Specielle Pathologie und Therapie der ...

Heinrich Schüle

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H. SCHÜLE.

KLINISCHE PSYCHIATRIE,

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HANDBUCH

der

Speciellen PatMop ui Therapie

bearbeitet von

Prof. H. Ausplte in Wien, Dr. V.Babea in Budapest, Dr. A. Baer in Berlin, Prof. Chr. Baeumler in Froiburg. woiL Prof. C. Bartels in Kiel, Prof. J. Bauer in Mönchen, Prof. V. F. Birch-Hirschfeld in Leipzig, weil. Prot. H. v. Boeok in München, Prof. B. Boehm in Leipzig, Prof. O. Bollinger in Manchen, Dr. H. Oursohmann in Hamborg, Baur. L. Degen in Kogonsburg, Prof. W. Ebstein in Oottingen, Prof. W. Erb in Heidolberg, Prof. F. Erismann in Moskau, Prof. A. Eulenburg in Berlin, Prof. C. Flügge in Göttingen, Prof. J. Forster in Amsterdam, Prof. B.Fraenkel in Berlin, Prof. O. Fraentoel in Berlin, weil. Prof. N. Friedreich in Heidelberg, Prof.E. Geber in Klaosenburg, Prof. A. Geigel in Wünburg, woil. Dr. F.Haenisoh in Groifawald, Prof. A. Heller in Kiel. Prof. H. Herls in Amsterdam, Prof. O. Heubner in Leipzig, Prof. A. Hilger in Krlangen, Prof. Li. Hirt in Breslau, Prot E. Hitzig in Halle, Prof. G. Huguenin in Zürich, Prof. H. Immormann in Basel, Prof. F. Jolly in Straasbarg, Prof. Th. Juergensen in Tübingen, Prof. A. Kunkel in Wünburg, Prof. A. Kussmaul in Strasburg, weil. Prof. H. Lebert in Vetey, Prof. O. Leiehtenstem in Köln, Dr. B. Lesser in Leipzig. Prof. W. Leube in Würzburg, Prof. C. v. Liiebermeister In Tftbingen, Dr. G. Merkel in Nürnberg, Dr. P. Biiehelson in Königsberg, Prot F. Mosler in Qreifswald, Prof. B. Naunyn in Königsberg, Prof. A. Neisser in Broslau, Prof. H. Nothnagel in Wion, weiL Prof. F. Obernier in Bonn, Prof. J. Oertel in München, Prof. M. v. Fettenkofer in München. Prof. E. Ponfick in Breslau, Prof. H. Quincke in KieL Dr. F. Benk in Mün- chen, Prof. Fr. Riegel in Giossen. Prof. E. Rindfleisch in Würzbnrg, Prof. S. Rosenstein in Leiden, Prof. H. Ruehle in Bonn, Prof. O. 8ohroeder in Berlin. Prof. Ii. Sohrötter in Wien, Dr. H. Schule in nienau, weil. Prof. O. v. Schuppet in Tübingen, Dr. A. Schuster in München, Prof. E. Schwimmer in Budapest, Prof E. Seit?, in Wiesbaden, Prof. H. Senator in Berlin, Prof. J. Soyka in Prag, Dr. A. Steffen in Stettin, weiL Prof. J. Steiner in Prag, Prof. Th. Thierfelder in Rostock, Prof. Ii. Thomas in Freiburg, Dr. P. G. Unna in Hamburg, weil. Dr. E.Veiel in Cannstatt, Dr. Th.Veiel in Cannstatt, Prof. A. Vogel in Dorpat, Prof. E.Wagner in Leipzig, woiL Prof. H. Wendt in Leipzig, Dr. A. Weyl In Berlin, Dr. G. WoLffhügel in Berlin, Prof.

in Erlangen. Prof. H. v. Ziemssen in München, Prof. W. Zuelser in Berlin

Herausgegeben

von

Dr. H. v. Ziemssen,

Professor der klinischen Medicin in München.

XVI. HAND.

DRITTE AUFLAGE.

LEIPZIG,

VERLAG VON F. C.W.VOGEL. 18S6.

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KLINISCHE PSYCHIATRIE.

SPEC [ELLE PATHOLOGIE UND THERAPIE

DHU

GEISTESKRANKHEITEN

VON

Dr. HEINRICH SCHÜLE

««

IN 1LLKNAU.

Dritte völlig umgearbeitete Auflage.

MIT 3 ABBILDUNGEN.

LEIPZIG,

VERLAG VON F. C.W.VOGEL. 1886.

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I

Das Uebersetzungsrecht ist vorbehalten.

Herrn Geheimrath Dr. C. Hergt

DIRECTOR IN ILLENAU

ZUGEEIGNET.

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Vorwort.

Die nachstehende Darstellung umfasst die Schilderung der speci eilen Formen des Irreseins. Sie erscheint, wenn auch als weitere Ausfuhrung des betr. Capitels meines früheren Handbuchs, doch als eine vollständig neue, auf breiterer Grundlage angelegte, mit möglichster Berücksichtigung nicht allein der typischen Bilder, sondern auch der Variationen, sowohl in den Zeichencomplexen selbst, als in den Verlaufsarten, der Mischung und den Uebergängen der einzelnen Zustandsformen. Indem zugleich auch die wichtigern einschlägigen Capitel aus der allgemeinen Psychopathologie einge- flochten sind, stellt das Buch den Versuch einer „klinischen Psychiatrie" dar. Von einer eingehenden Besprechung der Aetiologie musste dabei, schon des Umfanges der Schrift wegen, abgesehen werden; dagegen ist die Prognose und namentlich die Therapie, dem praktischen Zwecke einer klinisch vollständigen Darlegung entsprechend, gebührend berücksichtigt.

Das zu Grunde gelegte Material stammt nur aus hiesigen Be- obachtungen, theils aus der eigenen jetzt nahe an 25jährigen Er- fahrung, theils aus den Aufzeichnungen früherer Mitarbeiter. Wenn ich unter diesen den Namen unseres leider zu früh verstorbenen Dr. Kast (späteren Bezirksarztes in Freiburg) hervorhebe, so genüge ich einer schuldigen Anerkennung für diesen lieben Freund und aus- gezeichneten Beobachter. Der Beschränkung auf das hiesige Material lag die Absicht einer möglichst unabhängigen Darstellung zu Grunde, deren Ergebnisse, soweit sie mit anderwärts gemachten zusammen- träfen, frei und selbstständig diese letzteren zu bestätigen geeignet wären. Darnach möge auch die Verwerthung der Literatur im Texte bemessen werden, welche aus obiger Rücksicht in engeren Grenzen sich halten durfte.

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X

Vorwort.

Für die zwei Capitel des epileptischen Irreseins und des Idio- tismus schulde ich einen grossen Theil des Materials und manchen schätzbaren Wink der Freundlichkeit meines hiesigen Collegen Frz. Fischer und namentlich des Collegen Wildermuth in Stetten. Beiden möchte ich hiermit meinen geziemenden Dank abstatten. Auch mein Freund v. Kr äfft- Ebing sei nicht vergessen.

Dass ich dem Buche den Namen meines verehrten Freundes und Collegen Hergt vorsetzen und dasselbe dem hochverdienten Manne zur Feier seines 50jährigen Jubiläums Uberreichen durfte, gereicht mir zur besonderen Befriedigung. Sei es ihm, neben dem Ausdruck pietätsvoller Gesinnung, zugleich ein Andenken an das gemeinsame schöne Wirken in unserem Illenau, dessen Emporblühen das höchste Streben seines reichen Lebenswerkes, dessen segens- volle Erfolge zum grossen Theile das Verdienst seiner Arbeit, seines Beispiels sind!

Illenau, November ISS5.

H. Schüle.

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Iiilialtsverzeiclmiss.

:*eite

Einleitung. Begriffsbestimmung: der SeelenstKruny.

Vcrhaltniss der Lehre der ,.p8ychi.schen" Störungen zu den Ergebnissen der

Hirn phy-iiologie und Hirnanatoroie . . . . . . . . . . . . . . 2

Erfordernisse für die einstige ».nosologische4' ' Krkeimtniss der Seetenstörung 4

Angabe tlos Buchs als eine klinisch-descriptive 5

Eintlieiluug der Seelenslürumren.

Syiuptoinatologischer Standpunkt i\

Wichtigkeit des ., Verlaufs" . T

Der psychologischen Qualität der Kinzelsymptomc qua Keactionsforincn der

Tiefe des patholog. liirnproccsses ... . ' S

Das Moment der „Krankheitsentwicklung" 10

Der Factor der „cerebralen Widerstandskraft' \2

Da3 „rüstige" und das „invalide" Gehirn n

Der ..anthropologische" Standpunkt . . - F* Die ..psychischen Cerebrupat.hieen'S die acuten Frschöptungsformcii de-> tle- hirns idas Pelir. acut.) und die chronische degenerative llirnersc hopfung

ulie progr. Paralyse) - . I1'

Allgeincin-Schcnia der Fintheilung IT

Klinische Charakteristik der Kinzelgruppen l"S

Die Melancholie. Allgemeines.

Literatur 21

Klinische Definition 22

Analyse der Symptome 23

Störungen des Fuhlens und Wollens ... 23

Klinische Haupttypcn 2 1

..Antraf* 26

Erniedrigung des Selbstgefühls 28

Das Wollen .... 2^

Anomalieon des Vorstellcns , , . . . . . . . . . . . . . . . . 2D

Melancholischer ..Wahn" 31

Ailegorieen aus den begleitenden Sensibilitatsstörungen resp. psvehophysische

Function der Neuralgie" . . . . . . . . . ....*, . 31

Melancholischer Verfolgungswahn , Thiermetamorphose , hypochondrische

Wahnbildung . - . . 32

Anomalieen der sensorischen Functionen, Sinnestäuschungen . . '. '. . . 33

Anomalieendersensibeln Functionen ; pathogenetische Function der ..Neuralgie" 33

Vasomotorische Begleiterscheinungen. . . .. 3^

lrophische . . . . . . . . . . . . . 3"

>tnriingen der Respiration. Verdauung, Menstruation, des Schlafes .... 3'>

>limik 39

1 berapie 40

Somatische l'>

XII InhaltäTcrzeichniss.

Opium- und Morphiuminjectionen 42

Bromkali . . . . 41

Korperernahrurig 44

>ahrungsverwcigorung 45

i'sychiscbo . 4(»

iiehandlung der einzelnen Unterformen 47

Specielle Melancholie.

Verschiedener Krankheitsboginn 49

Klinische Typen 61

Weiterverlaut und Ausgango b.s

Massive Melancholie bl

Kaptus inelaiicholicu.H . . - - bb

H y p o c h o n d r i s c h e M e 1 a n c h o 1 i e ~~fiG

Melancholia agitata . "59

lntercurrente acute Wahnsinn aopisodon . . . 59

Melancholische Unterform mit überwiegenden Illusionen .... 60

Chronische Melancholie * Gl

C h r o n i s c h e h y p o c h o n d r i s c h o Melancholio tVA

„Invalide" Mclancholieen: senile 66

IS c uras t h eni sch-tor pide GS

Masturbatorischo . 69

Syphilitische 72

Melancholia attonita 73

Die Manie. Allgemeines.

Literatur 76

Klinische Definition 76

Analyse der Symptome 77

Anomalieen in der ßewegungssphare "77

Anomalieen in der (lenuithssphare

Manisches ..Lustgeluhr' . . 81

Manische Verstimmung'' ... H2

Heigemischte Moral Insanity h'2

Anomalieen des Vorstellens vi

„ldeenliucht" . . . . . . . . 82

Stufeideiter in der Idcenrlucht; manische Verworrenheit Hb

Grössenwahn Hb

Anomalieen der sensorischen, sensibcln, motorischen und trophischen Kuno-

tionen, der Temperatur . 86

Des Körpergewichts, des Schlafs 87

Therapie" ' ...... . 87

Somatische. 87

Bäder HS

llyoscyamin 89

Korperernahrung 90

Psychische. .... 90

Üehandlung der einzelnen Unterformen 91

Spcclelle Manie.

Klinische Eintheilung 92

Mania mitis 93"

Mania typica. 95

lntercurrente acute W a hnsinnsphasen 97

Ausgange 9"B

lumr 9.)

., Melancholische Tobsucht" H'l

.. Z u r n " in a n i e e n IQ'2

Sexual"manieen . . lü^

Moria. 1 < » r>

Mania gravis luii

< ' h r o nis c h e M an ie 112

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Inbaltsverzeicbniss. XIII

Seite

Psychische Schwlchcznstftnde.

Literatur . . . . . . . . , , , , , , , , , , , , , . . . LH

Analyse der „geistigen Schwäche" 115

Klinische Typen. '. . . . . lTl

See und är er Wahnsinn res]), halluciiiatorische Verwirrtheit . . . . 110

Oer Blödsinn s. str. 121

Allgemeine klinische Zeichen desselben 122

Mimik und Physiognomik 125

Krankheitstypen . . . . 1 2t>

Ver s a~t l ler s c c. Bl öd s i nn 12G

Apathischer 127

Therapie 120

1)er Wahnsinn Paranoia.

Literatur , , , , . . , , , . . . , . . . . . , , , : Lü>

Allgemeines . _ 131

Psychologische Analy.se resp. Genese des chronischen typischen Wahnsinns i:TT

Des acuten Wahnsinns ... 13 1

Klinische Ditlerenzen und Zusammenhänge beider . . . . . . . 135

Allgemeine Symptomatologie des chronischen (typischen) Wahnsinns . i:TT

Lhe "„Wahnideen" . . . . . . . . . . . . 137

Formale Genese der letztere; Unterschied der wahnsinnigen von der melan- cholischen Wahnvorstellung 137

.,Vorstelluugs"wahn 13S

..Sinnen"wahn 130

Bedeutung der mitbcgleitcnden anomalen Emptindungen (Sensibilitatsano-

malieen) für die ,,Objcctivatioii" . . . . . . " 130

Bedeutung des „Worts" lur die erkrankte „Symbolik" im Wahnsinn llü

Inhalt der Wahnideen . . 1 TT)

Anomalieen des „Wollens" im W ahnsinn 1 12

Des Fuhlens und der Stimmung 143

Somatische Begleitzeichen . . III

Verlauf 11 l

Therapie 113

Chronischer depressiver Wahnsinn.

Verfolgungswahn . 146

a) Cii t'hrtdc Form:

Klinisches Bild 14ü

Wahl des Wahnobjects . . . . . . . . . . . .... . . . 147

Bedeutung und zeitliches Verhältnis» der Ilallucinationen, formale Unter- schiede in den letztern LL>

Systematisirung 150

Verlauf 151

Ausgange . . . . . 152

Sei-iuul:\rer Kinf allswahnsinn 152

Zerfall in Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L5_3

., Negativer" Verf'olgungswahnsinn . . 154

b ) CcrfhrtJSffhuiu' Form:

I'hys'ikali scher Verfolgungswahnsinn .... 155

Beginn und Entwicklung. . . . . . 15ii

Ceiitritugale und centripetale Ilallucinationen . .157

Weiterverkauf. . . 15S

Mögliche Genesung. . 15'.»

In günstiger Weitervcrlauf . . . . 15'.)

Auttreten von episodischem hypochondrischem Wahnsinn .15'.)

Jntercurrenter Stupor, Grössen wahn H>u

Ausgang in secuiu aren WTahusiuu resp. halluc. Verwirrtheit 1(>0

I'e^enerativer (meist onanistischer) Wahnsinn U>1

Verfolgungswahn auf Grundlage von Tabes lt>2

Li tersuehtswahn bei Frauen. . lo2

XIV Inhaltsvcrzeichniss.

Eifersuchtswahn bei Männern : . , , , , , , , , . , , . ]M

Schwangerschal tswahnsinn . . . 103

Manische Form des Verfolgungswahns 163

Melancholische Form des Verfolgungswahns 164

C ouipli eirender Gross enwahn . . 165

..Abortiver" Verfolgungswahn 168

Der chronische expansive Wahnsinn Iü.»

Klinisches Bild Itifl

VVciterycrlauf und Ausgänge 172

..Negativer" expansiver Wahnsinn 17:>

Subacutc Varietät 174

Der acute Wahnsinn.

Allgemeine Symptomatologie . . . . 1"5

Zusammenhange und Unterschiede von der Melancholie. Manie, u. dem Stupor 176

Verlaut . 177

Ausgänge . . . . . . . . . . . 1"^ >peciclle Symptomatologie; Der a c u t e h al 1 u ein at o ri s e h e 'Wahnsinn

Typus a): Der acute und peracute e.xaltirte tmenstruale) Wahnsinn. IM

Typus b): Der subacute manische Grössenwahnsinn . . . . . 1n2

Typus c): Der acute und subacuto hallucin. Vertolgungswahnsiun . ]yi

Typus d): Der acute, erst depressive, spater expansive Wahnsinn . \s\

Typus e): Der acute, gleichzeitig depressiv-expansive Wahnsinn . . lv>

Typus f): Der acute hypochondrische Wahnsinn . 1*>H

Typus g): Der acute (subacute) eercbrospinale Wahnsinn .... 186

Der a c u t e m e 1 a n c h o 1 i s c h e W a h n s i n n 1 87

Der acute manische Wahnsinn . , : : : , : , ; : .. , , , VA1

Therapie 193

Der attoniscue Wahnsinn die Katatonie.

a) Religiös -expansive Form 1%

Status attonitus 11)7

Verlauf . . . ,_, , ^ ._, , , , . '2( MI

b) Depressive (dämon oman o) Form 200

..KaUtonei" Uranaitorischer) lilodsiiin 201

Klinische Varietät dieses letzteren '>()'»

..Geberdun"- Verrücktheit 202

Verlaut' und Ausgange . 203

Neuralgische Unterform dieser damonomanen Gruppe . . . 2o4

..Hysterische" Katatonie 2o7

,.Ka"tatone Manie" .... 2o7

Status attonitus

Weitorverlauf in ilie Genesung 21'»

Ungeheilte >ccundarzustände . 2 1 1

Die acute primäre Dementia.

Literatur . : . . . t , , , , . : ; ; . . . : : . : , 211

Klinische Charakteristik und Eintheilung , . 212

Unterschiede des ..organischen" und des ..psychischen" Stupor . . . 2i:t

Des organischen Stupors und der Mclanch. attonita. . 214

at Der organische Stupor d. h. die acute primäre Dementia mit

Stupor 214

KrMnkluMt-j.ihl ... . ~!ÜX

Ausgänge . - 2 1 S

..Fostmanischer" Stupor . . 2ll>

Stupide hallucinatorischo pr. Dementia 220

Krankheitsbild 220

Verlaut' und Ausgänge 222

Anbang: Der „Pseudo" (psychische) Stupor.. 225

Uebergangsloriocn iPseudostupor mit traiisitoriscueni Status atton ) . . . 229

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Inhaltsverzeichniss.

XV

b) Die acute primäre Dementia ohne Stupor. Postfebrile

Formen, Formen aus aus traumatischer und toxischer Entstehung

22*>

Versatiles Blödsinnsbild

22.)

230

231

Djis liYstpriselH* Irresein

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237

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Chronisch dei>enerativer hysterischer Wahnsinn

24«»

Degenerativer h y s t e r i s c h er B 1 o d si n n

2:»o

2.-)l

Zulässigkeit ev. Indicationen für eine gynäkolog. Behandlung

•j;.2

Behandlung der spcciellen hysterischen Irreseinszustande ....

251

Das epileptische Irresein.

t » . .

255

25ti

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1 v it ii n ui Ilg* iHi ^ t ^ it i 1 imi t i u ik ^ S t n m (i r

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üj i'hs atuio posiopiicpiiscne angsiiicne uciirium

25S

V a r*i ßtpn

\ ..t*liotf/iTi finü Ii. » w 1 1 u 1. 1 u *>i t\u iiii/l /Im* hVinnnriinif

Jon

l^ziehuiiuen des acuten epilept. Irreseins zu den Krainplinsulten .

201

A 1 1 11 1 S L II U IjJ .S l 11 L 1 11 U 11 L; n Ii 1 S 1 1 Ii II l'S ]) 1 1 ]) I. Ii 1 l! ä l! 1 11 S

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^Sita a 1 1 &~ i* rn-'t T\tf» i c 1 i'ii9A1 /• Vi f* Ii

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Der epileptische Charakter

264

1 Ii rt O TI 1 1 i\ Y'\ f 1 c (>n A 1 | |t T ' 1 ii n 9

i

2o8

-m

271

271

Transformation in Hysterie

271

Anhang: Die jaoendKchen Epileptiker

271

272

Genetische- Beziehungen zu den verschiedenen klin. Formen der Kpilepsie

273

Die intercurrenten acuten psychischen Störungen bei jugondl. EpileptiKern

274

Das hypochondrische Irresein.

Literatur '.

277

277

27*>

2$1

2^2

J'er chronische hypochondrische Wahnsinn ihypuch. Marasmus)

2*-3

ed by Google

XVI Inhaltsverzeichniss.

Psychische Neurasthenie 2S4

Therapie 285

Die periodischen circulllren und alternirenden Psychosen.

Literatur 2ST

Kliaischü Allgeincincharaktere 2ST

Die periodische Manie ... 2SS

Klinische Typen 2S9

„Juvenile" form 293

Intervall 293

Entwicklung und Verlauf 295

Ausgange 297

Körperliche Symptome . . 295

Die periodische Melancholie 298

Die circulären Geistesstörungen 2'.".*

Allgeincincharaktere . . . . . . . . . . . . 300

Klinisches Symptomcnbild : a) Di e circuläre Manie 3u2

b) Per circuläre Wahnsinn 3Ö4~

Die melancholische Phase 305

Das Intervall 307

Weiterverlauf 308

Die ,.degenerativc,t Melancholie 309

ci Der circuläre Stu por . . . . . . . . . . . . . . . 3nu

Zeitliche Gruppirung der Paroxysmen in den periodischen und circulären

Psychosen 3 in

Die alternirenden Psychosen :w>".

Körperliche Begleitsymptome 319

Anhang-. Die menstrualen Psychosen . . . . . \ ' '

Kinfluss der Menstruation ijn Allgemeinen auf bereits bestehende Seelen-

Störungen 323

Das Delirium acutum.

Literatur 325

Klinische Begriffsbestimmung und Kintheilung 325

1. Die irritaUvcH formen:

ai Uns Delirium acutum maniacalc 32(j

hl Das Delirium acut, in der allgemeinen Paralyse. . . . 33u

o Das Delirium acutum melaucholico-stupurosum , . . 330

2. Die Inanilions formen :

Das Delirium acutum anergeticum s. paralyticum 334

Pathologische Anatomie ......... ~ 336

Mikroskop Befund . . . . . . . . .

Rechtfertigung der klinischen Sonderstellung des Delirium acutum als eines eigenartigen Symptonienmodus und Symptomenverbatids mit charakte- ristischer" Verlaufsform " * ~. 33S

Therapie 340

Die typische allgemeine Paralyse (Paralysig progressiva).

Literatur .341

Klinische Begriffsbestimmung 342

Analyse der Symptome ^43

aj * Psych isc h e : Verhalten des Bewusstseina und der höheren seelisch"!)

Functionen; des Vorstellens ~. 343

Paralytischer Grössen wahn 344

..Negativer'' Grössenwahn 344

Anomalieen des Gemüthslcbens 34;»

Der Willenssphäre 347

Kurense Acte J 34 7

b) Mo t o r i s c h e : Sprache, Schrift 34s

..Manische Aphasie" . . 34S

sd by Go

Inhaltsverzeichnisse X£U

Paralytische Paralexie . . 349

bt orangen in Gang, Haltung, Bewegungen 350

Verhalten der Sehnonretiexe . . . °

Störungen in der Zunge 351

Mimik 352

Pupillen 352

Stimme 35'2

Peplutition 353

Urinentleerung t 353

Convulsioncn 353

Apoplektifonuc Anfalle . . 355

c) Sensorielle und sensible Störungen 3ö5

Sehstörungen; Asymbolie nach paralyt. Anfallen 3öT>

Kopfschmerz . 3og

Sexuelle Functionen 35T

dl Vasomotorische und trophische Störungen 357

Tepiperaturverhältnisse . . . . .* . . . . . . . . . . 357

Verhalten des Harns. Uthämatomc. Parenchymatöse Muskeldegenerationcn.

Hautentzündungen und -Ausschlage, Haarveränderungen etc H S

Klinisches Krank heil sbild. Typische» Bild. Manische Form . 35S

Remissionen ^61

Schlussstadium 362

Varietäten im klinischen Symptomenbitd:

a) Hypochondrische Paralyse 363

Circuläre" Paralyse 364

Paralyse mit Verfolgungswahn und Hallucinationcn :tC4

Ii" Primär demente l'aralysc . . . . . . . . . . . . 3tU

Variationen dieser aus einer anfänglichen Schwächenielancholie mit erst-

postponirenden motorischen Zeichen " 36t>

Paralyse nach acuten febrilen Krankheiten 366

Varietäten iin klinischen YcrlaufT~

..Congestive" Paralyse 366

L unier- Baillarger'sehc Paralyse •••••• 36"

Secundar einsetzende Paralyse als Folgestadium einer vorausgegangenen

andern Psychose ••••••• "... 367

Sehr langer und sehr kurzer Verlauf 36"

iu-Tiiissionen, ,.lntcrmissionen" und Genesungen :Ujs

Verlaufsdaucr der typischen Form . . . 36'J

J 'a i/to 'of/ischt' An atoni ie .

Makroskopisch ' 3H9

Mikroskopisch 370

Versuch einer Nosologie 372

Paralyse der Frauen :t75

Therapie 3 7 Ii

Die psychischen Cerebropatlileen (niodiflcirteu Paralysen).

Literatur . ._. , . . . . . s . , s . , , , , , . 378

..l'aralyse" aus grundliegender Perienceph. chrun. und sub-

acuta oder Fncc]ihalitis subactila . 379

Klinische Charaktere der .»galoppironden'' Paralyse . . 3Sl

Patholog. anat. Befunde. Zusammenhänge mit gewissen Formen der Mania

gravis 392

Complictrendo Pacchymeningitis . . . . . . 3"$3

Grundliegende p r i m a r e . n i c h t- en t z ü n d ] Ii c h c Hirnatrophic . 3S6 G r u n d I i o g e n d e primäre 11 i r n a t r o p h i e m i t e n t z ü n d 1 i c h c n K e i z -

ersch ei n u ngen 389

Fernen tia senilis gravis 391

Paral y sen na c h A p op 1 e x ieen . . . . . . - 393

G rn ndliegende disseminirte H ir nr ü c k cnmar ks k 1 c rose . . . . 393

Par a ly s c n ac h m u 1 1 i p 1 cn Ca p i 1 1 ar e k ta s i cen 391

Paralyse bei Hirntumoren 394

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XVIII Inhaltsferzeichniss.

Tabischo Paralyse etc :u>4

Syphilitische Paralysen 3'jc»

Therapie lüu

Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.

Literatur 401

Allgemeines . 4u2

Diu speei fischen A 1 ko h o 1 p s yc ho s en : Die acuten pathologi-

s c h e n Ii a n s e h z n s t ä n d o . 404

Forenses . . . . . . . . . . . . . , . . , , . . . . . Aiih

Der acute Trinkerwahnsinn 4o5

Varietäten 4li^

Der chronische Trinkerwahnsinn a) depressiver Natur 4o(J

1>> eialtirtcr Natur 410

Der chronische Alkoholismus 41»

Körperliche Symptome m

Psychische resp. der alkoholistisclie Charakter 412

Klinische Folgezustande des chronischen Alkoholismus 41H

Das Delirium tremens . . . . . . . . . . . . . . . . . 4_L1

Delirium tremens febrile 417

Alkoholistische Pseudoparalyse 417

A 1 k o ho Iis tisch e P aral y so . 41U

Wciterverlauf des chronischen Alkoholismus : Sccundarzuständo .... 421

Alkoholistischo Manioen , , , , , , , , , , , , , , , . 422

A 1 k o h o Ii sti s ch e M e 1 a n c h o 1 io e n , , , , , . . , . . . , . A21

Alkohol-Epilepsie 424

Therapie 425

Das hereditttre Irresein.

A. Allgemein pathologischer Excurs 42G

Literatur . . , . , , , , . , . ■. ■. = , , . . . . 42JJ

Kintheilung 427

/ Cornllarien aus der Erblichkeitslehre 427

//. Klinische aUgcm. patholog. Grundlagen: Zwangsvorstellungen und

ZwaiK/s acte 432

Verhalten des Bewußtseins 4;<2

Der Stimmung 43-t

Emotive und nicht-emotive Zwangsvorstellungen ........ . . 433"

Psycho!. Charakter : einlache u. convulsive Zwangsvorstellungen iGrubelsuchtt 4lU

Sensorische Zwangsemptindungen . . . . . . . . . . . . . . . . ■YM'>

Klinisches Verhalten bVzugl. des Auttretens und der Kellexe auf die Go-

mflths- und Handlungsspharo '. 437

„Krisen" 4:^

Zwangshandlungen '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. '. ', . '. TTTTi

I m p ü 1 s i v e ' ' A c t e 4TT

Psychologischer Mechanismus 4TT

Frage der „Monomanicen" 442

Stehltrieb 443

B r a n d s t i f t u n g s t r i e b 44:j

Mord tri eh . 443

Dipsomanie 444

Erotomanie 44ä

Agoraphobie . . . . 440

Körperliche Begleitsymptomo . 447

Contrarc S e x u a 1 ein p f i n d u n g 447

Forenses 4 !'■>

Therapie 450

B. Die hereditäre Neurose nach Entwicklung und Verlauf 451

Klinischer Allgenicincharakter 451

Krankheitsbild 451

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Inhaltsverzeichniss. XIX

Seite

Dementia acuta praecox 453

Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4">3

Klinische Charaktere der hereditären Melancholie en und

Manieen und des hereditären Irreseins überhaupt .... 454

Ansgängo 456

Anhang: Transitorische Psychosen 457

Literatur 457

Formen 4T>S

Transitorische Manie 45S

Klinische Varietäten 4!>9

Tran sitorisc her manischer Wahnsinn. ä , . : . . , . . . 4iiü

Transitorischcr Stupor 461

Allgemeinhetrachtung 4C2

Acutes Irresein, alternirend mit Asthma 4*>:<

T r a n s i t o ri sc ho n ou ras t h en i s c h o Psychosen . 4b;t

Poracnte gewöhnliche Irreseinsformen; Unterschied der letztern von den

>I>ecinsch „transitorischen" l'>4

Therapie 4(i4

C. Pas einfache hereditäre Irresein: iMalailie du doute et dutoucher) 465 Anhang: Der Querulantenwahnsinn 170

D. Originäre Verrücktheit . . . 475

Entwicklung 476

Charaktertypen 478

Klinische Formen 479

Typisches Bild: Gemischt depressiv-exaltirto Form 4Si>

Klinische Finzeltypen IST

Weitervcrlauf 1^1

Besserungen und „Heilungen" 4S3

Uchergang in Chronicität 4S3

..Paralogik*' in den Ideenassodationen und Handlungen IS3

Die verschiedenen klinischen Formen des Ausgangs 4S4

,,Thior4cult Seitens Mancher dieser originär Verrückten; partielle Gelehr- samkeit und Kunstfertigkeiten . . . . . . ... . . . . . 4£4

Die chronischen ..Winkcladyocatetr' in den Asylen 485

Blödsinnige Abstumpfung, Perversitäten . . . . 496

Somatische Todesursachen; oft consecutivor Frontwechsel des Wahns . , isr>

E. Das degenerative erbliche Irresein die Moral Insanity . . . . 487

Klinische Begriffsbestimmung 4S7

Allgemein- Psychologisches ... 4S8

Die anergetischo (torpide) und crethischo (reizbare) Form des sittlichen

Blödsinns 4SS

K r a n k h e i t s h i 1 d 4BQ

Entwicklung . 490

Irresein d o r B u m m 1 er u n d V a gab u n d en 41> 1

^Veitcrentwicklung . . . . . . . 492

Heizbare" Form der M. I. bei verheiratheten Frauen 493

Die „krankhafte Bosheit" in den M. I. Acten 494

I> ie d e ge n er ati ve n Man i een 495

Ausgänge 495

Therapie 496

Der Idiotismus.

Literatur . t , , , , , . , , , , , , : . : , . . , . . , m

Klinische Begriffsbestimmung 497

Psycholog, klinische Kintheilung 49S

_ I. Der idiotische Blödsinn 49S

Kliiiische Symptome . . . . _^ . 499

2. Der idio ti sc ho S c h wach sin n 500

a) Der hochgradige, nicht-bildungsfähigo idiot. Schwachsinn . . . 501

XX Inhaltsverzeichniss.

Seit*

Klinische Symptome 501

b) Der idiotische Schwachsinn mittlem und leichtern Grades . . . 503

Klinische Allgemeinsymptome 504

Klinische Typen 505

Die Hebephrenie 508

Körperliche Complicationen der Idiotie 509

Die Schädel formen der Idioten und die. natürlichen Familien" 51 1 Tabellarische Zusammenstellung der Insassen von Stetten (Württemberg)

nach den Schadelformen 512

Pathologisch-anat. Casuistik 512

Register 516

Berichtigungen.

S. 355 Z. 19 v.u. lies: Porencephalieen statt Parencephalieen. S. 408 Z. 5 v. u. lies: paralgische statt paralytische.

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Begriffsbestimmung der Seelenstörung. Aufgabe des Buches. Die Begriffsbestimmung der „Seelenstörung" kann nach unserem heutigen Standpunkte nur erst eine psychologische sein. Wir verstehen darunter eine „Krankheit der Person", wodurch deren Selbstbestimmungsfähigkeit aufgehoben wird.

Gesicherte Erfahrungen am Krankenbette haben im Vereine mit physiologischen und psychologischen Experimenten schon lange die Abhängigkeit der seelischen Leistungen im Allgemeinen; die Ge- schichte der Aphasie, klinisch und post mortem, erweitert durch die Ergebnisse der neuesten Localisationsstudien auf der Hirnoberfläche uns auch den Zusammenhang bestimmter seelischer Functionen mit corticalen Herdläsionen kennen gelehrt Dazu kommen die autopti- schen Ergebnisse von psychisch Kranken selbst, welche für einzelne Gruppen wenigstens mitbegleitende organische Hirnbefunde nach- weisen. Wir sind somit berechtigt der obigen Definition die spe- cifische Differenz beizufügen: „Krankheiten der Person, beruhend und verursacht durch eine Hirnaffection".

Bei dem heutigen Stande unseres Wissens erscheint dieser Satz ver- allgemeinert als ein Machtspruch; aber er ist eine durch Physiologie und Pathologie gleich begründete Forderung. Nicht, als ob wir deshalb die Diagnose einer Geistesstörung erst von dem Ergebniss der Section abhängig machten so wenig wir uns aus dem Reichthum und der Feinheit der p. m. vorgefundenen Windungen erst rückwärts über die intellectuelle Befähigung intra vitam belehren lassen dürfen; die gegen- seitigen Beziehungen sind zweifellos nicht so einfach und direct aber die Petitio irgend einer cerebralen Affection, sofern die psychischen Lei- stungen abnorm waren, steht dennoch unerschütterlich fest, und muss feststehen, wenn Uberhaupt eine Beziehung zwischen Nervenaction und psychischer Leistung vorhanden ist. Diese Relation ist aber für die ele- mentaren Seele nfunctionen, und zwar als eine gesetzmässige, nachgewiesen. Für die höheren Functionen und im Weiteren für pathologische Verhält- nisse liegen freilich die Beziehungen noch ungleich verwickelter. Spe- ciell für die letzteren ist nicht nur der gröbere und feinere anatomische Befund, sondern auch noch der individuelle der hereditären Kraftanlage

Sehfile. Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 1

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Einleitung.

mit in Anschlag zu bringen. Diese Abschätzung, geschweige die Er- kenntniss, ist erst ein ideales Desiderat ferner Zukunft. Dürfen wir auch, wiederum empirisch berechtigt, vermuthen, dass für diesen individuellen Factor die Configuration des Gehirns, speciell vielleicht der Windungen, Hirngewicht u. s. w. einen anatomischen Ausdruck abgibt , so sind dies Alles doch erst Anfänge. Auch pathologische Eigentümlichkeiten in der Hirnentwicklung der Gefässanlage mögen gewiss noch ausserdem mit- spielen (8. u.). Bis jetzt sind wir noch nicht über die allgemeinste Ahnung der vielleicht hier in Betracht kommenden Verhältnisse hinaus. Dazu kommt der hochwichtige Factor der Veranlagung nach Seite der relativen Functionsbeziehung der höheren Hirngebiete zu einander: so der „Sinnesflächen" zu den apperceptiven und namentlich hemmenden Corticalpartieen (Phantasie-Menschen, nüchterne Grübler u. s. w.). Man mag darnach den Werth beurtheilen, welchen der Nachweis einer 'Anä- mie, einer Hyperämie p. m. epikritisch uns bietet! Gleichwohl müssen wir den Weg sorgfältiger autoptischer Forschung unverdrossen weiter beschreiten, wenn wir auch in den daraus gezogenen Schlüssen der ge- botenen Reserve eingedenk bleiben. Ausser dem Gehirn wird auch noch das Rückenmark, der Sympathicus und schliesslich der gesammte Körper- bau, soweit er auf die normale oder beeinträchtigte Ernährung des Ner- vensystems im Einzelfall Beziehung haben kann, in die Untersuchung ein- zubeziehen sein. Unsere jetzige Aufgabe liegt vorwiegend noch im psy- chophysischen Gebiet, wird aber fortschreitend in's anatomische sich zu vertiefen bestrebt sein müssen.

Psychologisch macht Ein Krankheitszeichen nie das Wesen einer Seelenstöruug aus: ein noch so barocker Gedanke, eine einzelne anomale Stimmung oder Handlung, ja selbst eine Sinnestäuschung reichen dazu nicht hin. Es ist bekannt, dass Hallucinationen unter gewissen Bedingungen auch bei Gesunden vorübergehend vorkommen können; auf der andern Seite fällt der Aberglaube mancher „Ge- sunder", welcher den entlegensten Wahngebilden Verrückter nichts nachgibt, an sich noch nicht in das Bereich der specifischen Geistes- störung. Es muss die geistige Gesammtperson betroffen sein, so dass diese in ihrem Denken, Fühlen und Handeln nicht mehr von frei beweglichen, der Reflexion und Kritik zugänglichen Prämissen und Motiven bestimmt wird, sondern von einer (dauernd oder mo- mentan) unverrückbaren, dem Ich aufgedrungenen Directive seien es Vorstellungen oder Gefühle welche, wenn aufgerufen, unbe- strittene Obermacht haben und ausüben. Der geistige Zwang ist es, welcher das Wesen der Seelenstörung ausmacht. Oft steht der Kranke als ganze Persönlichkeit unter demselben; anderemale steht er theoretisch (reflexiv) darüber; das Entscheidende in beiden Fällen ist, dass er denselben nicht wegräumen, durch Logik nicht Uber- winden, durch seinen Willen nicht hemmen kann. Dieser „Zwang"

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Einleitung.

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ist es, welcher, wie wir annehmen müssen, in der grandliegenden organischen Hirnkrankheit begründet and darch diese Uber die psy- chischen Functionen verhängt ist; andernfalls wäre es nur „Irrthum" oder „moralische Schwäche4', und als solche psychisch corrigirbar was in der wirklichen Seelenstörung nicht möglich ist. Es ist immer eine Gesammtaffection der Indi vidual-Seele, welche sie zu einer „kranken" stempelt.

Damit ist aber nicht gesagt, dass alle Seelenäusserungen in einem gegebenen Falle auch gefälscht sein müssen. Es gibt eine grosse Gruppe von Störungen, für welche die Eingangs erwähnte Definition sammt der soeben gegebenen Erläuterung zutrifft, und welche dennoch einen mehr minder grossen Besitz von geschonten Vorstellungsreihen, von richtigen Gefühlen, correcten Handlungen noch aufweist. Gleichwohl sind die Träger im vollen Sinne des Wortes „geisteskrank". Der Springpunkt liegt hier darin, dass, wenn auch nebensächliche Vorstellungskreise an- standslos beschritten werden können, die krankhafte Hemmung dennoch und immer eintritt, sowie das Ich als solches, als Person, engagirt wird. Da stürzt sofort der täuschende Bau der „freien Beweglichkeit gemäss dem inneren Werthcharakter der Vorstellungen und der objectiven Be- gründung der Gefühle" zusammen, und der „Zwang" steht fertig. Es gibt keine partielle Seelenstörung; diese ist immer eine allgemeine, wenn auch dauernd oder vorübergehend gewisse Kreise partiell intact bleiben. Der „Zwang", und mithin das entscheidende Moment für Seelenstörung, ist nicht dann allein als gegeben zu betrachten, wenn im Einzelfalle die Handlung im Sinne der speeifischen Wahnrichtuug erfolgt, sondern all- gemein, sowie die Wahnvorstellung sich fixirt und, in die Ich-Gruppe eingedrungen, oberste Prämisse geworden ist (Verfolgungswahn). Diese Anerkennung ist eine unerlässliche und durch keine formalistische Klü- gelei zu bemäkelnde Forderung; denn wer wollte sich vermessen unter den zugegebenen Bedingungen zu sagen, wann etwa (bei den zahl- losen Verschlingungen in der unergründlichen Seelentiefe) eine solche falsche Prämisse bewusst oder unbewusst ihren bestimmenden Eiufluss nicht geübt habe? Die forense Untersuchung darf deshalb nie allein bei der analytischen Betrachtung stehen bleiben, sondern muss immer auch noch eine synthetische sein. Ein bemerkenswerthes Memento liefert in diesen Fällen mit Hecht die vox populi, welche darum meist so sicher geht, d. h. urtheilt, weil sie synthetisch verfährt. Viel mehr als die Verstandesdefecte beweisen aus diesem Grunde die charakterolo- gischen Aenderungen, das disharmonische, im Ganzen ergebnisslose Streben selbst bei nicht auffallend alterirtem Gedankeninhalt.

Eine Einsicht in die Nosologie des Hirnprocesses, dessen Re- sultat wir „Seeleustörung" nennen, ist bei unsrer heutigen Erkennt- niss noch nicht einmal in den ersten Anfängen möglich. Wir wissen nicht, welche anatomischen Hirnpartieen im wesentlichen dabei engagirt sind. Es sprechen wohl viele Gründe für die Betheiligung

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Einleitung.

der Corticalis und zwar in Form einer diffusen Affection, und hier wiederum für die des Stirnhirns, der Centraiwindungen, obern Schläfen-, und der obern Parietalwindungen. Der atrophirende Degenerationsvorgang speciell bei der allgemeinen Paralyse (dieses Typus einer Erkrankung der Gesammtpersönlichkeit in ihren höchsten psychischen und motorischen Functionsgebieten , im geistigen und körperlichen „Ich") beschlägt mit einer Regelmässigkeit gerade die genannten Partieen, dass wir darin mehr als nur einen Zufall er- kennen dürfen. Auch theoretische (physiologische, entwicklungs- geschichtliche) Erwägungen treten unterstützend hinzu. Aber damit ist vorderhand unser Wissen abgeschlossen. Klinisch ist es sodann weiter höchst wahrscheinlich, dass fUr einen Theil der sog. functio- nellen Psychosen (Melancholie und Manie) das vasomotorische System eine wichtige Rolle spielt. Für einen andern vermissen wir diese nachweisbare Betheiligung; hier bieten sich uns vielmehr in der an- gebornen Hirnanlage, in dem individuellen Hirnwachsthum Momente dar, welche uns die beobachtete Ablenkung von der normalen geistigen Entwicklungsbahn verständlich machen, wenn uns auch uuerkannt bleibt, worin diese Hemmung besteht, und warum sie gerade in einer bestimmten Lebensepoche (Pubertät) in Wirksamkeit trat (here- ditärer Virus). Für eine weitere Klasse leitet uns die Pathogenese auf directe (erworbene) Schwäche- und Erschöpfungszustände des Centrainervensystems (acuter Wahnsinn und Dementia); und endlich für eine letzte grosse Gruppe auf palpable organische Hiruleideu hin, deren Theilerscheinung (Mit-Effect) die Psychose darstellt (Paralysen im Allgemeinen).

Windungs-Configuration, Hirngewicht, fötale Missbildungeu an Gehirn und Schädel, Variationen in der Gefässanlagc im Gehirn geben hier die ersteu Anhaltspunkte für eine künftige anatomische Erkenntniss; die Veränderungen der Blulfülle, des Blutdruckes, die wahrscheinlich ver- schiedenen Effecte der Vasodilatatoren und Constrictoreu, sodann die ex- perimentellen und klinischen Erfahrungen Uber Windungstopographie und Leitungsverhältnisse die nächsten Wegweiser für ein künftiges phy- siologisches Ver8tändniss. Daneben liefert die empirische und ex- perimentelle Psychologie (Wundt) die Richtschnur für eine richtige Deu- tung dieser Funde und für deren Anwendung auf die Klinik, d. h. auf die Verhältnisse am lebenden geistesgestörten Menschen. Nicht ein Weg allein, sondern alle vereinigt müssen beschritten werden, um dem Ziele einer wirklichen Nosologie der Seelenstörung näher zu kommen.

Die Aufgabe, welche der Psychiatrie an diesem gemeinsamen Werke zufällt, ist: 1. das Studium der einzelnen psychopathischen Symptome für sich, und 2. die Erforschung der empirischen Ver-

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Einleitung.

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bände, unter welchen diese Einzelsymptome thatsUchlich zusammen- treten. Der erstgenannte Theil bildet den Vorwurf für die allge- meine, der zweite ftir die specielle Psychiatrie. Daran schliesst sich noch die in ärztlicher, wie in socialer Richtung gleich hochwichtige Ursachenlehre. .

Die nachtolgende Schilderung bezieht sich vorwiegend auf die Ausführung des oben abgegrenzten zweiten Theiles. Sie hat sich zum Zwecke gesetzt die speciellen sy mptomatologischen Krankheitsbilder nach Entwicklung, Verlauf, Endschicksal, und zugleich, soweit möglich , nach ihren vielfachen Uebergängen und Verbindungen zu zeichnen, und zwar aus der Beobachtung am Kranken- bette resp. im Krankenasyle. Sie ist also eine klinisch-descrip- tive, und hat nur dieses eine Ziel im Auge. Excurse über einige, zum klinischen Verständniss erforderliche Punkte aus der allgemeinen Psychiatrie (Zwangsvorstellungen etc.) sind gelegentlich eingefügt. Im Uebrigen und Wesentlichen soll eine möglichst ausführliche Be- schreibung der einzelnen Formen versucht werden, und zwar nicht nur in irgend einem typischen Bilde, sondern in möglichst zahlreichen Modificationen, wie sie eben die tägliche Beobachtung bietet. Es lassen sich auf diese Weise, wie sich ergeben wird, eine Reihe von bald ätiologischen, bald symptomatologischen Untergruppen aus- sondern, welche jeweils aus einer genügenden Reihe von vergleich- baren resp. zusammengehörigen Krankheitsgeschichten innerhalb der typischen Znstandsform sich ergaben.

Die vielleicht da und dort etwas zu grosse epische Breite der Schil- derung möge sieh aus diesem Bestreben erklären, möglichst vieles symptomatologisches Detail, nach einteilenden Gesichtspunkten geordnet, vorzutragen. Vielleicht gelingt es, wenn wir uns erst über Das, was die Beobachtung im unendlichen Formenreichthum uns liefert, nach und nach verständigt haben, uns immer mehr auch Uber die Ge- sichtspunkte allgemeineren Charakters zu einigen, und eine gemein- same Sprache zu finden, in welcher wir uns gegenseitig in der spe- ciellen Psychiatrie verstehen lernen. Die Grundlage für dieses wichtige Ziel wird eine möglichst dctaillirte Symptomatologie bleiben müssen.

Literatur. Neuere grössere Hand- und Lehrbücher, welche das psychi- atrische Gesammtgebiet umfassen, und auf welche für das Folgende ein- für allemal verwiesen wird: Griesinger, Lehrb. der Psychiatrie. Spielmann, Diagnostik der Geisteskrankheiten. Flemming, Pathologie u. Therapie der Psy- chosen. — K cumann, Lehrbuch der Psychiatrie. Leidesdorf, Lehrbuch der Psychiatric 1807. Schule, Handbuch d. Geisteskrankheiten. II. Aufl. isso. Arndt, Lehrbuch der Psychiatrie 1SS3. v. Krafft- Ebing, Lehrbuch der Psy- chiatrie. II. Aufl. 1883. Meynert, Psychiatrie (bis jetzt 1 Theil erschienen). Esquirol, Geisteskrankheiten, übersetzt von Bernhardt. Falret, Maladics mentales. Morel, Traitö des malad, ment. Dagonet, Nouveau traitö des mal. ment. 1876. Guislain, Lecons orales, deutsch von Laehr. Maudsley,

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6 Eintheilung der Seelenstörungen.

Pbysiology and pathology of mind, deutsch von Boehm. Bucknill and Take, Manual. Hammona, Treatise 1SS3. Blandford, Seelenstörungen, deutsch von Kornfeld.

Compendien: Weiss, Compendium der Psychiatrie. Kraepelin, Comp. d. Psych. lSSt. Für den allgemeinen Th eil (Symptomatologie, Aetiologie, Pro- gnose, pathologische Anatomie): Emminghaus, AUg. Psychopathologie 1ST8 (mit Literatur). Für den forensen Theil: Casper-Simon, Handb. d. gerichtl. Medicin. E. Hoffmann, Lehrbuch d. gerichtl. Medicin. v. Kraf ft-Ebing, Lehrb. d. gerichtl. Psychopathologie. II. Aufl. Maschka, Handbuch d. gerichtl. Medicin. Bd. IV, 1SV2. S. ausserdem die Special-Kapitel.

Eintheilung der Seelenstörungen.

Literatur. Classification: Meynert, Allgem. Wiener med. Zeitung l^SO und Lehrb. d. Psychiatrie. I. 1SS4. Leidesdorf, Wiener med. Wochenschr. Spitzka, Am. J. of neur. a. psych. 1SS3. Bini, Arch. ital. 1879.

In unserem Versuche einer Classification gehen wir zunächst vom rein symptoinatologischen Standpunkte aus.

Es ergibt sich darnach eine Reihe empirisch zusammengehöriger, immer wiederkehrender, mit den gleichen psychologischen Charak- teren ausgestatteter Zustandsformen. Es sind dies die Formen eines 1. krankhaft gehemmten, 2. krankhaft gesteigerten, 3. und ge- schwächten resp. aufgehobenen Seelenlebens. Unter einer 4. Gruppe würden sich jene psychopathischen Zustände zusammenfinden, in welchen eine qualitative Aenderung des Seelenlebens in der Rich- tung stattfindet, dass eine anomale Sinnesthätigkeit (primäre Hallu- cination) auftritt, unter Verdunkelung des Bewusstseins; oder aber eine Spaltung des Ich in ein wahngefälschtcs und theilweise ge- schontes mit allmählicher Auflösung der Ich-Hegemonie in alogische und imperative Einfälle, Antriebe, Stimmungen. Bilden davon die zwei ersten Gruppen die Repräsentanten einer krankhaften Seelen- funetion im wachen Zustande, und zwar nach dem physiologischen Typus des depressiven oder heitern Affects (Melancholie und Manie}, so lehnt sich die vierte, der Wahnsinn, zum grossen Theile an die analogen Zustände des physiologischen Traumlebens an. Auch die 3. Gruppe enthält eine Zustandsforra, welche noch dem Traumtypus sich nähert, daneben aber auch eine andere, welche um so entschie- dener an den tiefen traumlosen Schlaf oder an hypnotische Zustände sich anschliesst: die primäre, mehr minder vollständige Aufhebung des bewussten und activen Seelenlebens im Stupor. Der letztern psychologisch auszeichnende Charakter, nur in „wacher" Form und

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Symptomatolog. Standpunkt in der Eintheilung.

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unendlichen Gradstufen, tritt uns endlich auch in einer Gfruppe ent- gegen, welche die Secundärstadien aus den primären affectiven Formen bilden ; wir fassen dieselbe generell als psychische Schwäche- Zustände, als Blödsinn zusammen, und trennen davon die sympto- niatologisch verwandten, aber genetisch verschiedenen, des ange- borenen Schwachsinns als fünfte Gruppe Idiotismus ab.

Phänomenologisch dürfte diese fiinftheilige Gruppirung einen ordnenden Rahmen um die zahlreichen klinischen Bilder gestörten Seelenlebens legen, welcher die praktischen Ansprüche an eine Ein- theilung befriedigen könnte. Auch einer wissenschaftlichen Anforde- rung vermöchte dieser Standpunkt gerecht zu werden, sofern es nur möglich wäre jenen nur symptomatologischen Gruppen auch eine gesicherte ätiologische Grundlage zu geben. Leider ist diese, und damit ein specieller Ausbau in verlässliche ätiologische Klassen, bis jetzt noch nicht durchführbar. Ohne eine solche Specificirung bleiben aber jene grossen, nur äusserlich verwandten Zeichen-Gruppen zn weit und dadurch zu unbestimmt. Eine nur wenig tiefer gehende Untersuchung des casuistischen Inhalts derselben zeigt denn auch sofort innerhalb einer jeden derselben die wichtigsten klinischen Unterschiede. Wir erfahren auf jedem Schritte, dass, trotz überein- stimmender psychologischer Grundzüge im Allgemeinen, die einzelnen Unterarten so erheblich von einander abweichen, dass höchstens noch eine Vereinigung für eine gewisse Zahl eine Art mittlerer Typus bleibt, während nach vor- und rückwärts die klinischen Bilder ans dem Rahmen herausdrängen. Dieselben entbehren der wünschenswerthen Individualisirung, wenn man sie nur psycho- logisch einordnet

Aber auch der Verlauf der in derselben Gruppe nach psycho- logischen Charakteren vereinigten Fälle erhebt Einsprache gegen eine schlechthinige Verschmelzung oder Gleichstellung. Der Verlauf ist ein hochwichtiges klinisches Moment, insofern darin die ana- tomisch uns unbekannte Natur des psychopathischen Hirnprocesses mit einer Deutlichkeit sich enthüllt, welche uns die beachtens- werthesten Schlüsse auf dessen relative Tiefe resp. Oberflächlich- keit gestattet. So können symptomatologisch anscheinend gleiche Krankheitszustände in Heilung Ubergehen, oder gegentheils chronisch werden, oder endlich periodisch wiederkehren, dort als Ausdruck einer c. p. leichtern, hier einer tiefern, sehr oft unheilbaren Hirn- affection. So gewinnt mit Einbeziehung des klinischen Verlaufs-Mo- ments unsere psychologische Betrachtweise bereits eine erheblich grössere Sicherheit und Tragweite in's Individuelle.

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Einteilung der Seelenstörungen.

In gleicherweise zeigt nun auch, genauer betrachtet, die Qua- lität der psychischen Symptome eines jeden der obigen Zeichen- Complexe sei'6 im Verlaufe des Einzelprocesses , sei's beim Ver- gleich der Einzelfälle derselben Gruppe untereinander wesentliche Aenderungen. Das Studium dieses Verhältnisses fuhrt zu dem be- merkenswerthen Ergebniss: dass jene elementaren Reactionsformen eines erkrankten Gehirns (die wir Melancholie, Manie nennen; zwar im Allgemeinen die leichtern und schwerern Phasen einer psychi- schen Hirnaffection begleiten; im Speciellen aber dabei in ihrem psychologischen Charakter sich ändern und zwar je nach der Inten- sitätsstufe der grundliegenden Hirnkrankheit. Den durch das psy- chische Hirnleiden, nach seiner wechselnden Tiefe, geschaffenen verschiedenen „Cerebrationsstufen" entsprechen im Einzelnen be- stimmte Modifikationen jener allgemeinen elementaren Reactions- formen, m. a. W.: das psychologische Symptomenbild einer Melancholie oder Manie ändert sich formal (qualitativ) pari passu mit dem anatomisch-physiologischen Charakter (Tiefe) des Hirnleidens, wenn auch der symptomatologische Typus der genann- ten empirischen Zeichen-Verbände im Grossen und Ganzen derselbe bleibt. Beide, Melancholie und Manie, erweisen sich in ihren verschiedenen klinischen Nuancen als wirkliche „Zustandsformen", welche mit den zugehörenden Cerebral - Zuständen einen gewissen Parallelgang einhalten.

So treten bei tieferem Hirnreiz an Stelle der logischen Ideenflucht (in der Manie) die Verbindungen nach Assonanzen (d. h. nach äusserer Wortähnlichkeit); zugleich werden die „geformten" Bewegungscombina- tionen eckig und ziellos, „reflectorisch" ; bei noch tiefer greifendem Krank- heitsprocess tritt motorische Iusufticienz , Tremor, endlich Ataxie und Lähmung ein. Es ist im pathologischen Gebiete die Wiederholung der experimentellen Thatsache, dass auf adäquate Reize das erkrankte Vor- derhirn „psychisch" antwortet, auf tiefer greifende dagegen mit der Qualität der minderwerthigen cerebralen Accomodation, und endlich nur noch „reflectorisch" in Folge des immer umfassenderen cerebralen Aus- falls resp. Verlusts an psychischen Associationen uud Hemmungen. In diesem Sinne bildet die symptomatologische Analyse der Einzelsymptome ein „Auscultationsphänomen", natürlich nur im Allgemeinen , auf die Qualität, d. h. Tiefe der psychischen Ilirnerkrankung. Dieselbe sym- ptomatologische Nuancirung finden wir im psychomotorischen Gebiet beim Stupor, je nachdem dieser eine vollständige Pause der psychischen Func- tionen, oder aber auf einer höheren Stufe nur eine Hemmung durch lebhafte hallucinatorische Innenvorgänge darstellt.

So vertieft sich mit Einbeziehung des „Verlaufs" und der

Symptomen -„Qualität" unser anfänglicher rein symptomatologischer

Standpunkt zu einem klinisch - pathologischen. Wir unterscheiden

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Symptomen-Qualität u. Verlauf als ,.Au8cultat". Phänomene d. psych. Hirnkrkht. 9

nunmehr: „psychische" und „psychisch -organische" Melancholieenf Manieen und Stupor -Zustände, und lernen dieselben speciell nach der Qualität der sie zusammensetzenden Elemente trennen und dar- nach den klinischen Zeichen- Verband selbst mit leichtern oder tiefern Hirnerkrankungen in Beziehung setzen.

So sind im Speciellen die klinischen Symptomenbilder: a) der Me- lancholie mit (aus) überwiegenden Illusionen; b) des depressiven hallu- cinatorischen Stupors, und c) der stupiden (organischen) Melancholie mit begleitenden InnervationsstÖrungen aus primärer Hirnatrophie generell zwar aus denselben Elementen zusammengesetzt, im Einzelnen aber eben geschieden durch die Qualität der Symptome, durch deren psycho- logisches Verhältnis* zu einander und zur kranken Person, und ferner durch die Aufeinanderfolge resp. den klinischen Verlauf. Bei a) sind die psychischen Elemente der Melancholie nach dem Aftectschema geordnet, es findet sich ein waches Ich vor, der Verlauf ist psychologisch ver- mittelt und zusammenhängend ; bei b) ist es ein deliranter Bewusstseins- zustand, ein trauroartiges Ich, ein abrupter (nicht mehr durch psycho- logische Folge verknüpfter) Wechsel der ineinander Ubergehenden Einzelphasen; bei c) endlich ist eine primäre und progressive geistige Schwäche das wesentliche Moment, und die Melancholie nur noch acciden- telle Form; der Verlauf vollständig irregulär, direct durch die Hirnkrank- lieit vermittelt, unter Anfügung palpabler cerebropathischer Symptome.

Nur die grosse Gruppe des „primären Wahnsinns" will sich diesem Eintheilungsprincipe aus der Qualität der psychischen Symptome nicht fügen. Es handelt sich bei dieser um psycho- pathische Zustände, in welchen krankhafte Sinnenreizvorgänge mit einer geschwächten Urtheilsfäbigkeit infracorticale sensuelle Hyper- ästhesieen und Hyperergieen mit corticaler Anenergie zusammen- treten, und zwar theils neben, theils ohne Erhaltung des „formalen Schlussapparats des Gehirns", der Logik und Systematik. Hier liegt das Verhältniss zwiscben psychischem Krankheitssymptom und In- tensität der Hirnstörung anders. Während in den melancholischen und manischen Zuständen die Tiefe der Bewusstseinsstörung, welche sich in der qualitativen Abänderung der psychischen Symptome kund- gab, einen verlässlichen gewissermaassen proportionalen Grad- messer für die Tiefe der Cerebralaffection im Allgemeinen bezeichnet, so ist hier (beim Wahnsinn) der Mangel oder gegentheils die Erhal- tung des Bewusstseins von keiner analog verwendbaren Tragweite. Wir erfahren sogar bei dieser Gruppe, dass die Zustandsform des W ahnsinns mit erhaltenem Ich und erhaltener Logik viel ungünstiger, ja sehr oft unheilbar verläuft, demnach auf eine schwerere Hirn- störung zu beziehen ist, als die Wahnsinnsformen mit einem ver- worrenen ballucinatorischen Traumleben. Dagegen gewinnt hier

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Einteilung der Seelenstörungen.

wiederum der klinische Charakter des Verlaufs, ob diese Zustände acut oder chronisch sind, eine um so entscheidendere Bedeutung.

Damit wird jetzt ein erweiterter Standpunkt gewonnen. Verfolgen wir einerseits den „Verlauf" in diesen psychischen Zustandsformen und berücksichtigen wir andererseits gleichzeitig das vorhin gewon- nene psychologische Princip der gesetzmassig variabein Symptomen- qualität, so finden wir, dass beide klinische Kategorieeu gleichfalls in einem gewissen Zusammenhang, in einer Art Parallelgang, ver- mittelt durch die Hirnaffection, stehen. So folgt typisch auf den Beginn der Anstieg zur Krankheitshöhe, auf diese das Declive; die einzelnen Phasen sind psychologisch vermittelt und stehen in einer unläugbaren Proportion, so dass der psychologisch tiefer- werthigen Manie auch eine c. p. längere Verlaufsdauer (Schwäche- Nachstadium) entspricht, dem raschen und scheinbar leichten Verlauf des acuten Wahnsinns ein mit Vorliebe remittirender Verlauf, gleich- sam ausgleichend, entgegensteht. Obwohl wir noch entfernt nicht alle Bedingungen übersehen, so darf doch allgemein zu Grunde ge- legt werden, dass: je tiefer die Symptomenqualität, oder je über- stürzter die Genese, oder je alogischer die zusammensetzenden Form- elemente (hallucinatorische acute Verwirrung) auch desto länger resp. desto unsicherer, event. desto mehr durch Recidiven gefährdet der Verlauf sich gestaltet, und damit desto ernster der momentane Eingriff in das Hirnleben veranschlagt werden muss. Dies führt uns zum Gesichtspunkt der Krankheits entwicklung. Wir lernen darnach Fälle kennen, welche eine im Vergleich zur Ursache verhältnissmäs8ige Krankheitsstärke, und so auch eine zu letzterer adäquate Krankheitsdauer mit Wachsthum, Acme, Reconvalescenz zeigen. Daneben aber treffen wir eine grosse andere Casuistik, welche nach einer vergleichsweise leichteren ätiologischen Schäd- lichkeit sofort oder in überstürztem Decursus mit jenen qualitativ tieferwerthigen Symptomenbildern antwortet. Es ist die Analogie mit der geläufigen Thatsache aus der innern Medicin, wonach ge- schwächte nervöse Constitutionen viel rascher auf cerebrale Schäd- lichkeiten (Fiebertemperatur, Alcoholica) durch Delirien und Muskel- Ataxieen reagiren, als kräftige Naturen. Wir erlernen nun weiter aus der Tages-Erfahrung, dass die Primärpsychosen des rüstigen Nerven- lebens ausnahmslos mit einem melancholischen Vorstadium beginnen, welches sich gemeinhin nach dem Typus eines normalen depressiven Affects aufbaut und entwickelt. Wir begreifen dieses Vorkommen als die natürliche Reaction des bis dahin noch gesunden Ich, wel- ches auf jede innerlich gefühlte Aenderung am intensivsten, wenn

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Bedeutung der „Krankheitsentwicklung"

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diese seine psychische Situation betrifft mit einer Gemüthsver- stimmung, einer Wehmuth, einem Schmerz antwortet Die nach- folgende wirkliche Melancholie erscheint hiernach als die Steigerung und Ausgestaltung dieses ursprünglich naturgemässen Affects, und imponirt erst als Krankheit, wenn der letztere bis zur Hemmung des Seelenlebens vorgedrungen, und in weitern nervösen Störungen (sen- sibler und vasomotorischer Natur) sich fixirt hat. Es bedarf nun gerade nicht immer dieser einleitenden emotiven (deprimirenden) Gelegenheitsursache ; es kann auch primär, auf organischem Wege, eine Störung in den geistigen Hirnfunctionen auftreten, welche vom Snbject schmerzlich erfasst, und zum Kern der nun logisch sich weiter entwickelnden krankhaften Depression gemacht wird. Soweit gediehen, hängt das weitere Schicksal des Leidens im Wesent- lichen von der cerebralen Resistenzkraft im Einzelfalle ab. Ist diese eine genügende, so geht das Leiden nach kürzerer oder län- gerer Zeit direct oder durch ein Nachstadium der Ermüdung, ev. eine leichte Exaltation, welche aber ganz in den Grenzen des nor- malen Freudegefühls verläuft, in Genesung Uber. Der Umschlag der anfänglichen Depression in „Manie" setzt, so viel wir bis jetzt aus andern klinischen Gründen zu beurtheilen vermögen, schon eine vergleichsweise verminderte cerebrale Widerstandsfähigkeit voraus, gehört aber immer noch zu den Reactionsformen des „rüstigen" Gehirns, sofern jene (sec. Manie) sich symptomatologisch in dem Rahmen des expansiven Affects bewegt, und den physiologischen Charakter in den Bewegungen, den logisch - associatorischen in der Ideenflucht einhält.

Dieser eben gezeichneten Krankheitsentwicklung steht nun die erwähnte andere gegenüber, welche in wesentlichen Punkten ver- schieden ist. Einmal fehlt das depressive Vorstadium ganz oder beinahe, und die Krankheit setzt brüsk und sofort in einer sympto- matologischen Form ein, welche wir klinisch-psychologisch als einer tieferen Hirnstörung zugehörig erkennen müssen. Es ist, als wären die gewöhnlichen Anfangsstadien Übersprungen, und die Acme des Normal Verlaufs, oder gar Secundärzustände , eröffneten die Scene. Die Melancholieen dieser Gruppe setzen gleich 6chon, oder sehr bald, mit einer überwuchernden Fülle von Sinnestäuschungen ein; die Manieen als Furor-Zustände oder Mania gravis. Der Weiterverlauf ist sehr häufig remittirend, nicht in Einem Anfalle sich erschöpfend. Hierher gehört namentlich auch die Gruppe des acuten Wahnsinns und des Stupors; beide beginnen mit einer primären acuten Functions- schwäche des „Vorderhirns" (des Vorstellungs- und Willensorgans),

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Einteilung der Seelenstöruugcn.

welche beim ächten Stupor sogar bis zu einer vorübergehenden Lähmung sämmtlicher Seelenfunctionen sich steigert. In der by- sterisch-constitutionellen Neuropsychose , deren Wesen zum Theile in dieselbe Schwäche der „Vorderhirn"- Functionen zu setzen ist, genügt oft eine Hallucination, um das Bewusstsein zur Ekstase zu hypnotisiren. Die Hysterie sowohl als die Epilepsie, besonders aber die letztere, brechen gelegentlich mit einer solchen Macht in die psychischen Gchirnfunctionen ein, dass plötzlich und psychisch un- vermittelt die schwersten manischen und wahnsinnigen Episoden zur Entstehung kommen. Auch die Gruppe der Dementia acuta eignet sich hieher, bei welcher die cerebrale Anenergie und Widerstands- losigkeit primär in der Form eines psychischen Schwächezustandes auftritt, wie dieser sich bei anfanglich rüstigem Gehirne erst im langen Verlauf eines unheilbar gewordenen Hirnleidens als secun- däres Schluss6tadium entwickelt.

So führen endlich alle seither versuchten Betrachtweisen und eintheilenden Principien in dem Factor der Widerstandskraft des Gehirnlebens zusammen. Hatte die abänderungsffchige Form in den ursprünglichen psychologischen Symptomencomplexen sich in Zusammenhang mit der verschiedenen Intensitätsstufe der Hirnaffee- tion setzen lassen, so hat jetzt der Verlauf d. h. die Krankheitsent- wicklung jene beiden klinischen Factoren in ihrem Wccbselverhält- niss auf die „individuelle Resistenzfähigkeit" als auf die Beiden ge- meinsame Grundlage zurückgeführt. Nach diesem umfassendem und höhern Eintheilungsprincip unterscheiden wir nunmehr rüstige und invalide Gehirne. Unter die Reactionsformen der rüstigen ge- hören die Psychosen nach der erstgezeichneten Entwicklung, unter die der invaliden Gehirne die zweiten. Unsere soweit begründete Classification umfasst darnach:

1. Psychosen des rüstigen Gehirns: a) Melancholie ; b) Mania mitis und typica; sammt Secundarzuständen ;

2. Psychosen des invaliden Gehirns: a) die schwereren Manieen, der Furor und die Mania gravis; b) der Wahnsinn in seiner chronischen, acuten, attonischen (stupurösen) Form; c) acute, primäre Dementia; d) das hysterische, epileptische und hypochondrische Irresein.

Keben diesen grossen Gruppen erschliesst sich nun weiter ein anderer und wohl noch grösserer Kreis von Fällen, welche sympto- matologisch in dem Merkmal zusammentreffen, dass sie nicht erst, wie die vorhin besprochenen Psychosen, von dem Augenblick ihrer klargestellten Seelenstörung anfangen „krank" zu sein, sondern schon von Jugend auf gewisse geistige Eigenheiten (Excentricitäten,

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Das „rüstige" und „invalide" Gehirn. Deren klin. Rcactionsformen. 13

Originalitäten, unverbesserliche Cbarakterfehler) zeigen. Bei Vielen derselben scheint denn auch die spätere schulgerechte Psychose nicht eigentlich eine nova res, sondern nur die Weiterentwicklung, der endliche „Excess" einer schon ab ovo vorhandenen Anomalie geistiger Anlage zu sein. Bei Andern verläuft die spätere Psychose annähernd nach dem klinischen Typus der sonstigen (oben bespro- chenen) Zustandsformen, aber doch mit gewissen besonderen Zügen, welche den psychisch vollentwickelten Kranken fehlen, und dadurch dieser neuen Gruppe trotz der scheinbaren Zeichengleichheit eine bestimmte Eigenart wahren. Diese letztere betrifft wiederum die Symptomen-Qualität und den Krankheitsverlauf. Nach beiderlei Hin- sicht neigt diese neue Gruppe zu den Psychosen des „invaliden" Gehirns hin wohl ein Fingerzeig fllr die nahe nosologische Ver- wandtschaft jener und der originär belasteten Krankheitsfamilien.

1. Bezüglich der Entwicklung genügt hier eine relativ ge- ringe Ursache, manchmal selbst ein physiologischer Vorgang (Pubertät, Climacteriom, Menses, Gravidität) zur Hervorrufung der eigentlichen Psy- chose, während dort, bei rüstiger Normalanlage, das Gehirn erst einem entsprechend schwereren Eingriffe unterliegt. 2. Bezüglich der Sym- ptome: hier zeigt sich (wie beim invaliden Hirn) eine grosse Neigung zu Delirien, zu Zwangsgedanken und Zwangshandlungen; die Wahnvor- stellungen sind inhaltlich mit Vorliebe barock, phantastisch, unmotivirt durch die Stimmung, den Kranken nicht seiton verblüffend gegenüber den logischen, aus der Stimmungsäuderung entwickelten und den Kran- ken selbst befriedigenden („erklärenden") Wahngedanken des „rüstigen" Melancholikers. Hier grosse Neigung zu relativer Lucidität, zu „par- tieller" Seelenstörung, sodass die gesunden und kranken Vorstellungs- kreise sich gegenseitig neben einander bewegen und vertragen; eine vor- wiegend krankhafte Betheiliguug der affectiven Seelensphäre, und zwar als originärer Mangel (moralische Defecte) neben vergleichsweiser Scho- nung des Verstandes; dort: mehr minder allgemeine Störung der See- lenfunctionen. Endlich im Symptomenbild als Ganzem: hier eine pro- teusartige Combination, ein Gemisch der verschiedensten Zustandsformen, oft mit buntem, gesetzlosem Wechsel und unberechenbarer Aufeinander- folge, oder gegentheils ein jahrelanges Stationärbleiben mit langsamem, schleppendem Niedergang, jedoch ohne iu wirklichen Blödsinn Uberzu- gehen; dort: ein psychologisch und physiologisch gesetzmässiger Verlauf, ein zusammenhängender, durch eine vasomotorische Neurose oder trophische Constitutionsanomalieen vermittelter Krankheitsproccss, dessen Einzelphasen verschiedene, nach Analogie des Zuckungsgesetzes (Arndt) miteinander verknüpfte Stadien darstellen; bei ungünstigem Verlaufe Ausgang in fort- schreitenden Blödsinn (absterbender Nerv). 3. Nach dem Verlauf: hier sehr oft ein jäher Einsatz mit ebenso raschem Abbruch der eigent- lichen Psychose; Ausgang in den neuropathischen Zustand quo ante; dort: langsame folgerichtige Entwicklung mit successivem Anstieg und allmählichem Abfall; Ausgang in Heilung oder secundäre psychische

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Eintheilnng der Seelcnstörungen.

Schwächeznstände; hier grosse Neigung zu periodischen Anfällen und circulären Verbänden von Zustandsformen ; dort: einmaliger Ablauf, höch- stens mit der Disposition zu Recidiven, je mehr sich das „rüstige" Ge- hirn dem „invaliden" nähert. Hier endlich vielfache Neigung zu ver- frühtem psychischen Stillstand (Dementia praecox), oder aber zu fort- schreitender geistiger Entartung (degenerative St5rungsformen mit Moral Insanity); dort: zur Genesung.

4. Bezüglich der Wirkung auf die Descendenz: hier die Neigung zur progressiven Degenerescenz; dort zur Vererbung der einfachen neu- ropathischen Prädisposition.

Diese grossen und tiefgreifenden Gegensätze, welche sich so eben in der Gegenüberstellung der ab ovo „organisch Belasteten" er- geben, dienen nun aber nicht allein zur schärfern klinischen Er- fassung beider, sondern fördern auch nach vor- und rückwärts unsere Classification. Die einschneidenden Zeichenunterschiede, welche sich in den beiden „natürlichen" Familien aufthun, ordnen sich zwar wohl dem vorhin gewonnenen Princip der „Widerstandskraft des Gehirnlebens" unter; aber sie lassen das „rüstige" Gehirn jetzt weiter als ein „vollentwickeltes" erfassen, und gewinnen m. m. zu dem „invaliden" auch noch die „prädisponirten" Anlagen hinzu. Wie sich oben ergab, vereinigen sich die beiden letztern in denselben wesentlichen Reactionsformen. Indem wir so die verminderte cere- brale Resistenzfähigkeit als eine erworbene und als eine ange- borene erproben, treten wir von dem engern klinischen Betracht- punkte auf den erweiterten anthropologischen Uber. Wir lernen die functionelle Gehirnstörung, welche wir als Seelenstörung be- zeichnen, theils als das Werk des Lebens, theils als die Wirkung einer funesten Mitgift kennen, erfahren aber weiter, dass sie nur im ersten Falle als eine „rüstige" Psychose sich zu äussern vermag, und zwar wiederum nur dann, wenn das Gehirn ein ab ovo ent- wickeltes gewesen war. Der „Invalide" kann es werden auch durch spätem Erwerb; ist es aber immer, wenn die psychische Anlage un- zureichend war. Im Einzelnen scheiden sich die „Belasteten" wieder in: einfache psychische Schwächlinge (s. o.), und in wirkliche Defect- menschen (s. heredit. Neurose).

Von diesem Standpunkte aus erweitert sich nun unsere Ein- theilnng zu folgendem Schema:

I. Psychosen auf Grundlage organo-psychischer Vollent- wicklung: 1. Psychosen des rüstigen Gehirns (s.o.); 2. Psychosen des invaliden Gehirns (s. o.). Als Anhang fügen wir hier noch unter c. die periodischen, circulären und alternirenden Psy- chosen ein, weil diese genetisch sich glcichmässig unter die vollentwickelt- invaliden und unter die defect- degenerativen Constitutionen vertheilen,

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Psych. Cerebropathieen. Gruppe der Typ. Paralyse a. d. Delir. acut. 15

keiner der beiden ganz (der letztern wohl vergleichsweise mehr) zuge- hören und so die natürliche Uebergangsgruppe bilden.

II. Psychosen auf Grundlage defecter organo-psychi- scher Anlage, resp. Constitution. Hierunter reihen sich speciell ein: 1. die hereditäre Neurose; 2. das einfache hereditäre Irresein das Irresein mit Zwangsvorstellungen; 3. die originäre Verrücktheit; 4. das degenerative erbliche Irresein die Moral Insanity ; 5. der Idiotismus mit den Typen angeborener geistiger Defecte oder erworbener Entwicklungshemmung.

Für die Untergruppe 3. ist der Name „Verrücktheit" beibehalten im Gegensatz zu dem sonst vielfach Symptomengleichen (nur durch die fehlenden Degenerescenzzeichen unterschiedenen) chronischen Wahnsinn, um durch die Nomenclatur auch die differente anthropologische Stellung beider Zustandsformen, speciell die angeborene logische Verschrobenheit, welche hier wirklich in anomale Bahnen „verrückt" ist, zu kennzeichnen.

Aber auch mit diesem Detail der Eintheilung ist das Ganze der klinischen Symptomengruppen noch nicht erschöpft. Ein Theil der letztem erstreckt sich nämlich auf das Gebiet der functionellen Psychosen, d. h. derjenigen psychischen Cerebralleiden, bei welchen die klinische Beobachtung nur psychische, oder mit einfachen sen- siblen und vasomotorischen (trophischen) begleitete Störungen, letztere in Eintritt und Verlauf mit den erstem gleichen Schritt haltend, auf- finden lässt. Daneben hebt sich nun noch ein anderer und sehr an- sehnlicher Theil ab, bei welchem ein organisches Hirnleiden in Form selbstständ'ger klinischer (vor Allem grob - motorischer) Symptome nachweisbar ist. Wir bezeichnen diese Gruppe als psychische Cerebropathieen. Darunter reihen sich vornehm- lich ein:

a) die chronische, acute und subacute Meningo-Periencephalitis; b) die Pachymeningitis mit Hämatom; c) die diffuse sclerosirende Ence- phalitis; d) die diffuse Encephalitis mit begleitender Herderkrankung; e) die diffuse Encephalitis im Gefolge von Neubildungen; f) die chro- nische Periencephalitis mit vorausgegangener oder begleitender Tabes spinalis; g) die Encephalitis syphilitica; dazu kommt noch h) der Alco- holismus chronicus.

Das wesentliche symptomatologische Bild aller dieser organisch- psychischen Hirnleiden ist Blödsinn mit Lähmung.

Nunmehr sind immer noch zwei Krankheitsgruppen nicht ein- gereiht, wovon die eine zwar nur eine kleinere, die andere da- gegen eine ausserordentlich grosse (immer mehr zunehmende) Zahl von Fällen umfasst: das Delirium acutum und die allgemeine pro- gressive Paralyse. Beide gehören nicht schlechthin zu den einer bestimmten pathologisch-anatomischen Erkrankung zu unterstellen- den Hirnkrankheiten (also nicht ohne Weiteres zu den psychischen

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Eintheilung der Seelenstörungen.

