zu haben; überdies mir mehr Freundschaft uud Liebe zu schenken.

Insonders soll Er aufrichtig und aufmerksam sein. Welch' Alles Er auch mit Mund und Hand versprochen.

Dazu erlaubte ich ihm, Montag den 7. hujus auf Aarburg zu gehen, seine Schwester und seinen Schwager zu sehen.

Daniel Hemmeier geht, wegen Langeweile, mit Vogel uud Trösch spazieren ins Bad seit lj2T> Uhr bis 8 Uhr.

Den 7. April befand sich Daniel Hemmeier den ganzen Tag abwesend in Aarburg und returnirte

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erst um l/i9 Uhr mit zwei Schwestern und seinem So h wager.

Den 8. April blieb Er bis 10 Uhr Morgens weg und ich versah indessen seine vices.

Mit dem Daniel Hemmeier einen Lohnvertrag errichtet bis 1. Juli 1817.

Heute spürte Daniel Hemraeler erst die Folgen seiner Reise auf Aarburg durch Faulheit, Mattig- keit und Schmerzen in den Waden und am Fuß, Erhitzung und Abgespanntsein. Fast den ganzen Nachmittag lag Er faul da oder befand sich bei Vogel. Daselbst zweimal.

9. April: Daniel Hemmeier spürt noch immer die Folgen der Anstrengung nach Aarburg durch Schmerzen auf der Fußballe und in den Beinen, dann Engbrüstigkeit, Schweiß des Nachts.

Daniel Hemmeier überläßt sich schon wieder der Zerstreuung bei Vogel und Viktoria Dennler, vernachlässigt mich und seine Studien.

10. April: Er läuft zu Vogel; gibt sich selten mit mir ab; sagt mir offen, daß Er Andre, z. B. Viktoria D., mir vorziehe und malt für selbige (Oster-) Eier aus, statt zu studiren, verbraucht mehrere Stunden dafür und arbeitet für Andre öfter.

Abends verweilt Er von 7 bis 8 Uhr bei Vik- toria Dennler.

Was soll ich, Verlassener, bei solchen Connexionen denken? Ö daß ich diesen Menschen je so selbst- ständig machte! Besser wäre es für mich, den Tod zu erhalten, ohne ihn selbstmörderisch zu suchen. Aber Gott wird helfen!

Den 11. April mit Daniel Hemmeier gesprochen und ihm ernstliche Vorstellung gemacht :

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a. seine Distraktionen zu meiden,

b. dann seinen Studien mehr Fleiß und mir mehr Liebe zu schenken.

Welches Er auch versprochen. 1817: 13. April: Daniel Hemmeier geht um 1 Uhr aus und bleibt bis 2 Uhr bei Lise Muhraenthaler.

Daniel Hemmeier geht aus zu Vogel von bis 1j4 ab 8 Uhr. So bin ich oft einsam! Den 16. April befand sich Daniel f/9 Stunde bei Vogel und Trösch, welche Messieurs auch unseren Unterricht um 0 Uhr unterbrachen. 17. April: Verdruß mit Daniel Hemmeier, weil Er oft weggeht und niemals mich für den Unter- richt begrüßen mag. Doch am gleichen Abend Frieden.

Den 19. April geht Daniel Hemmeler bis 1 Stunde zu Vogel.

Der Daniel Hemmeler bleibt von i/27 bis 9 Uhr bei seinen Freunden Vogel und Trösch und im Wirthshause.

20. April: Daniel Hemmeler geht um s/4 auf 4 Uhr weg zu Viktoria Dennler und bleibt bis 3 4 auf 5 Uhr weg.

Dann geht Gleicher um l/2ti Uhr wieder weg und zwar mit dem fast betrunkenen Vogel kömmt erst um »/jD Uhr wieder.

21. April: Daniel Hemmeler geht mit Viktoria Dennler spazieren während 1. Stunde.

Idem thut nicht viel und geht von 8'4 auf 5 bis Uhr zu Viktoria Dennler. 20. April: Mstr. Daniel Hemmeler geht spazieren mit Vogel l/2 Stunde lang, mich verlassend.

Daniel Hemmeler geht zu Viktoria Dennler »/* Stunde.

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Idem geht zur Gleichen und bleibt weg 5 Viertelstunden lang, ohne den Effekt hervorzu- bringen. Der Esel! .... 1817: 27. April: Daniel Hemmeier geht um 5 Uhr weg zu Viktoria Dennler und bleibt weg bis 8 Uhr. 28. April: Daniel Hemmeier steht alle Morgen spät auf: circa l/2 8 oder 8 Uhr. Ich mag ihm das gönnen ; doch wünschte ich dann auch, en retour egard für mich, Aufmerksamkeit uud was ich gar nicht erhalte.

Ende April: Auf den ganzen Monat bleibt Daniel weg Tage 6, Std. 2 3 4.

2. Mai: Daniel H. geht zur Viktoria Dennler und bleibt vor dem Eßen 2l/2 Stunden lang weg. Nachts 11 Uhr geht Er zu Viktoria D. und returnirt um 4 Uhr Morgens.

4. Mai: Wie drängt man mich von allen Seiten! Eltern, Gerber, Daniel, Pf. Wagner, Geschwister! Ich soll heirathen! Was? Geld! . . . eigene Wahl! aber durch Vaters Seufzen hervorgebracht. Oft bereut, ach, ohne Hoffnung zur Wiederkehr. Elendes, schreckliches Leben! Damit meine Um- gebungen fröhlich sein und lustig oder bequem leben können, soll ich elend sein.

Heirathen soll ich bei schrecklichem Mangel, beim Dasein meiner vielen Schulden, bei schreck- licher Theuerung, bei halber Dienstlosigkeit, ohne Stand, ohne Patent, ohne Aussichten, ohne Hoff- nung, kränklich Gott, welche Dunkelheit!

Wenn ich mein ganzes Leben, wenn ich mein Sein, Thun etc. betrachte, so nimmt mich Wunder, daß ich noch bin. Wie viel Undank muß ich ansehen! Genüsse habe ich keine und für die Zukunft keine Erwartung, als, wenn ich heirathe, die Anwartschaft auf ein elendes kurzes Leben.

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Nein, ich heirathe nicht, bis körperlich, öko- nomisch und ab Seite meines Patentes bessere Zeiten da sind. Ich bin es der ersten Pflicht, meiner Selbsterhaltung, schuldig. Wer will mir dies wegraisonnieren ? Gewiß Niemand.

Mit dem Daniel H. ernstliche Rücksprache ge- nommen, mehr Aufmerksamkeit mir zu schenken.

Ihm geschenkt Schlenbach's Welthistorie mit Kupfern.

Daniel H. geht um 1 Uhr zu seinen Freunden und returnirt nach l/M2 Uhr. Mich läßt er allein.

Dan. H. geht an 3 4 auf 2 Uhr wieder zu seinem Vogel und Trösch um zu spazieren auf St. Urban und kehrt erst um 3 4 auf 8 Uhr wieder. So bin ich immer einsam! Soll das Aufmerk- samkeit sein ? 1817: 7. Mai: Ich muß mein Leid bemerken, daß Daniel H. tagtäglich negligenter wird. Wenig Aufmerk- samkeit zeigt er mir, denn von den ehemaligen gemeinem Verrichtungen will der junge Herr nichts mehr thun. Ich, der ich eine unbegrenzte Auf- merksamkeit habe, kann auf seine Dienste nicht mehr rechnen ; von seiner Aufopferung ist längst keine Rede mehr. Ach ! ich fürchtete nicht vergeblich den Moment seines Ausflugs zu Freunden außer- halb dem Hause!

Daniel H. kehrt sich an meine freundschaftlichen Winke wegen seiner nicht ganz seltenen Unord- nung nicht. Gebe ich Erinnerungen, Ermah- nungen, so werden sie entweder bald vergessen oder übel aufgenommen, weil Er in großen Un- willen geräth, wenn man seine geglaubte Infalli- bilität antastet. Wenn ich endlich barsch rede, so hilft's ein paar Tage, und dann ist's bald wieder im Alten. Ordnung, Produkt der

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Regelmäßigkeit muß sein, muß vom 1. Juli an streng eingeführt und beobachtet werden; oder lieber will ich sterben, ungeachtet ich an Daniel H. unendlich und so hänge, daß ich ihn über Alles liebe, aber nicht über Alles schätzen kann! 1817: 8. Mai: Daniel H. geht auf eine Stunde nach dem Musterplatz, kömmt dann um 2 Uhr wieder mit Vogel, macht sich mit ihm bis 3 Uhr in meinem Zimmer lustig; ich gab Beiden 3 Schoppen AVein und Haselnüsse; dann geht er damit weg um 3 Uhr und returnirt um 4 Uhr.

Daniel H. geht wieder auf l/2 Stunde weg.

Idem geht um 8 4 auf 6 Uhr weg mit Vogel und kehrt wieder um ^7 Uhr. Dann kommt Vogel und geht erst um 7 und ,/4 Uhr. Daniel H. entfernt sich zum Balle um 8 Uhr.

Zum erstenmal e, mein Daniel! für dich Ball! ach! folgenreicher Schritt! ich warnte brüderlich, aber ach!!!

Ja! dieser Ball war folgenreich für mich! Denn er öflnete mir die Augen über Daniel und zeigte mir ihn in seiner ganzen Blöße! O ich Thor, der ich ihm zu Liebe meine Harfe verbrannte! Nicht zu rechnen, daß Er mich nicht einmal um meine Einwilligung befragte, kömmt der Herr erst um 3 und i/i Uhr Morgens heim und belohnt mich dann noch sonst mit Undank. Der Elende! 0. Mai: Daniel H. geht erst um 9 Uhr aus dem Bette und ging bis 11 Uhr weg. Den ganzen Nachmittag schob Er sich von eiuem Sessel zum andern. Dann geht Er um l/i7 Uhr und returnirt erst um 8\4 Uhr heim, etwas beübelt. Dann geht er um 11 Uhr zum Tanze und returnirt um 7,6 Uhr.

10. Mai: Mit Daniel H. lange Rücksprache ge-

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halten wegeu seinem Verhalten. Ich gönne ihm Freunde, ich bin glücklich dabei! aber Er soll Vernunft dareinsetzen und mich nicht nur nicht so vernachlässigen, sondern seine Liebe mit meinen Aufmerksamkeiten in das völligste Gleichgewicht setzen, da ich der Schöpfer seiner vielen, vielen Freuden bin! Ach! er verspricht wohl, ob Er's auch halten wird? Hoffe.

Daniel H. geht von 9 bis 10\4 Uhr wieder zum Tanze und kommt halb krank heim. Ich laufe für ihn in die Apotheke. 1817: 11. Mai: Daniel ist den ganzen Tag theils krank, theils zu Allem untüchtig.

Dem Daniel in seiner Krankheit treulich ab- gewartet.

Dem Daniel H. habe ich zwei Clvstiere gegeben und ihm bis 10 Uhr Abends abgewartet und geholfen. Den 20. und 21. Mai bleibt Daniel H. von 9 Uhr bis um 1 Uhr des Morgens fort. Ich muß wachen und für ihn im Schweiß erkalten.

21. Mai: Daniel H. thut den ganzen Tag nicht viel, einige Briefe ausgenommen. Nachts von 9 Uhr bleibt Er bis Uhr.

22. Mai: Der arme, von Viktoria Dennler ge- plagte Daniel H. verzweifelt fast, ist bis um 5 Uhr Abends zu Allem untüchtig, wo Er dann bis 7 Uhr arbeitet.

23. Mai: Daniel H. kommt mit Viktoria D. wieder zum Frieden; ich begebe mich deswegen und um zu traktiren zu derselben und verwende mich mit Worten und Geschenken bei ihr eiue Stunde lang.

25. Mai: Daniel H. bleibt von 1 Uhr bis 8 Uhr weg und ist bei Viktoria D. Er behandelt mich sonderbar, nachlässig und auf alte Art.

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1817: 29. Mai: Daniel H. bleibt des Abends von 10 bis 1 Uhr Morgens bei Elisabeth Bracher. Ende Mai: Auf den ganzen Monat bleibt llemmeler weg: 9 Tage.

I. Juni : War Daniel H. den ganzen Tag un- tüchtig und krank; ich wartete ihm ab und pHegte sein.

Den 10. Juni ist Daniel llemmeler 10 Stunden zu Allem unfähig, weil er Abends vorher ribotierte bis um 12 Uhr, wo ich wachen mußte.

II. Juni: Daniel H. abseutirt sich seit 11 Uhr des Morgens bis Abends um acht Uhr.

Den 12. Juni befand sich Daniel H. den gan- zen Tag krank. Ich wartete ihm ab und gab ihm Arzneien.

Den 13. Juni befand sich Daniel H. den ganzen Tag krank. Ich wartete ihm ab und gab ihm viele Arzneien.

Er ist entsetzlich ungeduldig, eigensinnig und bös, daß man kaum bei ihm aushalten kann.

14. Juni: Derselbe geht 2 Stunden zu Viktoria D.

15. Juni: Daniel H. bleibt 3 Stunden weg bei Viktoria D. Nicht zu rechnen, wie oft Er seine Arbeit vernachlässigt, Sachen verschiebt, Nichts thut. (.) tempora, o mores!

Den 21. Juni ist Daniel H. den ganzen Tag nicht tauglich und schwärmt doch herum.

23. Juni: Ankunft von Vogel und Trösch derbe, nachdrückliche Rücksprache mit Daniel H. wegen dem künftigen Umgang mit ihnen.

Öftere Abwesenheit des Daniel H., die ich nicht einmal notire, weil sie zu häufig kömmt.

24. Juni: Daniel H. geht auf U/s Stunde zu Vogel und versäumt allerhand.

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1817: 30. Juni: Dem Daniel H. Vorstellung gemacht et ulia.

Wann, o Schicksal, wann wirst du mich be- günstigen? Elendes Leben, wo meiner Jugend Rest planlos und ungenützt hingeht! Und dennoch arbeite ich rastlos! O, daß doch Niemand einen Augenblick leichtsinnig wäre! O unseliges Schuldenmachen !

Bald, bald, wenn Gott nicht hilft

ist's aus, dann vermag Niemand mehr mich zu retten! O, daß ich noch einmal ganz schulden- frei sein könnte! Noch einmal nie, nie

würde ich mehr so handeln wie vorher! Wie kann der Körper gedeihen, wenn immerwährende Unruhe die Seele hinwirft? Wie kann ich einen Gedanken mit Festigkeit verfolgen, wie seine Ausführung mit Energie bethätigen, wie auf freiem Spielraum mich bewegen, wenn alle, alle Be- rührungspunkte sklavisch mich fesseln Alles mich kettet?!?

30. Juni: Disput mit Daniel Hemmeier wegen Undank.

Ende Juni: Auf den ganzen Monat bleibt Daniel Hemmeier weg : 9 Tage, nicht zu rechnen kleinere Abwesenheiten, Arbeiten für sich und zahlloses Andre !

5. Juli: Daniel Hemmeier nokturnirt bei Viktoria Dennler wie auch schon am 3. Juli. 0. Juli: Einsam sitz' ich hier, kein Daniel, der mich tröstet, mich aufrecht hält und mir beisteht, wenn schwache, melancholische Stunden mich umdüstern. Welch' ein Mensch! Wo ist, wo bleibt die Freundschaft, die er so hoch preist? Wo sein hohes, inniges Gefühl für mich? Ach, es lebt nur in seinem Innern und sein Aeußeres wendet

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sich zu Andern, die keinen Anspruch auf ihn haben, als die Macht der Gewohnheit und den Titel des bloßen Umgangs. Wo sind die seligen Zeiten, da Er nur in mir und durch mich lebte? Wo die Verhältnisse, die ihn allein an mich ban- den? Wo die Reize, die er einzig in meinem Umgang fand ? Ach ! von allem dem ist nichts mehr vorhanden, als das traurige Andenken, das mir nur schmerzhafte Erinnerungen gibt! Und nun, was ist zu thun bei solcher Sachlage, wo ich mit großem Aufwände von Kräften, mit Zeitverlust, mit star- kem Geldauslegen, selbst auf Kosten meiner Ehre und mit enormen Schulden, ohne Kredit, ohne Gesundheit keine Zwecke erreicht habe, als die, welche der Zufall mir in die Hände schickte oder in meine Lebensbahn warf??? Aenderung, Besserung, Hemmung der Leiden- schaften, Herrschaft der Vernunft! Aber dann auch Kälte gegen Daniel, Zurückziehung von ihm, Ernst gegen ihn lind öftere Objurgation mit Ver- nunft. — Ha! herrliche Käthe, wenn man noch im Labvriuth der schrecklichsten Verhält- nissc ist und ohne ein Wunder sich nicht heraus- winden kann ! O, wenn ich noch einmal wieder auf deu alten Standpunkt käme, wie wollte ich mich ändern, wie meinen ehedem festgesetzten Lebens- plan konsequent ausführen! O Deus adjuvet! Möge es noch heute geschehen! Dann würde, dann müßte eine neue, herrliche Morgenröthe auf- gehen in Erkennung wie im Handeln! 1817: Den 0. Juli geht Daniel H. wieder am Abend 1 Stunde fort und richtet Verdruß im Hause an. 7. Juli: Derselbe ist den ganzen Tag krank; ihm eine Arznei gegeben. Des Abends ein schreck- liches Wetter; Einschlag in Bleybach.

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1817 : 8. Juli: Von J. J. Christen Avis vom Leeraus- gehen meiner Lotteriezedeln. Soll ich denn Alles verlieren und will Niemand und nichts mir helfen ?

10. Juli: Daniel H. geht am 9. Juli den ganzen Tag fischen.

11. Juli: Von Bruder Emanucl Desgouttes einen impertinenten Brief empfangen . . .

14. Juli: Von nun an bemerke ich Daniels Ab- wesenheiten, Entfernungen und Regellosigkeiten nicht mehr. Es gibt mir zu viel zu thun. Das bemerke ich noch, daß Er in diesem Monat bei Stunden sich hin und her absentirte und mich unendlich reizte. Dennoch will ich hoffen, es werde Alles noch zum Besten kehren und in dieser Voraussetzung und weil mir solche Noten zu viel zu thun geben, unterlasse ich es. Ebenso mit dem Geben und Schenken. 1(5. Juli: Mit Sack und Pack gezügelt, d. i. dclo- girt und in's neue Haus, den Bärenstock, trans- portirt.

25. Juli: Daniel ich rufe wie einst Gott unser Herr:

Saul, Saul, was verfolgest du mich? denk* an Donnerstag!!!

Damit bricht Franz Desgouttes' Tagebuch plötzlich ab es schließt mit einer Drohung, welche besagen will, der Schreiber werde es dem Hemmeier nie vergessen, «laß dieser am Donnerstag, beim Einzug in das neue ge- meinsame Heim, den ersehnten Frieden in's Haus nicht habe bringen wollen !

In diesem Tagebuche vielfach rührenden Inhalts hat der Liebhaber Hemmeler's mit großer Peinlichkeit selbst über die unbedeutendsten Geringfügigkeiten, die er seinem

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Liebsten zuwendete, genau Buch geführt und alles mit dem Kostenpreise versehen; du finden sich immer wieder Speisen, wie ßrödchen, Brezeln, Kuchen, Eier, Zucker, Chocolade, Thee, Milch, Bonbons, Nüsse, Kirschen, Trauben, Wein, Liqueur, Medizin und ihr Geldwert und zwischendurch Ausstattungsgegenstände, wie Strümpfe, eine seidene Weste, ein Spazierstock, ein Jagdgewehr und deren Kosten alles für den Hemmeier bestimmt aufgezeichnet. Und diese seine Eigenart erklärt er, indem er das einzige Mal an seinen Leser sich wendend in seinem Tagebuche niederschreibt: 1816: 21. Dezember: Dem Daniel Hemmeier allerhand zu Gefallen gethan, mit Aufmerksamkeiten aller Art. Du, der du einst etwa dies lesen mögest, glaube nicht, daß Prahlsucht die Feder führte, als ich das, was ich dem Daniel H. that, fleißig aufzeichnete. Nein! gewiß nicht. Sondern einzig die Sucht, um mich von Zeit zu Zeit zu erinnern, daß ich meine Liebe zu ihm in allerhand kleinen Aufmerk- samkeiten zeigte und zugleich damit Er mir nicht vorwerfen könne, ich besolde ihn zu wenig.

*

So nahte denn wohl vorbereitet die Katastrophe. Desgouttes versuchte noch einmal, den Hemmeier zu er- weichen; er gab diesem, während er krank lag, seine Ent- lassung; es geschah das in keiner andern Absicht, als den Jüngling „in sich selbst zu nöthigen", um längeres Ver- bleiben in des ältern Freundes Hause anzuhalten, womit ja dann freilich Desgouttes' Zweck, den Hemmeier von sich völlig abhängig zu machen, beinahe erzielt gewesen wäre; doch war die Kündigung dem Liebhaber im ge- ringsten nicht Ernst, denn schon bei dem ersten Ausbruche des Bedauerns seitens des Hemmeier blutete sein Herz. Hemmeier aber war zu kalt und zu verschlossen, als daß er sich offenherzig gegen Desgouttes hätte aussprechen

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mögen. Die Dienstmagd Salome Anderes war sehr ver- wundert, als sie durch ihren Herrn vier Tage vor dem Morde, am 25. Juli, erfuhr, ihr Neffe Hemmeier komme fort; denn Hemmeier hatte es der Tante verschwiegen und nun wollte diese ihn nicht fragen, weil er krank war. Am 20. Juli müssen die Spuren geistiger Verwirrung bei Desgouttes schon recht deutlich hervorgetreten sein; denn der Pfarrer Friedrich Rütimeyer, der ihn, mit dessen Vater er befreundet gewesen war, an diesem Tage in seiner neuen Wohnung zum ersten und letzten Male be- suchte, eilte bald weg, weil er aus Desgouttes' tiefliegen- den Augen und entflammtem Gesicht schloß, daß es mit ihm nicht ganz richtig sei; seine Blicke blieben, so sehr er bemüht war, sich Zwang anzutun, wild und verstört. In diesen Tagen des eigentlichen Mordentschlusses be- lebte den Verzweifelten einzig der grobsinnliche Trieb des Genusses oder der unausweichliche Drang des Mordens mit der Absicht, zum Genüsse zu gelangen, der den Unglücklichen zu der grausigen Tat bestimmt haben mag. Am 27. Juli, einem Sonntag, besuchte er noch des Abends um 10 Uhr die Familie des Schreiners Jakob Herzig Vater und traf die Eltern und das achtjührige Töchterchen bereits im Bette an; er veranstaltete mit Hülfe des zweiundzwanzigjährigen Sohnes Jakob, den er fortschickte, um Wein, Bier und Kssen zu holen, ein Gelage, bei welchem er viel mit dem Säbel spielte und den einfachen Leuten, deren Umgang er vor anderen den Vorzug gab, zeigte, wie schön sein Säbel sich biegen ließe. Am Montag, den 28. Juli, morgens, begab sich Desgouttes in das Bett des Hemraeler und machte gegen den Erwachenden allerhand unzüchtige Geberden, infolge deren der Ueberraschte mechanisch aus dem Bette heraus- und wieder hineinsprang und bestimmt erklärte, daß er lieber sterben, als dem Willen Desgouttes' sich fügen wolle ; nun stellte sich der Peiuiger, als ob der erwartete

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Widerstand des Jünglings ihn mit Bedauern und Herze- leid erfülle, er bat ihn knieend um Verzeihung, die er auch erhielt, und versprach ihm, dergleichen ihm nicht mehr zuzumuten ; dieses ganze Spiel aber führte Des- gouttes in der einzigen Absicht auf, den Hemmeier mit einem Federmesser, das er bei sich führte, zu verletzen oder zu töten und ihn dann zu vergewaltigen; war er doch mit Mordplänen des Nachts eingeschlafen, mit solchen in der Nacht aufgewacht und mit ihnen des Morgens aufgestanden; aber als er nun glaubte, sein Opfer beruhigt zu haben, und seinen Mordplan ausfuhren wollte, da setzte der Bedrohte mit jammernden Worten sich zur Wehr, und mit dem Ausruf des Mitleids: „Lebe!" ließ Desgouttes noch einmal von seinem Vor- haben ab; er ging in sein Schlafzimmer und onanierte. Um 9 Uhr begab er sich zu seiner Zerstreuung in die Wohnungen Herzig's und Bracher's. Während des Nacht- essens kam die Frau Rosina Dennler zu Desgouttes; dieser verließ den Tisch, zeigte ihr sein neues Heim und be- merkte dabei, daß der Herameier das schönste aller Zimmer habe; so könnte doch, meinte er, nichts mehr fehlen an seiner Zufriedenheit, da Hemmeier beinahe Meister wäre und hätte, was er wollte. Noch nach dem Abendessen rieb er, als er sich mit Hemmeier allein be- fand, nüchtern dessen Pudenda mit einer Komposition von Cautharidenessenz, Salmiakgeist und Oel ein, „bloß um zu beschauen"; dieses hat den Hemmeier „mannbarer" ge- macht, aber eine Ejakulation nicht hervorgerufen. Als- dann, gegen 10 Uhr, ist Desgouttes wieder zu Bracher's gegangen, hat dort eine halbe Stunde verweilt und in einem kleinen Rausche von allerhand Sachen, besonders aber von dem Hemmeier gesprochen, wie er das schon vorher gegen 6 Uhr getan hatte. Nachdem er die ein- fachen Leute verlassen, lief er über das Kircheufeld zu hinein Mädchen, das er beschlief, und traf um 11 Uhr

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wieder in seinem Hause ein; als er hier sein Zimmer be- trat, rief ihm Hemmeier zu, er sei eben noch rechtzeitig eingetroffen ; Desgouttes aber scheute sich, zum Hemmeier hinüber zu gehen, weil er nicht wollte, daß dieser seine Trunkenheit bemerke. Um halb 12 Uhr trat er an die Tür des Schlafzimmers der Dienstmagd Salome Anderes, pochte an, gab auf die Anfrage der Magd, was er wolle und ob sie aufstehen solle, die Antwort „nein!" und ging wieder fort. Nach festem Schlafe wachte er in der Morgendämmerung gegen 3 Uhr mit wehmütigen Em- pfindungen auf, erhob sich, ergriff eine kleine Flasche Liqueur, die auf dem Ofen stand, und trank in Hast da- von; da fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: „Wie, wenn du ihn jetzt tötetest?" Und dann wieder: „Wenn du seiner noch vorher genießen würdest?* So stand er im bloßen Hemde in seinem Schlafzimmer am Ofen. Schnell trank er, wie um sich Mut zu holen, die Flasche bis fast auf den Grund leer und geriet, ein zum Morde geeignetes Instrument suchend und ein Taschentuch er- greifend, in entsetzliche Wildheit, in „Kannibalenwut* ; in der Mittelstube fand er einen Pfriem, warf ihn aber wieder hin, indem er dachte, durch ihn würden Hemnieler^ Leiden zu lange währen und die lange Leidenszeit könnte den Mörder verraten; dann stieß er auf ein frisch ge- schliffenes Messer, das er schnell ergriff und öffnete; dieses in der rechten Hand haltend, stürzte er in Hemmeler's Schlafzimmer. Hier lag der Schutzlose mit unbedeckter Brust auf dem Rücken im Bette, seine linke Seite dem Trunkenen zugewendet. Dieser suchte mit der linken Hand die Herzgegend und versetzte ihm mit dem Messer einen Stich dahin. Mit der Frage: „Was soll das?* schlug Hemmelcr die Augen auf, schrie zwei- mal laut und warf sterbend einen wehmütigen Blick auf seinen unglücklichen Mörder; da hörte dieser die Magd vor der verschlossenen Türe fragen, was dem Daniel

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fehle, weshalb er schreie, und er gab zur Antwort : Hemmeier träumt nur; es ist nichts!" Die große Menge des aus der Wunde des Verblutenden hervorsprudelnden warmen Blutes versetzte den verstörten Mörder in Schrecken und Grausen und er rannte in sein Zimmer, von wirren Gefühlen bestürmt; so war ihm noch nie gewesen. Auf einmal wachte, als wenn dem Drama der Schlußakt fehlte, seine Wollust auf und ging schnell in Satyriasis über; er eilte in das Zimmer des Hemmeier zurück und deckte den verblutenden Körper bloß; allein der Anblick des Erstarrenden erfüllte ihn mit physischem Abscheu gegen Befriedigung seiner Sinnenlust. „Boshaft wütend" über die Unmöglichkeit, unter solchen Umständen Wollust ausüben zu können, goß er ein Fläschchen Scheide wasser auf die Geschlechtsteile seines Opfers hin und fühlte jetzt auch moralischen Abscheu gegen die Luststillung; so ergriff er, wie zum Abschied, des Geliebten Hand und zog die Decke über den Leib des Sterbenden bis an den Hals; sein Entsetzen ging in Wehmut und völlige Ab- spannung über und so drückte er dem, den er über alles geliebt hatte, die Augen zu. Dann packte ihn die Angst vor Entdeckung, die Furcht vor der Schande, welche er seiner Familie bereitet, und er kroch auf allen Vieren durch das Mittelzimmer, dessen Fenster nicht verschleiert waren, in sein Schlafgemach, kleidete sich an und verließ das Haus ohne Plan und ohne klare Besinnung. Er fühlte noch große Liebe zum Leben, war sich noch nicht klar über den unersetzlichen Verlust, den er sich selbst bereitet hatte, und wähnte noch, der Welt durch ein nützliches Leben, dem er fortan sich widmen wollte, mehr bieten zu können als durch einen schimpflichen Selbst- mord. So wurde er gefangen, verhört, verurteilt und ge- richtet, wie im T. Abschnitt dargestellt ist.

39»

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IV. Die Beurteilung des Falles Desgouttes durch Zschokke und Hößli.