Cerebropathieen). Die eine davon, die Paralyse /.ar1 l$oxrtv, verläuft zwar symptomatologisch auch unter dem Bilde von Blödsinn mit Lähmung, hat aber sowohl in der Qualität gewisser Einzelsymptome, als namentlich auch in ihrem Verlauf ihre specifischen Eigenheiten, welche eine klinische Sonderstellung nicht bloss rechtfertigen, sondern verlangen. Dazu kommt, dass der als charakteristisch beanspruchte anatomische Erfund bei dieser sog. klassischen Paralyse erst den spätem Verlaufsstadien des Leidens zugehört, nicht auch schon den frühern, welche bereits die klinisch voll entwickelte Krankheit in die Erscheinung treten Hessen. Ich glaube deshalb auch heute noch, das9 wir die Frage nach dem viel umstrittenen Wesen des genannten Krankheitsprocesses noch als ungelöst betrachten und vorerst prä- judizlos die anatomische Ursache als eine „tiefe Ernährungsstörung des Gehirns mit dem Charakter höchster Gefahr" resp. fortschreiten- der Zerstörung auffassen müssen (s. Weiteres unter „Typ. Paralyse"). Wenn hiernach (wenigstens nach meiner Auffassung) die klassische Paralyse weitaus mehr das Senium praecox (und zwar des vollsaf- tigen auf seiner biologischen Leistungshöhe stehenden, speciell des männlichen Gehirnlebens) denn eine „Entzündung" s. str. darstellt, so darf sie auch nicht einfach den organischen Hirnkrankheiten nach dem Typus der chronischen Meningitis und Encephalitis zu- gezählt werden. Wohl aber bildet sie zwischen diesen und den schweren fnnctionellen Psychosen des invaliden Gehirns den klini- schen Uebergang. Das Delirium acutum entbehrt gleichfalls bis jetzt der anatomischen Grundlage, wenn auch immerhin dessen kli- nische Symptome und namentlich der sehr peroiciöse Verlauf für eine ausserordentlich tiefe Schädigung, nicht bloss des psychischen, 6ondem des gesammten Ilirulebens unzweideutig sprechen. Gemein- sam ist beiden Gruppen das ätiologisch- klinische Moment der „Hirn- erschöpfung", auf welchem sie entstehen, und zum Theil auch bis zum Schluss verlaufen. Ich möchte dieselben nach diesem Moment benennen: das Delirium acutum als „acute Hirnerschöpfung mit dem Charakter der Gefahr", die chronische Form der klassischen Paralyse als „chronische Hirnerschöpfung mit dem Charakter fort- schreitender Entartung" und beide Gruppen unter einer eigenen Klasse vereinigen, welche als solche zugleich den Uebergang ver- mittelt zwischen den Psychosen des invaliden Gehirns und andrer- seits den eigentlich organischen psychischen Cerebropathieen.

Endlich ist noch eine letzte Gruppe nachzutragen, welche ihre Aus- zeichnung in einem wesentlich ätiologischen Begleitsmomente besitzt, und zwar: a) in einer mitbegleitenden körperlichen Erkrankung, oder aber

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Schema der Classification.

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b) in einer Intoxication. Zu der ersteren Grnppe gehören die febrilen and postfebrilen Psychosen, welche die acuten Infectionskrankheiten, den Rheumatismus acutus, manchmal Pneumonie und Phthise; sodann die psy- chischen Störungen, welche gewisse Neurosen (Morbus Basedow, Chorea), ferner Unterleibsaffectionen, und endlich Gravidität und Puerperium be- gleiten. Unter die letzteren reihen sich die Psychosen im Gefolge des Abusus von Chloro- und Jodoform, der Bleivergiftung u. s. w. ein. Symptoraato- logisch vertheilen sich die hierher gehörigen klinischen Gruppen unter sämmtlicbe functionelle Psychosen, einzelne unter die Cerebropathieen. In Folge dieser weiten Umgrenzung ist die Zutheilung der reichhaltigen Gruppe unter die eine oder die andere der seitherigen Classen nicht mög- lich ; ich möchte dieselbe deshalb als „Anhang" zu den Psychosen des voll- entwickelten invaliden Gehirns anftlgen.

Unsere Classification ist abschliessend nunmehr folgende: I. Psychosen auf Grundlage organo-psychlscher Yollentwicklung.

1. Psychosen des „rüstigen" Gehirns. (Psychoneu- rosen im engern Sinne):

a) Melancholie I .., ^ j.. ... , , ' . , ... \ mit den Secundär-Zustauden.

b) Manie (zum Theil) J

2. Psychosen des „invaliden" Gehirns (Cerebropsy- chosen):

a) Die schwerern Manieen: Furor, Mania gravis;

b) der Wahnsinn in seiner acuten, chronischen und attoni- schen Form;

c) die acute primäre Dementia; mit Anhang: der hallucina- torische Stupor;

d) das hysterische, epileptische nnd hypochondrische Irresein. Dazu als Anhang: a) die periodischen circulären und alter-

nirenden Psychosen , ß) die Seelenstörungen im Gefolge extra- cerebraler körperlicher Krankheiten (febrile, puerperale etc.), sammt den Intoxicationen.

3. Die perniciösen Erschöpfungszustände des Ge- hirns:

a) Die acute Hirnerschöpfung mit dem Charakter der Gefahr das Delirium acutum.

b) Die chronische Hirnerschöpfung mit dem Charakter der Destruction (Degenerescenz) die classische progressive Pa- ralyse.

4. Die psychischen Cerebropathieen: Die Psychosen im Gefolge subacuter und chronischer organischer (diffuser und localer) Hirnkrankheiten die modificirten progressiven Pa- ralysen.

Schttle, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 2

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Eintheilung der SeelenstÖrangen.

II. Psychosen auf Grundlage defecter organo - psychischer Anlage, resp.

Constitution.

a) Die hereditäre Neurose; Anhang: die transitorischen Psychosen.

b) das einfache hereditäre Irresein das Irresein aus Zwangs- vorstellungen (Maladie du doute et du toucher); dazu als Anhang: der Querulantenwabnsinn;

c) die originäre Verrücktheit;

d) das degenerativ- erbliche Irresein die Moral Isanity;

e) der Idiotismus.

Es erübrigt nunmehr die wesentlichen klinischen Merkmale der obigen Hauptgruppen hervorzuheben zugleich als Uebergang resp. Einleitung zur nachfolgenden Detailschilderung.

1. Die Psychosen des „rüstigen" und die des „invaliden" Gehirns haben als gemeinsame Charaktere:

psychisch: bestimmte Symptomenverbindungen, welche einer- seits in einer Aenderung der früheren normalen Ich Persönlichkeit in der ganzen Breite ihrer psychischen Sphäre bestehen, andererseits klinische Zustandsformen darstellen, welch letztere (allgemein) sich an die physiologischen Typen des Aflects, der Traum- und Schlafvorgänge anlehnen und (speciell) in einem gesetzmässigen gegenseitigen Ein- und Zusammenwirken der krankhaft abgeänderten Seelenrichtungen bestehen; es sind theils primäre Gemüthsstörungcn (Melancholie, Manie), thcils solche des Vorstellungslebens (Wahnsinn), theils Aeuderungen der Bewusstheit (Stupor). Dieselben wiederholen sich auf verschiedenen Cerebrations- stufen.

somatisch: sie beruhen soviel wir bis jetzt zu erkennen ver- mögen — zum grossen Theile (Melancholie, Manie, Stupor und acute TVahnsinnszustände) auf einer vasomotorischen Hirnneurose, welche einen gesetzmässigen, cyklisch zusammenhängenden Verlauf durch verschie- dene psychische Zustandsbilder nimmt, entweder zur Genesung, oder zu dauernder psychischer Schwäche. Ausserdem gehen sehr häufig sensible (sensorielle) Störungen als zugehörige und auch psychisch verwerthete Krankheitselemente mit, und in der Regel auch trophische, welch letz- tere ebenfalls mit dem Krankheitsverlaufe gleichen Schritt halten. Phy- siologisch-anatomisch ist die grundliegende Affection wahrscheinlich in das psychische Central - Organ der Vorstellungs- und Willensthätigkeit (Rinde des Vorderhirns?) zu verlegen, mit theils primärer, theils reflec- tirter Entstehung und secundärer Reizwirkung auf die trophischen, sen- soriellen und sensibeln Centren („Gemüth"). Ich bezeichne sie darnach insgesammt als „psychische Hirnneurosen" Psychoneurosen. Dieselben gliedern sich:

a) in die rüstigen Psychoneurosen mit folgenden klinischen Cha- rakteren (hier sind die bereits oben in der Gegenstellung der voll- und defect veranlagten Psychosen aufgestellten Merkmale beizuziehen): Er- haltung der psychischen Mechanik in der Wechselwirkung und Reaction der einzelnen Störungscomponenten (nach dem Typus des depressiven Affectvorgangs in der Melancholie, des heiteren in leichteren manischen

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Klinische Charaktere der Ilauptgruppen.

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Zuständen, speciell in Erhaltung der logischen Ideenassociation und der psychischen Bewegungsform in der typisch - manischen Gruppe); be- gleitende sensible Anomalieen (Neuralgieen) tiberwiegend häufig, und zwar in einer zur cerebralen Functionsstörung ergänzend, d. h. wesentlich zu- gehörigen pathogenetischen Function. Ausgesprochen depressives Vor- stadium. Subacuter oder chronischer Verlauf. Genesung ist Regel. Ge- ringe Neigung zu Recidiven, nicht erheblich grösser als bei sonstigen internen Erkrankungen. „Psychische" Aetiologie (GemUthserschütterun- gen) vorherrschend Psychoneurosen im engern Sinne.

b) in die invaliden Psychosen mit den klinischen Charakteren: theilweise Erhaltung der psychischen Mechanik; aber entweder (im Vergleich zur vorigen Gruppe) auf tieferer Cerebrationsstufe (tiefere Forra- qualität der Bewegungen, äusserliche Associationen in der Ideenflucht, con- vulsive Stimraungsreaction; so in den hieher gehörigen Manieen), oder im Schlepptau eines primären Vorstellungs- resp. Sinnenwahns (Schonung der formalen Logik neben und auf Grundlage einer herrschenden Illusion; Gemüthsstimmung zwar in adäquater Weise nach dem Wahninhalt be- messen, d. h. formal richtig, aber inhaltlich durch das Wahn-Pseudos bestimmt; so im chronischen Wahnsinn). In einer grossen Gruppe (acuter Wahnsinn, Stupor) mehr minder vollständige Ausschaltung der Bewusst- heit theils ohne, theils mit schrankenlosem Spiel anomaler Sinnesreize fhallucin. Wahnsinn). In einer Untergruppe der letzteren gesellt sich noch eine motorische Spannungsneurose hinzu, welche bald nur als selb- ständige Complication (als Symptom des Tiefergreifens der functionellen Hirnrindenaffection) den Verlauf begleitet, bald aber auch in psychische Function mit den inneren Wahnvorgängen tritt und als solche mit dem Decursus der Psychoneurose, psychisch und organisch ihr zugehörend, glei- chen Schritt hält. Ein depressives Einleitungsstadium ist, wenn vorhan- den, in der Regel nur rudimentär entwickelt; oft fehlt es ganz. Die „invalide" psychische Zustandsform kann manchmal erst aus einer „rü- stigen" sich herausbilden, in anderen Fällen aber auch direct und pri- mär einsetzen (Manieen auf conBtitutioneller Grundlage, Stupor). Endver- lauf unentschieden und wechselnd. Gefahr der Recidive gross. Viele Zustände treten sofort periodisch oder circulär auf. Grosse Beeinflussung des Verlaufs durch accidentelle somatische Momente. Häufig direct or- ganische Entstehung (Anämie u. s. w.) ohne psychisch-sensibles Zwischen- glied (d. h. ohne einleitenden Seelenschmerz» Cerebropsychosen.

2. Die perniciösen Erschöpfungszustände des Gehirns sind in ihren wesentlichen klinischen Charakteren bereits oben gezeichnet.

3. Die psychischen Cerebropath ieen sind charakterisirt durch ihre Verbindung mit einem organischen und zwar primären Hirn- (Rücken- marks-) Leiden, dessen klinische Theilerscheinung sie bilden. Deshalb Combination des psychopathischen Symptomencomplexes mit sensibeln, motorischen und sensoriellen Krankheitszeichen aus der grundliegenden organischen Hirnaffection. Symptomenordnung und Gesammtverlauf durch letztere bestimmt; an Stelle der psychischen Mechanik (in der Verknüpfung der einzelnen Zustandsphasen) ist die „Logik" des Hirnprocesses getreten.

II. Die Psychosen des defect veranlagten Gehirns (resp. des degenerativen Gehirnlebens) sind oben in ihren wesentlichen Zügen ge-

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Eintheilung der Seelenstörangen.

zeichnet worden. Darnach resumiren sich die klinischen Charaktere: Neuropathische Anlage oder ausgesprochene hereditäre Neurose; charak- terologische Eigentümlichkeiten mit Tics und Excentricitäten ; grosse Neigung zu Zwangsgedanken, zu phantastischer Träumerei mit jugend- lichem Grössen walin ; „Paralogik", d. h. eigenartige Vorstellungscombi- nationen, bornirter Scharfsinn ; frühzeitiges „Triebe"- Leben , namentlich oft in pervers sexualer Richtung; periodische (unmotivirte) Schwankungen in Stimmung und Leistung. Sehr häufig ethischer Defect gegenüber einer leidlich geschonten, oft sogar einseitig starken intellectuellen Ent- wicklung; oft aber auch ethischer und intellectueller Schwachsinn von Jugend an. Grosse Beeinflussung des psychischen Lebens durch körper- liche Einflüsse, zumal durch die Evolutions- und Involutionsperioden. Die psychischen Störungsformen auf dieser Grundlage können: 1. in den ge- wöhnlichen Habitualformen verlaufen, jedoch mit auszeichnenden klini- schen Charakteren (kein gesetzmässiger klinischer Verlauf, Polymorphie der sich ablösenden Zustandsformen, brüsker Eintritt und jäher Abfall, 8. später); oder 2. in mehr stationärer Form die langsame Steigerung, resp. Weiterentwicklung der ursprünglichen, krankhaft defecten Anlage bilden (originäre Verrücktheit, viele Fälle von Moral Insanity) ; oder end- lich 3. „degenerativ" sich gestalten, indem voran der sittliche Zerfall fortschreitet und auf dieser Grundlage das Gemüths- und Vorstellungs- leben in Form einer eigenartigen chronischen Manie sich zerstört, oder aber in periodischem oder circulärem Typus seinen Niedergang nimmt sehr oft mit dem auszeichnenden Charakter der Folie raisonnante. Zeit- weilige Remissionen führen nur zum Status quo der originären Anlage zurück; wirkliche Heilungen sind ausgeschlossen. Der Idiotismus bildet die abschliessende Gruppe dieser individuell eigenartigen psychi- schen Existenzen.

In der nachfolgenden Darstellung ist, der klinischen Uebersicht- licbkeit wegen, welche übrigens auch in der Natur der „fliessenden Uebergänge" der betr. Psychosengruppe begründet ist, die Schil- derung der schweren (invaliden) Manieen gleichzeitig mit der der rüstigen (mitis und typica) abgehandelt; ebenso die Melancholia at- tonita mit der Übrigen melancholischen Gruppe. Die Intoxications- psychosen (mit Ausnahme des Alcoholismus) sind tibergangen, ebenso die einschlägigen andern ätiologischen Gruppen der puerperalen, traumatischen, febrilen etc. Geistesstörungen, weil diese sämmtlich der Ursachenlehre zugehören (s. d. Hdb. II. Aufl., Bd. I, 189 ff.) und in ihrer klinischen Schilderung zu viele Wiederholungen veranlasst hätten.

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Die Melancholie. Allgemeines. 21

Die Melancholie. Allgemeines.

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22 Die Melancholie. Allgemeine«.

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Charakteristisch ist: 1. eine krankhafte Affection des Gemüths in der Richtung einer schmerzlichen Verstimmung in allen Graden von der höchsten Verzweiflung bis zur stillen Resignation; 2. eine damit schritthaltendc Gebundenheit des Vorstellungslebens, theüs durch Uebermacht einer einzigen, vom Schmerz -Affect getragenen Gedankengruppe, theils durch eine allgemeine Hemmung des Denk- processes in Folge schmerzlicher Hyperästhesie der den Denkact, als solchen, begleitenden innern Organgeftihle; 3. eine Erschwerung oder Bindung der Willensäusserungen, primärer oder secundärer Ent- stehung, letzteres dann, wenn die psychische Hyperästhesie die sie befreienden Reflexe nicht findet, oder trotz der erzwungenen Ent- äusserungen nicht entlastet wird, so dass Muth und Initiative er- matten. Stets gehen mit diesem psychischen Zeichenverband vaso- motorische und trophische, und namentlich sensible Störungen mit einher, letztere sehr häufig in Form von Neuralgieen. Auch sen- sorische Affectionen, Hallucinationen und Illusionen können mitbe- gleiten, bleiben aber im Verhältniss zur Stärke des krankhaften de- pressiven Affects, dessen Färbung sie tragen. Eine Verminderung des Körpergewichts ist Regel. Die Krankheit kann acut, subacut und chronisch verlaufen, kann einmal oder in Recidiven, remittirend und auch in periodischer Wiederkehr auftreten. Bei nicht geheilten Fällen lolgt ein geistiger Schwächezustand (Blödsinn oder secundärer hallucinatorischer Wahnsinn).

Die Melancholie kann alle Altersstufen befallen, jeweils mit aus- zeichnenden klinischen Modificationen (Senium). Auch gewisse ätiolo- gische Momente (Masturbation u. s. w.) führen bestimmte Nuancirungen ein (8. u.).

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Melancholie. Analyse der Symptome. Gestörtes Fahlen.

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Analyse der Symptome.

a) Anomulieen in der Sphäre des Fühlens und des Wollens (der Triebe).

Schmerzliche Verstimmung ist erstes und Haupt- symptom. Der Kranke befindet sich in einem unendlichen Weh. Er fühlt sich in seinem Vorstellen und Wollen gehemmt, gebannt; er kennt lange die Ursache nicht, und kann sein peinliches Gefühl nicht los werden. Die schmerzliche Verstimmung ist eine allgemeine, immotivirte, unveräusserliche. Es ist die unmittelbar zur Wahrneh- mung gedrungene Hirnkrankheit selbst, welche in diesen schmerz- lichen Verstimmungen bewusst wird. Oft bleibt diese als solche auch ohne weitern Inhalt. Gewöhnlich aber heftet sich irgend eine „Erklärung" an, das dunkle Gefühl verknüpft sich mit einer Vor- stellung, einer „zureichenden" peinlichen Erinnerung aus dem Vor- leben, einem gerade eintreffenden Ereigni63 (Gemüthsaffect). Der Kranke weiss jetzt, „was er weint". Aber diese unter dem Zwang des Causalitätsbedlirfnisses vollzogene Verbindung ist oft nur eine zufällige, eine durch die momentane Bewusstseinslage geschaffene Verbindung, und so nur eine mögliche Erscheinungsform, welche be- liebig wieder wechseln kann. Subjectiv kommt es auf den Inhalt dieser hinzugedachten Vorstellungen gar nicht an; dieser kann lo- gisch begründet, oder fictiv berechtigt, oder geträumt sein : der Me- lancholiker ist im letzten Grunde nicht deswegen unglücklich, weil er glaubt Sünden begangen, Gott beleidigt, seine Habe verloren zu haben und wenn er sich dies auch einredet sondern vielmehr uud einzig, weil er fühlt, dass er in sich anders geworden, dass er nicht mehr kann, wie er will, uud sich nicht mehr zu befreien ver- mag. Manchmal freilich bereiten auch wirkliche Erlebnisse dieses geistige Hemmungsgefühl , welches so schmerzlich empfunden wird, thatsächlich vor; aber auch dann ist es nicht der Werth des Ereig- nisses selbst, welches krank macht, sondern nur der Zwang, mit welchem es wirkt, d. h. Denken und Wollen beschwert. Für das künftige Schicksal eines Krankheitsverlaufs ist es allerdings nicht gleichgiltig, ob eine melancholische Vorstellung auch gegründet, und namentlich ob das „Schuld"bewusstsein wirklich auch ein reales ist.

Die depressive Verstimmung selbst zeigt im Einzelnen eine reiche Stufenleiter der Stärke und der Form ihres Auftretens. So entsteht eine Reihe von melancholischen Typen.

Klagen und Weinen bis zum stumpfen Heulen, mitunter mit Schimpfen und blasphemischen Verwünschungen sind der phonetische; angst- und schmerzgepres8te Züge mit charakteristischer Furchung des Gesichts und der Stirne idas sog. „melancholische Omega") der miraische; Handeringen

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Die Melancholie. Allgemeines.

und ruheloses Hin- und Herrennen (wie ein Pendel) mit Ausraufen des Haares, Sich-Zerkratzen und Zähneklappern, plötzlichem Zusammenschau* dern, schnappenden Mundbewegungen, Schnalzen der Zunge, automati- schem Reiben am Körper, Drehen der Finger u. s. w. der reflectorische Ausdruck des Depressionsaffects. Oft erfolgen diese Bewegungen stoss- weise und rhythmisch, lassen sich durch den besten Willen nicht mas- sigen, am ehesten sich durch Sitzen einigermaassen beschwichtigen (Me- lancholia activa, errabunda). Andereinale ist es gegentheils ein ruhiges Dasitzen mit angepressten Gliedraaassen, starren Augen, unbeweglich ge- senktem Kopfe, ein stummes Abweisen, oder auch ein plötzlich gereizter Protest gegen jede Ansprache oder Aufmunterung; manchmal auch ein unterbrochenes oder andauerndes Seufzen was von dem schmerzlichen Gemtithsbann äussere Kunde gibt (Melancholia stupida, passiva). Oft macht sich der quälende Innenaffect durch ein triebartiges (scheinbar zweckmässiges) Gebahren, durch eine rastlose Beschäftigung ohne Ziel und Befriedigung geltend; in anderen Fällen oder Stadien durch eine Tage- und Wochen- lange Regungslosigkeit, welche erst durch Anruf sich vorübergehend (zur mechanischen Betheiligung am Essen, zur gebotenen Besorgung körperlicher Bedürfnisse) unterbrechen lässt. Dieser Wechsel zwischen Unruhe und schmerzgebannter Passivität dauert oft auch wäh- rend der Nacht fort. Wochenlang meiden die Kranken das Bett, irren im Zimmer umher, gestikuliren, zerschlagen sich; oder gegentheils, sie sitzen in derselben angstgepressten Attitüde wachend oder weinend oder stumpf vor sich hinbrllteud da und gönnen sich nicht einmal die Hori- zontallage. Jede directe oder tröstende Ansprache entlockt ein schmerz- liches, oft krankhaftes Schluchzen ; sie wollen keinen Trost oder können denselben nur mit doppelt gesteigertem Schmerzausdruck erwidern. Viele derselben kennen lange Zeit keine Thränen; wochenlang verharren sie in ihrer Schmerzgebundenheit; sowie die ersten Thränen wieder anrücken, fühlen sie sich dankbar erleichtert.

Eine andere Gruppe von Kranken bietet ein davon ganz verschie- denes physiognomisches Bild. Wiewohl von derselben depressiven Af- fectstiromung gebeugt, ja manchmal schon über der Grenze der Ver- zweiflung — dort, wo nur der freiwillige Tod als der ersehnte Arzt erkannt wird bieten sie gleichwohl äusserlich noch den Eindruck vollständiger Componirtheit. Aufgeräumt in ihrem Benehmen, vernünftig in ihren Handlungen, sofern diese nicht durch den Zug der Schwermuth gehemmt werden, vertrauensvoll, gutmüthig und freundlich in ihrem Be- gegnen, geordnet in den Gedanken und der Redeform, möchte man kaum auf die feindselige Stimmung (welche bereits das „Arsenal des Todes" in Gedanken ausmustert), ja manchmal kaum auf ein tieferes Kranksein schliessen, wenn nicht die unheimliche Stille, die mangelnde Energie, die Schlaffheit und Müdigkeit des Wesens, der düstere, überaus schmerzvolle Blick, die leise zögernde Sprache wenigstens zur Vorsicht mahnten. Hier geschieht oft mitten aus dem anscheinend besten Verhalten des Kranken, mitten aus der mühsam erheuchelten Ruhe heraus die, sorgsam dissimu- lirte, tragische Wendung.

Koch gibt es eine fernere und nicht kleine Zahl von Melancholikern, welche weder den lebhaft nach aussen bethätigten, noch den in sich ver-

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Melancholie. Klinische Typen.

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srabenen stillen Affect zeigt; dafilr aber klingt das krankhafte Web in einer Resignation wieder, welche, ohne apathisch zu sein, abgeschlossen bat mit der Hoffnung und auch mit jedem Anspruch aufs Leben. Sie sind und bleiben die Verlorenen meist mit hypochondrischer Richtung : sie sehen sich abmagern, folgern daraus auf Schwindsucht und rechnen anf dieser für sie felsenfesten Diagnose mit ihrer Zukunft ab. Oder sie erkennen, dass ihr Leben und Streben umsonst gewesen, und beruhigen ihre Selbstvorwürfe in einer pessimistischen Vor- und Rückschau, in welcher namentlich alle ihnen erwiesene Fürsorge verkehrt und nutzlos erscheint. Unbarmherzig gegen sich, sind sie es nicht minder gegen ihre Angehörigen; keine Thräne, keine Bitte dieser rührt sie. Sie bleiben that- und entschlusslos und verbringen oft wochenlang im Bett, indem sie höchstens ihre Vorwürfe und ihre Resignationsphilosophie sich und Andern vorerzählen und zum Disput reizen, welcher ihr einziger Ge- iiuss und momentane Befriedigung ist. Hemmung durch das Gefühl der Insuffizienz nicht der primäre Afiectschmerz ist die Grund- lage dieses, namentlich gern periodisch wiederkehrenden, Gemütszustan- des. Aber auch hier bildet die äussere „Ruhe" sehr oft nur die täu- schende Maske Uber einen, wenn auch torpiden, doch leicht entzündbaren wirklichen Seelenschmerz, wie sich dieser denn auch nicht selten in einer gewaltsamen Reflexhandlung convulsiv entladet, oder anderemale langsamer sich zu activeren Phasen mit dem Wahne der Sündhaftigkeit oder des „Verlassenseins von oben" heraufarbeitet (Melancholia torpida).

Eine letzte Erscheinungsform endlich, in welcher der psychische Schmerz klinisch auftritt, zeigt physiognomisch die Kehrseite der oben zuerst besprochenen. War dort Alles nur gefühltes Wehe, jede An- sprache, jeder Trost von aussen ebenso schmerz- empfindlich als jede eigene, kleinste Initiative von innen so ist hier dagegen völlige Ge- fühllosigkeit. Die Kranken fühlen sich wie todt, ihr Herz todt, ihr Kopf wie einen Stein, ihr Inneres vollkommen leer „wie ein ausgeblasenes Thier". 6ie wissen nicht mehr, dass sie auf der Welt sind, fühlen auch nichts mehr, nicht einmal schmerzhafte Verletzungen oder Berührungen des Kör- pers. Sie können das Grässlichste sehen; nichts rührt sie mehr, auch keine Liebe, aber ebenso auch das Gegentheil nicht; sie freuen und är- gern sich nicht mehr; sie sehen Alles anders mit ihren Augen, „welche wie gebrochen vorkommen"; aber sie sehen doch deutlich. Von ihrer Umgebung wissen sie nur noch „in Gedanken, nicht im Gefühl". Ihr Schlaf ist Ohnmacht, ihre Träume sind „schwebend"; auch die Gegen- stände in der Umgebung „schweben" (und zwar ohne Schwindelgefühlj. Wenn sie weinen, sehen sie bloss ihre Thränen, empfinden aber keinen Schmerz. Dieser Zustand kann nicht selten über den ganzen Paroxys- mus andauern ; anderemale schlägt er im Verlaufe iu die entgegengesetzte Phase um mit schmerzlichem Gedankendrange und Jammern , dass Alles verloren, der Kranke in der Gewalt des Bösen sei. Es ist eine wirk- liche Anaesthesia psychica dolorosa, welche untergeht in dem Gefühl wirk- licher Leere und Oede im Gemüth, und dieses Gefühl ist tiefschmerzlich, auch wenn es der Kranke nicht gesteht, oder zu gehemmt ist um es äussern zu können. Manche geben auch zu, dass ihnen noch ein kleiner Rest von Gefühl geblieben sei „in der Herzgrube"; dort spüren sie es,

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Die Melancholie. Allgemeines.

„wenn ein plötzliches Geräusch ihnen durch die Ohren bis auf die ge- nannte Brustgegend fahrt".

Auf diesem Boden krankhafter Affectstimmung aller Grade und Formen entwickelt sich nun bei weitaus den meisten Melancholischen ein psychisches Symptom, welches seiner Wichtigkeit wegen eine besondere und nie genug grosse Auszeichnung verdient: die Angst. Unendlich reich ist deren klinische Erscheinungsform: sie bewegt sich von dem offenen Ausdruck verzweifelten Zitterns und Bebens mit verzerrten Zügen und blindem Reflexdrang in langer Scala nach abwärts bis unter die mimische Maske einer tauschenden Harmlosigkeit, ja selbst einer absichtlich coquettirenden Spielerei, bei welcher das erzwungene Lächeln den schrecklichen innern Ernst verdeckt. Keinem Melancholiker trauen! ist nicht umsonst der Kanon aller Erfahrungen und der Leitstern jedes zielbewussten ärztlichen Handelns! Die Angst kann anfallsweise kommen in Form von blin- den Raptus, oder aber langsam unter zunehmender Unruhe und Be- klemmung sich steigern; sie kann Tage und Wochen das kranke Gemüth foltern, oder nur wie ein Blitzstrahl einfallen, und nachher wieder einer gefasstern Stimmung weichen; manchmal tritt sie ty- pisch zu denselben Tageszeiten und Stunden auf.

Mit der Angst in nächstem Zusammenhang stehen deren motorische Entäusserungen, die Angsthandlungen, welche einen grossen Theil des Gebahrens der Melancholiker, ja oft das ganze äussere Krankheitsbild ausmachen. Sie sind sämmtlich gekennzeichnet durch das Triebartige ihrer Entstehung, das oft Plötzliche, Stürmische ihrer Ausführung, durch das rücksichtslos Gewalttätige in ihrem Forraencharakter. Es sind ihrem Wesen nach Reflexacte. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sehr häufig auch ein bewusstes Motiv (Vorstellung) mit unterläuft, welches die Ziel- bewegung der Handlung bestimmt und leitet. Aber dieser Umweg wird nicht immer beschritten; recht oft bleibt das Angstgefühl das alleinige und directe Motiv für das Handeln, und der Angstgedanke schiebt sich erst während des Ablaufs der Handlung ein, als ein Parergon des Re- flexaetes, als begleitendes, nicht aber eingreifendes und bestimmendes Element. Die motorischen Entäusserungen der Angst können harmlosen, aber auch sehr gefährlichen Charakters sein. Zu den ersteren sind die monotonen zweck- und planlosen Bewegungen mit den Extremitäten zu zählen, das Hin- und Herrennen, das Zupfen mit den Händen an den Kleidern, das Zerreissen oder auch das Aufkratzen der Hände, das Ab- beissen der Fingernägel bis zum Bluten, das Ausraufen der Haare. Von den lautlichen Reflexen gehören hierher die in allen Tonarten bis zum unarticuliiten Heulen sich bewegenden Schreilaute, nicht minder aber auch jene furchtbar blasphemischen und obseönen Schimpfworte, welche sich oft in das angstgepresste Schreien oder Stammeln der Kranken ein- zwängen, und in ruhigen Stunden vom Kranken selbst bedauert, ja zum

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Melancholie. Angst. Angsthandhingen.

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Gegenstand vieler Selbstvorwürfe gemacht werden. Zu den gefährlichen Reflexen zählen die Fluchtversuche, und namentlich die Gewalttätig- keiten gegen Andere und gegen sich selbst: der Mord und Selbstmord. Auch die letztern werden nur unternommen, um sich der schrecklichen Verstimmungsqualen zu entledigen; sie vollziehen sich bald klarbewusst, bald triebartig, unbewusst. Der Kranke, im Uebermaass seiner Angst, wendet die tödtliche Waffe gegen Andere oder gegen sich selbst, und kommt erst nach der That befreit von dem beklemmenden Alp zur Erkenntniss dessen, was er vollbracht. Nicht selten beginnt auch jetzt erst seine grösste Verzweiflung, wenn er das Liebste und Theuerste zerstört sieht und seine Hand als die Thäterin erkennt, noch oft dazu ohne seine Absicht. Gehen Wahnvorstellungen mit, dann fehlt allerdings diese befreiende Erkenntniss; der Kranke weiss, warum er getödtet: er hat seine Angehörigen von der drohenden Gefährdung durch den bösen Feind behüten wollen; oder warum er das Messer gegen sich selbst ge- zückt: er ist ein schlechter Kerl, dessen Tod eine Wohlthat oder eine Forderung der Ehre ist. Für den Eintritt dieser Gewaltacte ist der Höhegrad des Affects, der Inhalt des melancholischen Wahnes und ganz besonders die Einwirkung von Hallucinationen und Illusionen maassgebend. Ausserdem sind aber auch körperliche Momente als Begleiterscheinungen des Angstanfalls (s. u.) und physiologische Lebensphasen des Patienten (Gravidität und Wochenbett, Menstruationstermin) von erschwerendem resp. begünstigendem Einfluss. Namentlich aber ist des anthropologi- schen Moments der Erblichkeit (Selbstmord in der Ascendenz!) zu ge- denken, welcher oft wie ein Fatum dem gemütskranken Sohn oder Enkel die Wiederholung derselben Gewaltthat aufnöthigt (Zwangshand- lungen).

Die geläufigen Motive des Sui- oder Homicidium in der Melancholie sind: Versündigungswahn mit Angst vor drohender Bestrafung; Klein- heitswahn, dass der Kranke sich und die Seinen der Schande oder dem Verhungern ausgesetzt habe ; dämonomanische Furcht mit Hallucinationen und überwältigenden Illusionen (oft plötzliches Schwarzwerden einer Person der Umgebung). Verschiedentlich ist für Homicidium auch das Motiv schon in Erfahrung gebracht worden, dass der Kranke sich durch seine That das Schaflfot zu sichern hofft. (Ueber die erfinderischen A nsf tth rungsarten des Suicidium s. unter: Zwangshandlungen.) Sehr häufig ist, jedoch weniger bei Angstzuständen als bei melancholischem Versündigungswahn, eine hartnäckige oft bis zum Aeussersten andauernde Nahrungsverweigerung.

Nur in einer kleinen Zahl von Fällen beschränkt sich die ver- änderte Selbstempfindnng des Kranken auf die Klagen eines innern Schmerzes, einer nur seelischen Verzweiflung (gleichviel aus wel- chem Grunde). In der grössten Mehrzahl werden die Klagen auch körperlich geäussert, das innere Weh, die Angst an der oder jener Körperstelle localisirt. Weitaus am öftesten figurirt „das Herz" als dieser locus dolens, und zwar entweder in gesteigerter Empfindung oder gegentheils als Empfindungsleere. Dort sitzen die „nagenden

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Die Melancholie. Allgemeines.

Gewissensqualen", die „Centnerlast", das „brennende höllische Feuer", der „böse Feind"; dort wird der Mangel jedes „guten Gefühles", jeder „Liebe", jedes „Dranges zum Gebet" so peinlich empfunden.

Das Herz ist todt durch die Sünden; alle Gedanken, gute wie böse, sind abgestorben, der Teufel ist mit der Seele des Kranken durchge- gangen, Freud und Leid ist in unerreichbare Welten gerückt, der Kranke kann nicht mehr beten und weinen. Ausser dem Herzen ist es nament- lich der Kopf, welcher für die Localisation der Anaesthesia psychica dolorosa bevorzugt ist. Die Kranken haben keinen Gedanken mehr, sie fühlen sich darin so öde und leer, dass sie sich nicht einmal das Bild ihrer Lieben mehr vorstellen können. In dritter Linie nimmt auch der ganze Körper Antheil: sie fühlen weder Hunger noch Durst, kein Bedürfniss nach Excretionen, sie können sich mechanisch verletzen, ohne dass sie es spüren und inmitten dieses „Todtseius" bleibt Plage und Schmerz ihr einziger Lebensreiz; „so hat Gott sie verlassen".

Es ist bezeichnend für die Beurtheilung dieser „anästhetischen" Pein, dass viele Kranke sich förmlich nach der „Schwermuth" sehnen, wo sie doch wieder einmal einen wirklichen Schmerz zu fühlen vermöchten. Wenn im Krankheitsverlauf nach dem anästhetischen Höhenstadinm das hyperästhetisch gedrückte wiederkehrt, so äussern sich die Kranken bei allem tiefen Weh dankbar für die Thränen und den Herzdruck, den sie so lange vermissen mussten. Nicht selten begleiten auch locale Parä- sthesieen diese anästhetischen Episoden.

Das erniedrigte Selbstgefühl des Melancholikers wird ihm aber am lästigsten bewusst durch die Herabsetzung alles Wol- lens. Das Bewusstsein pereipirt in Folge der herrschenden Affect- stimmung keine Gegensätze mehr. Was der Kranke fühlt, ist doch nur Wehe, und Dem gegenüber blasst Interesse und Streben zum blossen Schemen der Stimmung ab. Insofern aber der auf cen- tralen Innervationsgefühlen beruhende Vorgang der Intention selbst überaus schmerzlich geworden ist, muss sich der Kranke immer mehr um jede Energie und Initiative gebracht fühlen. Dieses Gefühl, nicht wollen, sich nicht mehr entschliessen zu können, ist nun das zweite Hauptsymptom der Melancholie; es bildet mit und neben der schmerzlichen Verstimmung den eigentlichen Kern der Krankheit. Im Grunde ist das eine Moment nur die Kehrseite des andern; das fehlende Wollen ist die psychologische Folge des schmerzhaften Fühlens, oder auch umgekehrt. Das letztere Verhält- niss tritt namentlich dann ein, wenn der unschlüssige Kranke manch- mal, durch die Umstände gedrängt, früher handeln muss, als sein verzögerter Entschluss fertig ist. Dann haftet sich die peinlichste innere und äussere Unruhe an jede Handlung, welche er nicht eigent- lich gewollt hatte und doch gethan sieht, an. Nun geht auch alles Begehren verloren; der Kranke auf dem Höhepunkt des Leidens

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Melancholie. Willensstörungen.

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muss sogar zum Essen und Anziehen angehalten werden; er ver- kommt in seinem Aeussern, weil er mit seiner innerlichen Gebunden- heit nicht einmal zur kleinsten anderweitigen Aufmerksamkeit, noch weniger zur Activität herauszutreten vermag.

Dieses unendliche WehegefUhl des geistigen Energiemangels er- zeugt nun rückwirkend eine entsprechend tiefe Erniedrigung des Selbstgefühls. „Alles und Alle sind Etwas, sind glücklich, nur ich bin nichts, bin ein Verlorener" das ist die tägliche und stünd- liche Klage des Kranken. Der verzweifelt Rüthlose wird durch den kleinsten Umstand in die grösste Spannung versetzt, und klammert sich in seiner Schwäche an ein Nichts an, um sein Heil darin zu suchen. Unterstützt und vollendet wird dieses geistige WehegefUhl nun auch noch durch ein gleichgestimmtes körperliches, welches sich auf der Perception des verminderten Muskeltonus aufbaut. Der Kranke fühlt sich müde, selbst beim Liegen und Sitzen; nicht ein- mal ein ausgiebiger Schlaf bringt ihm Frische und Erholung. Bei der hohen Bedeutung der Muskelgefühle für unser körperliches und psychisches Gemeingefühl begreift es sich, wie deren Ausfall oder die direct empfundene Muskelschwäche die Pein der seelischen Abulie noch wesentlich erhöhen muss.

Der Melancholiker hält sich deshalb in der Regel auch zurück- gezogen; er achtet auf keine äussere Aufmerksamkeit, deren er sich doch nicht würdig glaubt. Es gibt aber auch Kranke, bei welchen neben dem erniedrigten Selbstgefühl, welches sie in Thränen und Weinen be- theuern, noch eine eben so gesteigerte geistige Empfindlichkeit, ein Be- dürfniss in ihrem Leiden anerkannt und sorglichst berücksichtigt zu werden einhergeht. Sie essen wenig, sehen aber gerne ausgewählte Kost, gehen in keine Gesellschaft, wollen aber in der Einladung nicht übergangen sein etc. Noch Andere sind trotz ihrer Resignation in man- cherlei sinnlichen Genüssen begehrlich und anspruchsvoll. Sehr viele Kranke können sich auch in ihrem Schmerz und in ihrer „Todesver- zweiflung" eines gewissen Neids gegen Andere (ihrer Ansicht nach vom Schicksal Verschonte) nicht erwehren.

So spricht Alles um den Kranken, für ihn und in ihm nur die Eine Sprache namenlosen Schmerzes, absoluten Nichtkönnens. Der Kranke ist rettungslos unglücklich und dies durch eigene Schuld. Bald erfährt er auch das Warum? durch das Echo seiner Schmerz- gefühle in seinem Vorstellungsleben.

b) Anomalieen in der Sphäre der Vorstellungen.

Alles Vorstellen ist verlangsamt, und zwar durch den Bann der schmerzlichen Verstimmung. Jede Vorstellung erhält, sowie sie sieb zum Ich in Beziehung setzt, schmerzliche Geftthlbetonung ; ja

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Dio Melancholie. Allgemeines.

der Vorstellungsablauf selbst ist von peinlichen InnervationsgefÜhlen

begleitet. Dadurch entsteht eine Hemmung; die active sowohl als

die passive Bewegung der Vorstellungen wird möglichst vom Ich

gemieden. Als drittes verstärkendes Moment kommt noch das Ueber-

gewicht und die abstossende Macht der Schmerz -Vorstellung (wenn

diese sich einmal aus der anfänglichen Aflfectstimmung entwickelt

hat) gegen alle anders gefärbte Wahrnehmungen und Ideen hinzu.

Durch alle diese Momente entsteht eine immer umfassendere Bindung

der intellectuellen Functionen, eine Trägheit des Vorstellungsganges,

und endlich Oede des Bewusstseinsinhalts, welcher immer mehr nur

noch vom Einen Schmerzgedanken ausgefüllt wird. Zugleich aber

entsteht reactiv das Gefühl einer peinlichen Gedankenspannung, weil

das Bewusstsein, von andrängenden Gedanken bestürmt, diese nicht

aufzunehmen und in sich abzugleichen vermag, und somit einerseits

verarmt, andrerseits tiberfüllt bleibt.

Es handelt sich mithin bei der Melancholie nicht um einen Mangel an Gedanken, sondern vielmehr um Stagnation oder um einen monotonen Schraubengang derselben Gedankenreiheu , um ein „Gedankenbohren", wie es viele Kranke nennen. Der Melancholiker ist in seinem Denken überreich beschäftigt und langweilt sich nie. Nicht selten stellt sich neben der fixirten Affectvorstellung auch noch ein wirklicher Gedanken - drang ein (s. o.), ein Anstürmen peinlicher Reminiscenzen und beängsti- gender Wahrnehmungen; aber das schmerzgebannte Ich kann sie nicht appereipiren. Viele Kranke geben selbst an, dass ein Wort, eine Erin- nerung, deren Anrücken schon wie ein Alp drückt, eine Reihe schmerz- licher Gedanken in ihnen weckt, welche sich mit steigender Flucht zu vollständiger Verwirrung zusammendrängen. Als häufige Reactionen auf diese innere Qual erscheinen die Eingangs bezeichneten motorischen Re- flexe. Gewöhnlich gehen auch Wallungen zum Kopfe, vermehrte Herz- action, unter Umständen Angstanfälle mit einher. Bei dieser Ueberfüllung des Bewusstseins mit Schmerz- und Reuegedanken werden die übrigen Vorstellungen, welche dem zersetzenden und hemmenden Einfluss der melancholischen Stimmung noch entrinnen können, nach und nach dem Ich so entfremdet, dass es dieselben nicht mehr als sein Eigenthnm er- kennt, und der Kranke allmählich an der Realität aller Dinge zweifelt.

In vielen Fällen hat es bei diesen formalen Störungen sein Be- wenden, und der Kranke hat ohne nur eine einzige unrichtige Idee in sich zu beherbergen mit dem Können auch das Verständ- niss seiner Umgebung eingebüsst; er verarmt mitten in dem Reich- thum äusserer Geschehnisse, welche er nicht aufzunehmen, oder nur in Einer Farbe zu erfassen vermag. Liegt in dieser lediglich for- malen Störung eigentlich auch schon eine inhaltliche Fälschung, so tritt diese letztere nun ausgesprochen in der Entwicklung des melan- cholischen Schmerzes zu einer adäquaten Vorstellung zu Tage.

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Melancholie. Vorstellungsatörungen. Wahn.

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Nicht immer, aber allermeist, vollzieht sich diese psychologische Folge: der melancholische Wahn entsteht als logische Erklärung des peinigenden, bis dahin unbegriffenen innern Weh's. Diese Ent- wicklung kann unbewnsst geschehen, manchmal aber auch auf dem Umweg der Reflexion. Aus dem gegenwärtigen Tagesgeschehen oder aus dem Vorleben, aus einer auffälligen Wahrnehmung oder als Frucht eines prüfenden Grübelns wird der gesuchte „Beweis" hergeholt, der dunkeln Schmerzempfindung das erklärende „Wort" geliehen. Und an Veranlassung, an Material, fehlt es ja in keinem Leben; gibt's doch „Keinen, der nicht wird bewahren still ein Weh in seiner Brust!" Einmal gefunden, bleibt es erfasst und in steter Wiederholung festgehalten.

So entsteht der Versündigungswahn, der Wahn der Pflichtversäumniss gegen Beruf und Angehörige, der Wahn, verhungern zu müssen etc. Für den concreten Inhalt der Wahnideen im Einzelfall ist Übrigens nicht immer nur ein beliebiger Einfall oder eine zufällige Reminiscenz aus dem Vorleben des Kranken maassgebend, sondern sehr oft (wenigstens mit- bestimmend) die Qualität einer mit beglei tenden Seusibili- tätsanomalie. Körperliche Hyperästhesieen, Anästhesieen oder Dys- asthesieen, mit den zugehörigen Organempfindungen (Intereostalnerven mit den Beklemmungsgefühlen, sexuale Keuralgieen) sind es, welche das Ich „stimmen" d. h. es veranlassen, in der oder jener Richtung die „auf- klärende" Thatsache im Vorleben aufzusuchen. Auch ohne einen solchen, mit ihrem Timbre harmonirenden, Thatsachen- Beweis diktiren sie zweifel- los oft genug dem Bewusstsein direct die Wahnvorstellung durch Alle- gorisirung ihres psychischen Eropfindungsinhalts. Wie hochwichtig dieses Verhältniss für das klinische Verständniss ist, liegt auf der Hand. Die Wahnideen der Versündigung, des Verhungerns scheinen auf der Grund- lage elementarer (hier wohl intracerebraler) Dysästhesieen sich aufzubauen. Dabei ist ein klinisches Moment für die Beurtheilung dieser Allgorieen hochwichtig: die psychiche Leistungskraft des Hirn-Organs selbst, als des schlussbildenden Apparats für die Verwerthung resp. mehr minder adäquate Erfassung der zugeleiteten Empfindungen. Im Allgemeinen wird diese um so zutreffender und richtiger, d. h. in der Allegorisirung der Sensation um so realer sein, je funetionskräftiger die Hemisphärenleistung. Barocke, phantastische Umdeutungen deuten er- fahrungsgemäß c. p. immer eine entsprechende psychische Schwäche, unter Umständen eine degenerative (z. B. senile) Hirnfunction an. Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass tiefere Ernährungsstörungen flir die „3chluss"kraft des Gehirns nicht selten vorübergehend dieselbe depoten- ztrende Wirkung haben können, wie degenerative Hirnleiden (so nament- lich hochgradige Anämieen). Darnach ist die „auscultative" Verwerthung der Wahnideen sorgsam zu prüfen!

In einer andern, kleinern, Reihe von Fällen kann dagegen die Vorstellung, welche den Kern der nachfolgenden Melancholie abgibt,

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Die Melancholie. Allgemeines.

voraufgehen, und reactiv entweder langsam oder acut die zuge- hörige depressive Stimmung aufrufen. Dies ist namentlich der Vorgang bei den Melancholieen aus sog. Zwangsgedanken. Zufällige erschüt- ternde Wahrnehmungen (Erzählungen von Schauererlebnissen, Anblick von gewaltsam Getödteten, oder auch plötzliche blasphemische Ein- fälle, namentlich in der Kirche) bleiben haften, und mit ihnen die be- gleitende Affectwirkung. Der Gram Uber einen solchen unberufenen Gast, welchen das Bewusstsein mit aller Mühe nicht mehr los werden kann, steigert sich nun nicht selten zur Verzweiflung und gibt der schmerzlichen Spannung eine Gradstärke und Dauer, dass langsamer oder rascher die Melancholie perfect wird. Brüske Begegnungen, allzu herbe Verweise, ein eindringliches Predigtwort, namentlich oft aber ein heftiger Schreck können die geschilderte Genese, welche bei peracuten Fällen stets eine nervös vorbereitete Individualanlage voraussetzt, zu Stande bringen.

Statt aus dem eigenen Vorleben des Kranken kann aber die melancholische Verstimmung auch aus der Anssenwelt die Er- klärungsgründe für das so schmerzlich veränderte Fühlen, und nament- lich für das Gefühl des peinlichen Gehemmtseins, der Willenlosig- keit, herholen. Der Kranke leidet durch Andere, denen er durch eigene Schuld sich in die Hand gegeben, die ihm übelwollen, weil er ein so schlechter Mensch ist (nicht wie der Wahnsinnige, den man gegentheils wegen seiner „Vorzüglichkeit", oder „weil er Andern im Wege ist", so verfolgt). Theils sind es drohende oder wirkliche aber immer „gerechte" Verfolgungen durch die Polizei etc., theils in mehr mystischer Richtung die directen Bedrängungen durch den „bösen Feind" (Dämonomelancholie). Treten dazu noch tiefer grei- fende Sensibilitätsanomalieen , speciell aus den Empßndungsgebieten unserer individuellen Körperform, so baut sich auf dieser dämono- manen Grundlage noch der Wahn der Metamorphose der körper- lichen Persönlichkeit in eine aussermenschliche Existenz (Thiere) auf.

Eine besondere Erwähnung verdienen die hypochondrischen Wahnvorstellungen, welche gewisse melancholische Zustände aus- füllen, manchmal aber auch nur die Anfangs- und Schluss-Stadien begleiten.

Das tiefe Weh dieser Kranken gründet sich auf die gesteigerte Wahrnehmung der veränderten Körpersensationen; aus der krankhaften Ueberempfindung folgen die übertriebenen Schlüsse und Befürchtungen. Namentlich sind es die abnormen Gefühle im Kopfinnern („Düppel im Kopfe", Schwindel, Nebel, Benommenheit, Gefühl von Hirnsteifigkeit, von „Zittern und Rieseln im Hirn, als ob Blut herablaufe", Gefühle von „Todtsein im Kopfe", von „absoluter Taubheit der Gedanken", welche

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Sensorische, sensible uud vasomotorische Begleitsymptoine. 33

die Kranken beängstigen und rathlos und auf das Aeusserste gefasst machen. Manchmal tritt ein momentanes Gefühl der Geistesabwesenheit ein, als ob Alles in dem Krauken, namentlich seine Miene starr würde, und die Augäpfel herausträten. Sodann die beklemmenden uud beschweren- den Empfindungen in der Magengegend (das stete „Vollsein", dass kein Essen mehr Platz hat), im Schlünde („wenn ich's nur wegschlucken könnte!"), das peinliche Herzklopfen mit aussetzendem Herzschlag, und die daran geknüpfteu Befürchtungen von Herzschlag uud Apoplexie. Auch aus dem Schlundkrampf entwickelt sich eine furchtbare Angst und Todesfurcht, so Ubermächtig, dass „der Herrgott selbst es dem Kranken uicht auszureden vermöchte". Oft geht's vom Schlund in den Rücken und von der Mitte des Brustrückgrats hinauf (schmerzhafte Punkte) Uber die Achseln in den Kopf, so dass ein Rash durch den letztern fliegt, und der Kranke sich momentan nicht mehr zu helfen weiss, zu irgend einer perversen That (Fortlaufen) getrieben wird. (Weiteres s. im Speciellen.) In recht durchgearbeiteten (von peinlicher Selbstbeachtung und Grübelei ausgemusterten) Krankheitsfällen ist kein Fleckchen am Körper, welches nicht Bchmerzt oder nicht abnorm empfindlich ist, so dass schliesslich der Kranke in eiuem Chaos von beängstigenden und peinlichen Miss- empfindungen aufgeht (Brennen auf dem Scheitel, Verstopftsein der Uhren, Klopfen und Grillentöne in den letztern, Nebel vor den Augen, Geschmacklosigkeit, Behinderung im Schlingen, Aufgetriebenheit des Lei- bes, häufiger Drang zum Uriulasseu, Brennen in der Harnröhre, Schmerz beim Stuhlgang, „Knacken" in den Knicen, Zittern in den Beinen etc.).

c) Anomalieen der sensorischen, scnsibeln, vasomotorischen und trophischen Functionen. Mimik. Die Leistungen der Sinnesfunctionen im Allgemeinen richten sich in der Melancholie nach dem Staude der Cerebral-lnnervation. In hyperästhetischen Stadien gesteigert und verschärft (jede Farbe, jedes Geräusch thut wehe, gerade wie jede geistige Ansprache), werden in den passiven Phasen, in wel- chen der Kranke, durch sein inneres Weh abgezogen, au der Aussen- welt keinen oder nur den geringsten Antheil uimmt, die Wahrneh- mungen matt und farblos; kein noch so verlockender Siunes-Eiudruck kommt mehr zur Geltung, selbst die Scbmerzempfindungen sind so herabgesetzt, dass der Kranke nicht einmal der Wunden zu achten vermag, die er sich in der Verzweiflung unbarmherzig beibringt. Speise und Trank vergtsst er, selbst junger- und Durstgefühl kaun neben dem inneru Weh nicht mehr zur Perception gelangen.

Dabei ist merkwürdig, wie in der melancholischen Unruhe die Nahrungsverweigerung mit krankhafter Essgier (ganz ohne Sättigungs- geflihl) abwechselt, und wie ruheloser Verzweitluugsdrang oft iu un- bändiger Masturbation sich austobt is. u.).

Eine betondere Hervorhebung verdienen die in der Melancholie auftretenden Sinnestäuschungen. Es sind Hallucinationen, und

Schale, Ü€bt«*»tJruDb'en. 3. Aufl. 3

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Die Melancholie. Allgemeines

in noch grösserer Häufigkeit Illusionen. Letztere begleiten nament- lich die Angstparoxysmen. Oft leiten Illusionen oder Hallucinationen den Beginn der Krankheit ein, so namentlich, wenn durch den Chok eines plötzlichen Schrecks (Anblick eines Erhängten) der als Zwangsgedanke gebliebene emotive Eindruck die nähere Krankheits- Ursache bildet: da rauscht es in den Ohren und aus den Wänden, Fledermäuse huschen durch die schlaflose Stille der Nacht, das Gesichtsbild wird abwechselnd neblig, roth oder blau, Lichtblitze zucken durch das Zimmer und zeichnen die geftlrchtete Schreck- gestalt ab etc. Geformte und selbständige Hallucinationen stellen sich in der Regel erst mit zunehmender Krankheit, auf deren Höhen- punkt, ein; bald bleiben sie dann dauernd, bald treten sie zeitweilig zurück, um paroxysmenweise (Menses, Gemtithsbewegungen, grössere körperliche Anstrengung) wiederzukehren. Hauptsächlich sind es Hallucinationen des Gehörs, Hallucinationen und Illusionen des Ge- sichts und Illusionen der übrigen Sinne, welche beobachtet werden. Bezüglich ihres Inhalts figuriren die „Stimmen" theils als Verkünder drohender Strafe, theils als höhere Weisungen und Handlungsbefehle (imperative Gewaltacte); in „Schreien und Jammerrufen" tönt die Furcht, als ob die eigenen Verwandten gemartert würden, dem Kran- ken entgegen. In den „Gesichten" erscheinen schwarze Figuren, als Incarnationen des Höllengeistes, unter allerlei legendenhaften Meta- morphosen, oft unter Thiergestalt. Oft spricht der Kranke selbst in zweifachem Sprachtimbre, wovon der eine Sprachton dem andern antwortet. Unter die Illusionen sind zu rechnen: die plötzliche Farbenveränderung äusserer Gegenstände, wodurch sie dem Kranken als „eben vom Teufel in Besitz genommen" imponiren; namentlich auch die gehörten Zurüstungen von „aufgerichteten Guillotinen, her- beigetragenen Särgen", in welche zufällige äussere Geräusche sich umdeuten. Auch einfache Hyperästhesieen des Gehörs und Gesichts (Empfindlichkeit gegen einzelne Farben, z. B. gegen das „Roth") gehen und kommen; zeitweise erscheint gegentheils Alles wieder abgeblasst, farblos, musikalische Tonfolgen und Lieder als unharmo- nisch. In der Sphäre des Geruchs peinigen Verwesungsgerüche, in der des Geschmacks allerlei Ekelempfindungen („Alles ist Dreck"), in der Tastsphäre endlich sind es nächtliche obseöne Berührungen (bei sexualkranken Frauen) durch den „bösen Geist", welcher (in Reflexhallucinationen) sich theils als „Person mit Hörnern", theils als „Hund", theils als „Löwe" nähert. Die höchste Entwicklung und durchgreifendste Allegorie erfahren diese Tast- und GemeingefUhls- Illusionen durch krankhafte Umänderung resp. Aufhebung der körper-

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Pathogenetische und psychophysische Function der „Neuralgieen-. 35

liehen Begrenzungsgeftthle (8. o.): so entstehen jene Thiermetamor- phosen, wo der Kranke glaubt z. B. ein „Wolf geworden zu sein, „weil er so viel essen müsse", oder eine „Hornisse", weil es ihm die untern Rippen oft einziehe, oder ein „Hund", weil er in seiner All- angst plötzlich bellende Schreilaute auszustossen und krampfhaft um sich zu beissen sich getrieben fühlt.

Die klinische und namentlich auch forense Bedeutung der Sinnes- täuschungen in der Melancholie ist nicht hoch genug anzuschlagen. In ihnen resp. deren imperativer Gewalt beruhen die meisten der melan- cholischen Gewalt -(Zwangs-) Acte. Jeder hallucinirende Melancholiker ist gemeingefährlich. Bemerkenswerth ist übrigens, dass die „ächten" Hallucinationen nicht so häufig sind (in reinen Melancholieen) als die Pseudohallucinationen und Illusionen; sehr oft imponirt ein lebhafter Ge- dankendrang, eine rasch und unter Angst auftretende Vorstellung dem Kranken als „Stimme"; es fehlt ihr aber der eigentlich sinnliche Timbre. Dieses gilt namentlich auch von den „aus der Brust" oder „aus der Herz- grube" laut werdenden Gesprächen; genauer analysirt .sind dies nur leb- hafte Gedanken, welche durch die mitbegleitendc Präcordial- und Inter- costalempfindung das „objectivirende" Moment enthalten, aber doch nicht eigentlich sinnlich „gehörte" sind. Manche „Stimmen" sind auch illuso- risch ausgelegte „Ohrgeräusche" (namentlich bei Chlorotisehen) auf Grund- lage desselben einseitig begünstigten Gedankendranges. Klinisch höchst bemerkenswert!! ist die prognostische Bedeutung der Hallucinationen für den Verlauf des Einzelfalles. Melancholieen mit ächten und sehr leb- haften Hallucinationen gehen nicht in ein manisches Nachstadium Uber, sondern entweder direet resp. successive in Genesung, oder durch den Zwischenact eines hallucinatorischen exaltirten Wahnsinns während die uncomplicirten, d. h. hallucinationsfreien Fälle erst durch ein ächt ma- nisches Tebergangsstadium sich krilisiren (Hagen). Das Paradigma für den letztern Modus sind die Melancholieen in den Circulärpsychosen.

Nicht minder wichtig als die sensorischen sind die sensibeln Störungen in der Melancholie. Man kann, wenn auch nicht mit Ausschliesslichkeit, annehmen, dass jede in einen bestimmten Wahn- gedanken ausgearbeitete Melancholie mit einer zugehörigen Sensibi- litäts-Anomalie (welche auf neuro- oder rausculo- oder endlich vaso- sensibelra Gebiete liegen mag) verbunden ist; und ferner: dass die psychisch-pathologische Ausgestaltung der Melancholie gerade in der peripheren Ausstrahlung vom erkrankten Gehirn abwärts erst über die vasomotorischen und dann über die spinal- sensiblen Nerven- gebiete besteht.

Es entspricht dies ganz dem physiologischen Gang der Affectaus- breitung: motorisch von den Hemisphären abwärts schreitend vom Oculomotorius zum Facialis und dann Uber die Stammmusculatur; vaso- motorisch und sensibel von den corticalen Vasomotoriusfeldern zum wichtigsten psychischen Aftectnerv: dem Vagus, und von da über die spi-

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Die Melancholie. Allgemeines.

nale Rückensäule, vor Allem zu den Intercostalnerven und im Weiteren zu dem Splancliuicus. Dieses physiologische Sclieraa erhält sich auch unter den pathologischen Bedingungen der depressiven Affectneurose in der Melancholie, nur mit der Modifikation, dass durch die grundliegende somatische Störung (Anämie, Sexualreiz, Brnst- und Unterleibs-, in spe- cie Uterin-Affectionen) sich meistens schon vorher 8ensibilitätsstörungen, resp. Neuralgieen ausgesondert haben, welche fiir die centrale Ansprache (von den Hemisphären aus) bereit stehen, und so das gesuchte und un- entbehrliche periphere Affect-Element entgegenbringen. Es ist oben be- reits auf die „wahnfärbende" Bedeutung dieser peripheren Sensibilität« - anomalieen aufmerksam gemacht worden ; hier ist jetzt der Ort, die letztern in ihrer klinischen Verwertuung besonders hervorzuheben. Man wird bei der Untersuchung der Einzelfälle alle Modifikationen derselben vorfinden : Hyperä8thesieen, Dys- und Anästhesieen. Gewöhnlich sind es umschrie- bene Neuralgieen , am häufigsten der Intercostalnerven , dann auch des Trigeminu8 und Occipitalis; dazu treten die visceralen Empfindungs- störungen im Gebiete der Herz-, Schlund- und Unterleibsnerven. So loca- lisiren viele Kranke ihre „Angst" in den Unterleib in Form einer von der Uteringegend aufsteigenden Aura; Andere bezeichnen ein Zittern oder Klopfen im Hypochondrium, ein Kriebeln im Nacken, ein Hautjucken als den Aufaug; von da steigt es an den Nabel und in den Unterleib; hier beginnt manchmal sofort eine massenhafte Entwicklung von Blähungen, welche unwillkürlich abgehen und „geruchlos" sind. Nun tritt Gähnen und zugleich die heftige Angstempfinduug ein. Letztere dauert, bis die Sensationen und Bewegungen im Unterleibe wieder vorUber sind.

Der bei Melancholikern, man kann sagen ausnahmslose, Präcordial- druck (von der Herzgrube bis zur Mitte der Brust hinauf, „da, wo man Leid und Freud empfindet") reiht sich unter eine dieser Kategorieen : entweder ist er ein Theil der Vagus-Neurose, oder der Eflfect einer Inter- costal-Neuralgie, oder aber eine vasomotorische lnnervationsstörung des Herzens. Allermeist gehört derselbe wohl den beiden erstgenannten Entste- llungsgebieten an. Iu gleicher Weise treten auch die anderen Neuralgieen: occipitale, brachiale, manchmal auch crurale (ischiadische) psyebo-phy- sisch (durch ihren Empfindungs-Timbre), vor Allem aber in der beschrie- benen Weise pathogenetisch (dadurch, dass sie den psychischen Reiz den Aflectgedanken, die melancholische Wahnvorstellung fixi- ren) integrirend in den physio- pathologischen Symptomencomplex der Melancholie ein. Die Klagen des Kranken Uber das drückende Gewissen, über die ihm verlorene Seligkeit, über den Dämon, der Uber ihn Gewalt bekommen also der melancholische Wahnkern bezieht sich auf diese Missempfindungen in der Herzgrube: hier werdeu umschriebene Stellen als directer Sitz der genannten Klagen bezeichnet, so dass die Entstehung jener aus einer Allego risiruug der daselbst gefühl- ten Parästhesie vom Krauken selbst täglich demonstrirt wird. In den brennenden Gefühlen im Rachen „lecken die Flammen des bösen Feindes herauf", in dem Wühlen im Halse, in der Hitze im Magen, welche nach dem Essen über Brust, Hals und Kopf schiesst, offenbart sich derselbe Dämon, welcher dem Kranken dadurch nur die Stelle an- deuten will, „wo er sich an das Leben gehen soll". Für die Folge bildet

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Vasomotorische und trophische Störungen.

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sich auf der soeben entwickelten Grundlage ein klinisch sehr wichtiges Wechselverhältniss herans: die beiden verbundenen Elemente das cen- trale (die Wahnidee resp. deren psychisches Aequivalent) und das peri- phere (die erregte sensible Nervenbahn, resp. deren vasomotorisches Aequi- valent) rufen wechselseitig einander hervor und bilden in ihrem Auftreten und Zusammenhang einen circulus vitiosus. Darin beruht die hochwich- tige klinische Function der Neuralgieen (qua in Miterregung begriffener sensibler Nervenbahnen): sie bilden ein wesentlich zugehöriges Glied in der Pathogenese dieser Melancholieen und zugleich den dauernden An- reiz für die sofort parate Schwellentiberschreitung der Wahnidee resp. des damit verbundenen Angstzustandes.

In schwereren Fallen, namentlich von plötzlicher Chok- Melancholie, finden sich auch locale, oft einseitige, Anästhesieen, so namentlich im Gebiet des Trigeminus. Nicht selten combiniren sich auch oberflächliche Anästhesieen mit neuralgischen Hyperasthesieen in der Tiefe (Inter- costalgebiet).

Die vasomotorischen Begleiterscheinungen der rüstigen Me- lancholie bestehen, so weit sie sich sphygmographisch darstellen lassen, in einer verstärkten Tricrotie des Radialpulses (vermehrte Contractur des Arterienrohrs). In spätem Stadien und ebenso bei tief constitutioneller Angegriffenheit (namentlich auf anämischer Grund- lage) treten die Zeichen der Gefässlähmung (tardo-dicrote, nnd selbst monocrote Formen) auf. Sehr häufig sind zeitweilige congestive Rash's zum Kopfe (besonders bei Angstzufällen, hier auch mit My- driasis), mit klopfendem, sehr entwickeltem raschen Carotidenpulse, neben kleiner Radialis und kühlen Extremitäten.

Anderemale wechseln, besonders in der Bettruhe, Frost- und üitze- zustände, wovon die letztern den Kranken sogar aus dem Schlafe stören und aus dem Bette treiben. Manchmal wird namentlich Uber Kälte in den Ohren geklagt, so dass der Kranke nicht ordentlicli hört und mit den Fingern darin bohren muss. Auch im Gefolge recrudescirter Neural- gieen treten vielfach vasomotorische Fluxionen auf, besonders bei jenen der Intercostalnerven. In dieser Wechselwirkung entstehen manch- mal auf eine tiefe Gemüthsbewegung (mit Ansprache der Intercostalbahnen) mehr weniger starke Wallungszustände zu den Lungen , welche nament- lich bei decrepiden alten Melancholikern Bronchialkatarrhe hervorrufen, oder bestehende erheblich verschlimmern können.

Bei den torpiden und passiven Formen ist der Puls gegentheils schwach, oft selten, mit hervortretender venöser Circulation; oft stellen sich im Verlaufe Oedeme der Knöchel, selbst der Fusse, ein. Bei sehr chronischen Formen wird in späteren Stadien auch eine teigige Infiltra- tion der Stirnhaut (wohl mit Stasen in der Schädelhöhle) beobachtet.

Trophisch treten eine Reihe bald mehr, bald weniger ausgebil- deter Symptome hervor. Das fast ausnahmsloseste derselben ist die snc- cessive Reduction der Ernährung und ebenso der Mangel in der Blut- bildung — nicht selten trotz zureichendem Essen und reichlichem Gebrauch

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Die Melancholie. Allgemeines.

der Tonica und Eisenmittel (bei hysterischer Melancholie fand ich anfäng- lich erst sehr starke Fettanbildung bei entsprechender Nahrungezufuhr, und zwar dies trotz der activ depressiven Stimmung; im späteren Krank- heitsverlauf starke Gewichtsabnahme um 30 Pfund). Die Besserung der Ernährung und des Aussehens kündigt nach alter Erfahrung (c. p.) in zuverlässiger Weise die eingetretene Reconvalescenz an, deren psychischer Theil in der Regel erst nachfolgt. Manchmal vollzieht sich dieser Um- schlag auffallend rasch wie wenn eine bis dahin bestandene Sperre im trophischen Nervenhaushalt wäre ausgeschaltet worden (so nicht selten auch hei künstlicher Ernährung). Die Haut wird während der Krankheit meist trocken, welk, spröde durch stark wachsende Epidermisschüppchen ; das Aussehen schmutzig livide, gedunsen, nicht selten gealtert. Mit der Reconvalescenz kehrt auch der alte Turgor und die frühere Frische wie- der. Bei tieferen Störungsgraden tritt gern auch Fettschweiss und ein zunehmender Anflug von Lanugo über das Gesicht auf letzteres in chronischen ungünstigen Fällen. Auch Haare und Nägel werden oft spröde, die ersteren manchmal rasch melirt, um merkwürdigerweise hie und da gleichfalls zur frühem jugendlichen Farbe mit Eintritt der Re- convalescenz zurückzukehren. Desorganisation der Knorpel (speciell des Ohres mit Neigung zu Othämatomen i , Brüchigkeit der Knochen, tiefe Assimilations- resp. Blutbildungsstörungen, welche unter dem Bilde per- niciöser Anämieen mit Petechienbilduug im Gehirn und in der Haut ver- laufen, sind die trophische Mitgift ganz schwerer, in Unheilbarkeit ver- laufender Fälle. Nicht selten ist Neigung zu Furunkelbildung, zu Phlegmonen, oft auch zu Hautafiectionen, bei senilen Formen besonders zu Prurigo, vorhanden. Die Körpertemperatur zeigt für gewöhnlich, d. h. bei frischer und rüstiger Erkrankung, keine Alteration; bei torpiden For- men ist sie nicht selten um einige Zehntel unter der Norm.

Die Respiration ist in der Regel sofern nicht Angstparoxysmen da sind verlangsamt und oberflächlich. Zum Theil liegt die Ursache wohl im Nervenleiden selbst, zum Theil in der durch die ängstliche De- pression veranlassten Körperhaltung; auch der Intercostalschmerz mag hiefür nicht ohne Bedeutung sein. Es muss an dieser Stelle auf die hier- aus resultirende Schädlichkeit, welche sowohl mechanisch in Behinderung des richtigen Blutabflusses aus dem Gehirn besteht, als auch chemisch in der dadurch gegebenen mangelhaften Decarbonisirung des Blutes, hinge- wiesen werden. Palpitationen des Herzens werden oft geklagt; manch- mal sind dieselben äusserlich nachweisbar; anderemale steht die subjective Empfindung in keinem Verhältniss zum geringen objectiven Ergebnisse. Hier sind wahrscheinlich intracardiale Sensationen, oder aber eine durch den Anschlag an die neuralgische Brustwand verstärkt gefühlte Herzaction zur Erklärung beizuziehen.

Störungen der Verdauungsfunctionen sind bei der Melan- cholie sehr häutig. Dyspepsieen, abnorme Säurebildung, Magenkatarrhe mit starkem Zungenbeleg, letzterer auch periodisch allein auftretend; namentlich aber Darmkatarrhe mit hartnäckiger Obstipation und Abson- derung von froschlaichähnlichem Schleim, mit den oft höchst fötid riechenden knolligen Stuhlen, sind ausserordentlich häufige Symptome. Gewöhnlich erscheint unter den ersten verlässlichen Zeichen der Recon-

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Störungen der Respiration, Verdauung u. 8. w. Mimik.

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valescenz eine Regelung des Stuhlganges. Nicht selten ist auch zeit- weilige Lienterie zugegen. Die meisten Kranken leiden an mehr weniger grosser Appetitlosigkeit, welche sich nicht selten in den Dienst des Wahnes stellt (Un Würdigkeit zu essen) und zur Nahrungsverweigerung fuhrt; anderemale ist die letztere aber auch ausschliesslich Wahneffect (Versündigungswahn); in manchen Fällen führen vielleicht die faulenden Epithelien des Zungenbelegs ein psychisches „Verwesungsmotiv" ein, welches zur Absage der Nahrung führt. In einer kleinen, aber beach- tenswerthen Gruppe spielen pharyngeale Krämpfe mit, welche den Schling- act hemmen und dämonomanisch ausgelegt werden.

Sehr häufig sind im Verlaufe von Melancholieen Störungen der Menstruation, besonders cessatio mensium. Diese kann Uber die ganze Krankheit fortdauern und mit ihrem Schwinden die Wiederkehr der Re- con valescenz bezeichnen. Manchmal tritt übrigens die Genesung auch ohne vorherige Menses- Regulirung ein. Sehr gefährdend resp. verschlim- mernd für den Krankheitsverlauf wirken Menorrhagieen durch ihre anii- misirenden Folgen.

Die sexuellen Functionen, speciell die normalen Sexualreize bei bei- den Geschlechtern, liegen oft während des melancholischen Paroxysmus darnieder; anderemale aber tritt anfall weise ein gesteigerter Drang nach geschlechtlicher Befriedigung, oft in Form von gebieterischer Masturbation, zu Tage.

Fast allen Formen von Melancholieen gemeinsam (mit Ausnahme weniger, welche zu den circulären oder periodischen gehören) ist die Schlaflosigkeit. Diese kann ausserordentlich rebellisch sein und den denkbar höchsten Grad erreichen, oft trotz aller Arzneimittel. Manch- mal schlafen die Kranken einige Stunden und wachen dann auf, im Schweiss gebadet und mit verstärktem Piäcordialdruck. Der Schlaf kann Wochen und Monate lang fehlen und erst mit Eintritt der Reconvalescenz lang- sam, oder auch plötzlich, wieder sich einstellen. Sehr häutig sind bei unruhigem Schlaf die peinlichen, ausserordentlich lebhaften und beäng- stigenden Träume. Dabei ist interessant, dass manchmal in der Recon- valescenz das gesammte wahnhafte Vorstellungslcben (mit allen Befürch- tungen und SelbstvorwUrfen) erst noch in den Traum übersiedelt, nachdem es aus dem wachen Bewusstsein schon gestrichen ist, und dort sein nächt- liches Dasein noch kurze oder längere Zeit fortführt, bis es endlich ganz untertaucht.

Die Mimik des Melancholikers zeigt einen fixirten Affect des Schmer- zes in den starren, wie aus Holz geschnitzten Zügen, welche oft durch Tage und Wochen festgehalten werden, wenn nicht der Schmerz der Verzweiflung oder Angst sie zu einem leisen Beben belebt. Oft ziehen die Kranken die Lippen zusammen, oder beissen leicht auf eine Seite der Unterlippe, während die Hände ineinander gelegt und gerieben werden als Ausdruck ängstlicher Rathlosigkeit. Der Blick hat gleichfalls einen Starren, oft durch Vortreten der Bulbi noch grösseren Ausdruck; bei andern zeigt gegentheils das verschleierte matte Auge die innere Resig- nation an, welche die Erfüllung ihres Verhängnisses erwartet. In schweren (organischen) Melancholieen hat der Blick etwas fremdartiges: er schweift unruhig und ziellos umher und wird dazwischen plötzlich starr mit dem

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Die Melancholie. Allgemeines.

Ausdruck des Amaurotischen (prognostisch mali ominis!). Auch die Hal- tung und Physiognomik sind vorwiegend starr und gebunden, ausser in den Erregnngsstadien der agitirten Melancholie, wo das jetzt entfesselte, aber monotone Geberdenspiel den entlastenden Reflex darstellt, welcher auf Stunden und Tage die schmerzliche Hemmung durchbricht. Nament- lich fallt die Nackenmusculatur durch ihre Spannung und die dadurch bedingte steife Kopfhaltung in den Acmestadien der Kranken auf. Die intendirten Bewegungen sind langsam, trage, energielos. Die Sprache ist gewöhnlich halblaut, zögernd, nicht selten verspätet, sodass der Kranke erst spricht, wenn man ihn verlassen will; die Sätze sind häufig unvoll- endet, oft nur aus einigen Worten bestehend. Manchmal werden die Antworten nur in Seufzern oder einförmigen Iliterjectionen gegeben, oder auch in Ausbrüchen von Weinen und vcrzweiflungsvollem Jammern, so- wie man den Kranken anredet. Neben diesen ausgesprochenen melan- cholischen Typen gibt es aber einen minder hervortretenden „mildern", aber doch sehr charakteristischen und bemerkenswerten , weil er jene Kranken betrifft, welche durch äussere Ruhe und scheinbare Fassung, durch ihr artiges und bescheidenes Auftreten ihren Seelenschmerz zu ver- decken wissen. Hier ist es der einförmige Ernst auf den zeitweise ge- spannteren Zügen, welch letztere sich im Gespräche häufig zu einem Gewohnheitslächeln verziehen, der Uberaus scheue, meist niedergeschlagene Blick, die matte und einförmige Sprache, die Stille und Schweigsamkeit, das Zaghafte und Zurückhaltende im Benehmen, das träumerische, „nä- gelkauende" Umherstehen welche den äusseren Habitus zusammensetzen.

Therapie.

a) Somatische. Die Indicationen sind : 1 . R u h e dem erkrankten Nervensystem, und zwar sowohl dem hyperästhetisch -psychischen Centraiorgan, als auch den von der Peripherie wirkenden Reizen (Neuralgieen); 2. Bekämpfung aller complicirenden Begleiterkran- kungen (Gastricismen, Obstipation etc.); 3. Hebung der gesunkenen Körperernährung.

Hier fällt die Aufgabe der somatischen Therapie zugleich mit der der psychischen zusammen; nur unter Beiziehung der letztem lässt sich der erstem genügen (s. u.). Speciell: Sorgfältige Diätetik. Der Kranke muss alle anstrengenden Beschäftigungen vermeiden, be- sonders jede ermüdende Kopfarbeit; er soll viel in frischer Luft sich aufhalten, kleine Spaziergänge machen, Morgens sich genügende Bett- ruhe gönnen, Abends bei Zeit sich legen. Zur Unterstützung dienen lauwarme Wannenbäder mit kalten Umschlägen, mit Vortheil Abends gebraucht. Bei Neigung zu Kopfcongestionen Fuss- und Handbäder, event. temporärer Gebrauch von Eis. Bei anhaltenden Congestiv- zuständen, activen und auch passiven (in chronischen Melancholieen), sind zeitweilig Blutegel hinter die Ohren angezeigt (sofern der Kräfte- zustand es zulässt); unter Umständen auch Digitalis. Nicht selten

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Therapie : Diätetik. Bettruhe. Behandlung der Schlaflosigkeit. 41

reicht diese einfache Therapie aus, namentlich im Anstaltsleben; mit der neuen Umgebung, welche zugleich die Erfüllung der psychischen Indicationen in sich schliesst, findet des erkrankte Gehirn bei täglichen Bädern und Fürsorge fUr den Schlaf auch körperlich seine Ruhe. In der Regel gelingt dies aber nur bei leichtern und frischen Fällen. Ist der melancholische Affect stärker, steigt derselbe bis zur Melan- cholica agitata, so kann zwar oft das genannte einfache Regimen auch noch genügen, aber stets nur in Unterstützung durch den Asyl- Aufenthalt (s. u.). Eine sehr wesentliche, nicht genug zu schätzende Mithülfe bei dieser symptomatischen Behandlung bildet namentlich die Bettruhe: die Horizontallage erleichtert die Hirn-Circulation und leitet mit der motorischen Ruhe auch die cerebrale ein. Bei anä- mischen, erschöpften, speciell nahrungsverweigernden Kranken steht dieses diätetische Mittel in erster Stelle, so zwar, dass man dasselbe unter Umständen durch Beihülfe eines Wärters (Wärterin) durchführen rauss. Dabei Fürsorge für die nöthige Bettwärme, so besonders bei Kranken mit Cyanose und Kälte der Füsse.

Reicht auch dieses Regimen (Bettlage, lauwarme Bäder, ent- sprechende Diät, s. u.) zur Erzielung der Ruhe nicht aus, so greifen wir zu narkotischen Mitteln. Diese sind zunächst auf Erreichung eines genügenden Schlafs gerichtet Im Paraldehyd ist uns dafür in neuester Zeit ein Arzneistoff geschenkt worden, welcher ebenso sicher wirkt, als er wenigstens bis jetzt ganz gefahrlos er- scheint, selbst bei längerem Gebrauche. Man beginne mit 3 Gnu., und steige bis zu 6 und S Grm. ; die höhern Gaben gibt man öfters mit Vortheil in 2 getrennten Portionen (4 vor Schlaf beginn, 2 ev. während der Nacht). Chloral, in Dosen von 1 —2 Grm., ist vielleicht noch wirksamer wie Paraldehyd; aber für die Dauer ob seiner vaso- paralytischen Wirkung gefährlich. Bei decrepiden Melancholikern mit Herzschwäche ist Kampher (0,06 0,13) ein mit Recht geschätztes Schlafmittel.

In sehr acuten Fällen ist es aber mit der Erzielung der Nacht- ruhe allein nicht gethan. Das hyperästhetische Gehirn, welches auf alle Gedanken und Wahrnehmungen nur mit Schmerzempfindungen antwortet und in motorischen Reflexen sich zu entlasten sucht, ver- langt auch unter Tags gebieterisch Ruhe. Dazu kommen die von der Peripherie einwirkenden neuralgischen Reize, welche eine beständige oder anfallsweise Angst unterhalten, und das ohnehin geschwächte Centraiorgan immer weiter erschöpfen. Da muss Ruhe um jeden Preis geschafft werden, Ruhe unter Tags und in der Nacht. Hier sind die cerebralen Sedativa des Opiums und Morphiums und das

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Die Melancholie. Allgemeines.

cerebral und spinal wirkende Bromkali unentbehrlich. Bei dem leb- haft peinlichen Gedankendrang des Melancholikers, in welchem nur eine innere Ueberfüllung, aber kein Fluss der Vorstellungen statt- findet, weil die schmerzliche Empfindung jede Bewegung der letztem hemmt und die Wahnidee der Selbstverschuldung oder des Verloren- seins alle andern Vorstellungen verdunkelt hält ist Opium der König der Heilmittel. Wir beginnen mit 0,04 0,06 des Pulvers oder auch 12—15 gtt. der Tinctur, und reichen diese Gabe schon früh Morgens. Die zweite kann Abends als Schlaf-Gabe gereicht werden, sofern nicht noch eine dritte oder selbst eine vierte sich indicirt erweist. Diese Indication richtet sich ganz nach dem Einzel- fall, nach der Stärke des melancholischen Affects, nach der Häufig- keit der schmerzlichen Tages-Exacerbationen. Es muss Regel sein, wenn man möglichst sicher und berechnend wirken will, das be- ruhigende Mittel stets vor Eintritt der eigentlichen Paroxysmen zu geben, d. h. bevor der Kranke unruhig wird. Erfahrungsgemäss wirkt eine kleine Gabe, rechtzeitig gereicht, viel entschiedener, als eitie grössere zur Unzeit, d. h. auf der Höhe des Anfalls. An- fängliche Nausea geht allermeist rasch vorUber. Bei dem einmal erreichten Beruh igungseffecte bleibe man aber nicht stehen, sondern suche nun die erzielte Ruhe möglichst festzuhalten, indem man die erprobte Dosis weiter fortgibt. Dazu kann vielleicht schon die oben bezeichnete Gabe genügen; ist dies aber nicht der Fall und wächst die Unruhe unter der bisherigen Dosirungshöhe , so steige man mit dieser, nach Bedarf um 5 resp. 10 gtt. der Tinctur. Man kann so successive bis auf 50, 60, SO, ja 100 Tropfen p. Dosi steigen, ohne dass man irgend eine Inconvenienz erlebt als die unvermeidliche Obstipation, welche ja leicht zu beseitigen ist. Ziel der Behandlung ist immer die möglichste cerebrale Beruhiguog: temporäre Minde- rung oder Hinwegnahme des krankhaften GemUthsdrucks, Nivellirung des Gedankengangs, so dass die Suprematie der einen Vorstellung (Wahnidee) gelockert und wieder normalere Apperceptions -Verhält- nisse (Aufmerken, Interesse) hergestellt werden. Dieses muss aber dauernd angestrebt werden, so dass der wunde Gemtithsnerv heilen kann: die künstliche Opiat- Ruhe ist der Gipsverband des erkrankten Nerven. Nach unserer Erfahrung liegt deshalb sowohl das Geheim- niss als der Segen der richtigen Opium -Therapie in der metho- dischen Anwendung.

Man reicht das Opium in der Regel per os, entweder allein, oder (bei Schwächlichen) in Sherry. Wo dies aus Abneigung des Kranken nicht möglich, kann man auch die Klystierform auwenden. Speciell em-

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Opium. Morphium -Injectioncn.

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pfiehlt sich diese in Fällen, in welchen mitwirkende „uterine" Reize wahrscheinlich sind (auch Masturbationsdrang). Unter die Speisen ge- mischt geben wir es nie; hier eignet sich ungleich besser die subcu- tane Anwendung.

Die Anzeigen für den Gebrauch des Morphiums fallen, wie dessen Wirkungsweise, mit denen des Opiums zusammen. Morphium greift wohl die Verdauungsfunctionen weniger an und dürfte deshalb in Fällen mit dafür besonders gebotener Rücksicht eine Bevorzugung verdienen. We- sentlich aber übertrifft es das Opium in der Brauchbarkeit zur subcutanen Application. Die wässerige Lösung des Opiumextracts , frisch gut ver- wendbar, verdirbt nämlich gerne und gefährdet dann durch Hervorrufung von Hautabscessen.

Die Morphium-Injectionen haben sich bei uns eingebürgert erhalten und ihren guten Ruf, speciell in frischen Fällen von Me- lancholia agitata, bewährt Sie verdienen den entschiedenen Vor- rang vor der innern Anwendung da, wo man 1. möglichst rasch wirken will; 2. wo neuralgische Sensationen vorhanden sind; und 3. wo der Widerstand des Kranken die innere Anwendung ausschliesst. Namentlich Fälle mit paroxysmalen Angstzufällen sind für die In- jectionen bevorzugt; auch hier gilt wieder die Specialindication: die Application möglichst im Beginn jeweils vorznnehmen.

Man fange mit 0,01 an (in der Regel; es gibt übrigens auch idio- synkratische Personen, welche eine noch kleinere Anfaugsdosis räthlich machen) und steige, in beständiger Beobachtung der Wirkung, wenn nöthig bis 0,06 und selbst noch höher. Wir haben früher schliessliche Einzelgaben von 0,2 nicht gefürchtet und in verzweifelten Fällen die befriedigendsten Erfolge davon gesehen; doch dürften diese Eventuali- täten zu den seltenern gehören. Man fährt mit der Dosishöhe, welche die gewünschte Beruhigung erzielte, methodisch (wie beim internen Ge- brauch) fort, bis der Minderungsvcrsuch gelingt. Nicht selten muss man nach erzielter Abnahme wiederum steigen, und so wiederholt; die Do- airung darf nie Schablone werden, sondern immer Bich in Fühlung mit dem wirklichen Bedürfnisse halten. Bei längerm Gebrauch ist stets die Gefahr des Morphinismus zu berücksichtigen, obwohl diese, eo lange das Mittel nur von ärztlicher Hand spendirt wird (was ich als absolute Be- dingung voraussetze), wenigstens nach unserer Erfahrung lange nicht so gross ist. Wir haben unter vielen Hunderten von Fällen noch keinen beobachtet, in welchem nicht die Abgewöhuung wieder gelungen wäre. Bevor letztere sicher und fest ist, darf auch nie ein Reconvalescent ent- lassen werden. Die Entwöhnung geschieht nach unserer Usance am besten, indem man die Morphiumgabe mindert und zunächst den Ausfall mit einem innerlichen Aequivalent deckt. Daneben ist Unterstützung mit Wein und täglichen lauwarmen Bädern sehr wichtig. Man lässt so zu- nächst die Mittagsinjection fallen, während man die beiden andern, Mor- gens und Abends, noch beibehält. Dann kommt der Ausfall der abend- lichen an die Reihe, indem man dafür anderweitig (medicinisch Paraldehyd;

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Die Melancholie. Allgemeines.

oder diätetisch) den Schlaf zu sichern sucht, und als Schluss die morgend- liche durch Ersatz von Morphium per os deckt, weiches jetzt successive gemindert wird. Je nach dem Einzelfalle kann man oft rasch herab- gehen; doch berücksichtige man die möglichen Fluxionen zu Darm und Lungen. Die Chokzufälle bei den Injectionen sind nicht immer zu ver- meiden, da wir deren sichere Entstehuugsweise noch nicht kennen; die Auswahl von schlaffern Hautgegenden mit sorgfältiger Erhebung der Hautfalte, sodann nur wässerige (nicht angesäuerte) Injectionsfltissig- keit scheint wichtig zu sein, um die Läsion resp. chemische Reizung eines Nervenz weigchens, und damit den vasomotorischen Reflex zu ver- meiden.

Bromkali ist das spinale Opium, und eignet sich namentlich bei spinal -irritativer (nenrasthenischer) Grundlage der melancholi- schen Neurose, oder bei Verdacht auf bestehenden Sexualreiz. Die hypochondrischen und hysterischen Melancholieen indiciren deshalb einen fortgesetzten Bromkaligebrauch, welchem sehr oft mit Vor- theil etwas Morphium beigesetzt wird. (Vergl. übrigens auch die Therapie der Hypochondrie und Hysterie).

Die etwa vorhandenen Neuralgieen, worunter die der Inter- costalbahnen besonders bevorzugt sind, erfordern eine specielle Auf- merksamkeit. Gegen leichtere Paroxysmen nützt oft überraschend schnell die örtliche Anwendung von Chloroform (auf Watte, oder mit Oel resp. Spiritus, ohne und mit Opiumzusatz). Bei hartnäckigen neuralgischen Beschwerden liefert die elektrische Localbehandlung nicht selten sehr befriedigende Erfolge. Natürlich richtet sich die Behandlung der peripheren Sensibilitätsanoma licen noch im weitern und wesentlich nach den eventuellen grundliegendcn Ursachen (Uterin- krankheiten).

Die Bekämpfung der complicirenden somatischen Begleitzustände hat in erster Reihe katarrhalische Magendarmzustände ins Auge zu fassen. Dieselben sind von ausserordentlicher Wichtigkeit ; mit manchen psychischen Paroxysmen gehen sie genau parallel, ohne deshalb immer in Causalbeziehung zu stehen, aber doch sehr oft in einem Zusammenhang, dass die psychische Besserung sicht- lich der vorangehenden gastrisch -intestinalen nachfolgt. Die Behand- lung hat hier nach den Regeln der iuneren Medicin zu geschehen. Eine besondere Wichtigkeit verdient die genaue Regelung der fast regelmässig vorhandenen Obstipation mit oft übermässiger Schleim« production des Dickdarmes, manchmal auch mit Lienterie. In zwei- ter Reihe ist die sorgfältige Ueberwachnng der menst malen Vorgänge wahrzunehmen (Näheres bei den Menstrualpsychosen). Bei Männern sind gehäufte Pollutionen zu beachten und geeignet zu

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Bromkali. Behandlung der iutestiu. Störungen. Nahrungsverweigerung. 45

behandeln. Dass der Bekämpfung von etwa vorhandener Mastur- bation die ernsteste Aufmerksamkeit zu schenken ist, versteht sieb von selbst. Sorge für die Hautpflege darf gleichfalls nicht ver- absäumt werden (s. u.).

Die Hebung der gesunkenen Körperernährung gehört unter die wichtigsten Indicationen der Behandlung. Hier hat vor Allem eine richtige Diät einzutreten: der Gebrauch einer nährenden aber mög- lichst reizlosen, leicht verdaulichen Nahrung. Wein in kleinen Quan- titäten ist fast stets zu gestatten; bei torpiden Patienten täglich mehrere Löffel voll eines kräftigen südlichen Weines. Oft bringt ein Glas Glühwein oder Punsch den lange vermissten Schlaf. Be- sonders befördernd für diesen sowie auch für die Allgemeinernährung ist gutes Bier. Dagegen ist die Zahl der Cigarren genau zu be- schränken, nicht selten nur in homöopathischer Dose zuzulassen, ev. sogar ganz zu beschränken. Das Schnupfen ist gegen Uebermaass zu überwachen.

Man kann in der täglichen Regulirung des 'passenden Kostzettels nicht sorgsam genug sein. Bei decrepiden Patienten, welche dazu noch mit oft mangelhaften Zähnen eine gierige Hast beim Essen entwickeln, ist das Fleisch fein zerkleinert zu reichen. Oft genug verweigern die Kranken aus Wahn oder aber aus wirklicher Appetitlosigkeit Tage lang la.s Essen. Diese Nahrungsverweigerung (ein Symptom, welches übrigens in den verschiedensten Irreseinsformen wiederkehrt) verlangt, besonders bei Geschwächten, die grösste Beachtung. Man wird niemals sofort nach dem ersten Aussetzen der Nahrung zur Force majeure greifen. Hier gilt's zuzuwarten und erst die ganze individualisirende psychische Behandlung in's Treffen zu führen. Zugleich sind ev. Mundkatarrhe sorgsamst zu beseitigen (Chlors. Kali). Dann probirt mau es mit verborgen (aber dem Kranken leicht auffindlich) hingelegten Speisen; manchmal, wenn er bei den Andern gemeinsam verweilt und ohne aufmunternden Zuspruch ganz sich selbst überlassen wird. Andere essen, wenn man zuwartet und dann stillschweigend sich anhebt das Essen abzutragen; wiederum Andere beginnen ihr erstes Debüt auf einem Spaziergang zu geben, wo sie Obst auflesen und heimlich naschen. Das Alles sind höchst beachtenswerte praktische Fingerzeige, welche erst versucht sein müssen, ehe man zur Schlundsonde greift. Aber endlich lässt sich diese doch nicht mehr entbehren. Man kann bei Bcttlage des Krauken und nicht zu sehr geschwächter Ernährung c. p. an 8 14 Tage zuwarten, wenn der Kranke Wasser trinkt und gelegentlich etwas Milch oder Wein oder ein Eisstückchen nimmt. Wird aber der Puls schwächer, der Kräftezu- Etand geringer, tritt absolute Weigerung auch gegen Fluida ein und der charakteristische Inanitiousfoetor: dann ist mit der künstlichen Ernährung durch die Sonde nicht zu zögern lieber zu früh als zu spät! Man nmss nicht selten Wochen- und selbst Monate- lang füttern (natürlich ver- sucht man dazwischen immer wieder die eigene Mithülfe des Kranken),

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Die Melancholie. Allgemeines.

bleibt sich aber bei allen diesen Mühen einer Lebens- and sehr oft Ge- sundheit-rettenden That bewnsst. Zumeist nimmt der anfängliche heftige Widerstand Seitens des Kranken nach und nach ab; oft wirken kleine Morphium- oder Atropininjectionen dabei unterstützend. (Man gibt am besten Eiermilch, kräftigen Leguminosenschleim mit Ei oder Pepton und Zusatz von etwas Kochsalz; Wein lässt sich damit verbinden; je nach Umständen kann man auch Ferr. lact. oder Leberthran, Malzextract bei- mischen.) Oft geht der künstlichen Einflössung der Nahrung mit Vortheil eine Auswaschung des Magens mit Vichywasser voraus. Bemerkt muss werden, dass wiederholt auch die Versetzung nach Hause, welche die Kranken gewünscht hatten, die Abstinenz beseitigte.

Sehr wichtig ist, wo es nöthig, die arzneiliche Bekämpfung anämischer Zustände durch Eisen- und Chininpräparate. Die Wahl des Eisenpräparates hat sorgsam den jeweiligen Verdauungszustand zu berücksichtigen; manchmal eignen sich dabei Eisen mit Bitter- mitteln, passende Mineralwasser, bei pastösem Habitus Jodeisen; bei verweigerter innerlicher Darreichung Salzbäder mit Eisenvitriol und nachheriger Bettruhe. Leberthran und Malzextract finden vielfache Indicationen. Bei schlaffen Constitutionen wirkt der Ge- brauch temperirter Morgen Waschungen mit nachfolgender Frottirung als Tonicum für die Verdauung und zugleich als Nervinum.

b) Psychisch. Auch hier ist Ruhe dem schmerzgebeugten Ge- müth erstes Gebot. Darum kein directes Aufmuntern, kein rasches Anfassen, kein ungestümes Aufrichtenwollen, ebenso wenig aber auch ein mahnendes Tadeln oder Zusprechen, sondern ruhige aufrichtige Antheilnahme an dem Geschick des Kranken, welche nicht in ge- suchten Worten, sondern in der Rathfindigkeit gegenüber der Rat- losigkeit des Kranken, in der individualisirenden Fürsorge für seine Bedürfnisse das ärztliche Verständniss für sein Leiden bekundet, und mehr in helfender That als in der Rede das sichere Sieges- bewusstsein ausspricht. Wahnvorstellungen rede man nicht aus, am wenigsten durch Argumente; man nehme sie entgegen und halte den Beweisversuchen des Kranken gegenüber die summarische Zu- versicht fest, dass man fUr ihn hoffe und bestimmt hoffe. Sein Ver- trauen gewinnen ist Alles! Daneben sorgsamste Abhaltung aller Reize von aussen, aller, wenn auch so wohlgemeinter, Zusprachen und Hülfeversuche seitens der Umgebung des Kranken!

In diesen kurzen Zügen dürfte der Canon der psychischen Therapie, wenigstens für die Krankheitsanfänge, gelegen sein. Unter besonders günstigen Verhältnissen finden sich wohl mitunter die nöthigen Cur- bedingungen auch ausserhalb des Anstaltslebens; sehr selten aber in der eigenen Familie des Kranken. Fast ausnahmslos ist die Versetzung in eine neue Umgebung absolute Nothwendigkeit. Diese muss aber wie-

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Psychische Therapie. Behandlung der Unterformen. 47

derum alle Garantieen der Rahe und der verständigen Leitnng bieten. Damm keine Zerstreuungsreisen, aber auch kein iaolirter Badeaufenthalt; am besten eine befreundete Familie. Es ist kein Zweifel, dass eine ge- wisse Anzahl von Melancholikern anch auswärts von einem Asyl genesen kann; aber es ist eine relativ kleine, und die Auswahl der passenden Pille erfordert grosse Sachkenntniss. Bei weitaus der grö&sten Zahl ist die Versetzung in die Anstalt nothwendig und nnerlttsslich. Bei Neigung zn Selbstmord ist sie geradezu Pflichtgebot. Bei rathlos Ängstlichen, in ihrem Schmerz sich behagenden Kranken wirkt der Druck der Anstalt als heilsamer Gegenreiz. Allgemein muss gesagt werden, dass die An- stalt mit ihren reichen Ressourcen und ihrer Einrichtung zu einer indi- vidualisirenden Behandlung speciell ftir die Melancholie das Heilmittel ersten Ranges darstellt, dessen volle Durchführbarkeit nur in den sehr seltenen Fällen fraglich werden kann, wo das Heimweh eine unbesieg- liche Gemilthsspannung und manchmal auch Nahrungsverweigerung oft aas Wahn, dass der Kranke die Kosten nicht bezahlen könne unter- hält. (Hier wirkt hin und wieder die begehrte Rückversetznng, natürlich unter den unerläßlichen Cautelen, erlösend). Man säume nicht zu lange mit der Ordination der Asylpflege!

Neben der Ruhe ist leichte, anziehende, zum Aufmerken ver- anlassende und dadurch vom Wahn ablenkende Beschäftigung zu empfehlen (Feld-, Gartenarbeit, rationelle Gymnastik). Dabei sollen anch erholende, mässig anregende Erholungsstunden nicht mangeln. Aber nicht zwangsweise Geduld und Zuspruch müssen nnerschöpflich sein. Oft findet sich der Kranke am ehesten zurecht, wenn man ihn mitten unter die anderen Arbeitenden gehen lässt Exempla trahunt. Aber auch Geduld und Zuwarten haben ihre Grenzen. Oft behagt sich der Kranke in dem Cult seines Weh's; er wird in seinen Schmerz förmlich verliebt und widerstrebt allen Ansinnen ihn abzulenken. Da ist, wenn man erst sein Vertrauen gewonnen, auch ein ernstes Wort und ein nachhaltiges Bestehen auf der als nothwendig erkannten Vorschrift am Platze. So kann auch die Zeit kommen, wo gegen den Wahn ein einredendes Votum an- gezeigt erscheint, belehrend, aufklärend, selbst bestimmt verbietend. In der Gewährung von Concessionen, in der Verschiebung von Wün- schen des Kranken hat der Arzt ein ebenso reiches als wirksames Armamentarinm, dessen Indicationen in seinem Kopfe, dessen An- wendung und Modus der Ausführung in seinem Mitgefühl und Tact gelegen sind.

Anf die einzelnen klinischen Unter formen der Melancholie über- gehend, erfordert

a) dieMelancholia siraplex Ruhe, Regulirung der Diät, Bäder, Beförderung des Schlafs, Hebung der Ernährung durch eiweisshaltige Kost, Wein; unter Umständen Opium;

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Specielle Melancholie.

b) die Melancholia agitata Beruhigung in erhöhter Potenz durch verlängerte Bäder (1—2 Stunden mit Umschlägen), Opiate, ev. Morph. - Injectionen, Bettlage. Sorgfältigste Berücksichtigung der gesunkenen Körperernährung;

c) die Melancholia passiva Bettlage, Kegulirung der ungleichen Blutvertheilung durch Umschläge auf den Kopf, ev. hirudines (1 2 hinter die Ohren, in Pausen), Ableitungen auf die Füsse, Sorge für geordueten Stuhl, Hebung der Ernährung, Abwaschungen mit temperirtem Wasser, Priessnitz'schc Einpackungen, lauwarme Bäder. Speciell die Melan- cholia attonita erfordert Bettruhe, Sorge für die Ernährung (ev. mit der Sonde), Ueberwachung der Excretiouen (ev. Katheter), Morph.-Injec- tionen, lauwarme Bäder;

d) die hypochondrische Melancholie hat neben den sonstigen vorgenannten Indicationen auch die Therapie des hypochondrischen Ele- ments wahrzunehmen (8. Hypochondrie). Fest und bestimmt im Ourplan, keine unnütze Vielgeschäftigkeit!

e) Die Schwäche-Melaucholieen des Alters haben ganz be- sonders die geschwächten Ernährungsverhältiiiäse zu berücksichtigen und deu gesunkenen Turgor Vitalis. Neben Bettlage, Bädern, Wein, China- Präparaten, Opium, ist Kampher als wichtiges Adjuvaus zu nennen.

f) Die sexuellen Melancholiecn (ex masturbatione) indiciren Bromkali ohne oder mit Morphium, ev. Behandlung des localen Leidens (Onanie, Pollutionen), kühle Abwaschungen, allgemeine Faradisation, gal- vanische Behandlung des Rückenmarks und der neuralgischen Sensationen.

Die psychische Behandlung bleibt bei allen Uuterforuien nach denselben, stets individualisirenden , Grundsätzen zu leiten. Qaoad suicidium sei unbeugsame Regel für den Arzt: Keinem Melancholiker trauen!

Specielle Melancholie.

Krankheitsbild. Verlauf. Ausgänge.

Das klinische Symptomenbild ist ein ausserordentlich mannig- faltiges, je nach der nähern körperlichen Grundlage, den Ursachen, dem Lebensalter. Auch das „psychische Temperament", die Indi- vidualität, iutellectuelle und sittliche Bildungsstufe spielen eine sehr wesentliche Rolle sowohl in der Gestaltung des klinischen Zustande- büdes selbst, als auch des Verlaufs und der Ausgänge.

Wir halten uns hier zunächst an das Bild der rüstigen Lebensjahre und Constitution. Auch so noch ist es ein sehr vielseitiges, formen- und farbenreiches.

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Krankheitsbeginn. Verschiedene Typen.

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Die Entstehung der Melancholie ist gewöhnlich eine allmähliche, seltener eine acute. Vorbereitet wird sie in der Mehrzahl der Fälle durch emotive Erlebnisse, welche die geistige und körperliche Widerstandskraft schneller oder langsamer untergraben, und speciell durch den Affect des Kummers und der Sorge jene „centroperiphere" Form vorbereiten, welche wir pbysiopathologisch im Mittelpunkt der fertigen Melancholie stehen sehen. Schlaflosigkeit, zunehmende Schwäche der Verdauung, Reduction der Ernährung sind die gewöhnlichen Folgen dieser Vorbereitung; sie werden zugleich mit Neuralgieen und häufigen vasomotorischen Affectionen zum Nährboden fUr die sich entwickelnde Neuropsychose. Es kann aber, und zwar häufig, die letztere auch ohne den bezeichneten psychischen Umweg direct durch eine die körperliche Constitution und speciell die Hirnernährung beeinträchtigende Allgemeinerkrankung geschaffen werden. Hier stehen chronische oder acute Anämieen, Menstruationsstörungen, katarrhalische Darmzustände , Uterinaffectionen bei Frauen, Verdauungs- störungen bei Männern in erster Reihe als einleitende Vorgänge. In der Regel geben körperliche Beschwerden voraus, worunter Kopfweh und vage „rheumatoide" Empfindungen am meisten geklagt werden; andere« male Schwindel, Kopfdruck, Verstopfung der Ohren, Globusgefühle im Hals, Zittern an Armen und Füssen, welches „schliesslich im Kopf und auf der Brust sitzen bleibt".

Eine allgemeine Verstimmung, eine rat h lose Verzagtheit, ein menschenscheues, hald mehr unmotivirt gereiztes, bald mehr unbe- greiflich gleichmütiges, oft muthloses Wesen beschleicht den Kranken. Er bat keine Lust zur Arbeit, ist körperlich und geistig milde. In der Folge fängt er an zu „sinniren", in Büchern zu grübeln, spricht wenig, äussert keine rechte Freude und Interesse mehr. Viele suchen sich noch durch Zerstreuungen zu betäuben, Andere (nament- lich Frauen) durch gesteigerten Kirchenbesuch sich die innere Stütze wieder zu geben, welche sie langsam entsinken fühlen. Leise kün- den sich Selbstvorwürfe an, Anfangs wieder verscheucht und be- schwichtigt, allmählich aber lauter und nachdrucksvoller. Manchmal kann gleich Anfangs eine unbestimmte Angst Platz greifen, und der Kranke durch unmotivirtes Weinen seine Furcht kund geben; die nie fehlende Schlaflosigkeit verschärft das peinliche Gefühl einer un- endlichen Bangigkeit. Mit dieser wechselt oft ein Gefühl „zorniger" Gereiztheit ab, ohne dass der Kranke weiss, warum? Wenn er sich Nachts unruhig im Bette herumwirft, so steigt es von der Brust zum Kopfe, dass es ihm ganz schwindelig, vor den Augen heiss und schwul wird, und er Morgens ganz erschöpft und unfähig zu jeder Arbeit aufsteht Es gibt auch eine ganz acute Entstehung, wo der Kranke Abends noch harmlos zu Bette geht aber mitten in der Nacht wird er geweckt durch peinliches Herzklopfen, oder durch einen brennenden Schmerz in der Herzgrube, welcher sich bis unter

Sektle, CeuOwkrankbeiUD. 3. Aufl. 4

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Specielle Melancholie.

die Rippen hinzieht. Da überfällt ihn ein Gefühl namenloser Angst; irgend ein (von früher parater oder erst im Affectmoment erfasster) Gedanke fällt ihm ein und bemächtigt sich der emotiven Stimmung; das brennende Gefühl steigt aus dem Leibe in den Kopf: die Ge- danken werden dem Kranken entfremdet, sein trauriges Schicksal „durch Sünde dem Bösen verfallen"! lastet fortan jetzt auf dem Herzen. Andere, seltnere, Fälle zeigen gegentheils ein ein- leitendes Stadium von ungewohnt heiterer Verstimmung (grössere Gesprächigkeit), welche nach kurzer Zeit in die trübe umschlägt.

Bei langsamerer Entwicklung bleibt die Gefühlsverstimmung vor- erst ohne klar bewussten Inhalt noch einige Zeit bestehen, zwischen freien und gedrückten Tagen wechselnd; übt aber einen weiter- greifenden Einflus8 auf das Selbstgefühl und das Verhalten des Kranken. Er wird zunehmend gedrückter, weint öfter, überrascht die Umgebung mit nicht geahnten Selbstanklagen, wogegen keine Einsprache, kein Trost einen Zugang gewinnt. Im Nachgrübeln Uber die Ursache seiner wild durcheinander gehenden Gedanken wird er rathlos, schwankt hin und her, ob er einen zureichenden Grund in seinem Vorleben aufstöbere, oder ob ein „böser Geist" ihm diese peinlich unbestimmte Furcht vor sich selbst beibringe. Jetzt rücken Illusionen an, der Kranke findet in allerlei Wahrnehmungen irgend eine ihn angehende, ihn schmerzende Beziehung. Oft erklärt ihm ein Traum sein bis dahin unerfasstes inneres Weh, oder irgend eine affectvolle Begegnung, irgend ein eindringlich gesprochenes Wort, das ihn sofort erstarren macht, und sich festsetzt auf seinem „Herzen". Wenn die „Gedanken" wieder kommen, so fährt's ihm regelmässig wieder auf's Herz, und von da heiss und schwindelig in den Kopf, und dann ergreift es die Glieder, so dass er unentrinnbar überzeugt ist, durch eine dämonomanische Macht besessen zu sein. Oder es steigt in der Einsamkeit, die er aufsucht, oder in der Stille der Nacht eine Hallucination auf und verkündet ihm seine Verlassenheit von oben, sein unentrinnbares selbstverschuldetes Schicksal.

Sehr häufig erfasst sich aber das innere Wehgefühl als zuneh- mende und immer schmerzlicher bewusste Unfähigkeit seiner Stel- lung, seinem Berufe zu genügen. In der hypochondrischen Form ist es die immer drückendere Empfindung eines unheilbaren körper- lichen Leidens, welches sich „angesetzt hat".

Abweichend von dieser Genese bilden manchmal hässliche Zwangsgedanken, gewöhnlich gotteslästerlichen Inhalts (der Kranke mas8 statt „Gott" den Namen „Kröte", „Teufel" sagen; oder auch es hängen sich dem erhabensten Namen die Vorstellungen geschlecht-

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Melanch. religiosa; persecutoria (daemonomaniaca).

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licher Vermischung an) den Anfang des Leidens. Oft steigen die- selben plötzlich ohne jede Veranlassung auf; andere Male werden sie durch den Contrast einer andächtigen Stimmung brüsk provocirt, oder durch eine neuralgische Sensation hervorbeschworen. Vergeb- lich, dass der Kranke dagegen ankämpft, ringt, betet, Gott um seine Gnade und Verzeihung anfleht: er fühlt, dass alle seine guten Vor- sätze umsonst, dass er vom Himmel Verstössen ist

Auf einem oder dem andern Wege schliesst sich der Gemüths- zwang mit der erklärenden Vorstellung (dem depressiven Wahn) zur fertigen Krankheit zusammen, wie dies oben (s. Allg. Theil) erläutert wurde. Inhaltlich stellen sich die Haupttypen dar als Melancholieen 1. mit dem Wahn der Sündhaftigkeit (Melancholia religiosa), der Ver- stossung von Gott; oder 2. mit dem Wahne der Verfolgung durch feindliche Mächte (durch Dämonen oder intriguante Complotte: Me- lancholia persecutoria, daemononmniaca); oder endlich 3. mit dem Wahn verhungern zu müssen, die eigene und fremde Existenzen verwirkt zu haben.

In ihrem äussern Verhalten scheiden sich diese Typen für den weitern Verlauf wesentlich nach der Stärke des krankhaften Affects und speciell nach dessen reflectorischer Wirkung (Uebertragbarkeit) auf das psycho- motorische und auf die höhern geistigen Gebiete (Stimmung und Vor- stellungsleben). Darnach entstehen die scharf geschnittenen Krankheits- bilder der Melancholia activa, passiva (torpida), der Melancholia attonita. Diese Gruppen haben als solche und zunächst nur psychologische Be- gründung ; insofern aber auf deren Gestaltung (activen oder passiven Cha- rakter) die grundliegenden körperlichen Verhältnisse (anthropologische Mitgift des Einzelfalls, anämische Ernährungsstörungen des Gehirns mit den Steigerungen der Reflexerregbarkeit) von entscheidendem Einflüsse sind, so verdient die specielle Trennung in die genannten Unterarten auch eine klinische Berechtigung.

Jetzt beginnt ein schmerzliches Weinen, ein ruheloses Hin- und Hergehen mit Geberden der Verzweiflung, ein dumpfes Hinbrüten mit ängstlicher Spannung der Gesichtszüge und Abweisen von jeder Ansprache, selbst vom Essen und Trinken. Auf die verzehrende Unruhe des Tages folgt meist auch eine qualvolle Nacht, oder aber ein stilles Resigniren mit anscheinend äusserer Theilnahmlosigkeit, zeitweisem Seufzen, ein müdes Herumstehen oder -kauern mit steifer, oft hölzerner Gesichtsmaske. Der Morgen ist in der Regel die schwerste Zeit: da macht sich der melancholische Affect im Jammern, Sichanklagen und Zerknirschen, in ruhelosen Gestikulirungen am meisten geltend, nicht selten um so stärker, je mehr die Nacht Ruhe und Schlaf gebracht hatte. Im Verlauf des Tages tritt mehr Samm-

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Specielle Melancholie.

lung ein, und endlich Abends ist oft der Kranke gefasst, ja nicht selten gesellig und leicht heiter. Doch können die aus den ange- gebenen Erscheinungen gruppirten Stimmungsbilder auch tagelang fast ungeschwächt fortdauern. Manchmal schwankt der Kranke zwischen einer bald hoffenden und bald verzweifelnden Perspective ermattend hin und her. Sehr oft erweitert sich das an der Grenze individuellen Verlorenseins angelangte Versündigungsgeftthl bis zum unermesslichen Schuldgefühl eines an der ganzen Menschheit be- gangenen Verbrechens: nicht der Kranke allein, auch die ganze Welt ist jetzt unglücklich durch ihn, den Einzelnen, geworden; nicht er nur, Altes geht zu Grunde, Könige und Kaiser verhungern, der melancholische Kleinheitswahn wird zum negativen Grössenwahn.

Die Unruhe erlaubt dem Kranken oft kaum die Sorgen fiir die nächsten Bedürfnisse zu befriedigen. Das Noth wendigste geschieht stets nur mit Hast und Ueberstürzung. Das Essen wird hineinge- worfen, die Kleidung an den Leib nur gehängt, die Reinlichkeit vernachlässigt. Unversehens, oft zu annähernd gleichen Tagesstun- den, brechen Angstzufälle aus mit Seufzen, Stöhnen, Händeringen oder lautem Aufschreien, Haarausraufen, Grimassiren, Zerreissen der Kleider, Fluchtversuchen, Gewalttätigkeiten gegen sich oder Andere. Aber auch ohne solche wird der feindselige Drang des Kranken, in welchem er sich von seiner innern Folter, aus seiner todesbereiten Resignation zu entlasten versucht, in allerlei Präparationen zur Selbst- beschädigung entdeckt, die man in seiner Tasche findet: Glasscherben, grössere Steine, zurecht gedrehte Stricke u. s. w. Viele Kranke bitten und flehen direct und inständig sie doch vor Selbstmord zu bewahren. Ist ein Angstzufall vorUber, welcher nicht selten dem Träger oder der Umgebung Wunden setzte, so ist der Kranke erschöpft, ermattet; manchmal jammert er Uber seine fluchwürdige That, die seinen Untergang jetzt erst vollends besiegle ; oder er verharrt in dumpfer Resignation, spricht nicht auf Vorhalt, ist bereit, Alles über sich ergehen zu lassen, ja erwartet nicht selten mit Befriedigung, dass man sich jetzt entgeltend an ihm vergreifen werde.

Bei nicht Wenigen wird mit dem Eintritt in die Anstalt die äusserliche Aufregung wie abgeschnitten. Mit schlecht verhaltenem, ängstlichem Aus- druck behaupten sie die Unbegründetheit ihrer Versetzung, ja tadeln direct deren Ausführung, wodurch höchstens auf sie wegen ihrer „Heuchelei" noch eine vergrößerte Schuld falle. Mit grossem Wortaufwand einer ge- wissen erzwungenen Heiterkeit und unheimlichen Zuversicht behaupten sie gesund zu sein, lassen auch nicht entfernt die „Zumuthung" einer Krank- heit auf sich kommen, und stützen sich in gereiztem Tone auf das „Heim- weh", wenn man sie auf krankhafte Erscheinungen hinweist. Mit ernster,

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Weiterverlauf. Acme. Reconvalescenz.

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steifer, befangener Miene und verdecktem Blicke dämmern sie hemm, sind äusseret schweigsam und theilnahmlos, and lassen sich kanm in ein Ge- spräch ein, ohne ihre geistige Gesundheit im Gegensatz zu ihrer „Schlech- tigkeit" zu betonen. Oft seufzen sie tief auf, und werden bisweilen an einsamem Orte in Thränen gebadet betroffen. Oft hört man einen stoss- w eisen Schmerzen slaut, aber nie ein Schmerzenswort, oder eine unbe- rufene Klage. Nie rückt der Kranke mit der Sprache recht heraus, hat nie das Bedttrfniss sich auszusprechen ; man muss ihn ausholen, oder zur Klage stimmen, und auch so beginnt er bald wieder zu schweigen, und zwingt sich wieder in seine unheimliche Fassung ein.

Ueber die körperlichen Begleitsymptome 8. Allgemeines.

Auf dieser Höhe verbleibt die Krankheit Tage, Wochen und selbst Monate, immer mit den charakteristischen Tage ssch wankungen, nicht selten aber auch mit grössern und anhaltenderen psychischen Remissionen. Während die Einen sich in ihrem Schmerze zerwühlen, körperlich und geistig gebrochen werden, bewahren Andere bei all' diesem Wechsel der innern Vorgänge, der leichtern und oft zum Tode betrübten Standen ihre Selbstbeherrschung; sie suchen mit aller Kraft die Krankheit zu bemeistern, und über den Verhältnissen zu bleiben, lassen mit bewunderungswürdiger Geduld das Schwere Uber sich ergehen, kehren ihre Ungeduld nie gegen Andere, sind zufrieden, wenn sie ihre Last nur etwas verringert fühlen.

Eine Wendung der Krankheit lässt sich aber objectiv erst mit der Kräftigung der Körperernährung und mit der normalen physio- gnomischen Innervation in Blick und Miene erhoffen. Oft genug wird dabei die Geduld noch auf eine harte Probe gestellt. Der Verlauf ist nämlich stets ein allmählicher, nie ein brüsker. Der besser aussehende Kranke wird ruhiger, theilnehmender; manchmal kommt jetzt ein Wort, welches von Interesse oder Heiterkeit zeugt; nicht so selten sind es Lieder der Heimath, Gedichte aus der Jugend- zeit, die er zufällig hört, und an denen er sich wieder aufrankt zur Wirklichkeit. Die im Anfang auf solche Erholungen noch gefolgte Reue (denn nur die „Vorwurfs " und „Sünde -Gedanken" waren ja nach dem Urtheil des Kranken bis jetzt die „guten" gewesen) lässt nach, die Sinnestäuschungen klingen sachte und allmählich ab, und so rUckt der Reconvalescent freilich allermeist iu zickzackformigem Verlaufe in die Genesung mit voller Krankheitseinsicbt und natür- lichem Dankgefühl. Die Genesung selbst hat im Anfang in der Kegel noch einen leisen Anflug von glückseliger Exaltirtheit: viele Kranke verjüngen sich nicht bloss, sondern sie werden zugleich feiner (gei- stiger) in den Zügen, gehobener in der Redeweise. Erst im Ver- laufe der sich befestigenden Genesung blassen sie wieder zu den

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Specielle Melancholie.

nüchternen Menschen, welche sie vorher waren, ab. Andere wie- der brauchen erst noch längere Zeit, nm sich nach überstandener Krankheitsacnie allseitig zu corrigiren, und schleifen Bich erst unter dem Druck der Aussenwelt wieder zurecht. Da gilt es manchmal erst ein psychisches Schwächestadium mit leiser Gedrücktheit, in welchem noch Reste aus der Melancholie sich fortspielen, und oft noch ein Griff in den alten Wahn gethan wird, langsam an der Logik der Wirklichkeit zu tiberwinden.

Namentlich trifft diese protrahirtere Reconvalescenz für die Fälle zu, in welchen sich der melancholische Nihilismus bis zur vollständigen Un- klarheit der früheren Beziehungen des Kranken ausgebildet hatte, wo der Kranke seinen Namen, seine Angehörigen als ihm unbekannt verläugnet, wo er es sonderbar gefunden, dass er noch lesen und schreiben könne u. 8. w. Hier schieben sich auch oft noch Anfälle von Präcordialangst ganz unvermittelt in die Reconvalescenz ein. Auch bei tiefer Anämie ist der Umweg meistens ein längerer. Die Kranken magern nicht selten zu- sehends ab, werden blass und kachektisch aussehend, der Puls wird klein, elend und frequent, die Haut trocken und spröde, Foetor stellt sich ein. Psychisch werden sie stupider, unleidiger, haben kaum eine Antwort, als: dass sie nicht wissen, wie es ihnen sei, dass man sie umbringen solle u. s. w. ; sie werden immer widerstrebender gegen das Essen, nachlässiger im Aeussern und motorisch ganz kraftlos und hinfällig. Erst sehr lang- sam und unter häutigen Stillständen, manchmal auch unter zeitweiligen Rückschritten, vollzieht sich die körperliche Kräftigung, und damit Schritt haltend die geistige Erholung.

Ist endlich auf die eine oder andere Weise die Genesung er- reicht, so ist diese bei rüstigen Formen und nicht zu langer Krank- heitsdauer eine vollständige, und nicht selten auch eine dauernde.

Der passive Melancholiker ist in seiner äusseren Erscheinung viel- fach das Gegenbild des so ebeu Geschilderten. Die schmerzliche Gebunden- heit mit der auf das intellectuelle und motorische Gebiet Ubergreifenden Hemmung ist hier der maassgebende klinische Charakterzug. Die Kran- ken sitzen Tage und Wochen lang fast unregsam da, oder stehen stumm und still mit angstvollem Blicke, gebrochener Haltung, langen unbeweg- lichen Zügen auf Einem Flecke, werden nur durch starke Berührungen aus ihrer schmerzlichen Versunkenheit aufgeschüttelt, geben mit gepresster, leiser Stimme kaum eine Antwort, als eine solche, welche auf ihre Selbst- erniedrigung abzielt, und dem Gefühle ihrer Selbstverneinung Ausdruck gibt. Sie verlangen Zuchthaus, Hochgericht, Tod, wollen das schlechteste Essen, sind die faulsten Ignoranten, wissen nichts, verstehen nichts. Selten kommt es zu einem entlastenden Thränenerguss. Für die Umgebung be- steht scheinbar kein Interesse, und doch wird jeder Eindruck im Sinne der peinlichen Stimmung verarbeitet. Briefe oder Besuche gehen oft wir- kungslos, manchmal aber auch mit einem erschütternden Reflex auf das Thränengebiet vorUber; doch bald erfolgt wieder die alte mimische Ge- bundenheit, welche sich stets bis zum höchsten passiven Widerstande

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Passive Melancholie. Raptus melaucholicus.

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steigert, sobald nur eine Aufforderung, oder directe Aenderung der Lage versucht wird. Die Kranken fragen nicht nach Essen, verweigern dieses, je mehr man ihnen zuspricht, achten nicht der Kleider; am ehesten geben sie noch der oder jener Vorschrift oder ZumuthuDg nach, wenn man sie ganz gehen läset. Dazwischen folgen sie willenlos fremden Impulsen. Oft intercurriren periodische Angstzufalle mit Hallucinationen (Visionen bevorstehender Marterqualen), Urin und Stuhl werden bis aufs Aeusserste zurückgehalten. Bei tief gesunkener Ernährung und entsprechender Anämie tritt an Stelle der contrahirten Musculatur, der physiognomischen und mimischen Starre oft eine mehr minder grosse Schlaffheit, welche in Ver- bindung mit dem scheinbar apathischen Wesen und dem undurchdring- baren Mutacismus manchmal die Unterscheidung von einem anämischen wirklichen Schwächezustand nicht leicht macht. In diesen geht dann auch nicht selten der Krankheitszustand Uber. Erfolgt mit Besserung der Ernährung und Blutmischung der Uebergang in Reconvalescenz, so löst sich successive die geistige Gebundenheit zu immer grösserer Be- lebtheit. Der Kranke wird gesprächiger, fängt an zu arbeiten, beginnt von seinem innern Weh zu erzählen, die activen Bewegungen werden freier, die schlaffen kraftvoller. Viele werden erst zu activen Melancho- likern, und machen deren oben geschilderte Schicksale durch, bis sie in die Genesung einmünden. Bei Anderen aber wird diese directer erreicht, indem die gehemmten Vorstellungen unter gleichzeitig weichendem Ge- mttthsdruck in Fluss gerathen, und zunehmend in der Wirklichkeit sich corrigiren. Auch hier geschieht nicht selten der Uebergang erst durch ein Stadium schmerzlichen oder wenigstens drängenden Heimwehs. Bei Manchen wird die volle Correctur nicht in der Anstaltsbehandlung oder in den Verhältnissen der seitherigen Umgebung erreicht; die Genesung zieht sich hinaus; es ist, als ob der Wahn aua dem Boden, wo er bis dahin bestanden, immer neue Stärke zöge. Iiier wird nicht selten erst darch die Entlassung des Kranken oder durch Aenderung seiner Situation dann aber oft auffallend rasch die volle Genesung erzielt.

Lässt sich der im Vorstehenden geschilderte Verlauf und Aus- gang als das Bild einer typischen Melancholie bezeichnen, so ist dasselbe aber in seiner reinen Erscheinung ein keineswegs häufiges. Sehr oft kommen Complicationen mit Zwangsgedanken (welche den „neurasthenisch-convulsiven" gegenüber sich durch eine peinigende Stabilität und Zähigkeit auszeichnen), oder aber mit begleitenden Sensibilitätsanomalieen und Allegorisationen (namentlich in dämono- manischer Richtung), oder auch mit stark vortretenden und einfluss- reichen Illusionen und Hallucinationen (Teufel, Todtenköpfe, Schlan- gen, wilde Thiere u. s. w.) mit entsprechender Rückwirkung auf Stimmung und Handeln.

Unter diese Handlungsreflexe gehört namentlich der Raptus me- lancholicus, d. h. eine plötzliche Gewaltthat gegen sich oder Andere, als Folgewirkung einer zunehmenden, endlich bis zum Unerträglichen ge- stiegenen Angst. In der Regel gehen irradiirte periphere Empfindungen,

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Specielle Melancholie.

Parästhesieen oder quälende Neuralgieen dem Anfall voraus; oder es steigen Aura-artige Sensationen vom Präcordium, aus dem Unterleibe, vom Hinterhaupte auf; oder es treiben BeklemmungsgefUhle mit der Furcht vor drohender Lebensgefahr, in andern Fällen schreckende Hallu- cinationen zur Entlastungsthat der Verzweiflung. Diese selbst kann sich manchmal in einer zielbewussten Handlung äussern (Mord von Angehö- rigen, suicide Raptus), oder aber in Form einer psychomotorischen Con- vulsion (Hinauswerfen eines Kindes aus dem Fenster, plötzliche Ver- nichtung von Gegenständen, grässliche Verstümmelungen u. 8. w.). Es können in diesem Falle auch noch convulsive Bewegungen vorausgehen (bei übrigens erhaltenem Bewusstsein): Schütteln und Verdrehen der Arme, des Kopfes, der Augen, Grimassiren des Gesichts. Damit ver- binden sich in der Regel auch noch vasomotorische Krampfzustände (Todtenblässe des Gesichts, verstärkter Herzschlag, Ausbruch von kaltem Schweisse u. s. w.). Die That selbst vollzieht sich nach formeller Seite in directem Verhältniss zur Stärke des schmerzlichen Fühlens: das ergrif- fene Opfer wird förmlich zerfleischt, und es erfolgt erst mit der Erschöpfung ein Nachlass des schrecklichen Wuthens. Nach der That fühlt sich der Kranke zuerst erleichtert es ist das entspannende Gefühl der voll- zogenen Reflexhandlung; nachher aber folgt mit der grössern Ruhe und Besinnlichkeit eine schmerzliche Reue. Die Erinnerung ist selten treu, meist nur summarisch, oft fehlt sie auch ganz. Es gibt in dieser Rück- sicht vielerlei Uebergänge zu den transitorischen Zwangshandlungen auf neurasthenischer Grundlage (raptus r.euralgicus), von welchen sich die typischen melancholischen Anfälle höchstens durch die grössere Conse- quenz und Zielbewusstheit der That und durch die relativ längere Zeit- dauer unterscheiden. Klinisch bemerkenswerth ist, dass manchmal meh- rere rasch sich folgende Raptus die Melancholie einleiten, worauf letztere ihrerseits mit Vorliebe einen dämonomanen Inhalt annimmt. (Vgl. auch den acuten dämonomanischen Wahnsinn).

Die hypochondrische Melancholie ist, wo sie als selbstän- dige klinische Form durch den ganzen Krankheitsverlauf auftritt, eine neurasthenische , resp. eine invalid -cerebrale Neuropsychose. Dieselbe schliesst sich bald an eine körperliche Erkrankung (Magendarmkatarrh), oder an irgend eine peinlich nervöse Sensation (Ohrgeräusche) an; bald aber auch tritt sie, ohne dem Kranken bekannte Ursache, langsamer oder schneller in Scene; manchmal erfasst sie in einem verwirrenden Schreck (Gespenst der Spermatorrhoe) urplötzlich den Leidens-Grübler. Die depressive Stimmung arbeitet sich in ein zunehmendes Chaos von „Befürchtungen" aus, welche rückwirkend wieder neue Sensationen ma- chen und neue Beobachtungen liefern. Der Leib wird in beängstigender Völle gefühlt, der Athem wird gestellt, in die Glieder fährt Zittern, in's Knochenmark ein peinliches Frösteln; keiner der Aerzte, welche, soweit erreichbar, consultirt werden, vermag zu helfen; die Arzneien alle be- wirken den gegenteiligen Effect; es fährt nach jedem Löffel Mixtur wie „8chrot8chÜ8se" durch den Magen, friert dem Kranken zum Munde her- aus, setzt sich auf (oft als neuralgisch nachweisbare) Stellen an der Brust, klopft und brennt u. s. w. Der Kranke kann nicht mehr athmen; ein „Dunst aus dem Magen" hemmt ihn auf der Herzgrube , fährt aufwärts

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Hypochondrische Melancholie. Verlaufsvarietäten. 57

durch den Mund bis in den Kopf, wo er ihm Schwindel nnd Scheitel- stiche macht, und abwärts durch den Darm in den After u. 8. w. Gegen die „Magenunruhe" wird allerlei Diät gebraucht; jeder Quacksalber- Rath befolgt; oft Tage lang gefastet. Der Kranke fühlt sich unermess- lieh elend, zum Arbeiten unfähig, in den schlaflosen Nächten von seinen Befürchtungen, nicht mehr gesund zu werden, gefoltert. Mit ermüdender Einförmigkeit werden Tag um Tag dieselben Klagen vorgebracht Urin und Stuhlgang bilden von Morgens bis Abends die Sorge und zugleich das zur wachsenden Pein durchsuchte Beobachtungsobject. Alles, was der Kranke einnimmt, bereitet nur Qualen und stets neue Qualen. Oft regt sich der Gedanke an Selbstmord in gefahrdrohender Weise. Die Stimmung ist bald verzweifelt, bald bitter gereizt, gegen die Umgebung voller Vorwürfe ; nicht selten trotzig und heftig, selbst gewaltthätig. Re- gelmässig sinkt die Ernährung, oft sehr bedeutend. Die Circulation ist träge, Hände und Ftisse kühl, der Puls verlangsamt, oft klein; nie fehlen dyspeptisebe Erscheinungen, manchmal mit peinigenden KenVxnenrosen auf den Vagus. Der Stuhl ist in der Kegel angehalten. In günstigen Fällen gelingt es, zuerst die Verdauung zu reguliren und damit die Assimilation und die Körperernährung zu heben. Hand in Hand damit bessert sich die Stimmung und regt sich die Arbeitslust. Oft wollen die Kranken fühlen, wie sich „stückweise das Leiden aus dem Kopfe und den Glie- dern zurückzieht". So tritt nach und nach, aber immer erst in inonate- laugem Verlauf, die Genesung ein, nicht selten durch Recidive (Diät- fehler) unterbrochen.

Auf seniler Grundlage geht die hypochondrische Melancholie in der Regel rasch in Wahnsinn Uber, und zeichnet sich sodann inhaltlich durch die Ungeheuerlichkeit der Klagen, und (bei der Hemmungslosigkeit des decrepiden Gehirns) durch die stürmischen Reflexe auf das Handeln des Kranken aus. Raptus der gefährlichsten Art gegen sich oder Andere werden mit vernichtender Heftigkeit in Scene gesetzt; manchmal geschieht dies in einer unbezwinglichen Serie von motorischen Actiouen. Die Kranken stürzen sich in verzweifelter Angst zu Boden, rennen sich mit aller Heftigkeit den Kopf an die Wände, toben und schreien, sie äs- ten es thun, so dass manchmal eine letale Erschöpfung nachfolgt. Der Verlauf ist dabei ein acuter, in wenige, 2—3, Monate zusammengedrängt. Der hypochondrische Inhalt äussert sich als Angst, dass der Kopf her- unterfalle, Gefühle, dass das Genick gebrochen sei, dass der Stuhlgang zum Glied heransfliesse ; der Leib ganz offen sei, sodass der Wind hin- durcbblase, das Wasser im Leib plätschere, dass der Kranke einen häss- lichen Leichengeruch verbreite, dass er an venerischen Geschwüren leben- dig verfaule u. s. w. Anderemale verläuft diese senile Hypochondrie auch mit geringerer Affectbegleitung, nimmt einen chronischen Verlauf (oft durch anhaltende Nahrungsverweigerung hindurch) an, und geht nicht so selten (Schlundsondenbehandlung, Hebung der Ernährung) in Heilung mit Defect über (s. hypoch. Irresein).

Der Verlauf der typischen Melancholie bietet viele Varietäten. Unter diesen sind die Episoden: 1. von tobsüchtiger Erregung, und

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Specielle Melancholie.

2. stupider Befangenheit mit Sinnestäuschungen (Hallucinationen und Illusionen) die bemerkenswerthesten und häufigsten.

Die 1. tobsüchtigen Erregungsphasen spielen sich unter dem äussern Bilde ängstlicher oder verzweifelter Unruhe ab, mit monoton sich wiederholenden schmerzlichen Klagerufen, pendelartiger Ruhe- losigkeit und den automatisch sich abwickelnden Bewegungen (siehe Allg.). Man hat diesem Zustande, welcher bald intercurrent auftritt, bald aber auch den ganzen Verlauf einnimmt, die Bezeichnung der Melancholia agitata gegeben. Oft spielen schreckhafte Hallu- cinationen, allermeist aber lebhafte Neuralgieen die physiologischen Mittelglieder für das triebartig reflectorische Gebahren. Die Kran- ken magern dabei oft rapid bis zum Scelette ab, müssen zu den einfachsten Lebensbedürfnissen (Essen, Noth dürft) angehalten werden, bringen wochenlang ohne Schlaf zu. Sehr häufig treten auch Angst- Raptus dazwischen. Die Kranken verstecken sich, wehren sich heftig gegen jede Annäherung, rennen umher, stürmen wüthend auf Per- sonen und Gegenstände ein, essen fast nichts, oder schlingen die Speisen mit gieriger Hast hinein. Dabei bilden mit dem Weinen uud Jammern die tagelang ausgestossenen monotonen Satzfragmente nur die Variationen desselben Schmerzgedankens, so wie auch die ruhelos wechselnden Stimmungen von verzweifelten Verwün- schungen und Schuldgefühlen bis herab zur blasphemischen Bitter- keit — nur denselben wehevollen Grundaccord moduiiren.

In beiden angegebenen Merkmalen der Vorstellungshemmung und der Stimmungsmouotonie liegt der wesentliche Unterschied gegenüber der typischen Manie, für welche wirkliche „Ideenflucht" und ein Stimmungs- wechsel, „in dessen Register kein Ton fehlt", charakteristisch ist. Ueber- gänge können aber dennoch stattfinden, indem der melancholische Schmerz- afl'ect in raschem Anstieg so sehr gesteigerte Reflexe in's motorische Gebiet wirft, dass eine Serie von Furor-Ausbrüchen nachfolgt (s. Furor). Die Ideenassociationen können dabei lockerer, der Ablauf rascher und eine vollständige Ideenflucht hergestellt werden. Der Verlauf ist in der Re- gel ein peracuter: mehrtägige Manie, darauf Umschlag in Depression und heftige Angst (Furcht umgebracht zu werden); endlich, wiederum nach wenigen Tagen, psychischer Erschöpfungszustand mit Schwerbesinn- lichkeit und allmählichem Ausgang in Genesung.

Der Weiterverlauf der Melancholia agitata geschieht entweder: a) in den ruhigem melancholischen Anfangszustand, dessen Höhe- punkt sie monatelang dargestellt hatte, und durch diesen in allmäh- liche Genesung; oder aber b) zunächst in ein Aufregungsstadium mit Gedankenverwirrung und triebartigem oder durch Secunden- Einfälle charakterisirten , oft ganz barocken, motorischen Zwangs- Gebahren (einer Art choreiformer Manie aus psychischer Schwäche

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Tobsüchtige Erregungspbasen. Melancholia agitata.

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mit hober affectiver Reizbarkeit); aas diesem in ein Stadium kin- discher Schwäche mit Zwangsgedanken, welche sich an jedes ge- sprochene Wort oder Wahrnehmung anhängen, und stundenlang rociferirt werden, mit ausserordentlich wechselnder, bald kindisch befangener, bald wieder natürlicher, oder aber trotzig verletzlicher and begehrlicher Stimmung; von da endlich in Genesung, oft nach manchmal wiederholten manischen Recidiven der geschilderten Art; oder aber c) in einen ruhigen depressiven (oder auch gebieterisch exaltirten) Wahnsinnszustand acuten resp. chronischen Charakters. Mit dieser Wendung, welche oft mitten in die Melancholie, oft in die Reconvalescenz eintritt, erweitert sich das Schuld- und Busse- geftihl zur gehobenen Empfindung einer durch die bestandene Krank- heit geleisteten „Erlösungs-Mission für die Menschheit". Oft steigert sich dieser Rückschwung der Stimmung zum (melancholischen) Grössenwahn „ein auserlesener Geist", ja „Gott selbst" zu sein.

Diese Episode kann entweder a) den Charakter eines geistigen Hehwächezustandes darbieten als natürlichen Ausdruck der Erschöpfung nach der verzehrenden Unruhe und als solcher vorübergehend sein; die „compensirend" beglückenden Uallucinationen klingen nach und nach ab und es erfolgt jetzt die Genesung. Dabei ist jedoch auch die Mög- lichkeit von wiederholten Recidiven dieses hallucinatorischen religiösen Wahnsinnszustandes einzurechnen, wodurch nach und nach eine wirkliche und dauernde geistige Schwäche erreicht werden kann. Die exaltirte Periode kann aber auch b) unter dem Bilde einer gereizten (Zorn) Ma- nie verlaufen, mit activ gehobenem Selbstgefühl (dass der Kranke die Verfolgungen so gut ausgehalten habe und jetzt gerechtfertigt sei; dass er damit den auferlegten Kampf gegen den Bösen bestanden; dass alle Widersacher jetzt ihre Strafe erhielten) und einer herrisch aufbrausen- den, trotzigen, selbst brutalen Stimmung. Auch hier kann nach und nach Genesung eintreten, nicht selten aber auch chronischer Wahnsinn. (In vielen dieser Fälle werden sich wohl gleich im anfänglichen melancho- lischen Bilde einzelne beigemischte Kerne von „Wahnsinn" nacli weisen lassen!).

Die 2. im Verlauf der Melancholie auftretenden acuten Wahn- sinnsphasen haben gemeinsam: eine mehr weniger tiefe Bewusstseins- verdunkelung mit stupider Angst und gleichgestimmten Sinnes- täuschungen resp. Illusionen.

Die Kranken stürmen umher, drängen fort, schreien wild hinaus, bald nur in Schreitönen, bald in abgerissenen Worten, drohen gewalt- tätig zn werden, schlagen das Essen weg, irren Nachts im Zimmer um- her. Dazwischen schieben sich Perioden, in welchen sie von der Angst übermannt reactionslos hinausstarren, in derselben Stellung beharren mit ängstlichen Blicken und verzerrten Zügen, und wie Hilflose behan- delt, angekleidet, gefüttert werden müssen. Sehr oft begleitet eine stür-

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SpecieUe Melancholie.

mische Herzbewegung mit unregelmässigem Pulse und Ungleichheit der Pupillen diese oft Tage- und selbst Wochen-lang dauernden Episoden. Kommt der Kranke wieder zu sich, so erzählt er von den massenhaften Täuschungen aller Sinne, unter welchen er gestanden: von feurigen Kreuzen, Sternen und Blitzen, von Stimmen, die sich um seine Seligkeit stritten; von Erscheinungen, die ihm Trost zusprachen, Mitleid zu er- kennen gaben, von Todtenvisionen ; von peinlichen Gefühlen im Körper, als ob man ihn zerschneiden und das Blut abzapfen wollte u. s. w. Wie beim acuten Wahnsinn ziehen sich die illusorischen Verkennungen oft in den klareren Zustand weiter, so dass der Kranke jetzt noch lange einen gedämpften Verfolgungswahn in seiner depressiven Stimmung bei- behält. Namentlich bleibt auch noch ein gereiztes mißtrauisches Wesen, als ob man seine Gedanken lese oder aus seinen Gesichtszügen ab- schaue.

In einer mehr chronischen Form nehmen die klimakterischen und senilen Melancholieen oft die Charaktere des Wahnsinns an, wobei der gesummte ängstliche Wahninhalt fast nur aus Illu- sionen besteht. Die Bewusstseinsstörung ist dabei keine so tiefe, als bei den acuten Zwischenfällen; richtige und falsche Perceptionen, lucidc und balbtraumerische Phasen messen vielmehr in einander Uber; ein lauter Anruf führt diese in jene zurück.

Nach einer längereu oder kürzeren typisch melancholischen Einlei- tung, gewöhnlich mit dem Wahne der Sündhaftigkeit und des geistigen Verlorenseins (manchmal in jnhem Umschlag durch Episoden von „un endlichem Wohlgefühl", mit „allen Herrlichkeiten des Himmels" unter- brochen! erfolgt eine immer ausgedehntere illusorische Fälschung aller Wahrnehmuugen im Sinne der depressiven Stimmung und des herrschen- den Wahngedankens. Oft geht ein Kampf voraus, in welchem der gute und böse Geist sich noch streiten; aber endlich weicht der gute Geist ganz, und lässt im Kranken nur das „böse Gewissen und den verlassenen Sünder" zurück. Dieser erkennt nun in jedem Tapetenschnörkel Teu- felchen, sieht in jeder Speise abgeschnittene Engel- und Heiligenköpfe, welche seine Sündenschuld zum Tode gebracht; tritt er auf den Boden, so wandelt sein Fuss über Crucifixe, welche seine ängstliche Phantasie in die Astzeichnung der Bretter gezaubert hat und „auf welche er treten mus8". Beim Rauchen der Cigarre meint er „Christum zu verbrennen". Ja, selbst im Urin und Stuhlgang werden allerlei „Köpfe" geschaut, welche bald als gute, bald als böse Geister immer zu neuer Ver- zweiflung des Kranken aus dessen Körper entleert worden sind. Nicht selten werden deshalb die Excreraente absichtlich zurückgehalten. Wi- derstreben gegen das Esseu, gegen die Verrichtung der Bcdürfuisse, ge- gen das Aufstehen, endlich selbst gegen das einfache Aufschauen bilden in der Folge die mächtigen Hemmungsreflexe auf das Wollen des Kran- ken, während andererseits die symbolische Umdeutung der Aussenwelt, verbunden mit ängstlicher Ideenflucht, ihn in immer grössere Zweifelsucht und Unsicherheit bannt: ob er nicht ein Unrecht thue und dadurch seine allgemeine Niederlage vergrössere. So wird der Kranke oft gegen das

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Intercurrcnte Wahnsinns-Episoden. Chronische Melancholie. 61

Nothwendigste widerstrebend, oft bis zur reflectorischen Spannung der gesammten Körpermusculatur. Auf jede Handlung, jede Rede folgt Reue, Jammern, Händeringen, Abbitte, gesteigerte Selbsterniedrigung unter immer absurderen Betheuerungen des Wahnes. Auch Hallucinationen fehlen die- sem Zustande nicht. Vorübergehend können dieselben sehr lebhaft wer- den und den Kranken in eine durch Tage und Nächte fortdauernde angst- gequälte Aufregung mit verzweifeltem Schreien und gefährdenden Raptus versetzen. Das Bewnsstsein bleibt lange leidlich erhalten und verdun- kelt sich erst in Folge der vorübergehenden oder zunehmenden Hirn- Inanition. Der Ausgang ist zunehmende, oft rasche Erschöpfung (Ueber- gänge in's sogenannte melancholische Delirinm acutum), oder aber sehr protahirte geistige Erholung unter entsprechender Zunahme der Ernäh- rung. Die Kranken bleiben dabei lange Zeit reizbar, händelsüchtig, miss- traui8cb, von allerlei Kopfsensat:onen geplagt; ihrem Anffassen und Ur- theilen mischen sich Züge von Verfolgungswahn bei, welche nur langsam zurücktreten, in der Regel ohne corrigirt zu werden. Die Meisten blei- ben im günstigen Falle psychische Invaliden; diejenigen, welche sich ganz bis zur Genesung (manchmal durch eine acute fieberhafte Erkran- kung, Pneumonia) durcharbeiten, gehören der mehr subacuten Verlaufs- form an und bilden zugleich die Uebergänge zur primären hallucinato- rischen Dementia (s. d.J, von welcher sich die scharf charakterisirten Fälle anch nur durch die Krankheitsentwicklung und namentlich durch das Verhalten des Bewusstseins (hier ein vorwiegend waches, dort ein anhaltend träumerisch tief befangenes) klinisch unterscheiden.

Noch bleibt eine weitere Verlaufsart des melancholischen Pro- cesses übrig: inChronicität. Alle beschriebenen Formen, die ac- tiven und passiven, darunter aber besonders die dämonomanische und die hypochondrische Unterform, können nach Abklingen des acuten oder subacuten Stadiums in einen chronischen Verlauf Uber- gehen, in welchem die depressive Stimmung, die Wahngedanken, und auch die Hallucinationen erhalten bleiben, von dem Kranken dauernd aufgenommen und eingewöhnt werden. Die Selbstanklagen, das Jammern, die stereotypen Bewegungen (das Fälteln der Kleider, Reiben und Zupfen am Körper u. s. w.) werden Tagesgeschäft, mit gleichzeitiger Abnahme der Affectscbärfe, welche nur zeitweilig noch in lebhaftem Paroxysmen zur Geltung kommt. Im Uebrigen vermag der Kranke selbst während und unter seinen immer automatische- ren — melancholischen Aeusserungen wieder sich zu beschäftigen, freilich meist nnr mehr mechanisch, auch an der Umgebung in be- schränktem Grade wieder Antheil zu nehmen. Aber Interesse und Energie nnd die geistige Schärfe nehmen dabei ab, der Kranke steuert einem allmählichen Blödsinn zu mit melancholischer Färbung. Andere Male freilich erhält sich der geistige Tonus bewunderungs- würdig lange; die Kranken, längst jeder Freude, jeder Hoffnung bar, und stündlich bereit den Tod gegen ihr schweres Dasein ein-

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Specielle Melancholie.

zatauschen, ringen gleichwohl sich oft noch tapfer hindurch wahre Helden im stillen Dulden! und wissen ihre mühsam zusammen- gehaltene Kraft nützlich zu verwerthen. Viele münden nach und nach in Phthise ein (s. senile Form). Die gesunkene Körperernäh- rung nimmt bei diesem Uebergang in das chronische Stadium in den meisten Fällen (nicht in allen) zu. Das Gesicht bekommt einen zu- nehmend stumpferen Ausdruck ; oft verdickt sich die Stirnhaut; auch die Bindehaut des Auges wird dicker, schmutzig gefärbt, und behält bleibend erweiterte, geschlängelte Gefässchen.

Zu diesen chronischen Melancholieen (mit cerebropathischem Charakter, 8. u.) gehört aber auch eine sehr schlimme klinische Form, in welcher Opposition und Negation sich personificirt haben und die Ver- stimmung einen Grad erreicht hat, wo jeder Eindruck, jede Berührung, jede Aenderung der momentanen psychischen Lage eine schmerzliche Reaction herbeiruft; wo Lust zu Schmerz, Schmerz zu Lust wird, die arme Creatnr will, was sie nicht soll, und soll, was sie nicht will. Gewöhnlich bildet eine tief gesunkene Constitution, sehr oft eine erheb- liche Atherose (mit Herzfehlern), eine vorgerückte Lebensepoche, in frühem Jahren das äquivalente Element einer starken erblichen Bela- stung — die körperliche Grundlage. Die eingesunkene gebrochene Hal- tung der Kranken zeigt schon auf den ersten Blick, dass ein tiefes Leiden ihnen den „Genickfang" gegeben, während aus den hohlen Augen und lebensmüden Zügen der tiefste Seelenschmerz schaut. Aengstlich und misstrauisch umherspähend, sind sie von einer beständigen innern Unruhe getrieben, stehen immer auf dem Sprunge hinauszudrängen, ver- sagen sich Speise und Schlaf, rütteln an den Thtiren, lassen sich durch tausend fruchtlose Versuche nicht abschrecken, scheuen nicht Hitze und Kälte, kehren sich so wenig an ein freundliches als an ein strenges Wort. Sie widersetzen sich gegen Alles und Jedes, namentlich gegen das Essen, wozu sie förmlich geschleppt werden müssen, essen nicht trotz ihres Hungers, am ehesten noch, wenn man sie gewähren lässt und die Speisen ruhig wieder abträgt, worauf sie oft gierig zwischen Thür und Angel darauf losstürzen. So gewinnt man ihnen durch List und Täuschung mancherlei ab; meist aber weichen sie nur der force majeure. Ihr Anzug ist vernachlässigt, schmutzig; eine Toilette ist nur mit Gewalt zu erzwingen. Durch die Zähigkeit und Gewandtheit ihrer Anstrengungen und durch die rücksichtslose Hartnäckigkeit der Durchführung bilden sie mit die schwersten Kranken, welche immer und immer wieder ein me- chanisches An- und Eingreifen erfordern so sehr auch ihr trauriger Zustand die höchste Bedauerniss erregt und auf die humanste Behandlung Anspruch erhebt. Oft sinkt die Stimmung der Kranken bis zur Ver- zweiflung; oft gewinnt sie auch wieder eine gewisse Fassung und Ruhe. Der Ideenkreis ist sehr enge, von ermüdender Einförmigkeit (Verloren- sein, Heimdrängen, Bitten um „Gnade"). Dazwischen kommen Selbst- vorwürfe, dass der Kranke Dies oder Jenes hätte thun oder unterlassen sollen. In ruhigen Stunden wird über Druck auf dem Herzen, Angst, Verwirrung, schreckliche Gedanken, dämonische Versuchungen, grosso

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Chronische Melanch. Klinische Typen. Chron. hypoch. Melanch. 63

Mattigkeit, zeitweise auch Uber Gebörshallucinationen, geklagt. Die Körperernährung wird in der Folge immer elender; es tritt bald jene Anomalie der Blutcomposition ein, wo jede leise Contusion Blutextravasate setzt. Othämatome sind bei diesen Kranken, selbst auf ganz leichte Anlässe, nicht selten. Manchmal gelingt es durch eine ausserordentlich umsichtige Pflege, welche besonders auf Hebung der Körperernährung (Sondenftitterung) und Vermeidung des Decubitus abzielt, den Kranken wieder langsam in die Höhe zu bringen, doch nie weiter, als bis zu einer psychischen Heilung mit Defect; noch öfter aber lässt alle Mühe im Stiche und der Kranke versinkt in unrettbaren Marasmus, oder er- liegt einer intercurrenten Krankheit (Phlegmonen, Decubitus, Petechien mit unstillbarem Nasenbluten; Suicidium). Klinisch ist bezüglich des Verlaufs zu bemerken, dass sich: 1. manchmal ein vorübergehender, alternirender Typus, und 2. zeitweilige subkataleptische Stuporphasen einschieben. Prognostisch ist die Erfahrung zu beachten, dass selbst eine Jahre lang dauernde Nahrungsverweigerung die schliessliche Re- convalescenz nicht ausschliesst.

Nosologisch bilden diese chronischen Melancholieen die klinischen und pathologisch anatomischen Uebergänge zu den geistigen Cerebropathieen aaf Grundlage einer primären Hirnatrophie. Viele der dahin ge- hörigen Fälle bestehen aus einer Serie von Einzelerkrankungen (Paro- xysmen), welche sich insgesammt auf eine Reihe von Jahren ausdehnen eine Art periodischer Melancholieen , zunehmend qualitativ schwerer werden und endlich in einen unheilbaren letzten Paroxysmus auslaufen mit dem autoptischen Endbefund des genannten Charakters. Sie beginnen mit einer einfachen oder hypochondrischen Melancholie, welche in der Regel schon Anfangs in der starren Monotonie inhaltsloser oder kindlicher Klagen die primäre geistige Beschränktheit (psychische Schwäche an Stelle einfacher melancholischer Hemmung), und nach der Qualität der Stimmungsreflexe (Herumwälzen auf dem Boden, unmotivirte oder conträre Negation, perverse Antriebe, impulsive Raptus zur Selbst- beschädigung) die tiefe „organische Belastung" des psychischen Sympto- menbildes erkennen lässt. Anfangs folgt noch manchmal Genesung (voll- ständig oder theilweise), selbst auf jahrelange Dauer. Aber, genauer betrachtet, hat der Kranke selbst in günstigen Fällen eine Einbusse er- litten: ein leiser psychischer Marasmus in Form eines geringem Interesses, einer gewissen Unschlüssigkeit, eines unmotivirt zeitweilig gedrückteren Wesens bleibt. Dann folgt wiederum ein melancholischer Paroxysmus, bald kürzer, bald länger dauernd, vielleicht abermals mit relativer Heilung, aber zurückbleibendem grösseren Defecte. Und so geht der Verlauf in Etappen weiter, bis endlich der Kranke in einen Zustand depressiver geistiger Schwäche einläuft, in welchem der Blödsinn Hauptsache, die melancholischen Züge nur noch mitgebrachte Schablone sind. Oft gelangt der Kranke in diesem noch zur Ausführung seines suieiden Dranges.

Die chronische Form der hypochondrischen Melan- cholie erwächst (wie die oben geschilderte einfache Form) mit Vor- liebe auf neuropathischer Constitution (besonders hysterischer), und

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Specielle Melancholie.

auf masturbatorischer und uteriner Grundlage (chronischer Uterus- Infarct mit profusen Katarrhen). Sie gehört deshalb auch grössten- teils dem weiblichen Geschlechte an, befällt aber hier alle Alters- stufen, namentlich junge, unverheiratete, erblich belastete und anämische Mädchen; doch liefern auch junge Männer ein genügendes Contingent.

Das Symptomenbild baut sich auf einen Status nervosus, gewöhnlich mit „Spinalirritation" auf und trügt als specifische Charaktere: gedruck- tes, manchmal grenzenlos trauriges Wesen, gesteigerte Empfindlichkeit mit Neigung sich jedem Schraerzenseindruck maaaslos hinzugeben, Ver- zagtheit, Willensschwäche. Körperlich ist der ganze sensible Nerven- baum in hochgradigster Hyperästhesie, und die Kranken bilden die Vir- tuosen auf dem nervösen Eropfindungsinstrumente. Jeder Zoll des Kör- pers schmerzt, jeder Nerv wird peinlich gefühlt, für die Bezeichnung des „Brennens", „Quirlens", „Spannens", „Pressens" u. 8. w. reicht kaum der Sprachschatz des Gebildeten ans. Auch das ruhigste Denken ist mit widrigen Empfindungen, mit ausstrahlenden Wärme- und Kältegefühlen, mit Herzklopfen und selbst Angst verbunden. Gewöhnlich aber ist gar kein ruhiges Denken möglich; die Gedanken drängen sich ungerufen; Alles, was der Kranke sieht und hört u. s. w., erregt Bilder und Gedan- ken, und diese wieder andere, und so mischen sich Bilder und Gedanken und fuhren zu einem peinlichen Schwindel mit schmerzlicher Ermattung. Lebhaft vorgestellte Empfindungen objectiviren sich sofort körperlich. Bei Steigerung des Zustandes wächst die innere Unruhe „vor einem neuen Gedanken" und der Bann der Launenhaftigkeit; die Kranken werden immer mehr zur Resonanz einer jeden hysterästhetischen Regung. Sie sind ganz vom Augenblicke beherrscht: jetzt ist es ein beliebiger Ein- fall, jetzt eine zufällige GefUhlslage, jetzt ein bedeutungsloser Sinnes- eindruck, jetzt eine leise Störung des GemeingefUhls, jetzt ein phanta- stischer Sprung welche die abnormen Sensationen aufregen und dann die geistige Situation des Kranken jeweils mit zäher Strenge beherrschen. Stunde um Stunde wird ein neues Klageregister gezogen: bald ist die Nase zu eng, der Leib zu aufgetrieben, das Zimmer zu klein, die Luft zu dicht, der Athem zu kurz u. s. w. Damit geht Hand in Hand ein wachsendes BedUrfniss sich in dem schweren Leidenszustand gebührend anerkannt und bemitleidet zu sehen. Dies führt einerseits zu einer immer grössern Anspi uchsfUlle, welche die Umgebung rücksichtslos meistert, andrerseits zu einer solchen gemttthlichen Verletzlichkeit, dass den Kran- ken selbst die bestgemeinte Pflege nicht genügt Viele geberden sich wie unleidige Kinder, wollen alle ihre Wünsche sofort erfüllt sehen, kommen durch eine Kleinigkeit ausser Fassung, ziehen im folgenden Augenblicke an sich, was sie erst abgewiesen hatten, verweigern mit äusserstem Eigensinn den Gehorsam in Dingen, welchen sie sich bis dahin gerne unterzogen hatten. Bei Andern entwickelt sich, damit gleichen Schritt haltend, ein Gefühl des Verkanntseins und eine eben so ent- schlossene Verbitterung über die Umgebung, endlich Trotz und Haas und nicht selten feindseliges Auftreten gegen dieselbe, welche „doch nur darauf warte, den Kranken zu verderben".