In Heinrich Zschokke's „Gespräch über die Liebe" lenkt sich die Unterhaltung „gleich anfangs, wie dies immer zu ge- schehen pflegt, auf die widerlichste Merkwürdigkeit des Tages*: die Ermordung des Hemmeier (Walter) durch Desgouttes (Lukasson). Den Wortführern des Gesprächs erscheint die verbrecherische Tat um so rätselhafter, als Desgouttes den hingemordeten Freund noch bis zum letzten Augenblicke geliebt und denselben im Schlafe erstochen hat; so konnte sie, nach jedermanns Urteil, doch nur in einem Anfall von Wahnsinn geschehen sein. War es doch bekannt, daß Desgouttes, von jeher unge- stümen und mit sich selbst entzweiten Wesens, zwischen leichtsinnigen Ausschweifungen und schwermütigen Bereu- ungen schwankend, zuletzt immer das unselige Mittel der Selbstbetäubuug durch starke Getränke ergritt' Die Frage, wie der tugendhafte Jüngling Hemmeier eines solchen Ungeheuers Freund sein konnte, wird dahin beantwortet, daß auch sein Mörder, ungeachtet seiner Leidenschaften und Vcrirrungen, doch im Besitze von Tugenden, die ihn liebenswürdig macheu konnten, gewesen sein mußte. Man kommt darin überein, den Verbrecher nicht zu verdammen: weil böse Taten überhaupt nur aus Irrtum oder Krankheit des Gemüts geschähen; Desgouttes aber wurde durch eine unharmonische Entfaltung seiner Natur zum Verbrechen hingejagt; er ward durch eine wütende, alle Vernunft, alle Tugend zerstörende Leiden- schaft, welche er nicht zur rechten Zeit meisterte und welche ihn zum Wüstling machte, unglücklich und endlich zum rasenden Mörder. Desgouttes „mußte nicht nur nach dem Gesetz sterben, sondern er war auch strafbar." Holmar, der in Zschokke's Gespräch Hößli's Idee vertritt und (S. 270) von sien selber gesteht, er wäre vielleicht

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auch unglücklich geworden, wenn er als Jüngling den mit unbestimmter Sehnsucht gesuchten Freund gefunden hätte, steht mit seiner Auffassung allein: „In Griechen- land wäre er vielleicht der großen Künstler, der Weisen oder Vaterlandshelden einer geworden, durch die Freund- schaft der Seelen, bei uns ward er dadurch Mörder und die Gesetze führten ihn zum Rabenstein. Sein ganzes Leben voller Widerspruch und Verirrung; sein Alles- opfern für den Geliebten; sein ewiges Bemühen, diesen zum vollkommensten, tugendhaftesten und edelsten Mann zu bilden; sein Kampf mit sich und einer Leidenschaft, die ihn irre an sich selbst machte; seine Anstrengungen, Zerstreuung zu finden; sein geflissentliches Streben, sich selbst mit geistigen Getränken zu betäuben; seine wieder- holten Entschlüsse zum Selbstmord ; endlich die Ermord- ung des Freundes Alles erklärt sich aus seiner nicht anerkannten Seelenberechtigung.

* * *

Und hören wir nun Hößli selbst, so sieht er in Desgouttes „eine Natur, die in sich, in ihren Tiefen, verborgnen Lebenswurzcln, uns unsichtbar, doch ewig gewiß, alle jene Blumen und Kunstgestalten der griechi- schen Muse des Eros, wie die Qualen und die Verworfen- heit eines Desg. verbindet." (Eros II Seite 351) „er, der Ermordete, war zwar ein Mörder, aber unsere Irridee hat ihn zuerst zum verlornen und lasterhaften Menschen und endlich dadurch zum Mörder gemacht; er hatte weder eigentliches Dasein noch Leben mehr zu verlieren, darum spielte er mit beiden fürchterlich ..." (Eros II 213). Die ganze Fürchterlichkeit solcher Wesen wie Desgouttes erklärt Hößli für begründet durch moralische Zernichtun^ in Folge ihrer völligen Verkennung und daher für not-

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wendig und natürlich. Eine Bestätigung für die Richtig- keit seiner Auffassung des Wesens Desgouttes' sieht er in dessen Verhalten nach der Gefangennahme unter dem suggestiven Einflüsse seiner Richter, besonders in der rührenden Standrede. „Wenn ich," sagt Hößli (Eros I S. 61), „in Dr. J. F. Eisenharte Rechtshändeln des achtzehn- jährigen, am 10. Juni 1651 verbrannten Mädchens letzte Worte im Briefe an ihre Mutter (sie war zu ihrer Zeit ein sehr gebildetes Mädchen, gebildeter als Desgouttes in der seinigen war) lese: „Aber ich habe nun Gnade gefunden, dem Teufel abgesagt, mich zu meinem Jesu begeben, bei dem will ich nun leben und sterben ! Amen. Amen", so habe ich auch den armen unglückseligen Desgouttes leibhaftig vor mir."

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6. Herzog August der Glückliche

(1772—1822)

(mit 5 Textbildern).

KaXov tm6Q tov xalov ^n/jaxeiv (Im Genüsse des Schönen sterben ist schün) Epigraph August des Glücklichen.

. . . er war eine so buntschillernde Erscheinung, daß man mit wenig Worten Uber ihn nicht auskommt"

H. A. 0. Reich ard 1877, 505.

Aemil Leopold August, der zweitgeborene Sohn des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg mit der Herzogin Charlotte, der Tochter des Herzogs Anton Ulrich von Sachsen - Meiningen, erblickte am 23. November 1772 in Gotha das Licht der Welt. Von seinen drei Brüdern Schwestern hatte er nicht wurde der jüngste, Ludwig, 1777 geboren, nur 6 Tage alt und der älteste, der am 27. Februar 1770 geborene Erbprinz Ernst, starb bereits im Alter von 9 Jahren (November 1779). Die Erziehung der beiden übrig gebliebenen jungen Prinzen, Augusts, der nun Erbprinz war, und seines um 2 Jahre jüngeren Bruders Friedrich, leitete anfangs der aus Stuttgart berufene Freiherr Joachim Erust von der Lühe und späterhin der waadtländische Naturforscher Legationsrat Samuel Elisa von Bridel- Brideri. Da beide Knaben von zarter Gesundheit zu sein schienen, so wTurden sie von den besorgten Eltern zu ihrer Kräftigung im Jahre 1788 nach Genf geschickt ;

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hier erlernte der Erbprinz die Beherrschung der franzö- sischen Sprache. Erst 1791 kehrten beide Prinzen nach Gotha zurück. Daheim waren Vorlesungen des jenaischen Professors Ulrich über Philosophie, des Geheimrats von der Becke über Geschichte und über Staatsrecht des deutschen Reichs, des Archivars Welker über die vater- ländische Geschichte bestimmt, der allgemeinen Bildung der beiden Jünglinge den Abschluß zu geben. Alsdann nahm der Erbprinz August an den Sitzungen des Ministeriums teil, um mit den Regierungsgeschäften ver- traut zu werden.

Noch nicht 25 Jahre alt, vermählte sich der Erb- prinz August auf den Wunsch seines Vaters am 21. Oktober 1797 mit der am 19. November 1779 geborenen achtzehnjährigen Prinzessin Louise Charlotte von Mecklenburg-Schwerin r), welche aber, nachdem sie dein Gatten am 21. Dezember 1800 ein Töchterchen Louise geschenkt hatte, schon am 4. Januar 1802 im Wochen- bette verstarb. Schon ein und ein drittel Jahr später, am 24. April 1801, ging der Erbprinz eine zweite Ehe ein mit der ihm ziemlich gleichalterigen Karoline Amalie, der jüngsten, am 11. Juli 1771 geborenen Tochter des Landgrafen und späteren Churfürsten Wilhelm von Hessen-C assel, eine Ehe, welche kinderlos geblieben ist.

Nach dem Ableben seines Vaters Ernst II. am 20. April 1804 trat der Erbprinz, 31 Jahre alt, als Herzog August die Regierung des Herzogtums Sachsen - Gotha und Altenburg an; er hat sie in einer für ganz Deutschland äußerst kritischen, durch die Schlacht bei Jena genügend gekennzeichneten Zeit achtzehn Jahre

•) Ueber die erste Gemahlin des Erbprinzen August, Louise Charlotte, eine Tochter des nachmaligen Großherzogs Fr. Franz von Mecklenburg-Schwerin mit der Prinzessin Auguste, Tochter des« Prinzen Johann August von Kode, äußert sich 1902 Katharina von Bechtolsheim Seite 111—112.

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hindurch glücklich geführt; „er hatte ein unerschütter- liches Vertrauen auf sein Glück, wie er denn auch zu sagen pflegte, daß, wenn er einen Beinamen führen sollte, es der des Glücklichen sein müßte." *) «Klug be- sorgt und umsichtig lavirte er, ohne seiner Würde etwas zu vergeben, durch die schwierigen politischen Ver- hältnisse, die Deutschland einen andern Charakter gaben, so daß Napoleon selbst ihn einen der geistvollem deutschen Fürsten nannte.* 2) Schnell und unerwartet starb der Herzog, der niemals ernstlich krank gewesen war, noch nicht volle 50 Jahre alt, am 17. Mai 1822 in Folge „einer in den Körper geschlagenen Flechte" *) nach kurzem Krankenlager und wurde auf der „Insel* im Park zu Gotha neben seinem Vater und seinen im Tode ihm vorausgegangenen beiden Brüdern beigesetzt.

Herzog Augusts zweite Gemahlin4) überlebte den Gatten sechsundzwanzig Jahre; sie starb am 22. Februar 1848 und wurde zu ihrem Gemahl auf der Parkinsel be- stattet. Mit Augusts jüngerem Bruder Friedrich6), seinem Nachfolger in der Regierung des gothaischen Landes als Friedrich IV., der unter der Wirkung eines Gehirn polypen nach kaum dreijähriger Regierung schon am 11. Februar 1825 verstarb, erlosch sein Stamm.

Durch seine einzige Tochter Louise6), die spätere

*) Jacobs 1822, Seite 499— f»00; Beck I 1868, Seite 481.

2) v. Weber 1 1864, Seite 322. 9) Beck 1875 Seite G83.

*) Uober Augusts zweite Gemahlin, Karoline Amalie, üuüert sich Louise Seidler 1874 Seite 80 und Katharina von Bechtolsheim 1902 Seite 112.

ft) Sein liebenswürdiges Wesen hebt v. Weber I 1804 S. 374 hervor und sein schreckliches Leiden schildert H. A. 0. Reichard 1877 Seite 610-514.

*) Nach Galletti V 1824 S. 26 hieß sio Dorothee Louise, nach Beck 1 1868 S. 430 Louise Pauline Friederike Charlotte Auguste; Uber sie handelt Louise Seidler 1874 S. 86-88, welche mit ihr be- kannt wurde zur Zeit, als sie noch Herzogin von Coburg war.

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Gemahlin des Herzogs Ernst von Sachsen - Coburg- Saalfeld, deren zweiter Sohn, Albert, Prinzgemahl der britannischen Königin Viktoria wurde, ist Aemil Leopold August Urgroßvater des gegenwärtig regierenden Königs von England, Eduard VII.

*

Aemil Leopold August machte als Herzog einen Unterschied zwischen seinen Taufnamen Aemil und August; seines Rufnamens August bediente er sich als Regent und in Geschäftssachen, den Namen Aemil, den er seinem Paten Friedrich dem Großen folgend und diesem zum Andenken Emile schrieb, gebrauchte er als Mensch im freundschaftlichen Verkehre und in seinen Briefen.1) Diese Doppelnamigkeit war nicht eine leere Spielerei, sondern von tieferer Bedeutung und dem Herzoge, dem das reiu Menschliche hoch galt, ein inneres Bedürfnis; er selbst versicherte, als er das Gesuch einer sehr geliebten Person nicht erfüllen konnte, auf den durch seine Unterschrift bezeichneten Unterschied des Fürsten und Freundes verweisend, als August nicht erfüllen zu können, was er als Aemil gern gewünscht hätte.2) Es läge daher nahe und ist auch vorgeschlagen worden, in eiuer Lebensbeschreibung des Herzogs seine Namen Aemil und August zur Inhaltsbezeichnung ihrer zwei Hauptabteilungen zu verwenden.8) Es kann indessen hier der Ort nicht sein, den Regenten August zu schildern; vortreffliche Charakteristiken desselben haben von Wüstemann, Eichstädt und diesen folgend von Lupin auf Illerfeld, ferner Galletti, Beck und der geheime Kriegsrat H. A. O. Reichard entworfen. Die Behauptung, um die Regieruug seines Landes habe sich Herzog August wenig

») von WUsteniann 1823 Seite 7. «) von WUfltemann 1823 Seite 7—8. ■1) von Wüsteinann 1823 Seite 8.

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gekümmert, er habe sie lediglich seinen trefflichen Ministern überlassen1), deckt sich weder mit dem Hinweise auf „oft sehr bedenkliche Regierungs-Geschäfte" des Herzogs*), noch mit der bestimmten Angabe, daß viele Aenderungen seiner Regierung aus seinem Geist hervor- gegangen sind*), noch mit der Versicherung, daß er die Regierungsgeschäfte, die er mild und gerecht führte, bis zu seinem Ende ohne Aufschub erledigte.4) Als Regenten- Tugenden des Herzogs August werden hervorgehoben sein ausgesprochener und unbeugsamer Sinn für Recht und Billigkeit5), welcher ihn nicht nur hinderte, jemals den Lauf eines gerichtlichen Verfahrens zu hemmen6), sondern auch dahin führte, daß aus seiner Regierungs- zeit nicht ein einziger Gewaltstreich, nicht eine einzige vorsätzliche Ungerechtigkeit zu berichten ist.7) Der Herzog ehrte Anhänglichkeit8), aber er besaß auch selbst diese Tugend und harrte in schwerer Zeit bei seinem Volke aus ohne Furcht um seine Person.9) Er war ein eifriger Wohltäter seines Landes10) und trug Sorge für die Verschönerung seiner Residenzstadt.11) Jedermann aus seinem Volke stand der Zutritt zu ihm offen.12) Auch liebte er das Volk und ganz besonders seine Altenburger Bauern, die er seine „Rembrandts" zu nennen pflegte.18) Als er im Februar 1819 zum Landtage in Altenburg weilte, erschien er auf einem am 2. Februar von der vereinten Kasino- und Ballgesellschaft im Gast- hofe zum Hirschen veranstalteten Maskenballe in der Tracht eines Altenburger Bauern, begleitet von der Frau Hofrat

») Louise Seidler 1874 Seite 84. ») Galietti V 1824 Seite 42.

») von Wllatemann [Geh. Kanzleisekretär] 1823 Seite 20. *) Jacobs VII 1840 Seite 177—178. %) Reichard 1877 Seite 183.

") Derselbe Seite 490. 7) Derselbe Seite 482—483. *) Der- selbe Seite 482. ") Derselbe Seite 484; Jakobs VII 1810 Seite 178.

I0) Reichard 1877 Seite 484. u) Derselbe Seite 484. »*) Derselbe Seite 479 u) G. bei Hennings 1832 Seite 27.

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Pierer als seiner Bäuerin; er hatte, anstatt einen Hof- schneider mit der Anfertigung eines solchen Bauern- anzuges für sich zu betrauen, das Festkleid, welches er trug, von dem Bauern Michael Pohle entliehen und stiftete diesem dann für seine Gefälligkeit einen silbernen Becher mit der Inschrift: „Ehret der Väter Sitte und ihre Tracht." Erst nach 11 Uhr hat er den Ball, auf dem er sich zwanglos bewegte, verlassen. Aus Dankbarkeit brachten die Altenburger Bauern dem Herzoglichen Paare durch acht Deputierte, je vier Männer und Frauen, im März 1819 als Geschenk die vollständige Tracht eines Bauern und einer Bäuerin, welche der Herzog und die Herzogin mit Hülfe der Deputierten anlegten; bei diesem Anlasse äußerte launig der Herzog, er werde nun endlich so glücklich sein, die Waden seiner Frau zu sehen, die er noch nie zu sehen gekriegt habe.')

Bei so großen Tugenden bestanden die Regenten- Schwächen des Herzogs hauptsächlich darin, daß er Geldeswert nicht kannte2) und eine allzugroße Liebe zu äußerm Prunke besaß8), welche ihn zu unnötigem Auf- wand trieb.4) Auch herrschte am Hofe eine Günstlinge Wirtschaft*); diese ging aber nie so weit, daß es möglich gewesen wäre, den Herzog lange zu täuschen.0) „Nie- mand besaß außer dem ihm angewiesenen Wirkungskreise eine fremdartige Einwirkung; jeder Versuch, sie zu er- langen, hätte sofortige Abfertigung oder (ging eine Er- örterung vorher) nachher eine desto beschämendere zu erwarten gehabt. Anmaßung und Unrechtlichkeit fanden an ihm einen entschiedenen und offenen Feind."7)

* * *

') Hempel 1819 besonders Seite 23—24; 35—36; 53—54; 65; 67; 79 und 83. •) Reichard 1877 Seite 486. *) Derselbe Seite 491. *) Derselbe Seite 484—485. 6) Derselbe Seite 486—487. «) von Wüsteraann 1823 Seite 9. ') von WUstcmann 1823 Seite 14.

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Die Persönlichkeit des Herzogs als Mensch mit wenigen Strichen zu zeichnen, ist eine Unmöglichkeit; nur allzu leicht wird er dem, der ihn nicht begreift, zur Karikatur1) . . „er war eine so buntschillernde Er- scheinung, daß man mit wenig Worten über ihn nicht auskommt."2)

„Einer der geistvollsten Fürsten, die ich kenne*3)

„ein Fürst, der zu den merkwürdigsten Erscheinungen unserer Zeit gehört"4) „von unbezweifelbarer Genialität, mit Excentricität gemischt*5) alles dieses sagt zwar mit wenigen Worten viel, erschöpft aber die Eigenart des Mannes bei weitem nicht; mehr enthalten schon die Epitheta: „geistreich und edel*8) oder „Große Klugheit, kein bösartiges Herz, aber beißender Witz, dabei Gefühl für Edelrauth das waren allerdings die Grundziige seines Charakters.*7)

Im Wesen des Herzogs August flößen zwei an- scheinende Gegensätze zu einem nicht unharmonischen Ganzen zusammen; das waren gewinnende Liebenswürdig- keit und beißender Witz. Seine Liebenswürdigkeit konnte bezaubern8); aber seine Satire schonte niemanden; bald wirkte sie verblüffend, bald verletzend ; aber den, welchen er beleidigte, versöhnte er durch Huldbeweise.9) Seine beißenden Epigramme, Rätsel, Wortspiele und Witzworte, die fast alle den Stempel plötzlicher Eingebung tragen, so daß Jean Paul Friedrich Richter ihn ohne Schmeichelei den „witzigsten Fürsten* nennen konnte10), wurden meist

») So nennt ihn Louise Scidlcr 1874 Seite 88 einfach „dieses SröUte Original mner Zeit.4' - -) H.A. 0. Reichard 1877 Seite 505.

') Napoleon I. bei von Weber 186-1 Seite 821; 322; G. bei Hennings 1832 Seite 27. *) Jacobs VI 1837 (1828) Seite 450. ß) von Weber I 1804 Seite 373. ö) H. A. 0. Reichard 1877 Seite 505. ') Derselbe Seite 482. H) wie sie den Komponisten Carl Maria von Weber bezauberte; von Weber 1 1864 Seite 325. •) von Weber I 1864 Seite 328. ,0) Richter 1805 Seite 14.

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bei Tische laut vorgebracht, durch die umstehenden Dieuer weiter verbreitet und bisweilen zum Stadtgespräche. „Die Vornehmen fürchteten daher diese Satyre des Herzogs, weil sie oft wunde Flecke traf, und so wurde manche Schlechtigkeit verhütet. Man scheute sich mehr vor dein Herzog August und seinem Spott, als vor dem würdigen Ernste seines trefflichen Vaters, der es höchstens bei einem stummen Achselzucken bewenden ließ, wenn es ihm zu arg wurde."1)

Leider sind die Scherze des Herzogs August nicht gesammelt worden; immerhin wurde genug zur Charakter- istik ihres Schöpfers durch den Druck bekannt2); nur einige wenige für die Eigenart des Herzogs besonders typische, aus Werken entnommen, in denen man sie kaum vermutet, mögen hier Platz finden. Dem Kammerherrn Ernst Ludwig Karl von Seebach, einem höchst achtungs- werten Herrn von wenig gesellschaftlichen Talenten, der neben ihm bei Tische saß, gab der Herzog das leicht zu erratende Rätsel auf: „Was ist das? Die erste Silbe ist ein großes Wasser, die zweite ist ein kleines Wasser das Ganze aber ist doch unbeschreiblich trocken."8) Auf einem Maskenballe bemerkte der Herzog, wie ein junger Kaufmann namens Tröbsdorf, den er unter der Verkleidung erkannt hatte, einer weiblichen Maske stark den Hof machte; der Herzog trat auf ihn zu, klopfte ihm vertraulich auf die Schulter und sagte laut: »Tröbs- dorf mit der Elle verliebt sich schnelle!" Der An-

') Reichard 1877 Seite 483—484. Derselbe sagt Seite 501 : „Diese Spiele des Witzes zu sammeln, wäre ein verdienstliches Werk" . . .

*) In der am Schluß aufgeführten Literatur sind deren etwa 80 enthalten; sie finden sich bei Appun, Beck (I 1868 Seite 449—451), Förster (Iii 1817 Seite 787: IV 1854 Seite 834), G. bei Hennings (1832 Seite 25—27), Keichard (1877 Seite 483; 495; 500—505), Louise Seidler (1874 Seite 90—91) und von Weber (I 1864 Seite 323).

') „Anekdote" 1805; Louise Seidler 1874 Seite 91.

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geredete, welcher sein Gegenüber sofort erkannte, ant- wortete mit großer Geistesgegenwart: „Ich führe meine Elle mit Verstand das Scepter ruht in August'* Hand!" Weit entfernt, „dergleichen gegen ihn gerichtete Sarkasmen" übel aufzunehmen, ergötzte sich der Herzog darüber im Gegenteil außerordentlich; eine passende Ent- gegnung imponierte ihm ; auch konnte er über eine solche aus vollem Halse lachen1); Freimut und geistreiche Lebendigkeit sprachen ihn an.2) Eines Tages erschien er bei einer festlichen Gelegenheit im Kreise des ver- sammelten großen Hofstaates und sprach mit jedem der Anwesenden außerordentlich freundlich einige Worte, die indes auch jeden ein sehr verdutztes Gesicht machen ließen. Als man sich nach der Feier eifrig fragte: »Was hat der Herzog zu Ihnen gesagt?", äußerte der Erste: „Wunderbar! mir sagte er höchst liebenswürdig: „Eins! zwei! drei!". »Und mir", sagte der Nächste, „rief er höchst herablassend in's Ohr: „Vier! fünf! sechs!", und so hatte der Herzog, statt des ebenso wenig sagenden Courgesprächs, zählend seinen fürstlichen Cercle gemacht. *) Goethe teilt 1808 4) von ihm mit: „Ich habe mich nicht über ihn zu beklagen; aber es war immer ängstlich, eine Einladung zu seiner Tafel anzunehmen, weil man nicht voraussehen konnte, welchen der Ehrengäste er schonungs- los zu behandeln zufällig geneigt sein möchte'1. Und der Herzog fragte eines Tages die aus Weimar gebürtige Malerin Louise Seidler: „Was macht Euer Kunstpapst ?u Damit raeinte er Goethe5). Auch nannte er Goethe einen „Pedanten««).

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») Louise Seidler 1874 Seite 91. Sonderbar klingt gegenüber diesem „Lachen ans vollem Halse" Jacobs Versicherung (VII 1810 Seite 177): „Sein Geist schien immer in Bewegung. Ich habe ihn nie gähnen, aber auch nie von Herzen lachen gesehn". e) Reichard 1877 Seite 882. ') von Weber I 1864 Seite 323. ") J. W. von Goethe (1808) 27. Teil Seite 181 n. 695. *) Louise Seidler 1874 Seite 90. •) Beck 1 1868 Seite 448.

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Des Herzogs weiches, gefühlvolles Herz erfreute gern andere; er war von so wohltätiger Sinnesart, daß ihm nichts größere Freude bereiten konnte, als Geschenke zu geben, worin seine Freigebigkeit keine Grenzen kannte1); daß die Wahl seiner Geschenke bisweilen recht un- zweckmäßig ausfiel, so wenn er einem Küchenjungen eine astronomische Uhr schenkte, den Frauen kleiner Beamten mit Blumenguirlanden gezierte seidene Schleppkleider an- fertigen ließ*) oder aus Dankbarkeit kleine Gegenstände, einen Fächer*), Ringelchen und dcrgl. fortgab, die für jeden anderen, als einen Liebhaber wie er selbst, wertlose Dinge waren4), kann seiner wohlwollenden Ge- sinnung keinen Abbruch tun, da diese Geschenke für ihn großen Wert besaßen und er sich dennoch ihrer ent- äußerte, und konnte auch überdies in jedem Falle seinen ganz besonderen Grund haben. Diese Freigebigkeit war weit eutfernt, eine Schwäche zu sein, da der Herzog An- maßungen auch seiner Begünstigten scharf zurückzuweisen pflegte5). Eine ganz besondere Leidenschaft, welche viel- leicht seiner Liebe zu Kindern entsprang, hatte er für das Gevatterstehen : er bot sich selbst als Paten an, gleich- viel, ob es sich um das Kind einer vornehmen Familie oder um das eines Lakaien handelte0). Er anerkannte Ver- dienste jeder Art, ermunterte Talente, unterstützte die Armut aus seinen Handgeldern und begünstigte überall nicht die Aristokratie der Geburt, vielmehr mit sichtlicher Vor- liebe die des Wissens, des Könnens und der Bildung.7)

Des Herzogs Schwächen als Mensch bestanden gegen- über allen diesen Vorzügen namentlich in grenzenloser

») Beck I 1868 Seite 446; Louise Seidler 1874 Seite 89. 9) Louise Soidler 1874 Seite 89. *) Dem Oberbibliothekar Rat Vulpius- Weimar nach G. bei üennings 1832 Seite 27; von Weber I 1864 Seite 823. *) von Wober I 1864 Seite 374. ») G. bei Hennings 1832 Seite 27; Beck 1 1868 Seite 446. •) Reichard 1877 Seite 500. *) Herapel 1819 Seite 83.

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Eitelkeit1), Geneigtheit zum Zorn8), Neigung zur Reizbar- keit8), Mangel an Geduld4), völligem Mangel an Ver- ständnis für Geldsachen5) und daraus hervorgehender Verschwendungssucht8). Es fehlte ihm, der viele seiner Günstlinge verachtete, an einem von ihm geprüften, an- erkannten und aufrichtigen Freunde, dessen ernste Vor- stellungen seinem hellen Verstände eine würdigere Rich- tung gegeben haben würden; Beweis dafür ist, daß er in seinem reiferen Alter manche Auswüchse aus eigener Ueberlegung beseitigte7).

Lässiger Bequemlichkeit ergab der Herzog sich allzu- gern. Gegen Abhärtungen des Leibes besaß er starke Abneigung. Ritterliche und militärische Uebungen, Reiten, Jagen, Schießen waren ihm zuwider8). Die einzige Be- wegung, welche ihm behagte, war der Tanz, dem er sich mit Anmut und Grazie hingab; um die Tanzlust zu för- dern, besuchte er auch Tanzvereine der höhern Stände seiner Residenzstadt Gotha9). In den späteren Jahren lag er viel zu Bett und erhob sich erst zur Zeit der Mittagstafel; im Bette liegend, mit Ringen geschmückt, empfing er Besuche, auch seinen Ministerrat und die Gesandten, hier diktierte er seine Briefe und seine in Worte gebrachten Phantasieen10). An eine geregelte Lebensweise sich zu binden, widerstrebte seiner Natur11).

Den Herzog beherrschte eine Prachtliebe, die er nur schwer zu zügeln vermochte. Die Einrichtung seiner

») Reichard 1877 Seite 48ö; 486; 491—492. ») G. bei Hennings 1832 .Seite 4. ') Beck I 1868 Seite 447. *) G. bei Henninga 1832 Seite 4. ») G. bei Hennings 1832 Seite 26; Beck I 1808 Seite 447.— «) Louise Seidler 1871 Seite 89—90. ;) Reicbard 1877 Seite 485. - h) Beck 1 1868 Seite 446—447. 9) Eichstädt 1823 Seite 21—22; 1849 Seite 54; Galletti V 1824 Seite 41—42; Beck I 1868 Seite 447. l0) Beck I 1868 Seite 447; Reichard 1877 Seite 494. u) Jacobs VII 1840 Seite 177.

J.hrbuoh V. 40

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Gemächer1), der Glanz des Hofes8), die zahlreichen Stellen seines Hausstaats, welche er neu geschaffen hat8), legen dafür Zeugnis ab; doch wird anerkannt, daß er begründeten Vorstellungen, wie der des alten Obergärtners Wehmeyer, der an der Ueberzahl der kostspielig zu unterhaltenden Kieswege Anstoß nahm, obwohl er sich anfangs solchen gegenüber ablehnend verhielt, in der Folge doch sich zugänglich zeigte*); dagegen versagte sich der Herzog ohne Schwierigkeit den Aufwand für Reisen in entfernte Länder, für Jagden, für Theater, für Spiel und für kostspielige Liebschaften mit Frauen5).