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Chron. hypochondr. Melanch. invalide" (Organische) Melancholieen. 65

Bei wieder Anderen mischen sich mit den Gefühlen der Erbitterung auch die der Sehnsucht nach Genesung, und damit weiter die Erinnerung an die tiberstandenen Leiden, an die getäuschten Hoffnungen, an die nicht erfüllten Versprechungen, und erzeugen reactiv Episoden melancholischen Schmerzes, welcher bis zum heftigsten Weinen, oft bis zu krampfartigen Erschütterungen des Körpers sich steigern kann. Bemerkenswerth ist, dass es nicht selten und nicht schwer gelingt, den Kranken mitten aus seinen mit Aufgebot aller Mimik begleiteten Verzweiflungsscenen durch Anknüpfung eines interessanten angenehmen Gesprächs zu freien Aeusse- rungen, lebhafter Conversation und heiterer Stimmung voll Vertrauen und Hoffnung hinüberzulenken den sterbenden Gladiator unvermerkt wieder aufzurichten. Das Bewusstsein erhält sich daneben in einer auffällig con- trastirenden Schärfe und Intaktheit. Der genannte Zustand kann Monate und selbst Jahre (oft tagweise alternirend) andauern. Der Kranke bleibt über die ganze Zeit ein unberechenbares Compendium nervöser Diagnosen und Prognosen; nie ganz frei, immer etwas scheu und verzagt, geht er von Tagen düsteren Weltschmerzes zu aufgeräumten, ja selbst gesellig heiteren über; heute überströmend von Klagen, kann er morgen alle seine Missempfindungen unterdrücken und auf die richtigen Anschauungen ein- gehen, um in jähem Umschlage wieder zur alten Muthlosigkeit herab- zusinken — und ebenso aufsteigend wieder in die Flittertage einer überstürzten Genesungsfreude einzulaufen. Nicht so selten gehen auch Drohungen von (oft ernst gemeintem!) Selbstmordhang mit einher. In diesen proteusartigen Schwankungen, welchen deutlich eine hysterische Signatur aufgedrückt ist, arbeitet sich in günstigen Fällen das Befinden des Kranken zur Besserung hinauf: die Klagen werden seltener, die Stimmung gefasster und gleichmässiger , das Aussehen componirter; es stellt sich dauernde Freude an der Geselligkeit und Arbeitslust ein. Die weniger begünstigten Kranken rücken unter wiederholten und zunehmend schwereren Recidiven in hypochondrischen (auch secundären) Wahnsinn, werden immer barocker in ihren Sensationen und schliesslich in ganz neue Körper transformirt. Sie verfallen auf die unsinnigsten Selbst- euren, essen heisshungerig Gras und Unverdauliches, anderemale ver- weigern sie hartnäckig die Nahrung, oder nehmen sie nur, wenn man sie ihnen in bestimmten Geschirren, oder an bestimmte Orte hinstellt; nicht selten zeigen sich auch in der Folge Verfolgungsgedanken und namentlich Vergiftungsfurcht. Die Einnahme des Essens sowie die Ver richtung der Bedürfnisse erfolgt unter ganz verzwickten Körperhaltungen. Dabei wird die Stimmung immer indolenter, oder misstrauisch feindselig, nicht selten explosiv heftig (Raptus gegen sich und Andere, plötzliches Zerstören i. Wieder Andere dieser chronischen hypochondrischen Melan- choliker bleiben ihr Leben hindurch fast stationär, und schrumpfen nur langsam zu beschränkten und immer engherzigeren Egoisten zusammen. Hier knüpfen sich die Uebergänge zum chronischen (degenerativen) hypo- chondrischen Irresein der Männer an.

Es erübrigt nun noch ein Blick auf die Modifikationen, welche das im Vorstehenden gezeichnete Symptomenbild auf Grundlage eines invaliden Hirnlebens eingeht. Die vorigen Schilderungen

Schale, Geiateakraakheileo. 3. Aufl. 5

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Specielle Melancholie.

bildeten bereits die Uebergänge. Speciell aber gehören hierher die Melancholieen auf klimakterischem (senilem) Boden, ferner die auf alkoholischer, puerperaler, masturbatorischer, syphilitischer Grund- lage und Entstehung. Alle diese klinischen Unterformen weisen spe- cielle Nuancirungen des typischen Krankheitsbildes auf, worunter einige einen praktischen Werth insofern besitzen, als sie zur Bildung von ätiologischen Krankheitsgruppen befähigen. Symptomato- logisch lassen die allgemeine n Charaktere der betr. Symptomen- complexe sich darin zusammenfassen, dass das psychische Schema der Melancholie um eine Stufe tiefer sich abspielt: der Inhalt (Wahn) ist geistig schwächer und beschränkter; die Form resp. die Asso- ciation der psychischen Acte mangelhafter und gehemmter; die klinischen Einzelphasen sowohl in ihrem Beharren als in der Weise der Uebergänge sind weniger „logisch" vermittelt, als vielmehr wesentlich durch die Phasen des Nervenprocesses bestimmt. Der Vorstellungsablauf ist erschwerter, oft förmlich erstarrt; der Vor- stellungskreis ungleich reducirter als bei den rüstigen Melancholieen. Die Wahngedanken werden alberner und füllen das Bewusstsein so sehr aus, dass die ganze sprachliche Aeusserung mehr nur noch in der wochenlang monotonen Ableierung desselben Satzes, derselben fragmentaren Klagerufe besteht, woneben keine Correctur aufkommt, ja nicht einmal percipirt wird. Mehr noch prägt sich dieser Zwang in der immer starreren Negation der Kranken aus, in der „Negation aus Negation", ohne klar bewusstes oder durch einen starken Affect getragenes Motiv.

a) Senile Form. Die Kranken sind wie benommen, für die ein- fachsten Dinge rathlos, sie widerstreben Allem, was man mit ihnen vor- nimmt, wehren sich ziel- und planlos, sind confus wie Kinder; für sich trippeln sie in beständiger Unruhe, durch ein dunkles Etwas getrieben, was wohl peinlich empfunden, aber nicht erfasst wird ; nicht selten irren sie in stupider Allangst rastlos und mit fliegender Hast umher, unter allerlei schüttelnden, stossenden, reckenden Glieder- und Körperbewe- gungen; oder sie rennen mit krampfhaft zurückgezogener Kopfhaltung, nur mit dem Hemde bekleidet, im Zimmer auf und ab, und finden selbst nicht einmal zum Essen eine kurze Ruhe; fortwährendes Jammern und Stöhnen, oder abgebrochene kurze Ausrufe („ewig verloren!", „unheilbar!" „tobsüchtig!") begleiten diese agitirten Sturm- und Drangperioden. In den ruhigeren Stunden sind sie unzugänglich, theilnahmlos, ganz von kleinlichem Egoismus erfüllt; in ihren kurzen Reden zu raisonnirender Disputirsucht geneigt, sensoriell und psychisch hyperästhetisch, unzu- frieden. Nicht selten brechen plötzliche Raptus von Gewalttätigkeit gegen sich und Andere durch. Aus den Phasen dieses ruhigen Pessi- mismus mit bornirter Rechthaberei wobei die Ideen der absoluten Ver- armung, des verschuldeten Ruins seiner Stellung und Familie die oberste

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„Senile" Form der organ. Melancholieen.

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Prämisse für den Kranken bilden geht er immer wieder in die Auf- regungszustände der schmerzlichen Gebanntheit mit den triebartig moto- rischen Reflexen Uber. So zieht sich das Krankheitsbild unter Exacerba- tionen und Remissionen wechselnd oft Monate lang hin. In günstigen Fällen tritt unter zunehmender Ernährung nach und nach Ruhe und rela- tive Erholung ein, welche sich auch befestigen kann. In ungünstigen Fällen dagegen bleibt das psychopathische Schema; nur wird der Inhalt affectloser, alberner. Die Kranken plappern unter ihrem heftigen Wider- streben oft die barocksten Phrasen her, endlich reine Vociferationen. Das ganze Gebahren wird immer mehr ein automatisch monotones. Die Kranken stöhnen und jammern Tag und Nacht, stossen (bis zur Heiser* keit) dieselben Schreilaute aus; dabei ziehen sie sich aus and an, sie esseD, lassen sich spazieren führen u. 8. w. Nicht selten erholt sich dabei das Bewusstsein in einem solchen Grade, dass die Kranken Uber Vieles Auskunft zu geben vermögen, und Uber die Trostlosigkeit ihrer Lage richtige Ansicht äussern; sie versichern sogar, dass sie geistig ganz klar seieu, und nur durch ihre eigene Schuld und Gottverlassenheit so jammern und gesticuliren mUssten. Gewöhnlich wird diesem ihnen aufgezwungenen und für den Willensgang unerreichbaren automatischen Gebahren eine dämonomani6che Allegorie unterlegt: „der Teufel macht es ihnen." Nicht selten gehen Halluciuationen aller Sinne mit. Wird die blödsinnige Schwäche grösser, so objectivirt sich das schmerzlich deprimirte Selbst- gefühl in Vorstellungen, welche eine dem Kranken unfassbare Aende- rung seiner selbst, der Aussenwelt, oder deren Negation bedeuten. Der Kranke klagt, dass er taub, ganz binterfür, verrückt sei, dass alles zwei- deutig, nichts ihm mehr klar sei was er sage; er wisse nicht mehr, ob er ein Mannsbild oder Weibsbild sei; er sehe alles wie sonst; aber er wisse nicht, ob es wahr sei; er behauptet, alles noch zu sehen und zu hören, wie sonst ; aber seine Ohren seien verstopft. Er weiss nicht mehr, wo er hingehört („ich bin ein herumirrendes Lamm, welches weder Stuhl- gang hat, noch Wasser lässt"), kann Süss und Sauer nicht mehr unter- scheiden. Er allein von Allen muss elend und matt und so kraftlos, dass er nichts mehr leisten kann, ewig in der Welt herumlaufen. Er weiss auch nicht mehr, was er redet in seiner Verwirrung. Manche Kranke fragen in ihrer Rathlosigkeit nach der Belehrung Uber die einfachsten Gegenstände (ist das ein Glas? sind das Hosen?); sie verlangen, dass man sie hinaus8tos8e zu den wilden Thieren. Sterben sei das beste für sie. Die ersehnte Erlösung durch den Tod rUckt auch manchmal unter zu- nehmender Reduction der Körperernährung und Anämie heran (Decubitus, Oedem, zeitweilige Fieberbewegungen, hypot>tatische Lungenaffectionen). Anderemale ist unter günstigen Bedingungen (Assimilation einer kräftigen Diät) auch eine relative Erholung zu einem natürlicheren Benehmen und Stimmung wieder möglich. Nimmt die senile Melancholie das hypo- chondrische Bild an, so schrumpft mit der zunehmenden psychischen Schwäche der Vorstellungsinhalt zu immer engeren stereotypen Kreisen zusammen (Klage Uber Verstopfung, Uber den Magen u. s. w.), während die Stimmung zu einer Verzweiflungsschablone sich einschränkt, und aus dem immer kindischeren Gesichtskreise alle früheren Interessen und Her- zensbeziehungen verschwinden. Die Krauken verknöchern förmlich zu

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Specielle Melancholie.

Egoisten und zugleich zu Jammersalen ihrer körperlichen Parästhesieen, welchen Tag und Nacht keine Linderung mehr beschieden ist. Langsam progressiv schreitet das Leiden fort, manchmal verschärft durch deli- rante Angstzustände. Körperlich zeigen nicht selten Hemianästhesieen mit peinlicher hypochondrischer Verarbeitung (oft fühlen solche Kranken die Speisen nur auf einer Magenseite, glauben eine doppelte Afteröffnung zu haben), verbunden mit einseitigen vasomotorischen KopfHuxionen und con- tralateralen Bewegungsstörungen, die palpabel gewordene Hirnaffection an. Diese Fälle bilden auch den klinischen Uebergang zu den psychischen Cerebropathieen aus primärer Hirnatrophie (s. d.).

b) Neurasthenisch - torpide Form nach erschöpfenden Ex- cessen oder schweren Consumptionskrankheiten (Typhus, Puerperium).

Die Kranken sind in höchstem Grade apathisch, sprechen nicht, oder nur kurze, oft halb betäubte Antworten. Dazwischen fahren sie plötzlich heftig auf, werden gewaltthätig oder widerstrebend. Man ftihlt aus ihrem Benehmen die Schmerzgebundenheit durch eine direct organische Hem- mung heraus, für welche das getrübte Bewusstsein keinen Kamen und noch weniger eine Erklärung hat. Dabei sind sie nicht misstrauisch oder feindselig. Sehr häufig verweigern sie lange Zeit die Nahrung; unbe- wacht schiessen sie mit dem Kopf an die Wand oder lassen sich zum Bett herabfallen, um im nächsten Augenblicke wieder stumpf schmerzlich hinzukauern. Diese Raptus machen den Eindruck eines zeitweilig ent- lastenden Reflexes, da die geistige Spannung bei der tiefen Bewusstseins- störung nur schwer den Ausweg durch Worte zu linden vermag. Zeit- weise wohl brechen einige lückenhafte, unklare Sätze heraus, welche auf Wochen lang still getragenen Kummer, auf innere verzweiflungsvolle Angst hindeuten. Dieser Zustand kann sich allmählich unter Besserung der Er- nährung und entsprechender Medication (Morphium) lösen, und der Kranke successive zu freieren Aeusserungen gelangen, in welchen er jetzt seine Schuldwürdigkeit, seinen Entschluss zu sterben, oft unter Thränen be- kennt, nicht selten auch wegen seiner unwillkürlichen Ausbrüche, die er gleichwohl noch nicht lassen kann, um Verzeihung bittet. Thatsächlich ist auch nach und nach eine allmähliche Heraufbesserung, und zwar durch ein hallucinatorisches Stuporstadium, manchmal auch durch abwechselnd träumerische und halb lucide Phasen hindurch, möglich. Andernfalls ver- zehrt sich die Hirnkraft in der schmerzlichen Gedankenspanuung ohne einen Abgleich, und der Kranke geht durch einen melancholischen Nihi- lismus („wir haben nie existirt, ich bin nur Luft, es wächst nichts; die Welt ist untergegangen; es gibt nur Himmel und Erde" u. s. w.) in eine zunehmende psychische Schwäche über, welche eine eigentümliche Bei- mischung von cerebraler Benommenheit und Betäubtheit beibehält. Der Kranke gibt alles zu, er verneint, was er vorher bejaht hatte; das In- teresse stumpft sich ab. Motorische Insuflicienzen (Nachschleifen des Fusses, einseitiges Zitteruj stellen sich ein; auch Nystagmus, einseitiges Schwitzen. Manche Kranke sprechen nur in der Inspirationsphase („rück- wärts"), hie und da passend, häufiger sinnlos. Immer mehr treten auch ethische EntartungszUge hervor (Feindseligkeit gegen alle natürlichen Be- ziehungen, kleinlicher, niedriger Egoismus); ein unbeugsamer Suicidiums- drang bleibt, und gelangt nicht selten jetzt noch zum Ziele.

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Neurasthen. torpide Form. Masturbatorische Melancholie.

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c) Masturbatorische Melancholie. Die anf onanistischer Grundlage sich entwickelnde Melancholie zeigt ein mehrfaches klinisches Bild. Die häufigste Form ist die hypochondrische aus der schranken- losen Ausbeutung der neurasthenischen Spinalsensationen. Im Mittelpunkt stehen vage Rückenschmerzen, Ziehen und Reissen in den Beinen, Be- schwerden beim Uriniren, Neuralgieen der Genitalien (besonders Parä- sthesieen der Urethra); später gesellen sich Kopfdruck, Unfähigkeit zu denken, Schwindel, Vergehen der Augen, Herzpalpitationen, präcordialc Gefühle, vasomotorische Erregungszustände, oft local (einseitig) hinzu, endlich Angst und SelbstvorwUrfe. Die Stimmung ist verschieden: in einem Falle Uberraschend affectlos (aber nicht zu trauen !) ist sie in an* dem überängstlich, weibisch verzagt und dabei mit einem Zug von süss- licher Zärtlichkeit vermischt (beständiger Drang die Hände Dritter zu fassen, oder die eigene Hand zu geben, welche oft durch ihre kühle, schweissige Feuchtigkeit erschreckt). Die populären Jugendschriften liefern die autoritativen Scbreckcitate, deren Hauptgespenst die drohende Tabes bildet. Ein menschenscheues Wesen, weil sie fühlen, dass Andere ihnen das „von der Natur auf ihre Stirn gedrückte Siegel" ansehen möchten, führt sie zur Einsamkeit und zur grüblerischen Selbstpeinigung: dem täglichen Studium ihres Urins, behufs Untersuchung einer etwaigen Spermatorrhoe , der sorgsamen Einregistrirung ihrer Pollutionen werden Stunden gewidmet. Nun stehen zwei Wege der Weiterentwicklung offen: a) der hypochondrisch- melancholische, in Genesung resp. Blödsinn; b) der dämonomelancholische, in Genesung resp. Wahnsinn. Bei der ersten Form sind die Hauptmomente des klinischen Bildes: trübe Stimmung, ab- geschlossenes, grüblerisches Wesen mit eigensinnigem Trotz und gereiztem Widerstand, episodischen Verfolgungs- und Grössenideen, Phasen von grosser Aengstlichkeit mit Selbstvorwürfen; dazwischen plötzliche Raptus, ausgehend von den Genitalempfindungen („wie wenn man Einen hin- machen müsste"). Allmähliche sittliche Entartung, schamlose Mastur- bation; bei Vorhalt obscönes Gegenverlangen. Unter unregelmässigen Schwankungen zwischen bessern Zeiten (Krankheitseinsicht und Verspre- chungen) und schlimmem (mit plötzlichen Antrieben zu beissen und zu kratzen), immer tieferer Gemüthszerfall bei oft noch leidlich erhaltenem Vorstellungsleben (speciell Gedäcbtniss) mit sinnlosen Einfällen, Vernach- lässigung des Decorums und einem mechanischen In -den -Tag -leben. Die zweite Form beginnt mit einer religiösen oder dämonomanen Me- lancholie, ängstlicher Unruhe mit Körperzittern (wobei der Oberkörper oft vorwärts gestossen, die Beine vorgeschleudert, die Achsein gehoben werden u. 8. w.), peinliches Missbehagen mit stetem Betasten der Ge- nitalien; dann Selbstvorwürfe, „dass sie die Nachkommenschaft verkürzt hätten"; Furcht vor dem Himmel, Verzweiflung an der göttlichen Gnade. In der Folge Tastsensationen (Zupfen) an den Genitalien, Teufelsvisionen, Besessenheit wahn, Brausen, Klingen im Kopfe, Würgen im Halse, Dru- cken und Brennen auf der Brust, Verdrehen der Glieder, Zerren und Wühlen in den Geschlechtsteilen (so dass der Kranke sie oft wegreissen will), Raptus zu Suicidiuro, zu Angriffen auf Andere, oder auch zu plötz- lichem reflectorischen Gebahren: Brüllen, Schreien, rasendem Umsich- schlagen mit dem Gefühl verdammt, allein, auf der Welt zu sein. Manch-

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Specielle Melancholie.

mal in jähem Uebergang jetzt abwechselnde himmlische Wonnegefühle; dazwischen immer wieder die Empfindung, „dass der Teufel den Kranken noch verrückt mache". Der Verlauf kann subacut (einige Wochen bis Monate) sein, manchmal sich aber auch bis zu I 2 Jahren hinausziehen. Von bestimmendem Einflüsse auf denselben ist der Grad des körperlichen Ernährungszustandes und namentlich die Entsagung der Onanie. Der Krankheits verlauf ist immer ein sehr wechselnder, durch Besserungen und jähe Verschlimmerungen ausgezeichneter: plötzlich wird der Kranke wieder fassungslos verzweifelt (er ist wieder eine blutlose Hülle, er be- kommt ein schwarzes Gesicht, der Teufel ist mit Allem, was noch Gutes an ihm war, durchgegangen; er wird lebendig an Leib und todt an der Seele begraben u. s. w.). In der Regel gehen acute Gastricismen mit. Bei protrahirterem Verlaufe mischen sich Züge von Beeinträchtigungswahn und Misstrauen gegen die Umgebung bei. Körperlich wird oft Impotenz (gänzlich mangelnde Erectionen) und unwillkürlicher Samenabgang beim Uriniren und Stuhl, bei reizbarerer Schwäche auch Tagespollutionen ohne Wollustgefühl und unter furchtbarer Beängstigung des Kranken, beob- achtet. Aber auch hier ist Genesung nach und nach möglich.

Eine andere, ebenfalls häufige Form beginnt mit religiöser Melan- cholie mit Hallucioationen und einem impulsiven Gebahren, welcher sich früh schon Züge von Wahnsinn und andererseits von ethischer Entartung beimischen. Die Kranken fangen an zu „sinniren", brüten Tag und Nacht über ihren Gebetbüchern, legen sich und ihren Angehörigen Fast- und Bussübungen auf und ahnden jedes Uebersehen darin mit Härte, oft barbarischen Misshandlungen. Sie gerathen immer mehr in schmerzliche Gebundenheit, knieen stunden- und tagelang mit gefalteten Händen, ver- weigern oft hartuäckig die Nahrung, vernachlässigen das Decorum, lau- schen und gehorchen nur den „Eingebungen Gottes", welche sie in leich- ten Körpererschütterungen oder in kleinen Kopf bewegungen u. s. w. ver- spüren. In raschem Umschlag folgen auch hier oft heitere freie Stunden; dann aber wieder apathische, resignirte Episoden oder Zeiten von stumpfer Verzweiflung über ihre Sündhaftigkeit, deren Memento die Kranken an ihrer abnehmenden „Naturkraft" fühlen. Mit dem peinlichen Gedanken- drange verbinden sich allerlei spinale Sensationen, namentlich beklem- mende über das Herz und Epigastrium.

Wieder Andere mühen sich in hartem Kampfe ab zwischen ihrem guten Vorsatz und den höhnenden , oft direct blasphemischen Stimmen, welche sie als „dämonische" ängstigen, um so mehr, als damit immer die sexuellen Heizungen (oft mit Tages- Pollutionen) und eine peinliche Hemmung alles Wollens eintreten. Das Gefühl, zum Schlechten, das sie doch fliehen wollen, „getrieben" zu sein, bringt Anfangs Verzweiflungs- scenen (mit Raptus), später stumpfschmerzliche Resignation. Die Gene- sung ist bei dieser klinischen Form schwieriger, aber doch möglich unter der oben bezeichneten Bedingung. Oft intercurriren manische Raptus von nur wenigen Stunden Dauer und vollständiger Unbesinnlichkeit nachher. Die protahirte Rcconvalescenz erfolgt mit Vorliebe unter der Form einer hypochondrischen Melancholie mit gesteigerter Schmerzempfindlichkeit und grosser Weichheit der Stimmung; oft spielen Verfolgungswahnelemente mit Episoden von Misstrauen, Trotz und einem feindselig abstossenden

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Masturbatorische Melaucholie.

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Benehmen gegen die Umgebung herein. In nicht zur Genesung ge- langenden Fällen bildet sich dieser Verfolgungswahn immer breiter und ausgedehnter aus und wird stationär. Es kann aber auch der Ausgang in unheilbare Katatonie erfolgen.

Oder, endlich, die anfangliche Melancholie geht nach und nach in blödsinnige Schwäche Uber, deren HauptzUge neben der intellec- tuellen Abnahme ein grosser Wechsel in der Art und Richtung der Bestrebungen, ein Herumgeworfenwerden in den verschiedensten Stim- mungen, bildet; sagen wir kurz: in einem Schwachsinn hysteriformen Charakters mit sittlicher Degeneration. Bald ausgelassen heiter, zu muth- willigen Spässen, zu frivolen Reden aufgelegt, in obscönem Gebahren sich gefallend, mit keckem Hohn gegen das Decorum spielt der Kranke auderemale wieder den Traurigen mit endlosen Klagen Uber körperliche Zustände, welche aller Begründung entbehren. Zur einen Zeit anspruchs- voll und maasslos in den Anforderungen, sinnlos in den Zumuthungen, unbescheiden im Auftreten, ungeberdig bei jeder Zurechtweisung, reizbar oder ausweichend bei jeder Berührung ist er zur anderen gegentheils still und in sich gekehrt, griesgrämig den Wänden nachschleichend, jede Beschäftigung fliehend, im Benehmen barsch, trotzig, herausfordernd und selbst gewaltthätig, nachlässig in seinem Aeusseru und bis zum Ueber- maass gleichgiltig. Dieser letztere Zustand kann sich bis zur vollstän- digen Abulie und zur Nahrungsverweigerung und zu einem Mutacismus steigern, welcher selbst Uber Jahresfrist andauert. Bemerkenswerth sind dabei die momentanen Uebergänge in belebtere und lucidere Phasen, wo- bei jedoch das Ungeordnete und Launenhafte der Bestrebungen, das Wechselvolle der Entschlüsse, die Albernheit der Einfälle, das Ungleich- artige der gemüthlichen Reactionen das dauernde Charakteristikum blei- ben. Man möchte oft glauben, dass die ganze Persönlichkeit in der Un- willkUrlichkeit des scheinbar Willkürlichen untergegangen sei, wenn nicht immer auch wieder leitende Ideen eines gradweise freieren, ja selbst gesun- den Bewusstseins hereinspielten. Die Kranken machen den Eindruck der „Verzwicktheit" und ähneln vielfach dem Gebahren hereditär Verrückter. Damit gehen GemeingefUhlsstörungen Hand in Hand (Hohlsein im Kopfe, alle möglichen und unmöglichen Spinalsensationen), enormes Mattigkeits- geftthl; zeitweise auch Sinnestäuschungen. Oft Überraschen bei gebilde- teren Naturen noch Reste aus früherer Zeit. Ohne eigentliche Wahn- vorstellungen ist der Kranke ganz durch capriciöse Einfälle, welche die Kraft fixer Ideen haben, dirigirt. Die barocksten Vorstellungsblitze bre- chen zeitweise durch. Damit geht eine sittliche Entartung Hand in Hand (seichte Freigeisterei, Lieblosigkeit, selbst Rohheit, gegen die Eltern); gegen die Hausordnung, sowie gegen Gute und Härte verhält sich der Kranke ablehnend, gleichgiltig, selbst trotzig. Im Verlauf der Zeit (Jah- resfrist) kann es nach und nach gelingen die gröbsten Auswüchse der krankhaften Verkommenheit zu mindern, und den Kranken durch ein ra- tionelles Traitement moral wieder zu heben immer vorausgesetzt, dass die Onanie unterlassen wird, oder die gehäuften Pollutionen zurückgedrängt werden können. Die Kranken werden nach und nach wieder theilneh- mender, geordneter, sorglicher in den Aeusserungen , natürlicher in der Stimmung. Im ungünstigen Falle (wenn die Kranken „Sclaven ihrer

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Specteile Melancholie.

Hände" bleiben) folgt ein träger, reactionsloser Blödsinn mit indiffe- rentem, scheuem Wesen, langsamen, zögernden und kraftlosen Bewegungen, zunehmender Verwahrlosung des Aeussern neben innerer Versunkenheit. Sie stehen Tage lang an die Wand geklebt, oder sitzen mit übereinander geschlagenen Beinen, häutig vor sich hin lachend, bald mehr bald weni- ger laut, oder plötzlich um sich schauend mit sichtlicher Gereiztheit, leise oder doch nicht so laut sprechend oder schimpfend, dass man sie ver- stehen kann. Im ganzen Gebahren sind sie langsam, zögernd, sorglos. Redet man sie an, so bedarf es in der Regel langer Zeit und unsäglicher Mühe, bis endlich die Antwort über die zuckenden Lippen tritt, und dann nur stossweise mit kraftlosem Ausdruck, häufig gewechselter Satzconstruc- tion. Es dauert oft Monate, bis sie auch nur den Umkreis ihrer täglichen Umgebung in ihren engen Ideenkreis aufnehmen und die Personen zu er- kennen vermögen; selbst eingelernte und früher geläufige Kenntnisse stellen sich nur abgeblasst und defect mehr ein. Nie treten mehr Her- zensbeziehungen zu Anverwandten in Form eines entschiedenen Verlangens hervor; Besuche machen so wenig Eindruck als freundliche Theilnahme oder ernste Strenge. Hin und wieder gibt der Kranke als Motiv seiner schüchternen Zurückhaltung an: dass Alle seine Gedanken wüssten, be- vor er diese nur selbst ordentlich sich klar gemacht hätte. Immer mehr wird das Bewusstsein dem Spiele des kranken Ideenganges unterworfen, die ganze Aufmerksamkeit absorbirt, der Wille bis zur Indifferenz ge- lähmt. Gegenüber den unablässig sich abwickelnden Gedankenreihen, wobei die harmlosesten Wahrnehmungen einen Bezug auf die eigensten und innersten Seelenzustände des Kranken erhalten, verhält sich der Kranke immer mehr nur noch als stummer oder auch ärgerlich gereizter Zuschauer. Der positive Boden weicht so unter seinen Füssen; er selbst verfällt auf die absonderlichsten Einfälle, hält sich für heilig, seine Ver- wandten für Kaiser oder Engel; es treten bestätigende oder weitere Of- fenbarungen bringende Sinnestäuschungen hinzu. Interessant ist die ausser- ordentlich grosse Sensibilität der Genitalien in manchen Fällen: der Kranke sucht sie im Bade mit den Händen zu verbergen, legt sich immer halb auf den Bauch und geräth beim Versuch einer Exploration in psychische Reflexkrämpfe (Niederstürzen auf den Boden, Herumwälzen, hastiges Strampfen, Kratzen mit den Händen, in den Haaren, forcirtes Ausspucken, wildes Blickewerfen, Schnalzen mit der Zunge, Zittern am ganzen Leibe) theils mit, theils ohne Blasswerden oder gleichzeitige Pulsveränderung. Es sind die Reactionen auf „unreine Gedanken", welche in ihm aufsteigen und von Andern hätten erfahren werden können. Ohne über sein Befin- den je von selbst zu klagen, sinkt der Kranke in immer tiefere geistige Schwäche, wobei aber relative Besserungen nicht ausgeschlossen sind.

Nicht selten bildet auch eine Phthisis pulmonum den Abschluss des Leidens. (Weiteres s. u. „cerebrospinalem Wahnsinn").

d) Auf 8 p e c i f i 8 c h syphilitischer Basis bildet manchmal eine schwere hypochondrische Melancholie (Syphilidophobie) den Abschluss eines pro- trahirten Leidens, welches Jahre zuvor zwischen Depressions- und Exal- tationszuständen (letztere in Form der in „Intellect und Willen" aufge- nommenen, allmählich degenerativen Manie mit Processkrämerei, häuslicher Rohheit, Trinkexcessen) geschwankt hatte. Dabei sind körperlich keine

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Syphilitische Melancholie. Melancholia attonita. 73

Zeichen eines tieferen organischen Hirnleidens vorhanden, nur heftige Coogestionen und Kopfschmerz. Die finale Melancholie selbst trägt um so ernster modificirte Symptome: furchtbare Angst mit schrankenlosen Illusionen im Sinne des Wahns bei sonst erhaltenem Vorstellungsinhalt und gesunden logischen Functionen, so dass die Kranken sehr zu dissi- muliren verstehen; sodann namentlich einen impulsiven Mord- und Selbst- morddrang, welchem der Kranke, indem er in jedem Stippchen „Condy- lome" diagnosticirt, Uberall Fäulniss wittert, schrfcklich stinkt u. 8. w., sehr häufig zum Opfer fällt.

Die Melancholia attonita.

Die Einleitung bildet eine gewöhnliche Melancholie, deren Weiter- entwicklung und höchste Steigerung nach körperlicher und geistiger Seite der Status attonitus darstellt. Das Bewusstsein ist im höchsten Grade gehemmt, Uberwältigt durch das schmerzliche Fuhlen, dabei aber die Perception keineswegs aufgehoben, sondern gegentbeils oft in überraschendster Weise geschärft. Aber der Kranke kann seinen Wahrnehmungen keinen Ausdruck geben ; er bleibt in seinem un- endlichen Wehesein schmerzgebannt, unbeweglich attonisch.

Die einleitende Melancholie kann sowohl der activen als der passiven Form angehören ohne besondere EigenthUmlichkeit, ausser einer zunehmenden, oft bis zu hohen Graden fortschreitenden Anämie und Abmagerung. Psychiscberseits greift immer mehr eine Negation gegen jede Ansprache neben einer zerknirschten, immer mehr starren Haltung Platz.

Bald stellt sich Mutacismus ein, oder es bleibt höchstens noch ein monotones Hinlispeln des schmerzlichen Wabnbekenntnisses, meist in abgebrochenen mit Weinen begleiteten Worten. Die Nächte sind schlaflos und werden bald in den unbehaglichsten Attitüden, aus welchen das absichtliche Verharren im Schmerz oder im Busszwang herausschaut, manchmal in halb sitzender Stellung zugebracht, das Kinn auf die Brust gepresst, um das „unwürdige" Gesicht zu ver- bergen. Die zunehmende Hemmung des Bewusstseins, welche dieser Besitz- Ergreifung der willkürlichen Musculatur durch den melancho- lischen Affectgedanken parallel geht, macht sich hin und wieder den Kranken empfindlich, so dass sie Uber ihre fehlende Orientirung jammern, dass sie nicht recht wissen, wo sie sind, welche Menschen sie umgeben. Trotz der Remissionen mit zeitweiligen freien Tagen wächst die geistige Gebundenheit und motorische Spannung immer mehr. Die Kranken, gewöhnlich lange zuvor schon der Bettlage übergeben, beharren jetzt fast regungslos oder zitternd und bebend in derselben Haltung, gebückt mit angepressten flectirten Armen

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Specielle Melancholie.

und pronirten Händen, Tag und Nacht; oder sie stehen mit ein- förmiger stupid ängstlicher Miene hin, wo der Zufall oder fremde Hand sie hinstellt, lassen theilnahmlos Alles um sich geschehen, werfen höchstens einen ängstlichen Blick auf die Umgebung oder zupfen an sich herum.

Aus dieser Stille und dem passiven Widerstreben mit gewalt- samer Spannung der Musculatur heraus geht der Kranke nicht selten zu wechselnden Graden schmerzlicher Aufregung und Ausbrüchen des Jammerns und Verzweifeins Uber, und macht vom Seufzen, Stöhnen, dumpfen Schmerzlauten, unverständlichem Jammern, unruhigem Hin- und Hertrippeln bis hinauf zum angstvollen Brtillen, blinden ver- zweifelten Toben, fassungslosen Gebahreu und zerstörungssüchtigen Wüthen (Raptus gegen sich und Andere) alle Stufen durch. Gegen die Nahrung tritt bald ein Widerstand auf, welcher die Sonden- fütterung nicht umgehen lässt. Urin und Stuhl wird bis aufs Aeusserste zurückgehalten. Manchmal macht sich die „conträre Negation" gel- tend, indem der Kranke erst das Angebotene abweist, es aber beim Versuch des Wegnehmens zu ergreifen sucht. Die Bewegungen der Hände sind unsicher, schlecht bemessen, oft geradezu täppisch, durch die motorische Spannung und psychische Hemmung unzureichend. Die Affectstarre im Muskelgebiet ist namentlich in den Flexoren der Arme und Beine und in der Gesichtsmusculatur, in welcher die Mimik der Schuldhaftigkeit und Verzweiflung plastisch geworden, oft bis zu hölzerner Härte und Unregsamkeit entwickelt, und nur sehr schwierig und unter schmerzlichem Widerstande des Kranken vorübergehend zu überwinden. Einem besonders heftigen Widerstand begegnet der Versuch den gebeugten Kopf des Kranken aufzurichten. Die Sensi- bilität bleibt dabei erhalten und gibt sich bei Prüfungen durch die sich runzelnde Stirne, durch Zwinkern der Lider oder anrückende Thränen kund. Spricht man theilnehmend oder aufmunternd zum Kranken, so wird nicht, oder auch in schmerzlichen Thränen er- wiedert. Manchmal jammert der Kranke schluchzend Uber die „schlechten Gedanken", Uber seine Schuld und drohende Strafe.

Der Puls ist auf der Krankheitshöhe klein, härtlich (Arterie contra- hirt), die Temperatur subnormal. Die Körperernährung sinkt, und zwar trotz regelmässig eingeflösster Nahrung. Die Haut wird trocken, schilfert sich ab; bei Frauen cessiren die Menses.

Nach in der Regel mehrwöchentlicher und selbst mehrmonat- licher Dauer (ungünstige Fälle können selbst Uber ein Jahr sich hin- ziehen) wird der Kranke etwas zugängiger. Die Starre nimmt ab. In der Nacht wird der Kopf wieder auf das Kissen gelegt. Ab und

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Melancholia attonita.

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za gelingt auch die Zuführung von etwas Nahrung. Der Kranke sitzt allmählich wieder aufrecht, hält auch die Augen wieder offen. Der schmerzlich verzogene Gesichteausdruck wird natürlicher. Körper- gewicht und Aussehen nehmen zu, die Temperatur wird nach und nach normal, der Puls voller. Bald werden schüchterne Anfänge der Conversation gemacht. Aber es bleibt noch längere Zeit das 6cheue gedrückte Wesen, und namentlich die motorische Unbehilf- lichkeit. Erst nach und nach löst sich der letzte Rest der Spannung zur freien Beweglichkeit, der „Nacken" erhält wieder seine Function als „Kopfträger". So geht der Zustand bei Frauen manchmal unter Wiedereintritt der Menses in die Genesung Uber, ohne ein anderes Zwischenstadium als das eines anfänglich etwas gehobenem Wohlbefindens mit schwungvollerem Frohgefühl.

An die Attonitätsphase besteht vollständige Erinnerung: es ist oft erstaunlich, in welch qualvollen Aengsten und gleichgestimmten Hallucinationen sich während derselben die Kranken befunden, und wie sie trotzdem daneben oft das kleinste Detail aus der Umgebung wahrnehmen, theils richtig, theils wahnbaft umdeutet. Das über- standene Weh der Gebundenheit wird als ein, namentlich durch die gefühlten Muskelfesseln, grenzenlos gewesenes geschildert.

Bei nicht günstigem Verlaufe zieht sich der Status attonitus Uber viele Monate und selbst Jahre hinaus (wobei übrigens zu bemerken ist, dass selbst nach der Dauer von Uber Jahresfrist Genesung von uns be- obachtet wurde); die tetanieförmige Spannung geht immer mehr in mo- torische Schlaffheit über. Die Miene wird hängend und verliert mit der weichenden Starre auch das geistige Gepräge. Der auf der Krankheite- liöhe gespannt gewesene Puls wird monocrot, an den Extremitäten bildet sich Cyanose aus. Es kann nun entweder in diesem Blödsinnszustand das Leben erhalten bleiben und bei reichlicherer Nahrungsaufnahme auch die Körperernährung sich heben. Oder aber es neigt sich der Zustand zum Exitus letalis durch Marasmus oder durcli intercurrente Brustpro- cesse, worunter Pneumonieen, acutes Lungenödem, ganz besonders auch Hönde Phthise in erster Linie stehen. Des gelegentlichen Selbstmords uoter den möglichen Ausgängen der Melancholia attonita ist bereits ge- dacht worden.

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Die Manie. Allgemeines.

Die Manie. Allgemeines.

Literatur. Jacobi, die Hauptformen der Seelenstörungen. Meynert, österr. Gesellschft. für pract Heilkunde, 1671, und Anzeiger d. Gesellsch. der Aerzte in Wien 1875. Mendel, dieManie, Monogr. 1881 (mit Literatur). Tiling, Petersb. med. Wochenschr. 1681.

Mania gravis: Loewenhardt, Allg. Zeitschr. f. Psych. 25. Zenker, ibid. 33. Stoelzel, Irrenfreund 77. Lagardelle, J. de m6d. de Bord. 1680.

Mania recurrens: Witkowski, Berl. klin. Wochenschr. 1881.

Allgemein bezeichnet „Manie" eine Gesammterkrankung des Seelenlebens nach motorischer Richtung, bestehend in einer krank- haften Beschleunigung des Ablaufs der Vorstellungen, einer beschleu- nigten Umsetzung der Bewegungs- Anschauungen in Handlungen, und einer krankhaft gehobenen, oder aber gereizten, in ihrer Erregbar- keitsschwellc abnorm wandelbaren GemUthsverstimmung. Aeusser- lich ist der Zustand gekennzeichnet durch alle Grade der Unruhe und vermehrten Geschäftigkeit bis hinauf zur höchsten motorischen Entfesselung, vermehrtes und sich Überstürzendes Sprechen, rasch wechselnde Mimik, unmotivirte Geberden und triebartige Actionen mit erhaltener logischer Association und psychischem Form- charakter bis herab zur ungehemmten Ideenflucht und grob moto- rischen Luxusleistungen. Innerlich als eine geistige Aufregung verschiedener Grade, als eine gleichmässige Steigerung aller psy- chischen Processe mit erleichterter Gedankenfolge, raschem Ent- schliessen, schrankenlosem Selbstgefühle; auf höhern Entwicklungs- stufen als Verwirrung aller Grade, abrupter widerspruchsvoller Wechsel der Gemüthslage, ziellose Ueberstürztheit des Begehrens, welches kein eigentliches „Wollen" mehr ausreifen lässt. Dabei zeigt die Stimmung entweder eine wirkliche Heiterkeit mit flüchtiger Wandelbarkeit in alle Nuancirungen und Gegensätze ; oder aber einen gereizt zornigen Charakter; oder endlich eine vage Charakterlosig- keit, welche von faselnder Beglücktheit bis zum Indiffereuzpunkte in unvermittelten und flüchtigen Uebergängen hin und her schwankt. Das Bewusstsein bleibt in den niedern Graden erhalten, wird aber mit zuuehmender Raschheit der psychischen Processe unklar, von wechselnder Helligkeit, ohne jedoch im Ganzen auf die Traumstufe zu sinken: es wird hier Minutenbewusstsein ohne Continuität. Ge- dächtniss und Wahrnehmungsfähigkeit sind verschärft, so lange nicht die Raschheit des psychischen Ablaufs beide Functionen beeinträch- tigt, resp. die krankhaft gesteigerten Innenvorgänge die Aufmerksam-

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Klinische Definition der „Manie". Anomalieen der Bewegungssphare. 77

keit und die Perception überhaupt unmöglich machen. In letzterem Falle können in gleichem Schritte mit der Ausschaltung der hem- menden Hemisphärenthätigkeit auch Sinnestäuschungen (Hallucina- tionen und Illusionen) auftreten, aber stets nur als Begleitsymptome, nicht als wesentliche stimmunggebende Elemente (Unterschied vom acuten Wahnsinn). Die Manie ist eine acut, subacut, chronisch und periodisch (resp. circulär) auftretende Erkrankung. Der typische Verlauf ist anhaltend oder remittirend. Begleitet ist derselbe durch vasomotorische und trophische Symptome. Der Ausgang der acuten und subacuten Formen geschieht in Heilung oder in psychische Schwäche, unter Umständen auch in den Tod durch Erschöpfung; bei chronischen in Genesung (seltener), oder in relative Erholung {Heilung mit Defect).

Analyse der Symptome.

Anomalieen in der Bewegung ssphure Hauptsymptom. Alle Kranken zeigen ein gesteigertes motorisches Sich -Entäussern: Be- wegungs - Intentionen und ausgeführte Bewegungen (in Geberden, Mimik und musculären Leistungen) sind krankhaft vermehrt.

Betrifft die Steigerung nur die Intentionen, oder, richtiger, die geistigen Innervationsgefühle (I), so tritt Dies hervor in Plänesucht, in einem Drange nach Ortswechsel, nach Aenderung der Beschäfti- gung, nach Erweiterung des Besitzes (Kauflust). Die Kranken sind in steter Unruhe, sie beginnen und vollenden nicht, sie gehen von Einem zum Andern Uber, sie können Alles und wollen Alles und finden nirgends Befriedigung. Die affective Rückwirkung führt zu einem erhöhten Wohlgefühl mit Schaffensdrang, welcher seinerseits wieder neue geistige Innervationsgefühle, neu vermehrtes Streben erzeugt. Parallel geht in der Vorstellungssphäre eine gleiche Er- leichterung des Vorstellungslaufs, eine Promptheit und Raschheit zugleich aber auch Unfertigkeit des Urtheils. Erhält sich der krankhafte Gehirnreiz auf dieser Stufe, so tritt der Kranke noch nicht sofort aus der Norm seines individuellen Könnens heraus; er ist nur in seinem Leistungsgefühle um mehrere Register höher eingestellt, und bethätigt sein neues Können durch ungewohnte Steigerung seiner Energie, zugleich aber auch seine krankhafte Propulsion durch plan- lose Rastlosigkeit. In dem Genuss wenn er überhaupt dazu kommt verschmachtet er bereits wieder vor Begierde. Bei Frauen kleidet sich der manische Drang auf dieser Stufe sehr häufig in ein erotisch kokettirendes Benehmen mit gesuchter jugendlicher Grazie und Putz- sucht, oft auch in eine ästhetische Vielgeschäftigkeit mit Erfind ungs-

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Die Manie. Allgemeines.

reichthum, namentlich im Zeichnen, Malen, Herrichtung von Blumen und Nippsachen; bei Männern im Aussinnen und Zurichten von Ver- gnügungen, allerlei Scherzen und Picknicks mit selbst gemachten Dichtungen, Verschönerungsplänen u. s. w., wobei jeder neue Tag die Schöpfungen von zuvor wieder Uberbietet und umändert. Im Beginn der Krankheit tritt namentlich ein Jagen nach aufregenden Belustigungen, ein Hang nach Excessen, besonders in Baccho et Venere, hervor.

Erweist sich in dem beschriebenen Modus der psychisch-moto- rische Erregungszustand als eine gesteigerte Innervation der Gesammt- persönlichkeit gleichsam als die in Intelligenz und Willen aufge- nommene, aber im Rahmen der socialen Bildungsformen sich erhaltende Manie so gestalten sich in andern Fällen (II) die musculomoto- rischen Bewegungs-Anomalieen zu dem vorherrschenden Element im manischen Krankheitsbilde. Dieselben behalten auch jetzt noch die psychische Formung bei, werden aber Uberreich, luxuriirend; sie erscheinen gleichsam als Selbstzweck. Einzeln betrachtet bewahren sie dabei immer noch das Gepräge als „gewollte Acte", aber in ihrer pauselosen Inscenirung, in ihrer ungehemmten ziel- und plan- losen Reihenfolge erweisen sie sich als nicht intendirt, vielmehr als directe Reizeffecte aus den psychomotorischen Hirnpartieen. Der Kranke singt, jauchzt, pfeift, recitirt; er hUpft, springt, steht auf und legt sich nieder, nimmt alle Attitüden an, macht mögliche und unmögliche gymnastische Productionen. Die Sicherheit der Ausfuhrung ist unübertrefflich. Die Mannigfaltigkeit der mimischen Leistungen ist unerschöpflich, das ganze Gebühren aber zwecklos, jede Secunde sich ändernd, als ob die Claviatar der eingelernten und ausführbaren psychomotorischen Combinationen in directem An- schlag auf und ab durchlaufen würde.

Dieses Schema kann noch auf eine (psychisch) tiefere Stufe herab- treten, und die Aeusserungen des Kranken zu einem blossen Bewegungs- spiel ganz abrupter fragmentarer Einzelacte gestalten. Waren es bis dahin noch motorisch sinnvolle Geberden, welche sich ablösten, so sind es jetzt einfach nur combinirte Muskelleistungen ohne physiognomiseben Charakter: Schütteln des Rumpfes und der Glieder, Klatschen mit den Händen, Schnalzen, Hin- und Herbeugen des Kopfes, Zusammenkauern abwechselnd mit Aufschnelten des Körpers ein kaleidoskopisches Spiel von motorischen Leistungen, oft automatisch stundenlang wiederholt, ohne seelisches resp. mimisches Gepräge, aber immer noch, einzeln betrachtet, mit der Formung von combiuirt resp. assoeiirt arbeitenden Muskelgruppen.

Aus diesem Uberreichen Register von psychisch höher oder tiefer gewertheten Bewegungscombinationen greift die Manie ihre

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Die manischen Bewegungsanomal ieen nach ihren versch. klin. Formen. 79

anf den ersten Blick auffälligste Signatar: jene in buntestem Wechsel sich abspielende Scala von Acten, welche formell mehr oder minder als „gewollte" Handlungen imponiren, und doch in der motiv- losen Reihenfolge und der Zwecklosigkeit im Ganzen ihre „spon- tane" Entstehung kundgeben. Damit ist das Wesen dieser (II.) manischen Acte bezeichnet: sie erscheinen als freie, sind aber nicht- intendirte, aufgedrungene. Diesen Charakter bewahren sie auch, wenn sie in den Dienst eines Aflfects (z. B. eines zornigen) treten, in der Maasslosigkeit der Ausführung, in der überstürzten Aufeinander- folge, in der unbemessenen oft sich widersprechenden Combination, welche nicht selten das Ziel vereitelt.

Ausgeprägter noch tritt der reflectorische Formcharakter in den Bewegungen einer weiteren (III.) Gruppe von manischen Zuständen entgegen. Handelte es sich bisher um eine einfach beschleunigte Entbindung eingelernter Acte, so sind es nunmehr förmliche Be- wegungsexcesse , „psychomotorische Convulsionen". Dieselben ent- änssern sich meistens als blinde Zerstörungswuth , welche lawinen- artig anschwillt und sich austobt austoben muss wie die Muskelzuckungen bei Strychninisirung des Rückenmarks. Von einem „Ziel" ist höchstens eine dunkle Ahnung vorhanden, und nicht vor- bewusst, sondern als subjective Begleiterscheinung, als Perceptions- geftihl aus den unendlich zahlreichen „Drängen" und Spannungen in dem gereizten Motorium commune. Der „Zorn", welcher in diesen stürmischen Entäusserungen zu Tage tritt, ist nicht ein primär ge- wollter, sondern musculär gemachter. Beide, die Convulsion und deren emotive Erfassung, sind die Wirkung eines organischen Hirn- reizes. Darum finden sie auch kein Ende, weder durch direct psy- chische, noch durch äussere mechanische Hemmung. Erst die all- mähliche Begleichung des cerebralen Reizes bringt Nachlass des psychomotorischen Krampfes, welcher wie die spinalen Convul- sionen nur anfallsweise auftritt, freilich oft von tage- und selbst wochenlanger Dauer (Furor, Mania gravis).

Endlich können in einer (IV.) Gruppe von Manieen die moto- rischen Aeusserungen auch noch das Merkmal der psychischen (Ko- ordination und Combination einbüssen: die Bewegungen werden zu Cinzelacten, welche nicht bloss ziellos, sondern (als Bewegungs- Ganzes betrachtet) unvollständig oder defect sind. Die motorischen Actionen auf dieser Stufe bestehen nur noch in unbemessenen, stossen- den Bewegungen der Extremitäten; die mimischen des Gesichts in grimassirenden Zuckungen. Diese Form gehört den schwersten Manieen an. Gemeiniglich fügen sich gleichzeitig oder in der Folge

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Die Manie. Allgemeines.

auch isolirte flüchtige tonische Spannungen und klonische Zuckungen, später einzelne Insufficienzen und Paresen hinzu. Wir stehen mit dieser motorischen Symptomenvariante bereits an der Grenze oder im Gebiet grober, acut entzündlicher, Hirnaffectionen.

Anomaliecn in der Gemüthssphäre. Die Stimmung ist entweder heiter, dabei empfindlich und wandelbar; oder aber gereizt zorn- mUthig und dabei constanter. Die beiden Normen vertheilen sich: jene auf die Gruppe der reinen (typischen) Manieen, diese auf die (melancholischen oder wahnsinnigen) Furorzustände. Die Heiter- keit der typischen Form fliesst aus dem primären Wohlgefühl ge- steigerten Könnens und dem secundären eines erleichterten Ab- laufs der psychischen Vorgänge. Damit geht Hand in Hand eine ebenso grosse krankhafte Empfindlichkeit; jede leiseste Schranke, jeder Widerspruch wird peinlich empfunden, ein absagendes Wort führt zum Trotz oder zur kopflosen, mitunter auch feindseligen Ent- gegnung. Die altruistischen Gefühle sind in der Regel gesteigert, durch überschwengliche Beglückungsphantasieen erhitzt. Nie bleibt die Stimmung eine dauernde: in die heiteren Regungen mischen sich unmotivirt traurige, in die Freudeäusserungeu plötzliche Thränen- ergüsse; ebenso lösen sich Sympathieen und Antipathieen ab; neben der Kundgebung edlerer Gefühle gehen auch niedrige und kleinliche einher, decentes und sogar prüdes Benehmen wechselt im nächsten Augenblick mit frivolen Spässen. „In dem Register der Tobsucht fehlt keine Taste." Immer ungeordneter wird in der Folge das wirre Spiel, immer unberechenbarer die Aufeinanderfolge, immer jäher die Uebergänge. Auf die tollste Lustigkeit folgt schmerzliches Weinen; Freudenschreie, unbändiges Lachen und Heulen wirbeln durcheinander; schmeichelndes Andrängen wechselt mit brutalem Dreinschlagen , alle Affecte spielen ineinander oft nur in Minuten- dauer; kaum begonnen, schlagen sie in das Gegentheil um. Nichts ist hier beständig als der Wechsel.

Die Stimmung in den Furorzuständen ist hiervon eine ganz ver- schiedene. Entweder andauernd zornig gereizt, oder mehr wechselnd in Gegensätzen sich bewegend, ist sie theils die Wirkung eines tiefen verhaltenen Affectkernes (eines schmerzlichen Motivs), theils die directe Folge wechselnder Bewusstseinslagen mit bald freund- lichem, bald feindlichem, gemüthlich anziehendem und abstossendem Inhalt. Ist sonach die Stimmung der vorigen (typisch-manischen) Form wesentlich eine direct psychische, ein Parergon der veränderten, d. h. erleichterten geistigen Bewegung, so ist die der zweiten Form

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Aoomalieen der Gemüthssphare, Stimmung. Das manische „Lustgefühl". Sl

eine reactive, auf einem psychischen Umweg gewonnene. Dabei können übrigens beide Normen zeitweise ineinander Ubergehen und in demselben Krankheitsfall miteinander wechseln.

Bei manischen „Hyperästhesieen des Sexualsinnes" entsteht eine cynische Stimmungslage mit verhülltem oder schamlosen Indecenzen des Benehmens. Die Kranken entblössen sich, drängen sich sinnlich an Andere an, machen selbst brutale lüsterne Angriffe; weibliche Kranke nesteln auffallenderweise gerne Tage lang in den Haaren, speicheln übermässig, salben sich mit allem Unrath ein.

In den schwereren Hirnreizzuständen der Mania gravis kann die Stimmung eine anhaltend gereizte, feindselige sein, wie im Furor, oft aber auch schwankt sie zwischen den Gefühlen von „Beein- trächtigung", von Indolenz und dann wieder von „Himmelswonne" flüchtig hin und her. Manchmal gehen die genannten Nuancen phasenweise ineinander Uber, oft laufen sie nebeneinander her, und fuhren den haltlosen Kranken durch die unvermittelten Gegensätze von verzehrendem Weinen, schwelgender Heiterkeit, stumpfer Apathie.

Dabei muss hervorgehoben werden, dass auf dieser Stufe tiefen Hirn- reizes der krankhafte Bewegungsdrang sich oft auch unabhängig von der Stimmungslage erhalten kann. Beide Vorgänge spielen sich, ohne sich zu berühren, neben einander ab : derartige Kranke zerzupfen, zerreissen, beschädigen triebartig, sind dabei gemüthlich harmlos, und wissen nicht, warum.

Wie ist es mit dem Lustgefüh 1 des Manischen beschaffen? Ohne Zweifel bezeugen die bramarbassirenden Aeusserungen , die Prahlereien des Kranken eine gewisse Stimmungsgehobenheit, wie diese aus dem Weg- fall aller Hemmungen ja nur begreiflich ist. Eine andere Frage ist, ob dieses WohlgefUhl als eine wirkliche Freude, als positives Kehrbild des melancholischen Schmerzes aufzufassen ist? Dem scheint nicht so zu sein. Schon der rasche Ablauf der psychischen Processe, die vielfachen unwillkürlichen Durchkreuzungen durch unangenehme innere und äussere Eindrücke hindern eine klarbewusste und irgendwie dauernde Perception. Wie furchtbar real, nach rück- und vorwärts im Blickfeld des Bewusst- seins verlängert, erscheint dagegen der Schmerz in der Melancholie! In der Manie ist die Lust keine wesentliche, keine primär vorhandene und als Grundakkord bleibende, sie ist vielmehr eine immer neuerzeugte, das Parergon der beschleunigten geistigen Mechanik, wie wir es oben nannten, vielleicht auf Augenblicke positiv, stets aber nur vage, unbestimmt, flüchtig. Darum tritt auch, sobald nur vorübergehend die erleichterten Wollungen und die promptere Ideeubereitschaft nachlässt, sofort ein Ge- fühl der Müdigkeit und Gedrücktheit ein ein Beweis, dass jene exal- tirten Stimmungslagen nicht für sich begrüudet, sondern nur Lichteffecte der gereizten Vorderhirnfunctionen waren, ohne selbständige Motiviruug. Sehr häufig drängt sich sogar in diese Ruhepausen ein depressiver Affect- kern ein, dessen Spannungen nur deshalb während der Erregungsphasen

Sckttlo, GeistccknakbeUeu. 3. Aufl. G

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Die Manie. Allgemeines.

unbeachtet resp. ungeftthlt blieben, weil sich in den ungehemmten Bewe- gungen immer wieder die ausgleichenden Reflexe fanden. Mit Recht spricht man deshalb von einer „manischen Verstimmung" als der Stimmungs- grundlage rüstiger und frischer Manieen. Bei chronischen und durch Tiefergreifen des Hirureizes schwereren Stadien kommen mit der grösseren Trübung des Bewusstseins diese in der Tiefe fortschwingenden, gemtltu- lichen Spannungen nicht mehr zur Perception; in gleichem Schritte macht sich jetzt auch ein wirkliches, aber zugleich auch krankhaft er- höhtes Lustgefühl geltend, welches sich nunmehr aus den motorischen Effectgefühlen ohne Gegensatz aufbaut und in gleichgestimmten Vorstellungsallegorieen von Macht, Reichthum, einer höheren Persönlich- keit u. s. w. sich vorübergehend fixirt.

In gewissen Fällen und Verlaufsstadien der Manie kommen end- lich Störungen in den ethischen Gefühlen vor, theils dauernd und für die betr. Krankheitsphasen (circuläre Manie) charakteristisch, theils nur vorübergehend (Moria).

Diese Züge von manischer Moral insanity zeigen sich bald mehr harm- los als Drang zu Schabernack, zum Necken und Spötteln, bald aber unter der Maske routinirter Bosheit und Schadenfreude, als intrigante Beun- ruhigung der Umgebung, bald endlich in einem eckcln Cynismus, nicht selten noch verziert durch Unwahrheit und disputirende Rechtfertigungs- sucht. Der psychologische Mechanismus liegt hier (zum Unterschiede von der angeborenen Moral insanity) nicht in einem Defect der altruistischen Gefühle, sondern 1 ) in dem krankhaft gesteigerten manischen Triebleben (speciell der sexuellen Hyperästhesie); 2) in der verminderten resp. auf- gehobenen geistigen Hemmuugsfähigkeit neben gesteigerter Erregbarkeit ; und 3) in der (gleichfalls unbewusst sich einstellenden) untreuen Rcpro- duetion, wodurch wiederauftauchende Vorstellungen nur modificirt sich präsentiren, so dass die Kranken optima fide lügen müssen.

Störungen in der Vorslellungsthatigkeit.

Auch diese ist in den allgemeinen geistigen Erregungszustand einbezogen. Reicher andrängende Vorstellungen mit entsprechend prompter Umsetzung in Worte (profuse Geschwätzigkeit) geben sogar das häufigste erste Anzeichen vieler manischen Zustände ab. Der Kranke verfügt Uber eine ihm bis dahin ungewohnte Reproduction. Alles, was er je erfahren und gelernt, steht parat vor seiner Erinne- rung und zu prompter Diction; fremde Sprachen, welche er in ge- sundem Zustande nur zögernd, weil mit Aufmerksamkeit und Vor- sicht, zu üben vermochte, gehen jetzt anstandslos fliessend von Statten. Mit jedem Wort, mit jeder Wahrnehmung treten alle nur möglichen Bedeutungen und Nebenassociationcn ein: so wird der Kranke un- geahnt schlagfertig in seinen Redeweisen, witzig durch die gestei- gerte Reproduction, ein geistreicher unermüdlicher Unterhalter. An-

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Anomalieen der Voretellungssphäre. „Ideenflucht".

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fangs vermag das Ich den Andrang der Vorstellungen und deren sprachlichen Umsatz noch leidlich zusammenzuhalten, obzwar auch bald schon da und dort eine Bemerkung dem Kranken entschlüpft, welche Takt und Klugheit zu unterdrücken geboten hätten. Mit dem Sprechen gehen meist auch schriftliche Ergüsse Hand in Hand, deren Länge unter der mangelnden Fähigkeit „sich kurz zu fassen" riesengross anwächst. Die Schriftzeichen erhalten ungewohnten Schwung und Grösse, das Papier wird nach allen Seiten über- schrieben, weil immer wieder mehr „einfällt"; dabei nicht selten beschmutzt, aber ohne dass es der Kranke in seiner Hast bemerkt.

Bei einer andern Gruppe von Kranken, oder auch auf einer fortgeschritteneren Stufe wird der Vorstellungsdrang mächtiger und der Ablauf rascher, so dass die einfallenden Gedanken in pauseloser Reihenfolge zur Entäusserung kommen. Der Kranke spricht unauf- haltsam, er perorirt in einer wahren „Zungentollheit"; dazwischen singt er, jauchzt, stösst Schreie oder schallende Gelächter aus; end- lich reinen sich nur noch Worte an Worte an (Vociferirung).

Analysirt man den Inhalt und Gang dieses „verbalen Deliriums", so ergibt sich für die manischen Anfangsstadien, dass dasselbe keineswegs ein verwirrtes ist, sondern gegentheils eine innere Gesetzmässigkeit im Inhalt und auch der Reihenfolge der Vorstellungen bewahrt. Man ent- deckt nicht selten eine hindurchziehende Färbung des Inhalts (nach ero- tischer, zornig gereizter Richtung), wobei bestimmte Reproductionen and (in unangenehmen Erlebnissen oder falschen Perceptionen beruhende) VorBtellungsgruppen immer wiederkehren. Manchmal spielen auch gleich- gefärbte Hallucinationen herein , wiewohl seltener als Uchte , denn als Pseudohallucinationen , veranlasst durch besonders lebhaft aufsteigende Worte und Gedanken-Reihen. Zahlreich sind namentlich auch die Illu- sionen, welche sich oft auf alle Sinne beziehen.

Die formelle Gesetzmässigkeit in der „Ideenflucht", wie diese manische Logorrhoe auch genannt zu werden pflegt, besteht in der Aneinanderreihung der Vorstellungen nicht durch eine primäre heitere Verstimmung sondern nach den logischen Associationen der einfallenden Gedanken oder Worte. Mit einer geweckten Vor- stellung kommen in der hemmungslos gewordenen geistigen Gedächt- nisstafel auch deren Verbindungen in's Steigen, und so wird bild- lich gesprochen die Ideenflucht durch diese gegliederten Rinn- sale gelenkt. Fällt ein neues Wort, eine neue Vorstellung ein, so wird sofort auch diese Bahn beschritten, aber immer mit noch an- fänglicher Bewahrung eines mehr minder ausgesprochenen logischen Zusammenhanges, wobei allerdings sehr häufig Zwischenglieder aus- gelassen werden. Manchmal geht neben dem bunten Gewirr der

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Die Manie. Allgemeines.

Gedanken, welche sich selbst Uberlassen, von Augenblick zu Augen- blick sich überstürzen, eine auffallend klare, ungetrübte Anschauung der Umgebung einher, wenn die Vorstellungen auf irgend einen Gegenstand gefesselt werden.

Sehr viel macht für die Gestaltung der Associationen die Bil- dungsstufe des Kranken, seine gerade gegenwärtige Stimmung, und besonders auch der jeweilige Ermüdungszustand des gereizten Vor- stellungs-Organs aus. Dadurch eben gestaltet sich der Associations- Modus, wie er sich in der Aufrufung neuer Worte und Reproduc- tionen von einem gegebenen aus ausprägt, stets zu einem eminent individuellen Vorgang, welcher je nach den nervösen Disposi- tionen des Kranken wechselt, oft einen directen Weg beschreitet, andere Male aber auch Rösselsprünge macht. Bei massiger Ideen- flucht drängen sich nicht selten schlagende Witze, scharfe Urtheile in die Unterhaltung ein; aber die ruhige Entwicklung der Gedanken fehlt, es erfolgt ein plötzliches Ueberspringen, wobei dann der Zu- hörer das Fehlende ergänzen muss. Oft genug bricht der Faden ab ; aber ebenso oft nimmt der Kranke denselben plötzlich wieder auf, und verfolgt ihn jetzt scharf und bestimmt.

Als sicher gilt, dass die Associationen um so logischer sind, je rüstiger das Gehirn zu arbeiten vermag.

Mit dem Zurücktreten der logischen resp. iunern Verbindungen und Zusammenhänge findet die Aneinanderreihung der manischen Vorstellungen mehr, und endlich ausschliesslich, nur nach dem äussern Verbände statt, d. h. nach der lautlichen Verwandtschaft, der Assonanz. Bis zu einem gewissen Grade kann die Bevor- zugung eines Lautklanges in den gewählten Worten auch schon neben dem logischen Ideenflusse statthaben; so entstehen die „Gedichte" vieler Maniaci, welche mit wenig Witz und viel Behagen blosse Reim- hetzen darstellen. Auf dieser Associationsstufe ist der Lautscball Alles, der innere Sinn wird untergeordnet, die Worte werden an- einander geschweisst, je nachdem sie klingen: Hand, Wand, Schand, Rand u. s. w. Manchmal greift übrigens auch der Zwang sprach- licher Antithesen ein („goldenes Crucifix" „silberner Sautrog", „Judengurgel" „Ochsenmagen"). Gehen endlich die möglichen Worte aus, so treten assonirende Silben ein, und endlich als letzte und unterste Stufe unarticulirte Laute (Zischlaute, Brummtöne, Thier- schreie).

Bedenkt man, dass diese eben geschilderten Modificationen, nament- lich der Form des manischen Deliriums, sich sehr häufig stufenweise ablösen, indem sie gleichen Schritt halten mit der Schwere der Manie

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Stufenleiter der „Ideenflucht". Manische Verworrenheit. Grössenwahn. 85

resp. mit dem Tiefergreifen der geistigen Cerebralaffection , so erhellt daraus weiter die hohe symptomatologische und diagnostische Bedeutung dieser Metamorphose des „Worts".

Eine weitere Modification der ursprünglich logisch associirten Ideenflucht kommt in gewissen chronisch gewordenen Manieen vor. Hier können oft die ursprünglichen „Vorstellungskerae" der Anfangs- stadien erhalten bleiben, zugleich mit Gereiztheit und Zornmüthigkeit und den illusorischen Verkennungen; der Kranke bewegt sich Monate hindurch in demselben scheltenden und feindseligen Verkehr mit der Umgebung, oder führt seine täglichen lärmenden Selbstgespräche; aber aus der profusen Eloquenz ist jeder logische Faden verschwun- den. Es vermischen sich Reminiscenzen, Illusionen, halbfertige Wahr- nehmungen, Reactionen gegen Sinnestäuschungen bunt durcheinander, und bringen eine wirkliche Verworrenheit zu Stande. In der Reeonvalescenz entwirrt sich dann der Knäuel, wie er sich einst geschürzt hatte: erst hellen sich einige Bewusstseinskreise auf, dann treten die Affectkerne (tageweise noch mit heftiger tobsüchtiger Ent- äusserung) hervor, aber jetzt klarer; nach und nach corrigiren sich die Sinnestäuschungen, falschen Wahrnehmungen und endlich re- construirt sich das alte Ich.

Nicht selten arbeiten sich die gehobenen Selbstempfindungen des Kranken zu entsprechenden Vorstellungen der „Grösse" empor; der Kranke ruft sich als einen „König", als „Bismarck", „Moltke" etc. aus; oder er drapirt sich zu einem berühmten Sänger und Schau- spieler, führt Rollen auf, singt Opern- Arien etc. In der nächsten Stunde ist er wieder ein Anderer; ja, er pcrsiflirt sich und seinen eben producirten Grössenwahn in einem schallenden Gelächter, oder er vergisst seine Standeserhöhung in einem improvisirten Purzelbaum oder in einem dargereichten Glase Wein. Alle diese Minutenconcep- tionen steigen auf und zerplatzen wie schillernde Seifenblasen; auch für sie ist „Nichts beständig als der Wechsel".

Darin liegt der wesentliche Unterschied des manischen Grössenwahns gegenüber dem in den Aufregungsstadien der Paralyse oder des exal- tirten Wahnsinns. Der Kranke hält nicht fest an diesen Einfallslaunen; er gibt sie preis, wenn er sie auch scheinbar vertheidigt; ja, er fühlt selbst, dass er damit nur spasst. Nicht selten genügt ein autoritäres Wort des Arztes oder das kurze Selbstbesinnen des Kranken, um jene zu zerstieben. Nie bildet sich ein wirklich neues Grössen- Ich; wie die Bewegungsacte, wie die wechselnden Stimmungen, bilden auch diese Grös- senideen nur oberflächliche, flüchtige Vorstellungsspiele, welche mit jeder neuen Stimmungalage wieder zusammenfallen und untergehen. In Moria- Zustanden haften sie oft etwas länger, sind aber auch hier im Grunde nicht ernst gemeint.

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Die Manie. Allgemeines.

Anomalieen der sensorischen, sensibeln, motorischen und trophiscken

Functionen.

Die Sinnesempfindungen im Allgemeinen sind im Zustande der Hy- perästhesie: alle Eindrücke werden intensiver, selbst peinlich, aufgenom- men. Geräusche, einfallendes Licht, vermehren die Unruhe; der Schmerz eines Furunkels kann in der Reconvalescenz wieder verstärkten Rückfall bringen. Die speeifischen Empfindungen, namentlich aus der Genital- sphäre, wirken mit gebieterischer Stärke. Wenn freilich mit der Fülle der andrängenden Vorstellungen und besonders mit der Zunahme der Be- wußtseinsstörung (Mania gravis) keine Perception mehr stattfindet, dann kann der Kranke auch anästhetisch gegen Sinneseindrücke werden, nicht minder gegen Hautwunden und Verletzungen, gegen eckelhafte Geschmäcke und Gerüche. Der Drang vieler Kranker sich der Kleider zu entledigen mag auf einem erhöhten innern Wärmegefühl beruhen.

Des im Ganzen nicht so sehr häufigen Auftretens ächter Hailucina- tionen bei der reinen Manie wurde oben gedacht. Interessant ist die Ein- leitung vieler remittirender und periodischer Manieen durch dieselbe Sinnestäuschung. In protrahirten Fällen sind die Ilallucinationen häu- figer, ebenso in den deliranten Phasen der Mania gravis.

Von sensibeln Störungen ist hauptsächlich das fehlende motorische Ermüdungsgefühl zu erwähnen, in welchem wenigstens zum Theil die Ausdauer der Kranken in ihren übermässigen Muskelleistungen zu suchen ist. Die Motilität bietet in den fraglichen Fällen frischer Ent- stehung und ohne tieferen Hirnreiz keine Abnormität. Der motorische Leistun^scoe'fficient erscheint absolut erhöht zu sein, da die Kraftproben oft ausser allem Verhältniss mit dem sonstigen musculären Können ste- hen. Körperlich reducirte Kranke leisten oft Erstaunliches.

In den Hirnreiz-Manieen (Mania gravis) kommen auch selbständige Motilitätsstörungen vor, so Pupillendifferenzen und trägere- Contraction der Iris, Tremor, ungleiche Innervation des Gesichts, Störung der Mimik, con- vulsivisclie und ataktische Erscheinungen in den Extremitäten.

Die sphygmographischen Radialis-Curven ergeben polymorphe Bilder. In den melancholischen Tobsuchten erscheinen verstärkt tricrote, in den ächten (heiteren) Manieen mehr dicrote Curven; in der Mania gravis tarde und mouoerote Formen.

Die Temperatur zeigt bei der einfachen incomplicirten Manie, ohne Hirnreiz, keine speeifischen Abweichungen von der Norm. Mässige Tem- peraturerhöhungen (bis 3S° und etwas darüber) sind wohl auf die ge- steigerte Muskelthätigkeit zurückzuführen. Ausserdem wirken viele acci- dentelle Ursachen mit: so Erkältungen auf gelegentliche Temperaturver- minderungen, Ooprostase auf intercurrente Erhöhung. Ohne solche Momente ist eine stärkere Temperaturerhöhung stets das ominöse Zeichen einer tieferen, über die Grenze des „reinen" Manie hinausgehenden Cerebral- affection. So finden sich in den acuten Reizstadien der Mania gravis solche Ubernormale Temperaturnummern, welche später in abnorm nied- rige (bis 20,4 R. und 26,5 C.) übergehen. (Ueber die Temperaturverhält- nisse im Delirium acutum maniacale s. dieses). Sehr häufig ist in allen manischen Zuständen die locale Kopftemperatur erhöht, manchmal nur einseitig. Merkwürdig ist die oft mit Zurücktritt der Kopfcongestionen

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Anomalieen der sensorischen, sensibeln, motorischen u. troph. Functionen. 87

sich einstellende Blässe und Gedunsenheit des Gesichts, welche sich aber in der Regel bald ausgleicht.

Die Qualität des Pulses und die Frequenz sind noch viel wech- selnder: bald klein, bald stärker entwickelt, oft an Carotis und Radialis abnorm ungleich (dort sehr voll, hier klein), bald auffallend selten (so in Nachlassstadien), bald sehr frequent, auch aussetzend, oft weich , an- deremale gegentheils saitenartig hart (dies namentlich in palpabeln Hirn- reizzuständen).

Das Körpergewicht nimmt regelmässig während des manischen Paroxysmus mit Ausnahme des circulären (s. dieses) in mehr minder erheblicher Weise ab, um mit der einleitenden Reconvalescenz wieder zuzunehmen. Dabei spielen individuelle Verhältnisse (Nahrungs- aufnahme. Schlaflosigkeit u. 8. w.) eine mannigfach modificirende Rolle. Auch sonst ist der Gang beider Symptomenreihen nicht immer ein pro- portionaler, sondern zeitlich oft verschobener (die Ernährungszunahme geht der Reconvalescenz voraus u. 8. w.).

Constant sind in allen Manieen trophische Symptome vorhanden. Bei den acuten Formen der „heiteren manischen Verstimmung" und spe- ciell bei den Paroxysmen der Folie circulaire tritt als Regel ein grösserer Turgor mit Weichheit und Feuchtigkeit der Haut hervor, welcher den Kranken frischer erscheinen lässt; auch die Gesichtszüge werden reiner und glätter, Jugendlicher". Die Haare kommen nicht selten in regeres Wachsthum und werden pigmentirter im Gegensatz zu früher. In den schweren Manieen, namentlich den idiopathischen, wird dagegen die Haut welk, faltig, trocken, die Epidermis oft massenhaft sich abschil- fernd. Nicht so selten tritt auch allgemeine Furuncuiose auf; oft Pete- chien und Decubitus. Die Verdauung ist in der Regel gestört. Ano- malieen des Appetits (fehlender Appetit, anderemale Heisshunger) werden selten vermisst. Der Stuhlgang zeigt keine bestimmte Aenderung. In der Mania gravis intercurriren oft schwer stillbare Diarrhoen. In den circulären Manieen ist gesteigerter Appetit und vermehrte digestive Lei- stungsfähigkeit Regel.

Der Schlaf ist in sämmtlichen manischen Zuständen gestört, oft durch Wochen und Monate lang. Nicht selten ist die Nachtzeit durch schwere Träume erregt. Auch hier macht die circuläre Manie sehr oft (nicht immer!) eine Ausnahme, insofern die Kranken nie besser und tiefer zu schlafen behaupten, als in der Zeit der manischen Phase.

Ruhe

Therapie.

utische. Erste Indication ist wie bei der Melancholie: geizten, leicht reiz- und erschöpf baren Gehirne! Diese ich t. Abhaltung der störenden, unter Umständen en von aussen; Beförderung des Schlafs; 2. Be- |r« ;ndirect hervorgerufenen Fluxionen zum

ung.

tliche, bei der Therapie der Melan- Maassnahmen, vor Allem Isolirung

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Die Manie. Allgemeines.

und ev. Bettruhe. Der Grad der notwendigen Isolirung richtet sich nach der Intensität des vorhandenen Hirnreizes und der psychischen Erregbarkeit des Kranken; je grösser diese, desto strenger muss jene sein. Während bei den leichteren Fällen eine Einschränkung des Kranken auf den Verkehr mit einer verständigen Umgebung neben sorgfältiger Regulirung des Tageslaufes, pünktlicher Befolgung der vorgeschriebenen Diätetik, Vermeidung aller erhitzenden Genuss- mittel, Enthaltung von allem unnützen Verkehr mit der Aussenwelt genügt, muss in schwerern Fällen der Aufenthalt im Zimmer, unter Umständen im eigens hergerichteten, ordinirt werden. In der grössten Mehrzahl der Fälle reicht hierzu die Pflege ausserhalb der Anstalt nicht mehr aus. Wo aber alle erforderlichen Einrichtungen be- schafft werden können, in administrativer Hinsicht sowohl als auch in der persönlichen des passenden Wartepersonals und der ärzt- lichen Leitung, sind wenigstens leichtere Fälle auch auswärts, zumal in einem guten Spitale, zu behandeln (Schutz der Fenster, Thüren, Wände, solides einfaches Mobiliar). Unter den somatischen Be- ruhigungsmitteln stehen sodann Bäder wieder obenan, und zwar hier in Form von verlängerten und manchmal auch von kurzen kühlen Bädern.