Herzog August gehörte der lutherischen Kirche an, doch zeigte er eine ausgesprochene Vorliebe für [den römisch-katholischen Kultus, „vielleicht nur, weil ihm dieser die Farben darbot, deren er zu seinen Gemälden bedurfte"0); er trat aber nicht, wie sein unglücklicher Bruder und Nachfolger Friedrich, zur katholischen Kirche über, nahm vielmehr wie sonst alljährlich auch auf seinem Sterbebette das Abendmahl nach lutherischem^ Ritus 7)- Lebhaftes Interesse gab er auch für die indischen. Religionslehren kund8).

Seine politische Auffassung war der der Mehrzahl seiner deutschen Zeitgenossen entgegengesetzt; er verehrte schwärmerisch Napoleon; der Umschwung der Verhält-

') Beck 1 1868 Seite 442-444; Louise Seidler 1874 Seite 93 bis 94. Beschreibung des Fliederziinmers bei Appun 1900. 9) Reichard 1877 Seite 492. s) Galletti V 1824 Seite 42. ») Reiehard 1877 Seite 484. s) Galletti V 1824 Seite.46— 47.^— «) Jacobs VII 1840 Seite 177. 7) Beck 1 1868 Seite 447—448. Nach Reiehard 1877 Seite 505 verlangte er das Abendmahl von dem greisen Oberhof'prediger Schäffer, der als Kanzelredner den auf ihn gesetzten Hoffnungen nicht entsprochen hatte, nur um ihn nicht zu kränken, mit der Begründung: „Ich schätze den Mann, denn er glaubt, was er lehrt." ") Louise Seidler 1874 Seite 160;. ISO- 187.

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nisse im Jahre 1813, dem er sich klug unterwarf, berührte ihn nicht angenehm1).

Dem Herzog August war ein so hochgradiger Sammeltrieb eigen, daß er sein eigenes und ein geerbtes enormes Vermögen durch Ankauf von Raritäten aller Art verschwendete*); der Sammelgeist der sächsischen Fürsten war auf ihn übergegangen; seine Wohnräume und sein Schlafzimmer bargen reiche Galerieen von Seltenheiten und Merkwürdigkeiten aus allen Gebieten der Natur, der Kunst und der Literatur bunt durcheinander; so kam unter anderem die Seetzen'sche (asiatische) Sammlung und das auch jetzt noch bedeutende chinesische Kabinett des Herzogs zu Stande8). Wenn Alex, von Sternberg sagt: Herzog August war in China mehr zu Hause als auf dem Friedensteine4), so ist das indes wohl nur eine von den vielen in Bezug auf diesen Herzog beliebten Uebertreib- ungen.

Die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft, die Unterhaltung mit durch Kenntnisse, Genie oder Bildung ausgezeichneten Männern und literarisch gebildeten geist- reichen Frauen zog Herzog August den gewöhnlichen Hof Versammlungen vor5). Er selbst war mannigfach be- gabt. Er hatte nicht griechisch gelernt, während sein Vater den Homer- in der Ursprache lesen konnte, und auch von den neueren Sprachen beherrschte er nur die französische gut und sprach sie gern; erst nach und nach wurden auch seine wissenschaftlichen Neigungen ernster6); der Grundzug seines Wesens war eben ein künstlerischer. Der VVitter'schen Schauspielergesellschaft räumte er mehrere Jahre hindurch sein Hoftheater ein,

») Beck 1 1868 S. 147. -) Louise Seid ler 1874 Seite 89. *) Reiehard 1877 Seite 496—199. l) nach Beck 1 1868 Seite 415; wo v. Sternberg diesen Ausspruch getan, ist mir verborgen geblieben; Beck gibt es nicht an. A) Galletti V 1824 Seite 41. ") Jacobs VI 1837 (18-J3) Seite 484; Reichard 1*77 Seite 493—494.

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erteilte aber hernach der Feuersgefahr wegen die Er- laubnis nicht mehr1). Viel beschäftigte ihn das Zeichnen ; er war Meister im Entwerfen und Ausführen besonders landschaftlicher Gegenstände durch flüchtige Federzeich- nung*). Kunstwerke der Architektur auszusinnen, war eine seiner liebsten Beschäftigungen; nach seinen Angaben entwarf ein talentvoller gothaischer Architekt viele Risse von Bauwerken, in denen sich die reiche Phantasie oder der richtige Geschmack ihres Erfinders zeigt Während er diktierte, zeichnete er oft mit der Feder oder dem Bleistift, um durch reiche, sinnvoll angelegte Landschaften, meist Inseln, seine Besitzungen, wie er scherzte, zu vermehren ; auch gelangen ihm Karikaturzeichnungen gut4); in den Federzeichnungen kleiner Landschaften gelang ihm be- sonders der Baumschlag4). Der Kandelaber auf der Höhe von Altenbergen wurde 1811 nach dem Entwürfe des Herzogs August errichtet*); mit der Ausführung seiner Ideen konnte er den Maler Joseph Grassi*) vollauf beschäftigen. Nicht minder lebhaftes Interesse wandte er der Tonkunst zu, wenn auch zu tieferem Eindringen und beharrlichem Fleiße seine Natur nicht neigte. Mit Hülfe seines Kapellmeisters Louis Spohr und nach dessen Fortgang Andreas Hombergs setzte der Herzog selbst Lieder und Sonaten auf7). Einige seiner Gedichte wurden durch Kompositionen von Himmel und Carl Maria von

») Galetti V 1824 Seite 41. - a) G. bei Hennings 1832 Seite 15 nota*). ») Jacobs 1822 Seite 502; nach diesem von Lupin auf Illerfeld 182(5 Seite 74; Beck I 1868 Seite 443. «) Reichard 1877 Seite 493 und 494. B) Appun 1900. a) Ueber den Maler Professor Joseph Grassi 1756 1838, gebürtig aus Udine, handeln Galletti V 1824 Seite 40; v. Sternberg 1857 Seite 94; Beck I 1868 Seite 445: Louise Seidler 1874 Srtte 249. - 7) Jacobs 1822 Seite 502; VI 1837 (1823) Seite 465-466; Galletti V 1824: von Lupin 1826 Seite 74; von Weber I 1864 Seite 321: 326; 373-374; 381; Beck I 1863 Seite 440; 442; Reichard 1877 Seite 194-495.

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Weber dem weiteren Publikum bekannt1). Den größten Teil seinerZeit aber nahmen sein ausgedehnter Brief Wechsel und seine phantasiereiche schriftstellerische Tätigkeit in Anspruch; lebte er doch in seiner Phantasie wie in der Wirklichkeit; besaß er doch eine divinatorische Kraft oder glaubte wenigstens an eine solche in sich und überredete sich gern, daß auch seine Träume der Abdruck des Wirklichen wären8). Bei seiner Schriftstellerei kam ihm sein phänomenales Gedächtnis zu Statten8). Seine Schrift- stellerei selbst aber, ebenso des Herzogs ausgesprochene Weiblichkeit erheischen an dieser Stelle je ein besonderes Kapitel.

Diese allgemeine Schilderung des Wesens des Herzogs August beschließt wohl am besten eine auf manchen seiner Porträts in Kupferstichen befindliche recht passende Unter- schrift :

„Beschützer des Kechts, von den Musen geliebt und der Grazien Zögling*'4).

Des Herzogs Weiblichkeit.

Alle Nachrichten über den Herzog August stimmen in einem Punkte, der für die Beurteilung seiner Geschlechts- natur von wesentlicher Bedeutung ist, überein: „Daß ungeachtet des hohen Wuchses und der regelmäßigen schönen Formen seines Körpers eine fast weibliche Weich- heit bemerkt werden konnte"5) .... „Schlank und von hohem Wüchse, hätte er im Bau der Brust, der Hüften und Arme ein schönes Modell des Bacchus gegeben, die Umrisse seiner Glieder waren leicht und fließend; Hände und Füße vorzüglich schön; die Haltung des Körpers

') Jacobs VI 1887 (1823) Seite 4G5; Beck 1 1868 Seite 440. *) Jacobs 1822 Seite 502. *) Derselbe 1822 Seite 502. 4) Appun 1000. ») Beck I 1868 Seite 429.

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zum weiblichen hingeneigt*1) .... „Obgleich sich sein Teint und die Bildung seines Körpers zur weiblichen Natur neigte, konnte er, bei seinem hohen Wuchs im richtigsten Ebenmaaße, für einen schönen Mann gelten*2).

Lassen wir von den Personen, welche auf Grund engerer persönlicher Berührung mit Aemil August wirklich Beobachtetes über ihn berichten konnten, zuerst die Frauen zu Worte kommen, so haben die Malerin Louise Seidler und die Hofdame Katharina Bueil (spatere von Bechtolsheim) ihn schon kennen gelernt, als er noch Erb- prinz war. Die Seidler, eine Weimarerin, teilt mit, daß der „phantastische Erbprinz* im Hause ihrer Tante Et- tinger in Gotha verkehrte und auch nicht fortblieb, als er den Thron bestiegen1), daß er nach einem Hof balle seine sämtlichen Tänzerinnen mit Pariser Blumen fürstlich be- schenkte4); seine zweite Gemahlin habe ihn, dessen Geist sie anstaunte, schwärmerisch geliebt5); und sie schildert den Herzog mit folgenden Worten: „Dieses größte Ori- ginal seinerZeit war schön von Gestalt ; seine Erscheinung hatte etwas Damenhaftes, besonders wohlgeformt waren seine sorgfältig gepflegten Hände und seine Füße. Auch der Kopf wäre schön gewesen, hätte ihn nicht ein schie- lendes Auge verunstaltet. Barock in Allem, was er that, liebte er es, bisweilen mit einem türkischen Shawl drapirt oder in noch phantastischeren Costümen zu erscheinen. Gewöhnlich trug er eine ä la Titus gelockte Perücke vom zartesten Blond, die in Paris verfertigt war. Der Herzogliche Bibliothekar und Sekretär, mein guter Onkel Jacobs, berühmt als gelehrter Philolog, mußte zu seinem größten Kummer sehr oft wegen dieser Perücke mit pariser Friseuren correspondiren. Des Herzogs Finger

die Daumen ungerechnet strotzten von kostbaren

•) Jacobs 1822 Seite 497: wörtlich aufgenommen von Lupin auf Illerteld 182(i Seite 70. 2) G. bei Hennings 1832 Seite 3.

') Louise Seidler 1S74 Seite 32. - *) Dieselbe Seite 33. r') Dieselbe S.-ite H>.

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Aemil August als Erbprinz

(nach einem Oelgcmalde von Jos. Grassi).

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Ringen, die Arme von Spangen und Armbändern. Oft, wenn er sich einbildete, krank zu sein, blieb er Wochen lang im Bette liegen. Dort ertheilte er Audienzen und empfing seine Damen. Als ich mit meiner Tante mich einst nach seinem Befinden erkundigte, nahm er auch unsern Besuch in seinem Bette liegend an. Während des Gespräches streifte er den Aermcl seines weiten weißen Nachtgewandes kokett bis an die Schulter zurück und zeigte uns den mit einer ganzen Reihe der prachtvollsten Armbänder geschmückten Arm. Den Kopf bedeckte eine Art Haube, mit kostbaren Spitzen garnirt. Großen Werth legte er auf die Toilette der Frauen, welche er mit Kennerblick musterte; mit seinen Bemerkungen darüber hielt er nicht zurück; „das ist ja ein wahres Pfauenkleid", sagte er, als ich einst in einem Gewände von buntem Seidenstoff erschien; bei einer anderen Gelegenheit rief er aus: „Welch ein schöner, feiner Sammt!" und strich mit der Hand über meinen Rock. Parfüms aus Paris verbrauchte er in Menge; ein besonderes Vergnügen fand er darin, Eintretenden ganze Gläser davon entgegen zu schütten."1) B Uebertrieben eitel, wie Herzog August war, hatte er die Eigenheit, sich von allen Malern, die nach Gotha kamen, portraitiren zu lassen, um zu sehen, wie jeder ihn auffasse. Ich hatte ihn zu malen in einem violetten Sammetrock und einer Weste von Goldstoff. Von dieser Weste erbat ich mir eine kleine Probe, um den Stoff richtig nachzuahmen. „Nein!", sagte er, „keine Probe, sondern ein ganzes Stück von der Goldtresse sollen Sie haben." Wollte Jemand seine Freigebigkeit abwehren, so verdoppelte er sie; ich weiß dies aus eigener Erfahrung. Bisweilen genoß ich den Vorzug, mit ihm und seinem Kammerherrn allein zu speisen; nach der Tafel ging der Herzog auf und nieder und ließ sich von

') Louise Seidler 1874 .Seite 88—89.

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mir erzählen oder er that in seiner originellen Art allerlei Fragen.*1) Das von der Seidler entworfene Bild des Herzogs vervollständigt der folgende Zug: «Excellenz von Thümmel, der vormalige Minister, war ein schöner, origineller, geistreicher Mann, von dem die geheime Ge- schichte berichtet, daß er sich die Gunst der damaligen Erbprinzessin von Gotha, geboraen Prinzeß von Mecklen- burg, erworben, deren weibischer Gemahl der wunder- liche Herzog August dem Lande keinen Erben ver- hieß.148) . . Katharina Freifrau von Bechtolsheim, geborene Gräfin Bueü, etwa 15 Jahre jünger als der Herzog August und Hofdame seiner zweiten Gemahlin, äußert sich über diesen also: „An einem der Tage, die Frau von Stael bei uns zubrachte, wobei sie von Benjamin Constant begleitet wurde, kam auch Herzog August von Gotha, um ihre Bekanntschaft zu machen, noch ehe sie an seinem Hofe erschien. Was soll ich von diesem seltsamen Manne sagen, der, von Phantasie, Witz und Geistesfülle strotzend, der verkehrteste Kopf war, den ich je gesehen? Von meinen Kinderjahren an von ihm mit zuvorkommender Güte überhäuft und bald nach jener Zeit, hauptsächlich durch ihn, zur Hofdame seiner Frau erwählt, begegnete er mir von Neuem auf das Freundlichste. Gern las er mir und noch einigen Damen seine Gedichte und Romanzen vor. Trotz aller Güte und Zuvorkommenheit, die er mir beständig und bei jeder Gelegenheit bewies, konnte ich ihm jedoch nicht nur

l) Louise Seidler 1874 S. 90. - *) Dieselbe S. 101. Und S. 86—87 sagt die Seidler mit Bezug auf die einzige Tochter des Herzog«, Louise: „Auch die sarkastische Art des Herzogs hatte sicherlich keine gute Wirkung auf das junge, leicht empfängliche tiemtith: einmal hörte ich selber bei einem Souper im engeren Kreise des Hofes, zu welchem ich mit meinen Tanten eingeladen war (die Herzogin war nicht anwesend), was für unpassende Neckereien der Vater sich gegen seine Tochter erlaubte." Leider verschweigt die Seidler, welcher Art diese Neckereien waren.

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keinen Geschmack abgewinnen, sondern fühlte mich sogar im grellsten Gegensatz zu seinem ganzen Wesen und seinen phantastischen Anschauungen. Wie auf glühenden Kohlen befand ich mich, wenn er mir dieselben im Feuer der Rede auseinandersetzte, fa9t noch mehr als da er sie vorlas. Ich konnte in meinem damaligen Alter viel weniger als späterhin verbergen, was ich dachte und fühlte, begreife daher "nicht, daß ich ihm nicht bald ebenso unerträglich wurde, als er es mir gewesen. Ob ihn davon bisweilen etwas anwandelte, weiß ich nicht, jedenfalls konnte ich es nicht bemerken; sehr wunderte ich mich, als er sich einstmals mit einer geistvollen jungen Person, der Tochter des Dichters Gott er und Schwester der Frau von Sehe Hing, verabredete, mich in einem Sonett zu besingen, das sie mir, zugleich mit dem ihrigen, zeigte. 1 lerzog August traf mit Frau von Stael bei uns gerade an einem Tage zusammen, an dem sein phantastischer Kopf übersprudelte; die beiden konnten über keinen Gegenstand einig werden. Ohne eigentlich interessant zu sein, war das Gespräch in seiner Art merkwürdig, ich fand es sogar ermüdend und wünschte ihn in meinem Herzen weit hinweg, worin mir aber nicht gewillfahrt wurde, und es dauerte übermäßig lange, bis er uns verließ.*1)

Während das Ueb erweibliche im 1 lerzog August auf beide Frauen unsympathisch wirkte, fällt das Urteil der Männer mehr ungleich aus.

Goethe schrieb von ihm im Jahre 1808: »Des re- gierenden Herzogs August von Gotha darf ich nicht vergessen, der sich als problematisch darzustellen und

') von Bechtolsheim 1902 .Seite 103 105. Katharina von Bechtolsheim, damals noch Gräfin Bueil, lebte bei ihrem Pflegevater, dem französischen Enzyklopädisten und Literaten Friedrich Melchior Baron von Grimm; der oben geschilderte Besuch der Madame de Stai-1 fällt in das Jahr 1804.

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unter einer gewissen weichlichen Form angenehm und widerwärtig zu sein beliebte" . .

- Der Philologe Friedrich Jacobs, dem der Herzog August von 1810 ab viel in die Feder zu diktieren pflegte, legt die weibliche Natur desselben in folgender Schilderung fest: „Der Bau seines Körpers war ausgezeichnet zu nennen, sowohl wegen seiner Größe, als wegen seiner Regelmäßigkeit, Die starke Rundung seiner Hüften gab ihm einen weiblichen Charactcr, dem auch die Weichheit seiner Muskeln und die Weiße seiner Farbe entsprach. Diesen äußerlichen Kigenschaften waren auch seine Nei- gungen analog, die mehr den Stempel des Weiblichen als des Männlichen trugen, seine Liebe zum Putze und, in j ungern Jahren, zu phantastischer Bekleidung und zum Gebrauche kosmetischer Mittel. Auch Anderes hing durch geistige Fäden mit dieser Anomalie zusammen; vorzüglich eine gewisse divinatorische Kraft, die ihn auch das wahr- nehmen ließ, was in einer Ferne geschah, zu der seine sehr kurze Sehkraft nicht reichte. Das Innere Anderer errieth er leicht*2)

Der Komponist Carl Maria von Weber hat eine Schilderung des ihm befreundet gewesenen Herzogs ge- geben, welche die Haupteigenschaften desselben, seine Weiblichkeit uud sein weiches Empfinden mit seiner Spottlust in sinnlich-harmonischer Verschmelzung veran- schaulicht: „Seine Erscheinung hat Etwas ungemein

'! Johann Wolfgang von Goethe 1808 Seite 181 n. 695. Der Herausgeber der angezogenen Ausgabe setzt Seite i:A zu n. (i9ö hinzu: „Herzog August von Gotha war problematisch bis zum entschiedenen Sonderling, und in seiner weichlichen Form ging er so weit, dali er bei öffentlichen Veranlassungen in Frauen- kleidern erschien. Ueber das Zusammentreffen mit ihm 1808 in Karlsbad spricht G. ähnlich wie hier sieh im Brief an Frau v. Eyben- berg vom 12. August aus, desgleichen in ungedruckten Briefen an Silvie v. Ziegesar vom 3. und 5. desselben Monats."

-) Jacobs VII 1840 Seite 177.

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Edles und, trotz seiner hoben Statur, Weiches, fast Weib- liches, woher auch seine Liebhaberei für weibliche Putz- stücke rührte. Das Obergesicht mit der runden, -fast Schiller'schen Stirn, der feingeschnittenen, krummen Nase, den schönen, tiefen Augen bewohnte der Ausdruck fast lieblich zu nennender geistvoller Freundlichkeit^ während das Ganze durch die faunisch emporgezogenen Winkel des sinnlich geformten Mundes mit etwas vorgeschobener Unterlippe einen Beigeschmack von Satyrhaftem erhielt, der indeß der Interessantheit der Erscheinung keinen Abbruch that." . . . Ueber des Herzogs Gefallen an weiblichem Putz heißt es bei von Weber: . . . „Ein andermal erschien er mit einem Frauenrocke zum Galla- anzuge oder in römischem Costüm mit Toga, rothen Corduan-Schnürstiefeln und einem Kranz im Haar oder mit einem Frauenschleier auf dem Hute, ein drittes Mal überreichte er Vulpius für eine Hofdienstleistung zur Belohnung einen Fächer, den die Gräfin Cosel getragen hatte u. s. w., ohne daß er sich indeß solche Scherze je- mals in Staatsgeschäften erlaubt hätte. Fast täglich er- schien er mit anders gefärbtem Haar, sodaß ihn sehr oft seine eigenen Diener nicht kannten.*2) „Ein Freund des heitern Glanzes, der vornehmen Form und feinen Sitte, wachte er streng darüber, daß in den Ton des Hofes kein Anklang von der militärischen und jagdmäßigen Derbheit kam, die damals an vielen kleinen Höfen, in Nachahmung des Napoleonischen Soldatenhofes zu Paris, an die Stelle der gedrechselten Haarbeutelformen trat, mit denen man sich fünfzig Jahre lang gegenseitig ge- quält hatte.«8)

Die Eigentümlichkeiten, welche den Herzog August als Sonderling erscheinen ließen, glaubte der gothaische Geheime Kriegsrat H. A. O. Reichard unparteiischer als

') von Weber I 1864 Seite 323—824. «) von Weber I 1864 Seite 323. *) von Weber I 1864 Seite 824.

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irgend ein anderer würdigen zu können; da er weder über des Herzogs Ungnade zu klagen, noch ausgezeichneter Gnadenbezeugungen von ihm sich zu rühmen hatte, so konnte er sich mitten zwischen Lob und Tadel stellen. Er macht sich daher nicht ganz die schiefe Auflassung L. A. Böttiger's zu eigen, der in einem Briefe an Reichard vom 25. Mai 1822 den ihm persönlich bekannten Herzog „aus Eitelkeit Weichling, aus Witzsucht Sonderling, übrigens den edelsten Menschen, und dabei sehr klug" genannt hatte.1) Freilich führt auch er den weibischen Zug in des Herzogs Wesen, seinen Anschluß an einige Damen in den ersten Jahren seiner Regierung und seinen Umgang mit „schönen Mannspersonen " auf seine »grenzenlose Eitelkeit" zurück; diese wiederum erklärt er als durch falsche Erziehung ursprünglich geweckt und durch Schmeicheleien mancher Speichellecker in seiner Umgebung genährt.2) Als eine Kundgebung seiner Eitelkeit faßt er auch des Herzogs Vergnügen auf, sich derart oft malen zu lassen, daß überhaupt nur wenige Maler nach Gotha gekommen wären, die ihn nicht gemalt hätten; bald ließ er sich als Apollo, bald als Raphael, bald in einer andern Maske malen; als das dem Herzoge ähnlichste Bild erklärt er das Bild von Grassi, welches den Herzog im Momente des Diktierens darstellt und, durch Steinla in Kupfer gestochen, dem 12. Bande von Hennings' Deutschem Ehrentempel, Gotha 1832, beigegeben ist8) ; mit der Eitelkeit bringt Reichard die üppige Pracht- entfaltung des Hofes, welche in Gotha seit den Tagen der geistreichen Louise Dorothea nie so glänzend ge- wesen, wie unter dem Herzog August, in Zusammenhang; nach dessen Tode wich das Gewühl schöner gestickter Uniformen, das Rauschen prächtiger seidener Gewänder,

») Reichard 1877 Seite 482. ■) Derselbe 1877 Seite 485. 8) Derselbe 1877 Seite 485. Eine verkleinerte, aber getreue Wiedergabe diese« Bildes findet der Leser auf Seite 639 dieser Arbeit

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das Gedränge von Lakaien und der strahlende Schimmer der Kerzen plötzlich einer unheimlich-gespensterhaften Oede in dem leereu, unermeßlichen Gebäude des Frieden- steins1); die Eitelkeit veranlaßt« auch den Herzog, sieh mit Orden zu schmücken, deren er elf bei seinem Tode besaß; gewöhnlich trug er eine große Schnalle eigener Erfindung, einen ovalen Goldreif mit acht verkleinerten Ordenskreuzen2). In seiner Prachtliebe nicht weniger als in der freigebigen Fordernis aller Künste und Wissen- schaften findet ihn Reichard Lorenzo von Medici, dem Prächtigen, vergleichbar8); allein an Ringen fand man bei seinem Tode hunderte; sie waren oft von einer sehr geistreich ersonnen en Fassung und Form, welche der Herzog selbst angegeben. „Er hatte dazu einen jungen Künstler namens Rosenberg angeleitet, der, ohne im Auslande einen langen Aufenthalt genommen zu haben, doch mit den Künstlern von London und Paris wett- eifern konnte; er starb kurze Zeit vor seinem fürstlichen Herrn.*4) Als einen besondern Zug des Herzogs führt Reichard an, daß er in Gegenwart von Damen es manchmal liebte, „schmutziger, unanständiger Ausdrücke* sich zu bedienen; als einmal eine nicht gerade vornehme Dame durch solche Ausdrücke veranlaßt mit den Worten aufstand: „Ich merke, Ew. Durchlaucht wünschen, daß wir uns entfernen sollen*, brachte ihn dieser Freimut sogleich zum Schweigen ein Beleg, wie er feine Zurechtweisungen nieht übel nahm6). Was Reichard über den Verbrauch des Herzogs an Pomaden u. dergl. und von seiner Günstlingswirtschaft mitteilt, sei hier wörtlich wiedergegeben: „Leider hatte man dem Herzog August weder in seiner Jugend, noch selbst später Geld in die Hände gegeben oder ihn auch nur mit dem Geldwerthe

») Reiohard 1877 Seite 492—493. «) Derselbe 1877 Seite 493. s; Derselbe 1877 .Seite 485; 491: 493. ') Derselbe 1877 Seite 491. - ■•) Derselbe 1877 Seite 503.

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August,

Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Aus „Deutscher Ehren-Tempel", Zwölfter Band, Gotha 1832. J. v. Grassi gem. M. Steinla gest.

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vertraut gemacht; der Fürst, der Tause.nde wegschenkte, wäre nicht im Stande gewesen, einen Thaler nach Groschen uud Pfennigen zu zählen. Es ging ihm, wie dem Spieler, der mit Marken spielt und diese zu ganzen Händen voll auf die Karte setzt, während er mit wirklichem Golde oder Silber sich weit anders bedenken würde. Weil es ihm immerfort an baarem Gelde gebrach, so war er in Waaren über Gebühr freigebig, denn diese konnte er zu hohen Preisen und Procenten stets auf Wechsel erhalten ; da jedoch zuletzt deren Zahlung nach zwanzig- und mehrjährigen Fristen angesetzt war, so kosteten dem Fürsten die Artikel, welche er verschenkte, das Zehn- und Zwanzigfache ihres wahren Werthes. Beispielsweise fand man gelegentlich der Inventur in einem Zimmer Oele, gebrannte Wasser, Eaux de seuteur, Pomaden, Schminken, Obstweine und ähnliche Dinge immer zu zwölf Dutzenden; nach den Rechnungen hatte das alles nicht weniger als vierzigtausend Thaler gekostet, war aber nun keine viertausend werth, denn der Fürst hatte das Depot vergessen und vieles war verdorben. Die Bestände wurden nachher verkauft und mehrere tausend Thaler daraus gelöst.

„Der Herzog äußerte in meiner Gegenwart einmal bitter: mit allen seinen Wohlthaten schatte er sich doch nur Undankbare. In der That wurden seine Geschenke häufig ganz ungescheut von deu Beschenkten mit 25 oder 30 Procent ihres Werthes an den Dritten wieder versilbert, worin namentlich Palmer1) Starkes leistete. Daß die geschenkten Waaren von den Empfängern um- getauscht wurden, war das Gewöhnliche; so z. B. hatte er in Leipzig für einige hundert Dukaten echtes Rosenöl gekauft und unter verschiedene Personen aus seiner

') Ueber Palmer, den „Regicrnnga-Paliuer", und seinen Einfluß auf den Herzog handelt Reichard 1877 S. 483; 48«; 487—491. Er soll Jude gewesen sein, seine Frau eine Köchin aus Wien.

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Umgebung vertheilt; die alte Generalin von Zastrow ver- tauschte das, was sie empfangen, sogleich wieder gegen andere, ihr nützlichere Dinge um hundert Thaler. Erfuhr er dergleichen, so nahm er es bisweilen übel; ungehalten war er z. B., als der Gratulationsgesandte eines Hofes, dem er bei seinem Regierungsantritte eine Dose mit einem Brillanten im Werthe von 5000 Thalern gab, letzte- ren an einen Juwelier verkaufte. Als ein Günstling von ihm die Patentpistolen aus dem Nachlasse des Herzogs Ernst erhalten und zu Gelde gemacht hatte (ich gedachte oben dieser Pistolen als eines Gegenstandes, meiner stillen Wünsche) mußte der Käufer sie zurückgeben und sich ein paar andere in Suhl bestellen. Dann wiederum je nachdem er bei Laune war litt der Herzog, daß die von ihm an seine Günstlinge geschenkten Häuser, Mühlen, Landgüter u. s. w. von den Empfängern wieder verkauft werden durften. Ein heimgefallenes, ansehn- liches Lehen, Liebenstein, schenkte er noch ein Jahr vor seinem Tode einem Lieblinge, dem er es versprochen hatte; denn strenge Gewissenhaftigkeit im Halten einer einmal gegebenen Zusage war eine seiner Tugenden. Jener verkaufte Liebenstein schon einige Wochen darauf. Wenn es wahr ist, daß die Schuldeumasse des Herzogs bei dessen Tode 541 000 Thaler betrug, so ist ihre Größe nicht nur kein Wunder, sondern es erscheint bei dem vorhin von mir geschilderten Geschäftsgange eher wunderbar, daß sie nicht weit riesiger ist, denn wenn man mit den 18 Regierungsjahren in jene Summe hinein- dividirt, so fällt noch immer wenig genug aufs Jahr; es giebt Regenten seiner Zeit, gegen deren Schuldenhöhe die Verschuldung des Herzogs August als eine wahre Kleinigkeit gelten kann.- ')

Alles in allem war der Herzog von einer eigenen, höchst bezeichnenden, buntscheckigen Vielseitigkeit seines ~')" Roichard 1877 Seite 480—487.

Jahrbuch V. 41

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Wesens. „Er war besonders wenn er es sich vor- genommen hatte im Umgange der liebenswürdigste, aufheiterndste, geistreichste, glänzendste, hochsinnigste> dezenteste, würdevollste Sterbliche; allein er konnte in ganz demselben Grade auch das grelle G e gen t heil von dem allen sein."1) Seine Be- trachtungen über den Herzog August schließt Ileichard mit den Worten: „Und wenn auch kein Ernst II., so war Herzog August doch sieher nicht die groteske Carieatur, zu der man ihn, ohne auch nur das aller- geringste Gute an ihm zu lassen, hat machen wollen, und zwar leider vielfach gerade von solcher Seite, die dem Verewigten für manche Wohlthat dankbar verpflichtet gewesen wäre." *)

Eine solche Karikatur hat von den Schriftstellern, welche dem Herzoge persönlich begegnet waren, Friedrich Förster aus ihm zu machen versucht, indem er denselben bei Gelegenheit der Schilderung einer dem Herzoge zu Ehren veranstalteten Festlichkeit zu Altenburg folgender- maßen beschreibt: „Eine komischere Erscheinung wie diese Durchlaucht ist mir in meinem ganzen Leben nie wieder zu Gesicht gekommen. Er war damals wohl schon ein Mann von reifen Jahren, verwandte aber die Toilettenkünste des Boudoirs einer Pariser* Modistin darauf, für eiue weibliche Schönheit zu gelten. Es war von ihm bekannt, daß er einst, als Fanchon verkleidet, mit dem Leierspiel der Savoyardin die Leipziger Messe besucht und auf Classig's Kaft'eehause, in Auerbach'** Keller, in der „blauen Mütze" und anderen Kneipen gute Geschäfte gemacht hatte. Er trug eine blonde Locken- perrücke, schielte ganz verzweifelt, war roth und weiß ge- schminkt, unter einem rosaseidenen Gilet schimmerten Blonden am feinen Battistchemisett, dessen Brillantknöpfe

') Kek'barti 1*77 Seite 503. *) Derselbe 1877 Seite 505.

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absichtlich gelöst wareD, um die Wellenlinien des Schwanenhalses und des Busens sehen zu lassen; an den schön gepflegten Fingern seiner alabasterweißen Hände rosige Nägel, so lang, daß man hätte Kämme daraus schnitzen können. Insonderheit erschien Sc Durchlaucht

Herzog August von Gotha als Griechin

(nach einem Bilde der „Gartenlaube" 1857, Nummer 7, Seite 93)

am Frühstückstische in vollständiger Pameutoilette, mit einem Morgenhäubchen von den feinsten Brüsseler Kauten, Mantille, Spitzenkragen und dergleichen Aermeln, die jedoch sehr kurz waren, da er seine Oberarme für die schönsten Gliedmaßen seines Körpers hielt. Als eine der anwesenden Damen einen Blick nach den unteren

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Partien richtete, warnte er scherzend, da es Gefahr bringe, wenn man sich nicht an den, den höheren Regionen angehörenden Schönheiten Melusinens begnüge. Uebrigens mußte man dem Herzoge Witz und selbst einen Anflug von dem Humor Jean Pauls zugestehen, mit dem er eine Zeit lang in sehr freundschaftlichem Ver- kehr stand, den er aber mit einem allerhöchst unhöflichen Briefe abbrach. Einige seiner Witze, welche er bei Tische losließ, sind mir im Gedächtniß geblieben." ') In Förster'« Geschichtswerk ist der Herzog ihm „der Durchlauchte Kakerlak von Gotha.* 2)

Daß Schriftsteller, die den Herzog August nicht persönlich kannten, eine Karikatur aus seinem Bilde machten, ist weniger verwunderlich. So Perthes3), der nur erzählt, was er vom Hörensagen weiß, so Alexander v. Sternberg 4).

Bezüglich der Frauen, deren Umgang der Herzog suchte, bemerkt von Wüstemann: „Sein Sinn für das Innerlich-Schöne und Feinheit im Umgang zog» ihn zur Gesellschaft der Frauen hin, in denen er jedoch nur eben diese Eigenschaften suchte und ehrte: äußere Schönheit war dazu nicht nöthig, wohl aber Anspruchslosigkeit und Tugend.« 4)

Wie sehr aber der Herzog selbst sich als Weib fühlte und wie wenig hoch er seine Männlichkeit be-

») Friedrich Fürstor 1873 Seite 12—18. 5) Derselbe IV 1854 Seite 334. a) Friedrich Perthes III Seite IG— 17.

4) A. von Sternberg, Jena und Leipzig 1844 II Seite 8 5 und 8 11. Ich muß hier zu S. 489 meines Quellenmaterials im 4. Jahr- gang dieses Jahrbuchs berichtigen, daß v. Sternberg mit seinem weibischen Herzoge von Gotha nicht den Herzog Friedrich, sondern Aemil August im Sinn hatte.

6) v. Wlistemann 1823 S. 14. Seite 5 heißt es daselbst: „Kein Name eines Favoriten männüchen oder weiblichen Geschlechts ist seit mehreren Menschenaltern verflucht worden."

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wertete, hat er in einem Briefe an seine Freundin Fräulein Sidonie von Dieskau unter dem 19. November 1815 markaut zum Ausdruck gebracht, in dem er seinen Zustand also schildert: «Hell flackerten Selbstliebe und Selbstachtung in mir auf, und mich stärker und besser fühlend als vorhin fielen bald von meinem Ich die müh- sam mir angeklebten erbärmlichen Schlacken der mir an- gezwängten Männerey."1) . . .

Bringt man die von allen Augenzeugen bestätigte zum Weiblichen neigende Körperbildung des Herzogs August in Verbindung mit dem weibischen Zug in seinem Wesen und seinem von Reichard betonten „Umgang mit schönen Mannspersonen", so kann kaum ein Zweifel obwalten, daß der Herzog Urning war; wofür seine Zeitgenossen ihn hielten, sprach die Seidler aus, indem sie mitteilte, daß man Leibeserben von ihm nicht erwartet habe. Die Berechtigung dieser Annahme findet noch eine weitere Stütze in dem Um- stände, daß Aemil Leopold August im zweiten Jahre seiner Regierung eine Novelle verfaßte und drucken ließ, welche die Genuß suchende leidenschaftliche Liebe zweier schönen Jünglinge zu einander als eine Glückseligkeit und als eine Naturnotwendigkeit ohne sittliche Bedenken dem Leser vor Augen führt. In welcher Weise und in welchem Maße der Dichter des „Kvllenion" seine eigene urnische Natur auslebte oder unterdrückte und vor der Welt verbarg, erfahren wir nicht; mau wird aber kaum umhin können, eine bezeichnende Schilderung A. v. Sternberg's, falls sie Wahrheit ist, auf August des Glücklichen unbefriedigtes urnisches Empfinden zu be- ziehen: a August konnte auch sehr traurig sein, ja es gab besonders in seinem letzten Lebensjahre bei ihm

') Eichstädt 1823 Seito 50; 1849 Seite 80; G. bei Hennings 1832 Seite 22; Reichard 1877 Seite 495.

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Stunden, in denen eine wahrhaft dämonische, mit den schwärzesten Gebilden gefüllte Hypochondrie bei ihm die Oberhand gewann1). Alsdann war der französische Stutzer und Spötter gar nicht mehr wieder zu erkennen. Er trieb sich dann Nachts herum, durchirrte mit fliegendem Nachtgewande, eine Kerze in der Hand, die Säle seines Palastes und schien irgend etwas Geheimnißvolles zu suchen, das er nicht fand. Er stieß namenlos rührende und erschütternde Klagen aus, die in der Stille und Ein- samkeit der Nacht die Seele jedes lebenden Wesens, das sich in seiner Nähe befand, tief bewegten. Hatte er seinen nächtlichen Lauf vollendet, so warf er sich auf die Teppiche seines Schlafgemaches und wimmerte, indem er sich unter Schmerzen wand. In der Seele dieses Mannes mußte in diesen Augenblicken etwas vorgehen, was nicht Schein und nicht Lüge war. Diese Stunden söhnten mit seinen Bizarrerien und Lächerlichkeiten aus, denn un- willkürlich empfand der Beobachter der menschlichen Natur, tfaß ein Wesen, das so zu leiden im Stande war, die Tiefen und Geheimnisse der Sterblichen zu ahnen verstand und daß sein irregehender Geist nach einer Größe suchte, die er nicht zu erfassen und festzuhalten verstand. Seine Widersacher erfuhren von diesen Stunden nichts, sonst hätten sie ihn milder beurtheilt.*2)

Herzog Augusts Schriftstellern.

Jahre hindurch führte Herzog August mit wenigen auserwählten befreundeten Personen unter Beobachtung gewissenhaftester Hegelmäßigkeit einen Briefwechsel, blieb aber auch sonst schwerlich irgend Einem, der an ihn schrieb, die Antwort schuldig. Alle seine Briefe zeichnen sieh durch einen von ihm selbst geschaffenen

') Nach dem Tode Rodenbergs, verjrl. Seite 68S. '-*) A. v. Sternberg 1n"m Seite 91.

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Stil, uDgewöhnliche Ideen, zarte und geistreiche Wendungen aus; wie seine mündliche Unterhaltung zeigten auch seine Briefe eine unerschöpfliche Fülle der Wendungen und Ge- danken und verrieten überall seinen „opalisirenden" Geist; auch wenn, was selten vorkam, ihn alltägliche Begebenheiten darin beschäftigten, so geschah es immer in ungewöhnlicher Form1). Seine Briefe verdienten die Aufbewahrung.2)

Als Probe des Briefstils Aemil Augusts diene sein Brief an den siebenjährigen Knaben Eduard Manso; er ist die Antwort auf ein von dem Knaben an ihn gerichtetes und mit dem Geschenke eines Ringes be- gleitetes Glückwunschschreiben zum Geburtstage des Herzogs :

„Ja freylich, mein Eduard, war mir der gestrige Tag ein wichtiger, ein mild-herber Tag. Ja freylich war es

») Jacobs 1822 Seite 500; von Lupin 1826 Seite 72; Jacobs VI 1837 (1S23) Seite 456 403 ; G. bei Hennings 1*32 Seite 4; von Weber 1 1804 Seite 321; 323; Heek I 1808 Seite 148; Reiehard 1877 Seite 491-495.

2) v. Wüstemann 1823 Seite 20. Gedruckt sind von des Herzogs Briefen meines Wissens solche an die Frau von Stael (bei Eich- städt 1823 Seite 53—50; 1849, Seite 89-91; G. bei Hennings 1832 Seite 24 25); an die junge Gräfin Sidonjie von Dieskau 1815—1822 (Eichstädt 1823 Seite 48—53; 1819 Seite 79— 83: G. bei Hennings 1832 Seite 20-24; Reiehard 1877 Seite 495); an Papst Pius VII (Jacobs VII 1840 Seite 522—520; Louise Seidler 1874 Seite 93; Reichard 1877 Seite 400 und 495 nota 1); an die Malerin Therese Emilie Henriette aus dem Winckel, 1800 bis 1811 (von Metzseh -Schiibach 189:$); an Jean Paul Friedrich Richter (Richter 1805 Seite 10—21, 23—25, 20—27, 30—32, 35—30): an den kranken Dichter Ernst Wagner (Mosengeil II 1820 Seite 17 70; Seite 91; G. bei Hennings 18: fci Seite 4—20; von Weber I 1864 Seite 323): die Briefe an Jean Paul und Ernst Wagner sind nach v. Weber „Muster des Ausdrucks einer edlen, großen, oft fast Uberreichen, für Freundschaft tief empfänglichen Seele". Leider haben Jean Paul und Mosengeil es für nötig befunden, die Briefe des Herzogs zu kastrieren (Richter 1805 Seite 37: Mosengeil II 1826 Seite 17).

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mir gestern recht schön, recht wunderbar zu Muthe, mein lieblich liebes Kind ! Aber erst als ich Deine Worte gelesen, als Dein Ring, Dein schöner, lieber Ring meine Rechte schmückte, da verschwand alles Herbe, alles Trübe. Hättest Du ihn nicht selbst bringen können, mein zarter Liebling? Freylich, die Wege sind sehr böse; aber Du kömmst mir immer wie ein gewisser Junge vor, den ich nur aus den Bildern kenne und den Du hoffentlich recht spät wirst kennen lernen und von dem Dir Deine Emilie viel Gutes und Auguste viel Böses zu erzählen hat. Nim ms nicht übel: aber bey Dir fällt mir immer der Junge ein; und da bild* ich mir immer ein, Du hättest zu mir fliegen können; da wäre freylich der gestrige Tag noch weit, weit schöner gewesen. Weißt Du wohl, Eduard, Deine Schwestern, die immer in der Stadt sind und immer in der Stadt viel zu thun und zu schaffen haben, hätten mir Deinen schönen Ring bringen können. Doch nein, die kommen nicht zu mir; die haben mich lange vergessen. Emilie hat viel zu viel zu hoffen, Auguste hat viel zu viel zu wünschen, als daß die an mich denken könnten. Grüße sie, doch ohne mich zu nennen. Umarme sie und die lieben Eltern. Bleibe gut und mir gut. Emile."1)

Mit besonderer Vorliebe betrieb der Herzog in seinem einförmigen Lebeu poetische Arbeiten, welche sich wie seine Briefe durch Zartheit und großen Reichtum unge-

l) Eichstädt 1823 Seite 57; 1819 Seite 85— 86; G. bei Henning* 1832 Seite 25. Reichard 1877 Seite 494—495 findet in der Ver- öffentlichung dieser flir die Üeflentliehkeit ursprünglich nicht bestimmt gewesenen Ergieüungen und in der der Briefe des Herzogs an die Gräfin Sidonio von Dieskau (eine Probe aus diesen siehe vorher Seite 645) eine Taktlosigkeit und eine Beschimpfung seiner eigenen in Ciceronianisohem Latein verfaßten Schrift „Memoria Augusti" seitens des gelehrten Philologen Eichstädt Man kann darüber verschiedener Ansicht sein, wie dieses auch die unbeanstandete Aufnahme derselben Briefe durch G. bei Hennings 1832 beweist.

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wohnlicher Wendungen und Ideen auszeichnen.1) Er war nicht nur Schöpfer musikalischer Liederkompositioneu in denen Kenner seine Eigenartigkeit wieder finden wollen2), sondern auch Dichter und Verfasser einer An- zahl poetischer Prosa werke; von diesen wurde nur ein einziges, sicher und allein von ihm herrührendes, durch den Druck bekannt, nämlich die 1805 erschienene Novelle «Ein Jahr in Arkadien."8) Nach einigen Angaben4) hätte der Herzog noch eine Uebersetzung der „Lettres d'un Chartreux par Charles Pougens* (Briefe eines Kar- thäusers) verfaßt und in wenigen Exemplaren für seine vertrautesten Freunde drucken lassen; allein nach Eich- städt*) erscheint die Autorschaft des Herzogs ungewiß und nach Jacobs0) hat er zwar diese Uebersetzung begonnen, sie jedoch wieder aufgegeben und den Geheim-Sekretär Wüstemann, späteren Geheimen Rat von Wüstemann zu Altenburg mit der UebersetzuDg der „Lettres* betraut, sich dann die fertige Uebertragung vorlesen lassen, Einiges geändert, einiges Eigene hinzugefügt und das Werkchen so in Druck gegeben.7)

') Ueber den Herzog Aemil August als Schriftsteller haben sich mehr oder weniger ausfuhrlich verbreitet: Jacobs 1822 Seite 500 bis 504; von Lupin 1826 Seite 72—75; von WUstemann 1823 Seite 19; Galletti V 1824 Seite 41; G. bei Hennings 1882 Seite 28-41; Jacobs VI 1837 (1828) Seite 456-15«; 464-492; von Weber 1 1864 Seite 322—823 ; 373, 570; Beck I 1868 Seite 440—441; 1875 Seite 683; Louise Seidler 1874 Seite 91—92; Reichard 1877 Seite 494 bis 496; v. Bechtolsheim 1902 Seite 101—105; 112. a) Jacobs 1822 Seite 501. s) Jacobs 1822 Seite 500 und öfter; von WUstemann 1823 Seite 19. *) G. bei Hennings 1832 Seite 33—35 (woselbst die Briefe 2, 7 und 11 abgedruckt sind); Beck I 1868 Seite 441; 1875 Seite 683; Reichard 1877 Seite 496. ") Eichstädt 1823 Seite 32; Seite 70 nota 32; 1849 Soite 95 nota 30. «) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 471—473; 491—492 nota 8. Das Werkchen muß sehr selten sein; es führt den Titel: „Vierzehn Briefe eines Kar- thäusers. Geschrieben im Jahre 1755 zu Paris. Horausgegeben von Karl Pougens. Paris 1820." Darunter stehen die verschlungenen Initialen E und A. Es ist nur 45 Seiten stark. In kl. 8°.

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Den Herzog haben wenigstensdrei große poetische Prosawerke beschäftigt, welche nicht zum Drucke gelangten. Noch vor seinem Regierungsantritt nahm seine Aufmerk- samkeit der weitläufige Plan zu einem Märchen in An- spruch : das P o 1 y u e o n oder Panedone; nach seinem Regierungsantritt ein Werk, das ohne Titel blieb und ein Roman A em il ia (Emilia) oder Em i lianische B r i efe.1)

1. Polyneon (Viel-Neu) oder Panedone (All- Lust3) nach der Hauptfigur des Romans, einem auf eine entfernte Insel verbannten Götterwesen Panedonia, neben welcher als zweite Hauptperson ein lykaonischer Jäger Barys steht; in die Geschicke der aus ihrem Himmel Verwiesenen sind noch verflochten: ein blühender Jüngling Cvparissus, ein anmutiger Flötner und ein blasser König. Nach des Dichters Angaben stellte Grassi die vornehmsten „in diesem Labyrinth" sich bewegenden Per- sonen in sieben großen Bildern dar8); eins derselben zeigt uns Panedonia4), zum Himmel aufschauend, eine Leier in

*) Wenn ich Jacobs recht vorstanden habe, so muß aber der Herzog noch an einem vierten Werke gearbeitet haben; der Kaltsinn, meint Jacobs VI 1837 (1823) Seite 465, mit welchem „Ein Jahr in Arkadien" aufgenommen wurde, dürfte verursacht haben, daß der Herzog ein ähnliches Werk, das er um jene Zeit unternahm und von deui sich Anlange in seinem Nachlasse fanden, unvollendet ließ; leider wird weder ein Titel genannt, noch der Inhalt angedeutet. Vielleicht „Schwarz und weißa (v. Metzseh-Schilbat-'h 18i>3 Seite 7). *) Heichard nennt 1877 Seite 4'.>"> den Roman „Pane- donia4'1 und fügt bei: „(in Grassi s lebensgroßem, idealisirten Portrait : Bildniß des Herzogs in schwarzer spanischer Tracht. Es wird noch jetzt im .Schlosse zu Gotha gezeigt legt er die Hand darauf).44 :1) Nach Reichard 1877 Seite -10« [Fußnote) wären es im Ganzen nur G Bilder, welche in der Herzoglichen Gemäldegalerie zu Gotha in der Abteilung VI als Nummer 5, G, 7, 9, 10 und 11 autbewahrt werden; nach Louise Seidler 1 S7 1 Seite 7"» wurden die Bilder laut Katalog der Gemäldegalerie 1W9 gemalt.

l) Dieses Gemälde Grassi's veraulaßte Jacobs zu einem Sonett an den Maler (veröffentlicht bei Jacobs VI 1*37 Seite 477 478 nota 3) und als Grassi es dem Herzog gab, dichtete dieser mit Be-

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der Hand; diese sieben Bilder waren ursprünglich be- stimmt, ein Schlafzimmer zu schmücken, in dem der Herzog alle Herrlichkeiten eines Feenterapels vereinigen wollte; das Zimmer ist aber nicht gebaut, das Märchen nicht zu Ende geführt worden und so fehlt diesen schönen Gemälden der erläuternde Kommentar.1)

2. Nach dem Antritt seiner Regierung begann Aemil August ein neues poetisches Werk, dem er einen Titel nicht gegeben hat. Der Roman sollte ganz aus Briefen zweier Freundinnen hohen Ranges bestehen; die eine dieser Freundinneu war die geistreiche Baronin Cäcilie von Werthern, die andere der Herzog Aemil August im Charakter einer jungfräulicheu Witwe unter dem Namen einer Großherzogin Anna. Da die Baronin von Werthem bald das Interesse an dem Briefwechsel verlor, so führte der Herzog den Roman allein, teils in Form eines Tagebuchs, teils in Briefform, fort; manches in diesem Roman beruhte für den Eingeweihten auf persön- lichen Verhältnissen des Verfassers und der Roman

zug auf zwei andere Gestalten seines Märchens Panedone mit Bei- behaltung der Keime des Jacobs'sehen Sonetts als Fortsetzung noch zwei Sonette hinzu: ,.Der Sybarit" und „Der Lykaonier" (ver- öffentlicht bei Jacobs VI 1837 (1823) Seite 478 und* 179;.

') Jacobs VI 1X37 (18*23) Seite 466— 407. „Das Polyneon . . . ein grotfes episches Mährehen über die Liebe . . ., welches alles, was groüe Keuntnilie und grolle Kräfte von Frucht- und Blumen-Gewinden, Perlen- schnuren und Venus-GUrteln in einander flechten können, zu seinem Zauber-Kreis der Liebe rimdet. Doch das was schildert, kann nicht selber geschildert werden; der Kreis wird zuletzt ein Trauring der Ring ein Juwel der Juwel ein Lichtblick der Blick ein Geist. Der Tadel, womit man das Polyneon so gut belegen kann als mit Lob, ist blolt schwerer zu verdienen als zu vermeiden. Line geniale Phantasie ist, gleich dem Luftballon, leicht in die Höhe und in die Tiefe zu lenken: aber das wagrechte Richten wird bei beiden etwas schwer: indessen hielt man es bisher doch für das gröltere Wunder, sich in den Himmel zu erheben, als mich darin zu steuern." Jean Paul (Richter 1X05 Seite 15).

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wurde unabgeschlossen bei Seite gelegt, als diese Ver- hältnisse sich änderten.1)

3. Erailiani8che Briefe.5) In diesen Briefen und Tagebuch blättern erscheint der Herzog in doppelter Ge- stalt, als eine Jungfrau Emilie und als ein Fürst, an dessen Hof ein junger von Emilie heftig geliebter Jüng- ling Xaver lebt; beide Hauptpersonen, die der Idee nach nur eine sind, werden ganz verschieden, Emilie mit zärt- licher Vorliebe, der Fürst mit oft an Bitterkeit streifen- der Ironie behandelt. Dieses Werk, das den Herzog bis an seinen Tod beschäftigte, war ihm selbst von allen das liebste; „es ist geschlossen, aber nicht vollendet . . . Das Mangelnde zu ergänzen, wäre Niemand im Stande, sollte er auch vollkommen in die Gedanken des Herzogs eingeweiht sein ... In der Ausführung aber seine Manier nachzubilden, würde ein eitles Bemühen sein."3)

Friedrich Jacobs, „unter dessen Fingern der Armida- Garten entstanden ist"4), veröffentlichte sieben von ihm verfaßte und dem Herzoge gewidmete Gedichte, welche in Beziehung auf die Emilianischen Briefe „die Stelle eines convexen Spiegels vertreten können, der die Gegen- stände einer weiten Gegend in einem engen Räume ver- kleinert zeigt", und er faßt sein Urteil über die schrift- stellerischen Fähigkeiten des Herzogs also zusammen : „Das Einzelne ist reich, neu, glänzend, oft wunderbar und außerordentlich; aber das Ganze leidet an dem Mangel fortschreitender Bewegung, der sich aus der Art seiner Entstehung und Fortbildung, vielleicht auch überhaupt

») Jacobs VI 1837 (1823) Seite 407-468. «) Keichard 1877 Seite 495 nennt den Roman „Erailia" nnd sagt S. 496, der Herzog habe das bändereiche Werk besonders gern in engvertraaten Kreisen vorgelesen und viele Lebende hätten zu den darin auftreten- den Personen gesessen. s) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 468—470; 482—491 nota 5, 6, 7. *) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 484—491 nota 7.

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aus der Eigentümlichkeit des Verfassers erklärt. Für ihn war die Abfassung eines Romans nicht ein Geschäft, sondern eine Ergötzung, wobei er sich gern mit Bequem- lichkeit auf breiten Bahnen bewegte, ohne durch die vor- aus bestimmte Richtung eines festen Plans gebunden zu sein. Fast immer dictirte er. Wenn nun der dazu Be- rufene an den bestimmten Tagen zur bestimmten Stunde erschien, fuhr der Herzog an der Stelle fort, wo er in der vorhergehenden Sitzung abgebrochen hatte, und di- ctirte oft drei und vier Stunden nach einander, ohne Unterbrechung, die geistreichsten Dinge in der gewähl- testen Sprache und in gut geordneten, wohlklingenden und richtig gebildeten Sätzen. Nie verwirrte, nie ver- besserte er sich. Der erste Wurf hätte für den Druck genügt"1)

Ein zwar wenig umfangreiches Werk des Herzogs, das aber den großen Vorzug besitzt, abgeschlossen zu sein und gedruckt vorzuliegen, ist das Kyllenion. K YA A /LY !ONu (Kyllenion) ist nur der Untertitel der Novelle:

„Ein Jahr in Arkadien. 1805."

Diese 124 Seiten starke Novelle erschien zu Gotha bei Ettinger in Oktav und enthält ein Titelbild und eine Schlußvignette. Ziemlich die Hälfte der Novelle schildert die anfangs hoffnungslos erscheinende, später aber doch Entgegenkommen findende glühende Liebe des jugendlich schönen arkadischen Hirten Iulanthiskos zu dem männlich schönen reichen Arkadier Alexis und es kann daher das Werkchen als die erste deutsche urnische Novelle in Anspruch genommen werden. Sie verdankt ihre Ent- stehung den Lobpreisungen der Geßner'schen Idyllen, durch die eine sechszehujährige Französin, die Gräfin

•) Jacobs 1822 Seite 501—502; VI 1837 (1823) Seite 482 -48S nota 6.

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AdMe de Bueil, den Widerspruch des Herzogs so reizte, daß er sich anheischig machte, da die Gräfin vor- nehmlich den griechischen Geist der Geßuer'schen Idyllen hervorgehoben hatte, selbst Idyllen zu sehreiben, welche auf eine ganz andre Art durch und durch griechisch sein sollten; durch dieses Versprechen kann nach Jacobs manches im Kyllenion Getadelte erklärt werden. Die Novelle besteht aus 14 Kapiteln, deren 12 die Namen der atheniensischen Monate tragen; der Inhalt ist nach Jacobs „an persönliche, aber nur leise angedeutete Ver- hältnisse geknüpft.* Pas Manuskript ging vor dein Drucke durch Jacobs' Hände und kehrte „mit einigen un- bedeutenden Veränderungen und einem Sonett „Arkadien* an den Herzog zurück, der an demselben Tage in einem Sonett „Ruf" darauf mit den nämlichen Keimen er- widerte1). Gewidmet hat Herzog August seine Novelle der Tochter seines Verlegers, des Kommissionsrats Karl Wilhelm Ettinger, Karoline Ettinger, der späteren Frau Arnold in Bromberg, deren Mädchennamen das dem Werkeben Seite 3 vorgedruckte Akrostichon verrät2).

Die Zeit, in welcher die Novelle erschien, war ihrer Verbreitung nicht günstig; ihr Verfasser war nur wenigen bekannt; „die kritischen Tribunale sehwiegen; auch in leichtern Tagblättern geschah ihrer nicht oft Erwähuung";

') Abgedruckt bei Jacobs VI 1837 (1823) Seite 475—477.

e) Jakob« VI 1837 (1823) Seite 465 und S. 474—475 nota 1. Nach Kciehard 1877 Seite 496 war Karolino Ettinger, Keichard's Nichte, ein «damals in ihrer Blüthe stehende» sehr gebildetes Frauenzimmer, welches mit anmuthiger Jugendfrischo und ein paar schönen Augen Begabung und Liebenswürdigkeit vereinigte". Ihr ist auch noch ein anderes Werk gewidmet worden, nämlich „Die Einsamen im Chiusato. Eine i»ienientesische Novelle" mit demUntertitel „Das geraubte Landraadchen". Arnstadt und Rudolstadt, Langbein und Kläger. 2 Teile. 1802 (278 und 272 Seiten). „Seiner ver- ehrungswürdigen Freundin Karoline Etting er hochachtungsvoll gewidmet vom Verfasser". Der „Prolog des Autors" dieser

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die kleinen, der Novelle eingewebten Gedichte setzte der Herzog selbst in Musik1).

In der Nummer 115 vom 24. September 1805 der Zeitung für die elegante Welt" (Leipzig) erschien ein mit »Aug. Klingemann" unterzeichneter Bericht über die ohne den Namen ihres Verfassers erschienene Novelle folgenden Wortlauts:

„Zwölf arkadische Monate mit ihren Blumen und Früchten lieblich dahin gezaubert Die darin verflochtenen Idyllen sind größtenteils nur Staffage und von den Blumengewinden so überhüllt, daß oft die Gestalten nur zum Theil erscheinen und die ganze Handlung sich in einen Kuß auflöst. Uebrigens ist es eine romantische. Natur, die diesen Blumengarten in das Alterthum hinein versetzt, und antik ist eben an dem Werke nichts als der Theil, der das angehängte Lexikon nothwendig macht, bei dem man entweder bedauern muß, daß die Unwissenheit so vieler Leser es nothwendig machte, oder daß die Muse des Dichters nicht ohne einige Koketterie ihn begeisterte."