Die verlängerten werden von 2 4 , unter Umständen von noch längerer Dauer verabreicht (mit Eisumschlägen); die kurzen kühlen in der Temperatur von IG— 14— 12° R. 8—10 Minuten lang gereicht, wiederum mit Eisumschlagen und unter beständiger ärztlicher Controlle ; während und nach dem Bade etwas Wein ; nachher Frottiren und Bett- ruhe resp. Isolirung. Man vermeide Kopfdouchen! Die lauwarmen Bäder passen hauptsächlich hei activem acuten Hirnreiz d. h. bei stark vor- tretenden Fluxionszuständen; die kalten sah ich dagegen bei protrahirtern Formen sehr wirksam, wobei eine revulsive (psychische) Wirkung mit erzielt werden soll. Man sei bei letzteren sehr vorsichtig bezüglich des körperlichen Kräftezustandes : grosse Schwäche, complicirende Herz- oder Lungenaffectionen erheben Einsprache! Bezüglich der Isolirung ist gleichfalls sorgsamste Ueberwachung zu empfehlen , damit nicht der Kranke sich selbst und seinem Bewegungsdrange überlassen auf Allotria verfällt und faute de mieux in's Zerreissen, Schmieren oder gar Kothessen geräth! Manches derartige manische „Artefact" Hesse sich durch richtige Unterbrechung des Zimmeraufenthalts und temporäres Ver- setzen des Kranken entweder zu Andern oder in eiuen geräumigen Spa- zierhof vermeiden! Bei unverbesserlichen Zerreissern ist für passende Kleidung und Bettzeug zu sorgen. Dabei sorgsame Anhaltung zur Be- achtung der Reinlichkeit!

Erfordern heftigere Fluxionszustände zum Kopf eine locale Be- kämpfung, so ist diese nach den Regeln der inneren Medicin und mit sorgfältiger Beachtung des jeweiligen Kräftezustandes zu leiten.

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Therapie. Somatische Indicationen.

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Nie Aderlass! Eisumschläge, zeitweilige Hirudines (1 2 hinter die Ohren) genügen. Daneben ev. Ableitungen auf die Ftlsse. Sehr günstig wirken in vielen Fällen Priessnitz'sche Einpackungen, unter gleichzeitiger Eisbehandlung auf den Kopf und nachher kühler Ab- waschung mit folgender Frottirung (täglich wiederholt). Arzneilich ev. Digitalis, und bei starken Wallungszuständen, namentlich manchen Fällen von Mania gravis: Ergotin. Als Schlafmittel: Paraldehyd, vorübergehend auch Chloral, Bier, abendliche Bäder; namentlich bringt ein kaltes Bad oft mit der grössern Beruhigung auch Schlaf. Bromkali und Opiate sind hier gleichfalls zu nennen; doch stehen sie als Hypnotica in der Promptheit den oben genannten nach.

Manchmal ist dagegen eine specielle Indication für die letztge- nannten Arznei Stoffe gegeben, so dass sie in der Serie der individuell angezeigten Beruhigungsmittel in die erste Linie vorrUcken. Es ist dies der Fall bei jenen manischen Zuständen, in welchen 1. ein sexueller Factor vorhanden, sei's in der Richtung des Deliriums oder in perversen (masturbatorischen) Drängen: hier ist Bromkali indicirt; oder 2. ein emo- tiver Affectkern dem tobsüchtigen Gebahren zu Grunde liegt, sei's in Form einer peinlichen Erinnerung (erlittener Aerger) oder einer bestän- digen zornigen Reizbarkeit. Hierher gehören die melancholischen Tob- sachtszustände und der Furor in seinen verschiedenen klinischen Formen. Hier sind die Opiate königliche Curmittel, sowohl per os als per suppos., oder per inject, gereicht, und zwar nicht vorübergehend, sondern wie bei der Melancholie methodisch.

Für gewisse Manieen mit vorwaltendem Bewegungsdrang und tiefer Bewusstseinsstörung (Formen der Mania gravis) ist Hyos- cyamin ein wirksames Beruhigungsmittel. Man kann nicht so selten heftige Tob-Paroxysmen dadurch auf Stunden und Tage hinaus sistiren, hin und wieder sogar coupiren. Die Bewusstseinsstörung selbst wird dadurch nicht direct beeinflusst; die Kranken werden in ihrem (durch das Mittel) musculomotorischen Elend nicht gerade wesentlich klarer, aber ruhiger, und so einer geordneten Einwirkung zugängiger. In gewissen Fällen folgt dann die sensorielle Aufhellung successive der motorischen Beruhigung nach; meistens aber ist der Effect vorüber- gehend, und das Arzneimittel muss in erhöhter Dosis wiederholt werden.

Man sei übrigens vorsichtig mit diesem heroischen Alkaloid, dessen chemische Zusammensetzung ohnehin keine verlässliche ist! Bei activen Wallungen zum Kopfe, ebenso bei Herz- oder Lungenaflectionen oder geschwächtem Kräftezustande wage man es nicht! Das Peinliche der Anwendung wird vermehrt durch die Anforderung: keine verzettelten kleinen, sondern mittlere oder selbst eine kühne grössere Dosis zu geben, wenn man entscheidend wirken will. Betäubtes Wesen, ataktischer Gang,

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Die Manie. Allgemeines.

Heiserkeit, heftiger Schlundzwang sind neben der oft hartnäckigen Pu- pillenerweiterung die gewöhnlich in den Kauf zu nehmenden Symptome ; dabei Schwächerwerden des Pulses, Verlangsamung der Respiration, livide Gesichtsfarbe u. s. w. Man beginne bei Frauen mit nicht Über 0,005 p. dosi, und steige auf 0,008 0,01 und selbst noch etwas höher; bei Männern kann man mit 0,01 beginnen und bis 0,015 und 0,02 vor- sichtig steigen. Eine Tagesgabe genllgt ; unter Umständen mit kleiner Supplementirung. Fortgesetzte Anwendung ist abzurathen; sicherer und wirksamer ist die Darreichung in Pausen, je nach Bedarf, und wo mög- lich nach jeweils erst wieder erfolgtem Aufhören der Intoxications- zeichen. Die Darreichung per os scheint oft stärker zu wirken als die subcutane.

Ad 3. Die Beachtung der Körperernährung ist eine höchst wich- tige Indication, umsomehr, als zu der häufig mitgebrachten Blut- armut und Magerkeit noch die gesteigerten Ausgaben durch die beschleunigten psychischen Processe, durch die motorischen Muskel- leistungen und durch die Schlaflosigkeit hinzukommen. Eine kräftige, leicht verdauliche, an Eiweiss und Kohlenhydraten reiche Diät, mit Wein und Bier, ist deshalb ein dringliches Erforderniss. Dabei ist die Bulimie vieler Kranken zu berücksichtigen (sorgfaltige Ver- kleinerung der dargereichten Speisen, häufige Darreichung von je- weils nicht zn grossen Mengen), und manchmal auch soweit es angeht individuelle Liebhabereien, deren Versagung Zornproteste und Steigerung der Reizbarkeit hervorrufen würde. Der Appetit vieler Maniaci ist geradezu erstaunlich, verdient aber in rationellen Grenzen immer geziemende Beachtung. Vieler Aufenthalt im Freien in weiten Spazierhöfen; möglichst leichte zweckmässige Klei- dung; Sorgfalt gegen die Einwirkung grosser Sonnenhitze.

Psychisch-, Ruhe und Abhaltung von Reizen! Der Verkehr mit den Kranken sei wohlwollend, aber bestimmt (suaviter in modo, fortiter in re!); er vermeide alles schroffe Entgegentreten, suche mehr durch Ablenkungen und gewinnende Umwege, als durch directes Fordern das Nöthige, und Alles stets mit ruhiger Geduld, zu er- reichen. Ernst mit Milde, nicht befehlend, aber auch nicht ängst- lich demonstrirend, alle Anreizungen disputirsüchtiger Kranker ver- meidend, fest und consequent in den Anordnungen sei die Sig- natur des ärztlichen Tenors! Dabei sorgfältige Wahrhaftigkeit der Maniacus hat ein treues Gedächtniss! Aber der ärztlichen Con- sequenz im Auftreten und Handeln bleibe alle Pedanterie ferne und namentlich alles kluge Rechthaben! Man halte in seinen Anordnungen nicht am Buchstaben, variire nach Bedarf; man übe gelegentlich die tapfere Kunst des Schweigens, namentlich absichtlich provocirenden

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Therapie. Psychische Indicationen. Behandlung der Unterformen. 91

Kranken gegenüber, scheue temporär selbst einen muthigen Rück- zog nicht, und verstehe dem fliehenden Feinde goldene Brücken zu bauen durch freiwillige (wenn auch vielleicht ad hoc unverdiente) Gewährung kleiner Wünsche und Bedürfnisse. Bei zugängigen, trai- tablen Kranken suche man den gesteigerten Bewegungsdrang in ge- ordnetere Bahnen zu lenken durch Anhaltung zu Arbeiten im Hause, in der Wäscherei, in den Gärten u. s. w. Bei allen Kranken, wo es angeht, bestrebe man sich den Sinn für das Decorum zu wecken, und gegen die niederziehende Gewalt der Krankheit aufrecht zu erhalten! Ist das Bewusstsein erst freier, so darf auch directe Corrective, ja inuss unter Umständen geübt werden. Besonders nachdrucksam muss diese, und zwar in Form einer ärztlich wohl erwogenen Disciplin und Pädagogik, eintreten in den chroni- schen und Schwäche-Manieen (Moria), wo sie den wichtigsten Theil der therapeutischen Anstalts-Technik bildet.

Auf die einzelnen klinischen Unterformen Ubergehend, lassen sich die wichtigsten therapeutischen Indicationen in Folgendem zusammen- fassen:

a) Mania mitis und typica. Sorgsame körperliche und geistige Diätetik mit möglichstem Abschluss von allen äussern Reizen. Meistens sofort Spital- oder Anstaltsbehandlung nothwendig. Lauwarme, womög- lich verlängerte, Bäder, bei höhern Graden der Unruhe auch ev. kurze kalte; Beförderung des Schlafs, liebung des Kräftezustandes.

b) Furor. Anstaltsbehandlung unerlässlich. Zeitweilige Isoürung, Opiate, methodisch, oder auch Morph.-Injectionen. Daneben Bäder wie oben. Ev. intercurrirend Hyoscyamin. Ueberwachung des Kräftezu- standes wie oben. Berücksichtigung ev. weiterer Indicationen (Sexual- leiden, neurasthenische Constitution).

c) Mania gravis. Anstaltsbehandlung. Zeitweilige Isoürung. Sorgfältige Eruirung etwaiger somatischer Grundlagen (Fötus); darnach «pecielle Indicationen. Bäder wie oben, namentlich kalte. Priessnitz'sche Kinpackungen mit Eisüberschlägen. HyoscyaminBehandlung. Bei ha- bituellen Congestionen Blutegel. Sorgsame Ueberwachung des Kräfte- znstandes, Wein, ev. zeitweilige erzwungene Bettlage, namentlich bei Anämischen. Vorsicht wegen drohender Collapszustände oder rapider Abmagerung mit Temperaturabfall : dann Methodus analepticus bei Bett- läge mit Schutz gegen Wärmeverlust. Bei drohendem Uebergang in das Delir. acutum Bettlage, Verdunkelung des Zimmers, möglichste Ruhe in der Umgebung, fortgesetzte Eisbehandlung.

d) Die Behandlung der chronischen Manieen hat den ganzen somatischen und psychischen Heilapparat (s. o.) in einer der jeweiligen l'hase individuell entsprechenden Dosirung zu entfalten. Bei vorwie- gendem psychischen Schwächecharakter mit eingewöhnten (schablonisirten) Bewegungsexcessen: sorgsame zielbewusste Pädagogik neben Ableitung durch leichte mechanische Beschäftigung; bei andauerndem Congestivzu-

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92 Specielle Manie.

stände znm Kopfe mit Stasenbildnng im Gesichte: tägliche verlängerte Bäder, zeitweilige Hirudines; unter Umständen Anlegung einer Fontanelle in den Nacken oder Einreibung der Tart. stib. Salbe auf den Scheitel; bei Anämischen: zeitweilige Bettlage mit kräftiger Ernährung und Opium in methodisch zunehmenden Gaben.

Specielle Manie.

Krankheitsbild. Verlauf. Ausgänge.

Auf Grundlage der im allgemeinen Theil entwickelten Gesichtspunkte über die verschiedene Formqualität der krankhaften Bewegungsäusserungen und der „Ideenflucht", und bei dem erfahrungsgemässen Parallelgang beider Symptomenreihen mit der Qualität (Tiefe) der Hirnaffection lassen sich unter gleichzeitiger Einbeziehung der zugehörigen somatischen Momente allgemein zwei grosse Untergruppen der Manie aufstellen:

1. eine, in welcher unter gradweiaer Bewusstseinsschonung der psychische Charakter in den Bewegungen und der logische in der Asso- ciation im Wesentlichen erhalten bleibt; diese Gruppe verläuft körperlich auch ohne (grob) motorische Symptome und ohne oder höchstens ganz geringe und vorübergehende Teraperaturanomalieen; und 2. eine, in wel- cher — unter primärer tiefer, eventuell bis zur Traumstufe verdunkelter, Bewusstseinsstörung die psychische Formqualität in den bezeichneten Richtungen verloren geht, und gleichzeitig direct motorische Symptome, sowie manifeste Störungen der Temperatur (Fieber; abnorm niedrige Nummern) vorkommen.

Speciell lässt sich die I. Gruppe wieder in 2 Untergruppen son- dern, je nachdem a) die psychomotorische Steigerung sich vorwiegend auf dem Gebiete der höher combinirten Acte der eigentlichen Hand- lungen — bewegt, und ebenso auch die Reizung im „Ideen"gebiet in den Grenzen der höheren, das „Ich" tragenden, Vorstellungsreihen sich hält: als vermehrte und beschleunigte Strebungen, zugleich mit heiterer Stim- mungslage; es ist die in Intellect und Willen aufgenommene Manie Mania mitis. Ein melancholisches Vorläuferstadium kann vorhanden sein, aber auch fehlen. Genesung ist Regel. Grosse Neigung zur Perio- dicität; und b) je nachdem die Reizung der psychomotorischen resp. Be- schleunigung der vorstellenden Functionen zu einem selbständigen, von einem Ich nicht mehr zusammengehaltenen Krankheitselemente sich ge- staltet; dort als ziel- und planloser, unerschöpflich sich hervordrängen- der Bewegungsdrang, hier als Ideenflucht aller Grade (logisch und asso- nirend); dabei flüchtig wechselndes Stimmungsregister mit vorwiegend heiterem Grundton. Der Krankheitsbeginn geht regelmässig durch ein Stadium melancholicum hindurch. Genesung (auch bleibende) ist Regel typische Manie. Daran schliesst sich als schwerere Form der Furor

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Eintheilung der Manie. Charakteristik der Uoterformen. Mania mitis. 93

an, mit reflectorischem Formcharakter der Bewegungen; den einfach luxu- riirenden, gleichsam spielenden, der vorigen Gruppe gegenüber sind diese triebartig heftig, maasslos bis zum Convulsiven oder auch automatisch Zwangsmässigen. Stets finden sich in der jagenden, oft ganz verworrenen, Ideenflucht bestimmte Vorstellungs„kerne" melancholischen oder wahnsin- nigen Inhalts. Die Stimmung, wenn auch vielfach wechselnd, ist eine vor- wiegend gereizte („Zornmanieen"), oder eine gemischt depressiv-exaltirte. Hallucinationen sind sehr häufig. Ein Stadium melancholicum kann vor- hergehen, aber auch fehlen. Oft geht die Mania typica in den Grad des Furor Uber. Genesung ist häufig, aber sehr gefährdet durch Recidive.

Unter der 2. Gruppe vereinigen sich sämmtliche palpable Hirnrciz- zustände mit manischem Charakter, symptomatologisch theils unter dem Bilde derselben Formqualität der Bewegungen wie der Furor, theils einer noch tieferen (s. Allg.), und noch vermehrt um den Hinzutritt körper- licher Symptome aus organischer (entzündlicher) Hirnreizung. Das Be- wusstsein ist tief gestört, oft förmlich betäubt. Eine „Ideenflucht" ist nicht vorhanden ; dafür zeitweise jagende Delirien. In den ruhigen Phasen tritt psychische Schwäche aus Hirnerschöpfung hervor , oder ein vager, oft gemischter Grössenwahn. Genesung ist seltener, Heilung mit Defect die Regel; manchmal aber auch rasch letaler Verlauf „Organische" Manieen Mania gravis.

Die Mania mitis.

In der Regel geht ein Status nervosus mit Störungen des Schlafs und der Verdauung, Kopfcongestionen und Obstipation, oder ein aus- gesprochen depressives Initialstadium voraus, mit ängstlicher Unruhe und Reizbarkeit. In allmählichem Uebergang zeigt der Kranke jetzt eine Aenderung seiner Lebensweise und seines Temperaments: er be- ginnt in bisher ungewohnter Weise Lebensgenüssen nachzugehen, namentlich den Freuden der Venus und des Weins, oder dem Be- suche geselliger Cirkel. Je rauschender die Fröhlichkeit, desto lieber; er kennt keine Ermüdung, keine Rücksicht gegen sich, bald aber auch keine gegen seine Umgebung. Zuspruch und Abmahnung prallen wirkungslos ab an seinem gesteigerten Wohlgefühl; ernstliche Gegen- vorstellungen erregen sein überlegenes Lächeln oder seine trotzige Gereiztheit Bald kommen Conflicte, welche aber nur seinen Wider- stand schärfen, oder die Betonung seines Selbstgefühls herausfordern. In der Gesellschaft wird der bis dabin Zurückhaltende zum vorlauten Wortführer; unbedacht und vorschnell mischt er sich mit seinen Reden überall hinein, welche mit immer schärferen Accenten und lebhafter Mimik begleitet werden, und nicht selten auch die übrige Körper- musculatur zu stossweisen Mitbewegungen aufrufen. Schlagfertiger Witz bei einem liebenswürdig aufgelegten Wesen lassen den begin- nenden Kranken Anfangs noch überall willkommen erscheinen ; bald

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Specielle Manie.

aber beleidigt er durch Disputirsucht, Rechthaberei, unzarte, oft grobe Aeusserungen, beantwortet harmlose Scherze sofort mit überstürzen- den Duellforderungen. Mehr noch erregt der frivole Zug, welcher nicht selten dem ganzen Auftreten sich beimischt, Aufsehen; auch verdeckte oder offene Cynismen fehlen nicht, um das ganz veränderte, im Charakter getroffene Wesen des Kranken kund zu thun. Dabei ist aber nicht allein der gerade beschäftigte Vorstellungskreis in leb- haftester Erregung, so dass der Kranke nicht genug Emphase den Tagesvorgängen entgegenzubringen weiss, welche alle, selbst Lappa- lien, für ihn eine von Anderen nicht geahnte Wichtigkeit bekunden auch die Erinnerung bis in ferne Jahre zurück steigt mit einer Promptheit und Lebhaftigkeit auf, wie nie zuvor. Dem entsprechend fühlt sich der Kranke in seiner Stimmung mächtig gehoben, wenn auch die Heiterkeit das Maass noch nicht wesentlich überschreitet; er ist nur so Uberaus wohl, gesund und thatkräftig, kennt nur Schaffens- drang, will deshalb überall ordnen bald aber auch meistern. In rascher Folge tauchen immer neue Pläne auf, welche mit jedem Tage, selbst jeder Stunde neu wechseln; Schwierigkeiten, Bedenken, finan- zielle oder sonstige Hemmnisse existiren schon nicht mehr, der hem- mungslos gewordene Wille schafft sich unbewusst seine Vorstellungs- welt von Illusionen, welche sein Spiegelbild werden : Alles wird er- reichbar. So werden Käufe und Verkäufe abgeschlossen, Summen verschleudert, weil es in der rosigen Perspective des Kranken keinen Misserfolg gibt und Alles glücken muss. Heirathsprojecte und Ver- lobungen werden concipirt, dann leichten Herzens geändert und wieder neu angeknüpft; nirgends ist Befriedigung, der Kranke verschmachtet im Genuss vor Begierde. Dabei ist natürlich von einem Genuss eigentlich keine Rede; was der Kranke wirklich geniesst, ist das täuschende Gefühl seines potentiellen Könnens und der Abglanz seiner mit der Raschheit der Einfälle wechselnden Phantasmagorieeu.

Je mehr die Krankheit zunimmt, desto mehr wächst die Hast des in krankhafter Propulsion befindlichen Seelenlebens. Die Ge- schwätzigkeit wird anhaltend und fast erdrückend. Erinnerungen aus dem frühern Leben verweben und verschlingen sich mit unmittel- baren Auffassungen aus der Umgebung; unerreichbare Erwartungen, trügerische Hoffnungen, sonderbare Speculationen, ungemessene Wünsche und Forderungen, schlechte Witze und boshafter Tadel, unmässige Ueberhebung und trügerisches Selbstlob, ungesuchter Rath und übel angebrachte Fürbitten Alles drängt sich jetzt in buntem Wechsel durcheinander. Die Rede wird abspringend und zerrissen, die Aufmerksamkeit ist kaum auf Augenblicke festzuhalten. Dabei

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Mania mitis. Krankheitsbild.

Mania typica.

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kommen Wahnideen mit festerem Gepräge nicht auf, ebensowenig Sinnestäuschungen. Die Stimmung wechselt zwischen Roseufarbe und düsterer Verdrossenheit, selbst Gereiztheit; nicht selten bricht auch ein schmerzliches Weinen durch, aus welchem ein unklares, manchmal aber auch klar empfundenes Krankheitsgefühl herausschaut. Zu andern Stunden ist der Kranke theilnahralos und gleichgiltig, jedoch vorherrschend heiter oder nachlässig. In diesen wechselnden Phasen schwankt der Krankheitsverlauf, wenn er nicht in die höheren Krankheitsgrade der typischen Manie Ubergeht, durch Wochen und selbst durch einige (bis 4—5—0) Monate. Das körperliche Be- finden zeigt dabei wenig auffalleude Aenderung, bei Frauen zeit- weilige nervöse Beschwerden, oft kommen auch Congestiv-Zustäude zum Kopfe, aber ohne Fieber. Die Körperernährung wird in der Mehrzahl der Fälle (wohl durch den unregelmässigen Schlaf und die in der allgemeinen Unruhe nicht immer genügende Nahrungs- aufnahme) massig reducirt; in anderen Fällen bleibt das Körperge- wicht gleich, in periodischen resp. circulären erhöht es sich, wie- wohl nicht regelmässig (s. d.). Allmählich klingt die Aufregung ab, oft durch eine hypochondrisch-melancholische, gewöhnlich aber durch eine einfach depressive (ErmÜdungs-)Phase hindurch ; der Krankheits- zustand geht in Genesung Uber.

Bezüglich des Vorkommens der Mania mitis ist zu bemerken, dass sie der typischen Manie gegenüber relativ seltener ist, und ebenso selten durch den ganzen Krankheitsverlauf als gleichbleibende Form sich erhält. Gewöhnlich steigert sie sich zu höheren manischen Graden. Wo sie selb- ständig auftritt und bleibt, bezeichnet sie häufig die manische Phase einer uachmaligen circulären Psychose. Auch die Paralyse beginnt nicht selten iu der Form der Mania mitis (modificirt durch den primären Blödsinn namentlich auf ethischem Gebiete, und durch den Sopor, die Benommen- heit, welche über die ganze Persönlichkeit des Anfaugsparalytikers sich legt). In selbständigem Auftreten kommt sie vorzugsweise neurasthe- nischen Constitutionen zu, merkwürdig häufig nach geistigen Anstrengungen 'Eiamenarbeiteu).

Die Mania typica.

a) Leichtere Form. Die Entwicklung kann erfolgen: 1. aus einem ausgesprochenen melancholischen Vorstadium von kürzerer oder längerer Dauer; 2. aus der Mania mitis; 3. (seltener) nach äusserst kurzen Prodromis (von einigen Stunden oder auch Tagen), aus einem Status nervosus (nach plötzlichem Geinüths-Shok, Menses) mit rasch ansteigender Exaltation direct in das typische Stadium hinein.

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Specielle Manie.

Der Kranke bietet das Bild einer zunehmenden motorischen und geistigen Unruhe; er weint und lacht unmotivirt oder auf gering- fügige Ursache, läuft hin und her, beginnt Arbeiten und lässt, kaum begonnen, wieder ab; er beschwert sich, hat eine Menge Wünsche, wird reizbar und zornig bei Versagung. Die wachsende Unruhe zieht sich rascher oder langsamer (manchmal mit depressiven Intermissio- nen) auch in die Nacht hinein; es erfolgt Schlaflosigkeit und bei Tag eine Zunahme der Unruhe mit immer jäherem und grundloserem Stimmungswechsel. Das Reden wird ein anhaltendes Schwatzen, untermischt mit Singen, Pfeifen und Lachen; jede Rücksicht auf die Umgebung hört auf; Blick, Mimik, Gestikulationen werden lebhafter, die Bewegungen rascher und immer entfesselter. Der Kranke be- ginnt in zweckloser Geschäftigkeit hin und her zu laufen, frisirt und putzt an sich herum, und ist doch im nächsten Augenblicke wieder so unsauber und nachlässig wie zuvor; er hüpft, tanzt, springt, macht alle Jongleur-Künste. Dabei wird unter Lachen und Jauchzen Alles erzählt, was ihm einfällt, sofort aber der begonnene Vorstellungsgang bei einer neuen Wahrnehmung oder zufälligen Reproduction wieder verlassen ; dann diese neue Vorstellungsreihe wieder in Worten durch- jagt, jetzt wieder abgebrochen bis endlich eine in immer ent- fernteren und loseren Zusammenhängen ablaufende Ideenflucht " er- reicht ist. Dazwischen lässt sich der Kranke durch Zurufe oder irgend einen äusseren Eindruck wieder zu sich bringen; er gibt auf Fragen kurze Antworten; aber gleich beginnt das alte Spiel wieder von Neuem. Die umgebenden Personen werden verkannt, bald in näheren, bald entfernteren Illusionen. Auch hier nimmt der Kranke noch eine Zeit lang vorübergehende Correctur an, doch ohne Einsicht Immer mehr löst sich das psychische Geschehen in Minuten -Acte auf; mit dem stetig wechselnden Vorstellungsinhalt werden auch alle Stimmungsregister durchlaufen: der Kranke jubelt, weint, schimpft, droht, schmiegt sich an und schlägt um sich ganz in der Ein- gebung des Moments. Er ist der Spielball jedes einfallenden Ge- dankens, jeder ans ihm oder an ihn herantretenden gemüthlichen Erregung, der stricte Vollstrecker jedes motorischen Antriebs. Tritt vorübergehend mehr Ruhe ein, so äussert sich meist ein gehobenes Selbstgefühl, welchem aber jede Tiefe fehlt; es blitzen wohl vor- übergehend auch Grössenideen auf von hoher Stellung, Macht, Reich - thum u. s. w., aber ohne Nachhaltigkeit; sie werden polternd aus- gerufen, um rasch (oft unter ironisirendem Lachen) wieder im rast- losen Fluss der sich drängenden Vorstellungen unterzugehen. Auch erotische Richtungen tauchen auf und nieder, nicht selten mit las-

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Maoia typica. Intercurrente acute Wahnsinns-Phasen. Weiterverlauf. 97

civen Scheltworten abwechselnd, manchmal mit brutalen Attentats- versuchen. Auch Hallucinationen stellen sich oft ein, aber flüchtiger Natur (sensorische Nebenschliessungen neben dem krankhaft ver- stärkten psychischen Hauptstrom), und erhitzen vorübergehend die Stimmung bis zur übermässigen Heiterkeit, zum tollen Jubel; oder drücken gegentheils, im Inhalt wechselnd, jene zum zornigen Weinen und Schelten herab gehen aber gleichfalls ohne nachhaltige Wir- kung im raschen Strom der Vorstellungen, welcher nichts Fixes duldet, wieder unter.

Werden die Hallucinationen gelegentlich vorherrschend und gewinnen dieselben festere Gestaltung, so dass sich darnach die Auffassung der Um- gebung dauernd ändert und im Weitern eine wahnhafte Orientirung mit Fälschung des Bewusstsein9 festgehalten wird, so ist das Gebiet der ty- pischen Manie überschritten, und letztere in eine Piiase von „acutem hallu- cinatorischen Wahnsinn" übergetreten. Sehr häuög bildet diese Metamor- phose den Uebergang aus der initialen Depression in die eigentliche Manie, und zwar ist es der dämonomane acute Wahnsinn, welcher mit Vorliebe diese Vermittel ung Ubernimmt. Der Anfangs grübelnde oder mit Ge- wissensscrupeln gedrückte Kranke glaubt sich von bösen Geistern um- ringt, die ihn tödten wollen; Illusionen bestürmen ihn; bald mischen sich freudige und gehobene (religiös-exaltirte) ein: der Kranke sieht seine Rechtschaffenheit erkannt, und fühlt sich zum Richter erkoren; höhere Antriebe heissen ihn predigen, singen; die Reden werden ungereimt, ab« gerissen, die Ideenflucht nimmt zu; in der wachsenden Entfesselung der motorischen Acte geht das hallucinatorische Traumspiel unter und der Kranke macht jetzt den typischen manischen Decursus weiter.

Im ferneren Verlaufe nimmt die verbale Ideenflucht zu bis zu einer wirklichen Verworrenheit, bei welcher die Verbindungen nur noch nach äusseren Assonanzen hergestellt werden. Oft geht auch dieses Band verloren, und es bleiben nur noch aneinandergereihte Worte aus zufälligen Einfällen, Wahrnehmungen, Reminiscenzen u. s.w. bestehen. Dabei schwindet aber das Bewusstsein nie so, dass es auf die Traum 8 tu fe sich verdunkelte; dasselbe kann wohl unklar und getrübt werden in Folge der sich überstürzenden und gelockert zu- strömenden Vorstellungen, in welchen das Ich sich nicht mehr zurecht findet, sowie aber der Sturm sich mässigt, stellt sich sofort auch wieder die klarere, vorübergehend selbst besonnene, Situation her.

So kann sich der psychische Zustand durch Tage und Wochen hindurch erhalten. Nach und nach tritt mehr Ruhe ein; der unge- stüme Bewegungsdrang erhält immer mehr den Ausdruck eines vagen, gesticulatorischen Spiels. Die Aufmerksamkeit ist wieder leichter zu fesseln, das Benehmen wird freundlicher und gelassener. Manch- mal werden jetzt auch subjective Klagen über körperliche Missgefühle

Scfc&l«, GeiBtaakrank halten. 3. Aufl. 7

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Specielle Manie.

geäussert. Der Schlaf wird besser, ebenso der Appetit; der Blick klarer, die Miene componirter. Die Reimereien und profuse Ge- schwätzigkeit lässt nach. Dann und wann schieben sich stillere und ernstere Stunden ein. Der Weilerverlauf kann nun stattfinden:

1. unter allmählichem Nachlass bis in die Genesung. Dieses geschieht im Uebergang a) durch einen Aufregungszustand mit psy- chischer Schwäche, Moria (muthwilliges Wesen, barocke Einfalle und Handlungen, emotive Reizbarkeit, s. u.); oderb) durch einen Zwischen- zustand einfachen geistigen Torpors; oder aber c) durch eine (secun- däre) Wahnsinnsphase hindurch mit Grössenwabn und Symbolisirungen, oder mit Hallucinationen. Dieselbe kann einen stillen Charakter (ver- schlossenes einsilbiges Wesen, BetUbungen, Lesen in religiösen Schrif- ten u. s. w.) oder einen exaltirten (phantastische Kleidung, dünkelhaftes Wesen, alberne Geschäftigkeit, Verkennen der Umgebung, launen- hafte Stimmung) tragen;

2. zunächst in ein ruhiges (apathisches) Intermissionsstadium von Tage-, oder auch einige Wochen-langer Dauer, worauf abermals ein manischer Anfall folgt mit nachfolgender Ruhe, und so (vielleicht nach mehrfachen Wiederholungen) mit endlichem Ausgang in Ge- nesung (remittirende Form);

Symptomatologi8ch wechseln diese remittirenden Paroxysiuen hinsicht- lich der Dauer, Intensität und der Länge des Intervalls. Dabei kann der depressive Zug, welcher dem ersten manischen Anfall noch abwechselnd beigemischt war, in den späteren Anfällen immer mehr verloren gehen, und die letzteren reine („tolle") Exaltationszustände darstellen mit zweck- loser Geschäftigkeit, übermtithigem Wesen, Raisonniren, bis endlich zu dem ungereimtesten sinnlosen Gebahren mit Verworrenheit. Manchmal bezeichnet das letzte manische Recidiv auch den Uebergang zur Gene- sung; in anderen Fällen jedoch tritt diese erst ein, nachdem sich a) ein längeres Stadium von wirklicher Melancholie, oder aber b) von tiefer Stupidität (Apathie, betäubtem Wesen, secessus inseiis, Raptus) einge- geschoben hatte.

3. in die schwerere Form der Manie (den Furor);

4. in chronische Manie;

5. in dauernde psychische Schwäche.

Diese „Heilung mit Defect" gibt oft ein klinisches Bild von eige- ner Schattirung. Es ist ein beginnender Blödsinn ohne hervorstechende speeifische Symptome, eine Indolenz, die sich Uber die ganze Persön- lichkeit legt, eine Unklarheit und Unbestimmtheit des Wesens, aber ohne eigentliche Verkehrtheit im Denken, eine allgemeine Zerstreutheit und Ziellosigkeit, neben einer gutmtlthigen , freundlichen uud willigen Stim- mung. Oft noch intercurriron störende Traume mit Resten aus der Exal- tationsphase, welche mit der Stärke der Wirklichkeit den Kranken er- greifen und ihn Tage lang beeinflussen. Auch ohne diese wird der Kranke

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Mania typica. Ausgange. Furor. Krankheitsbüd.

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zeitweise befangener, unbestimmt wandelbarer in seinen Aeusserungen, gezwungen in Manieren und Haltung; nicht selten wird ängstliche Un- ruhe geklagt, wofür der Kranke die kleinlichsten, oft sich widersprechen- den Umstände als Begründung anführt. Vage hypochondrische Sensa- tionen gehen mit. Die Stimmung wird zunehmend verdriesslicher. So schreitet das Leiden progressiv weiter. Die Rede des Kranken verliert immer mehr ihren bestimmten Charakter, sie wird zögernd oder hastig, schnell abgestossen, abspringend, endlich verwirrt. Es treten fragmen- tare Aeusserungen von Beeinträchtigung auf, nicht selten mit gereizten Beschuldigungen gegen die Umgebung; oft kommen gewaltthätige Hand- langen — wirkliche manische Recidiven mit lebhaftem und zweck- widrigem Muskelspiel. Aufregungen, ängstliche Anwandlungen, gutmü- tige freiere Episoden wechseln. In den letzteren ist der Kranke zu Allem zu bestimmen ; in den ersteren erhebt er gegen Alles Widerspruch. Im Verlaufe (durch Jahre) nimmt die blödsinnige Abstumpfung immer mehr zu. Dazu treten imperative Hallucinationen, welche aber ausser den Momenten der Aufregung vom Kranken widerspruchslos assimi- lirt werden. Durch Jahre hindurch bleibt sonst dieser ein stiller, harm- loser Gast, welcher nie eine Klage laut werden lässt, nie einen Wunsch oder Verlangen äussert, willig sich der Hausordnung unterzieht, und nach gethaner Arbeit heiter als ob er in der Anstalt seine Heimath de jure besasse mit den Andern sein Spielchen macht.

Die Genesung selbst kann eine dauernde sein, ist aber sehr oft auch nur eine zeitweilige, worauf Recidive erfolgt mit progressiv erschwertem Charakter. Für die klinische Symptomatologie ist be- merkenswerth , dass sich diesen Rückfällen immer ausgeprägtere Züge von Wahnsinn (Ueberhandnahme der Hallucinationen) oder von geistiger Schwäche (triebartiges motorisches Gebahren mit Zerreissen und Schmieren, zunehmende Stupidität) beimischen. Dazu werden die Paroxysmen mit jeder neuen Wiederkehr auch gedehnter, und schwieriger beilbar.

b) Die schwerere Form (der Furor). Die Entwicklung die- ser Zustandsform erfolgt entweder 1 . direct nach nur kurzer Einleitung auf eine einschneidende GemUthserschUtterung (Zornaflfect), oder auch (bei tief neuropathischer, speciell epileptischer Anlage) anscheinend von selbst, acut, ohne nachweisbare Ursache; oder 2. im Verlaufe einer Mania mitis, welche sich namentlich oft in einem vorwiegenden Drang zu kaufen, zu trinken u. s. w. äussert, und in raschem Anstieg in die Krankheitshöhe übergeht.

Das klinische Bild besteht im Wesentlichen in einer Steigerung der beschriebenen typisch-manischen Symptome, speciell der moto- rischen. Während diese auf der Acme der vorigen Formen noch als Einzelacte psychisch-geformt sich zeigten, treten sie hier in Form mächtiger Explosionen oder eines blind triebartigen reflectorischen

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Specielle Manie.

Gebahrens auf, als unablässiges Zerstören, Zerreissen, Schlagen, Schreien, Heulen, theilweise auch als stossweise automatische Acte. Damit einher geht eine immer verworrenere Vorstellungsflucht mit feindseliger Verkennung der Umgebung, und gemüthlich eine höchst- gradige Gereiztheit oder eine verhaltene depressive Affectspannung, welche sich in diesen krampfhaften Entladungen (sehr häufig mit dem Ausdruck heftigen Zorns) anfallsweise entäussert Das Delirium besteht aus Reproductionen, unklaren Wahrnehmungen und bunt ge- mischten Einfällen, oft aus zusammenhanglosen Worten; darunter besonders Serien von berühmten historischen Namen, mit welchen der Kranke sich in Einem Athem identificirt. Hallucinationen feind- seligen oder kränkenden Inhalts sind häufige Begleiter. Damit wechseln Impromptu's mit herrisch gebieterischem Auftreten und brüskem Widerstreben, geschraubtem, anspruchsvollem Wesen. Die Kranken eilen in pauseloser Unruhe hin und her, sie schreien, de- clamiren, reimen in sinnlosen Assonanzen, beachten keine Reinlichkeit. Sie ziehen sich aus, laufen ohne jedes Decenzgeftthl nackt unter die Andern, sie zerreissen die Kleider bis in die kleinsten Fetzchen, zerstören Essgeschirre und Möbel; im Zimmer wickeln sie sich mit Vorliebe in den zerzupften Matratzeninhalt ein, in welchem sie Tag und Nacht herumwühlen. Das dargereichte Essen wird weggepustet. Jeder Zuspruch ruft Erbitterung in schleunigster Reaction hervor. Dabei ist die motorische Erregbarkeit aufs Höchste gesteigert Zu den excessiven motorischen Leistungen gesellen sich noch eine Menge von Mitbewegungen. Die „Zorn"-Paroxysmen können oft Tage und selbst Wochen hindurch andauern (häufig mit neuralgischen Beklem- mungsgeftlhlen über die Brust), und oft ganz jähe mit Anfallen von heftiger Angst ganz unmotivirt abwechseln. Dabei bleibt als Grund- zustand eine maasslos leidenschaftliche Aufregung, welche bald als Frivolität und cynischer Muthwille, bald in rapidem Umschlag als zerwühlender Schmerz, Heulen und stupide Angst sich äussert Die Pupillen sind contrahirt, wenig beweglich, der Puls beschleunigt, die Haut trocken. Oft starke Kopfcongestionen.

In einer klinisch gut begrenzten Untergruppe tritt an Stelle dieses wirren kaleidoskopischen Spieles ein strengerer innerer Zusammenhang sowohl in der Ideenflucht, als namentlich auch in der Erhaltung der Grundstimmung, welche den auf's Höchste gestiegenen Affect ver- zweifelnden Schmerzes oder des heftigsten Zornes darstellt, und diesen Inhalt auch als Kern des jagenden Vorstellungsablaufs bewahrt. Das sind die eigentlichen „melancholischen Tobsuchten", welche ausgehen von einer erschütternden Emotion, und in Entwicklung und Form den moto- rischen Reactionstypus des höchstgradigen Schmerzaffects man könnte

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Furor. Krankheitsbild. „Melancholische Tobsucht"

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sagen, den zum wirklichen organischen Hirnreiz gewordenen Affectein- griff, welcher sich in stürmischen Reflexentladungen auatobt beibehal- ten und im klinischen Bilde darstellen.

Im acuten Anstieg einer peinlichen Unruhe wird rasch das manische Stadium erreicht. Der innerlich gefolterte Kranke wirft sich auf den Boden, er zerreisst die Kleider, zerrauft sieb, nennt sich den Schlech- testen der Schlechten, schlägt erbarmungslos auf sich hinein, schreit seine (erdichteten) Verbrechen und Sünden in Verzweiflungstönen hinaus, lftsst sich in seinem raptusartigen Vernichtungsdrange kaum bändigen, bleibt unzugängig auf jede Ansprache. Bei Fortdauer und Steigerung der Un- ruhe wird jetzt der Vorstellungsgang immer abrupter; es mischen sich Sätze von heterogenem Inhalt, manchmal Anklänge an Orössenwahn ein; doch kehrt der Ideenfluss immer wieder in die Kategorie der Selbst- anklagen und SelbstverwUnschungen zurück. Manchmal kommen auch vorübergehende Ruhepausen, an welche sich aber gewöhnlich um so hef- tigere motorische Entladungen anschliessen. Unter Zunahme der Puls- frequenz, vorübergehend auch der Temperatur, und Wallungen zum Kopfe können in schwereren Fällen sich Zeichen von noch intensiverer Hirn- reizung einstellen: grimassirte Gesichtszüge, fest zugeklemmte Lider, auto- matische Gesichtsbewegungen, Schlingkrämpfe, namentlich aber gesteigerte Reflexerregbarkeit, so dass die Zähne des Kranken sofort Uber den ein- geführten Löffel zusammenschlagen. In gleichem Schritte vollzieht sich ein Perceptioneabschluss oder eine wahnhafte Verkennung der Umgebung. Der Kranke tobt und rast einsichtslos gegen eigene und fremde Beschä- digungen. Das sind dann lebensbedrohende Phasen, je länger sie an- dauern. Meist gehen sie aber bald wieder vorUber, resp. zurück zu uiedrigeren Reizgraden. Der Kranke wird ruhiger und zugängiger, gibt naheliegende Antworten. Immer wieder brechen zeitweise motorische Stürme mit furorartigen Entladungen hindurch. Der Kranke bewahrt auch jetzt noch bei aller scheinbaren Milde eine Reizbarkeit, welche ihn bei jedem versagten Wunsche „schwere Rache" androhen lässt. Oft schie- ben sich Moria- Phasen dazwischen mit Neigung zu rohen Spässen, und einem theils stillen, theils offenen Krieg gegen die Hausordnung. Im Ganzen schreitet aber die Beruhigung fort, und nach Umfluss von kurzer Zeit (einigen Wochen Monate) wird die Genesung erreicht, gewöhn- lich durch ein Stadium von Torpor, oder von weinerlicher (Schwäche-) Depression. Die Erinnerung an den Uberstandenen Paroxysmus ist oft nur unklar und summarisch.

Gar nicht so selten wächst diese Form einer reactiven Affecttob- sucht aus einem wirkli chen Schuldbewusstsein aus dem Vorleben des Kranken heraus, welches, lange im Innern verschwiegen und beschwich- tigt, plötzlich durch einen neuen mahnenden Gemüthseindruck die sensi- beln und vasomotorischen Affectbahnen Ubermächtig innervirt und hier eine Spannung setzt, die, zum Unerträglichen gesteigert, im Furor sich entlädt. Eine ReservatlUge, ein falscher Schwur kann so, wenn die Re- miniscenzen wieder auftauchen, oder z. B. die kirchlichen Zeiten der Ge- wissenserforschung herannahen, einen solchen melancholisch -manischen Paroxysmus periodisch hervorrufen.

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Specielle Manie.

Die Zorn-Manieen der Anämischen und Neuropathiker (na- mentlich weiblichen Geschlechts) erhalten häufig einen deliranten dämonomanischen Charakter. Die innerlich gefühlte Aflfectspannung (im Anscbluss an ein tief emotives Lebensereigniss) allegorisirt sich in feindliche Wahngebilde, welche eine illusorische Verkennung der Umgebung und gleichgestimmte Hallucinationen hervorrufen, mit reactiven WuthausbrUchen, oder auch anhaltender, triebartiger mo- torischer Entfesselung. Die Stimmung des Entwicklungs- und Höhe- stadiums ist fast anhaltend eine gereizte, zornmüthige; erst im Ver- laufe und in der Krankheitsabnahme spielt sie in den wechselvollen Registern der ausgebildeten Manie.

Das Bewusstsein macht alle Phasen der Helligkeit durch, und sinkt nicht selten anhaltend oder vorübergehend auf die Traumstufe herab; mit der Verdunkelung und dem Abschluss nach aussen er- höht sich die Stärke des hallucinatorischen Innenlebens. Eine Menge körperlicher Gefühle (Mattigkeit und Reissen in den Beinen „als ob sich das Fleisch von den Knochen löste", Würgen im Halse, Ste- chen auf der Brust, Abnahme des Gehirns) bestürmen den Kranken erst mit nervösen Peinigungen. Bald wandeln sie sich allegorisirt in „Geistermächte" um, zerren als Dämonen am Leibe, zupfen an dessen Genitalien, „verkrachen" in seinem Bauche, fahren als Ge- rüche (manchmal als „farbige"!) zu seinem Munde heraus. Die ganze Umgebung verwandelt sich. Jetzt treten neben den feind- lichen Geistern, welche nicht selten in ihren allegorischen Trans- formationen wechseln, auch gut gestimmte, freundliche auf; lascive Delirien mischen sich mit erotischen, religiös gehobene Stimmungen mit erregt melancholischen (dämonomanischen), und diese wiederum mit finstern gereizten. Die abgerissenen Aeusserungen des Deliriums bewegen sich auf der Acme der Krankheit nur in solchen Darstel- lungen des Kampfes des ethischen Strebens mit dem aufgezwunge- nen Bösen. Die gemüthlichen Spannungen, namentlich aber die auf- tauchenden Reproductionen des peinlichen Erlebnisses, welches die Krankheit veranlasst hatte und jenen spannenden Gemüthsdruck fort- dauernd innervirt, entladen sich in zeitweisen oder selbst anhalten- den Zorn-Explosionen, den eigentlichen Furor-Anfällen, in welchen der Kranke sinnlos tobt und schreit, plan- und ziellos zerstört, ent- weder gar nicht oder nur in der einen widrigen Stimmung percipirt, und erst zur Ruhe kommt, wenn die cerebro-spinale Reflex-Convul- sion sich durch temporäre Erschöpfung abgeglichen bat. Sehr oft genügt der leiseste Anlass zur Wiederholung eines neuen, oft meh- rere Tage und Nächte fortdauernden Anfalls. In ruhigem Stunden

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Furor. „Zorn^-Manieen. „Sexual"-Manieen.

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sind die Kranken düster, einsilbig, gereizt, verschlossen, fuhren Selbstgespräche oder machen abwehrende oder spottende Pantomimen, verbeugen und bekreuzen sich, nehmen sonderbare Stellungen ein, breiten die Arme zum Segnen aus, küssen den Boden, oder sie sammeln in zweckloser Beschäftigung ohne Auswahl, schmieren, besudeln die Wände, bis sie plötzlich wieder rücksichtslos auf die Andern los- gehen, die Thüren zuschmettern, schamlos sich entblössen, in blindem Drange umhereilen, Alles an sich reissen, und in zornigen Schimpf- lauten und verwirrten Monologen (aus welchen sehr oft der von früher her innervirende Affectkern herausklingt) sich expectoriren. Andere dagegen, namentlich weibliche Kranke, führen in pause- loser Geschwätzigkeit ein Gemisch von richtigen und falschen Wahr- nehmungen und namentlich phantastischen Minuten-Conceptionen vor, mit oft rasch ersonnenen erotischen Aufschneidereien uud übertrie- benen Entstellungen, welche die Kranken, wenn ernst ermahnt, sehr oft selbst sofort wieder preisgeben.

Das ist namentlich das Krankheitsbild vieler Sexual manie en mit zu Grunde liegenden Uterinaffectionen, Menstrualstöruugcn, früheren ero- tisch-geschlechtlichen Erlebnissen, Liebesverhältnissen. Oft gehen speci- fische Empfindungen vom Unterleib und den Genitalien, Ovarialschmerz, diesen Furoranfällen voraus. Eine äussere Eigentümlichkeit dieser Se- xualgruppen ist der Drang sich zu entblössen, cynische Geberden zu machen, die Haare zu nesteln, Alles zu bespucken, und ganz besonders die Sucht sich zu beschmutzen, und mit Speisen oder Urin und Koth einzureiben. Die Ideenflucht ist in der Regel eine sehr grosse: Erinne- rungen und Erlebnisse gehen mit richtigen Wahrnehmungen bunt durch- einander, und machen oft den Eindruck einer vollständigen Verworrenheit. Die Associationen sind in der Regel höchst banal und drehen sich mit Vorliebe um fixe, sich ständig wiederholende Gegensätze („schwarz und weiss", „hässlich und schön"), welche aber, genauer betrachtet, nur die Kategoriecn für den innerlichen percipirten Kampf darstellen zwischen „beseligender göttlicher Liebe" und dem „teuflischen Widersacher". Die Kranken identificiren sich mit Christus, mit der Himmelsmutter; ihnen entgegen steht eine höllische Umgebung; die Speisen sind Teufelsessen, die Kleider teuflisch u. s. w. Dabei wildes Toben und Zerstören, wenn auch nicht ohne lucide Momente. Die Furorparoxysmcn schliessen sich oft an die Menstruationstermine an.

Klinisch symptomatologisch betrachtet sind diese soeben geschilder- ten Formen keine reinen Manieen, sondern je nach der Entstehung Manieen mit Wahnsinnselementen untermischt, oder aber direct manische Wahnsinnszustände. Es existiren hier keinerlei feste Grenzen, sondern die fliegendsten Uebergänge. Im Speciellen mischen sich auch die ge- nannten Zustände so vielfach, dass in demselben Krankheitsverlaufe rein- manische und wahnsinnig-manische Formen miteinander abwechseln kön- nen. Es ist hier ein ganz ähnliches Verhältniss wie bei gewissen Varie- täten der Melancholie auf invalider Grundlage (s. d.): hier wie dort stehen

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Specielle Manie.

die bezüglichen klinischen Symptomenbilder in der Mitte zwischen Me- lancholie (Manie) und hallucinatorischem Wahnsinn, beiden zugehörig, aus beiden ihre Elemente entnehmend. Eine tiefere nosologische Betrachtang erkennt in diesem Vorkommen die allgemeine Neigung des invaliden Ge- hirns „in den Wahnsinn zu schillern". Die Besprechung speciell dieser Form des Furor, als einer manischen Abart, geschieht auch nur in Rück- sicht auf die klinischen Fälle, bei welchen die manische Betonung des Symptomenbildes vorwiegt, also a potiori (relative Selbständigkeit der entfesselten psychomotorischen Acte, Vorherrschen der zornmlithigen Stimmung gegenüber der in Folge der leitenden Hallucinationen ka- leidoskopisch wechselnden, im Uebrigen farblosen, des acuten manischen Wahnsinns). Zur Vervollständigung ist übrigens dieser und namentlich auch der primäre Verfolgungs- und Grössenwahn beizuziehen, welch1 letz- terer in seiner manischen Form das Pendant des obigen Bildes, nur mit überwiegendem Wahnsinnscharakter, darstellt.

Der Verlauf dieser Formen ist gewöhnlich ein schwieriger. Die manische Aufregung hat zwar ihre Schwankungen und Remissionen, aber meist nur in kleinen Breiten. Für directe Vorstellungen und Belehrungen (bei der einfachen Manie so eindrucksvoll und wirksam selbst auf der Krankheitshöhe!) bleibt der hier ungleich tiefer ge- störte Kranke unzugänglich; auch gemüthliche Einwirkungen prallen machtlos ab. Die Stimmung ist bald heiter exaltirt, bald düster, einmal jubelnd ausgelassen und muthwillig, dann wieder indifferent und staunend, bald bittend und resignirt, bald ängstlich befangen; vorzugsweise aber bleibt der Grundton vorwurfsvoll und heraus- fordernd — mit scheinbar unmotivirt sich vollziehenden Uebergängen. In der Folge brechen aus dem umdüsterten Bewusstsein erst einige Schlaglichter auf (der Kranke klagt über seine Kopfkrankheit, über Angst, über den bösen Feind, der ihn wttthend mache); aber in der Regel tauchen sie noch in der allgemeinen Verwirrung wieder unter. Häufig werden neuralgische Symptome geklagt. Im Verlauf von Monaten erst stellt sich grössere Ruhe ein; das triebartige motorische Gebahren lässt nach. Manchmal tritt aber jetzt die verwirrte Ideen- flucht erst recht hervor. Auch das Benehmen des Kranken ist lange noch verkehrt (Herumlungern, In-die-Sonne-schauen, Anstarren von Wänden, Theilnahmlosigkeit). Die Stimmung ist dazwischen un- natürlich heiter, muthwillig. Allmählich macht sich aber doch mehr sittlicher Ernst geltend. Der Sinn für natürliche Interessen, für Familie und Heimath erwacht wieder. Der Kranke wird empfäng- licher für edlere Genüsse; auch die Rede wird klarer, jedoch erst nur oberflächlich; sowie man tiefer geht, wirbelt noch der verwirrteste Grund auf, und damit auch die frühere Reizbarkeit, welche immer noch periodische Explosionen setzt (versagter Entlassungswunsch!).

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Furor. Verlauf. Ausgange. Moria.

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In ruhigen Zeiten erzählen jetzt die Kranken von ihrem reichen hallucinatorischen Innenleben während der Krankheitszeit; nicht selten aber decken sie anch den veranlassenden depressiven Affect auf, welcher sieb wie ein rotlier Faden durch die Krankheit hindurchgezogen, die ge- reizte Stimmung unterhalten und die krampfhaften Wuthparoxysmen ver- anlasst hatte.

Die Keconvalescenz muss schrittweise erkämpft werden und zieht sich oft lange hinaus. Die Erinnerung ist entsprechend dem Grad der Bewusstseinsstörung oft nur eine summarische ; viele Kranke wissen nur noch von einer „Unruhe im ganzen Körper" zu erzählen, worüber sie in einen solchen Zorn geratben seien, dass sie sich nur durch Toben zu helfen gewusst hätten. Hebung des Körpergewichts und der Ernährung begleiten dieselbe in gleichem Schritte. Manch- mal setzt sich auch ein Paroxysmus aus mehreren periodischen An- fällen, mit stupidem Intervall (stilles, wortkarges, kleinlautes Wesen), zusammen. Tritt keine Genesung ein, so geht der Zustand ent- weder in 1. zunehmende psychische Schwäche mit zeitweiligen Furor- paroxysnien, sehr oft mit Degenerescenzsymptomen (degenerative Manie); oder 2. in chronische Manie; oder 3. in periodische Manie (s. d.) über, mit anfänglichen Intermissionen, welche aber immer mehr zu Remissionen werden, mit dem Charakter geistiger Schwäche und krankhafter Reizbarkeit oder beigemischten Elementen von Verfol- gungswahn. —

Die Manie auf der Grundlage psychischen Schwach- sinns — die Moria der älteren Autoren zeigt sich bei einer 1. Gruppe von Fällen als das Gemisch von einer modificirten Mania mitis und von Furor. In den psychischen Grundzügen derselben begegnen sich die psychische und motorische Aufregung, der anormale Thätigkeitsdrang und die heitere Verstimmung der erstgenannten Form mit der krankhaften Affectbereitschaft der zweiten: die Indo- lenz des Blödsinns mit der Gemüthsreizbarkeit der Manie. Tolles Gebahren, einfältige aufdringliche Geschwätzigkeit, nicht selten mit der charakteristischen raisonnirenden Disputirsucht ; eine unbesorgte nur in der Minute lebende Nonchalance der Stimmung mit plumpen Spässen und unfläthigen Anspielungen; ein freches, muthwilliges Gebahren mit sinnlosem, schallendem Gelächter oder grinsendem Fratzenschneiden; ein Faseln in platten Redensarten oder in im- provisirten dummen Fragen, welche zugleich als Antwort auf ernste ärztliche Zurechtweisung dienen; dabei keine eigentlich gröberen Ausschreitungen, sogar ein lenksames Wesen, so lange die Wünsche des Kranken erfüllt werden ; auch keine Hallucinationen und Wahn- ideen; dagegen zeitweise vage hypochondrische Klagen mit alberner

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106 Specielle Manie.

Motivirung Das sind die Hauptzüge dieses manischen Blödsinns- zustandes. Die Moria kommt in dieser Form bei imbecillen Indi- viduen als selbstständige Erkrankungsform vor; bei invaliden Ge- hirnen aber erscheint sie als Uebergangsstadium aus der typischen Manie in die Genesung, oder auch als definitiver Endzustand eines durch wiederholte manische Eingriffe bankerott gewordenen Gehirn- lebens. Die relative, oft sogar beträchtliche Verstandesschonung, namentlich im Beginn, bringt die Kranken nicht selten in Conflicte mit dem Strafgesetz. Der Verlauf kann ein recht langwieriger sein, insofern die ausserordentlich erregbaren und geistig schwachen Pa- tienten überall mit der Wirklichkeit in Collision kommen, welche sie jeweils durch manische Rückfälle büssen.

In einer anderen 2. Gruppe von Fällen erhält das klinische Bild der Moria eine Beimischung von expansivem (fixem) Wahn nament- lich Christuswahn und ebenso auch von zahlreichen Illusionen und Hallucinationen, besonders des Gehörs und Gesichts. Die Krankheit be- ginnt in der Regel brÜ9k, ohne auffällige Vorläufer, als eine allgemeine psychische Aufregung mit perversen oder frivolen Streichen (unbefugtes Zusammenläuteu von Kirchenglocken, Störung des Gottesdienstes oder der öffentlichen Ordnung durch phantastische Kleidung und faschings- gemässes tolles Gebahren), wobei ein leidlicher Grad von Besonnenheit noch vorhanden, oder durch die Force majeure (Einschreiten gegen den Kranken) aufgerufen werden kann. Die Stimmung vergleicht sich am nächsten einer montirten Weinlaune, das Bewusstsein dem Niveau eines Halbbetrunkenen. In der Folge wächst die Verwirrung und die bis zur Uebermacht andringende Fülle und Macht der Sinnestäuschungen, während das Bewusstsein sich traumartig verdunkelt und das Handeln des Krau- ken in ein entfesseltes Spiel reflectorischer Acte bis zum Zerstören, Zer- reissen und ziellos gewaltthätigem Gebahren theils spontan, theils durch Hallucinationen und illusorische Verkennungen geleitet sich auflöst. Stellt die vorige Form der Moria im Bild und im Verlauf ein Mixtum von Mania mitis (auf schwachsinniger Grundlage) mit dem Furor dar, so diese ein Gemisch von Mania mitis (resp. Moria) mit Mania gravis. In der That wechselt der weitere Decursus episodisch zwischen den beiden genannten Zustandsformen, und richtet sich namentlich im Endschicksal nach dem Grad der intercurrenten Mania gravis- Anfälle. Ausnahmslos ist der Verlauf ein länger dauernder, nie unter mehreren Monaten. In günstigen Fällen tritt der Kranke „genesen", ja manchmal viel cultivirter aus seinem Anfall freilich in der Regel auch mit dem aufgefrischten Patent auf Recidive. Aus den höheren und längeren Aufregungszustän- den wird stets eine wesentliche Zunahme der Imbecillität in die „Gene- sung" mit hinübergenommen.

Die Mania gravis.

Die unter der Eingangsdefinition hier untergebrachten Krank- heitsbilder entsprechen in ihrer Mannigfaltigkeit zweifellos auch der

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Moria. Mania gravis.

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verschiedensten pathologisch -anatomischen Grundlage. Ein Theil a) derselben ist wohl noch „functioneller Natur", wenn auch auf Grundlage einer tiefen Ernährungsstörung des Gehirns mit Ausgang in dauernde Functionsschwäche (Blödsinn) ; die andere b) dürfte da- gegen sicher auf organischen Hirnreizzuständen beruhen, welche als Uebergänge zu den palpabeln, subacuten und chronischen Meningeal- nnd Cerebralaffectionen aufzufassen sind. Die Krankheitsgruppe der Mania gravis bezeichnet somit auf unserem heutigen Standpunkte noch einen weiten klinischen Sammelnamen.

Typus a. Die Prodromi dieser Gruppe bestehen in einem gemischten Zustande von vager Depression und Verwirrtheit, unruhig aufgeregtem Wesen mit planlosem Thätigkeitsdrang, abwechselnd mit hypochondrischen oder melancholischen Anwandlungen auf Grundlage einer primären tiefen Bewusstseinsstörung. Der Ausbruch der eigent- lichen Krankheit erfolgt in raschem Anstieg durch Steigerung der motorischen Unruhe, manchmal in Form eines brutalen Gewaltactes gegen die Umgebung. Jetzt bleibt ein wildes Toben mit blindem, sinnlosem Zerstörungsdrang neben anhaltender Betäubtheit. Der Kranke beginnt zu faseln oder geht auf in triebartig motorischem Gebahren, worin er unwählerisch im Schmutze wühlt, die Wände abreibt, sich besudelt etc.

Von der Umgebung wird entweder Nichts wahrgenommen, keine Frage beantwortet, oder aber Alles verkehrt, in beständig wechseln- den Illusionen ; der Kranke lebt nur in der Minute ; er zerstört, zer- reisst, zerzupft, verspielt sich mit den Fetzchen unter blödem Lachen, oder mit der affectlosen Erwiderung: es seien Gold und Kostbar- keiten. Er lebt ausser Raum und Zeit; er ist 1000 Jahre alt, und doch in der nächsten Minute wieder er selbst; jetzt König, gleich darauf wieder Bauer, er fühlt weder den Sinn der einen noch der andern Aussage, er redet, wie man ihn stimmt. Mit der gemüth- lichen Indolenz wechselt eine zeitweilige höchstgradige Reizbarkeit ab, so zwar, dass der Kranke wegen einer Lappalie, wegen eines Angriffs auf seine Lumpen und Läppchen, auf die Steine, womit er seine Taschen vollpfropft u. 8. w., in brutalste Gewaltthätigkeit Ubergehen kann, um gleich nachher wieder in die alte Gleichgültig- keit zurückzufallen. Jede neu begegnende Person ist verwandt mit ihm; junge Leute begrüsst er als Vater und Grossvater; jeder Aus- spruch ist Augenblicksconception auf der Grundlage unbesinniicher Schwäche. In seinen faselnden Monologen schwatzt der Kranke von „eingehauchter Gotteskraft", von fabelhaftem Reichthum (drei Tril- lionen); dazwischen auch wieder von den Hexen und Teufeln, die

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Specielle Manie.

ihn plagen, die er sammt den „Räubern und Mördern" erlösen muss. Die Sprache wird nicht selten unbeholfen und mühsam, jedoch ohne eigentlich paralytischen Charakter. Die schon von Anfang an ge- sunkene Ernährung leidet immer mehr Noth theils durch das un- genügende Essen, theils durch das heisshungerige Verschlingen unter eigener Zuthat von allerlei schmutzigen und unverdaulichen Ingre- dienzen. Die Körpertemperatur sinkt auf subnormale Nummern (8. Allg.). So dämmert der Kranke durch Monate dahin, ganz nur in seinen Faseleien, einem wirren, durch melancholische und Grössen- wahnsfragmente vermischten Vorstellungsleben befangen, welchem jedoch auch lucidere Momente nicht fehlen. Andere Kranke wieder sprechen Monate lang gar nicht, äussern nur spontan ein unarticu- lirtes Lachen oder stupides Heulen und arbeiten Tag und Nacht ruhelos in ihrem sinnlosen Bewegungs- resp. Zerstörungstrieb weiter. Sie genUgen sich , wenn sie nur immer für ihre Geschäftigkeit ein geeignetes Object finden. Wieder Andere dagegen gerathen in ein ganz verkehrtes Gebahren: sie machen mitten aus ihrer Lethargie heraus sonderbare Sprünge, nehmen eigentümliche Stellungen ein, sehen in die offene Sonne, kleiden sich ganz barock etc. In der Stimmung verbleibt gewöhnlich als Grundzug die heitere Indolenz mit Interesselosigkeit für alle frühem Beziehungen, welche nicht mehr für den Kranken existiren. Zeitweise kann die Stimmung auch von stupider ausgelassener Heiterkeit bis zum dumpfen Trotze wechseln. Nicht selten laufen Anfälle von blinder Gewaltthätigkeit unter, oder auch Phasen von Singen oder lautem Peroriren durch Tage und Nächte hindurch.

Der gewöhnliche Verlauf (acuter, letaler Verlauf 8. u.) ist ein sub- acuter oder chronischer: 1. in Heilung mit Defect (mehr minder ausge- sprochener Schwachsinn mit Reizbarkeit); 2. in apathischen Blödsinn. In beiden Fällen hebt sich die Körperernährung; bei ungünstigem Aus- gang manchmal unter überstürzt rapider Fettbildung (in 4 Monaten 46 Pfd. bei einem Falle meiner Beobachtung). Aber auch vollständige Genesung ist nicht selten. Ich sah sie a) nach einem sehr ausgedehnten Schwächenachstadium mit depressiver gereizter Verstimmung, Verkennen der Personen, Illusionen des Geschmackssinnes, Angstanfällen, andauern- dem heftigem Kopfweh mit zeitweiliger Stupidität nach Monatsfrist erfolgen. Andremale /*) ist das Uebergangsstadium zur Genesung durch einen einfachen hochgradigen Blödsinn gekennzeichnet, mit Interesselosig- keit gegen Alles, ausser der krankhaft gesteigerten Bssgier: die Kranken lungern Tage lang auf den Bänken herum, lachen höchstens in alberner Weise vor sich hin, oder vociferiren Unsinniges; doch taucht darunter bald auch manches beachtenswerthe Fragment aus der ursächlichen Krank- heitsanamnese auf. Ein dritter y) Verlaufsmodus geht durch das Zwi- schenstadium von Moria in die Reconvaleacenz über. Hier bleibt nach

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Mania gravis. Krankheitsbild. Verlauf.

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Abklingen der Manie unter zunehmender Lucidität noch wochen- lang ein manischer Uebermuth mit der charakteristischen grossen Reiz- barkeit, Ignoriren des Decorum und sehr oft einem kindisch sich ver- spielenden Sammeltrieb.

Interessant ist speciell bei diesen manischen Unterarten die vorüber- gehende Coupirung des sinnlosen motorischen Gebahrens durch Hyoscyamin und die manchmal etappenweise (mit jeder neuen Gabe) sichtbare Be- schleunigung der Reconvalescenz.

Typus b. Die Einleitung zu dieser Gruppe (der wirklichen Hirnreizzustände) besteht in einem zerstreuten Wesen mit zunehmen- der Vergesslichkeit und Ungeschicklichkeit in den geläufigsten Tages- geschäften, und einer zwischen Heiterkeit, Gedrücktheit, Indolenz motivlos abwechselnden Stimmung. Manchmal, besonders anf alko- bolistischer Grundlage, können diese Prodromi auch fehlen und die Manie fast plötzlich mit voller Stärke ausbrechen. Die manische Er- regung selbst kann 1 . vornehmlich das Vorstellungsorgan betreffen und mit einem Uberhitzteu verworrenen Gefasel von allerlei Grössenwahn- tragmenten („Millionen und Milliarden", „Himmelskönigin", Überall „Gold und Götter" u. s. w.) einsetzen, welche in jagendem Tempo, dabei in tausendfacher Combination und mit einer duseligen Glück- seligkeit recitirt werden. Mit den abrupten Grössenwabn - Delirien wechseln in jähem Uebergang solche der Kleinheit, wobei die Kran- ken schmerzerregt weinen und heulen, manchmal in kindischem Jargon vociferiren. Gewöhnlich wechseln megalomane und mikro- mane Stunden und Tage unregelmässig ab. Dabei besteht eine Ver- worrenheit grössten Styls. Keine Spur irgend eines durchziehenden Vorstellungskerns; dagegen jagen Einfälle aller Art, oberflächliche Assonanzen, oft in abgehetzten Reimen, Illusionen, wirkliche und erdichtete Worte, daneben aber auch richtige Perceptionen , bunt durcheinander. Begleitend gebt mit eine ebenso fragmentare, in allen Registern spielende Stimmung, und ein sinn- und planloser Tätig- keitsdrang, oft mit Raptus von Gewaltthätigkeit. Der Puls ist zeit- weise sehr frequent, die Temperatur sehr häufig bis 39", selbst darüber, erhöht. Die Ernährung sinkt. Motorische Störungen fehlen oft dauernd; keine Ataxie, keine Sprachstörung, nur hin und wieder Myosis. Im Verlauf von Monaten und unter Remissionen bildet sich eine immer ruhigere psychische Schwäche aus, mit Erhaltung von gewissen automatischen Bewegungen (Sammeln, Reiben, Zerzupfen). Psychisch hat diese Störungsform eine gewisse Aehnlichkeit mit den luitialzuständen der Paralyse, von welcher sie sich nur durch den Mangel der charakteristischen Motilitätsstörungen unterscheidet (manch- mal können übrigens die letzteren auch noch nachrücken!). Eine

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Spccielle Manie.

andere klinische Gruppe 2. ist charakterisirt durch ihren vorwiegend deliranten Charakter mit massenhaften Hallucinationen aller Sinne. Diese beginnt in der Regel acut (nach kurzen Vorläufern von Zer- streutheit, morosem Wesen und Schlaflosigkeit) mit hallucinatorischer Verwirrung und heftiger Aufregung und wiederum zeitweiligen Re- missionen. Das Anfangsbild kann dadurch einen ausgesprochen re- mittirenden Charakter, selbst mit tauschend luciden Intervallen, an- nehmen. Die Aufregung selbst schwankt zwischen depressiv ängst- lichen und exaltirten Phasen, der delirante Inhalt zwischen Vorstellungen der Grösse, Verfolgung (Giftwahn) und Selbstbeschuldigung; nicht selten auch der körperlichen Metamorphose (die Kranken haben einen andern Kopf, vertauschte Körper, haben sogar mehrere Körper in sich u. s. w.). Die Krankheit nimmt nun symptomatologisch einen wechselvollen Verlauf, dessen gesetzlos sich combinirende psychische Zustandsformen vornehmlich durch diese Regellosigkeit der Aufein- anderfolge auf einen palpabeln organischen Hirnprocess hinweisen (s. Cerebropathieen). Manische Exaltationen unter dem Bilde des Furors (mit convulsiver Reizbarkeit, schreckhaften dämonomanischen oder Verfolgungs - Hallucinationen) wechseln mit leichtern Formen psychomotorischer Aufregung, oder andererseits mit zeitweiligen Stei- gerungen bis in die perniciösen Reizzustände des Delirium acutum. Das motorische System betheiligt sich bald durch fluchtige, grob motorische Störungen (grimassirende Mimik, fibrilläre Zuckungen, unharmonische, durch verstärkte Action der Antagonisten oder ein- zelner Synergisten gestörte Bewegungen, Verdrehen und Aufwärts- rollen der Augen u. s. w.). Dabei vollständige Incohärenz der Vor- stellungen, welche oft nur noch in hervorgestossenen vereinzelten Worten oder Wortfragmenten sich kund geben.

So tritt nicht selten schon nach kurzem Verlauf der Exitus letalis ein unter Starrwerden der Züge, rapidem Zerfall des Gesichtsausdrucks (Leichenphysiognomie), kleinem und sehr frequentem Pulse, Parese der Schlingmusculatur, muldenförmigem Einsinken des Unterleibs, versatiler Unruhe, unartikulirtem Schreien mit Gaumenton, Erweiterung der Pu- pillen, zeitweiligem Trismus, abwechselnd mit Parese (bei der Section Trübung und Oedem der weichen Häute mit partieller Verlöthung mit der Corticalis). In andern Fällen erfolgt der Tod unter zunehmendem Sopor, faselndem Delirium mit vereinzelten halbluciden Momenten, un- ruhigem Herumwälzen im Bette, abwechselnd mit Prostration, rascher Erhöhung der Temperatur (40 .4) und enormer Respirations- (60) und Pulsbeschleunigung (ICO— ISO). Glücklicherweise wird in der Regel diese Höhe des Hirnreizes nicht erreicht, und ist nach einigen Tagen die drohende Katastrophe überwunden.

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Mania gravis. Ausgänge.

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Manchmal tritt jetzt ein zeitweiliger scharf eingehaltener Typus zwischen Tagen von starker manischer Aufregung und wiederum relativer Ruhe ein. In den Remissionen, welche ganz unvermittelt sich einstellen, macht sich eine Schwäche -Erregtheit geltend mit vielen Wünschen, Redseligkeit, Plänemacherei. In den Exacerba- tionen rückt eine traumartige Bewusstseinsverdunkelung ein mit Hallu- cinationen sämmtlicber Sinne, GrÖssenwahndclirien (Gott, Kaiser), furorartigen Ausbrüchen gegen die illusorisch verkannte Umgebung, heftigem Zerstörungsdrang, und oft unbändiger sexueller Erregung (Onanie). Der Steigerung der Eigenwärme (bis 39°) ist oben schon gedacht worden. Nach und nach, unter stetem Wechsel von grad- weise stärkeren und schwächeren manischen Paroxysmen und Fort- dauer der Uallucinationen, greift eine zunehmende psychische Schwäche durch, in welcher die Halluzinationen einen immer mehr imperativen Charakter erhalten, oft in Vogel- und Menschenstimmen reden, höhnen und necken, alle Ungereimtheiten zumuthen und zu heftigen tobsüch- tigen Reactionen vorübergehend antreiben. Zu den Täuschungen der höheren Sinne können sich auch noch Allegorisirungen aus spinalen Hyperästhesieen aller Art gesellen (elektrischer Verfolgungswahn). All mählich wächst der geistige Verfall; der Kranke wird ruhiger, aber ganz dämmerhaft in seinem Bewusstsein, welches jetzt von zerfahrenen Wahnvorstellungen der Grösse und der Verfolgung (Fürstenrang Jesuitenvcrfolgung elektrischen Quälereien u. s. w.) ganz systemlos angefüllt wird. Der Kranke bietet an ruhigen Tagen das Bild einer hallucinatorischcn Verworrenheit mit einzelnen noch erhaltenen Resten früherer Associationen; er kramt affectlos seine zerfahrenen Vor- stellungen in endlosen confusen Schreibereien aus; an unruhigen Tagen stellt er eine Art Marionette dar, an deren Fäden nach allen Seiten gezogen wird (choreatische Verzerrungen des Gesichts und der Glieder, dazwischen allerlei Zwangsstellungen und automatische Bewegungen) bei tiefer Bewusstseinsstörung. Die geistige Schwäche wird immer grösser und führt progressiv oft unter alternirendem Wechsel von manischen und apathischen Tagen in unheilbaren Blödsinn, wobei noch auf Jahre hinaus Remissionen und Exacerbationen, letztere mit dem krampfhaft motorischen Automatenspiel, erhalten bleiben können. --In andern Fällen geht die hallucinatorische Mania gravis nach monatelanger Dauer in eine galoppirendc Paralyse über (s. d.).

Sämmtlichen Formen der Mania gravis droht und zwar in allen Verlaufsstadien der mögliche Ausgang in letale Erschöpfung als Folge der motorischen Ruhelosigkeit und der neurogenen Ernährungsstörung. Es ist entweder der directe „llirntod", oder der irreparable „Banquerott aus dem mit vollen Händen Zins und Capital gleich ausgebenden Wärme-

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Specielle Manie.

verlust" (Zenker), welcher den magern, blutarmen, motorisch abgehetz- ten Kranken der definitiven Ruhe (innerhalb 5 15 Monaten) entgegen- führt. Nicht so selten wird auch der Umweg durch eine extracerebrale Erkrankung, mit Vorliebe eine Pneumonie, beschritten.

Die chronische Manie kann sich aus jeder der vorbeschrie- benen klinischen Hauptformen entwickeln, jedoch nur auf Grundlage bestimmter ätiologischer resp. cerebraler Bedingungen.

So tritt die Mania mitis nur bei circulären Seelenstörungen in chro- nischer Form auf; als solche kann sie über Jahresfrist währen, bis die alternirende melancholische Phase oder das Intervall eintritt. Die Mania gravis wird auf der Grundlage starker erblicher Belastung und nament- lich nach mehrmaligen Recidiven chronisch, und geht dann in die dege- nerative Manie (s. d.) Uber.

Auch die furiose Manie kann sich, wenn auch mit Ruhe-(Er-

8chöpfungs-)Pausen bei tief anämischer Constitution und namentlich

auf phthisischer Grundlage Jahre lang hinausziehen.

Die Entfesselung der Triebe, der Bewegungs- und Rededrang spielen sich fort; zugleich greift eine immer umfänglichere Verkennung der Um- gebung — je nacli zufälligen Einschlägen der regellosen Ideenassociation Uberhand, meistens auch ein fackelnder GrÖssenwahn, welcher bald in diesem, bald in jenem Einfall sein vorübergehendes Genüge findet. Darunter zieht sich eine beharrlich gereizte Stimmung hin, welche bei jeder leisesten Entgegnung, ja selbst bei einer zufälligen unangenehmen Reproduction sofort in einem Zornparoxysmus, oft von tagelanger Dauer, sich entlädt, den Kranken nie zur Ruhe kommen lässt und so nicht selten rasch dem Blödsinn zuführt.

Auch die typische Manie hat ihre chronische Verlaufs-Varietät. Die individuellen Momente, welche die Abweichung der cerebralen Hyperästhesie lange nicht gestatten und dadurch den Verlauf hinaus- ziehen, sind theils lebhafte, immer wieder exaeerbirende psychische oder somatische Neuralgieen (emotive Erinnerungen), theils wiederum tiefe Constitutions-Anomalieen, namentlich hartnäckige Anämieen mit Ernährungsstörungen, sexueller Abusus; bei Frauen profuse Menses.