Diese Kritik gab dem Herzog Anlaß, sich in seiner ganzen Eigenartigkeit zu zeigen ; er lud den Redakteur der Zeitung, den Dichter Siegfried August Mahlmann, nach Gotha an seinen Hof. Mahlmann kam und wurde in einer Staatskarosse mit Hoffourier und Haiducken abgeholt. Der Herzog bewillkommnete ihn als eine der größten Kapazitäten, bat um seine Freundschaft und wünschte eine Vorlesung von ihm zu hören, zu welcher

Novelle 1 Seit«; 4 ist „Kajetan **♦*♦*" unterzeichnet. Man könnte auf Grund dieser Widmung, der liebevollen Schilderung der Natur und des einfachen Landlebens, de» Doppeltitels und der Anonymität des Verfassers im Herzog August den Schöpfer auch dieser Novelle vermuten und sogar in den sechs Sternen (V August) die Bestätigung dieser Vermutung erblicken ; da aber diese Novelle Urnisches nicht enthält, so kann die angeregte Frage hier unerörtert bleiben.

*) Jacobs VI 1837 (18Ü3) Seite 4G.r>— 46(3.

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der nächste Abend bestimmt wurde ; der Herzog erklärte, zu dieser Vorlesung sei der gesamte Hof bereits ein- geladen und er habe schon eine geeignete Schrift für den Vortrag gewählt. Da erfuhr die stolze Herzogin zu ihrem Entsetzen von der Oberhofmeisterin, daß Mahl- mann bürgerlicher Herkunft, nur ein Zeitungsredakteur und ohne Titel sei; unter solchen Umständen, erklärte sie, könne Mahlmann bei Hofe nicht erscheinen und der Herzog ordnete daher an, daß der Minister von Francken- berg in aller Eile ein Hofratsdiplora für den Vorleser ausfertige1). Zur Vorlesung aber hatte der Herzog sein Kyllenion bestimmt und Mahlmann kam in ziemliche . Verlegenheit, da er die spöttischen Neckereien des Herzogs ertragen mußte8).

Ein von Friedrich Jacobs8) unterschriebenes Urteil über das Kyllenion hat Eichstädt4) gefällt; er rühmt an ihm besonders die Lebendigkeit und Glut der Phantasie^ eine gewisse Kühnheit der Gestaltung, einen bewunderns- würdigen Reiz der Neuheit und durch Belesenheit erworbene Kenntnis griechischer Eigenart. Demgegenüber klingt es herb, wenn ein anderer Kritiker5) die Novelle bloß deshalb „völlig geschmacklos und unlesbar* fiudet, „weil jedes Ding, das im gewöhnlichen Leben vorkommt, hier mit einem griechischen Namen genannt wird*. Auch den urnischen „Liebeshandel", der den Kern der Novelle bildet, findet dieser Kritiker „vor lauter

') Der Verfasser der Lebensgeschicbte Siegfried August Mahlraann's, K. L., in „Mahlmann's sämintlicbe Werke" (8 Bändeben Leipzig, Volkmar 1839—40) teilt I 1839 Seite 20 nur mit: „Der Herzog von Sachsen-Gotha ehrte sein Verdienst durch Ertbeilung des Hofrathstitels."]

2) Beck I 1808 Seite 448—449.

») Jacobs VI 1837 (1823) Seite 475 nota 2.

l) Eichstädt 1823 Seite 30—32; 1849 Seite 62— 61 ;S. 91 nota 29.

*) A. v. Sternberg 1857 Seite 91.

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Ziererei und Schwulst bitter langweilig." Wolfgang Menzel tut die Novelle kurz als „vorzugsweise senti- mental" ab1). Ein lebender Schriftsteller bezeichnete mir die Arbeit als bei manchen Mängeln und Flüchtig- keiten schön und eigenartig; selbst in Neu Wortbildungen sei der herzogliche Dichter glücklich, so z. B. mit dem Neu wort Einton" für das eintönige Picken des Spechtes.

Das Nachfolgende ist der urnische Auszug aus dem „Kyllenion" (der Name wurde dem arkadischen Gebirge Kyllene entnommen). Ein passender Titel für diesen Auszug als solchen würde

„Julanthiskos 2) and Alexis oder

Verbotener Himmel"

sein, da es sich bei der Freundschaft zwischen den genannten schönen Jünglingen um leidenschaftliche Liebe oder, wie die allwissende Alethophone sich ausdrückt 3), um „Verbotenen Himmel* handelt.

') Wolfgang Menzel III 1859 Seite 74: „Die Natürlichkeits- periode; die Gräkomanie".

lieber das Kyllenion handeln besonders: Jacobs 1822 Seite 300: 1823 Seito 86; VI 1837 (1823) Seite 464— 467 : von WUstemann J823 Seite 18; Eichstädt 1828 Seite 30—32 ; 69; 1849 Seite 62—64; 91: Galletti V 1824 Seite 41; G. bei Hennings 1832 Seite 28—30: von Weber I 1864 Seite 322; 373; Beck 1 1808 Seite 440; 448 449; Louise Seidler 1874 Seite 92; Reichard 1877 Seite 496. Ferner: „Todesfälle" 1822.

2) Der grichische Name Julanthiskos bedeutet „männliche Blüte" und miiüte demnach mit I geschrieben werden, während er in der Novelle «tets mit J gedruckt steht.

*) St-ite 17 des Kyllenion, Seite 664 dieses Jahrbuchs.

Jahrbuch V. 42

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Szene aus dem „Kyllenion": Das Dankopfer vor der wundertätigen schlanken Hermes-Säule (zu Seite 680 dieses Jahrbuchs).

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Kannst Du den Flug mit mir, o Freundinn, wagen, Auf leichten Schwingen zu der Dichtung Aun? Rasch sollen Dich die Purpurschwäne tragen; Orangenduft soll süß herniederthaun. Leicht trenn' Aurorens Saum der goldne Wagen; Ihn wird der Hören Schaar bewundernd schaun. Nichts soll der Reise Götterlust Dir trüben; Eil unverzagt! Dir will ich Zauber üben!

Entfleuch des schwülen Tages bangen Sorgen, Trägt Dich der treuen Freundschaft Schwanenpaar! Tränk* Deinen Blick im Purpur schöner Morgen; Jasmin, Granaten flechte Dir ins Haar. Nimm! Dir will ich Euterpens Chelys borgen; Gestimmt und rein ist ihrer Saiten Paar. Ergreifen muß ich meiner Schwäne Zügel; Reich' mir die Hand! Wir sind auf meinem Hügel.

42*

0*50

Eros.

In des Orasis friedlich stillen Auen Erreicht mein Götterflug sein holdes Ziel. Bald werd' ich Wunder über Wunder schauen, Die ich geschaffen, mir zu leichtem Spiel.

Soll ich der Mutter trüben Winken trauen? Wozu der Zwang, der niemals mir gefiel? Soll ich nicht mehr auf meine Allmacht bauen? Für schwache Menschen wäre das zu viel!

Ich mag nicht lösen meine Zauberbinde; Ich kann nicht missen meine leichte Schwingen, Die Fackel nicht und auch die Waffen nicht;

Und wenn ich hier den Widersacher finde, Wie mag mir dann der schwere Kampf gelingen, Wenn mir's an Zauber und an Reiz gebricht?

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Die Verheißungen.

Nie hatte man bey einem Feste so kunstreiche Tänzer und Tänzerinnen gesehn ; doch der Koryphant ») Alexis mit seiner göttlichen Eburgestalt, in welcher männliches Ebenmaas und jungfräulicher Mildreiz mit erhabener Einfalt und ruhiger stolzer Kälte unbegreiflich schön zusammen schmolz, übertraf an Kunst- Geschmeidigkeit und zephyrinischer Leichtigkeit alles; auch den schönen braunlockigen, feueräugigen , lieblichen Julanthiskos schier. Schon längst hatte man beide Beherrscher der Herzen einstimmig als Anführer jeder Freude, jedes Spiels, jedes Tanzes in Arkadien erkohren. Sie beneideten sich aber nicht. Phoibos- Alexis war der Liebling der Männer und der Frauen; hingegen Hermes-Julanthiskos der Apfel des Neides für die Mädchen.

Julanthiskos saß mit mühsam verhaltenen Zähren und stützte das welke schmollende Haupt mit der glühenden Rechten; neben ihm die niedliche Freundin und Base Nikrion, mit den Fingerspitzen seiner Linken nachlässig in ihrem Schoose tändelnd. Aber, lieber Bruder, so fasse dich! Ist denn ein versagter Kuß, ein unterbrochenes Spiel, ein schnelles Schweigen bey deinem Nähern und ein fortgesetztes Gespräch mit den eleusinischen Jungfrauen, sind denn das alles, guter Julanthiskos, so grausame Beleidigungen? Ach! und giebt es keine unter uns, die dich zerstreuen kann? Liebe Base, holdblickende Nikrion, wählte mich nicht die gastfreundliche Wirthinn, die Spiele zu ordnen, und sollte nicht bey dem Tone meiner Stimme, bey dem Winken meiner Blicke das schwer zu fesselnde Vergnügen und die leicht zu verscheuchende Freude ihren Rosenthron zwischen uns auf- stellen; ist es nicht so? Und der Stolze da .... und Julanthiskos wies auf Alexis, der, sorglos zwischen Mitylenis und Eunome auf das Ruhebett hingegossen, freundlich ihm gegenüber mit der holden Wirthinn und ihrer Freundinn plauderte. Dabey wurde seine Stimme kindlich schmollend, und er warf trutzig die zarten Rosenlippen schwellend auf, das lockige Maiaporhaupt*) mürrisch schüttelnd. Nein; der Böse da, dem ich freylich nicht den Rang in Liebreiz und königlicher Hoheit und städtischer Bildung und mystischer Weisheit streitig machen kann, könnte doch fühlen, wenn man ihn liebt. Und könntest du dich, unterbrach ihn ungeduldig seine Freundinn, ihm mit leiser Drohung einen kleinen Schlag auf die Wangen gebend, und mit ihrem schalkhaften Auge die doppelte Röthe der Schaam auf seine Wangen verbreitend; ach! könntest du doch die Männer

') Anführer de» Tanzes. -) Sohn der Maja, Hermes.

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kennen lernen, die am liebsten, wie die Parther, fliehend ver- wunden, — und dabey stand sie auf, um sich unter die Schaar der Mädchen zu mischen, die mit neidischen Blicken die ver- traulich Plaudernden bewacht hatten. Auch Julanthiskos erhob sich langsam, ordnete das leichte Gewand in zierliche Falten, und reichte seiner Freundinn die Hand zum Tanze; denn eben spielte das Chor eine leichte, wirbelnde Weise, und im schnellen Strome der raschen Freude wollte er seine Laune verrauschen.

Aber Alexis plauderte noch mit den vier reizenden Jung- frauen. Ja, das das wollen wir; und dabey funkelten doppelt schön in dem Glanz einer heiligen, göttlichen Freude seine langgewimperten Onyx-Augen, und der gewöhnliche Stolz milderte sich zum Ausdruck der fröhlichsten Schwärmerey. Auch Eunome und ihre Tochter Agathyllis haben viel durch des Orasis Verheerungen gelitten; und er legte drey kleine Goldmünzen in den verschleyerten Kalathiskos, den Alcine, die Barmherzige, unter ihren Gästen sammelnd herumgetragen hatte. Auch die Überreste der Speisen, sagte sie, bekommen meine armen Arkadischen Landsleute. Alexis flüsterte, das Gähnen mit dem Saum seiner Chlamys1) bergend: Beim Anteros! Julanthiskos ist schön! der Myris ins Ohr. Ihr schwört bey dem rechten Eide, flüsterte schalkhaft seine Nachbarinn Mitylenis, denn du bist jetzt sein Priester; und sein Opfer? entgegnete, sich unwissend stellend, der verführerischte der Männer. Sprechet leise, lispelte die schlaue erröthende Eunome ihrem Nachbar ins Ohr raunend: den du lobest und doch so streng mishandelst! Misbilligend und kalt lächelnd hüpfte Alexis von dem aufschwellenden Polster, mit leichter Verbeugung die vier Jungfrauen grüßend. Eben schwiegen die Töne und die ermüdeten Paare warfen sich hastig athmend auf den bunten Teppich der niedern Periklima*). Er ergriff den verlegenen Julanthiskos bey der weigernden Hand und schwebte schnell mit ihm den weiten Raum des Tanzsaals auf und nieder. Man kann nicht immer tanzen, nicht immer plaudern, nicht immer spielen. Die Lampe will Oel und die Freude Abwechselung, sagte er, nach einem langen Schweigen, und Julanthiskos nach einem langen Seufzer „die Liebe Gegenliebe." Was! Du minnest so? armer Knabe, unterbrach ihn achselzuckend der Undankbare, und maß ihn mit zweifelnden Blicken. Eine Taube wird es wohl seyn, Kleiner? Nein, ein Pfau! und die Jünglinge trennten sich flugs mit Groll im Herzen. Julanthiskos hat recht gesprochen. Liebe stirbt ohne Gegenliebe. Aber Alexis sagte auch die

») ein kurzer Mantel.

-) ein Sofa, das an der Wand hinlaufend das Zimmer einfaßt.

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Wahrheit: Man kann nicht immer tanzen, und immer plaudern, und immer spielen; denn die Langeweile fing schon an ihre Giftnebel über die ermüdeten Gäste auszugähnen, zumal da die entzweyten Könige des Festes, jeder verstimmt in seiner Ecke schmollte. Alles seufzte, sich die Augen reibend, acht wo bleibst du, holde Veränderung? Aber sie blieb nicht aus. Plötzlich öffneten sich die cedernen Pforten des Saals. Das Katapetasma'V mit Fimbrien*) und Scharlach-Säumen geziert, rauschte auf, und athemlos kam hereingestürzt eine der Dienerinnen Alcinens, freudig rufend: Heute ist unserm Hause Heil widerfahren, und das bey so später Nachtzeit! Die göttliche Alethophone verlangt ein festliches Kleid und einen Becher Wein. Nachdem sie sich gewärmt, ihre Lyra gestimmt, die Haare gesalbet und mit Raute gekrönt, entbietet sie ihren Gruß durch mich der edlen Wirthinn, und wünscht ihr und den Gästen auf verlangte Weise die Zukunft zu enthüllen. Sie sey mir willkommen! rief, der Räthselhaften entgegeneilend, Alcine. Alles schlug mit freudiger Ungeduld in die Hände, alles drängte sich jauchzend und neubegierig nach der Pforte; und Alexis, Mitylenis und Eunome raunten sich verstohlen zu: Eleusis! Plötzlich theilten sich die gedrängten Haufen. Freymüthig und edel trat die hehre Demeterissa in den hell erleuchteten Saal und grüßte alle mit den Worten:

ATAnAN KAI QlsiSWAN <DI4()i2.*)

Wie eine längst Bekannte grüßte sie alles, Jung und Alt, Weib und Mann, Jungfrau und Jüngling, Mädchen und Knabe, freundlich nahend, aber jedes Herz mit Ehrfurcht und traulicher Rührung füllend. Man wagte nicht zu fragen, man unterstand sich nicht zu bitten, und alles schwieg zagend und hoffend; nur die, welche Eleusis geflüstert hatten, verbargen ihre heftige Freude unter dem vielsagenden Lächeln der milden Geheimniß ahndenden Zuvorkommniß. Aber Alethophone errieth aller Wunsch, und setzte sich, ihre Lyra stimmend, auf den vergoldeten Hippogriphen-Sessel der freundlichen Wirthinn. Ich kam, sagte die Vielwissende, zu trösten, zu warnen; und dabey drückte sie lieblich mit ihrer Wange Alcinens Fingerspitzen, welche die hinter ihr stehende ihr auf die runde Eburschulter gelegt hatte, und ihr schöner Mund umgrübte sich wie zum Kusse. Nun verlangte sie von jedem die Reihe herum seine Lieblingsweise zu hören, und sagte jedem in dem bekannten Rhythmus eine Lehre, oder eine Weissagung. Jeder fühlte die Wahrheit; jede Wange färbte

') der die Thiiren bedeckende Vorhang. *) Fransen.

s) Eine freundschaftliche, glückverheißende Begriiüungsformel.

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sich vor Hoffnung oder Scham; aber alle schrieben sich tief ins Herz, was sie gesungen, denn selbst der Tadel der Holden war schonend und schmeichelnd. Zu julanthiskos wandte sie sich, die Allwissende, ihm einen Kuß auf die bescheidenen Wimpern drückend:

Lieblicher, wohin, wohin? Über Gluthen, über Sehnen, Über Küsse, über Reize Treibet dich dein kühner Sinn, Nach verbotnem Himmel hin. Julanthiskos verbarg sich erröthend, und ein Strahl der Hoffnung erheiterte sein trübes Gemüth; denn als sie ihn küßte, sagte sie ihm leise: Treue siegt. Aber als er sich unter die Menge der jungen Arkadierinnen zurückzog, warf ihm der stolze Alexis einen spöttischen Blick zu, der diesem aber einen strengen von der alles bemerkenden Sängerinn zuzog.

Treue siegt; Treu' erringt den schönsten Preis. Laß dich nicht erschrecken Durch des Stolzen Kälte; Strahlen folgen Strahlen Bis die Wolken schwinden. Und die Herzen der trauernden Ungeliebten füllten sich mit Hoffnung, und ihre bleichen Wangen glänzten im Rosenlicht der Ahndung; aber Julanthiskos mußte seitwärts treten, um seine Zähren zu verbergen, und Alexis sein schadenfrohes Lächeln; aber Cypariß und Minoe drückten sich freudig die Hände, sicher vor Älternzwang durch Alethophone's schützende Gegenwart. Noch manches sang die Demeterissa1), was nur einige verstanden ; dann hüllte sie sich in ihre tausendfaltigen Schleyer, und nach- dem sie jedes gegrüßt, und im Weggehen der Wirthinn lieb- kosend den schönen Arm gereicht hatte, und als Jung und Alt sie lobend und dankend und preisend, bis an die Cedernpforte des Saales geleitete, wandte sie sich noch einmal um, und ent- hüllte noch einmal ihr hehres Angesicht. Dreyfacher Huldreiz verbreitete sich über Alethophone's göttliche Züge, und indem sie die glückdeutende Linke Jutanthisken und die strafende Rechte Alexis reichte, sprach sie weissagend also:

Wenn des Stiers und des Adlers Geblüt dich, König

der Berge,

Netzt, und zierliches Gold des Gottes Wangen umglänzet, Welcher die Fluren beglückt, die Wiege sich findender

Geister:

Dann, o Eros, umarmt dich Anteros, ewig versöhnet. *) l'riesterin der Demeter oder Ceres.

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Und als die Kraft des heiligen Ausspruchs zwey sich grol- lende Herzen erweicht hatte, verhüllte sie sich wieder, von neuem ihrer Wirthinn Arm umschlingend. Plötzlich verstummte das Chor, es erloschen die Lampen, und jeder schlich ermattet und betäubt zur Lagerstätte; aber nicht um zu schlafen, nein, um nur von Alethophonen wachend zu träumen. Was Julanthiskos geträumt, ließen seine Korallenlippen und seine blassen Wangen ahnden; auch Minoens und Cyparissens hoffendes Nähern bey Pans Bomos ') schien ihrer Träume Folge zu seyn. Was aber manchem andern erschienen, wissen nur Alethophone und die alles ergründenden Götter; denn nicht alle waren zum Opfer geblieben.

Die Jagd.

Zephyros heulte durch die entblätterten Wälder, und schwarze tiefe Wolken wälzten sich über die kalten, öden, über- schwemmten Auen. Hier und da fielen einzelne schwache Sonnen- strahlen durch schräge Regengüsse und wirbelnde Schnee- gestöber. Dort umkreisten Flüge von magern Raben hungrig- krächzend den fetten dampfenden Rauch der sorgfältig über- moosten Wohnungen, und nur schwach blöckten die eng zusammen gedrängten Schaafe, die trockene Fütterung wiederkäuend; und schwächer möckerten die gesonderten Ziegen, behaglich das ihnen dargebotene Salz leckend ; und um Stall und Hütte schlichen in frühem Dämmern des langen Abends ausgehungerte Wölfe, mit ekelhafter Gier den Auswurf der Hütten erharrend, und hämisch heulend und zähnknirschend um die häßliche Kost streitend. Von innen lagen die Hunde mit steifen Ohren, längs den Schwellen das stumme kampfgierige Haupt platt auf die Erde gelegt. Zornig funkelten die treuen Augen, und langsam und rund bewegte sich der langhaarige Schweif. Bey dem hell- lodernden Feuer saß julanthiskos stumm und sehnend, das krause Haupt in eine phrygische Mütze gehüllt, und die betenden Blicke wehmütig und fromm auf das schwarz berauchte Hermesbild geheftet, bedacht' er das Lied der weissagenden Thrazierinn. Sein Bruder Barys, der rohe Hipparchos2) aus Larissa, der ihn besucht hatte, um mit ihm die Wölfe zu bejagen, saß, die halb- garen Rüben mit seinem breiten geraden Xiphos3) in der Asche

') Altar.

2) Anführer der Reiterei. ") Degen.

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wendend. An der Wand hingen sein Schild, seine Speere und sein Helm, neben den Waffen, dem Hirtenstab und der Röte seines reizenden Wirthes. In einer Ecke glänzten an hohen, dünnen Lampadophoren1) die doppeltdochtigen Lampen, und verbreiteten ihr ungewisses Licht über die glatt getäfelte Zelle, und in der andern Ecke saßen auf der niedern Bank der alte treue Myrion und der muntre Phryx, der eine Kalathisken, der andere Diktyen *) flechtend. Barys hatte genug von Schlachten und Gelagen, Spielen und Festen, Orgien und Lampsakalien3) gelogen, worauf Julanthiskos, der minnezerstreute, nicht hörte, als er, das schwarze, dick- und nahgebraunte Auge nach dem Innern der Zelle wendend, mit rauher gebieterischer Stimme rief: Sklaven, flugs! des besten Weins einen Becher; einen weiten, tiefen Becher, denn das Reden und der Rauch haben mir, beym Priap! die Gurgel ganz zugeschnürt; und du Julanthiskos bist so zerstreut und so wunderlich, wie eine Braut beym Gesänge der Paranymphen.') Kannst Du noch immer nicht den stolzen Alexis vergessen, und seine Sprödigkeit? Ein Seufzer war die traurige Antwort des Hoffnungslosen. Beim Pan! so biete ihm einen Becher, oder einen schön geschnittenen Krug. Ach ! was ich ihm biete, verschmäht ja der Böse. Ey, so vergiß ihn, bei dem freudebringenden Gott! Barys wollte noch etwas härteres sagen, als der dienende Knabe mit den tiefen, blinken- den Kratern herein trat, und sie ihm lächelnd darbot. Der durstige Krieger trank hastig, und reichte Phryx das leere Gefäß wieder zurück, ihm so dankbar die Wangen streichelnd, daß der Knabe darüber erröthete. Dann sprach er mit ungewischten Lippen, daß er dem Sklaven mit dem getrunkenen Naß die Stirne besprützte: Sing' mir ein Lied, Bube, aber ein kurzes; denn es scheint, als wittere der Hund einen Wolf in der Nähe. Phryx spähte Erlaubniß in den Augen seines Herrn, und als Julanthiskos traurig ein gefälliges, brüderliches Ja nickte, begann Phryx die muntere Weise:

Wer sich wund gekämpft, der trinke; Wer sich matt gejagt, der trinke; Wer sich müd' geküßt, der trinke; Wer sich arm gespielt, der trinke; Wer sich stumm gegrämt, der trinke!

») Gestell zur Befestigung der Leuchter.

*■) Netze.

s) Geheime und ausschweifende Feste des Bacchus und des Gottes der Gärten.

*) Brautfuhrerinnen.

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Und dabey reichte er einen kleinern Becher seinem durch Zähren lächelnden Herrn. Auf einmal unterbrach Melag und Okypos lauteres Bellen Gesang und Gespräch. Hastig raffte der jagdliebende Barys seines Bruders Waffen von der Wand, und ungeduldig schnaubend durch die Kammern, die Flur und die Vorhalle rennend, kam er an die verriegelte Hausthür, wo die ungeduldig kratzenden Hunde ihr Gebell hören ließen. Mit einem: Beym Priap! dem muß ich den Hals brechen! riß er die Thür auf und stürzte mit den wüthigen Bestien in den beschneieten Hof hinaus, schwang sich über die blätterlosen, bereiften Hecken hinweg, sah in der Ferne noch die fliehenden Unthiere, wollte immer den Feinden nach, und fiel o weh! über eine im Schnee versteckte Pinienwurzel. Übelgelaunt und mit blutiger Nase hinkte er wieder in die warme Hütte zurück. Dem habe ich, beym lampsakalischen Kolosse, einen Stich beygebracht, an den er lange denken wird, sagte er, die ungebrauchten Waffen an die Wand hängend. Hat Dich der Wolf gebissen? fragte spöttisch Julanthiskos, als er sah, dass sich Barys das Blut mit der Chlamys abwischte. Mismuthig setzte sich der Thessalische Held, und zog seine Mächära1), nicht um den erlegten Wolf zu zerstücken, nein, um die angespießten Rüben aus der Asche zu holen. Aber ach! sie waren verbrannt. Hoch lachte Julanthiskos; mürrisch sprang darob Barys auf, um in Morpheus Armen zwischen den weichen Bärenhäuten des nächtlichen Lagers von Beute, Wollust, Gewinnst und Rausch zu träumen; und Phryx, der schadenfroh von ferne die unglückliche Jagd belächelt hatte, sang ganz leise, als er Barys den Schlaftrunk und das rauchende Melikrama 2) reichte:

Wer sich blutig fiel, der trinke.

Der Traum.

Blaue Sommernebel überzogen von der Morgengluth niedergedrückt die tiefen Kühlen der Waldthäler, die in dem Schatten der hohen Gebirge lagen, welche ihre runden Arme um die bethaueten Wiesen lagerten. Blöckend weideten in den feuchten Tiefen Nikrions dürstende Heerden; aber ihre bräun- lichen Ziegen hüpften in wilden Schaaren die schroffen Felsen am See auf und nieder, das Kaperngesträuch und die wilden Weinranken benagend. Lykanor, der treueste Diener der

') Schwert.

*) Ein aus Wein und Honig gemischtes Getränk.

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schönen Hirtinn, lag im Schilfe und neben ihm sein Hund. Lykanor saß stumm, den braunen Finger auf die Lippen geheftet, in der andern Hand die eben geschälten Rohrstängel haltend, die er zur Flöte für seine Gebieterinn bestimmt hatte, deren streng wiederholtes Pst! seinen frohen Liedern ein schnelles Ende gesetzt hatte; denn Nikrion saß träumend im Schatten der Haselbüsche am murmelnden Bach, und stützte das matte Köpfchen, die großen Feueraugen halb schließend halb öffnend, auf ihre Rechte, mit der Linken den krummen Hirtenstab nachlässig haltend. Zu ihren Füßen im hohen Farrenkraut lag ihr mit rosenrothem Rittersporn und feuerfarbigem Mohn gefülltes Hüt- chen und auf der andern Seite stand ihr zierliches Galakterion '). Die reizende Schwärmerinn hätte noch länger geträumt in dem dunkeln Schatten der Haselbüsche, ihr lykaonischer Diener noch länger stumm und müssig gelegen im hohen flüsternden Schilfe des Sees, wären nicht die Freundinnen Mitylenis und Eunome mit ihren Heerden durch die nämlichen Fluren daher gezogen, und hätten nicht die Weitsehenden ihre Vielgeliebte in der Tiefe der düstern Gesträuche erspäht. Wachst du, oder träumst du, kleiner Liebling unsrer Gemüther, frug auf einmal das plötzlich sich nahende Schwesternpaar? Du reibst dir noch die schwarz- beschirmten Wimpern; schnelle Röthe bedeckt deine Stirn, und du seufzest gar verlegen, zierliche Nikrion. Neckend ergriff sie Eunome bey dem lieblich gegrubten Kinn und Mitylenis bey den rosigen Fingerspitzen und flüsterte ihr ein bedenkliches, Bist du verliebt? oder was fehlt dir? ins kleine Ohr. Also antwortend erhob sich die Schönste aus Arkadien, freudig die weit ge- öffneten Augen gen Himmel kehrend, und dabey entschlüpfte ihren Korallenlippen ein hoffender Seufzer:

Langersehnte Götterbotinnen seyd ihr mir, ihr holden Ge- fährtinnen. Ja, du traumdeutende Mitylenis, du räthsellösende Eunome. Laßt euch umarmen, ihr theuern, holden Schwestern, denn ihr kommt mir in einer herrlichen Stunde. Dank euch, Erebos und Morpheus; und dabei ergriff die Fromme das hoch- gefüllte Galakterion, und besprengte siebenmal den Boden und streute feuerfarbigen Mohn und Ajax rosige Blumen zu den Füßen der Deutung bringenden Schwestern; dann winkte sie dem schwarzen Hirten, sich zu entfernen. Du träumtest also, liebes Mädchen, fragte freundlich nach kurzem Nachdenken die edle Mitylenis; und das nach der hohen Mitte der Nacht, als schon Phosphoros, der Liebe-weckende, dem argolischen Meere entstiegen war? Sage, wenn opfertest du zum letztenmal Hygiäen und den Nymphen? Vor vier Tagen, erwiederte Nikrion,

,: Milchgefäü.

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sittsam erröthend. Was aßest du, ehe du einschliefest? Einige Feigen und etwas Melimala '). Nun erzähle und laß die Grillen weichen, denn die Allmächtigen meynen es gut mit dir, da sie uns so früh zu dir senden. Wir kamen, setzte die jüngere Eunome hinzu, dich zu bitten, uns das neue Lied zu lehren, welches jüngst der reiche Alexis aus Megalopolis euch bey Myris Feste sang, und welches du auf deiner Flöte so zierlich begleitetest. Gern, holde Freundinnen, will ich mich damit lösen. Setzt euch ; hier ist es kühl, weich und trocken. Ge- fällig griff sie in ihren Kalathiskos, um die beschriebenen Rinden zu suchen, worauf sie Alexis Lied gegraben, ihre Ungeduld und ihre Wißbegierde unterdrückend. Nein, bey den Nymphen, sagte noch Eunome, sich liebend an sie schmiegend: erst erzähle deinen Traum, denn darum sind wir doch hier; dann ist es noch immer Zeit, uns dein Lied zu lehren. Auch kommen wir eben von jenen Hügeln, wo wir Julanthiskos weinend fanden; auch ihm brachten wir Frieden. Und mit welcher Botschaft, fragte lächelnd Nikrion, oder welchem weissagenden Spruch? Ei, beym Pan! rief schalkhaft Eunome, was geht dich der schöne Jüngling an? Was er mich angeht? Alexis Lied, Julanthiskos Thränen, Myris Feste .... Erlaube, daß ich einmal errathen darf. Vermuthlich frug er euch, ob man ihn immer mishandeln würde, und ob stets minnearm und schmerzenreich seine Tage über ihn wegschleichen würden? Errathen! kleine Pythia, riefen lachend die Freundinnen. Ja, der trostlose Jüng- ling wollte wissen, ob stets der spröde Alexis ihn verhöhnen würde, wie jüngst an Myris Fest. Wir sagten: Wenn Alexis bespritzt von dem feindlichen Blute liegt, hingestreckt an des Kyllene gähnendem Abgrund, findest du, lieblicher Jüngling, nach dreyßig Tagen und Nächten Minne in Klüften und Minne am heiligen Male; doch mußt du opfern das herrlich glänzende Strephon*) dem schützenden Sohne der Maja. Doch auch du träumtest von Julanthiskos? Damit endigten die allwissenden Jungfrauen ihre vielbedeutende Rede. Warum soll ich läugnen, sagte Nikrion, und schlug beherzter die Augen auf. Ja, eine Art von Julanthiskos war's, der mich führte; aber große Riesen- schwingen bogen sich noch über den Scheitel und die mächtigen Pinnen3) berührten die Erde. Eburn und blendend die unver- gleichliche GöttergestaJt, phönix4) die serischen ') Haarschleifen auf der ehrfurchtgebietenden Stirn. Majestätisch und voller Siegreiz schwebte er daher, tadellos und gewandlos. Wo er sich hinwandte glänzte Morgenroth; und Hyacinthendüfte um-

') Honieräpfel. *) Halsband. ') Schwingen. l) dunkel purpurrot. '•) seidenen.

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flössen ihn überall, gemischt mit des Euphons süßem Getön. Mit der Flöte, die er hielt, berührte er mir die Augen, und vor mir lag eine Rose, größer wie dieses Thal und schillernd und funkelnd in tausend Farben, und aus der Rose sprudelte ein ambrosischer Lichtstrom, warm und höher als der Olymp und der Sitz der Unsterblichen. Rechts, sagte er mir, unter diesem Rosenblatte ist Hyacinthos Grab; links, der Dioskuren Wiege; hier Orions Lager, und zu deinen Füßen Narcissens Quelle. Plötzlich entflog aus jedem Lichttropfen der Quelle eine bunte phantastische Ephemere, aber jede trug ein schönes Kinderhaupt, und küsste den nackten geflügelten Gott im Vorbeyfliegen, so dass zuletzt keine Stelle seiner herrlichen Gestalt ungeküßt blieb. Ich erkannte unter der Menge Julanthiskos Züge, menschlicher und arkadischer, aber doch meinem himmlischen Führer ähnlich. Die Julanthiskische Grille verschmolz sich mit ihr. Ihre Locken wurden brauner und ihre Färbung menschlicher; ihre Schwingen und die Rose verschwanden. Beschämt und getäuscht zog ich die Hand zurück. Eros wollte ich folgen, aber nicht einem arkadischen Flöter. Und mit einem Schrey des Zorns erwachte ich, und noch immer schwebt die entgötterte Liebe um mich her, und erfüllt mein Herz mit Scham und Groll. Nähre dieses Gefühl, riefen begeistert die weissagenden Jungfrauen; nimm diesen Ring. Hier erblicke den Käfer und drunter gegraben die Schlange und den Hahn und das Wiesel. In Eleusis wirst du finden, wonach du so lange schon schmachtest. Weiter wollten sie reden; aber Julanthiskos kam mit seiner Heerde, und die Schwestern flüsterten schalkhaft der schönen Träumerinn ins Ohr: „Nimm dich in Acht; da kommt der entgötterte Eros.« Aber Unwillen und Zorn entschwanden schnell aus Nikrions trefflichem Herzen, denn Thränen des Unmuths bedeckten des Jünglings glühende Wangen. „Lieber Nachbar", rief sie, ihm mit sanfter Holdseligkeit die Flöte reichend, „Mitylenis und Eunome wünschen,* daß ich das Lied singe, das ich jüngst bei Myris bließ. Bitte, komm!" und er kam und begleitete sanft und schön Nikrions Silberstimme, daß die Vögel des Waldes schwiegen und die Hirten und Hirtinnen der Nähe herzueilten:

Kennst du das Thal, der Vorzeit Zauberspiegel, Wo ewig Unschulds-Lilien blüh'n? Es ist des Traumes Geisterland.

Kennst du das Thal es glänzt in Phöbos Strahlen Wo üppig Cypris Rosen glüh'n? Es ist des Traumes Geisterland.

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Kennst du das Thal, umstrahlt vom Zukunftsterne, Wo singend jede Welle rollt? Es ist des Traumes Räthselland.

*

Julanthiskos Thränen rollten in der Flöte sanft hüpfendem Tacte, und er dachte an der Schwestern tröstende Weissagung. Auch die singende Hirtinn dachte an Eleusis und der heiligen Alethophone Umarmung, und ihre Blicke verließen nicht den räthselhaften Ring, den sie eben von den Freundinnen erhalten. Lange standen Julanthiskos und Nikrion in Gedanken verlohren, und hatten nicht gemerkt, daß die Jungfrauen der Wahrheit durch das Gebüsche verschwunden waren. Ich werde doch endlich glücklich lieben, seufzte der hoffende Jüngling! In Eleusis werde ich Frieden und Vollkommenheit finden! flüsterte Nikrion, ihren Ring küssend; und sie trieben ihre Heerden weiter in den Wald hinein, denn die Sonne glühte am hohen Mittage.

Die Früherndte.

Bei Pans [von fünf riesenmäßigen Feigenbäumen malerisch umstrickten und vom brausenden, sich nördlich in den heiligen Nymphensee am Fuße des entfernten Kyllene ergießenden Orasis bespülten] Altare saßen die Schwestern Myris und Alcine im Schatten mächtiger Buchen, um welche sich rothbeeriges Geisblatt und zierlich gefächerte Waldreben, Kränze windend, hinauf klammerten, und schieden die rothwangigen Gaben des Herbstes in hohen Kalathisken1) und auf breiten Diskoiden*) und in tiefe kleinere Kraterinen3), alle zierlich und eng und haltbar aus Weiden, Rohr oder Binsen geflochten. Neben ihnen saßen die treuen Mägde, lasen und halfen, säuberten und wählten. Larig war die Arbeit, denn überschwenglich waren dieses Jahr Pans frühe Wohlthaten. Zu ihnen gesellte sich die muntere Phylis und Teukrion, ihr älterer Bruder. Auch die Muhme Lesbia mit ihrem Bräutigam, dem Megalopolischen Barys, und Barys der Jäger, des reizenden Julanthiskos älterer Bruder, und Kleanth mit Leucinoe, Melissa und Psyche, alle Freunde, oder nahe mit Myris und Alcine verwandt. Singend, plaudernd und lachend vergingen die geschäftigen Stunden. . . . Die Sonne schien heiß und feurig durch die welkenden Blätter, und die jauchzenden, naschenden und küssenden Freunde setzten sich eng und ver-

») Körbchen. ■) Schüsseln. ") Schalen.

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traulich in die kühlen Schatten der Stämme zusammen. Die Mädchen hatten gesungen, und die Jünglinge jeder sein Mährchen erzählt. Jetzt kam die Reihe an Barys und seinen Bruder Julanthiskos. Barys ergriff die gelbe Flöte, nachdem er sich die mit dem Blute der Kirschen gefärbten Lippen abgewischt. Julanthiskos stimmte die hohle, braungefleckte Zistra in den weichen Lydischen Modus. Eben will er das Lied der Schwalben beginnen, als sie alle fröhlich und begeistert ausrufen: „Sieht er nicht aus, der Liebliche, wie Hermes-Zistrophoros!" Bescheiden erröthend verbeuget er sich hold und demüthig, während der ältere spöttisch unter den tiefgedrückten Braunen zu ihm hinaufschielte. Doch Julanthiskos lächelt dankend und beginnt das liebliche Lied:

Chelidon, wohin, wohin? Über Berge, über Flüsse, Über Länder, über Meere Treibet mich mein innrer Sinn Nach entferntem Frühling hin.

Chelidon, woher, woher? Über Meere, über Länder, Über Flüsse, über Berge, Fand ich's fremd und freudenleer; Darum komm' ich reuig her.

Chelidon, so bleibe hier; In dem Schatten unsrer Hütte Findest Ruhe du und Minne. Ewig rasten räthst du mir? Nein; nur Wechsel lieben wir.

Nachdem der reizende Sänger geendet und sich wieder zu den Rissen der holden Hirtinnen gesetzt, begann von neuem das muntere Gespräch. Nur ein Mann konnte das Lied des Wankelmuths singen, sagte, seufzend Lesbia und des Undanks dazu, seufzte Philis, und der Eitelkeit, lächelte bitter Leucinoe. Aber Julanthiskos ist ja nicht alles dieses? flüsterte erröthend Alcine. Auch wollte ich alles dieses nicht rühmen, antwortete der fein Hörende; auch ich kenne mein Geschlecht, und Thränen traten ihm ins dunkle blaue Auge. Ihr sehet, Schwestern, daß euer Urtheil den Holden betrübt, und dabey hielt sie den traurigen Jüngling zurück. Er geht ja nicht mit seinem Bruder und den andern Männern zu den berauschten schreyenden Winzern, oder zu den frechsten Dirnen, wie er; nein, er bleibt bey uns, ob wir gleich ihn miskannten. Alle die Mädchen

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baten ihn um Verzeihung und küßten ihn zärtlich. Acine setzte ihm einen Kranz von Myrthen und Spätveilchen auf das gebückte Haupt; und Myris und Melissa kränzten mit Wintergrün seine Chelys, und Psyche salbte die Fingerspitzen mit köstlicher Myrrha; aber alle ernannten ihn zum Könige des herbstlichen Festes; und sie plauderten und sangen noch lange, obgleich die neidischen Jünglinge sie schmollend verließen, um ihren Groll in dem berauschenden Saft der Reben zu ersäufen. Julanthiskos blieb bescheiden, denn unter den Gehenden war sein Bruder. Jetzt tönte das ferne Evoe! Mein Bruder opfert, und wir vergessen undankbar, daß diese Schätze Pans Gaben sind. Sein Altar stehet leer, und wir sammeln und genießen. Ein heiliges Feuer begeisterte alle. Dankbarkeit und Götterfurcht erfüllten jedes Herz. Die Wirthinnen ergriffen mit jungem Most gefüllte Becher und begossen damit zur Weihe das unter den Feigenbäumen errichtete Mal. Julanthiskos bekränzte die Zweige mit späten Blüthen, und die Abendsonne beschien lächelnd das schönste Fest der Dankbarkeit. Aber der Mond beleuchtete bey seinem Untergehn die blassen Gesichter der Männer, wo die Farbe des Ekels und des Nachrausches schon lange die der Reue und der Schaam verscheucht hatte.

Die Hoffnung.

Der Herbst schüttelte mit seinen lohfarbenen Sperber- schwingen feuchte röthliche Abendwolken und rasselnde gekrümmte Blätter und schwärzliche Schiefersplitter in das trockne Moos und die welkenden Geniststräuche, über die runden Abfälle des heiligen Kyllene, in die tiefen wärmern Thäler, die der hoch- uferige Orasis schäumend laut durchmurmelt. Nur die immer- grünen Eichen, die stolzen kernreichen Pinien, die harzigen Mastixbäume, die glänzenden Tinos, die korallentragenden Stech- palmen, und die Felsen umklimmenden Smilaxbüsche trotzten dem alles Verheerenden. Phoibos streckte segnend seine goldenen Arme über Arkadien aus, und ruhte sein purpurlockiges Götter- haupt an die Lazurpfosten seiner nächtlichen Kammer, eh' er Messenien und Elis sein Abschiedslied hören ließ, und bange, süße Ahndung zirpte wie Grillenklang durch die müden Herzen. Julanthiskos stand freudenlos unter den hervorragenden Felsen, schlaff hing sein schönes Haupt auf die matt wallende Brust herab, naß und ungekräuselt die weichen bräunlichen Locken um Nacken und Schultern. In der unthätigen Rechten hielt er einen Kranz von späten Veilchen und Wintergrün, in der Linken

Jahrbuch V. 43

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*

schwebte in der unbekümmerten Fingerspitze der schlaffe Bogen. Von den weißen Hüften war das kurze ätolische Jagdgewand zu den Knien herab geglitten, und zu seinen gekreuzten Füßen lag im hohen Moose der Vorhöhle sein leichter, pfeilreicher Köcher. Des schönen Knaben treue Jagdgefährten, Melos, Kyanos, Okypos, die spitznasigen Verfolger der Rehe, durch eine Kuppel gefesselt, schlichen wähnend, als hielte sie noch ihr träumender Herr, längs dem schwärzlichen Schieferfelsen mit tiefstreifenden Schnauzen die weit duftenden Pilze des Herbstes auswitternd. Aber der Unzufriedene fühlte nicht die kalte Feuchte des Heiligthums der Hamadryaden ; er hörte nicht das ängstliche Mökkern eines zarten verirrten Lammes, das längs dem steilen Abhang der Untiefen athemlos durch das welke Moos kletterte, daß die rollenden Kiesel und die gebröckelte Erde raschelnd in die Felsenklüfte herabfielen; und von ihm ungehört ahmte Echo seine Seufzer, und das Angstgestön des zitternden Lammes» und das Rauschen der Blätter und Steine nach. Auch hörte er nicht das entfernte Rufen Onikleiens; er sah auch nicht in seiner traurigen Zerstreuung einen riesenmäßigen Lämmergeyer, der in weiten, dann in engern und immer engern Kreisen die niedere Luft vor Julanthiskos düsterm Schmollwinkel pfeifend durch- schnitt. Ach! er hörte und sähe nichts; denn er träumte von unbelohnter Freundschaft und mordendem Undank. Auf ein- mal schlugen dreymal seine drey Gefährten an. Durch den wohlbekannten Ton schallte das ängstliche Rufen einer athem- losen Mädchenstimme. Sich selbst unbewußt, blickte er durch die Zähren des Unmuths, rasch Bogen und Pfeile ergreifend. Er hörte noch einen krachenden Fittigschlag des gierigen Mörders, und blutend rollte Onikleiens unschuldiger Liebling von Felsen zu Felsen in die unendliche Tiefe. Umsonst sandt er den unsichern Pfeil von der kaum gespannten Sehne, und eben so umsonst schallte das zürnende Gebell seiner Hunde in das Thal hinab. Der König der Klüfte hatte glücklich gejagt. Mis- muthig und ärgerlich wollte Julanthiskos in seine Lieblingshöhle zurückkehren; da lag hinter ihm höher am Abhänge des Berges blaß und erstarrt im blutigen Farrenkraut Onikleia, die schönste der Hirtinnen, das Gewand zerrissen, und die schwarzen üppigen Locken hingen herab über Stirn, Wangen und Busen, und die grüngelben Blätter des Farrenkrauts schlugen hoch, wie eine Laube, über der lang hingegossenen Mädchengestalt zusammen, als freuten sie sich des schönen Fangs. Julanthiskos schöpfte erweckendes Kalt aus der nahen Quelle, und bestrich damit die zarten Schläfen der langsam Erwachenden. Ein sprödes Ach ! entfuhr den sich wieder röthenden Lippen, und spröder stieß sie den verlegenen Knaben zurück. Mit einem Ach! richtete sie

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sich auf, in die verwirrten Gewänder sich hüllend. Glücklich für beyde kam die jüngere Molyssa herzugestürzt. Die undank- bare Spröde befahl im kalten Ton dem reizenden Jäger, den Ort zu verlassen. Er nahm bitter lächelnd seine Pfeile, seinen Köcher, seinen Bogen, und verhüllte seine zu entblößte Gestalt in das ätolische Jagdgewand. Er ergriff schmollend die Leitseile seiner schnellfüßigen Hunde, und stieg den heiligen Berg mit Groll gegen die undankbaren Menschen im Herzen herab; und im Herabsteigen hörte er noch lange das fruchtlose Jammergeschrey der trostarmen Schäferinnen. An der Flamme seines heimi- schen Heerdes schwur er bey dem Heiligthum der Hamadryaden, sobald nicht wieder auf Männerliebe und Mädchendank zu rechnen; aber ein Etwas stahl sich in ihn mit der leuchtenden Wärme, die seinen Körper durchdrang, und lächelnd grub sich die Hoffnung einen werthen Namen in sein treues, zärtliches Herz. Hermes lispelte er und ihr heiligen Nymphen, die ihr meines Unmuths und meiner Wünsche Zeuginnen wart! und indem er so dachte, hüpften seine Pulse freudiger; und lächelnd setzte er den Veilchenkranz dem rusigen Hermeshaupte auf, und das Lied der Hoffnung:

Nenne mir bey drohenden Gefahren Jenen Stern, der niemals sich verbirgt, Dessen Glanz das tödtende Entsetzen Mächtig in der Zukunft Raum verbannt. Nennen will ich meines Führers Namen, Hoffnung, dich, des Glückes Morgenstern

entquoll seinen Rosenlippen. Wie beschämt gedachte er des Eides bey der Hamadryadischen Höhle, und schlug noch immer die Cyanen-Augen von langen schwarzen Wimpern beschattet, in die hochrothe Gluth; aber eine mächtige Stimme, wohllautend, übermenschlich, erscholl durch die gemächliche Hütte, ihn nennend. Zitternd sank er zu dem heiligen Wunderbilde der Vorzeit, und um den schlanken Hals des herabblickenden Gottes wand sich ein leuchtendes Strephon. Da gedachte er plötzlich der tröst- lichen Verheißungen, welche ihm die Jungfrauen der Weihe gegeben hatten, und die herrliche Ahndung, die des Jünglings hochklopfendes Herz bey diesem Gedanken durchbebte, täuschte ihn nicht. Julanthiskos ward überzeugt, daß kein Freundschafts- bund gedeiht ohne Beständigkeit und ohne Majapors segnende Macht; und dieses Bewußtseyn war eben die Stimme Hermes Philozügetes1), der an jenem glücklichen Abend über Arkadien wegflog.

) des Freunde verbindenden.

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Die Erfüllung.

Du, Mynion, bleibst in der Hütte, und du, Limeus, weidest die leicht sich zerstreuenden Ziegen längs der hohen Ufer des Orasis; und du endlich, erfahrner Phryx, führst die Lämmer seitlang der lotusreichen Tiefen der warmen Quellen. Nimm diesen Kalathiskos und pflücke mit schonenden Fingerspitzen auf den sammtigen Blättern mir die schwarzen leicht zerschmelzen- den Beeren des Herbsts; denn durchnässende Nebel umhüllen schon des Kyllene Steilen. Du aber, Mynion, erhalte das kleine Feuer und öffne klüglich die Züge. des Heerdes, damit der Rauch die Kammern nicht verderbe. Also sprach Julanthiskos, der schönste der arkadischen Jünglinge, die schwankenden Speere von der glattgetäfelten Wand herablangend, und den braunen flachen Hut sich unter das weiche Kinn festriemend. Du, Phryx, hefte mir auf der linken Schulter den runden Mantel deines Mutter- landes. Recht! Noch einmal wandte er grüßend das bräunlich gelockte Haupt zu dem schützenden Bilde des Gottes, selbst nicht ahndend, daß er so bemäntelt und behütet wie ein unbe- flügelter Hermes aussah, und verließ, nachdem er alles besorgt, schnell die älterliche Wohnung. Zuerst eilte er durch den schattigen Gang der Reben, dann durch den Garten der obst- tragenden Bäume, dann über die Wiesen am Orasis, dann bey Menalkas Hütte und bey Grynions und Myrtills Wohnungen vorbey, itzt bey dem Kedrischen Born, der bey den Cypressen rauscht, dann schnellen Trittes den Hügel hinauf; jetzt unter den immergrünenden Eichen, dann bey dem Ulmenwalde vorbey und den Tinosgebüschen, dann bey den hohlen Felsen der Schiefer- brüche. Jetzt grüßt er Minoe, die Neuvermählte; schäkernd hält sie ihn beym flatternden Mantel. Wo so schnell hin, Julanthiskos? Zwar sind wir gewohnt, daß du den scharfen Wurfspieß dem krummen Schäferstab vorziehst, doch nie sah ich dich so schnell die Räume durchschneiden. Höre, was zieht dich den mit Herbstnebel bedeckten Kyllene so unwiderstehlich hinauf? Ich lasse dich nicht eher los, du sagst mir den Zweck deines Eilens, oder du singst mir ein Lied. Sagen kann ich dir nicht den Zweck meines Strebens, denn ich weiß noch nicht die Beute der Jagd, die mir zu Theil wird; aber singen will ich dir wohl ein Lied, und was noch mehr ist, das Liebiingslied deines Cyparissos. Doch zuerst gieb mir einen Kuß. Wenn du gesungen, so will ich sehen, ob es der Mühe lohnt. Und Julanthiskos stimmte das Lied des Jägers Arkas in dem Phrygi- schen Modus an:

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G77

Beym kindlichen Strahl des erwachenden Phoibos Ergreifen wir Speere, Pfeil, Bogen und Hörner, Und folgen dem Drange Zum Hayne, zum Walde ; Und folgen dem Streben Nach Beute, nach Ruhm.

Beym göttlichen Glühn des alltreffenden Phoibos Verlassen wir Speere, Pfeil, Bogen und Hörner, Und schleichen ermüdet Zu kühligen Grotten, Und folgen dem Durste Zum murmelnden Bach.

Beym scheidenden Purpur des segnenden Phoibos Heimkehren wir singend. Es klirren die Waffen; Es tönen die Hörner. Wir folgen belastet Dem plaudernden Zuge, Mit Beute, mit Ruhm.

Ehe er das Lied geendet, kam Cypariß selbst, und mit dem letzten Klange der phrygischen Weise hielt Minoe und ihr Gatte liebkosend und lobend den unwiderstehlichen Jüngling in ihren Armen; aber hochglühend entwand sich der Reizende, und entfloh wie der unaufhaltbare Pfeil den Hügel hinauf, und durch- schnitt den Raum und die Herbstnebel. Noch lange sprachen die Gatten von Julanthiskos, dem schönsten der Jünglinge, dem vorzüglichsten der Sänger, und dem raschesten, muthigsten der Jäger aus dem kyllenischen Gau, ehe sie heimkehrend die blöckenden Lämmer und die hüpfenden Ziegen in ihre geräumigen Hürten gesammelt hatten. Julanthiskos, von Kälte und Nebel durchnäßt, hatte umsonst Wälder und Büsche durch- späht, war umsonst von Felsen zu Felsen gehüpft, denn heute war der heilige Berg wie ausgestorben. Hier und dort hackte ein einsamer Specht die glatte Rinde des Lorbeerbaums, oder die dicke Borke der Korkeiche, und die nachäffende Echo wieder- holte den Einton, oder sie schrie dem heisern Pfeifen des gierigen Weihe oder des fernhorstenden Aar nach, oder brüllte schwach und traurig wie der Büffel in moosigen Klüften. Alles war öde und schauerlich. Selbst die zaghaften Eidechsen schlüpften langsam über die rothen Nadeln der Pinien durch das welkende Farrenkraut, i.-.*! c . 2 c.t.ic i i* . z...u<*.. i.i i.iTO \\ irr* . ^ - . 2 i»*.w_r!.

Keine Grille wagte zu zirpen, und Julanthiskos ahndender Seui'zer

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und ungeduldiger Fußtritt war der einzige Klang, der mühsam die dichten, grauen, kalten Nebel durchdrang. Doch wer hemmt den rastlosen Schritt des spähenden Jägers? Wer vermag der suchen- den Hoffnung der Liebe einen neuen Weg zu lehren? Julanthiskos seufzte sehnend dreymal: Alexis. Da hörte er plötzlich fernes ängstliches Rufen, und sein Alexis wurde Gegenruf. Er stürzte von Felsen zu Felsen, nur der Stimme der Ahndung folgend; denn undurchdringliche Nebel und herbstliche kalte Schatten bedeckten die schlüpfrigen Schiefer, und die glatten niedergedrückten Geniste und Haiden der kyllenischen Einöden. Itzt klang es wieder wie Hülfe, Hülfe! und Julanthikos mußte sich wenden, denn die Klage- stimme kam von der entgegengesetzten Seite ; aber näher und ver- nehmlicher, bekannter und theurer klang das flehende Hier, Hier! Krampfhaft schlug ihm das ungeduldige Herz; itzt drängte er sich durch die eng gepflanzten Stämme hoher Pinien, dann wieder durch die verwirrten Dornen der Kapern und Hippophaen, und die wilden Gestrüppe der Felsen; zuletzt schurrte sein müder Fuß bis an den jähen Abhang einer schwarzen Untiefe, und durch den graublauen Schleyer am entgegengesetzten Rande erkannte er die geliebte Gestalt seines Alexis. Die Freude, ihn endlich zu treffen, ver- scheuchte schnell den innerlichen Schauder des Schwindels. Bist Du es, Julanthiskos? tönte es schwach jenseits der Kluft; bist Du es, Alexis? erschallte es entzückt, doch athemlos diesseits. Komm, ach! komm; und ein mächtiger Sprung über den fürchterlichen Felsensturz vereinigte, die sich vielleicht sonst nie gefunden hätten. Der reiche Bewohner des Kyllene, Besitzer der schönsten Palläste und Gärten in Arkadien, ja selbst im ganzen Hellas, der stolze Jüngling, um den so lang der treueste der Hirten gedient hatte, lag verwundet und matt, durchnäßt und waffenlos auf dem blutigen Felsen. Gejagt hatte er die brüllenden Bewohner dieser nebelichten Höhen. Der Wege unkundig, von seinen Dienern verlassen, war er in die Irrgänge der übereinander gestürzten Basaltklippen gerathen. Den letzten Wurfspieß hatte er seinem grimmigen Gegner in den feisten Wanst gerennt, und rollend und sinkend stürzte das gehörnte Ungeheuer auf seinen Sieger, ihn zu zerquetschen drohend; und so fand ihn Julanthiskos verwundet und mit Blut bespritzt neben dem noch röchelnden Büffel. Die Jünglinge wurden endlich von Alexis Sklaven gefunden, wie sie Mund an Mund auf dem weichen Moose einer der Kylieni- schen Höhlen schlummerten. Alexis, der Gerettete, war nicht mehr undankbar, und Julanthiskos, der Findende, nicht mehr unglücklich; mit Alexis Strephon geschmückt Julanthiskos, und in Julanthiskos Mantel eingewickelt Alexis.

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Das Dankopfer.

Der nasse Spätherbst hatte sein schäckiges Gewand über die Thäler gebreitet und schier die Bäume entblättert. Gesammlet waren die Früchte in die trocknen Speicher. Die blockenden Heerden begnügten sich mit der dunkeln Kost des Spätjahrs. Die Jungfrauen bekränzten sich die Stirn mit der blassen Mutter des Krokus. Der buntgefleckte Sperber wußte schon längst nicht mehr, was es gewesen, verfolgte schreyend durch das rauschende Laub die Pfleger seiner nackten Kindheit, und die goldgefiederten Ammern umkreisten zwitschernd die platten Dächer der Schäfereyen. Alles verfolgte sich, aber nicht wie im Frühling zur Liebe, sondern zum Krieg und zum Mord; und der arkadische Jüngling vertauschte das ländliche Pedum ') mit den scharfgespitzten Melien*), und die leichte Hirtentracht gegen den wärmeren phrygischen Mantel, und anstatt des glatten, beschattenden Basthuts hüllte er die krausen Haare in die sackige Mütze der Lakonier, die doppelten Riemen sich unter das Kinn schlingend; denn frischer wurden die feuchten nebelichten Tage, traurig die langen düstern Abende. Der hämische Winter verließ schon seine unterirdischen Schlupfwinkel, und Zephyros, der Wolkensammelnde, verbarg mit Eis und Schwarz die blassen Sterne. Ach, nur selten blickte Phoibos über die traurige Flur, wenn er die Safran-Rosse in dem Ionischen Meer badete, und die kupfernen Gewölbe seiner westlichen Halle von seiner Nähe erglüh'ten. Seht ihr, Brüder, den glänzenden Anblick des sinkenden Tages, sagte Menalkas, sich zu seinen Brüdern Mikon und Myrtillos wendend, die mit Reißig beladen ihm folgten schneH hinab den steinichten Hohlweg des steilen Kyllen's; seht die goldenen Streifen, die sich in das dunkelblaue Thal wie Lichtströme hinabgießen, wie sie kämpfend mit dem kalten Nachtnebel die runden Schirme der Pinien, die Nadeln der Kypressen und die lohfarbige Krone der Nußbäume vergolden? Laßt uns, Brüder, hier ausruhen bey dem schwarzbeerigen Kassis, den stachlichten Kapergebüschen und den braunroth gefärbten Akanthen, die üppig ihre mächtigen Ranken so frech um den dunkeln Hermes winden. Als ich den centnerschweren Aenogyps*) mit den Pfeilen erzielte, schwur ich's beym Maiapor, dem Be- schützer dieser Klüfte, ihm den gemordeten Wütherich der Heerden zu opfern; billig ist, daß ich das Gelübde halte. Seht, ihr Brüder, gerade traf ich sein Herz, und der wiederhakende Pfeil hängt noch blutig in der zähen Haut. Du, Myrtillos, nimm die

') Hirtenstab. *) Spielten. ■*) ein Geier der grollten Art, der Lämmergeier.