Das Krankheitsbild schliesst sich ganz an das der typischen Manie an, deren protrahirten Verlauf es darstellt. Die Kranken bleiben Uber Jahresfrist in der psychomotorischen Erregung, in der Vorstellungsflucht, in dem in allen Registern spielenden Stimmungswechsel. Dabei prägt sich in der Entartung (tiefer stehenden Qualität) der psychischen Einzel- symptome die zunehmende Schwere der Hirnaffection aus. Die Vorstel- lungsflucht wird zur ungeordneten Verworrenheit, die früher formvollen („gewollten") Bewegungen erhalten den Charakter des Zwangsmädsigen, Stossweisen, Automatischen; die Perception der Umgebung wird immer unklarer und gefälschter, das Bewusstsein benommener und betäubter, ohne vorübergehende Erholung zur Besonnenheit (Unterschied von der „degenerativen Manie" s. Str., wo gerade die Lucidität des Bewußtseins

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Chronische Manie. Klinische Formen. Verlauf. Ausgänge. 113

neben dem krankhaft erregten Triebleben charakteristisch ist). Das ganze Benehmen, alle Aeusserungen der Lust und Unlust erhalten etwas Brutales (rohes Lachen), welches sich auch in den Gesichtszügen dauernd wiederspiegelt. Endlich geräth der Kranke in einen eingewohnten Tages- lauf, in welchem sich dieselben Vociferationen und Schreie, dieselben Gesti- culationen, dieselben Verkennungen der Umgebung stets wiederholen. Die Stimmung ist, entsprechend den ungeordneten und keiner äussern Cor- rectnr zugängigen Einfällen, eine höchst wandelbare, oft kindisch heitere oder gereizte; oft erotische. Das ganze Krankheitsbild enthält eine Bei- mischung von blödsinniger Schwäche zu den manischen Symptomen. Der Sinn für das Decorum geht verloren, der Kranke entblösst sich rücksichtslos; er geht in schmutzigen und zerrissenen Klei- dern einher; Ansprachen beantwortet er nicht, oder mit Tritten und Stössen; er rafft zusammen, was er bekommt, namentlich Essgegenstände, verschlingt dazwischen auch Ungeniessbares, verfällt in zunehmende Un- redlichkeit, salbt sich mit Urin, Stuhlgang, Oel, Tinte u. s. w. ein (viel- leicht gegen anästhetische Gefühle einzelne Kranke wenigstens ver- langen oft stärkende Dinge, weil sie sonst „Simpel" würden). Ohne erkennbare Ursachen, ohne bestimmten periodischen Verlauf, stellen sich in der Folge wieder Paroxysmen von triebartiger Heftigkeit ein, in wel- chen die Kranken sich wild umherwerfen, speien, treten, massenhaft ausspucken, zerreissen, wilde Brülltöne ausstossen. Dazwischen schieben sich auch mildere Grade von Aufregung mit mehr Moria-ähnlichem Cha- rakter und allerlei, oft choreiformen, GesticuUtionen. Zu andern Zeiten wechseln manische stupide Phasen ab, wobei der umherlungernde Kranke in dem steten Auf- und Zuknöpfen der Kleider, im stundenlangen Reiben des Gesichts und der Hände, in seinen pauselosen Monologen aus den verworrensten, durch wechselvolle unklare Affecte zusammengewürfelten Vorstellungen immer noch die Elemente der „Manie" im Blödsinn her- vortreten lässt. In einer andern klinischen Varietät nimmt die sich protrabirende typische Manie den Charakter des aufgeregten Wahn- sinns an; es mischen sich immer mehr Sinnestäuschungen, und zwar mit zunehmend imperativem Charakter, ein; der Kranke füllt sich mit einem religiösen oder politischen Grössenwahn an und tritt demgemass gebieterisch oder herausfordernd auf; er ist der vortrefflichste Mensch der Welt. Christus u. s. w. Manchmal kommen diese wahnsinnigen Exal- tationsphasen nur episodisch (zugleich mit Congestivzuständen zum Kopf j, und werden in den freieren Zeiten nach Seite ihrer megalomanen Ueber- schreitungen vom Kranken selbst in ärgerlicher Weise corrigirt („er wisse gar nicht, wie dieses Zeug ihm immer wieder in den Kopf komme"); in der Zwischenzeit bleibt eine unmotivirt wechselnde, in ihren Grundzügen anspruchsvolle und höchst reizbare, disputirsttchtige Stimmung (Unterschied von der „remittirenden Manie", wo die Intervalle ruhig, eher apathisch und täuschend lucid sind).

In günstig verlaufenden Fällen tritt oft nach endlosen Paroxysmen nach und nach Abspannung ein. Der Kranke wird weniger reizbar, lenk- samer, die nächtliche Unruhe seltener; es wird Reinlichkeit beachtet. Körperlich hat sich vor dieser beginnenden Erholung die mit den Paro- xysmen bis dabin schwankende Körperernährung endlich definitiv ge-

Bcbflle. OeUtoekrukheiten. S. Aufl. b

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Die psychischen Schw&chezustande.

hoben und nimmt täglich zu, oft unter einem wahren Wolfshunger des Patienten. Die Züge werden geistiger. Ab und zu tauchen gemüthlichere Kegungen, natürliche Interessen, Krankheitsbewusstsein auf.

Die Reconvalescenz ist in der Regel durch immer wieder aufflackernde psychische Reizbarkeit und Empfindlichkeit eine schwierige, und erkämpft ihre Fortschritte immer erst unter recidiven, wenn auch abklingenden, Nachschüben. Aber allmählich wird doch die volle Genesung erzielt, während gleichzeitig die Backen rund und frisch geworden sind. In- teressant ist, wie oftmals jetzt bei der Selbstrecapitulation des Kranken die Affectkerne sich aufdecken , welche durch den ganzen Krankheits- verlauf (oft durch Neuralgieen gestützt) andauerten, und die falschen Per- ceptionen und die krankhaft gereizte Stimmung bedingten. Eine volle Genesung kann noch nach anderthalbjähriger Dauer eintreten.

Die psychischen Schwächezustände.

Literatur. Kraepelin, Arch. f. Psych. 13. Weiss, Compend. d. Wiener med. Wochenschr. 16S3. Forense Beurtheilung s. K rafft- Ebing etc. Jastro- w i tz, Allg. Zeitschr. f. Psych. 39.

Jede Psychose, auch die des rüstigen Gehirns, hat eine geistig niederziehende Kraft. In dem Gemtithszwang der Melancholie, wel- cher zur Hemmung des Denkens und zur Willenlosigkeit führt, wie nicht minder in der schrankenlosen psychischen Entfesselung der Manie liegt ein den Bestand des Seelenlebens schwer gefährdendes Moment. Glücklicherweise ist in der Mehrzahl der frischen nnd ersten Erkrankungen die grundliegende nervöse Störung eine (wenig- stens in Grenzen) herstellbare. Sehr leicht kann aber bei invalider Hirnanlage, oder bei häufiger Wiederholung, oder auch durch un- günstige Umstände aus der Umgebung die Schädigung zu einer irre- parabeln werden; so folgt eine dauernde Invalidität oder auch Ver- nichtung des geistigen Hirnorgans als der natürliche Ausgang. Wir sprechen dann im Allgemeinen von geistiger Schwäche.

Praktisch ist diese generelle Bezeichnung ein Sammelname für eine reiche Mannigfaltigkeit an klinischen Symptomenbildern. Es gibt nämlich eine jede der psychischen Primärformen ihrem nach- folgenden Schwächezustand eine gewisse specifische Färbung mit, so dass die verschiedenen Blödsinns-Arten mehr weniger beigemischte Schattirungen bewahren, welche an den einstigen Ausgang und ur- sprünglichen Krankheitstypus erinnern. Erst die vorgeschrittenen Grade der geistigen Schwäche bringen eine Art Nivellirung zu

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Allgemeines. Psycholog. Analyse der „psychischen Schwäche". 115

Stande, aber in sehr vielen Fällen nicht ganz. So behalten die ätiologischen Untergruppen der masturbatorischen Melancholie und des sexuellen Verfolgungswahnes immer noch einige bestimmte Nuancirungen ; der Blödsinn aus hysterischer, hypochondrischer, epileptischer Anlage ist eigenartig gefärbt; der paralytische, kata- tone, stupuröse Blödsinn sind in gleicher Weise ebenso von einander verschieden, als wiederum in gewissen ZUgen übereinstimmend. Für die beiden letzten Formen kommt auch noch die weitere und wichtige Unterscheidung hinzu, dass hier der Blödsinn nicht immer nur das Endstadium, sondern sehr oft nur Durch gangsphase im Gesammt- verlaufe bildet.

Gleichwohl lässt diese grosse klinische Mannigfaltigkeit der Typen und Formen den alle vereinigenden symptomatologischen Charakter nicht übersehen. Dieser liegt in dem Zeichencomplex, den wir eben unter „psychischer Schwäche" im Allgemeinen zusammenfassen. Dessen psychologische Umschreibung und Analyse ist deshalb an erster Stelle hier zu geben. In dieses Schema werden sich dann zunächst die melancholischen und manischen Schwächezustände in ihren erfahrungsgemäss häufigsten Typen einzuordnen haben, als Unterform en.

Die psychische Schwäche ist aber nicht nur eine erwor- bene, sondern in unendlich vielen Fällen auch eine angeborene (Idiotismus), und, wenn erworben, nicht immer nur ein Folgezustand vorausgegangener Psychopath ieen. Auch körperliche Krankheiten, acute Infectionen in erster Linie, schwächende Einflüsse durch Ex- cesse, Constitution -Anomalieen, können oft genug dieselbe direct erzeugen.

Analyse der geistigen Schwäche. Man bezeichnet mit diesem Namen die unendlich mannigfaltige Stufenleiter in der geistigen Leistungs- fähigkeit nach abwärts (vom Normalmenschen bis zum Idioten), welche als gemeinsames Merkmal eine Verminderung des geistigen Könnens herab bis zum gänzlichen Ausfall resp. Stillstand der psychischen Func- tionen, einzelner oder aller, aufweist (der Idiotismus seibat bildet wieder eine eigene Form und Mischung, s. d.). Diese Verminderung oder Hem- mung kann in zweifacher Weise zustande kommen: 1. durch gradweise Unthätigkeit Trägheit in den psychischen Functionen; oder 2. durch abnorm gesteigerte Reizbarkeit der letzteren, als überstürzte Perception und Reproduction, vorschnelle und schwankende Gefühlsbetonung, unfer- tige und dadnrch gefälschte Apperception.

Beide Formen der „anergetischen" und „erethischen" geistigen Schwäche, des „torpiden" und „reizbaren" Schwachsinns, werden uns später bei der Betrachtung der Moral insanity (nur von einer anderen Seite aufgefasst) wieder begegnen. Sind es dort, im Gebiete des aitt-

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Die psychischen Schwächezustände.

liehen Schwachsinns, die beiden gegensätzlichen Typen des moralischen Idioten und des Ubererregbaren sinnlichen Affect menschen , so tritt uns hier, beim intellectuellen Schwachsinne, einerseits der Typus der passiven Dummheit entgegen mit ihrem selbst für die Götter übermächtigen Wider- stand und unbesiegbaren Phlegma, und andererseits die bornirte Schwach- köpfigkeit mit ihrem oberflächlichen und abspringenden, stets unfertigen, bald kindisch albernen, bald charakterlos wandelbaren Wesen.

1. Der torpide Schwachsinn die anerge tisch e geistige Schwäche. Die einfachste Form ist die der allgemeinen geistigen Ab- stumpfung resp. Torpidität auf allen Gebieten, a) intellectueil: Wahr- nehmungen von aussen erfolgen gar nicht (niederste Stufe), oder in mehr minder beschränktem Grade. Dieselben werden aufgenommen, gehen auch Associationen ein, werden aber nicht oder nur spärlich resp. unzureichend zu höheren Reihenbildungen verdichtet. Dadurch entsteht eine Armuth, unter Umständen ein gänzliches Fehlen der Begriffe, der „Ideen". Das höhere Denken vermag sich in der Regel nur bis zum praktischen Uti- litätsstandpunkt zu erheben. Ideen von allgemeinerem Umfang werden nicht gebildet. Wo sie vorhanden sind, sind sie angelernt, oder aus früheren Tagen geistiger Activität noch geblieben, aber mehr nur noch als trockene, angehängte Schemata. Viele Wahrnehmungen, welche nicht unmittelbar praktisches (resp. sinnliches) Interesse haben, gehen ver- loren. Daraus entsteht eine stets mangelhafte, oft ungetreue, Reproduc- tion, das geistige Interesse, die „active" Apperception , fehlt ganz, oder ist nur auf möglichst starke und häufig wiederkehrende oder sinnlich an- sprechende Wahrnehmungen gerichtet. Dadurch wird das gesammte Denken monoton, und so einseitig, dass der Vorstellungsinhalt eines jeden Schwach- sinnigen wieder eine speeifische Welt für sich ausmacht. Durch die Schwäche der Associationen und das Fehlen höherer „verdichteter" Be- griffe bleiben auch widersprechende Vorstellungen haften, welche aus dem- selben Mangel auch subjectiv geduldet bleiben. Die Kritik fehlt. Alle intellectuellen Operationen vollziehen sich schwierig und langsam. Daher auch der geringe Grad von geistiger Productivität bis herab zur abso- luten Sterilität, bei entsprechendem Tiefstand des Interesses. b) ge- muthlich: dieselbe Torpidität der Gefühle. Höhere Gefühle werden nicht ausgebildet. Das Mitgefühl für Andere (das „Mitleid") ist dem entsprechend defect, oder fehlt ganz. Um so entschiedener rücken die egoistischen Gefühle und Strebungen in den Mittelpunkt, und diese wieder nur nach der Kategorie des sinnlich Angenehmen oder Unangenehmen. Wie die Gefühle aber einerseits schwer erregbar sind und oberflächlich bleiben, so haften sie auch nur, wenn sie das niedere Interesse des Subjects berühren ; dann aber zähe. Bei dem Fehlen zügelnder höherer Vorstellungen ist die Emotivität theil weise eine sehr grosse, jäh aufbrausende; der Affect übermächtig. In tieferen Graden des Blödsinns fehlen aber auch diese, und das Gemüth bleibt gegensatzlos in der Ruhe des Kirchhofs. c) psy- chomotorisch: primitives Handeln ohne Weitblick, ohne Uebersicht der Folgen und somit ohne genügende Zielbewusstheit. Es kann ein Zweck da sein, aber dieser ist nur auf die niedrigsten Normen, entsprechend dem Stand des Vorstellungs- und Gemüthslebens, eingestellt. In diesem be- scheidenen Kreis kann sogar die Auswahl der Mittel eine bis zu gewissen

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Psychologische Analyse der „psychischen Schwäche". 117

Graden schlaue und berechnete sein: scharfsinnige Bornirtheit, „Dumm- Pfiffigkeit/' Bei emotiver Anlage ist das Handeln ungehemmt triebartig, überstürzend impulsiv. Nach beiden Seiten mangelt demselben grad- weise — die Selbstbestimmung«- und Dispositionsfähigkeit.

2. Der reizbare Schwachsinn (psychische Schwäche mit ge- steigerter Erregbarkeit). Ist psychologisch der Gegensatz der vorigen Form, im thatsächlichen Endeflect aber das Analogon. Die Apperception ist hier unstät, fackelig, umherirrend ; der raschen Auffassung entspricht keine klare und ruhige Verarbeitung. Wohl erfolgt auch A6sociations- bildung der Vorstellungen, aber Ubereilt oberflächlich, nach nur zufälligen Merkmalen. Daher ist die logische Weiterbildung seicht, vorschnell, oft falsch; die sich bildenden Begriffe sind entsprechend unklar, ungeordnet, confus. Der endliche Bewusstseinsinbalt, bei der vorigen Form beschränkt, ist hier ungleich breiter, aber nicht genügend vertieft, und nicht nach dem innern Werthe der Vorstellungen abgestuft. Es bildet sich kein logischer Aufbau, keine Hegemonie unter den Vorstellungen. Da sich ferner bei der Rasch he it des Anbildens (in Folge der unruhigen Aufmerksamkeit) Gleichartiges und Verschiedenes zusammengliedert, so werden die Schluss- bildungen unsicher und incorrect, ja oft direct gefälscht. Auch hier re- sultiren im Bewusstseinsinnern nach und nach Widersprüche, welche aber bei der unsichern Kritik denn Nichts ist fest und dauernd, Alles vielmehr in steter Umbildung und Zersetzung geduldet werden. Trotz alles prunkenden Flitters ist ein solches Wissen arm, unverwendbar, steril. In Folge des inneren Schwankens wird das Ich, als Träger der höchsten Vorstellungsgruppe, selbst schwankend und häufig rathlos. Der Drang sich zu erhalten uud zu stützen führt zu subjectiven Unterstellungen d. h. zu vorschnellen Auslegungen, womit das Ich den (in Folge der in- neren Hemmungslosigkeit) rascher und mächtiger aufstrebenden neuen Vor- stellungen zu imponiren sucht. Daraus entsteht eine Uberwiegend sub- jective Färbung der Auffassung und sehr oft eine falsche. Zugleich aber wie bei der apathischen Form ein Selbst cultus des Ich, wel- ches immer aufgerufen und beansprucht wird, mit jedem neuen Eindruck sich unwillkürlich misst und auseinandersetzt. Ein geschraubtes, innerlich haltloses und schwankendes, von jedem Eindruck bestimmbares und wirk- lich gelenktes geistiges Wesen, welches Uberbeweglich und darum ohne Festigkeit ist, bildet die a)intellectuelle Signatur eines solchen Schwach- annigen. b) gemttthlich: dasselbe Schwanken und stete Durchkreuzt- werden von immer neuen, im Nu packenden, rasch verglimmenden, und ebenso oft sich widersprechenden Gefühlen. Dadurch flatterhaftes Interesse, Unfähigkeit sich zu bleibenden Allgemeingefühlen höheren Styls und in- tellectuellen Inhalts heranzubilden. Statt dessen werden, gleichen Schritt haltend mit der Erhöhung des dünkelhaften Selbstgefühls, die vagen und egoistischen Kategorieen der Sympathie und Antipathie die massgebenden Können. Wohl entwickeln sich auch Ansätze zu den höheren Gefühlen, aber sie bleiben ohne Mark und Nachdruck, weil sie zu unbeständig sind. c) psychomotorisch : das Handeln ist primitiv, weil es durch Minuten- gefühle, oft durch die Laune des Augenblicks dictirt ist. Auf leiden- schaftlichem Untergrunde erfolgt es instinktmässig rasch, unbesonnen, überstürzt. Es fehlt ihm im Momente der That die ruhige Abwägung,

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Die psychischen SchwächezuBtäcde.

der stille Kampf der Motive unter einander; es fehlen Überhaupt feste Motive. Bei der gesteigerten Erregbarkeit ist Alles Krampf, Kitzel, Re- flex, ohne Reflexion. Diese kann nachhinken, bleibt aber ohne Wirkung, verpufft, wenn sie noch so enthusiastisch war. Auch hier ist die freie Selbstbestimmungs- und Dispositionsfäbigkeit, selbst bei formell intacter facultas ratiocinandi gradweise eingeschränkt, und mehr minder er- heblich geschadigt, unter Umständen ganz aufgehoben.

Ujischwer lassen sich in diesen beiden skizzirten Symptomenreihen psychologische Grnndzüge und Complexe erkennen, welche oft und wieder- holt in den klinischen Krankheitsbildern (früheren und späteren) uns ent- gegentreten. So finden sich die psychischen Charaktere des erethischen Schwachsinns im Temperament der Hysterischen, in den Reconvalescenz- stadien der acuten Wahnsinnszustände, vorübergehend auch im Intervall der Typosen wieder, während die Charaktere des phlegmatischen Schwach- sinns in den Endstadien der Manieen und Melancholieen, und dauernd und bis zu dem höchsten Grade fortschreitend im apathischen Blödsinn wieder- kehren. Vollends das erbliche Irresein weist beide Formen in allen Stufen und namentlich auch in der mannigfachsten Combination auf; denn die apathische und die erethische Schwachsinnsform können klinisch sich auf das Allermannigfachste verbinden und verflechten. Das Letztere tritt namentlich im Idiotismus in seinen verschiedenen Typen uns entgegen. Aber auch die Habitual formen der rüstigen Manie und Melancholie zeigen individuell casuistisch in ihren Symptomenbildern so vielfache Züge dieser „psychischen Schwäche", dass zumeist auf diesem beigemischten Momente der unendliche klinische Symptomenreichthum beruht. Für die klinische Analyse sowohl, als für die Prognose müssen diese Elemente sorgsam ausgeschält, und bei der psychologischen Abschätzung der psycho- pathischen Symptome getrennt gewogen werden. Bei dieser Abschätzung ist jeweils der frühere Geisteszustand, soweit dessen Ausbildungshöhe eruirbar, einzurechnen; denn es ist selbstverständlich, dass bei einstens reicher geistiger Anlage ein späterer psychischer Defect weniger auffällig für den ersten Blick entgegentritt (ist doch auch bei grossem Capital eine Einbusse von einer kleineren Summe noch nicht sofort erkennbar !) als bei einer dürftiger veranlagten oder entwickelten psychischen Existenz und doch darf auch dort ein kleines Minus nicht leicht genommen werden, zumal wenn dasselbe in einer Einbusse an feinerem Fühlen, an früherem Tact, an rascherer Arbeitskraft (wie im Beginn vieler Paralysen) sich bemerklich macht.

Die speciellen Haupttypen, in welchen „geistige Schwäche" als secundärer klinischer Symptomencomplex in Erscheinung tritt, sind für die einzelnen Primärformen theilweise verschiedene. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob es sich im Primärzustand um ein mit Wahnideen, speciell mit Hallucinationen, angefülltes Bewusstsein handelt, welches gerade durch diese immer mächtigeren und zahl- reicheren fremden Elemente seinen Niedergang erleidet, „zersetzt" wird ; oder aber um ein in krankhafter Spannung erhaltenes oder gegentheils krankhaft Uberproductives Seelenleben, welches nach und

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Klinische Typen. Der secundäre Wahnsinn.

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nach seine Luxusausgabe nicht mehr zu decken weiss, und an Er- schöpfung des Hirnorgans zu Grunde geht. Unter jenen Typus ge- hören die anfänglich schon mit Wahnsinnselementen gemischten oder in's Wahnsinnsstadium fortgeschrittenen Melancholieen; unter diese die einfachen, aber mit verzehrender Angst einhergehenden langen Depressionszustände, und ganz besonders die schweren und recidi- virenden Manieen. Dort tritt uns deshalb im zugehörigen klinischen „Scbwäche"-Bilde psychologisch die Zersplitterung der Ich-Einheit, neben Uberwuchernden Sinnestäuschungen, als wesentlicher Charakter- zag entgegen; hier dagegen der Torpor, die Apathie, auf dem theil- weisen oder ganzen seelischen Gebiete. Es entgeht nicht, dass uns im erstgenannten Symptomencomplex derselbe Typus begegnet, wel- chen wir im „Wahnsinn" (namentlich in spätem Stadien und in der hysterischen Abart desselben) kennen lernen werden. Man hat des- halb diese Unterform auch als „secundären Wahnsinn" bezeichnet. Als Vorbild der torpiden Form werden wir ebenso später den Stupor d. h. die primäre Dementia wiederfinden, und dürfen somit darnach flir diese zweite Gruppe die Bezeichnung des „secundären Blödsinns" Blödsinn s. str. beanspruchen.

Selbstverständlich ist mit dieser Abtrennung und verschiedenen Be- zeichnung nicht ein Wesensunterschied ausgesprochen. Beide Formen, wie sie nosologisch zusammengehören, stellen im Grunde auch wieder die beiden Typen des erethischen und torpiden Schwachsinns in concreter klinischer Gestaltung dar. Sie gehen auch thatsächlich auf's Vielfachste ineinander Uber: so der secundäre Wahnsinn in den eigentlichen Blöd- sinn, sobald die affectiven Reflexe allmählich ausbleiben und mit der zu- nehmenden „Rohe des Kirchhofs" auch die Wahngebilde immer alberner d. h. intellectuell abgeschwächter werden. Noch einige weitere Be- merkungen sind hier einzufügen: 1. der secundäre Wahnsinn ist nur theilweise d. h. nur für eine bestimmte Gruppe von ungeheilt ge- bliebenen Melancholieen als deren Folgezustand zu betrachten; andere Melancholieen gehen dagegen direct in Blödsinn Uber. Ebenso kann auch unter individuellen Umständen auf eine Manie nicht der apathische Blöd- sinn als Terminalstadium folgen, sondern ein secundärer bleibender Wahn- sinn exaltirter Form (s. Manie). 2. Der secundäre Wahnsinn entweder als bleibende Form, oder mit allmählichem Uebergang in Blödsinn kommt nicht nur den vorgenannten Primärzuständen der Psychoneurosen zu, son- dern auch, und ganz besonders, dem primären „Wahnsinn" ; ebenso schliesst sich der secundäre Blödsinn den ungeheilt gebliebenen primären Zu- ständen der genannten Gruppe an freilich in beiden Fällen mit theil- weisen Modificirungen. In diesem erweiterten Sinne ist die nachfolgende Schilderung auch auf die später noch zu beschreibende Gruppe auszu- dehnen, resp. diese letztere in ihren „Ausgängen" auf jene zurückzu- beziehen.

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Die psychischen Schwächezustäode.

Der secundäre Wahnsinn die hallucinatorische Verwirrtheit

Klinische Charaktere: Massenhafte Sinnestäuschungen ne- ben intellectueller Zerfahrenheit, bei wachem Bewusstsein; Auf* gehen in Raptus von Einfällen, plötzlichen Stimmungen und An- trieben, oder auch indolente, zeitweise gereizte Stimmung; letztere theils für sich bestehend, theils in Abhängigkeit von den Hallu- cinationen; Auflösung der Bewusstseinseinheit mit schliesslichem Untergang des Ich in verschiedenen, mitunter sich widerspre- chenden, regellos sich ablösenden und verdrängenden Vorstellungs- gruppen ; zunehmende psychische Schwäche auf allen Gebieten. Re- mittirend-exacerbescirender, chronischer Verlauf in blödsinnige Ab- stumpfung.

Krankheitsbild. Die Entwicklang des secundären Wahnsinns geschieht aus primären acuten und chronischen Wahnsinnsformen (incl. des hallucin. Stupors), und aus gewissen melancholisch- wahn- sinnigen Zuständen (s. o.). Die Kranken verfallen einer immer um- fassendem Goncentrirung auf ihre wahnhaften Innenvorgänge neben einer schrittweise mangelhaftem unklaren Perception. Sie stehen in indolenter Haltung, die Hände in den Taschen, die Mütze auf dem Kopfe da, oder schleichen theilnabmslos herum, lachen oder sprechen vor sich bin, oder nehmen allerlei sonderbare mimische Körperhal- tungen ein, welche sie trotz Mahnung starr beibehalten, oder immer wieder aufsuchen (Schütteln des Kopfes und Körpers, allerlei Han- tirungen mit den Armen und Fingern, Grimassirungen u. s. w.) Im Decorum sind sie bis aufs Aeusserste nachlässig, oder treiben auch darin (z. B. mit der Behandlung der Excremente, des Speichels) allerlei, durch Wahn bedingte, Perversitäten. Ihre sprachlichen Aeusserungen sind zerstreut; oft können sie die einfachsten Fragen nicht beantworten, oder antworten nur in denselben monotonen Sätzen. Inhaltlich ist die Rede so verworren, dass gerade dieser Charakter- zug klinisch sich als der ausgezeichnetste abhebt. Oft bejahen sie Alles, andere Male reiten sie dieselben verfehlten Schlagwörter ab; meist aber ist die Rede ganz sinnlos, mit selbstgemachten Umstel- lungen von Silben, mit monströsen neugebildeten Worten vermischt. Manche Kranke stehen nur ungern Rede, werden gereizt, wenn man sie anhält ; Andere wieder plappern Tag um Tag ein und denselben verbalen Gallimathias. Die Stimmung ist gleichgültig, farblos, sehr oft aber auch finster und gereizt, oft sichtlich durch den Inhalt der Hallucinationen beherrscht; andere Male (in den späteren Stadien) losgelöst von letztern, und in ihren Uebergängen unverständlich.

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Klinische Typen. Der secund&re Wahnsinn.

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Das Denken ist entsprechend inhaltlos und incobärent; das Ich macht alle Metamorphosen durch, oft in gleichem Schritte mit den znfällig vorgedrängten Wahngedanken; manchmal fehlt aber auch jeder begreifbare Zusammenhang für die verschiedenen Personen, wofür der Kranke sich ausgibt: er ist gestorben und wieder aufer- standen, bat vor Tausenden von Jahren gelebt, ist der Messias, der WeltbeglUcker, und begnügt sich daneben mit seinen Tagesspiele- reien. Ueber die ganze Auffassung der Umgebung zieht sich Eine grosse Illusion, in deren Perception alle Widersprüche und Gegen- sätze friedlich neben einander liegen. Nicht selten retten sich aber namentlich durch die mächtigen und regelmässigen Eindrücke der Anstaltsordnung einzelne richtigere Ideenkreise aus dem all- gemeinen Chaos heraus, und der Kranke vermag in bescheidenen Grenzen sich noch auf einem wirklichen Boden zu bewegen, wo man ihn versteht und er sich mittheilen und nützlich machen kann. Andere dieser Invaliden wissen sich künstliche Krücken zurecht zu schneiden, mit welchen ihnen noch ein theilweiser Verkehr mit der Aossenwelt möglich ist. Viele sind periodisch leidlich klar und zu- gäogig, vermögen sich theilweise richtige Urtheile zu bilden, und klar aufzufassen; zu andern Zeiten verlieren sie aber jeden Compass, werden abspringend, widersprechend, verwirrt in den einfachsten Antworten, und faseln nur in hergebrachten fragmentaren Gemein- plätzen. In den freiem Zeiten Offnet sich denn anch sehr oft der Einblick in das chaotische Innenspiel der wechselndsten und um- fassendsten Sinnestäuschungen, der abnormsten Gefühle. Manche offenbaren sich als Dämonomanen, welche an den verschiedensten Körpertheilen böse Geister spüren; Andere reagiren gegen allerlei allegorische Sensationen, deren peinliche Eindrücke sie durch ihre pervers scheinenden Bewegungen, durch ihr Dehnen und Strecken, durch ihr Spucken, durch ihre Einsalbungen des Körpers u. s. w. auszugleichen suchen. Manchmal intercurriren Angstzufälle, andere Male Paroxysmen von manischer Heftigkeit mit impulsiven Gewalt- acten gegen sich oder Andere. Der religiös hallucinatorische Wahn- sinn in dieser secundären Gestaltung bringt auch seine Paroxysmen von Kasteiungen und Nahrungsverweigerung. Allmählich, bald in gleicbmässigem Niedergang, bald in periodischen Verschlimmerungen, schreitet die geistige Abstumpfung weiter, und rückt endlich immer mehr in den apathischen Blödsinn ein, wobei aber die Hallucinationen, nur immer fragmentarer, und die perversen Reflexe auf das motorische Gebiet in automatischer Fixirung erhalten bleiben. Nicht so selten geht aber Beides in der Apathie des Blödsinns unter.

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Die psychischen Schwächezustände.

Der Blödsinn s. str. Der fast unendliche Formenreichthum, welcher sich auf diesem kli- nischen Gebiete erschliesst, gestattet nicht eine erschöpfende Aufstellung geschlossener Typen. Soweit letztere möglich, kommen sie an den be- treffenden Stellen zur Schilderung: so beim katatonen, paralytischen ma- sturbatorischen u. s. w. Blödsinn. Im Folgenden sollen nur die gene- rellen klinischen Charakterzüge, wie sie sich aus einer Fülle von Einzel- fällen und am häufigsten wiederkehrend ergeben, zur Darstellung kommen. Jeder neue Fall bietet wieder neue Mischungen und Variationen. Im Ganzen beherrscht die Eingangs dargelegte psychologische Scheidung der psychischen Schwäche in eine „reizbare" und „torpide" Form auch hier die Trennung. Wir unterscheiden darnach einen „versatilen" und einen „apathischen" Blödsinn, wobei aber zugleich betont werden muss, dass Detailzuge aus beiden Formen sich sehr häufig in denselben Bildern ver- einigen, und somit die concreten Formen sehr selten „stylistisch" rein sind. Bezüglich der Primärformen, auf welche sich die genannten Zu- standscomplexe als Terminalstadien vertheilen, sind zu nennen : einfache Melancholieen ; sodann vornehmlich die Gruppe sämmtlichcr (einfacher und periodischer) Manieen, und der primären Dementia; theilweise reichen auch die Ausgänge gewisser Wahnsinnsformen, vornehmlich des masturba- torischen Verfolgungswahnes, in diese klinische Zeichencombinatiou hinein.

Allgemein klinische Zeichen, a) Uas Bewusstsein und die inteltectuelhn Functionen. Grundzug und patbognomisebes Symptom ist eine mehr oder minder tiefe Schwächung aller Seelenfunctionen , entweder gleichmässig oder in theilweise vermindertem resp. erhöhtem Grade, so zwar, dass eine mehr oder weniger vollständige Aufhebung der geistigen Gesammt- kraft daraus hervorgeht. Dabei ist kein Stupor oder ballucinatorische Benommenheit vorhanden; der wache Mensch ist geistig verkürzt, eingeschränkt, oder in den äussersten Grenzen zur blossen Vege- tationsstufe herabgedrückt: ein psychisches Caput mortuum. Spe- ele 1 1 sind Urtheil und Auffassung bedeutend geschwächt, oft gleich- mässig bis zu dem Grade, dass keine Perception mehr klar, richtig, und selbst geläufige Denkoperationen geschädigt oder aufgehoben sind. Manchmal erfolgt dagegen die Auffassung verworrener, als sich (in engen Grenzen) die Urtheilsbildung noch zu vollziehen vermag. In höheren Blödsinnsgraden kann der Kranke selbst Uber die stehen- den und eingewöhnten Anschauungen und Begriffe aus seinem Tages- leben nicht mehr verfügen. Endlich kommen ihm selbst die einfach- sten Denkkategorieen abhanden, oder werden ihm zum Verschwinden unklar. Immer mehr bilden den Inhalt seines intellectuellen Besitzes nur noch Trümmer bunt zusammengewürfelter Vorstellungsmassen; das Bewusstsein löst sich in ein Haufwerk gestückelter Formen auf. Die Associationen werden defect und erzeugen eine demgemässe

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Der Blödsinn. Allgemeines: Intellectuelle Functionen, Stimmung. 123

flache Logik durch einfache Juxtaposition zufälliger Vorstellungen, ohne jede condensirte Begriffsbildung.

Stylprobe: Qott soll man fürchten, weil man zur Kirche muss. Die Eltern muss man achten, weil sie Einem Schläge geben. Die Nase braucht man, weil sie mitten im Gesichte steht u. s. w.

Das Gedächtniss ist meist in gleichem Grade geschwächt, manch- mal aber daneben für gewisse Lebensabschnitte oder einzelne Wissens- gebiete (Rechnen) in auffallender Schärfe erhalten. Die Rede ist stossweise abgebrochen, incohärent oder in monotonen Gemeinplätzen sich ergehend; in leichteren Fällen resp. Anfangsstadien, manchmal aber auch Uber lange Jahre hinaus, verfügt der Kranke noch Uber eine leidliche Diction, aber nur für gewisse Gebiete, und ist im Ver- gleiche zu früher schwerfällig, unbeholfen und leicht verlegen. Viele Kranke reden gar nicht oder sie antworten nur auf Suggestivfragen, und hier entscheidet über die Antwort mehr der Zufall als die Ein- sicht. Viele antworten nur noch „ja" oder „nein", oder gar nur in einer der beiden Schablonen; bei Anderen fehlt das Bedürfniss zur Mittheilung ganz; sie werden unruhig und ängstlich, wenn man sie anredet, tappen mit verlegenen Bewegungen an sich herum, drehen sich ab oder wiederholen die Frage (Echolalie). Formell schieben sich oft allerlei selbstgemachte (gehörte) Worte ein; oder die Kran- ken sprechen in Anakoluthieen, Viele in der Infinitivform des Zeit- worts, oder von sich in der dritten Person. Inhaltlich schränkt sich die Rede oft auf die banalsten Phrasen ein, ohne irgend eine wahnhafte Beimischung. In anderen Fällen treten Reste des ursprüng- lichen dämonomanen oder exaltirten Wahnes dazwischen; oder der Kranke erzählt in freieren Momenten von allegorisirten Sensationen aus seinem Körper -Innern, oder von seiner höhern Mission oder seinen Reichthümern. Dieser blödsinnige Grössenwahn ist aber stets matt, mehr phantastisches Spiel als Ueberzeugung , und lässt sich durch Suggestivfragen nicht selten zu den höchsten Höhen beliebig emporschrauben. Interessant ist, dass manche Blödsinnige in ihren freien Zeiten von ihrer „frühern Geistesschwäche" erzählen, von welcher sie aber jetzt genesen seien. Andere dagegen halten an ihrer gegenwärtigen Verstandesschwäche fest, erzählen davon, wie sie auch sonst alle Indiscretionen rücksichtslos auskramen. Je tiefer der Grad des Blödsinns, desto fragmentarer die sprachlichen Mit- theilungen, bis sie endlich auf einige hergebrachte Worte oder Sätze sich reduciren oder ganz aufhören.

b) Stimmung und Willensrichtungen. Die Stimmung ist theilnahms- log, apathisch, so, dass vorwiegend nach diesem Charakterzuge

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Die psychischen Schwäcbezust&nde.

der psychische Gesammtzastand bezeichnet wird. Der Nachlass der affectiven Spannung ist es aucb, was in der Entwicklung des Blöd- sinns aus dem zugehörigen Primärzustande das entscheidende Kri- terium bildet. Der Wahn bleibt, aber erregt das Gemüth nicht mehr. Diese „Apathie" nimmt mit fortschreitendem Blödsinn zu, und endet in den höchsten Graden mit einer absoluten Erstarrung und Theil- nahmlosigkeit, selbst für die Gefühle, welche dem Kranken einst „das Leben gegeben" hatten. Namentlich erblindet auch das sitt- liche Auge; die altruistischen Empfindungen schwinden in einem immer mehr nur auf das Niedrig -Sinnliche sich concentrirenden Egoismus; endlich erlahmt auch dieser, und der Kranke bleibt un- empfänglich für Hunger und Durst, für Wärme und Kälte. Ohne Hoffen und Wollen, ohne Klage und Schmerz verbringt er Tag um Tag in derselben Indifferenz. Doch kommen auch in diesem Gebiete die vielfachsten Abstufungen vor. In manchen, schon sehr dementen, Kranken bleiben gewisse Richtungen ihres einstigen Gemtithslebens lange Zeit auffallend geschont; es erhalten sich Züge von Pietät, oder auch auf niederer Stufe gewisse Liebhabereien, welche, angeregt, wie beim Kinde einer stürmischen Entfaltung fähig werden. Aber sie bleiben ohne Entwicklungsfähigkeit und werden in der Folge immer mechanischer und unklarer. Andere wiederum sind für Ernst und Schmerz gleich biegsam, ohne dass ein tieferer Eindruck zurück - bliebe. Zu Zeiten freundlich, äussern sie sich zu andern oft ganz motivlos feindlich, gereizt, brausen in heftigem Zorne auf und ge- rathen darüber nicht selten in einen Furor; oder sie werden gegen- theils zeitweise unruhig in peinlicher Allangst, fürchten umgebracht zu werden, fliehen und verstecken sich, oder machen sich allerlei Unnöthiges zu schaffen, schrecken bei jeder Annäherung zusammen, werfen aus geröthetem Gesichte ängstliche Blicke umher und wissen, befragt, keinen Grund zu sagen. Nicht selten explodiren dann Raptus von Gewaltthätigkeit gegen sich oder Andere. Durch alle Stadien oder Grade dieses formenreichen Zustandes zieht sich ein schritt- weises Uebergewicht seitens der sinnlichen Begierden und Triebe, nachgerade so, dass deren Befriedigung noch die einzigen Hebel bilden, von denen aus die träge psychische Maschine in Bewegung zu setzen ist. Anderemale macht weder die Erfüllung noch die Ab- sage der Essgier auf den Kranken einen erheblichen Eindruck. Spe- ciell die letztere artet nicht selten in Gehässigkeit aus, der ge- schlechtliche Drang in schamlose Masturbation oder plump -freche Attentate. Manchmal schlagen auch beide Triebe perverse Rich- tungen ein (Verschlingen von allerhand Ungeniessbarem, päderastische

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Der Blödsinn. Körperliche Begleitsymptome. Mimik. 125

Gelüste). Bei vielen Kranken treten anscheinend barocke, vielleicht aber doch körperlich motivirte Dränge auf: z. B. sich plötzlich nackt aaszuziehen, oder sich mit allerlei Unrath zu besalben, Urin und Stuhlgang zu verspeisen u. s. w. Manche äussern periodisch oder anhaltend einen oft unbezwingbaren Stehltrieb; Andere suchen, wo sie können, mit dem Feuer zu «spielen u. b. w. Im Uebrigen liegt der Wille darnieder. Die Krauken kauern oft Tag um Tag auf der- selben Stelle, suchen sich in demselben Winkel niederzulegen, rühren sich nicht, bleiben stehen, wo man sie hinstellt, halten die ange- nommene Lage krampfhaft fest, und lassen sich aus derselben mehr schleifen, als dass sie zu selbstwilligem Geben zu vermögen sind. So in den apathischen Zuständen. In den versatilen gegen- theils ist eine plänlose Unruhe, eine ungeordnete psychomotorische Aufregung ohne Ende, in welcher die Willensäusserungen des Kranken aufgehen und sich ziellos zersplittern. Ist diese einmal nach einer gewissen Richtung häufiger wiederholt worden, so verfällt sie leicht der Beharrung und Fixirung. So entstehen die automatischen Acte, das Stunden- und Tagelange einförmige Hin- und Herrennen in einer genau bestimmten Wegstrecke. Ein Versuch den Kranken zu hemmen, begegnet, wie beim apathischen der Zuspruch, nicht selten einer zornigen Gereiztheit mit blinder maassloser Heftigkeit.

c) Körperliche Begleitsymptome. Motorische Störungen specifischer Art sind dem einfachen uncomplicirten Blödsinn nicht eigen; wo sie dazu treten, sei's in Form von Krämpfen oder Lähmungen, handelt es sich um individuelle Himaffectionen mit Herdsymptomen. Die allge- meinen Aenderungen des motorischen Verhaltens im Blödsinn liegen viel- mehr im psychischen Theil der Motilität, und kennzeichnen sich als Störungen der Mimik, Physiognomik, Gesammthaltung und der willkür- lichen Bewegungen. Die hier in Wirksamkeit tretenden Verhältnisse sind in ihrem speciellen Charakter und ihren physio- psychologischen Zusam- menhängen noch lange nicht genügend erforscht, um jetzt schon entwickelt werden zu können; ein Theil derselben wird, soweit möglich, bei den motorischen Störungen des Idiotismus, welche vielfach auch für die tie- feren Grade des apathischen Blödsinns gelten, zur Sprache kommen. Hier sollen nur die wichtigeren nach ihrer klinischen Symptomatologie kurz aufgeführt werden.

Die Mimik und Physiognomik bietet ausserordentlich viele Typen, welche sämmtlich in der Stumpfheit der Gesichtszüge und der Geistlosigkeit des Ausdrucks, in der Trägheit und Langsamkeit der mi- mischen Bewegungen, oder aber gegentheils in dem choreatisch ungere- gelten, Uberstürzten Vollzug der letzteren zusammentreffen (vgl. auch das betr. Detail beim paralytischen und katatonen Blödsinn). Die Kopfhal- tung ist in der Regel eine schlaffe („die Krankheit hat den Genickfang gegeben"); der Kopf stark vorübergebeugt oder in die Achseln gezogen. Der Ausdruck ist stumpfsinnig indifferent, die Züge sind hängend, oder

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Die psychischen Schwächezustande.

zeitweise durch einen Anflug von Schmerz oder schmerzlicher Freude verzerrt ; anderemale „wahnwitzig" verzückt und fade lächelnd mit hinauf- gezogenen Brauen und Stirnfalten, und stier fixirten Augäpfeln; der Blick bald blöd hinausstaunend, bald anhaltend auf den Boden geheftet und miss- trauisch sich vorstehlend; anderemale dagegen neugierig und gaffend, dabei inhaltsleer und ohne Tiefe ; oft auch ganz fremdartig verwirrt. Bei passiv mit den Kranken vorgenommenen Bewegungen werden nicht selten die Bulbi von einer Seite zur anderen automatisch gedreht. Oft werden die Li- der Monate lang geschlossen gehalten. An der Nase fehlt selten das charak- teristische Schleimtröpfcben. Der Mund steht meist offen und secernirt über- reichen dünnflüssigen Speichel. Auf der Stirn finden sich häufig Collectionen von allerlei Acneformen, die Stirnhaut selbst ist oft gedunsen und verdickt, mit zeitweilig stärkerer Schwellung. Neben vorübergehendem oder blei- bendem Strabismus kommen nicht selten fliegende Zuckungen Uber das Gesicht, oder ungleiche Innervation beider Gesichtshälften vor. Die Kör- perhaltung ist bei den apathischen Zuständen eine gebrochene mit vor- waltender Wirkung der Flexoren. Manche Kranke werden zeitweilig bild- säulenartig starr, ohne und mit flexibilitas cerea. Andere machen perverse Bewegungen, heben beim Gehen die Fils so so hoch, als ob sie Uber ein Hindernis8 schreiten müssten, oder sie biegen und recken sich in allerlei barocken Attitüden. Nicht selten begegnet man einer gesteigerten Re- flexerregbarkeit der Planta pedis, so dass das Bein, wenn die Fussspitze auf den Boden gesetzt wird, in clonischen Krämpfen rasch auf- und ab- wärts geführt wird und tumultuarisch aufstampft. Die Körperernährung wird gewöhnlich pastös, gedunsen, fettreich, die Haut zu Ausschlägen und Decubitus geneigt; doch sind die trophischen Verhältnisse derselben sehr verschieden: Verwundungen heilen in einem Falle außergewöhnlich schwer, im anderen Uberraschend leicht. Oft bildet sich Lanugo aus. In den späteren Stadien reducirter Blödsinniger wird die Haut oft per- gamentartig dürr, atrophisch, reichlich sich abschuppend. Die vasomo- torische Innervation ist stets erheblich geschädigt und neigt sich zur fort- schreitenden Lähmung (Cyanose und Kälte der Extremitäten mit Oedem- bildung). Der Puls ist manchmal auffallend beweglich. Der Harn zeigt im Allgemeinen Abnahme im Gehalt des Harnstoffs und der Chlorate (im Vergleich zur Nahrungsaufnahme).

Die Sensibilität ist bei den höheren Graden des Blödsinns immer abgestumpft, namentlich bezüglich der Schmerzempfindlichkeit. Grosse Furunkel werden oft unbemerkt getragen. Merkwürdig ist die perio- dische Aufhebung der Sensibilität und der Reflexerregbarkeit in ge- wissen Fällen, und ebenso die partielle, so dass die Kranken gegen äussere schmerzbringende Agentien unempfindlich sind, und nur bei Kälte heftig zusammenschrecken.

Krankheitstypen. 1 . Der versatile secundäre Blödsinn. Primärstadien aller Formen gehen voraus, sehr oft ungeheilte Dämonomanieen mit ängstlicher Aufregung, wovon nicht selten noch einzelne Reste erhalten bleiben. Charakteristisch ist neben den Allgemein - Charakteren der blödsin-

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Der Blödsinn. Klinische Typen. Versatiler, apathischer Blödsinn. 127

oigen Miene und Haltung eine unbeherrschte, unruhige und unzweck- mässige Beweglichkeit der psychischen und motorischen Aeusse- rnngen. Die Kranken laufen umher, machen sich viel zu schaffen, ordnen beständig an sich und Anderen herum, falten die Hände, knieen nieder, küssen Personen und Gegenstände, halten nicht Stand weder bei der Unterredung noch bei irgend einer Beschäftigung, äussern die widersprechendsten und verkehrtesten Bestrebungen. Die Stimmung ist eine kindisch weichliche, erschöpft sich in einer Menge von Wünschen, Bitten und Klagen, aber alle ohne wirkliche Bedeu- tung. Selbst die zeitweilige Angst, welcher die Furcht vor dem „Bösen" zu Grunde gelegt wird, geht nicht aus einer tieferen Ge- mtithsbewegung hervor, da alle begleitenden Erscheinungen fehlen, and höchstens einige im Strome alberner Reden vorgebrachte Aeusse- rungen darauf hinweisen. Der Grundzug der Stimmung ist Indiffe- renz; der Kranke bleibt einen Tag wie den andern, lässt Alles mit sich geschehen, kommt nie in Affect, ist nie heftig oder gewaltthätig, stets freundlich und fügsam. Das Interesse ftir die nächstliegenden Dinge, für einstige Herzensbeziehungen, ist geschwunden oder er- beblich gemindert; einmal geäussert, gleitet der Kranke im nächsten Augenblicke wieder darüber weg, um sich an einen kleinlichen Wunsch oder eine gehaltlose Klage anzuklammern. Der Sinn für das Decorum erhält sich dabei oft noch längere Zeit. Der Kranke ist überaus zerstreut, vermag oft kaum auf Augenblicke seine Auf- merksamkeit auf einen Gegenstand zu lenken: sofort schieben sich immer wieder alberne Bemerkungen oder Bewegungen dazwischen; wenn er aber wirklich aufmerkt, so tritt in jedem Perceptionsact die Schwäche der Auffassung und des Denkens, die Unklarheit und Un- fähigkeit zur geistigen Concentration hervor. Die sprachlichen Aeusse- rungen enthalten eine Mischung völlig zusammenhangloser Vorstellun- gen: Reste des Wahnes, Reminiscenzen , unmittelbare Auffassungen, Wünsche, Klagen, Begehren Alles wirbelt bunt durcheinander and jagt sich gegenseitig. Der Kranke bleibt seiner nächsten Um- gebung gegenüber fremd, kennt noch nach Monaten die täglichen Umgangspersonen nicht, bleibt unbekannt mit den Ort- und Zeitverhält- nissen. Oft spielen Sinnestäuschungen herein. Der Verlauf ist entweder ein stationärer, oder geht allmählich in apathischen Blödsinn Uber.

2. Der apathische secundäre Blödsinn. Das Krankheitsbild resp. die unzähligen Krankheitsbilder, welche sich aus den oben beschriebenen Elementen zusammensetzen, lassen sich sehr schwer zu einem bestimmten Typus vereinen. Jeder Einzelfall ist ein Fall ftir sich, ein jeder eigenartig. Es gibt kein abgestufteres und

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Die psychischen Schwächezustände.

reicheres Detail in Form und Mischung und Ausbildungsgrad der geistigen Schwächesymptome als diese anscheinend so monotonen Blödsinnsformen. Auch der Verlauf zeigt vielfache Verschiedenheiten. Selten ist derselbe ein anhaltend stationärer; er schreitet vielmehr unmerklich zu immer tiefern Stufen fort Sehr häufig treten perio- dische Aenderungen ein, manchmal in einer mehr oder weniger regel- mässigen Abwechslung. So lassen sich nicht selten alternirende Phasen von grösserer Torpidität und andererseits grösserer (relativer) Be- lebtheit beobachten; in der einen lungert der Kranke nachlässig herum, gibt keinen Bescheid, glotzt vor sich hin, lässt Stuhl und Urin unter sich gehen in der andern ist er mittheilender und reg- samer, frischern und belebteren Aussehens, reinlich, fuhrt oft Selbst- gespräche. Diese Verlaufsform kann sich noch schärfer in einem Wechsel zwischen stumpfsinnigen und andererseits manisch - aufge- regten Perioden ausprägen. In jener bietet der Kranke das gewöhn- liche apathische Bild, in dieser wird er unruhig, die Züge werden gespannt, das Auge leidenschaftlich belebt; er läuft viel hin und her, schlägt die Thttren zu, wird unzugänglich, abstossend, ver- wirrter, reizbarer, manchmal heftig und gewaltthätig. Diese wech- selnden Zustände tragen durch ihre verschiedene Dauer, Kraft und Ausdehnung oft ausserordentlich viele Nuancen in das sonst ein- farbige Grundgemälde ein ; ebenso auch durch die Weise ihrer Auf- einanderfolge. Bald gehen sie regellos in einander Uber, bald regel- mässiger, manchmal bricht die Erregungsphase plötzlich aus, andere Male tritt sie allmählich ein. Nicht selten nehmen die Paroxysmen einen ziemlich gleichmässigen und bestimmten Verlauf ein.

In einem unserer Fälle wurde der Kranke jeweils erst reizbar, är- gerlich, widerstrebend faul, der ohnehin frequente Puls steigerte sich an Häufigkeit und Völle, der Kopf wurde congestionirt, die Stirne blauroth und wie das übrige Gesicht mit einer Menge von Acneknoten und Pu- steln bedeckt. Der Kranke sprach noch, und zwar richtig, war aber bei Fragen unleidig. In rascherem oder langsamerem Uebergange kam er in sein zweites Stadium, das „Lach"-Stadium. Er sprach nun kein Wort mehr, brach dagegen in ein fast andauerndes, unbändiges Lachen aus, welches er in Haufen von sich stiess, die Congestionserscheinungen dau- erten fort, Katarrhe der Lider, der Rachen-, Nasen- und Luugenschleim- haut stellten sich ein, die Pulsfrequenz nahm ab, und der Kranke ging nach Verlauf einiger Tage in das dritte Stadium, das des Stupors, ein. Zwischen diesem und dem vorigen war er zuweilen heftig, schlug plötz- lich Scheiben ein und ging regelmässig der Ferse eines anderen Blöd- sinnigen nach, wo dieser nur immer hingehen mochte. Bald aber sank er in nahezu vollkommene Bewusstlosigkeit, wurde leichenblass, der Blick glotzend, die Zuge hängend, der Gesichtsausdruck verrieth eine angst- volle Erschütterung, der Kranke sass statuenartig da, Hess sich aus- und

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Apathischer Blödsiun. Krankheitsbild. Therapie.

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anziehen, füttern, war unreinlich. Der Puls sank auf 60, wurde voll und schnellend. Plötzlich oder in allmählichem Nachlass hob sich auch die Stimmung, und das Bild des früheren, relativ freieren, Blödsinns kehrte wieder. Der Puls stieg auf SO, wurde klein und leicht wegdrückbar, die Katarrhe schwanden, das Gesicht reinigte sich. Solche Anfälle dauerten 3—4 Tage bis zu eben so viel Wochen. Nach und nach rückten sie immer näher zusammen. Für die Stuporphasen wurden ängstliche Hallu- cioationcn zugegeben.

Nicht selten kommen auch im Verlauf des Blödsinns erfreuliche Besserungen vor, wobei das Interesse in beschränkten Grenzen wieder erwacht, der Kranke zugängiger wird, Theilnahme äussert, und, richtig geleitet, zu nützlicher, wenn auch bescheidener Be- schäftigung angehalten werden kann. Solche relative Besserungen, selbst auf Jahre hinaas, kommen sogar bei tiefen Blödsiunszuständen vor. Gar oft werden aber diese Lichtpunkte durch Rückfälle in den Stumpfsinn wieder Uberholt.

Bei dämonomaner und melancholischer Grundlage sind die zeitweilig auftretenden Angstzufälle sehr zu beachten: der Kranke beginnt plötz- lich gegen jede Annäherung heftig zu widerstreben (oft in der Form der conträren Negation, wobei er, am ganzen Körper zitternd, Alles ver- spricht, nur nicht das von ihm Verlangte), verweigert hartnäckig die Nah- rung und äussert nicht selten ernst gemeinten Selbstmorddrang. Viele wachen in solchen Paroxysmen (rcactiv) allerlei sonderbare krampfartige Bewegungen : sie lehnen sich gewaltsam rückwärts, zucken rhythmisch mit den Lippen, den Augäpfeln und Lidern, stossen thierische Schreilaule aus. Jeder, auch der mildeste Eingriff, erhöht die Angst zu einem furcht- baren Grade. Die Kranken finden sich noch am Besten zurecht, wenn man sie (wohl beaufsichtigt!) Uber diese Periode hinweg ganz gehen lässt.

Therapie.

Die Behandlung der Secundär- resp. psychischen Schwäche- zustände fällt fast ausschliesslich den Anstalten zu. Gerade auf diesem Gebiet entfalten sie ihre besonders segensreiche Wirkung, so dass man deren rühmendste Auszeichnung in die geistig hebende und fordernde Pflege der Unheilbaren setzen darf. Jedem, auch dem In- validen, seine Stelle anweisen, wo er noch als bescheidenes Glied in den Organismus sich einfügen kann ; wo er mit der Freude am kleinen Wirken den noch glimmenden Funken seiner Selbstachtung wach erhält ; wo er geistig sich abzulenken vermag, und am gemeinsamen Werk theilnehmend auch in die vernünftige Wirklichkeit sich wie- der eingewöhnt und dadurch die geistigen Krücken gewinnt, um social zu bleiben und in der innern Anstaltswelt, jetzt seiner zweiten Heimath, schaffend und auch geniessend sich zu bewegen: Das sind in grossen Zügen die hohen Ziele und auch die Erfolge der indivi-

Sehttlo, G«Ut«akraokheit«n. 3. Aufl. (J

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Der Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

dualisirenden Anstaltsbehandlung. Daneben bleiben der somatischen Therapie noch wichtige Anhaltspunkte genug. Bei der Unterwürfig- keit dieser geistig hemmungslosen Existenzen unter körperliche Miss- empfindungen, bei der emotiven Reizbarkeit, welche stets neue den geistigen Niedergang befördernde AffectstUrme setzt, bei den inter- currenten Angriffen auf das Hirnleben durch Fluxionen zum Kopfe, Kreislaufs- und Verdauungsstörungen, Auämieen etc. sind der ärzt- lichen Beobachtung und Therapie immer wieder neue Wege gewiesen, um diätetisch und arzneilich einzugreifen und der hohen Aufgabe „den sinkenden Menschengeist zu heben" gerecht zu werden. Speci- fica, worunter man früher vor Allem den Phosphor rechnete, gibt es nicht; dieselben liegen viel näher in der Anstaltsküche (sorgsame individualisirende Diät), in der Tagesbeschäftigung, namentlich Feld- arbeit der Kranken, und im Kopfe und Herzen des leitenden Arztes.

Der Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

Allgemeines über Wahnideen: Hagen, Studien 1870. Ann. m£d. psych. 1881. Magnan, Arch. deneur. 1881. Spitzka, St. Louis Clin. Ree. 1880. II. u. Journ. of ment. sc. 1881. Buccola, Riv. sper. 1882. Foville, Ann. me*d. psych. 1882 (Grössen-ldeeu). Raggi, Arch. ital. 1884.

Klinische Schilderung: Snell, Allg. Ztschr. f. Psych. 22 u. 30. Grie- singer, Arch. f. Psych. 1. Westphal, Allg. Ztschr. f. Psych. 34. Hertz, Ibid. Schäfer, Ibid. 30 u. 37. Koch, Ibid. 30. Leidesdorf. Psych. Studien, Wien 1877. Tilling, Psych. Centrlbl. 187S. Merklin, Dissertation, Dorpat 1879. Fritscb, Jahrbücher der Psych. 1870. v. Kraf ft-Ebing, Lehrbuch II. Kraepelin, 1. c. Weiss, I.e. Morel, I.e. Scholz, Berl. klin. Wochcnschr. 1880. Koch, Irrenfreund, 8. Buch, Arch. f. Psych. 11. Falret, An. med. psych. 1878. Siegfried, Berl. klin. Woch. 1881. Moeli, Char. An. VII. Araadci u. Toniui, Arch. ital. 1883. Muhr, Arch. f. Psych. 0 (Anat. Befunde).

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Acuter hallucinatorischer Wahnsinn: Meynert, Jahrb. f. Psych. l8S0u. <1. Kraepelin, {über deu Einfluss acuter Krankheiten etc.) Arch. f. Psych. 11 u. 1 2, mit vollst. Literatur.

Gefangeneuwahnsinn: Moritz, Casp. Vierteljahrschr. 22. Parrish, J. of. psych, med. 1852. Schmidt's Jahrb. 1802 u. 1803. Gutsch, Allg. Ztschr. f. Psych. 19. Delbrück, Ibid. 20. Reich, Ibid. 27. Köhler, Ibid. 33 (Psy- chosen weibl. Sträflinge). Thomson, J. of m. sc. 1800 u. 1870. Nicholsen, Ibid. 1*573, 1S74 u. 1875 (Psychopathie der Verbrecher). Baer, Gefängnisse, Straf-

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Psychologische Analyse des chronischen Wahnsinus.

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Der prlmttre chronische und acute Wahnsinn.

Der innerste Kern dieser grossen Krankheitsgruppe ist eine pri- märe Störung im Vorstellungsleben entweder in Form einer Hem- mung oder Förderung der Ich-Gruppe mit allegorisirender (illuso- rischer) Apperception; oder aber einer Auflösung des Ich-Verbandes durch jäh einbrechende und übermächtige Sinnestäuschungen. Nach beiden Richtungen setzt die Genese des Processes einen begleitenden logischen Defect, eine geschwächte oder mangelnde Kritik and Reflexion, als wesentlich zugehörig voraus (Schwäche oder Ausschaltung der Vorderhirnthätigkeit, wozu noch die verminderte Hemmungsfähigkeit kommt, s. u.). Im ersten Falle bleibt das Ich erhalten, wiewohl als ein gefälschtes, weil es dem Zwange der un- bewusst sich vollziehenden Objectivirung jenes subjectivcn Hemmungs- oder Förderungsgefühles erliegt; im zweiten wird das Ich verdunkelt, weil die krankhaft erregten Sinnescentren das geistige Blickfeld ein- nehmen und beherrschen. Im ersten Falle besteht somit das Wesen der Störung psychologisch in einer Illusion oder falschen Apper- ception ; im zweiten in einem hallucinatorischen Traumzustand. Jene setzt das Wesen des chronischen primären Wahnsinns zusammen, diese das Wesen des acuten.

Die chronische Form ist klinisch die schärfer umschriebene, und muss als die eigentlich typische vorangestellt werden. Entgegen der Melancholie und Manie, welche beide (speciell die erstere) eben- falls psychologische Elemente eines gehemmten oder geförderten Vorstellungsganges in sich enthalten, schliesst der Wahnsinn nicht mit diesem Gefühle einer inneren Entfremdung oder einer inneren Erweiterung des persönlichen Ich ab, sondern macht in Einem darüber hinaus den Sprung in's Objective. Damit begeht er aber einen grossen Trugschluss, insofern er eine innere Ursache in der Aussenwelt sucht. Dass dieser Schluss (zunächst) in's Blaue sich vollziehen kann, überhaupt psychologisch möglich wird, liegt darin, dass der Wahnsinnige Uber das elementare Gefühl des Gehemmt- resp. Gefördert- seins hinaus zur Apperception Ubergeht übergehen muss, weil (durch die Eigenart seiner Hirnerkrankung) das Ich in seiner kritischen Kraft geschwächt und widerstandsloser geworden ist. Im Apperceptionsgefühl liegt aber für das Ich das innere Local- zeichen zur Objectivirung. Es handelt sich mithin in dem Trug-

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132 Der Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

schluss, wodurch der Kranke eben zom Wahnsinnigen wird, am einen primären Erkenntnissact. Die Illusion vollzieht sich in statu nascenti und als psychologischer Zwang, unbewusst, wenn auch getrieben durch das CausalitätsbedUrfniss (s. u.) Ist dieser erste illu- sorische Erkenntnissact vollzogen, dann hört vorübergehend (für den einen Act) das Gefühl des inneren Schwankens auf, kehrt aber wieder, bis endlich der fertige Wahn ausgebaut ist (s. Wahnidee). Auch jetzt noch, nachdem Ruhe auf dem ganzen Erkenntnissgebiet ein- getreten, können in der Folge wieder Stimmungsanomalieen sich ein- stellen, und zwar nach depressiver wie nach manischer Richtung; aber deren psychologische Stellung und Bedeutung ist jetzt nur mehr eine secundäre, reactive. Der psychologischen Entwicklung nach befindet sich somit der Wahnsinnige in einer wesentlich anderen Lage als der Melancholiker, so sehr auch im Anfang beide Processe den gemeinsamen Weg dunkler Angst nehmen, und so häufig beide von demselben psychischen Entstehungspunkt (z. B. einer GemUths- bewegung) ausgehen. Während aber der Melancholiker gegenüber der unerkannten kranken Gemüthsbedrängung sich concentrirt, und schmerzgebeugt sich versch liessend die fremde Last auf sich nimmt, öffnet sich mit dem Eintritt in den Wahnsinn der Bewusstseinsinhalt das Ich dem fremden Eindringling (d. h. der krankhaften Illu- sion); es appereipirt und weiss nun 1. um was es sich handelt, und 2. dass es seine eigene Existenz angeht. Der objectivirende Schluss befreit somit den Wahnsinnigen von der Hemmung (Angst), an wel- cher der Melancholische, den Stachel gegen sich kehrend, ermattet (s.u.). Aber die Befreiung geschieht um den Preis der Einheit des Bewusstseins. Das Ich des Wahnsinnigen ist entzweit. Er fühlte im Beginn dunkel, dass er nicht mehr Er selbst ist, so wie früher; jetzt ist er sich klar, dass er unter fremden Einfluss gerathen ist, wenn ihm auch das Detail noch fremd ist; oder dass von aussen ihm gesteckte Ziele „Mächte" an ihn herantreten. Dieser Schluss ist unbewusst über ihn gekommen, nicht aus Reflexion er- folgt. Es ist oben schon darauf hingewiesen worden, dass die Kritik mangelt oder unterdrückt ist gegenüber der ausserordentlich lebhaft aufstrebenden, weil mit objectivirendem („sinnlichem") Timbre ver- sehenen neuen (Wahn-)Vor6tellung.

Beide Vorgänge setzen eine Verminderung der psychischen Hem- mungsfähigkeit, eine reizbare Schwäche im geistigen Mechanismus des Wahnsinnigen voraus, wodurch die neu eintretende gefälschte Wahr- nehmung eine ungehinderte Masse associativer Verbindungen und einen hemmungslosen Eintritt in das Blickfeld des Bewusstseins erzwingt; wäh- rend andrerseits das begleitende phantastische Element, das leise inner-

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Psychologische Analyse des chronischen Wahnsinns

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liehe „Mithalluciniren" (gleichfalls eine Folgewirkung aus den herabge- setzten centralen Leitungswiderständen), die objectivirende Täuschung erleichtert und vollziehen hilft.

Es entgebt nicht, wenn wir jetzt den soweit in der Bewusst- seinsspbäre entwickelten Process weiter verfolgen, dass die gewonnene Erkenntniss die Wahnidee sofort auch eine Einbusse an dem geistigen Gesammtbesitz des Patienten bedentet. Scheinbar weiss ja der Wahnsinnige jetzt ein Mehr, aber in Wirklichkeit ist er nur um eine pereeptive Täuschung reicher; er bewegt sich, indem er seine ab- normen Innengefttble nach aussen verlegt, in seinem eigenen Schatten, und logisch in einem Cirkel. Aber das Bewusstsein hat ausser dem verfälschten Zuwachs auch noch einen verfälschenden für den übrigen Vorstellungsinhalt erworben. Denn die neue Vorstellung identificirt sich, weil sie dem Ich nicht nur als klar, sondern mehr noch als nach vor- und rückwärts aufklärend imponirt, sofort und intim mit der obersten Vorstellungsgruppe; sie wird damit inhaltlich immer mehr zur Prämisse für Denken und Wahrnehmen überhaupt, und zugleich zur Tonangeberin für die Stimmung. Ein neues Bewusstsein, anfangs kämpfend mit dem alten, wächst in dieses letztere hinein und zersetzt es nach und nach. Dabei bleibt das alte immer aber noch stückweise, oft zu einem grossen Theile und oft auf lange Jahre, erhalten. Es ist für die typische chronische Wahnsinnsform charakteristisch, dass sie eine sogenannte partielle Bewusstsein ss törung heraus bildet, neben welcher der übrige Tbeil des geistigen Geschehens (des gesunden Ich) sich noch zu con- serviren vermag, und dass im gesunden und kranken Bewusstseins- segment (im alten und neuen Ich) die formalen logischen Functionen erhalten bleiben. In seinem Wahnkreis auf dem Monde, kann der Wahnsinnige in den übrigen Wissensgebieten noch lange den früheren Umfang und die einstige Klarheit bewahren und mit derselben logischen Schärfe sich im Realen behaupten, mit welcher er seine Fictionen dialektisch zu vertheidigen weiss. Dieselbe Logik fährt fort nach aufwärts zu bauen, deren unbewusst geschehende Minir- arbeit nach abwärts die geistige Existenz untergräbt. So kommt Methode und System in den Wahnsinn das zweite Cha- rakteristicum (neben der Erhaltung des wachen Ich): richtige Wahr- nehmungen und falsche Conceptionen reihen und verknüpfen sich, beide als gleichscharf ausgeschnittene Figuren, und als gleichwerthige Grössen im geistigen Blickfeld.

Die Erhaltung des alten Ich ist jedoch nicht eine wirkliche, wörtlich zu nehmende. Im Grunde kann die Auseinandersetzung mit dem neuen

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Der "Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

Eindringling nur auf dem Weg des Compromisses erfolgen, indem das alte Ich Zugeständniese macht. Darin liegt das psychische „Schwäcbe"- Moment, welches jedem Wahnsinn, auch dem täuschend leistungskräftig- sten, eingeboren ist. Anfangs vollzieht sich der Compromiss in der Weise, dass das alte Ich in der Kategorie der neuen Wahnperception auffasst und denkt ; später dadurch, dass es sich immer vollständiger von dem kranken Gedankenkreise absondert. So theilt sich rascher oder lang- samer der geistige Besitz: die ursprüngliche Persönlichkeit zerfällt, zwei Seelen wohnen in derselben Brust, zwei Personen in demselben Kopf. Eine dritte psychologische Form der Weiterentwicklung ist die Ausbrei- tung des kranken Ich Uber das gesunde, die Aufsaugung der alten Persönlichkeit durch die Schablone der kranken. Aber schon die An- fänge des verhängnissvollen Decursus, in welchem noch die ursprungliche Persönlichkeit in- und extensiv das Uebergewicht bewahrt, vollziehen sich nicht ohne ernstere Neben- und Folgewirkungen. Gewöhnlich spielen sich diese reactiv im GemUthsgebiete als periodische Depressionen oder Aufregungen ab; in andern Fällen, bei minder starker Gemütsbewegung, sucht sich das in's Schwanken gerathene, in seinem innersten Bewusst- seinskern bedrängte, Ich durch Selbsthilfe (s. später) zu retten; ein häu- figer und sehr verbreiteter unbewusst geübter Schutz des Ichbe- standes ist die sog. „krankhafte Präcision" der Wahnsinnigen, womit sie sich als die immer gleiche und unveränderte Persönlichkeit, sich und der Umgebung gegenüber, zu sichern bestrebt sind, ängstlich nach immer neuen Bestätigungen greifen, dass man sie nicht mit andern Personen verwechsle. Aber auch dieses mühsame Bestreben hält nicht immer vor, und schliesslich erfasst sich der Kranke als „Doppelgänger", von denen der Eine „er selbst" ist, der Andere aber zu den „Verfol- gern" hält (s. später auch unter den Zwangsacten, von welchen einige, wie die „Such-Mauie", aus diesem „Verificationszwang" ihren psycholo- gischen Ursprung nehmen).

Die acute Form bietet diesem eben beschriebenen Bilde gegen- über auf den ersten Anschein wesentliche Unterschiede. Der Er- haltung des Ich in der chronischen Form entspricht hier eine Ver- dunkelung desselbeu; dem dortigen „Uber"scbarfen Wachsein corre- spondirt hier ein Schwanken in der Bewusstseinshelle, welche vom Dämmerhaften, ja selbst Traumartigen oft in jähem Uebergang von Stunden und selbst Minuten bis zu gradweiser Lucidität hinauf- geht, nie aber die eigentliche Klarheitsstufe erreicht, jedenfalls nicht dauernd. Dort sind die logisch formalen Thätigkeiten geschont, oft bis zum dialektischen Raffinement; hier fehlt dieses systemati- sirende Band ; die Sinnestäuschungen sind desultorisch, in ihrem In- halt gleich Traumbildern wechselnd. In demselben Zusammenhang finden sich dort ausgesprochene und bleibende depressive oder exaltirte Stimmungszustände ; hier dagegen fragmentare, abrupte, bunt sich mischende, nicht selten sich widersprechende. Das Wesent- liche aller differentiellen Momente liegt aber in der massenhaften

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Psych. Analyse d. acut. Wahnsinns. Klin. Differenzen o. Zusammenhange beider. 1 35

Entwicklung der Hallucinationen, der Einfälle, der plötzlich auf- strebenden Stimmungen und Handlungsimpulse bei der acuten Form gegenüber den vergleichsweise seltenern, immer wieder appercipirten und dadurch gleichmässig gefärbten Sinnesdelirieu in der chronischen. Man kann sagen: bei dieser fest gegliederte Ordnung, Alles in ein Schema (des Verfolgungs- oder Expansions- wahnes) eingefügt und Eine Sprache redend; bei jener (der acuten) Auflösung der Ich-Hegemonie in die Membra disjecta von kalei- doskopischen Traumbildern, Einzelantrieben, proteusartig wechseln- den Stimmungen.

Jedoch sind in den soeben gegensätzlich durchgeführten Unterschei- dungen nur die Grenzfälle des acuten und chronischen Wahnsinns gezeichnet. In der Mitte berühren sie sich und zeigen ihre klinische Verwandtschaft, so zwar, dass eine, und zwar grosse, Gruppe der acuten Form in Wirklichkeit nur die Wiederholung der chronischen darstellt. Hier eröffnet ein echt syrabolisirendes Verfolgungsdelirium mit Sinnes- täuschungen und gleichgefärbten appereeptiven Trugschlüssen die Scene, Anfangs noch neben wachen und richtigen Wahrnehmungen; unter zu- nehmender Bewnsstseinsverdunkelnng rückt ein deliranter geistiger Ex- pansionszustand ein, mit religiös mystischem oder erotischem Inhalt; aber das Ich bleibt sich dieses Traumspiels inne, und wenn es auch nicht die wachen und die hallucinirten Perceptionen zu sondern vermag, so laufen sie doch alle, systematisch verknüpft, in seinem Brennpunkt zusammen. Das ist der acute Wahnsinn x«r' tifo /»,'»>; manchmal bleibt er in diesem klinischen Rahmen, oft aber (z. B. bei intercurrenten, febrilen Zuständen) Uberschreitet er denselben, indem die Hallucinationen über- mächtig werden und inhaltlich wechseln, und tritt so in den weitern Kreis der oben geschilderten Grenzfälle über. Aber auch der chronische Wahn- sinn zeigt in seinem Verlauf oft genug Exacerbationen, welche sympto- matologisch nichts Anderes darstellen, und auch sind, als die acute hallucinatorische Wahnsinnsform, wie sie oben antithetisch gezeichnet ist. Namentlich erfolgt die Einleitung oft mit einer derartigen hallucinatori- schen Phase. Andrerseits geht der nicht geheilte acute Wahnsinn nicht selten in einen chronisch-hallucinatorischen, theilweise auch systemati- sirten, über. Mit Einschiebung dieser üebergänge verringern sich die anfänglichen scharfen Gegensätze immer mehr und lassen ihre klinische Verwandtschaft um so klarer hervortreten. Die ursprünglichen Grenz- fälle liegen jetzt nicht einmal so weit entfernt als die Mania mitis und Mania gravis, welche gleichwohl Einer klinischen Gruppe zugehören.

Immerhin ergehen sich mit der genauem Analyse der in dieses ausserordentlich grosse ich möchte annehmen grösste Psychosen- gebiet einschlägigen Fälle noch gewisse weitere Differenzpunkte, welche gebieten die Grenzfälle klinisch scharf auseinander zu halten, und welche zugleich die ausserordentliche Weite des Bogens zeigen, welcher die Ge- sammtgruppe des Wahnsinns umschlies9t. Die chronischen Fälle reihen sich nämlich symptomatologisch theilweise eben so nahe an die eigentlich degenerative Verrücktheit an (ja leihen der letztern nicht selten ihre

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Der Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

klinischen Bilder), als die acuten an die Neuropsychosen (Melancholie und gewisse Stuporformen mit Hallucinationen). Es ist wichtig dieses Verhältniss zu betonen. So unterscheidet sich zwar im Allgemeinen der acute Wahnsinn von der Melancholie sehr markirt durch die Unabhängig- keit von einer primären krankhaften Stimmungsanomalie, welche bei der Melancholie einleitendes, andauerndes und herrschendes psychisches Ele- ment ist. Aber es gibt doch auch im acuten Wahnsinn eine dämono- manische Gruppe, welche nicht allein von einem mächtigen depressiven ( panphobischen) Affect getragen ist, sondern auch durch ein echtes De- pressionsstadium eingeleitet wird mit charakteristisch herabgesetztem Selbstgefühl, depressiv gefärbten Hallucinationen und Illusionen. Das- selbe nahe Verhältniss sagen wir, dieselben fliessenden Uebergänge bestehen zum Stupor. Im Allgemeinen findet allerdings gegenüber der am meisten typischen Stuporform (der attonischen) der acute Wahnsinn eine scharfe Abgrenzung durch den Mangel des Perceptionsabschlusses und der vollständigen Willenshemmung, wie sie beide für jene (Stupor) so charakte- ristisch sind ; aber die hallucinatorische Form des Stupors (der sog. Pseudo- Stupor) gliedert sich dafür wieder um so enger an eine Untergruppe des acuten Wahnsinns an, welch letztere gleichfalls nur ein traumartiges Innen- leben noch gestattet, höchstens vorübergehend durchbrochen durch Phasen von Halbklarheit, oder vereinzelten luciden Momenten. Man könnte in der That jene erst genannte Form eben so gut als die „stupuröse Form des acuten Wahnsinns" bezeichnen, wie als „ballucinatorischen Stupor", zum Theil auch nach Genese und Verlauf. So würde selbst der erweiterte Betrachtstandpunkt nicht anzufechten sein, welcher im Allgemeinen die gesammte acute Wahnsinnsgruppe als eine Wiederholung gewisser me- lancholischer, manischer und stupuröser Psychoneurosenzustände in der Traumphase des Bewusstseins zu erfassen d. h. zu definiren suchte.

Ebenso führen, wie erwähnt, von den chronischen Wahnsinnsformen fliessende Uebergänge in die degenerative Verrücktheit. Die beiderseitigen Krankheitsbilder sind symptomatologisch nicht selten nahe verwandt, ja fast identisch (s. o.), so dass die klinischen Differenzen nur aus dem Fehlen des „hereditären Habitus" herbeigeholt werden können. Denn auch die Entwicklung des Leidens ist hier nicht selten eine frappant identische. Von sehr beachtenswerter Seite (K rafft - Ebing» ist deshalb auch die chronische Verrücktheit (i. e. chronischer Wahnsinn) im Ganzen zu den degenerativen Psychosen geworfen worden, wohin sie aber meines Erachtens trotz der so sehr häufigen Unheilbarkeit nicht gehört, so wenig als die chronische Melancholie. Richtig ist und bleibt, dass die psy- chische Degenerescenz unter dieser Flagge aufziehen kann, und zwar zweifellos vergleichsweise öfter als unter dem Zeichen der andern Psycho- neurosen (es müssten denn letztere als periodische Manieen oder Melancholieen auftreten); aber es bleibt ein genügend grosses Gebiet von Fällen reservirt, welche, wenn auch nahezu symptomengleich, doch nicht „degeuerativ" sind. Vor allem legt trotz noch so grosser Symptomen- congruenz der Verlauf des Leidens gegen die beabsichtigte Ver- mengung Einsprache: der Verlauf ist bei allen erworbenen chronischen Wahnsinnsformen ein cyklischer, aus innerlich d. h. physiologisch begründeten Zusammenhängen verschiedener (manischer, melancholischer

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Der chronische Wahnsinn. Analyse der Symptome. Wahnideen. 137

u. g. w.) Zustandsphasen zusammengesetzter, während der der degenera- tiven Nebenform im eminenten Sinne stationär, gesetzlos polymorph ist, und gegenüber dem langsamem oder raschern Abfall in demente oder allgemeine Verwirrtheit (beim erworbenen Wahnsinn) die Par- tialität der Bewusstseinsstörung bewahrt mit gegenseitiger Verträglich- keit des gesunden und kranken Ich.