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eine der Schwingen, und du, Mykon, die andere, und entfernt euch jeder in entgegengesetzter Richtung. Beym lampsakalischen Gotte! mehr als vier Orgyen mißt seine Spannung. Sieh' die fürchterlichen Krallen. Gewiß war es dieser, der noch jüngst mit dem Schlag seiner kupferfarbigen Schwingen Onikleiens geliebtes Lamm von jenem Felsen herabstürzte. Ach! noch weint sie, die Thörinn, um den zerschmetterten Liebling; dabey gab er einen zürnenden Schlag dem erstarrten Mörder, daß sein schlaffes Riesenhaupt zurückfiel. Laut lachend legten die rüstigen Brüder den König der Vögel zu dem Fuß des hundertjährigen Bildes. Zu groß für deinen Petasus») wären die schweren Flügel gewiß, sprach unverschämt der jüngste der Brüder; und die rohen Gesellen rannten mit frechem Gelächter den Berg herab, daß die runden Steine ihnen lärmend nachrollten. Von weitem in den Myrthengebüschen versteckt, hatte Julanthiskos, der blauäugige, der reizendste unter den Kylienischen Knaben, das ländliche Opfer bemerkt. Leicht und schlank und braun- gelockt, wie der göttliche Beherrscher von Paphos, hüpfte er aus den schwarzgrünen Gebüschen, daß die bräunliche Chläna um den runden Nacken flog, und die krausen Locken um die schalkhaften Augen und die durch den kalten Abendwind hoch- gefärbten Wangen. Nimm auch, schönster der Götter, das Opfer eines dankenden Gemüths an; auch du, Leiter der Verirrten, Beherrscher der Schatten, Wohlthäter der Lebenden wie der Todten, auch du hast mir ein Herz zugewandt, was mich lange mit grausamer Härte peinigte; und dabey hing der Glückliche ein goldenes Strephon dem Gotte um den gesenkten Hals. Du hast mich gelehrt den Weg bey Nacht und Graus. Ach! und in meines Alexis prächtiger Wohnung fand ich mehr Glück und Wonne, als ich je geträumt hatte. Vor Freundschaft glühend und vor Ehrfurcht sank der liebliche Beter zu dem Fuße der schlanken Hermessäule nieder. Freundes-Arm schlang sich um den freudebebenden Julanthiskos. Alexis, der reiche Bewohner des Kyllene, war seinem neuen Liebling nachgefolgt. Komm, sagte er, mit ihm die Fingerspitzen zärtlich verschränkend und die Lippen ihm auf die weißen Schultern drückend, komm, treues, frommes Gemüth. Einmal führtest du mich durch Irrwege und Dunkel; itzt stütze dich auf meinen Arm, ich will dich führen. Stumm folgte der Überselige seinem Beschützer nach. Ich will dich ein Lied lehren, sagte endlich Alexis nach langem Schweigen, ein Lied, das unsern düstern Weg kürzet. Kommen wir zu Hause, so schenke ich dir eine Lyra; du rührst sie ja. Julanthiskos, höre t:i:ch, da wir r.ns kaum sehen:

') üer beschwingte Hut des Hermes.

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Treue siegt;

Treu' erringt den schönsten Preis. Laß dich nicht erschrecken Durch des Stolzes Kälte; Strahlen folgen Strahlen, Bis die Wolken schwinden.

Treue siegt;

Treu' erringt den schönsten Preis. Laß dich nicht verdrießen, Lang umsonst zu dienen. Tropfen folgen Tropfen, Bis die Felsen weichen.

Treue siegt;

Treu' erringt den schönsten Preis.

Auch du hast durch Treue mein Herz erweicht; ach! wie vermag ich dir zu lohnen? Ach, erwiederte Julanthiskos, mit dieser Hoffnung senkte an Myris Feste Alethophone einen erheiternden Strahl in mein gekränktes Herz, und mit eben diesen Tönen, von dir damals unbeachtet, begrüßte mich die göttliche Seherinn, welcher die Räthsel der Zukunft klar und offenbar sind. So sprach er dankbar gerührt, und zog den Freund fester an sich, in seinen Arm sich schlingend. Und so verschlungen gingen sie neben einander, und es wurde immer kälter und finsterer, und sie mußten ihre Schritte verdoppeln. Aber endlich wurden die Wege ebener und bequemer die Rasenstiege. Unter entblätterten Granatbäumen und durch Ulmengänge, die welker Wein umschlang, gingen sie itzt; dann durch die niedrige Befriedigung aus glatten Quadern, an deren Eingang zwey eherne Karyatiden standen, hohe Körbe auf den zierlichen Häuptern tragend. Ach, nun sind wir h Hesperiens Gärten! rief der entzückte Jüngling, zog seinen Führer durch die Thymian- und Lavendelbüsche und durch die starkriechenden Chirandus- Gesträuche, vor dem rauschenden Wasserbecken vorbey, die fünf Marmorstufen hinauf; denn finstre Nacht bedeckte den zierlichen Wintergarten und die herrliche Wohnung des reichen Alexis, und die Freunde umarmten sich nicht eher als in der räumigen Stoa; dann eilten sie zusammen in das wärmende Bad, wo hochgeschürzte Korinthierinnen ihre erstarrten Glieder mit köstlichen Salben rieben; dann zu der gewürzten Tafel, und dann sanken sie schlaf- und wonnetrunken auf das schwellende Lager, nachdem lu'?r»this''r»« «e«n*r» Alevi«* für ein rndcrcs prächtigeres Strephon ;. ' :•.:. :;] [ \ j.r... : ; .../er zärtlich gedankt, und den Kyileniscnen Hermes noen einmai ge-

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priesen; und sie entschliefen Hand in Hand, um sich nie zu ver- lassen. Und noch hängt Julanthiskos Strephon an dem Halse des wunderthätigen Bildes, aber Menalkas, Mykons und Myrtillos blutiges Opfer ward bald die Speise der unreinsten der Vögel.

Das Thal der Orakel.

Phoibos, der mächtige Schützer der Eleusinischen Waller, bannte den flockigen Schnee und den schneidenden Frost, den durchdringenden Nebel und alle die erstarrenden Begleiter des Win- ters hinauf zu den Eisspitzen des Erymanthos, in die Pinienthäler des kältern Achaiens, und der thauende Athem seiner laut wiehernden Rosse erfüllte, warmem Nebel gleich, das glückliche Arkadien; denn der goldgelockte Herrscher des Tages lächelte segnend den ungeduldigen Jungfrauen, die enggedrängt auf dem dicht verschleyerten^Wagen von nichts als von Mysterien und von Wundern träumend plauderten, und von seinen wärmenden Strahlen getäuscht die Byssus-Kalyptrien von den hoffnungglühen- den Stirnen entfalteten. Itzt verläßt der Zug der Eleusinischen Neophyten l) den schwarzen, lautröpfelnden Wald, wo die grauen Vögel Aphroditens buhlend und zwitschernd sich wiegen. Itzt sprengen die Reiter heran, unter ihnen Alexis der herrliche, und Julanthiskos, der nicht minder liebliche, und ihre gleichen Scharlach-Chlänen1) flattern durch die milden Lüfte dahin. Ähnlich den Dioskuren fliegen sie über das weiche Moos. Itzt halten sie, und demüthig trennt sich bey Alethophonens Namen die harrende Menge. „Schweigt, ihr Männer, schweiget, ihr Jünglinge," so sprachen sie im festen Tone, „daß kein beleidigendes Lied mit dem Grimm der Scham den erstummenden Jungfrauen die Brust engt. Alle sind Alethophonens Freundinnen. Schweigt, ihr spotten- den Sänger, wenn ihr eure Rinder und eure Heerden und eure Hütten liebt." Also sprachen die vorüberjagenden Jünglinge, und ruhig und ungestört rollt der Wagen der zagenden Jungfrauen über die dumpftönende Brücke des Orasis; und noch lange stehen mit offenem Munde die sonst so unverschämten Spötter und wissen nicht, sind es Menschen oder Heroen, die ihren Mund also banneten. Ungestört und ungehöhnt blieb also das herrlich bespannte Fuhr- werk der werdenden Demeterissen, Dank der allmächtigsten der Sängerinnen und ihren Gesandten. Jetzt zieht sich langsam der Zug längs den nassen Ufern des heiligen Sees, wo vor wenig

') Neu-Eingeweihte. a) warine Mäntel.

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Monden Eros bey nächtlicher Weile zwey lang getrennte Minnende auf ewig vereint, dann an dem Fuße des Ulmenwaldes, wo einst die spröde Onikleia das Lied der Bienen gesungen und ihre Sprödigkeit abgelegt, dann die südlichen immergrünen Hayne des göttlichen Kyllene hinauf. Itzt halten sie bey dem wunderthätigen Bilde des dort erzeugten Gottes, sein goldenes Strephon bewundernd; itzt steigen die holden Jungfrauen aus Charikleia, Mäotis, Alkmena, Charis, Julanthiskos Base Nikrion und die Schwestern, Alexis Freun- dinnen, die reichen Töchter aus Mantinäa. Hier umarmten sich die sich einst fliehenden Freunde, Hermes und Anteros opfernd. An dieser heiligen Stätte fand jede Kommende eine Gastfreundinn oder eine Verwandte unter dem versammelten Hirtengeschlechte, und Küsse wechselten mit Küssen, und Gaben mit Gaben, und herzliches Kosen mit herzlichem Kosen. Nachdem Minoe und Nikrion sich geküßt und sich hundert Fragen gemacht und beantwortet, flüsterte die jüngst vermählte Hirtinn ihrer städtischen Freundinn ins Ohr: „Du weißt also, wer uns die schwere Leyer brachte?" Ja, bey der Weisheit verwahrenden Göttinn, dein Herz hat sich nicht geirrt: Der falsche Jüngling war die Allwissende. Doch es flüsterte durch die Gipfel der immergrünen Eichen wie Dämonen-Lied:

Schweigen ziemt der Wallerinn, Schweigen ziemt den Liebenden, Schweigen ziemt den Wissenden, Schweigen ziemt den Hoffenden, Drum so schweigt und schweigt und schweigt.

Erschrocken kehrten die Freundinnen zu den übrigen Jung- frauen; erblaßt und Thränen in den Augen trennten sie sich, denn Ahndung sagte ihnen, daß sie sich nie wieder sehen würden.

Über Korinth ging der Zug; denn Julanthiskos Hodoiporos >) und Alexis wollten bey dem Bruder Barys übernachten ; auch waren mehrere der Jungfrauen von der Reise ermattet. Segnend blickten ihnen, so lange sie konnten, Minoe und Cyparissos nach; und als sie wieder in ihre Hütte heimgekehrt, setzte sich die treue Hausfrau an dem Heerde nieder, wo sie einst Liparos Ring vergraben hatte, stimmte zur traurigsten Weise ihre Chelys, und sang zum bebenden Saitenklang das Lied der Trennung:

Sterne trennen sich von Sternen, Und der Thau benetzt die Flur;

Geister trennen sich von Geistern, Und es löschen Opferpflammen,

») der Wanderer.

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Herzen trennen sich von Herzen, Und es löschen beyder Leben.

Sterne rollen nah' an Sternen, Und es werden neue Sonnen;

Geister schmelzen sich mit Geistern, Und es rauschen Hekatomben;

Doch wo Herz von Herzen scheidet, Giebt es weder Schlaf noch Lethe ! »)

Cypariß, der liebende Hirte, nahm die eburne Chelys und hing sie stumm an die glatt getäfelte Wand des wirthbaren Zimmers; aber Minoe, die trostlose Freundinn, weinte lang, ob es ihr gleich an Thränen gebrach, denn sie wußte, daß die Base Nikrion und Julanthiskos Hodoiporos nicht wiederkehren und daß sie in dem Thal der Orakel bald die Hirten und Arkadien vergessen würden; ach! und Vergessen ist Trennung auf Ewigkeit, denn es trennt auf Ewigkeit.

Schlaf und Hoffen flohen die Arme, und nur ein trauriges Gefühl erfüllte ihr 6angendes Herz, das, ihre Freundinn nie wieder zu sehen, und eine Angst, die, den wundersamen Pilger oder Aletho- phonen, die Allmächtige, beleidigt zu haben. Immer hörte sie noch das Lied, das in dem Eichenwald erklang, als sie von ihrer Freundinn und von Alexis und von Julanthiskos Abschied genommen. Schweigend saß sie, hoffnungslos und ahndungslos, die Zukunft stumm erwartend.

[Ein Pilger von Eleusis mit Gruß von Nikrion, Minoe's und Julanthiskos' Base, nebst einem Briefe von Minoe fordert sie auf, mit Cypariß nach Alsotheonien zu wandern, dem Lieblingsthale Alethophonens, der Beschützerinn Arkadiens].

Itzt umfaßten Alethophonen Julanthiskos und seine Base Nikrion und Chrysotrichiens kleiner Bruder Eranthos, benetzend ihr leichtes Gewand mit Thränen des Dankes, der Hoffnung und der Ahndung. Aber Julanthiskos, lieblicher Jüngling, thatst du unrecht, mein Lied nicht zu vergessen? Und warum ist Alexis nicht mit seinem Freunde hier? Ach! entgegnete Alethophonen der überglückliche Hirt: Spotte nicht länger über meine kindische Kleinmuth. Alexis blieb daheim schamhaft erstaunend und über Eros und Anteros Frieden erröthend. Die Thessalische Jungfrau küßte ihn auf die Korallenlippen. Ein herrliches Gewand faltete

'; Dieses ver.i Herze,; auch komponierte Lied vun.lo bei »einem Begräbnisse gesungen [Beck 1 lHtid Seite 445; Appun 1900:.

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sich um seine majaporische Gestalt, und er lag doppelt reizend in seines Beschützers Armen, der nicht gewagt hatte, seinen Wankel- sinn der Allmächtigen zu gestehen. Sie behielt aber die reizende Base und den kleinen Eranthos bey sich. Julanthiskos Bruder, der rohe Jäger, der ungebildete Hipparche, Barys, kannte nicht den Weg nach Alsotheonien; drum blieb er in Korinth, um sich in den Warfen Ares und Cyprias zu üben, und wie sonst zu schwelgen, zu buhlen und spielen.

Es kamen noch andere Arkadier und Arkadierinnen gebessert, geheilt, getröstet und beglückt; aber alle kamen, um zu danken, aus ihrer niedern Alltäglichkeit zu Alethophonen herauf getragen. Ja, so erhebt Gebet und Dank den niedern Bewohner des Staubes zur fernen Gottheit. Aber die bescheidene Zauberinn bewunderte nur der Hirten Dankgefühl, wie die geringste, aber die seltenste der Tugenden. Gerührt wandte sie sich zu den neunmal neun verschleyerten Königinnen: „Anfangs des Jahrs sang ich, und mein weissagendes Lied erkaufte mir alle diese Herzen. Seyd so gütig, ihr Verehrten, und singet mir ein Lied am Ende des Jahrs, daß ich meine Erdenbannung und meine Unvollkommenheit vergesse, ehe mich Eros und Anteros, die Versöhnten, abholen." Die neunmal neun Königinnen sangen doch die Welten und die Sonnen schwammen in unnennbarer Lust, und ihre Unvollkommenheit kleidete sich in Himmelsträume ein, und die Unermeßlichen, wie das kleine enge Arkadien, wußten nicht, was die neunmal neun Königinnen der Allmacht sangen. Nikrion vergaß bald die Welt und ihre unbelohnte Liebe, und der kleine Eranthos lernte nie Männer hinter den purpurnen Vorhängen der krystallenen Propyläen kennen.

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A n t e r o s.

In düstern Wäldern, unschuldsvollen Auen, Erfinden wir des Daseyns hohes Ziel. Bald werden wir vereint die Himmel schauen, Vergessen bald der Kindheit thöricht Spiel.

Mir magst Du, Eros, künftig immer trauen ; Ich raube nicht, was einmal Dir gefiel. Du kannst getrost auf meine Allmacht bauen; Ich täusche nicht, verspreche nicht zu viel!

Wozu des kurzen Truges mürbe Binde? Wozu des Wahnes matte Mückenschwingen? Wir blenden nicht und wir verwunden nicht!

Und wenn ich hier auch Männerherzen finde, So soll durch Dich das Bessern mir gelingen, Wenn mir's an Zauber und an List gebricht.

Schlußvignette der Novelle „Kyllenton".

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Nachwort

Es wäre zu wünschen, daß die Akten über den Herzog August noch nicht geschlossen sein möchten, in einer Zeit besonders, welche erst beginnt, den Regungen auch der Menschenseele mit Vorurteilslosigkeit nachzu- forschen. Solcher Zeit wird die Aufgabe zufallen, den Widerspruch zu lösen, welcher in der Beurteilung dieser buntschillernden Menschen-Erscheinung durch zwei ihr nahe gestandene Männer zu liegen scheint, von denen der eine sagen konnte: „Hätt' er ein Herz, sein Dichter- kopf wäre der größte* l) und der andere ein goldenes Herz entdeckte mit den Worten: .Wem vergönnt war, das innere Heiligthum zu beobachten, der schätzte diesen Vorzug; ein Blick in dasselbe zeigte eines der edelsten Gemüther, das je gewesen.*2)

Literatur über Emil August.

„Anekdote". In: Zeitung fllr die elegante Welt. Leipzig, Georg Voll. 1805. Nummer 177 vom 28. September. Spalte 936.

Anonym, Ulrich Jaspar Seetzen. In: Zeitgenossen. Biographieen und Charakteristiken. Leipzig und Altenburg, F. A. Brockhaus. Zweiten Bandes dritte Abtheilung. 1817 (1818). Seite 83—106 [Des Herzogs August wird Seite 86 und 105 gedacht].

A[ppun|(G.), Ein Erinnerungsblatt an Herzog August von Sachsen- Gotha und Altenburg 1801—1822. In: Gothaischea Tageblatt, 52. Jahrg. 1900. Nr. 253, 27. Oktober. Zweites Blatt.

von Bechtolsheim (Katharina), Erinnerungen einer Urgroßmutter (Katharina Freifrau von Bechtolsheim geb. Gräfin Bueil) 1787 —1825. Mit Originalbriefen von Goethe, Wieland, Herder, Kaiserin Katharina II., Kaiser Alexander I. und Kaiserin Maria von Kuliland, Herzog Carl August von Weimar, Ernst II. von Sachsen-Gotha, Frau von Staei, Fürst von Ligne, Graf Segur,

l) Jean Paul Friedrich Richter an Villiers 1810 bei Beck 1 1868 Seite 418.

Ä) von Wlistemann 1823 Seite 12.

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FUrst-Primas von Dalberg und von anderen. Herausgegeben von Carl Graf Oberndorff. Mit 12 Illustrationen und 6 Faesimile- Beilagen. Berlin, F. Fontane & Co. 1902. XIV und 471 Seiten in 8«.

Beck (August), Geschiebte des gothaischen Landes. Gotha, E. F. Thienemann. 1868. Band I. Geschichte der Regenten. VIII und 536 Seiten in 8°. Seite 128—451.

August: Emil Leopold, Herzog von Sachsen-Gotha und Alten- burg. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Erster Band. Leipzig, Dnncker & Humblot. 1875. Seite 681—683.

Döring (Friedrich Wilhelm), Ad memoriam tristissima morte populo suo nuper erepti serenissimi Saxoniue ducis Aemilii Leopoldi Augusti a. d. IV. Iul. hora deeima summa pietate in Gymnasio nostro celebrandam omni, qua decet, verecundia invitat Fridericus Guilielmus Doering Gvmnasii Gothani director. Gothae literis Reyherianis. MDCCCXXII. 12 Seiten in 4°.

Frid. Guil. Doeringi Commentationea Orationes Carmina latino

sermone conscripta. Accedunt Friderici Jacobsi Epistola ad Doeringium senera felicissimum et E. F. Wuestemanui Oratio in Doeringi memoriam habita. Norimbergae. Sumtibus Friderici Campe. 1839. XL und 308 Seiten in 8°. Enthält: 1. Oratio in memoriam serenissimi ducis Aemilii Leopoldi Augusti habita 4 Jul. 1822. Seite 147 155, IL 2. Pompam solemnem qua prineeps juventutis Serenissimus Aemilius Augustus Leopoldus cum nova conjuge serenissima Luisa Charlotta ducis serenissimi Suerino-Megapolit. filia urbem ingressus est celebrat Gymnasium illustre Gothanum. Elegia.') Seite 197—200, I. 3. Prineipi juventutis serenissimo Aemilio Leopoldo Augusto cum nova conjuge serenissima Carolina Amalia serenissimi terrarum Cattiacarum prineipis filia faustissimis auspieiis urbem ingre- dienti pietatem suam reverenter declarat Gymnasium illustre Gothanum.0) Seite 201—202, 11.

Düring und K r i e s , Reden bey der zum Andenken des Hochsei. Her- zogs Herrn Herrn Aerail Leopold August im Gymnasium zu Gotha den 4. Jul. 1822 angestellten Todtcnfeyer gehalten von Friedrich Wilhelm Döring, Director des Gymnasiums und Friedrich Kries Professor. Auf Allerhöchsten Befehl dem Druck Ubergeben. Gotha, Reyher. 38 Seiten in 8°.

') Kditio prima mcn.«c Novt'inbri l~J7. * pg. in 4". *) Kdilio prima menso Maj. 18o2. 8 pg. iu 4°.

.Talirbucb V. 44

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Eichstädt (Heinrich Carl), Memoria Augusti Ducis Saxonia» Principis Gothanoruin atque Altenburgensium. Scripsit Henr. Carolus Abr. Eichstadius. Editio altera auctior et emendatior. Gothae in libraria Henningsiana. 1828. VIII und 74 Seiten in 4°.

Henr. Car. Abr. Eichstadii Opuscula Oratoria. Orationes

Memoriae Elogia quorum duo inedita Schilleri et Ludenii memoriae dicata. Collectioneni ab auctore inchoatam post eius mortem absolvit indices adiecit Herrn. Jo. Chr. Weissenborn. Jenae in libraria Maukiana. MDCCCXLIX. XXXU und 804 Seiten in 8°. Enthält: 1. Parentalia serenissimo nuper principi ac domino Augusto duci Saxoniae principi Gothanorum atque Altenburgensium sacra in templo Paulino academico rite concelr- branda indicuntur. Seite 14—15. 2. Oratio de felicitate Acaderaiarum ex virtutibus principum oriunda in parentaübua academiciB Augusto duci Saxoniae die XXX Jim. a. MDCCCXXIl celebratis in templo Paulino dicta. Seite 16 .HO. 3. Memoria Augusti ducis Saxoniae principis Gothanorum atque Alten- burgensium. Seite 31 95.

Förster (Friedrich), Preußens Helden in Krieg und Frieden. Eine Geschichte Preußens seit dem großen Kurfürsten bis zum Ende der Freiheitskriege. In Biographien seiner großen Männer. Berlin, Gustav Hempel. Dritter Band, 1847, Seite 684; Seite 787. Vierter Band, 18-54, Seite 834.

Kunst und Leben. Aus Friedrich Förster's Nachlaß. Heraus- gegeben von Hermann Kletke. Berlin, Gebr. Paetel. 1873. VIII und 240 Seiten in 8°.

G. (D.), Emil Leopold August, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. In: Deutscher Ehren-Tempel. Bearbeitet von einer Gesellschaft Gelehrter und herausgegeben von W. Hennings, Herzoglich Sächsischem Geheimen Legations-Rath. Gotha, Hennings. Zwölfter Band. 1832. 41 Seiten in mit dem Kupferstich „August, Herzog zu Sachsen-Gotha u. Altenburg*'.

Gallttti (Johann Georg August), Geschichte Thüringens. Gotha beym Verfasser und Ettinger. 6 Bände in 8°. Sechster und letzter Band. 1785. XVI und 392 Seiten nebst 4 Geschlechts- tafeln. Seite 237; 246; 257 und 336.

In SächsischeProvinzialblätter, Mai 1 822 (nach Beck 1868 1 S. 428).

Geschichte und Beschreibung des Herzogthums Gotha, Gotha,

C. W. Ettinger. 4 ältero Theile: 1779-1781. Theil V 1824. 116 Seiten in 8". S. 25-47.

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von Goethe (Johann Wolt'gang), Tag- und Jahres-Hefte als Er- gänzung meiner sonstigen Bekenntnisse (1749 1822). In : Goethe's Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidirte Ausgabe. 27. TheiL 1. Abtheilung. Berlin, Gustav Hempel (Ohne Jahr). Seite 1—291; Anmerkungen von W. Frh. v. Biedermann Seite 359—548. Register Seite 638.

Heid ler (Carl), Blüthen der Phantasie. Zeitz 1819.

Hempel (Friedrich Ferdinand), Herzog August von Sachsen- Alten- burg und Seine Bauern, eine erfreuliche Geschichte unsrer Tage. Altenburg, Verlag der Kedaction der Osterländischen Blätter. 1819. 92 Seiten in 4°.

Hennings, siehe D. G.

von Hoff (Karl Ernst Adolph), Aufsätze in „Jenaische allgem. Litter.-Zeitung, Mai 1822, oder Gothaische privilegirte Zeitung 1822, Nr. 100" (nach Beck 1868 I Seite 428 Fußnote 236). In der vier Bänden „Jeuaische allgemeine Literatur- Zeitung" 19. Jahrgang, 1822, fand ich nichts über den Herzog August; in dem Exemplar „Privilegirte Gothaiscbe Zeitung. Auf das Jahr 1822." der Berliner Königlichen Bibliothek fehlt die auf der 4. (unpaginierten) Seite der Nr. 100, 26ste Woche, Frey tags den 21. Junius, angekündigte, den Nekrolog des Herzogs August Durchl. betreffende „Extra-Beylage."

Jacobs (Friedrich), Nekrolog. Emil Leopold August, Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg. In: Allgemeine Literatur- Zeitung. Vom Jahr 1822. Halle und Leipzig. Zweyter Band. May bis August. Julius 1822, Nummer 172. Spalte 497—504.

Vermischte Schriften von Friedrich Jacobs. Erster Theil,

Gotha, Ettinger, 1823. XXVIII und 546 Seiten. Sechsler Theil, Leipzig, Dvk, 1837. XXXII und 592 Seiten. Siebenter TheiL Leipzig, Dyk. 1840. XXVIII und 620 Seiten in 12°. - Inhalt: Theil I: Rede zum Andenken Herzog Ernst des Zweyten im Gymnasium zu Gotha in Gegenwart des regierenden Herzogs August gehalten den 9ten Junius 1804. Seite 1 86, 1 (ttb« r Emil August Seite 81—86).

Theil VI: Zerstreute Blätter: 3. Allotria. 1828. Seite451— 463: Romantische Studien des Herzogs August Emil Seite 456. Erklärung einer Inschrift S. 458—463. 4. August Emil als Schriftsteller. 1823. S. 464-473: Das Kyllenion Seite 464. - Polyneon Seite 466. Roman ohne Titel Seite 467. Erailia- nische Briefe Seite 468—470. Briefe eines Kartheusers Seite 471—473. Anmerkungen. Seite 474—492. Sonnette durch das Kvllenion veranlaßt Seite 475—479. Terzinen auf

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Pin Gemiihlde von Grassi Seite 480. Sonnette und Elegien. Seite 485 191. Verbesserungen S. 592.

Theil VII: Personalien gesammelt von Friedrich Jacobs. Mit dem in Stahl gestochenen Bildnisse des Verfassers. August Emil, Herzog von Gotha. Seite 170—179. 50. Herzog August Emil. Seite 517—521. 51. August Emils Brief im Pius VII. Seite 522-520. Kletke, siehe Förster.

Klinge mann (August). Ein Jahr in Arkadien. In: Zeitung (Vir die elegante Welt. I^eipzig, Georg Voß. 1805. Nummer 115 vom 24. September. Spalte 918.

Jean Paul, siehe Richter.

von Lupin auf Illerfeld (Fr.), Biographie jetzt lebender, oder erst im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts verstorbener Personen, welche sich durch Thaten oder Schriften denkwürdig gemacht haben. Stuttgart & Tübingen, J. G. Cotta. Erster Band. 1826. VIII und 718 Seiten in 8°. August (Emil Leopold ; Seite 70—75.

Menzel (Wolfgang), Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit. In drei Bänden. Stuttgart, Ad. Krabbe. 1858-1859. 8". 3. Band 1859 Seite 71.

von Metzsch-Schilbach (Wolf), Briefwechsel eines deutschen Fürsten mit einer jungen Künstlerin (Herzog August von Sachsen- Gotha und Altenburg und Fräulein aus dem Winckel). Mit zwei Porträts. Berlin, Karl Siegismund. 1893. 908 Seiten in 8°.

Mosengeil (Friedrich), Briefe Uber den Dichter Ernst Wagner: enthaltend : Lebensgeschichtliche Nachrichten ; Mittheilungen aus dem handschriftlichen Nachlasse des Dichters: Auszüge aus Briefen von ihm selbst; vom Herzoge August von S. Gotha; Jean Paul Friedrich Richter; Fichte u. A. herausgegeben von Friedrich Mosengeil. Schmalkalden, Varnhagen. 1 82G. 228 und 164 Seiten in kl. 8". [Zweites Bändchen Seite 17—70; Seite 91).

Graf Obern dorff (Carl), siehe von Bechtolsheim.

Perthes (Clemens Theodor), Friedrich Perthes Leben. Nach dessen schriftlichen und mündlichen Mittheilungen aufgezeichnet. Gotha, Perthes. 3 Bände 1848—1852—1855 in 8V) Ucber Herzog August: III Seite IG— 17.

M Acht-- (Jubiläum«.. iAus(?ube. A Hänik-. (iotlia 18%. 8". Band A 8«?ite

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Reichard (Heinrieh August Ottokar), Gotha. Aus dem Briefe eines Reisenden im Junius dieses Jahres. In : Beilage zur All- gemeinen Zeitung. Donnerstag 4. Jul. 1822. Nr. 109. Seite 133—434 (nach Keichard: H. A. 0. Reichard 1877, Seite 503» von ihm verfaßt, ebenso ein mir unbekannt gebliebener Aufsatz über den Herzog August in der „Staatszeitung'4).

H. A. O. Reichard (1751-1828). Seine Selbstbiographie

Uberarbeitet und herausgegeben von Hermann Uhde. Stuttgart, J. G. Cotta. 1877. VI und 554 Seiten in 8°.

Richter (Jean Paul Friedrich), JeanPaul's Freiheits-Büchlein; oder dessen verbotene Zueignung an den regierenden Herzog August von Sachsen-Gotha; dessen Briefwechsel mit ihm; und die Abhandlung Uber die Prelifreiheit. Tübingen, J. G. Cotta. 1805. 128 (nicht 138) Seiten in 8°.

Seid ler (Louise), Erinnerungen und Leben der Malerin Louise Seidler (geboren zu Jena 1786, gestorben zu Weimar 1866). Aus handschriftlichem Nachlaß zusammengestellt und bearbeitet von Hermann Uhde. Berlin,. W. Hertz. 1874. X und 480 Seiten in 8°. Zweite, umgearbeitete Auflage. 1875. X und 396 Seiten.

von Sternberg (Alexander), Jena und Leipzig. Novelle in zwei Theilen. Berlin, Leseeabinet. 1814. 282 und 274 Seiten. lieber den Herzog ohne Namennennung U Seite 3 5 und 8 11.

v. S t g. (A. v. Sternberg), Aus der guten alten Zeit. Nr. 2. Fürst- liche Sonderlinge. In : Die Gartenlaube. Leipzig, Ernst Keil. 1857, Nr. 7. Seite 93—95. Mit einem Textbilde ».Herzog August von Gotha als Griechin" Seite 93.

„Todesfälle44. In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Vom Jahre 1822. Halle und Leipzig. Zweyter Band. May bis August. Nummer 165. Julius 1823. Spalte 147.

Uhde (Hermann), siehe Reichard und Seidler.

von Weber (Max Maria), Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. Leipzig, Ernst Keil. 3 Bände. 1864—1866 in 8°.

von Wüstem an n (Ernst Friedrich), Gothaischer genealogischer Kalender auf das Jahr 1823. Sechzigster Jahrgang. Gotha, Justus Perthes. Ueber Herzog August' Seite 7—22; Seite 34.

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7.Mademoiselle Maupin ( 1 673— 1 707)

je suis d'un troisiöino scxe u part ijui n'a pas encore de nom: au dessus ou au dessous, plus dttfectueux ou superieur" . . . Thäophile Gautier: „Mademoiselle de Maupin" (1835).

M ademoiselle Maupin" war die Tochter des Herrn d' Aubigny, eines Sekretärs des Grafen d'Arraagnac. Geboren im Jahre 1673 wurde sie in sehr früher Jugend und wohl gegen ihre Neigung mit eiuem Herrn Maupin aus Saint-Germain-en Laye ver- heiratet, lebte aber nicht mit ihrem Manne zusammen, sondern erlangte für ihn eine Anstellung in den Filialen der Provinz. Sie besaß eine natürliche leidenschaftliche männliche Vorliebe für den Gebrauch der Waffen und als sie während der Abwesenheit ihres Gatten die Be- kanntschaft des Fechtmeisters S {»ranne machte, ent- sprach es ihrem natürlichen Triebe, sich an diesen, der an ihren weiblichen Reizen Gefallen fand, eng anzuschließen und bei ihm Unterricht in der Fechtkunst zu nehmen ; dabei zeigte sie eine solche Geschicklichkeit und machte so schnelle Fortschritte, daß sie bald ihren Lehrmeister überholte und imstande war, es mit dem geschicktesten Fechter aufzunehmen. Ihrem Lehrer und Liebhaber folgte sie nach Marseille. Hier zwang die Not des Lebens das Paar, noch von

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anderen ihrer natürlichen Anlagen als dem Fechttalent Gebrauch zu machen, und da beide eine gute Stimme besaßen, so wurde es ihnen nicht allzuschwer, an der Marseiller Oper Beschäftigung zu finden. Als Sängerin wollte Frau Maupin nicht Madame Maupin sein, sondern nannte sich Mademoiselle Maupin und sie wurde wegen ihrer hervorragend schönen Stimme, einem Konteralt, der ausgesprochene Liebling des Publikums. Indes nicht lange sollte diese Oper des Besitzes der Maupin sich erfreuen und die Schuld daran trug ein Liebes- abenteuer.

Der Maupin, die es liebte, Männerkleidung zu tragen, hatte sich als einer neuen Sappho eine so zärtliche Zu- neigung zu einer jugendlichen Marseillerin (aus guter Familie) bemächtigt, daß die Eltern des jungen Mädchens es für nötig hielten, ihr Kind vor den gefährlichen Ein- flüssen der Sängerin zu schützen und in einem Kloster von Avignon zu verbergen. Allein die Leidenschaft macht verwegen. Der Maupin gelang es, den Zufluchts- ort ihrer Angebeteten zu ermitteln und schnell ent- schlossen meldete sie sich im Kloster zu Avignon als Novizin an und ward unter ihrem Mädchennamen als Demoiselle d'Aubigny aufgenommen. Ungeachtet sie hier völlig ungestört ihrer Liebe leben konnte, scheint der dauernde Aufenthalt im Kloster ihr doch wenig behagt zu haben; denn als gelegentlich eine Nonne gestorben und eben begraben war, verfiel die Maupin auf einen höchst abenteuerlichen Gedanken, den sie auch zur Aus- führung brachte. Sie grub in der Stille den Leichnam der Nonne aus, schleppte ihn in das Bett ihrer Geliebten, steckte Bett und Zimmer in Brand und benutzte den durch die Feuersbrunst (welche das Kloster in Asche legte) entstandenen Wirrwarr, mit ihrem Herzblatt un- bemerkt zu entfliehen. Als dann später nicht nur die Flucht entdeckt, sondern auch die näheren Umstände

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derselben durchschaut wurden, machte man der Demoi- selle d'Aubigny den Prozeß; es ward zunächst versucht, das jugendliche Opfer ihren Händen zu entreißen (ein Versuch, welcher zwei Gerichtsdienern das Leben kostete); nachdem aber alle Schritte als vergeblich sich erwiesen hatten, wurde sie zum Scheiterhaufen verurteilt, ohne daß sie vor Gericht erschienen wäre [par contumace]; doch dieser Gerichtsspruch ward wieder aufgehoben, als eines Tages die junge Marseillerin bei ihren beglückten Eltern wieder auftauchte.

Inzwischen hatte unsere Heldin in der Provinz ein unstätes Leben voller Abenteuer geführt; sie war aus der Männertracht^ die sie vorzüglich kleidete, nicht her- ausgekommen. Auf ihren Irrfahrten gelangte sie endlich auch nach Paris. Hier debütierte sie unter dem Namen ihres Mannes als Mademoiselle Maupin im Dezember 1690 in der Oper des Palais Royal. In Lully's Oper Cadmus et Hermioue* sang und spielte sie die Rolle der „Pallas". Mit ihrem seltenen Konteralt bei hervor- ragender schauspielerischer Begabuug erntete sie bei ihrem ersten Auftreten allgemeinen Beifall; um ihre Er- kenntlichkeit den Beifall klatschenden Zuschauern kund zu tun, erhob sie sich in ihrem Wagen und begrüßte das Publikum, indem sie ihren Helm vom Kopfe nahm: neues Beifallklatschen! Wirklich war sie sehr hübsch, besaß prachtvolles Haar und eine Adlernase, und voll- kommen schön waren auch ihr Mund, ihre Zähne und ihr Buseu. Ob sie gleich nicht eine Note kannte, wußte sie durch ein erstaunliches Gedächtnis sich zu helfen. So konnte sie ein und ein halbes Jahrzehnt hin- durch — freilich nicht ohne freiwillige Unterbrechung ihrerseits auf der Pariser Oper in den ersten Rollen verwendet werden.

Wenn die Maupin in Paris Lust verspürte, für ihr angetane Beleidigungen sich zu rächen, oder wenn sie

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verliebten Abenteuern nachgehen wollte, so vertauschte sie ihr Frauenkleid mit Mannestracht.

So war sie von einem männlichen Kollegen an der Oper, dem Sänger Dura^ni *), beleidigt worden und wartete seiner eines Abends auf der Place des Victoires; in ihrer Männerkleidung unerkannt geblieben, wollte sie dem Ankömmling den Degen in die Hand zwingen, um sich mit ihm zu schlagen ; da er aber sich weigerte, so gab sie ihm eine Tracht Prügel und entriß ihm Tabaks- dose und Uhr. Am nächsten Morgen gab Dum£ni bei der Probe sein Abenteuer, das viel Aufsehen erregt hatte, zum besteu; allein er erzählte es nicht dem wahren Vor- gange gemäß, sondern mit andern Umständen, indem er sich rühmte, am Abend vorher von drei Straßenräubern überfallen worden zu sein und sich tapfer zur Wehre gesetzt zu haben; die Uebermacht aber habe ihn über- wältigt und ihm Uhr und Tabaksdose entrissen. Nach- dem Dumdni die Erzählung seiner Großtaten beendigt, trat die Maupin, welche unter seinen Zuhörern sich be- funden hatte, vor und rief ihm zu: „Da hast du mal schön gelogen! Du bist nichts weiter als ein feiger Maulheld, denn ich, ich ganz allein, habe dich verhauen; hier hast du Uhr und Tabaksdose wieder; sie sollen als Beweis für meine Behauptung dienen." Ein anderer Kollege der Maupin, der Sänger Gabriel Thdveuard *), der sie ebenfalls beleidigt hatte, fürchtete nach dem Bekannt- werden dieses Streiches der Sängerin, daß ihm Aehnliches bevorstehe ; er fand es für gut, drei Wochen hindurch dem Palais Royal fern zu bleiben, und um sich ganz aus der

•) Dumcni, oder Dumeanil, starb 1715; seine Glanzrollen waren: Atys, Mödor, Phaeton, Renaud, Araadis.

2) Thevenard starb 1741, 72 Jahre alt, ein schöner Baryton- Tenor; er Hang zehn Jahre hindurch mit der Rochois, im ganzen vierzig Jahre (bis 1730), und trank so gut wie er sang („il buvoit aussi bien qu'il chantoit." Anecdotes dramat. III 1775 S. 472).

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Klemme zu ziehen, wählte er schließlich den Ausweg, die Maupin um Verzeihung zu bitten.

Unter den Besuchern des Wintergartens befand sich auch ein gewisser Baron de Servan, ein Geck und Prahl- hans von grenzenloser Eitelkeit. Dieser Mann besaß einen wahrhaft herkulischen Körperbau und eine schallende Stimme, zeigte ein anmaßendes Benehmen und prahlte gern mit den vielen Duellen, die er hervorgerufen haben wollte. Eines Abends ging er wieder sein Ver- zeichnis all der Schönen durch, welche der Leidenschaft für ihn zum Opfer gefallen sein sollten, und redete bei diesem Anlaß abfällig von einer jungen Balletttänzerin , einem Fräulein Pdrignon, deren untadelhafte Aufführung jeglicher Verleumdung trotzte. Ein allgemeines Gemurmel der Mißbilligung einer so unedlen Leistung, welches durch den Garten lief, hinderte den Baron nicht an der Fort- setzung seines albernen Geschwätzes. Da erhob sich die Maupin, welche in einer Ecke des Saales auf einem Polster geruht, schweigend gelauscht und den Baron hatte ausreden lassen, trat plötzlich hervor und wandte sich stolz dem Schwätzer zu; in ihrem männlichen Lieblingsge wände sah sie aus wie ein stattlicher junger Kavalier. „Wahrhaftig*, rief sie, „ich wundere mich über die Geduld der Anwesenden ! Ihre dreisten und dummen Fälschungen fordern nicht allein Zurückweisung, sondern sofortige und ganz exemplarische Züchtigung. Sie sind ein ehrloser Lügner, und ich bin es, der Ihnen dieses ins Gesicht sagt." „Aber bitte, wer sind Sie, mein Herr?" fragte vor Wut bebend der Baron. „Der Chevalier de Raincy ein weit besserer Edelmann als Sie und bereit, Ihnen eine nützliche Lehre zu erteilen," antwortete die Maupiu mit verächtlicher Gebärde. Ihre Lehre aber war von durchschlagender Wirkung. Der Baron erhielt einen Pistolenschuß in den Arm, welcher eine Amputation unumgänglich nötig machte. Und als er erfuhr, daß

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die Hand eines Weibes ihn so zugerichtet, verfiel der Herkules in eine unbeschreibliche, unbändige Wut; er verließ Paris und zog sich auf seine Güter zurück. ')

Der eigenartige Liebestrieb dieses Weibes zu Personen des eigenen Geschlechts war so stark, daß die Maupin von dieser Seite häufig Unannehmlichkeiten sich aussetzte, zumal sie es an aller Vorsicht fehlen ließ. So belästigte sie durch die zärtlichsten Zudringlichkeiten die jugend- liche Opernsängerin Mademoiselle Moreau, wurde von dieser aber abgefertigt. Auf einem von dem einzigen Bruder des Königs Ludwig des Großen in dem Palais Royal gegebenen Ballfest hatte sie, nach ihrer Gewohn- heit als Mann gekleidet, sich dazu hinreißen lassen, einer Dame Anträge zu stellen, welche seitens des männlichen Begleiters der Dame als die größte Beleidigung aufgefaßt wurden. Drei von den Freunden dieser beleidigten Dame, über die Handlungsweise der Maupin entrüstet, beschlossen, sie auf der Stelle dafür abzustrafen, und lockten sie auf den Hof; mutig trat sie heraus, griff zum Degen, schlug alle drei Gegner zu Boden und kehrte, als sei nichts geschehen, in den Ballsaal zurück. Bei dem hohen Ball- geber, dem dieser Vorfall zu Ohren kam, brachte die Maupin es fertig, daß er Gnade walten ließ.

Mitten in ihrem glänzendsten Erfolge als Opern- sängern! kam die Maupiu auf den Einfall, Paris zu ver- lassen und nach Brüssel überzusiedeln. Hier wurde sie die Maitresse des Kurfürsten von Baiern, der, nachdem er ihrer überdrüssig geworden, sie im Stiche ließ, um seine Gunst der Gräfin d'Arcos zuzuwenden. Behufs Ab- findung sandte er der Maupin eine Börse mit 40 tausend

l) Ellen Clayton I 1863 Seite 56-57. Für diese Geschichte mit dem Baron de Servan, deren Quelle die Clayton nicht angibt, habe ich eine französische Urquelle nicht aufgefunden und schliefe daraus, daü mir doch noch eine auf die Maupin bezügliche UrqueUo niuU entgangen sein.

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Franken und den Auftrag, Brüssel sofort zu ver- lassen. Als Ueberbringer dieses Auftrages und der Geld- summe war kein andrer als der Graf d' Arcos selbst bestimmt worden. Die Maupin empfing den Abgesandten, wie man einen Diener empfangt; sie nahm die Börse und warf sie ihm an den Kopf mit den Worten, das sei der Lohn für einen Geschäftsmann wie er. So verließ sie Brüssel mit einer vom Kurfürsten von Baiern ihr zuge- standenen Pension von jährlich 2 tausend Franken.

Die Erzählungen von dem wunderbaren Spanien, welche ihr zu Ohren gekommen waren, erregten ihre Einbildungskraft und sie redete sich ein, daß in diesem angenehmen und glücklichen Lande ein Erfolg ihrer Kunst ihr sicher sei. Allein schon bald sah sie sich grausam enttäuscht und ging in ihren Vermögensverhält- nissen schnell so zurück, daß sie gezwungen wurde, eine Stelle als Kammerzofe bei der Grätin Marino, der Gattin des Ministers, anzunehmen. Diese Dame war äußerst verdreht und eigensinnig; die arme Soubrette hielt dennoch lange ohne Murren bei ihr aus, da sie, bei allen ihren Fehlern, eine sehr gute Natur besaß und eines sorglosen Temperaments sich erfreute; zuletzt aber war dennoch auch ihre Geduld erschöpft und sie entschloß sich, das ihr lästige Amt aufzugeben, jedoch nicht, ohne vor ihrem Weggang für alles, was sie hier erduldet hatte, sich zu rächen. Als sie eines Tages die Gräfin für einen Hofball zu putzen hatte, brachte die mutwillige Exsängerin beim Ordnen der Coiffure ihrer Dame eine Anzahl kleiner roter Radischen, von ihren ßlättchen umrahmt und mit großen schwarzen Nadeln befestigt, im Nackenhaare ihrer Gebieterin an; Stirn und Schläfen bedeckte sie zur Her- vorbringung einer bezaubernden Wirkung mit Federn der Unterschwanzdecken des Marabut (einer äthiopischen Storchart, Leptoptilus crumenifer Lesson). Die so ge- schmückte Grätin warf eineu wohlgefälligen Blick in den

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Spiegel und begab sich in gehobener Stimmung auf den Ball, woselbst der eutscheidende Eindruck, den sie dort hervorrief, sie in eine Aufregung wonniger Eitelkeit ver- setzte, bis ein vorsichtiger Freund ihr die Wahrheit ge- stand. Schleunigst verließ sie rot vor Schani und vor Wut fast erstickend in ungestümer Hast den Ballsaal. In fliegendem Zorn erreichte sie ihre Wohnung, um ihn an der verräterischen Kammerzofe auszulassen; aber es war zu spät diese hatte klugerweise ihre Rück- reise nach Paris bereits angetreten.1)

In Paris trat sie wiederum bei der Oper ein, ohne jedoch ihre großen Erfolge der früheren Zeit wieder erriugen zu können. Sie schloß sich nun dem Grafen d'Albert an, einem ehrlichen Liebhaber, der sie schon einmal umworben hatte, anscheinend der einzige Mann, dem die Maupin eine gewisse Anhänglichkeit bewahrte. Auf einmal aber gab ihre Laune ihr ein, sich von allen ihren Liebhabern loszusagen, mit den außer ihrer Gage allein ihr verbleibenden Mitteln des Kurfürsten von Baiern ein regelmäßiges Leben zu führen, ihren bis dahin ver- nachlässigten Ehemann nach Paris kommen zu lassen und mit diesem in vollständigster Einigkeit bis zu seinein im Jahr 1701 erfolgenden Tode zu leben.

Endlich um die Mitte des Jahres 1705 die Maupin war jetzt 32 Jahre alt entstand bei ihr der Plan, auch dem Theater zu entsagen. Da sie nichts Folgenschweres zu unternehmen pflegte, ohne ihres redlichsten Liebhabers, des Grafen d'Albert, Rat einzuholen, für den sie so viel Achtung wie aufrichtige Freundschaft empfand, so schrieb sie diesem, teilte ihm ihren Entschluß, sich von der Welt zurückzuziehen, mit und bat ihn um seine Ansicht darüber; sie erwarte, daß er diesen ihren Entschluß billige, um

') Elim Cluyton 1 Seite 59—00. Auch von diesem Passus, dem Aufenthalt der Maupin in Spanien, gilt das in der Fußnote Seite G99 dieser Arbeit Gesagte.

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ihu mit desto größerem Vertrauen unternehmen zu können. Das Schreiben der Maupin war der Anlaß zu einer Ant- wort des Grafen, welche von dem starken und nachhaltigen Eindruck Zeugnis gibt, den die Maupin auf den Grafen gemacht; der erhaltene Teil dieser Antwort lautet:

Bedenken Sie auch, an wen Sie sich wenden? Ist es meine Religion, die Sie auf die Probe stellen wollen, mein Herz, meine Gefälligkeit? Und rechnen Sie etwa darauf, indem Sie mich um Rat befragen, daß ich Herr genug meiner eigenen Empfindungen sei, um Sie in den Ihrigen bestärken zu können? Haben Sie die Vorstellung von dem gänzlich verloren, was ich Ihnen gegenüber bin ? Man will mich zwingen, mein eigenes Unglück gut zu heißen heißt das nicht, mich zu all' meinem Unglück noch beschimpfen? Und verdienten nicht Sie, für Ihre Ungerechtigkeit dadurch gestraft zu werden, daß ich gegen Sie Partei für die Welt nähme ? Dessen bin ich gewiß, daß bei Ihnen kein Zweifel besteht über den An- teil, den ich an allem nehme, was Ihr Glück bewirken kann; allein übersehen Sie dabei nicht, daß Sie das, was Sie erstreben, nur auf Kosten meiner Wünsche erreichen können und nicht ohne daß es mir meine Ruhe raubt? Müssen Sie nicht furchten, indem Sie mich nötigen, für das, was Sie treiben, mich zu interessieren, daß ich mir alle Mühe gebe, Ihnen den geplanten Schritt zu wider- raten? Und können Sie sich verständigerweise einem Manne anvertrauen, dem es unmöglich ist, ohne Verrat an seinen eigenen Interessen, ehrlich und aufrichtig zu raten? Das alles wissen Sie; in dem Augenblick, in welchem Sie der Welt entsagen, gehen unsere Wege aus- einander. Welch einen Koloß von Güte machen Sie aus mir, damit ich der guten Meinung, welche Sie von mir hegen, entsprechen könne! Und wie schwer kommt es mir zu stehen, daß ich Sie von meiner Aufrichtigkeit überzeugt habe! Es fehlt nur noch, daß ich mich von

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mir selbst loslöse, um mich ganz Ihnen anzupassen; daß ich alle Gefühle von Empfindlichkeit und Zärtlichkeit ersticke; daß ich endlich Ihnen gegenüber eine Sprache führe, welche den wahren Regungen meines Herzens schnurstracks zuwider läuft, und daß ich mich opfere, um Ihnen zu gefallen. Niemals wirkt die Vernunft so mächtig auf die Natur. So setzen Sie denn auf dieses Opfer den vollen Lohn, den es wert ist; es ist das größte, welches ich gebracht habe und je in meinem Leben bringen kann/ Im Verlaufe des Schreibens entwickelte der Graf d' Albert der Maupin alle Gründe, welche sie veranlassen könnten, der Welt weiter anzugehören, ohne ihr zu ver- schweigen, daß noch triftigere Gründe ihr die Weltent- sagung nahelegten, und konnte so nicht umhin, die Mau- pin in ihrem Beschlüsse zu bestärken. Und die Maupin führte ihren Entschluß auch aus; sie zog sich in ein Kloster zurück, in welchem sie (im Gerüche besonderer

Heiligkeit) schon im Jahre 1707 verstarb.

* *

Karl Heinrich Ulrichs hat die Absicht gehabt, in seiner geplanten Zeitschrift „Uranus" unter den „histo- rischen Urninginnen * zuerst der „Fechtmeisterin Maupin* ein Biogramm zu widmen1); diese Absicht hat er leider nicht ausgeführt; es ist hier der Versuch gemacht worden, das Versäumte nachzuholen.

Aus den im Literatur-Anhänge aufgeführten, die Maupin betreffenden wenigen Schriften sind hier die französischen Quellen zu Grunde gelegt; das der englischen Quelle Entnommene ist besonders ange- geben. Zusätze der deutschen Darstellung, deren Quellennachweis ich nicht führen kann, sind durch eine runde Klammer ( ) kenntlich gemacht.

■) K. H. Ulrichs: „Prometheus", Leipzig, Serbe, 1870, Seite SO» unter 9).

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Es wäre im höchsten Grade verwunderlich, wenn der reiche Romanstoff dieses kurzen Menschenlebens nicht einen Nachdichter gefunden hätte. Er ist ihm auch ge- worden: in der Person des französischen Schriftstellers T lyophile Gautier(1811 1872), welcher in seinem kecken Roman „Mademoiselle de Maupin*1) die Natur unserer Heldin in durchaus selbständiger Erfindung durch Umgestaltung in eine Art Zwitterwesen mit Beibehaltung ihres Namens verwendet hat. Er läßt sie in der Gesell- schaft unter dem Namen Madelaine de Maupin als Weib und unter dem Namen Theodore de S<?rannes als Mann auftreten und legt ihr selbst ein unzweideutiges Bekennt- nis ihrer Zwitternatur in den Mund: ,In Wirklichkeit, weder das eine noch das andere der beiden Geschlechter Mann und Weib ist mein Geschlecht, ich besitze weder die schmähliche Unterwürfigkeit, noch die Aengstlichkeit, noch die Kleingeistigkeit des Weibes; ich habe auch nicht die Fehler der Männer, ihre widerliche Schlemmerei und ihre rohen Triebe: ich gehöre einem dritten Sonder- Geschlecht an, das einen Namen noch nicht erhielt : höher oder tiefer stehend, mangelhafter oder vollkommener*);

l) Theophile Gautior, Modenioiselle de Maupin, Paris, E. Renduel, 183b. 8°. Nouvelle edition, Paris, G. Charpentier Co., 1885, 1 vol., 421 Seiten.

A. B., La preface de Mademoiselle de Maupin dans l'edition originale et dans les editions actuelles. in: La Curiosite litteraire et bibliographique, premiere serie, Paris, 1. Liseux, 1880. Seite 159 bis 104.

Ein Porträt der Maupin habe ich leider nicht aufgetrieben. Der Homan Gautier's aber scheint auf die Phantasie darstellender Künstler mehrfach befruchtend eingewirkt zu haben; so bringt Aubrey Beardsley in seinem „The later work. With upwards of 170 designs, including 11 in photogravure and 3 in colour.4' London 1901 in 4°, als Frontspice ein Phantasiebild der „Mademoi- selle de Maupin'4 in Männertracht.

a) Dieses ist die Uebersetzung des Motto Seite 094 dieser Arbeit.

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mir ward der Leib und die Seele eines Weibes, der Geist und die Kraft eines Mannes und ich habe zu viel oder nicht genug vom einen und vom andern, um mit einem von beiden mich paaren zu können."1)

Literatur über die Maupin.

a. Die französischen Quellen:

Anco dolos Dramatiques. Tome troisieme. Paris, Duohesne.

1775. Article „Maupin". Seite 328—334. Biographie universelle ancienne et moderne. Nouveile Edition.

Paris, C. Deplaces. Tome XI. 1852. Article „Dumeni ou

Dumcsnil" par Z. Seite 515. Tome XXV II. 1860. Article

„Maupin" par A. B-t. Seite 881—332. Biographie universelle des MusicienB et Bibliographie

generale de la Musique. Deuxieme edition. Par F. J. Fetis.

Paris (8 Bände und 2 Suppleinentbände). Tome VI. 1870.

Seite 36—37.

Bibliotheque historique illustre. L'ancienne France. Le Theatre: Mysteres Tragüdie Comedie et la musique: instrumenta Ballet Opera jusqu'en 1789. Ouvrage illustre de 22* gravures et d'une Chromolithographie. Paris, Firmin- Didot & Cie. 18*7. Auch: Le Theatre et la Musique. 304 Seiten in 8°.

Dictionnaire des Operas par Felix Clement et Pierre La- rousse. Paris, Administration du gnind Dictionnaire uuivereal. Ohne Jahr. Article: „Cadmus et Hermiono". Seite 128.

b. Die englische Literatur: Clav ton (Ellen Creathone): Queens of Song: boiog memoire of some of the most celebrated teruale Vocalists who havo appe- ared on the lyric »tage, from the earliest days of Opera to the present time. To which is added a chronological list of all the operas that have been perforraed in Europe. By Ellen Creathone ('layton. In two Volumes. London, Smith, Eider & Co. 18M in 8°. With six portraits. Vol. I. With 2 portraits. XVI und 382 pg. Vol. iL With 4 portraits. 452 pg. Urber die Maupin handelt Band I Seite 52—61.

') Theophile Oautier, Mademoisellc de Maupin, nouveile edition, Paris, 1885, Seito 398.

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c. Die deutsche Literatur:

Schilling (Gustav): Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexikon der Tonkunst Neue Ausgabe. Stuttgart, Franz Heinrich Köhler. IV. Band. 1840. Seite 606—607.

Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theater- freunde. Herausgegeben von R. Blum, K. Herloßsohn, H. Marggraff. Altenburg und Leipzig, Expedition des Theater- Lexikons (H. A. Pierer, C. Heymann). Band V. 1841. Ar- tikel „Maupin": Seite 258-259.

Paul (Oscar): Handlexikon der Tonkunst. 2 Bände. Leipzig, Heinrich Schmidt. 1873. Zweiter Band. Artikel „Maupin": Seite 86.

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628 ist in Fußnote B) vor Appun zu ergänzen: Rcichard 1877 Seite 502;

649 muß es in Zeile 5 der Fnßnote ') heißen: Jacobs VI 1837 (1828) Seite 456— 4fi8; (1823) Seito 464—492.

657 Zeile 1 der Fußnote e) ist zu lesen: griechische statt: griebische

701 Zeile 1 der Fußnote ') ist zu lesen: Mademoiselle statt: Modomoiselle

Druck von G. Reichardt, Groitzsch.

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