Allgemeine Symptomatologie. I. Der chronische (typische) Wahnsinn. Analyse der Symptome.

a) Die Wahnideen. Formale Genese. Ihrer Entstehung nach stammen sie entweder aus Vorstellungen (Wahrnehmungen, Worte, Einfälle), oder aus Sinnes-Empfindungen aller Art, welche „allegori- sirt" d. h. in die apperceptive Illusion des Ich (s. oben) aufgenommen und in dessen Stimmung gefärbt „umgedeutet" werden. Genetisch lassen sich danach die Wahnideen in 1. Vorstellungswahn und 2. Sin- nenwahn unterscheiden. Die Entwicklung 1. der wahnsinnigen Vor- stellung geht mit der der melancholischen parallel. Während aber bei der letzteren die durch periphere Irradiation Ubermächtige krank- hafte Stimmung den Eclaireur für einen passenden Erklärungsver- such des (localisirten) Gemüthsdruckes bildet und für ein gedanken- überfallt es Bewusstsein, so geht hier, beim Wahnsinn, die erste Entwicklung des Wahns innerhalb des Ich selbst vor sich, zwar auch aas einem treibenden Gefühle, welches aber intellectueller Natur ist Es ist die Rathlosigkeit in Folge des innerlich erschütterten Existenz- gefühls, die gefühlte Leere im Bewusstsein, welche den überstürzten „Schluss in's Blaue" erzwang (s. oben), und, im Bestreben Sich-selbst wieder zu erfassen, für den Augenblick das bedrohte Subject (das Ich) durch Setzung des (falschen) Objects scheinbar rettete. Dieselbe innere Unruhe, welche nur „Verification" will, erhält aber auch, immer neu aus der Hirnkrankheit sich erzeugend, die unbe- friedigte innere Spannung weiter.

Der wesentliche psychologische Unterschied in der Bedeutung der Wahnvorstellung (als solcher) im Wahnsinn gegenüber der Melancholie ist somit der, dass im ersteren der „Wahn" sofort schon gegeben ist, wenn auch anfänglich nur als allgemeine Denkschablone während er in der Melancholie erst secundär hinzukommt. Dort ist er ein unent- behrliches wesentliches Element, hier nur ein accidentelles, welches sehr oft auch fehlen kann. Die Wahnerschaflfung an sich wirkt deshalb, wie früher schon hervorgehoben wurde, im Wahnsinn eigentlich entlastend, aufklärend, in der Melancholie dagegen belastend, nur erklärend.

Für den concreten Ausbau des Vorstellungs -Wahnes für

die Ausfüllung der falschen Denk Schablone wird nun diese innere

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Der Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

Spannung zum treibenden Moment Das schwankende Ich stellt sich nämlich unbewusst auf eine aufklärende Wahrnehmung ein: aus seinem inneren Missgeftlhle heraus beginnt es zu „ahnen" d. h. es bereitet selbst die gesuchten Wahrnehmungen vor. Damit ist der Einschlag fUr den falschen Knoten gegeben. Das ahnungslos „ahnende" Ich lässt eben durch diesen unbewusst gespannten Innervationsstrom der Aufmerksamkeit alle unklaren und schwachen Mitvorstellungen, sofern sie von jenem berührt werden, zu klaren und mächtigen Wahr- nehmungen anschwellen; zieht unbewusst wenn einmal der Trug- scbluss in die Objectivität eine bestimmtere Richtung angenommen alle Mithilfen nicht nur aus den beobachteten Dingen, sondern auch noch hinter denselben hervor, um die gefühlte innere Lücke aus- zufüllen. So gestaltet sich Das und Jenes aus der Umgebung, und schliesslich Alles zu bedeutungsvollen „Symbolen". Das von jetzt an „bewusst ahnende" Ich ahnt aber nicht, dass es in den diesen überraschenden Funden nur unterlegte Gedanken zu Tage zieht, und in der gewonnenen Aufklärung nur den fertigen Vorstel- lungswahn geklärt hat. Dieser kann aus allen Wissens- und Er- fahrungsgebieten inhaltlich hergenommen sein (s. später). Formell drängt er immer mehr zur Ich - tragenden Vorstellungsreihe vor, und sucht sich mit dieser zu amalgamiren, was oft plötzlich, blitz- artig, anderemale aber erst nach neuen inneren Schwankungen sich vollzieht.

Es entsteht nämlich nicht selten, sofern der neue Eindringling dem alten Bewusstseinsinhalt zu sehr widerspricht, secundär eine Gemüths- spannung, welche nur wieder als Reiz zur steten „Prüfung" des neuen Fundes aufstachelt, und damit den Kampf mit dem Riesen Antheus wiederholt diesmal aber mit der eigenen Niederlage und mit dem Siege des letzteren endet, weil bei der geschwächten Kritik und Reflexion jede Berührung dessen Macht verstärkt. (Ueber die Entwicklung der eigentlichen „Zwangsvorstellungen" zu Wahnvorstellungen s. das betr. Capitel.)

Einfacher bietet sich 2. das Verständniss der Genese der Wahn- vorstellungen in den Fällen dar, wo Reizungszustände im Gebiete der höheren Sinne oder im Spinal- Grau (Hallucinationen, Hyper- und Parästhesieen) auf das in leiser innerer Erschütterung begriffene Sensorium einwirken (Sinnenwahn). Hier ist es die Macht des plötz- lich auftauchenden Sinneseindrucks oder die bis dahin ungeahnte Qualität des spinalen Reizes, wodurch langsamer oder rascher das ahnende Ich aufgeklärt wird. Manchmal sind es erst elementare centrale Sinneserregungen, welche in Gestalt von Wolken, Flämm- chen, Windsbrausen u. s. w. das Ich Überraschen und „stutzen"

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Wahnideen. Formale Genese. Vorstellungswahn. Sinnenwahn. 139

machen. Aus den ungeformten Lichtnebeln krystallisiren sich aber farbige Ringe, schwarze Punkte und Streifen und so stufenweise auch Aaschauungsbilder heraus, welche durch das bereits „bestimmte" Ich symbolische Bedeutung erhalten. Der Kranke ahnt jetzt und weiss bald, wohin er seine Schritte lenken, von wo er fern bleiben soll. In einer Reihe von Fällen erfolgt diese Mittheilnahme diese Reiz- Ubertragung auf die centrale Sinnesfläche unabhängig von der Affection im corticalen Apperceptionsgebiet und erst secundär: die Vorstellungsstörung „bildet sich, im wahren Sinne des Wortes, in die Sinne ein"; in anderen Fällen ist aber die hallucinatorische Reizung der primäre Vorgang, welcher in seiner psychischen Wirkung die kritisch geschwächte Intelligenz bannt und erst nach sich umstimmt. Wir begegnen darin eigentlich nur einer Steigerung derselben sen- soriellen Hyperästhesie, welche sich schon im ersten Krankheitsbe- ginn als abnorm erhöhte „sinnliche Betonung" der Vorstellungen ein- führte (s. oben). Es erscheinen dem Kranken schon einige Zeit vor Ausbruch des Wahnsinns die Farben und Figuren in der Aussenwelt ungewöhnlich schärfer und präciser, die gehörten Töne als uner- wartet aufdringlich gleichsam, als wenn sie ihn mehr angingen als früher. Bei näherem Fixiren scheinen die Gestalten auf Bildern und Gemälden aus dem Rahmen gegen das Auge des Beschauers zu treten, ja sich zu bewegen. Die gesteigert empfundenen und zum Theil ganz neuen spinalen Sensationen erregen erst eine hypochon- drische Verstimmung, welche die ohnehin geschwächte Reflexion des Kranken noch mehr hemmt, und damit gleichen Schritts den Process der wahnhaften Allegorisirung der Sinnesempfindungen fördert. So wird der „Sinnenwahn" fertig. In der überreizten centralen Sinnes- fläche erhalten die ankommenden Empfindungen eine grotesk phan- tastische Umformung; im Apperceptionsgebiet werden sie in die „Schablone" der geahnten „Beeinträchtigung", „Grösse" hineinge- zwängt. Dabei wirkt für die Specialisirung der Sinnenwahnideen deren sinnlicher Timbre mit: die beklemmenden Präcordialsensatio- nen werden in den Besessenheitswahn umgedeutet, die uterinen in den Wahn der Gravidität (Mutter Gottes u. s. w.) allegorisirt. Aber nicht allein centripetal als Matrix für Wahnvorstellungen fungiren diese spinalen Hyperästhesieen, sondern auch „centrifugal" d. h. als mitbegleitende periphere Localzeichen für intellectuelle Vorgänge; so erhalten zufällige, mit solchen nervösen Tics zusammentreffende Wahr- nehmungen, Einfälle, Reproductionen u. s. w. das jeweils „objecti- virende Moment", so dass sie nicht als innerlich entstandene, son- dern als von aussen (d. h. feindseliger Weise) dem Kranken bei-

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140 Der Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

gebrachte imponiren. Viele Wahnsinnige unterscheiden in der That eigene und fremde Gedanken nur noch durch dieses Kriterium.

Das bedeutsamste, aber auch verhängnissvollste „Symbol" für den Kranken wird das Wort in Form des Zwangsgedankens, des Einfalls, der Hallucination. Als Träger des Begriffs im normalen Seelenzustande, als Sammelpunkt einer unendlichen Fülle von Einzelvorstellungen, wird es im Wahnsinn (und in der „Verrücktheit", s. d.) zum mächtigsten Zer- streuungsapparat, je nachdem es zufällig in diese oder jene „Ahnung" einschlägt, oft diese vollständig erfüllend und aufklärend, oft aber auch das Ich im Anfang verblüffend, bis es das letztere endlich Uberwältigt und ihm seinen „Sinn" aufdrängt. Bei noch mässigem Grade von intel- lectueller Schwäche geschieht dies in logischer Weise d. h. durch den Wortinhalt, welcher sich dem Ich aufzwingt; später sind es die Silben- theile des Wortes oder schliesslich sein Lautklang, welcher durch wei- tere Assonanzen gleichklingende Reproductionen weckt und dadurch ebenso viele neue Vorstellungen, neue bestimmende Wollungen herbeiruft (so na- mentlich zersplitternd und sinnverwirrend, wenn diese Assonanzen bei ge- bildeten Kranken über mehrere Sprachen zu gebieten vermögen).

Inhalt der Wahnideen. In allen chronischen Fällen von Wahnsinn haben die Wahnvorstellungen die Neigung zur logischen Verknüpfung, zur Sy stematisirung. Diese erfolgt nach dem In- halt der Wahnvorstellungen. Der Inhalt kann nun sein: a) hypo- chondrischer, oder b) das Ich beeinträchtigender, oder c) das Ich erweiternder Natur.

Die hypochondrischen Ideen im Wahnsinn zeichnen sich, gegenüber den einfach hypochondrisch-melancholischen, durch das Groteske und Phan- tastische ihres Inhalts und durch die plastische Evidenz nicht allein der Sensationen selbst, sondern der aus den centralen Dys-, An- und Hyper- ästhesieen geschlossenen „Thatsachen" aus. Dahin gehören : die Verkür- zungen von Knochen, Verschiebungen von Organen, Herausnahme ge- wisser Körpertheile, Umstitlpungen, Transferte von rechts nach links und umgekehrt u. s. w. (Weiteres s. unter cerebrospinaler Wahnsinn). Die b) das Ich beeinträchtigenden Wahnideen haben allermeist ein Verfolgtwerden durch äussere Feinde zum Inhalt: Freimaurer, Jesuiten, Dämonen wech- seln in der Rolle ab. Die Mittel des Angriffs" werden aus der Elek- tricität, dem Magnetismus, den Laboratorien des Chemikers herbeigeholt und beruhen je nach ihrer unbewussten Auswahl oft nachweislich in den Qualitäten der Sensibilitätsanomalieen. Unter den spinal vermit- telten figuriren die „sexual gefärbten" in erster Reihe: nächtliche An- griffe auf die Hoden, „Aushaspelungen der Samenkanäle", „Andrückungen von Dirnen" sind constant wiederkehrende Typen bei Männern ; Attentate auf die Geschlechtsehre, unzüchtige Berührungen, nächtliche Begattungen, Schwangerschaften u. s. w., die correspondirenden Wahnvorstellungen bei wahnsinnigen Frauen. Die Hallucinationcn dieser Gruppe führen dieselbe Sprache: einen beleidigenden, oft cynischen Inhalt. Die Gruppe c) ver- einigt die Grössenwahnideen, und zwar religiösen, erotischen oder phil- anthropischen Charakters: Gottbegnadigungen, Auserwähltsein zu hohen

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Inhalt der Wahnideen. Benehmen und Handeln. 141

Missionen (Messiaswahn) sind die Typen der ersteren; Heirathsträume, idealer oder mehr sinnlicher Verkehr mit fictiven Geliebten die der zwei- ten ; weltbeglllckende Entdeckungen und Erfindungen die Typen der dritten Unterform. Auch hier gehen gleichgestimmte Hallucinationen mit; doch präraliren für den beginnenden Verfolgungswahn die des Gehörs, dann des Gefühls und Geschmacks, sehr häufig aber auch die des Getasts ; für die mit Größenwahn einsetzende Wahnsinnsgruppe kommen auch Gesichts- täuschungen neben denen des auch hier bevorzugten Gehörs. Diese verschiedenen Formen von Wahnideen vertheilen sich aber nicht etwa getrennt nach einzelnen klinischen Gruppen, sondern sie combiniren sich vielfach. Selbständig und den ganzen Krankheitsverlauf beherrschend kommen die Verfolgungsideen im Beeinträchtigungswahnsinn vor, weniger souverän sind die Expansionsideen in dem Grössenwahnsinn. Es gibt wohl Fälle, in welchen sie den maassgebenden Inhalt dauernd bilden; aber dies sind mehr nur die acuten und subacuten Formen dieser Gruppe. Für gewöhnlich gehen auch beim Grössenwahnsinn depressive Wahnvor- stellungen voraus, nicht selten ein förmliches Stadium bildend; an dieses schliesst sich wie die Fata morgana des verdurstenden Wüsten Wan- derers — der Umschlag in das expansive Stadium mit gleichgestimmten Wahnvorstellungen an. Sehr oft wechseln im späteren Verlaufe beide Varietäten mit einander ab. Aber auch der primäre Verfolgungswahn nimmt manchmal im Verlaufe eine Wendung in die entgegengesetzte Phase und zeigt das Auftreten von GrÖssenideen. Die hypochondrischen Wahn- ideen kommen als formgebender Inhalt vergleichsweise seltener vor ; häu- figer bilden sie als solche Stadien innerhalb der übrigen Formen , so namentlich als Anfang, manchmal, wiewohl seltener, auch während des Krankheitsverlaufs; öfters dagegen wird im Ausgang, gegen die Recon- valescenz hin, ein hypochondrisches Stadium bei constitutionellen Wahn- sinnsformen (namentlich hysterischen, aber auch den originären) beobachtet. Ganz besonders häufig tritt dasselbe bei sexueller, speciell masturbatori- scher, Grundlage auf.

Klinisch sehr beachtenswert!! ist der remittirend - exaeerbescirende Charakter der Wahnideen. Sie können auftreten und wieder verschwin- den, ja sogar auf lange Perioden hinaus; sie können wieder einsetzen in einfacher Form oder verstärkt durch lebhafte Hallucinationen; ja das Bewusstsein kann sich unmittelbar nach einer überstandenen Phase mitunter sogar während einer solchen zur kritischen Correctur vor- übergehend erheben, um sofort bei der neuen Episode zur alten Urtheils- sehwäche und kritischen Benommenheit herabzusinken. Auch fieberhafte Krankheiten unterbrechen zuweilen das Spiel der Wahnvorstellungen, ja sie können, wie intercurrente Typhusfälle beweisen, sogar ein vollständiges Zurücktreten derselben, eine Heilung, bewirken (in einem meiner Fälle heilte ein fieberhafter Magendarmkatarrh einen schweren subacuten Ver- folgungswahn).

b) Benehmen und Handeln des Kranken. Hier knüpft sich zu- nächst der Einfluss der Wahnideen auf das „Wollen" der Kranken an. Manchmal Bind beide bis zu einem grössern oder geringem Grade unabhängig von einander, so dass die intellectuelle Schädigung im

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Der WabnsinD Paranoia. Allgemeines.

Aeusaern gar nicht zu Tage tritt und nur der Affect vorübergehend die Fesseln sprengt, wobei der innere Stachel der bis dahin stille getragenen Verfolgung, oder aber im Pathos der Ueberlegenheit der bis dahin dissimulirte Grössenwahn aufblitzt. Anderemale, und dies ist die Mehrzahl der Fälle, gehen aber Wahnideen und äusseres Be- nehmen Hand in Hand. Das letztere ist der ungeschminkte Aus- druck des Innern. In wieder anderen Fällen findet zwar derselbe wechselseitige Einfluss statt, aber die Beziehung tritt nicht so klar zu Tage; zwischen Handlung und Motiv scheint vielmehr eine breite Kluft zu liegen. Die erstere erscheint formal und an sich correct, aber in ihrem Inhalt auffallend, oft geradezu unverständlich. Hier klärt dann erst die tiefere Forschung den Zusammenhang und löst, oft noch vom Schein -Motiv verdeckt, den Widerspruch, indem sie den Grössenwahn (auffällige Wohlthätigkeitsspenden) oder den Ver- folgungswahn (persönliche Schutzmaassregeln), oder den „Wort"zwang, welcher zur äusserlich correcten, aber innerlich sinnlosen Handlung ftthrte, enthüllt.

So kann ein Kranker plötzlich alle möglichen Dictionnaires sich kaufen und endlich als wirkliches Motiv nicht den anfänglich behaupteten Wis- sensdrang, sondern den Wortzwang in der Silbe „tik" offenbaren, welche im Worte „Politik" zufällig ihm entgegentrat und haften blieb, und zu deren Bekämpfung (d. h. um davon sich zu entlasten) er die Ankäufe machte. Die Silbe „tik" war von der Assonanz „Dictionnaire" apperci- pirt worden.

Sehr oft, namentlich in späteren Stadien, geht diese Umsetzung der Wahnideen in Zwangsacte dem Kranken selbst fühlbar unter dem Bewusstsein hindurch, ohne dass er einzugreifen und zu hemmen vermag; zu andern Zeiten gelingt es ihm ganz oder theil- weise entgegenzuwirken, und er freut sich dann ob seines „Triumphes". Viele Kranke umgürten sich gleichsam mit einer Brustwehr von eigens erdachten „Selbsthilfen" gegen solche Zwangsgedanken, deren Entstehungsquellen sie kennen gelernt haben; doch hält der künst- liche Schutz nicht immer vor, und der Kranke wird paroxysmen- weise zu tumultuarischen Auftritten gegen die Umgebung in Form von Schimpfworten, absichtlichen Kränkungen u. s. w. getrieben nicht als „gewollt boshafte Acte", denen diese Zorn-Entladungen oft täuschend gleichen, sondern als Zwangsreactionen, wobei der Kranke nicht anders konnte, wie ein Papagei sprechen, wie eine Maschine handeln musste. Bei willensstarken Naturen dagegen bemerkt man nicht selten den festen Entschluss des Kranken auch hemmend in den Krankheitsmechanismus einzugreifen, so dass der Kranke nach aussen hin durchaus componirt sich zu führen vermag. In vorge-

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Zwangshandlungen. Paralogie, Paraphasie, Paragraphie. Stimmung. 143

rückten Wahnsinnsstadien bilden sich sehr oft automatische Zwangs- stellnngen und Bewegungen, barocke Körperhaltungen und Verzer- rungen zu einer habituellen Mimik aus psychomotorische Zwangs- vorstellungen, genauer: Reproductionen der früher geübten und in das Gedächtniss der Nervenmaterie eingegrabenen Zwangsacte.

Hier ist auch die Paralogie und Paraphrasie sowie die Paragraphie sehr vieler dieser Wahnsinnigen zu erwähnen. Neu erfundene Worte, Umstellungen von Silben, neue Schriftzeichen, verschrobener Ductus der Zöge, „bedeutungsvolle" (eigentlich sinnlose) Unterstreichungen, oft mit verschiedener Grösse der Buchstaben, mit verschieden gefärbter Tinte sind häufige Aeusserungen dieser erkrankten geistigen Symbolik.

c) Die Stimmung. In der Uberwiegenden Mehrzahl der Fälle ist diese im Beginne der Krankheit eine gedrückte oder wenigstens eine zerstreute, entsprechend dem benommenen Bewusstseinszustand and der ahnenden Spannung, wie sich die „von aussen" gefühlte innere Aenderung aufklären werde. Ein ruheloses Wesen treibt den Kranken, heisst ihn Lieblingsgewohnheiten und Verkehr meiden; ja selbst die Familie kann weder seine Aufmerksamkeit noch sein Herz mehr erfassen. Bald kommt peinliches Grübeln und damit Erhöhung der Depression. Ist erst der „Wahn" appereepirt, so steigert sich diese zur offenen oder verdeckten Feindseligkeit. Aber dieser Grund- ton bleibt nicht constant; im Gegentheil und ganz im Gegensatz zur Melancholie ist der grosse Wechsel der Stimmung sehr häufig das auffallendste Symptom des (in seinen Wahnäusserungen noch vorsichtigen und zurückhaltenden) Kranken. Zu einer Stunde noch ziemlich natürlich, freundlich, theilnehmend, erkenntlich, kann er in der folgenden finster, wortkarg, abstossend sein; von der weh- müthigen Weichheit bis zum gereizten Trotze können alle Nuancen in rascher Folge durchlaufen werden. Zu Zeiten ist die Stimmung eine absolut unzufriedene, zieht aus jedem Worte, aus jeder Miene und Geberde, aus dem heitern unbefangenen Treiben Anderer nur das Gefühl der Kränkung, der Zurücksetzung, des bösen Willens. Aber auch in den Stadien exaltirten Wahnsinns ist der Kranke nicht eigentlich „glücklich". Er scheint wohl heiter und gehoben Alles ist ihm ja sichere Verheissung und Thatsache aber der fortwir- kende Reiz im Bewusstseinsorgan, welcher den Kranken immer weiter „ahnen", nie wirklich ausruhen lässt, entzieht ihm das Gefühl tieferer und namentlich dauernder Befriedigung. Erst mit dem Eintritt in Geistesschwäche, wenn das „Rad" im Apperceptionsorgan stillsteht und die bis dahin geschonten normalen Vorstellungskreise schritt- weise reducirt sind, tritt das „vollkommen selige Gefühl der Befrie- digung" ein die erhöhte (Erschöpfungs-)Reaction des absterbenden

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Der Wahnsinn Paranoia. Allgemeines.

Nerven (Arndt). Für das eigentliche höhere Gemüthsleben ist dem typischen Wahnsinn ein Grundzag von Egoismus eigen, bald mehr, bald weniger hervortretend, welcher die Kranken immer mehr von der Welt und frühem liebsten Interessen abschliesst und sie altruistisch hart macht

d) Somatische Begleitzeichen und Ursachen sind in bestimmter und charakteristischer Form nicht vorhanden. Das vasomotorische Sy- stem, welches in melancholischen und manischen Zuständen eine con* stante Affection zeigte, ergibt für den ruhigen chronischen Wahnsinn keine nachweisbaren Zeichen von Antheilnahme. Dagegen ist der letz- tere die richtige Brutstätte wie der Wahnideen und Sinnestäuschun- gen — so auch der ausgedehntesten Sensibilitätsanomalieen ; ja er erhebt sich in einer grossen Zahl von Fällen thatsächlich erst auf dieser vor- bereitenden Grundlage, so zwar, dass diese sensibeln Begleiterscheinungen wesentlich ihm d. h. der bezüglichen Hirnaffection angehören (s. cere- brospinaler Wahnsinn). Die abnormen Gefühle im weitesten und engsten Sinne, von den streng localisirten Neuralgieen bis zu den mehr diffusen Verstimmungen des psychischen Gemeingefühls, bilden als „wahnbildende Matrix" die steten und zugehörigen, wenn auch oft polymorph wechseln- den körperlichen Begleitsymptome. In ihnen fixirt sich der „Verfolgungs- wahn", wie sie dereinst die ersten „Angriffe von aussen" für das ahnend suchende kranke Bewusstsein abgegeben hatten. Aber auch die wech- selnden Stimmungen werden durch diese Sensationen geleitet: aus dem Brennen in den Augen entstehen erst Thränen, daraus „Wehmuth" und endlich „Zorn". In erweiterter somatischer Beziehung sind als wich- tige Begleitzeichen (resp. periphere Ursprungsstätten des Wahnsinns) Uterinaffectionen und Menstruationsstörungen bei den Frauen zu nennen, sexueller Abusus bei Männern und Frauen, die Involutionsphasen (Puber- tät und Climacterium) bei beiden Geschlechtern, und namentlich die neur- asthenischen Spinalzustände bei jungen, durch Masturbation geschwächten, Männern und Frauen. In diesen sämmtlichen Fällen ist wohl die Affec- tion des Lendenmarks mit der aufsteigenden und zum Theil reflectorisch erzeugten Spinalueurose die somatische Folge, und für den sich aus- bildenden Wahnsinn die mitwirkende Ursache. Für den acuten Wahn- sinn sind bei Disponirten auch acute Krankheiten, namentlich Magendarm- affectionen, nicht ohne wichtige Bedeutung. Eine grosse Rolle spielt die erbliche Belastung, jedoch nicht sowohl nach Seite ihres degenerativen, als vielmehr des einfach prädisponirenden Einflusses. Viele Patienten sind in jeder Hinsicht geistig und gemüthlich gut veranlagte und entwickelte Menschen.

Der Verlauf des Wahnsinns ist ein sehr mannigfaltiger. Für den chronischen bildet der remittirend-exaeerbescirende die Regel. Eine Reihe von Fällen geht nach einjährigem und noch längerem Bestände allmählich in Genesung Uber, ein vergleichsweise grösserer Theil in Heilung mit Defect. Andere wieder werden auf Jahre hinaus stationär, bewegen sich aber doch in Schwankungen und zugleich in

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Verlauf. Therapie.

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einem leisen Decursus nach abwärts in mehr oder minder hochgra- diger psychischer Schwäche. Die klinischen Charaktere die Wahn- ideen nnd Hallncinationen bleiben dabei erhalten, gestalten sich dem intellectuell schwachen Ich immer befreundeter, werden zu eigentlichen „Tages Gästen" (secundärer Wahnsinn, s.d.). Wesent- lich für den Verlauf ist das Auftreten heftiger manischer Reactionen (Furoranfälle) , wodurch der geistige Niedergang beschleunigt d. h. mit jedem neuen Anfalle gefördert wird. Das Endstadium dieser ist gewöhnlich ein wirklicher Blödsinn mit Resten der früheren Wahn- ideen (s. die Einzelformen). Das Eintreten wichtiger Involutions- Perioden (Climacterium) wirkt gleichfalls verschlimmernd, ganz be- sonders aber sind es bei langer Krankheitsdauer die organischen Hirnprocesse des Seniums, welche oft in brüsker Weise den Krank- heitsverlauf (durch Apoplexie mit Folgezuständen u. s. w.) modificireu.

Sehr beachtenswerth ist der intermittirend -schuh weise Ver- lauf vieler Wabnsinnsfälle. Die Krankheit setzt als Verfolgungs- oder Größenwahn ein und corrigirt sich nach kurzer Zeit, so dass die Kran- ken wieder genesen oder aber gebessert (ohne Krankheitseinsicht) ent- lassen werden können. Nach kürzerer oder längerer Frist erfolgt ein erschwerter Rückfall mit verlängerter Krankheitsdauer, welcher aber auch wieder heilen und sich bessern kann. So kann sich der Turnus noch mehrfach wiederholen, aber immer ernster und langwieriger, bis endlich der letzte Anfall definitiv bleibt. Es können ferner Attonitätszustände complicirend in den Verlauf eintreten (s. atton. Wahnsinn). Ganz we- sentlich kann der Verlauf durch individuelle Zwischenfälle (Nahrungsver- weigerung bei Verfolgungswahn, tentamina suicidii) beeinflusst resp. ab- gekürzt werden.

Therapie.

Die Behandlung des chronischen Wahnsinns verlangt Aufnahme in eine mit allen Ressourcen versehene Irrenanstalt. Der Kranke muss in eine neue Welt eintreten, welche die schädigenden Reize von draussen nicht hat, und dabei positiv die seiner Individualität genügenden Hilfsquellen (zusagende Beschäftigung, Feldarbeit, geistige Ablenkung), und ausserdem noch die Mannigfaltigkeit besitzt, um Aufenthalt und Beschäftigungs weise zu wechseln, wenn sie vom Wahne inficirt dem Kranken unbehaglich werden. Der Wahnsinnige ist leicht verwundbar und bewahrt tief, was ihn einmal verletzte: deshalb sorgsam erwogene psychische Behandlung. Keine directe Wahn- correctur, bis der Kranke genügend in seiner Reflexion erstarkt und in seinem Vertrauen zum Arzte befestigt ist. Geduld will bei dem Werke sein! Oft lässt sich in der Reconvalescenz durch Verschie- bung der ersehnten Entlassung ein heilsamer Gegendruck gegen die

Schble, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 10

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Der chronische depressive Wahnsinn.

letzten Reste des Wahnes ausüben; anderemale besorgt die Entlassung stillschweigend diese Correctur durch die Eindrücke der Wirklich- keit, welche der mittlerweile in sich zur Ruhe gelangte Kranke jetzt anders aufzufassen vermag. In den selteneren Fällen ist eine wirk- liche Einsicht in den Wahn zu erreichen; gewöhnlich ist es schon ein sehr glückliches Resultat, wenn der Kranke denselben zu ver- gessen oder wenigstens zu ignoriren lernt. Bei bestandenem Ver- folgungswahn sei man übrigens vorsichtig und halte die Möglichkeit der Dissimulation stets im Auge. Arzneilich hilft sehr oft Opium (Morph.-Injectionen) die richtige geistige Nivellirung d. h. das Zurück- treten der anomal überwiegenden Wahnvorstellungen zu unterstützen. Daneben ist die sorgfältigste Beachtung aller körperlicher Anomalieen (Ernährungs- und Circulationsstörungen , Neuralgieen, Uterinleiden) angezeigt. Beim cerebrospinalen Verfolgungswahnsinn bildet die Be- kämpfung der hier ausserordentlich häufigen Onanie einen wesent- lichen Zielpunkt des ärztlichen Handelns; speciell gegen die Sensi- bilitätsanomalieen sind Bromkali, Morphium, Elektricität, bydropath. Behandlung in individueller Auswahl anzuwenden.

Der chronische depressive Wahnsinn.

a) Der Verfolgungswahn.

Klinisches Krankheitsbild.

Es lassen sich zwei grosse Typen unterscheiden, welche aber aufs Mannigfachste in einander übergehen.

a) Die cerebrale Form. Der Anfang der Krankheit ist in der Kegel ein allmählicher. Selbst wenn die eigentliche Scene mit einem psychischen Sturm (Aufregung, Hallucinationen) beginnt, so bricht dieser nicht in ein bis dahin gesundes Geistesleben ein (wie nicht selten die verwandten acuten Formen), sondern stets in ein vorbe- reitetes. Oft ist es ein einfacher Status nervosus, andere Male aber eine ausgesprochene depressive Stimmung, welche die Krankheit ein- leitet. Dabei ist das anfängliche in der Brust verschlossene Gefühl der Verbitterung oft genug aus wirklichen herben Erlebnissen, aus der berechtigten Enttäuschung eines redlich gewollten, aber unter einem ewigen Unstern gestrandeten Strebens grossgezogen. Der Kranke kommt den Näherstehenden verändert vor ; er fühlt diese Aenderung

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a) Cerebrale Form. Klinisches Krankheitsbild.

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wohl auch selbst, vermag sie aber nicht zu erklären. Das sind für ihn schwere Zeiten, welche nicht selten den Gedanken an freiwillige Lebensentsagung ihm nahelegen. Die innere Unsicherheit und Rat- losigkeit — viele Kranke versichern direct, dass sie sich gar nicht zu fassen vermöchten, dass sie nicht wüssten, was in ihrem Kopfe sei erzeugt Misstrauen und zunehmende Selbstisolirung. Bestän- diges Grübeln, namentlich in religiösen BUchern, erfüllt die schein- bare, mühsam zusammengehaltene Ruhe. Oft schon wird jetzt der Appetit und Schlaf unwiederbringlich gestört; der Kranke magert ab, fühlt sich auch körperlich elender und geistig sich immer mehr ein Räthsel. Die Lösung des letztern durch den objectivirenden Trugschluss und damit der Schritt in die eigentliche Krankheit hin- ein kann nun auf die individuell verschiedenste Weise erfolgen. Oft ist es ein starker Affect, irgend eine lebhafte Auseinandersetzung, wozu dem immer reizbarem Kranken jeder Tag Gelegenheit in Fülle bietet; er kennt von jetzt an Den, der ihm nicht wohl will. Sehr häufig figuriren „Jesuiten und Freimaurer" als diese feindlichen Attentäter; andere Male führt eine peinliche Erinnerung aus dem Vorleben auf die Spur des gesuchten Verfolgers (s. u.). Oder es ist eine Zeitungsnotiz, welche der Kranke auf sich bezieht, oder die auffallend „spöttische" Miene irgend eines Vorübergehenden, ein unerwartetes Husten oder Lachen oder Ausspucken, was ihm die Situation klärt.

Nicht selten ist die Wahl des ersten Wahnobjects keine nur zufällige, sondern steht vielmehr in engster logischer Verkettung. So bildet oft die einstens still gepflogene Hoffnung (z. b. auf Verehelichung) den Inhalt der ersten Wahnsinnsillusion, nur im verkehrten Spiegelbild: der empfundene Nichterfolg wird jetzt zur absichtlichen Kränkung seitens jener einst be- gehrten Persönlichkeit; die getäuschte Hoffnung (aus dem „Blick" eines Dritten abgenommen) reflectirt sich als erste peinlich empfundene Beein- trächtigung. Umgekehrt kann die innere Entzweiung, der Kampf zwi- schen Pflicht und Leidenschaft, welchen ein „begehrter" erotischer Blick in ein disponirtes Gemüth geworfen, zum directen Spiegelbild in Form einer wahnsinnigen Illusion werden: der geduldete unsittliche Gedanke zu schwach zum Rückschlag in eine Melancholie objectivirt sich als Ver- folgung seitens Dritter (als sei der Träger jenes Blicks ein frivoler Attentäter auf Frauenehre). Doch gibt es neben diesen, noch logischen, Entstehungswegen auch ganz unbewusst bleibende, wo der Wahn toto de coelo hereinblitzt.

Man macht sich nun Uber den Kranken lustig, sucht ihn zu

beobachten, zu kränken, oder aus seiner Stellung zu entfernen. Noch

rascher offenbart sich das „Gesuchte", wenn Sinnestäuschungen sich

zn dessen Eclaireurs machen. Sie kommen theils von selbst, theils

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Der chronische depressive Wahnsinn.

(und sehr häufig) im Anschlags an einen alcoholischen Excess, ans welchem der Kranke „Vergessenheit" zu schöpfen gewähnt hatte. Manchmal sind es nur elementare: Brausen im Ohre, Flimmern vor den Augen; in andern Fällen treten aber sofort fertige Hallucina- tionen aus einem oder mehreren oder sämmtlichen Sinnesgebieten auf-

Der Inhalt der Stimmen ist allermeist Beschimpfung, Holm oder Neckerei; der Inhalt der krankhaften Geschmacksperceptionen ein Gift- wahn. Genetisch interessant ist die Angabe vieler Kranken, dass, sowie sie sich nur an einen Namen, eine Thatsache erinnerten, die Stimmen sofort den Faden weiter spännen, und daraus das „dümmste unbedeutendste Zeug" machten; dass ihre (der Kranken) eigene Vorstellungen ihnen durch die Stimmen entrissen, gleichsam vor dem Munde weggeschnappt würden. Sowie sie an Etwas dächten, erschiene auch dessen Bild vor ihren Augen leibhaftig. Höchst interessant ist die Angabe, dass manchmal dem Kranken durch das G e h ö r allerlei Bilder erzeugt werden, roheun- geformte Massen, z. B. Steine, Holz, Metall, mit grosser Angstwirkung. Andere im Gegensatze behaupten („ blaue") Stimmen zu sehen, und wollen sie einfangen. Manchmal gehen dem Eintritt der Hallucinationen tage- lange heftige Angstzustände voraus, welche mit dem Einbruch der Sinnes- täuschungen sich legen, freilich nur um reactiv jetzt ebenso oft wiederzu- kehren.

Es gibt eine Entwicklungsform des Wahnsinns, wobei die einleitende psychische Verstimmung gar nicht besonders auffällt, und oft ganz nur im Verhältniss der veranlassenden Ursache (tiefer Gemüthsaffect) einsetzt, und erst eine plötzlich aufblitzende Sinnestäuschung den Kranken und dessen Umgebung Uber den Ernst der Lage belehrt. In diesen Fällen ist eigentlich die Hallucination das primäre Krankheitssymptom. Die- selbe kann Anfangs vom Kranken noch richtig beurtheilt werden und auch vorübergehend wieder zurücktreten; bald aber setzt sie wieder ein (zu- nehmende Anämie und Agrypnie), und bleibt jetzt uncorrigirt (der Kranke versichert, wenn er die Stimmen höre, „ganz taub zu sein").

Merkwürdig ist oft der barocke Inhalt solcher Primordialsinnesde- lirien; so z. B. hört der Kranke beständig 3x11 = 12, und erkennt in dieser Zumuthung eine schwere Beleidigung.

Nicht selten wechselt die Projection der Stimmen; oft kommen sie aus nächster Nähe, anderemale aus der Ferne, so dass sie der Kranke kaum versteht, und in aufreibender Pein sie doch zu belauschen sucht. Manchmal werden gegentheils die Stimmen mit dem Näherrücken auch inhaltloser.

Seltener brechen die Hallucinationen aus mehreren Sinnesgebie- ten, und zugleich mit solcher Mächtigkeit ein, dass der Kranke auf Stunden oder einige Tage acut verwirrt und in eine förmliche Traum- welt vorübergehend versetzt wird. Er erlebt in diesen acuten Epi- soden förmliche Theater- oder SpukstUcke, die man mit ihm auf- fuhrt, geberdet sich in heftiger manischer Erregung oder in zitternder Todesangst, wenn er sehen muss wie man ihn „metzelt" und „vier-

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a) Cerebrale Form. Klinisches Krankheitsbild.

theilt"; wenn Gesichte von geinen Widersachern und Freunden sich um seine Vernichtung oder Beschtttzung streiten.

Eine Reihe von Fällen, vorzüglich mit starker invalider Hirnanlage, setzen mit einer solchen acuten depressiven Wahnsinnsphase gleich zum Beginn ein, und verlaufen erst nach Beschwichtigung der desultorischen massenhaften Sinnestäuschungen in das chronische affectmatte Stadium. Andere beginnen erst mit einer Mania mitis (Plänesucht, grosse Ge- schwätzigkeit, gesteigerter Thätigkeitsdrang) ; sehr bald wird aber die gehobene Heiterkeit der ersten Tage durch Verfolgungshallucinationen gedämpft; es folgt eine gereizte Stimmung mit ZornausbrUchen und zeit- weisen krampfartigen Angstzufällen, oft auch von perversen Acten als Reaction auf die bedrängenden Sinnestäuschungen, manchmal mit ganz verwirrter Ideenflucht und erst hieraus klärt sich der ruhige Verfol- gungswahn.

Wieder andere Fälle endlich verlaufen inremittirendem Typus, indem nach anfänglicher acuter Wahnsinnsphase mit Hallucinationen sämmt- licher Sinne (oft unter heftiger manischer Reaction) erst ein ruhiger Zu- stand eintritt mit relativ lucidem Bewusstsein, wobei der Wahn aber uncorrigirt fortdauert; nach längerer oder kürzerer Remission (eine bis einige Wochen) kommt ein zweiter manisch-hallucinatorischer Raptus, und so im Weiterverlauf noch mehrere, bis endlich der chronische Zustand bleibt.

Bei allmählicher Entwicklung ist es in der Regel erst Ein Sinnesgebiet, welches mit seinen Täuschungen auf die Grübeleien des Kranken antwortet, oder ihm plötzlich die schreckliche „Ahnung", für die er bis dahin keine Lösung finden konnte, erfüllt: er ist das Opfer einer Intrigue; man will ihn aus dem Wege räumen; der Warnungsruf der Vögel hat ihm wie „geschwind, geschwind" ge- klungen; kaum ist er rechtzeitig noch dem „Gifte" in Speisen und Getränken entwichen. Manchmal folgen jetzt schon emotive Reac- tionen; der Kranke steht abermals an der Schwelle einer Gewalt- tat, oder er fordert erbittert den Schutz der Polizei. Oft aber ver- schlie88t er auch noch die Entdeckung in sich, und forscht nach neuen Beweisen. Diese lassen nicht lange auf sich warten ; ist ja das Perceptionsgebiet unbewusst auf die Klangfarbe der bereits do- rn inirenden Idee eingestellt, „gestimmt" (s. allg. Einleitung), so dass nur die erwarteten Accorde wiederklingen. Dazu treten Reflex- Illusionen und Symbolisirungen: die gefühlte Ahnung „wird ge- schaut"; Alles um den Kranken ist „geändert", verhext, kleiner gemacht, vertauscht; es kommt Thatsache Uber Thatsache, dass man ihn nur vexiren und schädigen will. Waren es Anfangs Sinnes- wahrnehmungen, welche, illusorisch umgedeutet, den apperceptiven Trugschluss unterstützten, so hilft bald das „Wort" mit, oft ein bei- läufig gehörtes, andere Male ein gelesenes, selbst ein zufälliger Strassen- oder Orts- oder Personenname, um in unterlegter Umdeu-

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Der chronische depressive Wahnsinn.

taug (ja selbst nach seiner syllabären Zusammensetzung oder in seiner Assonanz) die gesuchte Antwort, „die Erklärung" zu bringen für das verzweifelt schwankende und nach einem zureichenden Grunde ringende Bewusstsein. So, von den mannigfachsten Sinnes- täuschungen, Träumen und innern Eingebungen unterstützt, klärt sich endlich der fertige Wahn des Verfolgtseins ab. Jede neue Beobachtung wird krampfhaft in das System hineingezerrt; endlich erscheint die ganze Umgebung in zweifellos verdächtiger, be- deutungsvoller Gestaltung. Der Kranke aber fährt fort mit allen Mitteln seiner Logik zu argumentiren , dass er „geistesgesund" sei, oder führt seine nicht abzuleugnenden nervösen Beschwerden als weitere Beweise für die ihm böswillig zugefügten Schädigungen vor. „Wenn ich geisteskrank sein soll, so bin ich es mit Verstand".

Der Kranke steht nun im Mittelpunkte eines Complottes, dessen Ziel und Opfer er ist. Alles ist darauf berechnet ihn zu quälen und in's Verderben zu ziehen. Durch verfängliche Fragen sucht man ihn in die Irre zu führen, durch Vorspiegelungen seinem Glau- ben abtrünnig zu machen, durch obscöne Reden seine Grundsätze zu untergraben. Man gibt ihn für Den und Jenen aus, dichtet ihm Schandtbaten an, verdächtigt ihn, häuft alle möglichen Verbrechen auf ihn, treibt Spielwerk mit ihm. Durch seine innern Eingebungen und Ahnungen, auf die er felsenfest baut, erhält er Aufklärungen Uber seine innere bedrängte Lage, in welcher ihm manchmal so sehr der Boden unter den Füssen weicht, dass er an seiner eigenen Person zweifelt, ob er es Selbst oder ein Dritter sei.

So kann der Zustand sich auf Wochen, Monate, serfest viele Jahre hinaus erhalten unter einem unberechenbaren Wechsel von ruhigem und unruhigem Perioden und entsprechenden Stimmungs- lagen, welche bald gereizt und misstrauisch , affectbereit, bald aber gegentheils auch weich, weinerlich, unendlich verzagt sind. Manch- mal ist der Kranke herrisch und widerstrebend, lehnt sich gegen alle Anordnungen auf, hetzt und intriguirt; zu andern Zeiten verfällt er einer passiven Resignation und Ermattung, zieht sich wochenlang von den Andern zurück, bleibt anhaltend zu Bette liegen, schweigt beharrlich, verweigert auch oft in nicht unbedenklicher Zähigkeit die Nahrung.

In gleicher Weise variirt auch der Grad geistiger Klarheit. Zeitweise lebt der Kranke ganz nur in seinen Wahngedanken, welche längst die innersten Theile seines Selbst geworden sind; zu andern Zeiten treten dieselben mehr in den Hintergrund, so dass der Kranke nicht selten seine eigenen Zustände zu schildern vermag, oft in ver-

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ai Cerebrale Form. Klinisches Krankheitsbild.

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kehrter Motivirung, manchmal aber auch in bewunderungswürdiger Einsicht. Nur Uber den Zwang in seinem Denken und Fuhlen ver- mag er nicht hinwegzukommen. Andere Male ist die freiere Hal- tung aber nur eine scheinbare. Beobachtet man den Kranken ge- Dauer, so wird er doch trotz aller Correctheit von einem geheimen vorberechneten Plane in der Fuhrung seines Tageslaufs, in der Aus- wahl seiner Umgebung, seiner Beschäftigung, in seinem Thun und Meiden geleitet. So äussert er nicht selten in verletzender Weise onmotivirte Sympathieen und Antipathieen, weist Briefe als „unecht" ab, meidet plötzlich die gewohnte Gesellschaft, weil ihm feindselige Sticheleien gemacht würden; oder er wird da und dort betreten, wie er vor sich hin Scheltworte lispelt oder Grimassiruogen macht, als ob er erlittenen Hohn zurückgehen wollte. Andere Male dagegen treten tagelang dauernde Anfälle von „Todesangst" mit Entweichungs- versuchungen oder verzweifelter Selbsthilfe auf.

Sehr häufig schweigt der schon entwickelte Verfolgungswahn, oder tritt wenigstens in seiner Macht zurück, wenn man den Kranken in andere Verhältnisse bringt (s. u.), so oft bei der Versetzung in die Anstalt. Andere Kranke üben diese Hilfe instinctiv selbst: sie wechseln ihren Aufenthalt, Dienstboten ihre Plätze, und fühlen sich mit dem Eintritt in die neue Umgebung sofort behaglich, oder we- nigstens freier. Meist aber ist die Freude nur eine kurze. Sowie der Reiz der Neuheit vorüber, steigt die alte Inficirung der Um- gebung wieder auf, und spricht Alles wieder die alte Sprache: die Verfolger sind nachgezogen! Manchmal tritt aber eine wirkliche Intermission ein, in welcher der Kranke auf kürzere oder längere Zeit freier wird und wieder in seinen alten Wirkungskreis eintreten kann; die Krankheit ist zurückgedrängt, aber doch nicht wicklich öberwunden. Einsicht und Correctur bleiben dem Kranken versagt, jeder ernstliche Versuch, ihn zu „überzeugen", erregt Unwillen und Misstrauen.

Unter günstigen Verhältnissen kann die zurückgedrängte Wahn- gruppe allmählich der Vergessenheit anheimfallen, und der Kranke sich draussen wieder vollständig erholen. Es gibt Fälle, in wel- chen diese Klärung sich auffallend rasch und auch mit wirklicher Krankheitseinsicht vollzieht

Aber nicht immer geschieht Dies ganz und noch seltener dauernd. In der Regel bricht früher oder später die alte Wunde wieder auf. Oft genügt ein geringer Gemüthsaffect und ein neuer Paroxysmus (Aufgeben der bisherigen Berufsstellung, ruheloses Umherziehen)

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Der chronische depressive Wahnsinn.

schlie88t sich an, bis endlich, absatzweise nnd in Schüben, ein end- lich permanenter Krankheitszustand erreicht ist.

Dieser äussert sich: 1. als sog. „Einfallswahnsinn", wobei der Kranke immer mehr zum Automaten zerfahrener Gedanken und unmotivirter Raptus wird. Die ungerufen sich aufdrängenden Gedanken, welche durch ihr brüskes Auftreten sehr häufig als Pseudohallucinationen imponiren, bilden oft auf Jahre hinaus die Quelle peinlichster Plagen für den Kranken, um so mehr, als er darin den gefühlten Beweis des „von aussen Ge- machten", der fortdauernden Vexationen erkennt. Die Zwangsantriebe erhalten dabei nicht selten eine sehr bedenkliche Richtung gegen eigenes oder fremdes Leben; oder aber 2. es entsteht ein secundärer halluci- natorischer Wahnsinn, in welchem der Kranke ganz in dem Spiel der immer schrankenloseren Sinnestäuschungen aufgeht. Die letzteren um- fassen fortschreitend alle Sinnesgebiete: Funken- und Flammenerschei- nungen wechseln mit einem Chaos der sonderbarsten Gestalten, welche alle für den Kranken eine besondere Bedeutung haben. Dazu treten Geschmacks-, Geruchs- und GefUhlstäuschungen fletztere besonders in der Geschlechtssphäre). Der Kranke schliesst sich in einer Welt des Wahnes ab, welche bald im Himmel, bald in der Hölle, bald in der Wirklichkeit spielt, die barocksten Eingebungen einer entarteten, hemmungslosen Phantasie theils mit richtigen, theils mit wahnsinnig umdeuteten Wahr- nehmungen zum sinnlosesten Inhalte verquickt, und den Kranken imperativ beherrscht. Eine Menge eigenartiger Selbsthülfen (Vor- und Rückwärts- gehen, Gehen im Bogen, Wiegen und Schütteln des Kopfes, beständiges Sichverbeugen, Sichverhtillen, Verschliessen der Ohren und Augen u. s. w.) machen den Kranken zu einem zeitweisen Automaten. Nicht selten mischen sich jetzt unter die Verfolgungsvorstellungen auch solche der Grösse, des Glücks, der Begnadung vom Himmel.

Im Anstaltsorganismus werden solche chronische Verfolgungs- wahnsinnige im Lanfe der Jahre oft trotz ihres ganz transscen- denten Innenlebens noch recht nützliche Gehilfen und Arbeiter; man räumt ihnen alles Aufregende aus dem Wege, beschäftigt sie in einer ihnen zusagenden Weise, und erlebt so taglich den Segen dieser geistigen Ablenkung und „Tonisirung". Der alte Wahn tritt zurück Anfangs und oft auf längere Zeit noch mit dem Reflex einer an- dauernd gereizten Stimmung, welche bei der leisesten Berührung des kranken Gedankenkreises explodirt, während der Kranke sonst sich musterhaft, gelassen und correct verhält. Freilich fehlt jede corri- girende Einsicht; eher gibt der Kranke Alles preis, als sich sein Recht aus den Händen winden zu lassen. Zeitweilige „Ahnungen", Traumbilder, welche sich zur Bedeutung von Gesichtstäuschungen aufschwingen, bestärken ihn. Nach und nach klingt aber der Affect aus, der uncorrigirte Wahn wird geduldet, kapselt sich ab wie ein Sequester, und erlaubt dem geschont gebliebenen Theile des Seelen- lebens eine desto freiere Beweglichkeit (s. u ). Andere dagegen

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a) Cerebrale Form. Verlauf. Ausgänge.

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fallen einem zunehmenden Schwachsinn mit Verwirrtheit und unregel- mässig einsetzenden Aufregungsparoxysmen anheim. Sie werden periodisch gereizt, aufbrausend, gewaltthätig , suchen (oft mit einer bei ihrer sonstigen Geistesschwäche bewundernswerthen Raffinirtheit) zu entweichen; oder sie werden temporär finster, abstossend, ver- weigern die Nahrung, drohen mit Selbstmord. Manchmal wird dabei Hitze im Kopfe mit Status nervosus geklagt. In der Folge werden die Erinnerungen und Sinnestäuschungen zu noch sonderbareren, ver- zwickteren Vorstellungen verarbeitet; dazu treten die heterogensten Ideen in loser Ordnung, wie sie eben eine planlose Association und der Contrast des Inhalts oder der Form, oder auch der unmittelbare Eindruck einer Sinnestäuschung zusammengespielt hat aus dem Kreise eines immer engern Vorstellungsgebiets höchstens noch durch die Schablone der „Beeinträchtigung der Persönlichkeit" locker ver- bunden.

Stylprobe: „Die Kräfte würden (dem Kranken) entzogen; man ziehe ihm daa Geblüt aus dem Kopf; er bekomme nichts zu essen; das Essen sei kraftlos; man nehme ihm die Gedanken; diese führen in das Holz (das der Kranke eben sägt), und fielen zerflossen als Sägspäne wieder herunter; es seien Todsünden in dem Holz; sein Leben schlage wieder aus; es fange an zu grünen, wie das Holz; er habe eben ein Naturge- wissen; das sei schwach und zerbrechlich, wie Glas u. s. w." Manchmal lässt sich noch ein einigermaassen associativer Faden im wirren Vorstel- lungsspiel nachweisen, insofern die geäusserten ganz barocken Vorstel- lungen und Gefühle sich als Reflexhallucinationen zufälliger Perceptionen ausweisen; z. B. wenn Andere ausspucken, so schlüpft der Speichel in ihn (den Kranken) hinein, und fällt ihm oben in den Kopf; wenn der Nachbar Schnaps trinkt, so spürt der Kranke Feuer in seinen Eingeweiden; die auf das Feld zum Düngen geführte Mistjauche läuft in ihn, in sein geöffnetes Gehirn hinein; die Schweine, die er sieht, fressen aus seinem Gehirn; Kühe, welchen er begegnet, brüllen aus letzterem heraus u. s. w.

Eine vernünftige Rede kommt bei dem Kranken nicht mehr auf. Die sprachliche Form wird immer eigenthttmlicher, die Worte anders accentnirt, Silben und Worte versetzt, fremde, schlecht gewählte untermischt, oft am unrechten Platze, allerlei Wiederholungen und Clausein eingeschoben u. s. w. Das Benehmen schwankt zwischen träger Apathie, plötzlichen Aufregungen, und Neigung zu verkehrten, und selbst gewaltthätigen , Handlungen. Interesse und Tbeilnahme schwindet. Viele Kranke suchen oft für Wochen die Bettruhe auf. Dazwischen treten, allerdings immer seltener, auch wieder freiere Zeiten, in welchen eine mechanische Beschäftigung möglich ist.

Die bereits oben erwähnte eigenartige klinische Modifikation des Ver- folgungswahnsinns, in welcher die Neigung und auch die Kraft des Kranken

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Der chronische depressive Wahnsinn.

besonders hervortritt zu dissimnliren, die Rolle des Angegriffenen mit der des Angreifers zu vertauschen, gegen jede Zumutbung, als ob er krank und der ärztlichen Behandlung bedürftig sei, zu protestiren soll hier noch kurz skizzirt werden. Es sind dies Fälle, welche nahe zum Querulantenwahn hinüberleiten, sich von diesem jedoch durch die Passivi- tät ihres Verhaltens unterscheiden; es fehlt ihnen das „manische" Ele- ment der wirklichen Processkrämer. Sie greifen nur an, wenn man die geistigen Kreise berührt, aus welchen die Imputation für eine seelische Gestörtheit ihrerseits herzuleiten wäre : da werden sie sofort erst einsilbig, tiberlegt, mäkelnd, endlich disputirsüchtig, rechthaberisch, aufbegehrend, schroff abweisend. In ihrem zurückgezogenen ablehnenden Verhalten, und ihrer gezwungenen aufrechten, oft forcirt vornehmen Haltung sind sie be- ständig auf einen Angriff gefasst, welcher ihre Gesundheit verdächtigen könnte. Mühsam, aber mit grosser Consequenz, verhalten sie den Trotz und verbeissen den Zorn. Unbeobachtet ziehen sie das Gesicht in ernstere, düsterere Falten, werfen mürrische Blicke um sich; in der Gesellschaft stehen sie abseits mit verschränkten Armen, den Mund von einem höh- nischen und verlegenen Lächeln umspielt. Im Verkehr sind sie unfreund- lich, trotzig, zu dialektischen Klopffechtereien bereit; sie weisen jede neu- trale Conversation ab, drängen gleich wieder auf die Frage ihrer „Deten- tion" ein, wollen die juristischen Gründe wissen, pochen auf ihre geistige Klarheit, auf ihre Freiheit und Selbständigkeit, und schliessen mit dem Ceterum censeo des an ihnen begangenen „Justizmordes". Die ärztlichen und amtlichen Belege für ihre Verbringung in die Anstalt erklären sie sämmtlich für falsch und nichtswürdig. Dieser Zustand eines mehr nega- tiven Wahnsinnsbildes so positiv auch dessen Reflexe auf Stimmung und Verhalten des Kranken sind dauert oft Wochen und Monate. Der Kranke spricht während dieser ganzen Zeit nichts grob Verkehrtes und hält sich auch an die Ordnung. Für sich allein und unbeachtet lacht er oft vor sich hin, weist aber jede Anfrage nach Hallucinationen <auf welche er sichtlich reagirt) höhnisch ab. Alle Versuche in die Tiefe des Wahnes zu dringen scheitern an seiner überlegten Vorsicht und Ver- schlossenheit. Doch bricht dem Kranken, nachdem er umsonst auf die Annahme seiner Gesundheitsbehauptung gehofft, endlich die Geduld. Er wird heftig, barsch und gewaltthätig, schreitet zur Selbstjustiz gegen harmlose andere Kranke und lässt jetzt ziemlich unverhüllt, im Gefühle des Rechts und der inneren Genugthuung, die Andeutung fallen, „dass er jetzt genug ausgehalten, dass er der feindlichen Partei nicht noch ganz zum Opfer fallen wolle". Aber mit dieser Explosion ist's wieder geschehen; es folgt kein normalerer FIuss in den Vorstellungen nach, kein Wechsel und noch weniger eine Versöhnlichkeit in der Stimmung. Man steht mit dem Kranken wieder auf dem alten Ötandpuukte, wie Mo- nate zuvor; weder durch gemüthliches Anfassen, noch durch forcirte Be- weisführung lässt er sich zu Geständnissen herbei. Oft intercurriren psy- chische Reflexkrämpfe (convulsivische Bewegungen umschriebener Mus- keln, plötzliches Hiuausschreien). In günstigen Fällen kann nach und nach eine mildere Stimmung Platz greifen, die dialektische Schärfe ab- brechen, der Kranke zugänglicher werden, so dass er jetzt mit einer ge- wissen Natürlichkeit behauptet, dass er sich keiner Krankheit bewusst

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„Negativer" Verfolgungswahnsinn, b) Cerebrospinale Form. 155

sei, und jedenfalls im Leben draussen sich zu bewegen wissen werde. Oft reussirt man, wenn man jetzt nachgibt, und dem fliehenden Feinde goldene Brücken baut. Manchmal taucht nach der Entlassung der Wahn auch dauernd unter. Im anderen Falle wird er chronisch, und der Kranke eine bleibende Negation der Hausordnung und jeder Annäherung. Oder aber: das System des passiven Widerstandes führt zur Nahrungsverwei- gerung und zunehmender Entkräftung, und nicht selten, trotz Kunst- hilfe, zum frühzeitigen letalen Ausgang. Oft intercurriren Angstzufälle mit Stupidität und Spannungen in der Musculatur. Der conträre Wider- stand bleibt trotz oft theilweiser späterer Krankheitseinsicht bis zum Le- bensende. —

b) Die cerebrospinale Form. Die Einleitung dieser zweiten Gruppe ist meist dieselbe, wie bei der ersten. Gewöhnlich geht psychisch ein tiefes Misstrauen „gegen alle Menschen", und körper- lich ein Status nervosus voraus mit Kopfdruck, ungeheurer Mattig- keit, erschwerter Apperception und Reproduction , grosser geistiger Erschöpf barkeit, Wechsel zwischen Activität und Abulie, und einer darauf gegründeten hypochondrischen weinerlichen Stimmung.

Aetiologisch ist zu bemerken, dass ganz besonders sexuelle Excesse, worunter Masturbation in erster Reihe, den nervösen Untergrund ab- geben. Für sehr viele Fälle passt deshalb auch die ätiologische Bezeich- nung: masturbatorischer Wahnsinn. Statt der hypochondrischen Depression kann auch ein melancholisches Vorstadium die Krankheit ein- leiten: die Kranken klagen sich weinend und verzweifelnd grosser Sün- den an, bald direct des begangenen Abusus, bald auch erdichteter Ver- brechen; sie verlangen hingerichtet zu werden, kommen nicht zu Ende mit der peinlich genauen Erzählung ihrer fictiven Selbstbeschuldigung. In anderen Fällen debutirt die Krankheit mit einem cerebralen Verfol- folgungswahn mit oder ohne Hallucinationen, sehr häufig mit Beachtungs- wahn. Zahlreich kommen auch Zwangsgedanken vor, oft conträren In- halts, so dass die Kranken allerlei cynische oder blasphemische Dinge denken müssen.

Unter den nervösen Anfangssymptomen stehen cardiale Inner- vationsstörungen (Herzklopfen, Beklemmungen, zeitweiliger Herz- krampf), vasomotorische Rash's mit häufigem Wechsel der Gesichts- farbe im Vordergrund. Das typische Gepräge erhält die Krankheit durch das Hinzutreten cerebrospinaler Sensationen (richtiger Parästhe- sieen), welche allegorisirt das ursprüngliche diffuse Unbehagen des Kranken auf locale körperliche Grundlagen stellen (physika- lischer Verfolgungswahnsinn). Die Gedanken werden „gestellt", Arme und Beine vorübergehend immobilisirt, die Augen bald starr gemacht, bald wieder beweglich, oder nach einwärts gedreht. Die Muskelgcfllhle,. diese eingewöhnten Gradmesser jeder Bewegungs- leistung, zeigen sich plötzlich verändert: ein abgerissener und auf

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Der chronische depressive Wahnsinn.

die Hand gelegter Knopf imponirt mit der Schwere einer Kanonen- kugel. Am Abend noch rüstig für athletische Uebnngen, ftthlt der Kranke am andern Morgen, „dass ihm alle Muskeln durchschnitten sind". Der Körper wird vorübergehend „federleicht", der Kopf ist bald frei und unendlich klar, bald wieder benommen wie „som- nambul". Das sind gewöhnliche Anfänge. Da entdeckt der Kranke plötzlich die Lösung des Räthsels: bei einem Gang Uber die Strasse empfindet er, wie ein Vorübergehender ihn fixirt, und gleich fährt eine Erschütterung durch seinen Rücken bis in seine Extremitäten es ist kein Zweifel, dass man ihn elektrisirt Die Passanten tragen magnetische und elektrische Batterien in ihren Kleidern. Bald geben auch in sein Bett galvanische Verbindungen; er kann nicht mehr ruhig liegen; plötzlich zucken Funken oder heftige Schläge durch ihn. Andere Male ziehen während der Nacht Empfindungen durch seine Genitalien, als ob man „Proben" mit ihm anstellen, Obscönitäten mit ihm treiben wolle. Frauen empfinden Coitus-Atten- tate: es sind männliche Verfolger, vielleicht ein früher reflisirter Geliebter, den die Kranke kannte, nicht wollte oder nicht heirathen durfte. Oder es ist der „böse Feind", welcher in die Kranke ein- gefahren und in irgend einem Körpertheile (so im Bauche bei Uterus- Parästhesieen ; oder einer andern peripheren Nervenbahn entsprechend, hier mit Vorliebe in den Intercostalbahnen „am Herzen") Wohnsitz genommen. Jetzt ist es fortan „der Teufel", welcher die lästige Empfindung und die damit zusammenhängende Vorstellung dem Kran- ken beibringt; dieser „Dämon" in phantastisch- legendenhafter Gestalt oder in bekannter Menschenform „presst ihm die Brust zusammen", schnürt ihm den Hals zu, hemmt die Gedanken, oder „knechtet ihm fremde ein, bannt ihn in Gedächtnisssperre", in „Mundsperre". Wenn man den Kranken scharf ansieht, so fährt ihm sofort die Empfindung durch die neuralgische Körperstelle; und umgekehrt, wenn die locale Parästhesie sich einstellt, so fühlt er, dass man ihn ansieht und beobachtet, seine Gedanken ihm „abziehen" und „herauslesen" will. Bei lebhafterem eigenem „Ideengang" sieht er elektrische Funken und spürt magnetische Strömungen, sogar solche, die sich auf Andere überleiten. Immer ausgedehnter werden alle Sensationen auf äussere Personen bezogen; die letzteren erweisen sich „freundlich" oder „feindlich", je nachdem die ersteren dem Kranken angenehm oder unangenehm sind. So wird die Verbindung zwischen Vorstellung und peripherer Sensation immer inniger, immer zwangsmässiger. Die Wechselbeziehung trifft namentlich auch für die Stimmung zu, welche ganz nur Reflex wird und sich nicht selten in plötzliche

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b) Cerebrospinale Form. Klinisches Krankheitsbild.

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Zornparoxysmen , oft mit Gewaltacten, entlädt gegen die als feind- lich percipirte Umgebung. Hier spielen auch oft noch vasomotorische Congestivzustände zum Kopfe mit: plötzliche „Wärmeausstrahlungen vom Rücken oder einer neuralgischen Stelle am Thorax steigen zum Kopfe und „erhitzen die Gedanken", so dass ein förmlicher „Vor- stellungsschwindel" entsteht, und der Kranke vorübergehend kein präcises Wort zu finden und keine Einzelerinnerung festzuhalten ver- ma€ „weil er immer auch alle verwandten Erinnerungen damit durchdenken muss". Als Acte der Selbsthilfe werden dann alle möglichen trippelnden und wiegenden gymnastischen Uebungen im- provisirt, „um die Wärme wieder anders zu vertheilen".

Die spinalen Sensationen werden in der Folge noch zahlreicher und mischen sich mit visceralen.

Hier einige der geläufigsten und bezeichnendsten: schmerzhaftes Kitzeln, Gefühl, als ob Fische unter die Achsel schlüpften; als ob Nat- tern bissen, ein brennendes Bügeleisen über den Bauch führe, Würmer zwischen Haut und Fleisch sässen, als ob der Kopf angebohrt, in alle möglichen Formen gezogen, als ob Glieder ausgerissen würden, als ob man auf dem Kranken Holz säge, als ob er „am magnetischen Galgen" hinge, als ob man magnetischen Sand auf ihn werfe, magnetischen Regen *nf seinen Kopf giesse, die Samenkanäle ihm heraushaspele, das Blut auf- und abpumpe, als ob eine Katze den Kranken inwendig schlecke und mit den Haaren ausbürste, als ob der Körper auf Wasser schwämme; Aus- pressen der Augen, Schwinden des Rückenmarks u. s. w.

Für den Kranken sind diese widrigen Empfindungen nicht einfache Quälereien , sondern Verfolgungen durch den „bösen Geist". Manchmal empfindet derselbe seine schlimmen (sinnlichen) Gedanken einseitig als Druck in der Einen (linken) Schädelhälfte mit Verfinsterung des betr. Auges, unter gleichzeitiger ärgerlicher Gereiztheit, während die „guten" Gedanken nur rechts fühlbar werden, und zwar unter angenohmer He- bung seines Muthes. Damit einher gehen bei masturbatorischer Grund- lage gehäufte, kaum zurückzudrängende Pollutionen, manchmal selbst unter Tags und mit schliesslich fehlender libido. Frauen fühlen den spontanen Abgang einer Flüssigkeit aus den Genitalien unter Wollust- empfindungen, nachdem zuvor paroxysmal hallucinatorische geschlecht- liche Insinuationen oder imaginäre „Andrückungen" an sie gemacht wur- den. Dabei braucht Onanie nicht immer im Spiele zu sein.

Immer kommen jetzt auch Irradiationen auf die höhern Sinnes- gebiete, namentlich auf Ohr und Auge.

Der „gefühlte" Verfolger kündigt sich auch durch Wispern und ge- heimnissvolles Rauschen, durch bestätigende höhnende oder auch bedrohende Worte (Bibelverse) an. Man vexirt den Kranken mit Spiegeln; der Verfolger zeigt sich in Form einer Flamme oder einer Gluth, noch präciser in den Contouren einer bekannten oder maskenhaft verhüllten, oder frivol nackten

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Der chronische depressive Wahnsinn.

Gestalt aus der Umgebung; manchmal entspricht merkwürdigerweise diese centro-periphere Reizung nur dem einen Auge, während die Sehkraft des anderen vermindert ist und alle Gegenstände nur verschwommen sieht. Oft haben sich die Farben und Grössen Verhältnisse der Aussen weit ver- ändert. Die gehörten Scheltworte kommen theils aus der Luft in das Ohr, theils (und sehr häußg) aus der hyperästhetischen Körperstelle, so aus dem Epigastrium, aus dem Unterleibe. Dort „schwatzt es" und treibt dem Kranken das Blut in den Kopf u. 8. w. In der Nase wird ein stinkender Geruch empfunden nach Schwefel und Pech („wenn der Höl- lengeist im Epigastrium sich zeigt"); selbst ganz barocke Gerüche nach Enzian, Firniss, Petroleum, Sperma; alle Gegenstände stinken (riechen nach Kalk u. 8. w.) ; auch der eigene Körper. Aehnliche Täuschungen im Geschmackssinn erregen Vergiftungswahn. Bemerkenswerth ist die häufige Entstehung des letzteren auf Grundlage eines Gastricismus. Es gibt ziemlich viele Fälle, bei welchen in diesem Znsammenhang der ganze Verfolgungswahn mit Giftfurcht debutirt. Andere Kranken fühlen Aether in ihren Mund fliessen, von da in's Ohr, und endlich in den Hoden u. s. w. Nicht selten sind vertiginöse Anwandlungen , manchmal mit epileptoiden Zufällen; bei hochgesteigerter sensueller und spinaler Hyperästhesie kann sogar das Kritzeln eines Bleistifts, das Kehren der Zimmer einen Schmerz hervorrufen, dass der Kranke „sich den Tod wünscht". Unschuldige Fra- gen können ihn so erschrecken, dass sich „Herz und Kopf in ihm ver- mischen" und er nicht mehr weiss, was man von ihm will. Anderemale können beim kräftigen Anfassen der Haut tonische und klonische Zuckungen auftreten. Auch somnambule Zustände mit wandelnden Bildern, leb- haften Farbenspielen, überschwenglichen „verklärten" Gedanken, beim Er- wachen „eine nie geahnte Auffassung der Aussenwelt" werden beobachtet.

Die beschriebenen Symptome sind auch bei voll entwickelter Krankheit nie in gleicher Stärke und Ausdehnung vorhanden. Viel- mehr findet ein grosser Wechsel statt, oft local, so dass bald mehr die obere, bald mehr die untere Körperhälfte heimgesucht ist; manch- mal ist der Kranke „oben klar" und „unten steht er bis an den Bauch im Nebel". Sehr variirend ist auch die Reaction dieser Parästhe- sieen und Paralgieen auf Stimmung und Haltung. Solche Kranke können zu Zeiten trotz ihrer Wahnideen natürlich geordnet, freund- lich sein, selbst zeitweise einige Krankheitseinsicht äussern. Andere Male aber, und oft in jähem Umschlag aus freiem GemUthszustande, werden sie verstimmt, bitter gereizt (Masturbanten, namentlich nach unfreiwilligen Pollutionen, welche auf vexatorische Essen- Zuthaten geschoben werden), und gerathen nicht selten in leidenschaftliche Heftigkeit, die sich bis zur Wuth und Gewaltthätigkeit steigern kann. Auch in der scheinbar grössten Ruhe des misstrauischen Kranken sind plötzliche impulsive Raptus (selbst Mordattentate gegen bis- lang nicht gemiedene Personen) zn fürchten. Bei Frauen bringt der menstruale Termin regelmässige Verschlimmerungen.

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b) Cerebrospinale Form. Krankheitobild. Verlauf.

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Auf dieser Stufe angekommen, kann sich das Leiden wieder sachte, zurtickbilden. An dem Rest des intact gebliebenen Vorstellungsbesitzes rankt sich der Kranke anf und lernt, namentlich durch entsprechende Be- schäftigung sich ablenkend, allmählich sich über sein Leiden zu stellen. Dieses d. h. der Verfolgungswahn tritt immer mehr zurück, ohne aber auch kritisch überwunden zu werden; namentlich dauern die Gehörshallu- cinationen oft noch Monate lang fort. Das äussere Verhalten wird ge- ordnet, nur bleibt der Kranke scheu und zurückgezogen. Nach und nach, oft erst in Jahresfrist, tritt auch dieser Rest der Störung zurück zwar auch jetzt nicht durch Einsicht Uberwunden und aufgeklärt, aber ver- gessen, weil wirkungslos geworden. Dem Genesenen drohen aber Reci- dire, welche namentlich bei Fortdauer der Masturbation nie ausbleiben.

Der Weiterverlanf des Leidens ist, wenn nicht Heilung ein- tritt, ein ausserordentlich mannigfaltiger, entweder in (eigenartige) psychische Schwäche, oder in Degeneration. Bei den masturba- torischen Fällen bildet sich in der Regel anf Grundlage der spinal-cere- bralen und visceralen Gefühle ein hypochondrischer Wahnsinn auß.

Der Kranke fühlt seine Knochen verkürzt, das Mark aus denselben gezogen, die Hände werden länger und kürzer, der Kopf erhält alle mög- lichen Contigurationen (die Verfolger thun dies gelegentlich experimenti causa, „um physiologische Hirnexperimente zu machen"), Wirbel werden aus dem Rückgrat herausgenommen („die bösen Geister haben mich zu- erst zu einem Simpel und dann bucklig gemacht"), die rechte und linke Körperseite wird vertauscht, Nachts werden Körpertheile geraubt, andere verstümmelt. Die Eingeweide verfaulen, im Gehirn plätschert Wasser. Im Körper geht eine Theilung vor sich: „in der einen Hälfte concentrirt sich das eigentliche Ich, in der anderen lebt nur ein halbtodtes Selbst- bewusstsein". Manche Kranke versuchen dagegen allerlei Gegenmittel; sie waschen sich mit Chemikalien, brennen sich mit der Cigarre, ätzen sich die Körper-Foramina (Urethra, Anus) mit Höllenstein, schieben Watte und Holz ein u. s. w. Andere dagegen trachten nach Verificirung ihrer abnormen Organgeflihle ; sie maltraitiren sich, um sich zu Uberzeugen, dass sie noch eine Brust oder eine Schulter haben. Dieser Drang kann sogar eine lebensgefährdende Höhe erreichen, wenn der Kranke allen Ernstes sich zu schiessen beabsichtigt, um zu sehen, ob er noch „eine Brust wie andere Menschen" habe. In anderen Fällen kann merkwürdiger- weise die Reflexion, dass „die Kugel ihm doch nichts anhabe, durch seinen Kopf einfach wieder herausgehe", den Kranken vom letzten ernsten Schritt zurückhalten. Das hypochondrische Stadium kann bald stärker, bald schwä- cher durch Jahre hindurch persistent bleiben; meistens engt sich dabei der Kreis der „beeinträchtigten" Organe eiu und bildet künftig einen stereotypen Wahnkreis unter den übrigen, so besonders schadhafte Zähne oder Haare, welche oft in charakteristischer Weise für die phantastische Wahrnehmung des Kranken sich gewissermaassen „beleben", zu Zähnen werden, welche sich im Munde „bekämpfen", oder zu „Zahn-Leichnamen" absterben. Auch der „Magen" spielt eine grosse Rolle in dem hypochon- drischen Elend des Kranken, welches sich in diesem Falle häufig mit Ge-

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Der chronische depressive Wahnsinn.

schmacks- und Geruchsillusionen (Verwesungsgeruch) verbindet und zeit- weilig zu Nahrungsverweigerung führt.

Das Auftreten dieses hypochondrischen Wahnsinns kennzeichnet jedoch nicht allein nur die masturbatorischen Fälle, und auch nicht nothwendig nur die schwerere Verlaufsform. Häufig vollzieht sich der Fortschritt des Leidens unter zeitweiligen Fluxionszustän- den zum Kopf und episodischen Manieen mit Furor -Charakter, brutaler Gewaltthätigkeit, grimassirenden Gesichts- und choreiformen Körperbewegungen, und einer fragmentaren assonirenden Ideenflucht. Jeweils folgen dann Erschöpfungsperioden nach. So geht die geistige Abschwächung etappenweise weiter. Nicht selten schieben sich aber auch Stuporphasen ein, und der Weiter verlauf geschieht unter dem Bilde des katatonen Wahnsinns mit Uebergang in katatonen End-Blödsinn (s. d.).

In andern Fällen tritt kein vollständiger Stupor, sondern nur ein Zustand von Mutacismus ein, mit Indolenz, Abulie und täglich, oft in regelmässigen, z. B. viertelstündigen Pausen, wiederholten Zwangsstellungen und -Bewegungen (Drehen im Kreise, Attitüde des hockenden Frosches u. s. w.).

Andere bleiben, tagelang zusammengekauert, wie Fakire sitzen, um mit „dem Magneten der Zimmerdecke" in Verbindung zu bleiben, halten allerlei Jongleurstellungen ein, weil sonst die „elektrische Verbindung" aufhört, und die Höllengeister Uber sie herfallen, sie an der Brust drücken, Herz und Athem stellen u. s. w.

Oder endlich: es debütirt plötzlich ein Grössenwahn (bei onanistischer Grundlage häufig religiösen Inhalts; s. u.).

Bei chronischem und incomplicirtem Verlaufe erhält sich der spinale Wahnsinn auch auf Jahre hinaus im stationären resp. sachte progressiven Gange, mit zeitweiligen Exacerbationen. Der Kranke wird immer mehr der Wirklichkeit entfremdet, immer mehr zum Spielball seiner Einfälle und seiner wechselnden Sensationen, welche jeweils sofort in Wahngedanken oder Hallucinationen umschlagen (secundärer Wahnsinn). Das Ich stellt künftig nur mehr noch den Durchgangs- oder Minuten-Sammelpunkt für diese dar. Es ist ein fließendes, immer wieder neues, geworden, ohne Continuität. (Inter- essant ist, dass solche Kranke oft sich selbst als „Marionetten" be- zeichnen, „aus welchen Andere machen, was sie wollen".) Nur für die Vergangenheit bleiben noch eine Zeitlang geschlossene Vorstel- lungs-Complexe ; aber auch diese bröckeln nach und nach ab.

Der Kranke lebt jetzt ausser Raum und Zeit, ohne Theilnahme und Interesse. Die Stimmung ist ausserordentlich wechselnd: im einen Augen- blick drohend und abweisend, ja unheimlich feindselig, überrascht sie im

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b) Cerebrospinaler Wahnsinn. Ausgänge. Degenerativer Wahnsinn. 161

nächsten durch ein blödes Lachen, eine motivlose Heiterkeit; die Haltung, soeben noch verschlossen, misstrauisch , zu Thätlichkeiten geneigt, oder doch unter einer gewissen Furcht zurückhaltend, kann in jähem Umschlag wieder offen und zutraulich sein. Der urtheils- und gedächtnissschwache Kranke wird in seinem lockeren psychischen Bestand nur noch durch die Hallucinationen zusammengehalten, welche, Uber alle Sinne verfügend, imperativ ihn beherrschen. Darunter stehen (auf masturbatorischer Grund- lage) die des Gefühls in erster Reihe. In den immer zwangsmässigeren Reactionen auf dieselben geht das Tagesgeschäft des Kranken auf (stän- diges Betasten der Genitalien, Einsalben des Körpers mit Stuhlgang und Urin, Einspeicheln der Speisen im Teller, stundenlanges Auspusten, Be- klopfen verschiedener Körpertheile, Verstopfen der Nase und der Augen mit Unrath Alles, um sich gegen die obscönen Berührungen zu feien).

Endlich, wenn die Krankheit bis zur letzten Verlaufsgrenze sich erschöpft, bleibt noch eine hallucinatorisch verwirrte oder auch stumpfsinnige Dementia Übrig, in welcher sich, trotz der Indolenz, der impulsive Charakter (namentlich Attentate auf Genitalien und Augen) erhält. Es ist der eigentlich degenerative (meist ona- uistische) Wahnsinn.

Dessen klinische Charakterzüge sind summarisch folgende: Der an- fängliche spinale (physikalische) Verfolgungswahn ist mit zunehmender geistiger Schwäche in einen religiösen Expansionszustand übergegangen mit einem weichlich sentimentalen, durch allerlei salbungsvolle Gesten und Pantomimen verschnörkelten Wesen, welches in einem Gemisch von Cul- tusexercitien und erotischen Aeusserungen sich genügt (tagelanges Hände - falten, einseitige forcirte Kopfhaltung, Küssen des Fussbodens, mystische Reverenzen u. 8. w.). Die geistige Benommenheit ist eine tiefe und gibt dem Eintritt von visionär hallucinatorischen Phasen ungehindert Raum. Bemerkenswerth ist, dass in dem confusen Gebahren ein gewisser ver- ständiger Zug mit einhergeht, und in der vagen Faselei stets auch rich- tige Perceptionen unterlaufen. Es ist ein Gemisch von Traum und ober- flächlicher wacher Lucidität. Während der letzteren besteht ein grosser Hang zu metaphysischen Speculationen und schriftlichen Exposes Uber Gott, Satan, Weltseele , Weltprincip u. s. w. Der Verlauf ist ein ausser- ordentlich buntgemischter, mit jähen l'ebergängen aus einer Zu8tandspha.se in die andere : religiöse Exaltation mit Zwangsstellungen und -haltungen ; manische Erregtheit bis zum Zerstören, Schmieren, Urintrinken, Drang den Andern die Genitalien zu küssen wechseln mit klareren Episoden, diese mit intercurrenten Stupcranfallen (starkes Speicheln, vasomotorische Krampf- und Lähmungszustände); diese wieder mit hypochondrischen Pe- rioden (der Leib verfanle u. s. w.). Endlich bleibt unter manifester Ge- wichtszunahme ein hallucinatorisch verwirrter Blödsinn übrig, mit intel- lectoeller und sittlicher Abstumpfung und einem triebartigen Gebahren (Zusammenraffen von allem Ergreifbaren, Verschlucken von Steinen «.s.w.), schmutzigstem Habitus, Vor -sich -Hinmurmeln von stereotypen ganz verkehrten Sätzen, hastiger Essgier ohne zu kauen, trophischen Störungen (Neigung zur Hämatombildung an den Ohren und am Kopfe,

Schftle, GeiaUftknnkheiton. 3. Aufl. 11

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Der chronische depressive Wahnsinn

am Hoden u. s. w.). Der Verlauf ist oft ein relativ sehr rascher, subacuter, in den Rahmen weniger Monate zusammengedrängt.

Unter den Fällen dieser Gruppe, welche gegentheils bis zum Schluss die logisch strengste Systematisation in der feindlichen Allegorisirung der Gefühle und der Hallucinationen einhalten, und dabei auch das seiner Situation klar bewusste Ich bewahren, ist besonders der Verfolgungswahn- sinn, welcher auf Tabes dorsalis d. h. auf tabischen Spinalsensationen manchmal sich aufbaut, hervorzuheben. Hier deckt sich in besonderer klinischer Klarheit und Durchsichtigkeit der Parallelgang der (tabischen) Sensibilitätsstörung einerseits und des physikalischen Verfolgungswahnes andererseits auf. Jede spinale Parästhesie wird in elektrische Einwirk- ungen, jede motorische Hemmungsempfindung auf Maschinen der Ver- folger („gelegte Fussangeln") zurückübersetzt. Der Kranke vermag schliesslich seinen Zustand in solcher Weise zu objectiviren und in sei- nem allegorischen Spiegelbild so zu controlliren , dass jeder subjectiven Aenderung des Befindens auch eine physikalisch begründete Aen- derung im elektrischen Belagerungsapparat von draussen unterlegt wird. Manche Kranke sind im Stande neben den dadurch ihnen aufgenöthigten Abwehrplanen noch ein leidliches Stück seelisches Interesse für andere Gebiete zu retten, und sich auch noch nützlich zu beschäftigen. Freilich müssen für jedes Missgeschick im Arbeiten sofort die „Zauberer" wieder herhalten! Bei Anderen aber nimmt das Misstrauen gegen aussen so über- hand, dass der Kranke sich immer mehr abschliesst, bei Zumuthungen und Ansprachen aufbraust, selbst impulsiv gewalttbätig wird, und endlich in einem Stillleben untergeht, wo er nur noch mit seinen Hallucinationen Verkehr und Zwiegespräche führt. Vorübergehend lässt er sich noch aufrütteln, auch zu mechanischen Beschäftigungen anhalten ; in Wirklich- keit aber lebt er nur noch dem immer verwirrteren, schliesslich für ihn selbst unverständlichen Innenspiel der Hallucinationen, heiteren und är- gerlichen Einfallen, welche sich durch Lachen, Schelten, zeitweilige zornige Reactionen oder Widerstand gegen die Hausordnung, selbsterfundene Schutz- massregeln gegen Localgefühle kundgeben.

Der Eifersuchtswahn bei Frauen ein nicht seltenes kli- nisches Bild im Climacterium oder bei localen Parästhesieen der Genita- lien — ist gewöhnlich viel stationärer. Einmal erfasst und durch That- sachen verificirt, wozu bereite Illusionen sich einstellen, bleibt er durch Jahre hindurch auf gleicher Entwicklungsstufe; mit ihm Gefühlskälte und feindselige Abneigung gegen den Ehemann. Aufgeregte Paroxysmen der „gerechten Verachtung" intercurriren. Nach und nach folgt Nachlass des Affects bei Unverbesserlichkeit des fixen Wahnes und zunehmender geistiger Schwäche. Nicht selten treten jetzt hysterische Symptome (ner- vöses Erbrechen, Husten, Krämpfe) in den Vordergrund des Krankheits- bildes. Die Intelligenz erhält sich oft sehr lange auf einer leidlichen Stufe, so dass die Patienten dem Uneingeweihten gar nicht als Kranke imponiren, zumal sie fein zu dissimuliren verstehen. Diese Special- form kommt übrigens auf consÜtutioneller hysterischer Grundlage auch temporär vor und kann als solche wieder zurücktreten, indem zu- gleich die vaginalen Parästhesieen aufhören und die bis dahin unbefrie- digten Coitusgefühle (welche zur Annahme einer Impotenz des Mannes

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TabischerVerfolggswahnainn. Eifersuchtswanhnsinn. SchwangerschafUwahns. 163

aus „anderweitiger Neigung und Gepflogenheit" geführt hatten) reparirt werden.

Der Eifersuchtswahn bei Männern (Wahn der ehelichen Un- treue Seitens der Frau) entsteht mit Vorliebe auf alkoholistischem Bo- den (sexuelle Parästhesieen, verfrühte Impotenz in Folge der chronischen Intoxication?), jedoch auch ohne diese specifische Genese. Die Wahn- conception kann plötzlich auftreten, nicht selten nach einem erneuten AI- koholexcess. Die gemtttbliche Rückwirkung führt sehr häufig zu furor- artigen Zornparoxy8men , oft zu directen Gewaltthaten , theils gegen die Frau, theils gegen den vermeintlichen Beleidiger der Hausehre. Der Verlauf, auch hier meist ein chronischer, erfolgt manchmal schubweise. Illusionen und Hallucinationen (vorzüglich des Gehörs) compliciren den- selben und bauen sich oft zu ganzen Romanen auf, wogegen bei der rabulistischen Dialektik des Kranken keine Einwendung aufkommt. Die Kranken erschöpfen sich Anfangs in gerichtlichen Anklagen; abgewiesen werden sie zu erbitterten Querulanten. Mehr und mehr aber tritt Indo- lenz ein: der Kranke vergisst im Laufe der Jahre allmählich seinen Wahn freilich um den Preis seines feineren Gemüthslebens, speciell der Anhänglichkeit an seine Familie; er schrumpft zum Egoisten herab, welcher keine tiefere Empfindung, ja keine Nachfrage mehr nach den Seinigen kennt. Manchmal kommen aber auch wirkliche Intermissionen vor, und sogar spät, selbst nach Jahren noch, eine Heilung mit Defect, so dasa in den mittlerweile geistig schwächeren und ruhigeren Kranken wieder ein natürliches Interesse für die lange geschmähte Frau aufwacht, und Uber den Wahntraum hinweg sich auch thätig kundgibt.

Dahin gehört auch der so häufige Schw anger Schafts wahn von in der Mehrzahl uterinkranken Frauen; er steht in der Regel auf dämonomanischem Boden („der böse Feind hat sie nächtlich Uberwältigt"), und kann sich weiter in allen erdenklichen Richtungen einer mütterlichen Phantasie (mit Geburt, Wegnahme des Kindes, oder aber in beständiger Erwartung und Vorbereitung zur Niederkunft durch Anfertigung von Kin- derkleidchen u. s. w.) hinausspinnen. So können die Kranken nach und nach in demente Schwäche Ubergehen mit Erhaltung des Wahns, welcher sich in Hätscheln und Pflegen von Kinderphantomen kindisch befriedigt. Es kommen aber auch Fälle von acuterem Charakter und Verlauf mit dämononianen oder gegentheils erotisch- religiös gefärbten Hallucinationen vor (namentlich im Climacterium) , welche günstig verlaufen, manchmal durch den Eintritt der vorher cessirenden Menses corrigirt werden.

I ' Manische Form des Verfolgungswahns. In vielen Fäl- len schlägt die protensartige Krankheit einen von den seitherigen Arten abweichenden Verlaufs -Modus ein. Es ist oben schon der nicht so seltenen initialen Manie gedacht worden, welche als Gemttthsreaction auftritt, wenn der Kranke die empörende Thatsache der gegen ihn inscenirten Verfolgung entdeckt hat.

Diese manische Gereiztheit und Zornmüthigkeit kann dabei den zu Grunde liegenden Verfolgungswahn so maskiren, dass dieselbe zur klinischen Signatur des Krankheitszustandes wird. Schon kurz nach dem

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Der chronische depressive Wahnsinn

depressiven Stadium in Folge des peinlichen Beachtungswahns kann der Uebergang sich vollziehen. Der erst noch menschenscheue, Schutz suchende Kranke tritt aus sich heraus; er wird heftig und hart gegen Frau und Kinder, missbandelt sie, wird bei Widerspruch gewalt- tätig, ist dabei intellectuell zerstreut und benommen, macht dumme unüberlegte Streiche. Diese Anfälle, oft mit Congestivzuständen und Innervationsstörungen (leichtes Schielen, Tieferstehen des einen Mund- winkels, plötzliche Gesichtszuckungen) verbunden, kommen anfänglich nur in Pausen; in der Zwischenzeit ist der Kranke matt, hinfällig, jam- mert wohl auch über das Vorgefallene. Bald aber rücken die paroxy- stischen Perioden zusammen und bilden nun einen Zustand anhaltender Gereiztheit und activen Misstrauens. Auf jede leichtere Veranlassung folgt zornige Aufregung. Nach Abklingen dieser wird der Kranke je- weils wieder ruhig, bleibt aber fortwährend in der Spannung des ver- haltenen Affects. So zieht sich der Zustand durch Monate dahin, der Kranke bleibt ein Noli me tangere. Zeitweilig führt er Selbstgespräche gegen feindliche Stimmen oder Traumbilder, welche Tag und Nacht gleich rasch sich einstellen, mit wachen Augen manchmal prompter, als mit ge- schlossenen. Innerlich kämpft eine depressive Stimmung aus richtigem Krankheitsgefühl mit einer vagen expansiven. Der Kranke ist ein ex- plosionsbereiter Vulkan, düster mürrisch, dann wieder brutal aufbrausend, anderemale wieder ironisch. Der Weiterverlauf kann ein günstiger sein und zur ganzen oder defecten Heilung fuhren; andernfalls geht er nach Jahren in einen Secundärzustand chronischen exaltirten (meist religiösen) Wahnsinns über, oder aber in reizbaren Blödsinn mit abweisender Ver- schlossenheit und entschlossenem Trotze gegen jede Annäherung oder Ansprache und einem immer mehr nur auf „Stimmen"- Verkehr und auf Befriedigung der sinnlichen Antriebe (Essgier, onanistische und selbst päderastische Gelüste) eingeschränkten Egoismus.

Melancholische Form d. Verf. W. In analoger reactiver Entstehung kann auch eine melancholische Verstimmung auftreten und dem Wahnsinn ein ausgesprochen depressives Gepräge geben.

Die Kranken sind traurig, niedergedrückt über ihr Schicksal, sie bangen vor gerichtlichen Verhandlungen und Strafen, welche die von ihnen „beobachtete" oder „zugeflüsterte" Insinuation einer ehrlosen Hand- lung nothwendig Uber sie bringen wird. Tentamina suicidii sind jetzt nicht selten. Hält sich der Kranke noch leidlich aufrecht, so vermag er sich doch nicht der wachsenden Verstimmung, der Qual der Schelt- stimmen zu entziehen. Viele schliessen sich menschenscheu ab und bringen Tage und Nächte in Weinen und Jammern, in Nahrungsverweigerung zu. Oft kommen Paroxysmen von Verzweiflung mit imperativen Raptus von Zerstörung, von Fortdrängen u. s. w. Der Kranke trägt jetzt ganz das äussere Bild und Benehmen eines agitirten Melancholikers, nnd nur die genaue Anamnese d. h. die Entwicklung des Leidens vermag den diagno- stischen Springpuukt zu enthüllen. Der melancholische Wahnsinnige ist nicht „schlecht", weil er sich „so fühlt" (wie der echte Melancholiker;, sondern weil er es so hört, weil man ihn absichtlich und immer wieder als einen schlechten Menschen „ansieht und behandelt"; er zeigt deshalb

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Manischer Verfolggswahnsinn. Melancholischer Verf. Complic. Grössenwahn. 165

auch keinen Affect der Selbsterniedrigung. Wochen und Monate lange Episoden können so vorübergehen. Endlich kommen auch wieder ruhigere Phasen, Hand in Hand mit den zurücktretenden Hallucinationen. Das kann zu kürzern oder längern Remissionen oder selbst Intermissionen mit richtigem Krankheitsgefühl fuhren; in den meisten Fällen kommen aber Nachschübe mit erschwertem Charakter. Die ursprünglich beglei- tende Gemüthsverstimmung wird in der Regel mit den Rückfällen schwä- cher; um so mehr treten aber jetzt die Hallucinationen hervor und zwar mit zunehmend imperativem Charakter. Die Kranken gehen vom pri- mären in's secundäre Wahnsinnsstadinm Uber. Andere dagegen wandeln, dem melancholischen Verlaufscharakter treu bleibend, in zunehmende psychische Schwäche (unter Remissionen); die reactive Zornmütbigkeit bleibt und unterhält die beständige Gemeingefährlichkeit dieser oft bis zum Nihilismus verbitterten Kranken. (Ueber eine „abortive" Modifikation s. u.)

Complicirender Grössenwahn.

Eine wichtige klinische Weiterentwicklung des Verfolgungs- wahnes tritt ein, wenn zu dem depressiven Moment noch ein ex- pansives sich hinzugesellt, event. in das letztere Ubergeht: wenn die gefühlte Beeinträchtigung sich in ein Gefühl der Erweiterung, die Wahnvorstellungen der Unterdrückung und Verfolgung sich in Grössen- ideen umsetzen. Dies kann klinisch auf verschiedene Arten sich vollziehen. Erstens: der Grössenwahn tritt nach längerem oder kürzerem Verlauf des Verfolgungswahns als dessen Compensation auf (psychologisch liegt eigentlich in jedem Verfolgungswahn schon die Wurzel eines Grössenwahns) ; der bisher verhöhnte und unter- drückte Kranke fühlt sich durch eine göttliche Inspiration plötzlich „erhoben und belohnt"; oder (in langsamer Wandlung) findet für seinen jahrelang getragenen Schmerz endlich ein Gegengewicht in der werdenden Ueberzeugung , dass er ein Fürstenkind sei. Dabei können die seitherigen Schattenbilder abblassen: der Kranke feiert (wenn anch nm den Preis seines frühem Ich) eine vollständige Neu- geburt; oder aber: die alten Schatten- und die neuen Lichtbilder (Verfolgung und Verherrlichung) können nebeneinander aufziehen, um den Vortritt kämpfen, wobei bald die einen, bald die andern das Uebergewicht erhalten. Es ist dabei bezeichnend, dass die Vormacht in der Regel dem Verfolgungswahn verbleibt, weil dieser, namentlich in dämonomaner Allegorisirnng (als „leibhaftiger Teufel") Uber die ungleich stärkern Mittel der Gehörs-, Geruchs- und Getast- täuschungen verfügt, während „Gott" nur in Gedanken, Ahnungen und Traumgesichten sich offenbart

Manchmal wechseln beide sogar phasenweise mit einander ab, pe- riodischer Verfolgungswahn (oft unter dem äussern Bilde resignirter Pas- sivität und Nahrungsverweigerung) mit periodischem Grössenwahn.

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Der chronische depressive Wahnsinn.

In der wahnsinnigen depressiven Phase ist der Kranke sprachlos, hält die Augen geschlossen, widerstrebt, lässt Alles nnter sich gehen man meint einen Blödsinnigen vor sich zu haben, wenn nicht der beseelte Blick aus den verstohlen herumspähenden Augen Einspruch erhübe. Unter allerlei sonderbaren halb automatischen Bewegungen (Kopfverdrehen, Schaukeln der Beine, plötzliches Niedergleiten auf den Boden) beginnt die freiere Episode, wo der Kranke arbeitet und besonnene Auskunft gibt. Daran schliesst sich in oft jäher Steigerung die Grössenwahnsphase meist religiösen Inhalts: gezierte Kleidung, Predigen, Commandiren, Pro- phezeien u. s. w. Damit wechseln wieder die Zeiten des passiven Wi- derstands; dann wieder Episoden des gesteigerten Selbstgefühls und so in vielfacher Wiederholung. Aus den leidenschaftlichen Reden des Kranken, sowie aus dessen ruhigen Mittheilungen ergibt sich der Schlüssel dieses polymorphen Krankheitsbildes. Beide differente Erscheinungsreihen haben ihren gemeinsamen Schlusspunkt in dämonischen Wahnvorstellungen. Der Kranke ist von den ursprünglich bösen und den spätem guten Gei- stern abwechselnd „besessen"; der böse sucht ihn durch „Gefühle" zur Sinnlichkeit zu verlocken, der gute zu Gott zu führen. Beide sitzen in seiner Brust, und sprechen abwechselnd mit ihm und leiten ihn. Alle Sinnesanschauungen und Hallucinationen gehen durch diese zwei Spectren hindurch. In den Resignationsphasen übt der „Böse" seine Macht aus, welcher der Kranke seine Hand nicht leihen will ; darum verschliesst er die Sinne und rührt kein Glied. Sowie ihn aber der „göttliche Geist" durchdringt, dann fühlt er sich als himmlischen General, als Heiland. Im Weiterverlauf können manische Paroxysmen intercurriren (vgl. unter „Zornmanie"), oder auch melancholische Phasen mit verzweifelnden Angst- vorstellungen und triebartigen Handlungsreflexen (Ausstossen von Thier- lauten, impulsiver Suicidiumsdrang). . Der Ausgang ist Genesung oder secundärer Wahnsinn.

Zweitens: Der Grössenwahn entsteht nicht intuitiv (unbewu6st), sondern vielmehr als logisches Schlussglied des seitherigen Wahn- systems in der Weise, dass die Reflexion des Kranken über seine jahrelange Duldung, über die bisher festgehaltene „Thatsache" eines feindseligen Complotts hinausdrängt zu der Ahnung, dass er, der Zielpunkt der zähen Verfolgungen, kein gewöhnlicher Mensch sein könne, dass sicher noch Höhere und Mächtigere die Hand im Spiel haben müssten, denen an seinem Untergange gelegen sei. Oft schliesst das Wahnsystem damit ab; mit zunehmender geistiger Schwäche gewinnt aber hier das expansive Moment immer mehr die Ober- hand; der „Verfolgte" erfasst sich immer ausschliesslicher als den unterdrückten Märtyrer einer grossen Sache, welcher von nun an gern und freudig weiter dulden will.

Stets besagt diese (expansive) Art der Weiterentwicklung, in welcher Form sie sich auch vollziehe, einen Wendepunkt zum Schwereren, wenn auch nicht gerade immer zum Unheilbaren. Die Weise des Eintritts der Grössenwahnphase ist klinisch eine verschiedene. Sind Hallucina-

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Klinische Formen und Ausgänge bei complicirendem Grössenwahn. 167

tionen vorhanden, so mischen sich unter die „scheltenden" zeitweise auch „schmeichelnde", unter die Drohungen auch Verheissungen oder directe Zurufe, himmlische Gesichte; die seitherigen neuralgischen Be- klemmungen weichen einem nunmehr aufgehobenen körperlichen Begren- zungsgefUhle. Das kann bei ganz ruhigem Verhalten des Kranken statt« finden ohne eine sonst zu Tage tretende Aenderung. Anderemale stellt sich aber die GrÖ&senwahnepisode unter der Form eines acuten manischen Paroxysmus ein, mit vasomotorischen Begleiterscheinungen. Der bis dahin durch Verfolgungen gemarterte Kranke versinkt in einen „entrückten" Zustand mit Verdunkelung des Bewusstseins, in welchem er mit der Miene des Glücks allerlei mystische und symbolische Acte vornimmt und nur durch orakelartige bedeutungsvolle Worte und Zeichen antwortet : er wandelt jetzt im Licht, steht künftig unter einer höhern Macht; er „glänzt" jetzt; dabei kann er die barocksten Handlungen vornehmen, sich Haut abkratzen, einsalben Alles nur als Symbol seiner neuen Würde. Klingt der Paroxysmus ab, so bleibt der „gute Geist" über oder in dem Kranken, welcher ihn von jetzt an leitet, sei's durch An- triebe oder durch Zeichen, oder durch Worte, ja selbst durch jeweilig promptes Erscheinen, so oft er eines Rathes bedarf, welchem dann blind gehorcht wird. Die Gedanken „verschleiern sich", bis der gute Geist hilft. Solche Phasen beglückten Grössenwahns können episodisch sich wiederholen.

In einer letzten Reihe von Fällen endlich hat sich der depressive Verfolgungswahn bis zur psychischen Erschöpfung abgespielt; der Kranke kennt ferner keinen Ausgang mehr. Da erscheint dem rath- losen Philotket der rettende Herakles: unter „erwärmenden" oder „magnetischen" Durch ström ungsgefilhlen geht dem Verfolgten eine neue Welt auf. Die Sonne, die Wolkenfiguren, die Vögelstimmen offenbaren ihm die Verheissung, dass er nur habe dulden müssen, um jetzt die Krone zu erreichen. Es ist die Fata morgana des ver- durstenden Wüsten Wanderers ; wie diese kündigt die „neue Zeit" dem Kranken den besiegelten geistigen Niedergang an.

Dagegen vermögen die vorerwähnten Episoden von acuten Grössen* wahnmanieen (richtiger: zwischenläufigen acuten Wahnsinnsepisoden) nicht so selten sich wieder auszugleichen, und selbst manchmal den an- fänglichen Verfolgungswahn auf längere Zeit ganz zurückzudrängen.

Der endgültig transformirte „Heilige" oder „Prophet" geht dagegen mit sammt seinen glänzenden Attributen in zunehmenden und bleibenden Schwachsinn über. Dieser Decursus verläuft, je nach dem Wahninhalt, auch ausserdem noch unter erschwerenden Folgen für die Handlungsweise des Kranken, welcher hemmungslos nur unter der Wahndirective steht. Dies betrifft namentlich die Schwächestadien mit ekstatisch religiösem Charakter. Hier treten die Selbstpeinigungen, die unbarmherzigen Ver- stümmelungen, die zähe Nahrungsverweigerung ein Alles, um den sündigen Leib abzustreifen und sich der unverhofften Gnade würdig zu aeigen. Bei wachsender Demenz bleiben dann die „Erlöser" und „Welt-

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Der chronische depressfre Wahnsinn.

kaiser" mit ihren kindischen Lappen und Flitterputz übrig. Wendet sich der expansive Umschlag in's Erotische, so erfolgen die Liebesromane aus den nächtlichen Visionen der Geliebten, im Tagesleben die von der höchsten Sentimentalität bis zum plumpen Cynismus sich bewegenden Andrängungen und Belästigungen der illusorisch auserkorenen „Bräuti- game". Der Name wird jetzt gewechselt, der Ehering abgelegt, ein neuer Bund hat begonnen. Geschlechtliche Regungen und Reizungen zur Masturbation befördern durch ihren schwächenden Einfluss den geistigen Zerfall.

Für die klinische Uebersicht des mannigfachen Endschicksals aller geschilderten Zustands- und Verlaufsformen ist bei einem solchen an sich chronischen (oft durch Jahre protrahirten) Processe auch noch der mitbegleitenden, körperlichen Vorgänge, speciell des Se- niums mit seinen organischen Complicationen , zu gedenken. Bei manchen dieser Kranken treten dadurch später in einer oder der andern Art Hirnzufalle ein, namentlich Apoplexieen, welche den jahrelang bestandenen Verfolgungswahnsinn in eine psychische Cere- bropathie hinüberführen.

Diesem schwersten Verlaufe stehen ausgleichend gewisse abortiv verlaufende Fälle von melancholischem Verfolgungswahnsinn gegenüber, welche gar nicht so selten im Verlaufe von mehreren Wochen zur Hei- lung gelangen. Gewöhnlich handelt es sich um anämische Individuen, noch dazu in ungeeigneter geistiger Umgebung, welche ihren Stachel erlittener Beeinträchtigung oder Verfolgung nicht selten aus den Dornen wirklicher Erlebnisse, roher Behandlung ziehen.

Eine andere häufige Vorbereitung wird durch eine auf chronischen Magendarmaffectionen beruhende Neurasthenie mit hypochondrischer Ver- stimmung beschaffen. Meist geben wirkliche (und Pseudo-) Hailucina- tionen mit; oft sind es aber auch thatsächlich erduldete Kränkungen, welche, lange verschluckt, endlich durch Association mit den hyperästhe- tischen Unterleibssensationen den Boden für eine „objective" feindselige Machtstellung gewinnen. Mit der Wahnconception verstärken sich sofort auch die abdominalen Beschwerden, und reflectiren sich byperästhesirend auf die verschiedensten Nervengebiete (Druck und Spannung im Kopfe, Ueberlaufen der Augen, Bangigkeit auf der Brust, Appetitlosigkeit, Brennen im Epigastrium u. s. w.). Durch Versetzung in ganz neue Verhältnisse (Anstalt) resp. Behebung des Magendarmkatarrhs wird nicht selten Be- ruhigung und geistige Correctur gebracht, welche sich mit zunehmender Körperkräftigung befestigt. Die letztgenannten Fälle gleichen in mancher Hinsicht, namentlich in der Acuität des Verlaufs, dem Gefangenenwahn- sinn; das Unterscheidende liegt im hallucinatorischen Elemente, welches, wenn Uberhaupt vorhanden, hier nicht primär auftritt und nicht als maassgebendes formgestaltendes Krankheitselement, wie bei jenem.

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Abortiver Verfolgungswahnsinn. Der chronische expansive Wahnsinn. 169

b) Der chronische expansive Wahnsinn.

Wie der primäre Verfolgungswahn kann auch der Grössenwahn- sinn entweder in einfacher oder in complicirter Gestalt (mit Hallu- cinationen) auftreten. Inhaltlich unterscheidet man eine religiöse, erotische, und eine philanthropische Unterform, von denen jede isolirt, aber auch mehrere combinirt (die religiöse mit der erotischen) vor- kommen. Auch im klinischen Auftreten und Verlauf, sowie in den Endschicksalen, hat diese Gruppe sehr viel Verwandtes mit der vorigen. Sie vertbeilt sich auf alle Lebensepochen (mit Vorliebe auf Pubertät und Climacterium) und auf alle Ursachen (mit Vorliebe auf sexuelle, besonders Masturbation). In ihrem Verlauf ist sie wie jene exacerbescirend - remittirend. In ihrem Ausgang kann sie zu dauernder Heilung oder mehr minder langer Intermission führen, am häufigsten aber zur stationären Chronicität, zur Unheilbarkeit. Diese letztere prognostische Signatur betrifft vorzugsweise die mit Verfolgungs- und Grössenideen vermischten Fälle. Erblichkeit ist häufig, aber lange nicht regelmässig; vorausgegangene schwächende Momente (Sexualexcesse , Lactation, profuse Menses) sind sehr oft ätiologisch zu verzeichnen.

Neben dieser erworbenen Form des expansiven Wahnsinns kommt auch eine originäre vor (gerade wie beim Verfolgungswahn), welche symptomatologisch zwar vielfach mit der erworbenen sich deckt, aber in Entwicklung und Verlauf sich von letzterer ebenso unterscheidet, als die Entartungspsycbosen von denen geistiger Vollentwicklung (s. Degene- reacenzcharaktere). Die originäre Varietät bildet häufig das Endstadium, die Folgeentwicklung, einer ab ovo vorhandenen geistigen Beschränktheit mit religiöser Ueberschwenglichkeit.

Das klinische Symptomenbild kann fUglich sämmtliche Unter- formen, welche wesentlich nur im Wahninhalt sich unterscheiden, zusammenfassen.

Vorauf geht bei Vielen, namentlich in der Jugend (Pubertäts- zeit) Erkrankenden, ein nervöses Temperament, eine Neigung zur Hypochondrie und zum Grübeln. Es tritt eine schwärmerische Cult- richtung auf mit zunehmender religiöser Ueberspannung, Drang zu BussUbungen, Entschluss zur Weltentsagung, zum Klosterleben. Reli- giöse Zweifel treten entzweiend entgegen und allegorisiren sich als gute und böse Geister, welche miteinander im Kampfe liegen. Der Sieg entscheidet für den „geistigen Schutzengel", welcher (bei mit- begleitendem Sexualreiz) vorübergehend seine Rolle mit dem „herr- lichen Geliebten" tauscht. Eine Aenderung des Wesens vollzieht

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Der chronische expansife Wahnsinn.

sich. Die junge Patientin zieht sich zurück, wird menschenscheu, nächtelange religiöse LectUre und Kasteiungen schliessen sich an. Immermehr zeigt sich, gleichen Schrittes, eine Abneigung gegen die bisherigen Altersgepflogenheiten, gegen Eltern und Freundinnen; ein Verkehr in Gedanken oder in offenen Hallucinationen mit dem Gegenstand der „Sehnsucht" und der „Gnade" vermittelt ein bereit- williges Aufgehen unter dessen Befehle. Symbolisirungen , welche die Kranke bestärken, dass sie auf dem Wege zu ihrem Glücke sei, vollenden den fertigen Wahn. Den Gehörs- und Gesichtstäuschungen schliessen sich solche des Geruchs- und des Tastsinnes an. Es fol- gen nächtliche hallucinatorische Roman- und Legenden -Erlebnisse; die Personen der Umgebung werden feindlich oder freundlich ver- kannt und nach der Richtung des Wahns appercipirt. Die Kranke wird immer mehr der Wirklichkeit entrückt; manchmal kommen jetzt ekstatische oder kataleptische Episoden mit innerer „Verzückung", oder aber gegentheils mit dem mimischen Ausdruck büssender Selbst- peinigung (verschränkte Gebetsattitüden) und darauf Rückkehr in den verstärkten religiösen (oder erotischen) Wahnzustand. Auf diesem Entwicklungsstadium kann die Krankheit stille stehen und sich zur Besserung oder Genesung zurückbilden, zugleich mit dem spinal- neuralgischen Reizzustand, welcher durch die Intercostalsensationen (oder begleitende vasomotorische Hitzegefühle) die „beglückenden Durchströmungen", die Reflexhallucinationen des erscheinenden Schutz- geistes oder Geliebten vermittelt hatte. Dieselbe klinische Ent- stehung und endliche Zustandsform kann sich auch nach der Puber- tätszeit (besonders auf hysterischer Grundlage und bei ledigen Per- sonen) wiederholen.

Manchmal aber, zumal in reifern Jahren, vollzieht sich eine etwas geänderte Entwicklung. Ausgesprochene depressive Stimmungen gehen voraus, manchmal Glaubensscrupel, oft auch wirkliche Vorwürfe wegen einer That im Vorleben, welche nicht die volle sittliche Feuerprobe (jetzt in verschärfter Prüfung!) aushält Da fällt plötz- lich ein Predigtwort oder ein biblischer Vers, oder ein Zug aus der Miene des Priesters auf, und sofort ist Alles klar: das Wort, der Bibelspruch bezieht sich auf den Kranken und nur auf ihn, ist eigens für ihn gewählt, um ihm „Licht zu bringen in seiner Nacht". Es tiberkommt ihn wie eine himmlische Gnadenspende oder auch als erhebende irdische Verheissung, er solle zu Würden, Reichthum, zu einer glänzenden Heirath aufsteigen. Durchströmungsgeftthle von Friede und Glück ziehen durch ihn, er athmet frei vom früheren Druck auf der Brust; er fühlt es und weiss es, dass Gott ihn zu

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Klinisches Krankheitsbild.

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solcher Auszeichnung ausgewählt hat, zu seinem Gesandten, zum zweiten Messias. Mit Einem Schlage spricht Alles um ihn dieselbe Sprache ; nach rückwärts und nach vorwärts wird es hell und klar. Ueberall regen sich Zeichen; alles gewinnt symbolische Bedeutung, selbst die Speisen, die Kleider, jeder Zug im Benehmen der Um- gebung. Was sich nicht sofort in dieser Richtung entschleiert, ist gleichwohl mit weisem Zweck vorhanden und dem Kranken zuge- sandt; Alles dient zu seiner Prüfung. Und dass er diesen Zweck ahnt und erkennt, macht ihn glücklich in jeder Lage ; er ist in Allem geführt und geleitet

Der Kranke lebt jetzt mit den Heiligen und Frommen als glück- licher Bruder (Schwester), um mit ihnen zusammen alle Genüsse des Fleisches zu tbeilen ; auch die Heiden und selbst die Thiere werden ge- richtet vor seinem Richterstuhle. Sein reiner Blick lässt ihn sofort er- kennen, wer Ansprüche auf Gnade hat; er Ubersieht die Welt: wohin sich seine Gedanken richten, da stellt sich auch seine Aufgabe hin ; dort ist Licht, dort das neue Jerusalem. Aber nicht kampflos ist ihm seine hohe Stellung beschieden. Wohl steht er mit allen Geistern der Erde in geheimem Rapport; aber nicht alle sind freundlich gesinnt. Auf dem Wege einer geheimen Geistessprache, „durch die Masse und Unruhe der ihm zeitweise zuströmenden Gedanken4' muss er immer auch den Wider- spruch der Bösen erkennen, welche noch im Dienste des Satans stehen. So wird er „durch die Gegensätze von innen und aussen" anhaltend ge- plagt; er spürt an der „innern Hitze" den Zorn des Gerechten; aber er hat seinen „treuen Geist", der in der Magengrube sitzt, und wenn er auch leiden muss, so ist er doch der „reine Tempel Gottes" ; durch ihn und seinen „göttlichen Saamen" werden alle Welten ihren Erlöser be- kommen.

Mit fast noch sieghafterer Gewalt als der Wahn einer entdeckten Verfolgung nimmt die zur Gewissheit gewordene Grössenidee von der geistigen Persönlichkeit des Kranken Besitz. Mit heiterster Stimmung und freudiger Hingabe wird jeder Willensact in deren Dienst gestellt, wird Familie, Hab und Gut, jeder Lebensgenuss ge- opfert, mit der Vergangenheit abgerechnet und gebrochen.

Der Kranke muss jetzt die Sünder bekehren, die Unreinen reini- gen, die Philosophen, Freimaurer und Besessenen dem Glauben zuführen. In schwülstigen poetischen Formen wird die göttliche Gnade gepriesen and auf der Strasse an die Vorübergehenden gepredigt; Alles muss rein werden. Nicht selten werden die Habseligkeiten verschleudert und im Wohlthunsfanatismus verschenkt. Auch die Speise muss rein sein. Viele Kranke verabscheuen jetzt das Fleisch, wollen sich nach der Legende nur von Wurzeln nähren oder von Milch, „aber nur von einer Kuh und nur aas einem Euter, das der Kranke selbst milkt", um, wie er hofft, dadurch alle Schlacken seines früheren Menschen aus sich auszuscheiden. So zwingt er auch Frau und Kinder (oft in gewalttätigster Weise) zum gleichen

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Der chronische expansive Wahnsinn.

Thun. Beim erotischen Wahne werden bogenlange Briefe und senti- mentale Ergüsse an die erträumten „Personen der Verheissung" gerichtet. Grosse Geldsummen werden geopfert im wahnhaften Drang einer „huma- nen Mission'*. Vermögen werden hingegeben, oder an der Roulette ver- spielt, wenn eine Traumvision oder eine symbolische Auslegung die be- reits anfahrenden „riesigen Geldsummen" angekündigt hatte.

In der Regel fördert diese Entwicklungshöhe der Krankheit auch die wirklichen (und Pseudo-) Sinnestäuschungen.

So sieht der religiös Wahnsinnige, so oft er inbrünstig zu beten an- fängt, einen Engel neben sich hinknien; in der Kirche bezeichnet ihm die plötzliche Farbenpracht in den flackernden Lichtern, oder in der Nacht ein Stern, welcher sich bis zur Grösse des Mondes vor seinen Augen erweitert, das 8 eben sein jetziger Gedanke ein gottgeweihter ist. Eine grosse Rolle spielen auch namentlich lebhafte Träume. Nie, wie es scheint, wird auch Steigerung des Geschlechtstriebes vermisst.

Der Weiterverlauf kann ein ausserordentlich mannigfaltiger sein, wenn er vielleicht auch den Formenreichthum des Verfolgungs- wahnes nicht ganz erreicht. Es kann 1. die Krankheit von der er- langten Höhe sich langsam znrlickbilden ; die Lichtfiguren tauchen allmählich unter, der Kranke steigt jetzt aus den Wolken wieder auf den Boden der Wirklichkeit. In den selteneren Fällen geschieht dies mit Selbstcorrectur und Einsicht; meist ist der Wahn nur aus dem Blickpunkt verschwunden, aber nicht überwunden. Der Kranke ist zwar geordnet in seinem Tagesverhalten, aber gegenüber von früher schärfer, schneidiger, unbiegsamer geworden, namentlich oft religiös pedantischer und unduldsamer. So bleiben Viele unbewusst auf den Schultern ihres untergetauchten Wahnes stehen. Es kann 2. der Weiterverlauf ein schubweiser sein, und in periodischer Wiederkehr den ersten Anfall wiederholen (oft mit Symptomengleichheit bis ins Einzelne), bis endlich ein letzter Anfall stationär bleibt bis zum Lebensende.

Nicht selten mischen sich bei dieser Verlaufsform auch Paroxysmen von Verfolgungswahn gelegentlich dazwischen. Der Kranke wird in seiner Gemüthslage das Gegentheil der früheren Anfalle, reizbar, heftig, miss- trauisch. Oft schliesst dieses Schattenbild dauernd die früheren Licht- bilderacte.

Oder 3. der Verlauf wird chronisch der häufigste Ausgang. Auch hier treten im Einzelnen viele Variationen auf. So können sich a) nicht selten acut hallucinatorische Paroxysmen mit Steigerung zu Ekstasen einschieben (der Kranke sieht niederfallende Regen von Glückssternen; die Engel reichen ihm Zuckerbrod; er fühlt sich im Paradies); oder zu andern Zeiten stellen sich b) Episoden von Nah- rungsverweigerung ein, mit Mntacismus, Selbstkasteiung und Buss-

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Verlauf. Ausgange. „Negativer" expansiver Wahns. Subacute Varietät. 173

peinigung, oder auch von ernsten nnd rücksichtslosen Gewaltan- drohungen nnd selbst thätlichen Angriffen auf die Umgebung „Alles zur grössern Ehre Gottes."

Es gibt keinen selbst- und gemeingefährlicheren Kranken als einen religiös Wahnsinnigen aus dieser Periode. Eigener Mord und der Mord Anderer („um mit deren Seele in den Himmel fahren zu können"), Selbst- verstümmelungen (namentlich Attentate auf Hoden und Penis) sind häufig auftauchende Krankheitswirkungen. Ja, Selbstkreuzigung ist mehrfach erlebt worden.

Manchmal iutercurriren auch Paroxysmen, von Gastricismen oder von sexueller Ueberreizung (Onanie) ausgehend, welche bis zu heftigster, tagelanger Aufregung (Satyriasis) sich steigern, so dass der Kranke unter den Aeusserungen des niedersten Geschlechtstriebes Personen anfallt, oder sich unter Angstschreien auf dem Boden wälzt, während der Körper wie von elektrischen Schlägen durchzuckt wird, das Gefässsystem fieberhaft arbeitet. Auch diese Modification kehrt in brüsken Uebergängen manch- mal periodisch wieder.

In andern Fällen c) tritt nach und nach ein ruhiger Zustand ein, aber mit immer tieferer „Einbildung" des Wahnes in das gesammte Seelenleben, namentlich auch in die Musculatur der Mimik und Phy- siognomik. So arbeitet sich ein Status catalepticus heraus, in wel- chem die Kranken wie „Säulenheilige" oder „indische BUsser" da- stehen, Monate lang schweigen, um keine Ansprache oder Umgebung sich bekümmern, ja selbst sich verhungern und erfrieren Hessen. Damit wechseln dann wieder Phasen von freierer, motorischer Be- weglichkeit ab; die Kranken vermögen wieder zu arbeiten und in bescheidenem Grade sich nützlich zu machen. Sie theilen ihren geistigen Besitz zwischen sich und ihrem „guten Geist", ihre Lei- stungen zwischen einem mechanischen Tagewerk und ihrem inner- lichen Missionsdienst. So können sie auf Jahre hinaus brauchbare Glieder im Anstaltsorganismus bilden.

Wie der Verfolgungswahn liefert auch der expansive Wahnsinn einen Typus für ein negatives klinisches Bild. Es sind chronische Kranke, welche ihre Rechnung in sich abgeschlossen, aus dem äusseren Wider- stande der ungläubigen Welt ihren inneren Talisman um so fester und überzeugter gerettet haben, des Streites endlich milde, und in ihrem Be- sitze um so glücklicher sind. Den Verkennungen der kurzsichtigen Um- gebung, den mannigfachen und wechselnden Quälereien setzt er, „der Gottmensch", nur eine ergebene und stille Resignation entgegen. Oft kommt kein Wort der Klage über seine Lippen, kein Ausbruch heiliger Entrüstung wird laut, kein Act der Rache wird vollzogen. Der Kranke wehrt nur ab, was ihn bedroht, oder seiner hohen Würde nicht ange- messen ist. Darum zieht er sich von der Gesellschaft zurück; darum arbeitet er nicht, isst wenig oder gar nicht; darum lässt er sich ungern in ein Gespräch ein ; man will ihn ja doch für einen „Narren" verzollen.

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Der chronische expansive Wahnsinn.

Andere Kranke d) dagegen sind streitbarer geblieben. Sie kön- nen es nicht verschmerzen, wenn die Wirklichkeit sie hart anfasst; sie werden gereizt und selbst zornig aufgebracht, wenn man ihnen widerspricht, wenn sie etwas „Unheiliges" sehen müssen; ja Viele brausen farorartig auf, wenn sie durch irgend ein unreines Zeichen (Pollution, Menses) daran gemahnt werden, dass sie nicht schon dauernd „reiner Geist" geworden. Bei grösserer psychischer Schwäche klingt endlich der Wahn zu formalen Aeusserlichkeiten herab, zu kindischen Draperieen, symbolischen Einrichtungen des Zimmers, „bedeutungsvollen" Manieren, selbsterfundenen Worten und Schrift- zügen. Der Abschluss ist 1. langsame Demenz mit partieller Ver- standesschonung; 2. hallucinatorischer (Einfall-)Wahnsinn mit para- phrastischer, paragraphischer und parergischer Verworrenheit; 3. chro- nische Stupidität mit Status catalepticus , untermischt mit luciden Stadien; 4. zunehmender Marasmus (namentlich bei constitutionellen Leiden, Phthise), in Folge ungenügender Körperernährung.

Diesem von Beginn an chronischen Verlauf steht auch eine sub- acute Varietät gegenüber, wobei der exaltirte Wahnsinn (gewöhnlich re- ligiösen Inhalts) unter der Form zugleich eines psychischen Aufregungs- zustandes beginnt und weiter verläuft. Die männlichen Kranken sind meist mehr minder hereditär belastet, weibliche Patienten noch ausser- dem häufig anämisch, oder unregelmässig menstruirt. Gewöhnlich han- delt es sich um geringer begabte, oder schwärmerische, leicht bestimm- bare, von Jugend auf hochmüthige, rechthaberische, geistige Anlagen. Bei der religiösen manischen Form geht in der Regel ein längerer De- pressionszustand mit Grübeln, biblischer Leetüre, vermehrten Cultübungen voraus. Der eigentliche Paroxysmus kann plötzlich auftreten, nicht selten im Anschluss an ein kirchliches (Missions-) Ereigniss: die Kranken be- ginnen zu predigen, sie proclamiren sich laut als die Auserwählten Got- tes, berufen sich auf den inneren Geist, der sie treibe, oft direct auf „höheren Befehl". Sehr häufig geschehen in dieser Phase Attentate ge- gen Andere, namentlich auch sacrilegische Handlungen, weil sie allein sich berufen fühlen das wahre Licht zu bringen, und das seitherige nur „Satanswerk" bedeute. So weit gediehen kann sich der Zustand wieder zurückbilden; bei weiterer Steigerung geht er in Moria über (s. d.). Die subacute erotische Exaltation verläuft unter dem Symptomen- bilde der Mania mitis: erotische Andeutungen, „Zeichen" von Liebes- bewerbungen seitens Dritter bilden den Beginn ; darauf Erwiderungen in Briefen und Gedichten, auffälligere Toiletten; belebteres Wesen, lebhaf- tere Conversation, immer um den einen Punkt einer bevorstehenden Hei- rath sich drehend; Anfangs noch Dissimulation, endlich offenes glück- strahlendes Bekenntniss an die Umgebung. Erfolgt jetzt keine Rückbildung, so kritisirt sich auch diese Form durch ein ächt manisches Durchgangs- stadium mit erotischer Grundlage: die Kranke wird pauselos geschäftig, kleidet sich an und aus, und wieder an, wird immer phantastischer in

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Der acute Wahnsinn.

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Toilette und Zimmerschmuck, die Stimmung flüchtig und reizbar; dabei der wachsende Drang zu küssen, zu coquettiren und namentlich mit Blu- men sich zu schmücken, Strausschen auszutheilen u. s. w. Nicht selten steigert sich der Zustand bis in sexuale Manie (s. d.). Gewöhnlich schliesst sich die beschriebene Form an wirkliche unerwidert gebliebene Liebeshändel an; manchmal bildet eine reactive Depression mit Ver- giftungswahn (Geruchs- und Geschmackstäuschungen) die Einleitung. (Wei- teres 8. u. acutem sensuellem Wahnsinn, wozu diese Fälle den Ueber- gang bilden, ähnlich wie die analogen beim chronischen Verfolgungswahn.)

Der acute Wahnsinn.

Krankheitsbilder. Verlauf. Ausgänge.

Der acute primäre Wahnsinn, Die klinischen Formen des hallu- cinatori8chen Wahnsinns sind ausserordentlich mannigfaltige, sowohl in ihrem klinischen Bilde, als in der Entstehung und dem Verlaufe resp. den Ausgängen. Dem eigentlichen Krankheiteausbruch geht in der Regel ein kürzeres oder längeres Prodromalstadium (Status nervosus) voraus: Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, grillenhaftes, gereiztes Wesen, Störungen des Appetits, Rash's zum Kopfe. Anedre Male bildet ein vager Depressionszustand mit Präcordialdruck , Angst, Weinen, reli- giösen Grübeleien die Einleitung. Oft scheinen gegentheils alle psy- chischen Prodromi zu fehlen, so namentlich im Defervescenzstadium vorangegangener Fieberzustände. Die eigentliche Krankheit selbst tritt darnach theils vorbereitet, theils plötzlich in Scene, sehr häufig nach einem Gemüthsaffect (Gewitter), oder selbst mitten aus dem Schlafe, welchen die Kranken noch anscheinend „wohl" begonnen haben. Der Beginn erfolgt entweder 1. als heftige Angst mit Ver- kennung der Umgebung und reactiven Zwangshandlungen (melancho- lischer Typus), oder 2. als massenhafte Sinnestäuschungen feindlichen oder fördernden Inhalts, welche, erst einige Zeit bekämpft, immer mehr das Bewusstsein ausfüllen und in gesteigerten Reflexen auf Stimmung und Handlung sich abgleichen (manischer Typus); oder endlich: es verdunkelt sich das Bewusstsein in raschem Uebergang aus dem Wachen zu einem Dämmerzustand, in welchem die Kran- ken auf Stunden und Tage in einer visionärem Traumphase festge- bannt resp. in wechselnde innere Situationen geführt werden, wobei die Perception bald aufgehoben, bald vorübergehend klar, sogar ge- schärft, bald illusorisch gefälscht sein kann. Nach dem Gesammt-

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Der acute Wahnsinn.

ein druck erscheinen demnach die Einen ruhelos panphobisch; die Andern verzückt ekstatisch; wieder Andere träumerisch lucid, alle Grade der Bewusstheit in unvermittelten Uebergängen und ohne innerliche Continuität durchlaufend.

Gemeinsam liegt Allen eine acute, mehr oder weniger tiefe, an- haltende oder re- resp. intermittirende Bewusstseinsstörung, und ein bald logisch geordneteres, bald kaleidoskopisches Innenspiel von Sinnestäuschungen und Einfällen zu Grunde.

Die Hallucinationen sind entweder von übereinstimmender Färbung (so im acuten dämonomanischen Wahnsinn), oder aber bunt wechselnde zusammenhanglose Impromptu's, aus depres- sivem und expansivem Inhalte gemischt; bald phasenweise ab- wechselnd, bald aber auch in unvermittelten und unverhofften Ueber- gängen in einander spielend. Manchmal flechten sich auch allerlei Einfälle hinein, welche an zufällige Reproductionen sich anschliessen, und fast mit der sinnenfälligen Evidenz von Hallucinationen zu phantastischen Romanen sich ausspinnen.

Die Stimmung ist in gleicher Weise mannigfaltig. Dieselbe wird vom hallucinatorischen Innenspiel geleitet, wechselt mit diesem. Bald heiter expansiv, in den erträumten Grössenideen schwelgend, oder ekstatisch verzückt in glänzenden Visionen, ist sie in andern Fällen depressiv bis zu den höchsten Graden der All -Angst und Ver- zweiflung; oder aber träumerisch ruhig, nach aussen scheinbar in- different, wenngleich innerlich bewegt. Manchmal ist die Stimmungs- lage in der oder jener Richtung durch den ganzen Krankheiteanfall andauernd, andere Male aber auch ausserordentlich wechselnd, von einem Extrem in das andere jäh überspringend; in wieder andern Fällen folgt dem anfänglich depressiven ein späteres exaltirtes Sta- dium nach. Dabei bleibt wie für den chronischen Wahnsinn, so auch für den acuten wesentlich und charakteristisch, dass die Stimmung stets eine reactive ist, d. h. durch die Sinnestäuschungen bedingt resp. unterhalten wird. Dieselbe behält deshalb auch immer eine gewisse Flüchtigkeit, und setzt sich nur aus Einzelacten zusammen, je nach dem Inhalt des hallucinatorischen Schatten- oder Lichtspiels ; in der Zwischenzeit gleicht sie sich immer wieder zur Farblosigkeit herab, oder hält sich in der ärgerlichen Gereiztheit oder verzagten Rathlosigkeit des cerebralen Neurasthenikers.

Man kann mit einer gewissen Einschränkung sagen, dass sich im acuten Wahnsinn die melancholischen und manischen Verstimmungen (nicht minder auch der stupuröse Stimmungsmangel) wiederholen (s. Einleitg.). Aber das psychologische Verhältniss der Stimmungsänderungen ist ein

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Klinischer Charakter. Verlauf. 177

anderes als in der Melancholie und Manie. Hier ist die Verstimmung eine primäre, im acuten Wahnsinn aber eine secundäre Folgewirkung in derselben Weise, wie beim manischen Wahnsinn die motorischen Acte nicht „spontane" sind, sondern Reflexe der wechselnden Stimmungen und Antriebe und vor Allem der kaleidoskopischen Sinnestäuschungen; speciell bei dem melancholischen Wahnsinn fehlt die folgerichtige Logik der Wahn- gebilde, welche nicht selten chaotisch und innerlich bis zur Verwirrung widersprechend sind. Doch gibt es auch Fälle und Episoden, wo sie als gleichgefärbte Schrecknisse vor das ahnende oder gehemmte Bewusstsein treten. Nicht selten gehen übrigens die in Rede stehenden klinischen Zustände in einander über: eine anfängliche Melancholie Steigertsich durch Aufruf von überwuchernden Sinnestäuschungen in eine acute Wahnsinnsphase (8. Melancholie), oder umgekehrt, ein acuter manischer Wahnsinn gelegent- lich zu einer wirklichen Manie. Sonst aber ist nur die äussere Form bei beiderlei Zustandsformen eine annähernd gleiche; der psychologische Auf- bau bleibt, trotz manchmal verwandter Entwicklung, ein innerlich ver- schiedener. So verhält es sich auch mit der stupurösen Wahnsinnsform im Vergleich mit dem wirklichen Stupor. Die den letztern auszeichnende Wil- lenshemmung mit dem Perceptionsabschluss nach aussen kann als Folge- wirkung (psychisch-motorischer Reflex) eines primären hallucinatorischen Wahnsinns auftreten (PseudoStupor) ; es können aber auch echte Stupor- pliasen neben und mit diesen nur äusserlichen, d. h. transitorische Phasen von wirklicher Dementia acuta abwechseln (und zwar innerhalb des- selben Krankheitsverlaufs) mit scheinbarer resp. hallucinatorischer. Der klinische Unterschied ist, dass jene für immer eine Lücke im spätem Bewusstsein zurücklassen, diese dagegen eine ausserordentlich reiche Traumerinnerung (s. Dement, ac). Bei den dämonomelancholischen Formen sind die oft das ganze vielgestaltige Krankheitsbild durch- ziehenden und „betonenden" Affectkerne sehr bemerkenswerth. Als schmerzliche Erinnerungen aus irgend einem frühem Erlebniss bleiben dieselben oft lange Zeit unter dem Sturm der Hallucinationen und feind- seligen Acte verdeckt, erhalten sich aber gleichwohl als wirksam (in der Färbung jener, in dem zornigen Charakter dieser), und treten nicht Seiten erst in der Reconvalescenz an das Tageslicht, wo sie dann oft die ganze Krankheitsgenese überraschend aufklären.

Ebenso mannigfaltig, ja noch vielgestaltiger, ist der Verlauf. Derselbe kann sich in peracuter und acuter Form von einigen Tagen (Menstruationsphase) bis zu mehreren Wochen erstrecken; in pro- trahirterer Form kann aber der Anfall auch Monate dauern, selbst bis zu einem Jahre und noch länger, je nachdem (was hier beson- ders häufig) immer wieder Nachschübe kommen, oder aber die Lösung des ganzen Anfalls erst dnreh eine Reihe von physiologisch zusammenhängenden (cy kl ischen) Zustandsformen sich vollzieht. Dieser Verlaufsunterschied richtet sich namentlich darnach, ob der acute Wahnsinn in einfacher oder complicirter Form auftritt einfach, wenn nur eine hallucinatorische Erkrankung in ihrer verschiedenen

Schüle, Geirt*8kr.Bkheiten. S. Aufl. 12

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Der acute Wahnsinn

klinischen Gestaltung und Stimmungsreaction vorhanden ist; com- plicirt dann, wenn sich eine motorische und namentlich vasomoto- rische Neurose (sog. Status attonitus) damit verbindet. Dieser engern Untergruppe, welche nicht bloss neue körperliche Symptome einführt, sondern auch die psychischen in wesentlicher Weise abändert, und (durch die vasomotorische Mitaffection) einen vergleichsweise viel protrab irteren (cyklischen) Verlauf bedingt, soll deshalb eine beson- dere Besprechung (s. attonischer Wahnsinn) geschenkt werden. Die einfachen Formen verlaufen selten in dem anfänglichen Tempo bis zum Schlüsse; gewöhnlich treten mehr oder minder lange Epi- soden von andern geistigen Störungsformen (melancholische, manische Zustände) dazwischen, theils als Stimmungsreactionen auf die impe- rativen Sinnestäuschungen, auf die verwirrenden bunt wechselnden Illusionen, theils als zugehörige Verlaufstadien aus vasomotorischer oder neuralgischer Entstehung. Am häutigsten kommen Aufregungs- zustände vor. Die Ideenflucht und sprachlichen Aeusserungen in diesen tobsüchtigen Phasen können symptomatologisch ein Gemisch von Grössen- und Verfolgungsdelirien darstellen, oder auch ein phan- tastisches Gefasel von Einfällen, selbstgemachten Worten, anomalen Associationen; die lautlichen Aeusseruungen können sich, oft in raschem Uebergang, durch alle Stufen der Verworrenheit und Verbi- geration bis zum zusammenhanglosen, rein noch assonirenden Deli- rium steigern. In gleicher Weise kann der physiologische Charakter der Bewegungen wechseln: während Mimik und Action für gewöhn- lich nur die zugeordneten Reflexe auf die Einfälle und Trugwahr- nehmungen darstellen, können beide sich in den schwerern Fällen vom psychischen Inhalt emancipiren, und zu automatischen, von letztern losgelösten Acten gestalten. Nach spätem Geständnissen sol- cher Kranker lebten sie in einer von ihrem damaligen Gebahren ganz verschiedenen phantastischen Situation, über welche hin sich ein zu- sammenhangloses Spiel von mimischen Bewegungen, ungewollt und unbewusst, ausgebreitet hatte. Ein Theil derselben mag wohl auch durch (später vergessene) Motive veranlasst gewesen sein. In den Höhegraden stupider dämonomanischer Angst treten triebartige Unruhe mit impulsiven Raptus und Zerstörungsdrang, manchmal choreatischen Grimassirungen, monotone Bewegungen, andere Male perverse Hand- lungen (Schmieren, Verzehren von allerlei Unverdaulichem) auf. Gegen- über den manischen Entäusserungen schwerern Formcharakters kom- men aber auch die mildern psychomotorischen Formen vor: grosse motorische Geschäftigkeit, pauseloses Reden und Gesticuliren, Singen, muthwillige Acte.

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„Einfacher" and „complicirter" acuter Wahnsinn. Ausgänge. 179

Somatisch begleiten den Krankheitsverlauf stets ausgesprochene trophische und ci rotatorische Symptome. Vor Allem Abnahme der Er- nährung mit Störungen der Verdauung und Assimilation, ungleicher Blut- vertheilung, Aussetzen oder Unregelmässigkeiten der Menses (Menstruatio nimia, membranacea), vasomotorischen Anomalieen, in schwereren Fällen vorübergehende motorische Insuffizienzen, Divergenz des Blickes u. s. w. Die anfanglich oft vorhandenen anomalen Kopfsensationen (heftiger Schmerz, Krachen im Kopfe) verschwinden gewöhnlich mit dem Eintritt der Störung.

Die Ausgänge der Krankheit sind in gleicher Weise mannig- faltig. In der Regel erfolgt Genesung, und zwar gewöhnlich durch ein mehr oder weniger langes und tiefes psychisches Schwäche- stadium hindurch. War eine complicirende somatische Erkrankung vorhanden (in erster Linie acute Magendarmaffectionen, gewisse post- febrile Zustände u. s. w.), so kann die Genesung Hand in Hand mit der somatischen Reconvalescenz erfolgen. Bei mitbegleitendem (resp. vorausgehendem oder nachfolgendem) Menstruatious-Eintritt kann eine acute Lösung stattfinden (aber nicht immer! s. Menstrualpsychosen). Die Hysterie und Epilepsie ersetzen nicht selten ihre Krampfpar- oxysmen durch plötzlich eintretende und wieder abbrechende acute Wahnsinnsphasen.

Bemerkenswerth und interessant ist bei diesem Verlaufe das Ver- halten des dominirenden Krankheitselements: der Hallucinationen. Bald hören diese mit Einem Schlage auf; bald erkennt sie der Kranke als Sinnestäuschungen an, sucht aber dabei raisonnirend noch die Berechti- gung seines Wahns zu retten idass man doch in feindseliger Weise ihm diesen krankhaften Zustand müsse beigebracht haben); bald endlich tönen die Gehörstäuschungen sachte ab, klingen aus immer grössern Entfer- nungen, werden nur mehr im Groben d. h. nicht mehr im Detail ver- ständlich ; oder endlich sie dauern abgeblasst fort und werden neben den richtigen Perceptionen immermehr ignorirt, bis sie schliesslich ganz ver- stummen.

Die Erinnerung ist bald eine vollständig getreue, bald eine theilweise defecte, manchmal aber auch nur summarische; nicht selten fehlt sie ganz. Oft geht sie nur bis zum Beginn des deliranten Zustandes. Der Kranke erkennt nur aus seinem schweren Kopfe, aus seiner ge- drückten Stimmung und einzelnen Gesichtshallucinationen, dass er wieder einen Anfall durchgemacht haben müsse.

Das Uebergang88tadium durch psychische Schwäche ist namentlich bei der dämonomanisch- halluzinatorischen Gruppe sehr ausgeprägt. Das- selbe trägt hier den ausgesprochenen Charakter der Hirnerschöpfung mit gesteigerter Reizbarkeit (mangelnde Orientirung, Verkennen der Personen im Sinne des frühern Wahnes, Misstrauen, Negation gegen die Umgebung, Abulie, Zornmüthigkeit mit tagelangen Paroxysmen und Wiederauftreten der Hallucinationen). Nach den stupurösen Formen bildet ein einfacher Hirntorpor mit Gedächtnissschwäche und Gemüthsabstumpfung, aber ohne

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Der acute Wahnsinn.

die gesteigerte affective Reizbarkeit, die Signatur der Uebergangsperiode. Dabei laufen oft richtige Pcrceptionen und trotz des allmählich hellem Bewusstseins uncorrigirte, nur nicht mehr emotive Sinnestäuschungen recht lange neben einander her. Nach den Exaltationsformen kommen beide genannten Typen vor, oft untermischt durch kurze Rückfallsepi- soden. Manchmal bildet auch ein Stadium ruhigen, systematisirten Wahn- sinns mit fixen Wahnvorstellungen, apperceptiven Trugschlüssen und Sym- bob'sirungen den durch Monate hindurch protrahirten Ausgang zur Genesung.

Die Dauer des Einzelparoxysmus schwankt in denselben weiten Breitegraden. Neben den Fällen von nur mehrstündigem Verlauf stehen solche von Wochen, Monaten und selbst Uber Jahresfrist. Alle acuten Wahnsinnsformen sind durch eine grosse Geneigtheit zu Recidiven ausgezeichnet, so besonders die manischen ; hier setzt sich manchmal der Einzelparoxysmus aus einer Serie von Anfallen zu- sammen (8. o.).

Bei nicht günstigem Verlauf ist der Ausgang des einfachen Wahnsinns wie der bei der Vesania typica: 1. in secundären hallu- cinatorischen (resp. Einfalls-) Wahnsinn mit dem Charakter der Verwirrtheit, anschliessend an das regel- und zusammenhanglose Vorstellungsspiel auf der Krankheitshöhe; nnd 2. in zunehmende geistige Schwäche bis zum apathischen Blödsinn (letzteres nament- lich im Maassstab der Mitbetheiligung einer vasomotorischen Neu- rose). — Bei hysterischer oder epileptischer Grundlage ist der zurück- bleibende neurotische Grundzustand in die Ausgänge einzurechnen. Beachtens werth ist, dass ein solcher hallucinatorischer Paroxysmus manchmal einen Hysterismus wie eine grosse Krise bessernd beeinflusst.

Specielle Symptomatologie. Es lassen sich nach Inhalt und Form, speciell nach der Bethciligung des hallucinatorischen Factors, folgende klinische Gruppen aufstellen:

1. der acute sensuelle (hallucinatorische) Wahnsinn die acute hallucinatorische Verrücktheit der Autoren;

2. der acute melancholische (dämonomanische) Wahnsinn;

3. der acute expansive manische Wahnsinn;

4. der acute stupuröse Wahnsinn der hallucinato- rische Stupor (s. dessen Schilderung als „Anhang" zur acuten primären Dementia).

Erste Untergruppe.

Der acute sensuelle (hallucinatorische) Wahnsinn. Krankheitsbild. Dasselbe stellt eine psychische Zustands- form dar von acuter Entstehung und acutem Verlauf, dessen wesent-

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Klinische Special-Typen. Acuter exaltirter Wahnsinn.

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liebste klinische Grundlagen primäre und plötzliche wahnhafte Con- ceptionen oder Hallucinationen eines oder mehrerer Sinne sind, neben theilweiser Lucidität, so zwar, dass die Beziehungen der Sinnes- täuschungen oder illusorisch veränderten Wahrnehmungen zum Ich erhalten bleiben, und das letztere reactiv in seiner Stimmungslage sich gefördert und beeinträchtigt fühlt. Das Krankheitsbild wieder- holt somit das Schema des typischen (chronischen) Wahnsinns in acuter Form und abgekürztem Verlauf. Der Ausgang erfolgt sehr oft durch ein manisches Stadium in Geuesung; oder aber in einen secundären Wahnsinnszustand mit zunehmender geistiger Schwäche unter Beibehaltung des hallucinatorischen Charakters. Der Verlauf kann aus einem oder mehrereu, durch kürzere oder längere Perioden getrennten, Anfällen bestehen, mit freier (resp. relativ freier) Zwischen- zeit — remittirender und periodischer acuter Wahnsinn.

Typus a. Peracuter und acuter exaltirter (menstru- aler) Wahnsinn.

Die im Ganzen seltene Störung befällt ausnahmslos nenropathisch stark belastete, meist junge, Individuen. Ohne auffällige Prodromi geräth die Kranke um die Zeit der Menses, anscheinend plötzlich, in einen geistig gehobenen Zustand, mit dem Wahn einer fürstlichen Ab- stammung, der bevorstehenden Vermählung mit einem im Range gleich- stehenden Bräutigam u. s. w. Kleidung, Haltung und Benehmen werden darnach eingerichtet, die Umgebung in demselben Sinn umdeutet und symbolisirt. Mit Eintreten der Periode resp. deren Nachlass schwindet rasch der Märchenzauber, mit nachfolgender unklarer Erinnerung (die Kranke spricht nicht mehr davon und lässt sich ungern daran mahnen). Für die nächstfolgenden Tage bleibt noch ein schläfriges apathisches Wesen. In andern Fällen kann derselbe acute menstruale Anfall sich auch über die Menses hinaus auf circa S 14 Tage verlängern. Die Kranke versinkt in einen ekstatischen Zustand mit gleichwohl fort- dauernden Perceptionen. Die Umgebung wird illusorisch aufgefasst, von überall her kommen Zeichen der bevorstehenden Erhebung oder Be- glückung; gleichgestimmte Hallucinationen stellen sich ein. Episodisch löst sich die innerliche Gebundenheit zu einer gehobenen Gesticulation, zu dramatischen Haltungen, Singen. Declamiren, Küsse-werfen, Umarmung der Umgebung; die Kranke nennt sich Mignon, der Ersehnte ist der Wilhelm Meister u. 8. w. Der Paroxysmus, somatisch mit Schlaflosigkeit, Congestivzuständen zum Kopfe neben Kühle der Extremitäten verbunden, klingt gewöhnlich wiederum durch einen psychischen Müdigkeitszustand mit nervösen Beschwerden ab, und hinterlässt nur summarische oder lückenhafte Erinnerung an die Dämmerzeit. In gleicher Weise wird in acuter Entstehung und Verlauf auch Schwangerschaftswahn, mit romanhafter Begründung und entsprechendem erotischen Verhalten bei aussetzender Periode beobachtet. Auch dieser schwindet (namentlich bei Wechsel der Umgebung) oft von selbst mit der folgenden Menstrual- blutung.

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Der acute Wahnsinn.

Typus b. Subacuter manischer Grössen Wahnsinn.

In protrahirterem Verlaufe, nach acuter Entstehung, kann der pri- märe Wahnsinn das typische Symptomenbild des exaltirten Wahnsinns annehmen, und als scheinbare Manie mit gebieterischem Wesen, schranken- losem (aber nicht nachhaltigem) Selbstgefühl, Ideenflucht, tumultuarischem Gebahren sich in Scene setzen. Auch diese Kranken rekrutiren sich aus der Gruppe der Neuropathiker, Hereditarier, mit übrigens sonst nor- maler geistiger und körperlicher Entwicklung (politisch aufgeregte Zeiten bilden eine besonders begünstigende Atmosphäre). Das Zustandsbild der ersten Tage, in welchen die Kranken als Weltbeglücker, Reforma- toren, Universalgenies auftreten, mit Aufgebot allen Scharfsinns ihre Maschinen construiren, ihre hochfliegenden Probleme mit Ungestüm aus- kramen, hat manchmal eine täuschende Aehnlichkeit mit dem Initial- stadium der Paralyse, wird aber vor der Verwechslung mit dieser kör- perlich durch die fehlende motorische Ataxie und psychisch durch die durchgebildete Systematik, Consequenz und Stärke des Wahns, so- wie durch den Mangel des eigentlichen paralytischen „Wonnegefühls" geschützt. Die Stimmung ist eine sehr gehobene, anderemale zwischen Hoffnung und Depression (durch Verkanntsein, böswillige Beeinträchtigung) schwankende, bald indolente, bald anspruchsvoll gereizte; oft tritt sie ganz zurück neben der rastlosen Gedankenarbeit, welche die GrÖssen- conceptionen zur höchsten Leistungsgrenze hinaufschraubt, aber doch immer noch in der Grenze des Erreichbaren bleibt, wenn auch Kritik und Reflexion dabei sehr zu kurz kommen. Das Bewusstsein ist be- nommen und vielfach durch Hallucinationen (Gottesstimmen, Verschlucken des heiligen Geistes in Gestalt einer weissen Taube, goldene Kreuze und Wolken am Himmel u. s. w.) und illusorische Verkennung der Um- gebung getrübt. Körperlich steht Schlaflosigkeit mit Abnahme der Er- nährung, ungleiche Blutvertheilung (Fluxionen zum Kopfe, neben kühlen Extremitäten und contrahirter Radialis) im Mittelpunkt der Symptome. Der Verlauf ist ganz gesetzlos; mit manischen Perioden, in welchen der Kranke ein Spielball von Einfällen, raptusartigen Antrieben und reactiven Stimmungen in Folge der Hallucinationen ist (Zerstören, Schmieren), wechseln lucidere Phasen; mit dem Grössenwahn mischen sich im Ver- laufe oft auch Verfolgungsideen. Der Uebergang in Genesung erfolgt nach Wochen resp. mehreren Monaten, unter allmählichem Nachlass der tobsüchtigen Aufregung, wobei erst der exaltirt - depressive Wahnsinn breiter und deutlicher zu Tage tritt; in der Folge durch ein Erschöpfungs- stadium hindurch in Form einer mehr minder langen geistigen Apathie und Willenlosigkeit. Einzelne Hallucinationen und Wahngedanken dauern oft noch bis in die Genesung uncorrigirt fort. Die geistige Erholung kann eine vollständige sein mit lückenhafter Erinnerung, hat aber grosse Neigung zur Recidive, mit der Gefahr eines jeweils bleibenden und sich summirenden geistigen Defects.

Typ us c. Acuter und sub acuter hallucinatorischer Ve r- folgungswahnsinn.

Der Beginn ist eine aente Benommenheit des Sensoriums in Form von Rathlosigkeit, Staunen, triebartigem Gebahren (Fortlaufen); daran

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Subacuter manischer W.; acuter halluc. Verf.-W.; acuter depress.-exalt. W. 183

schliesst sich ein rasch wachsender Aufregungszustand mit feindseligem Verkennen der Umgebung und Sinnestäuschungen.

Nicht selten verläuft wiederum das menstruale periodische Irresein unter diesem Symptomenbilde. Gewöhnlich geht eine sensuelle Hyper- ästhesie (grössere Empfindlichkeit gegen alle Sinneseindrlicke) kurz vor- aus; dann folgen Hallucinationen feindseliger Art (in der Regel des Ge- hörs) mit reactiver Angst, Misstrauen, zorniger Gereiztheit. Statt der Sinnestäuschung kann auch ein wiederkehrender Zwangsgedanke (z. B. Angst vor dem Eindringen eines wüthenden Hundes), verbunden mit illu- sorisch feindseliger Umdeutung der Umgebung und dämmerhaftem Bewusst- seinszustand den Wahninhalt bilden. Der Inhalt der Hallucinationen ist ein sehr mannigfaltiger, aber, wie es scheint, ein in gewissen Grenzen ätiologisch-typischer. So bedingt der acute und subacute Verfolgungs- wahn auf masturba torischer Basis in der Regel sexuell gefärbte Hallucinationen. Die Kranken hören Zoten und cynische Aufforderungen sich zuflüstern, man „telephonirt Kuppeleien'' in sie hinein; man will sie durch forcirten Coitus erschöpfen und sie dann als Selbstmörder behan- deln u. s. w. In weiterer logischer Ausgestaltung wird eine „elektrische" Verfolgungstheorie construirt. Alle Zimmerwände sind akustisch gemacht durch Maschinen, Uberall her tönen ihnen Lästerungen oder Verhöhnungen, namentlich auch Belächelungen ihrer angeblich verminderten „Potenz" (s. u. Typus g). Im acuten Trinkerwahnsinn bilden Gehörs- und namentlich auch Gesichtstäuschungen (beschimpfende Zurufe, Bilder von eindringenden Soldaten mit blanken Waffen, gehörte Schüsse u. 8. w.) den häufigsten Inhalt des Krankheitsbildes (s. n. Alkoholismus). Beim acu- ten Gefangenenwahnsinn sind die Stimmen «gewöhnlich verspotten- den oder neckenden oder auch beängstigenden Inhalts (neue Strafandro- hungen). Beim Weiterverlauf des letzteren kann entweder Genesung (gewöhnlich durch Versetzung in gemeinsame Haft) erfolgen, oder aber ein chronischer Secundärzustand mit Hallucinationen und reizbarer gei- stiger Schwäche.

Typus d. Acuter depressiver, und sodann expansiver Wahnsinn.

Nicht selten ist der acute Anfall des sensuellen Wahnsinns aus zwei Phasen zusammengesetzt, einer depressiven und einer expansiven, welche, ganz wie im Verlauf des typischen Wahnsinns, sich ineinander transfor- miren. Die depressive Phase verläuft unter dem äusseren Bilde melan- cholischer Gebundenheit mit hallucinatorischen Angstparoxysmen, in wel- chen der Kranke die Schrecken der Hölle oder einer drohenden Hinrichtung sieht, seinen Körper in tausend Theile sich trennen und auseinanderfliegen fühlt, Centnersteine auf seinem Herzen spürt, welche ihm den Athem be- nehmen. Der Eintritt der expansiven Phase (dieser stiefmütterlichen Barmherzigkeit, welche die Krankheit selbst übt!) kann nun unter ver- schiedenem Modus in Scene treten. Eine häufige Form ist 1. dass die letztere unter zunehmender Bewusstseinsverdunkelung als ein hallucina- tori8ch deliranter Traumzustand sich vollzieht, aus welchem nur noch vereinzelte und stets unklare, illusorisch gefärbte Beziehungen mit der Aussenwelt stattfinden. Der hallucinatorisch gefolterte (verspottete, be-

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Der acute Wahnsinn.

drohte) Kranke hört jetzt Stimmen vom Himmel, welche ihm Ersatz für das erlittene Unrecht, Begnadigung, Erhöhung oder (namentlich bei sexueller Entstehung) Vereinigung mit der Geliebten etc. verheissen. Oft kommen Steigerungen zur Ekstase unter dem äusserlichen Bilde der ka- tatonen Stupidität. Der Kranke hält Tage lang die Augen geschlossen, folgt mechanisch dem Zuge äusserer Gewalt, behält, einem Automaten gleich, einförmige und gezwungene Stellungen bei, leistet gegen Alles passiven Widerstand, geht zögernd zu einzelnen Gesten und Bewegungen meist religiöser Symbolik über, rafft sich dann plötzlich auf, um lautlos und ziellos da und dorthin zu drängen und dann in die frühere Mono- tonie wieder zurückzusinken. Es kann aber 2. aus dem unklaren me- lancholischen Depressionszustande sich die Fata morgana einer GrÖssen- hallucination (Messias) abheben, und, während der „böse Geist" seinen Sitz im Körper behält, sich als „guter Geist" gleichfalls darin fest- setzen. Der Kranke entwickelt sich sachte zu zwei Naturen in sich, er erhält eine böse und eine gute, und bewahrt als „dritte" eine „Verbin- dungsnatur" ; Alles in ihm wird zwischen den freundlichen und feindlichen Mächten getheilt, sogar die Geschlechtstheile ; von dem Centnerstein des Herzens löst sich eine Hälfte ab, „wird leicht wie der Fittig einer Taube", und erhält den Namen „Gott" eingeschrieben ; die guten und bösen Gei- ster ringen fortan miteinander. Dieser Zustand kann chronisch werden, und ziemlich bald in eine Secundärform übergehen mit Erhaltung der be- zeichneten Elemente (gewöhnlich unter dem Bilde des religiösen Wahnsinns). Oder 3. die genannte (expansive) Phase geht in acutem Verlaufe in eine acute reactive Manie Uber. Auch hiebei finden zahlreiche Varietäten statt. Es kann dieselbe a) unter dem Bilde einer Mania mitis verlaufen mit (reactiv) beglückter Stimmungsgrundlage (Singen, Declamiren, affectvoll patheti- schem Gebahren in Miene und Haltung, mit mystischer Symbolisirung in den Geberden); so beim Wahnsinn auf hysterischer oder sexueller, beson- ders masturbatorischer Entstehnung. Oder aber b) der Eintritt der exal- tirten Phase vollzieht sich unter dem Bilde des manischen Furors (s. d.) : es ist die emotive Rückwirkung aus der innerlichen Bedrängniss durch den Kampf des bösen und guten Princips (heftiges, gereiztes Wesen, Wahn des Verhextseins, massenhafte Hallucinationen, Thier- und Geister- spuck, Engelserscheinungen, endlich wüthendes Zerstören, „um Schutz und Hilfe zu suchen"). Bezüglich des Verlaufs und der Aufeinander- folge des depressiven und manisch- hallucinatorischen Stadiums kommt ne- ben dem directen Uebergange beider Phasen auch noch die Modification vor, dass beide durch ein apathisches Zwischenstadium (mit Vaso- parese) getrennt sind ; so namentlich bei stark invaliden Gehirnen, durch Potus oder durch Insolation. Der Ausgang ist Genesung; aber nicht immer direct, sondern a) nicht selten durch eine nochmalige depressive Walinsinnsphase mit den schreckhaften Hallucinationen hindurch; oder aber tl) durch ein längeres Stadium (2 3 Monate) von systematisirtem sensuellem Wahnsinn mit neuralgischen Allegorisirungen. Im ungün- stigen Falle (oder nach häufigen Recidiven) folgt ein hallucinatorischer Secundärzustand mit partieller Geschontheit des Bewusstseins und allmäh- lichem Uebergange in psychische Schwäche.

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Acuter, gemischt depressiv- expansiver Wahnsinn.

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Typus e. Acuter, gleichzeitig depressiv-expansiver Wahnsinn.

Erschöpfungszustände des Gehirns, namentlich geistige Ueberarbei- tongen, gehen voraus. Der Kranke fühlt Anfangs nur vag und dumpf eine Aenderung in seiner Denkarbeit (eine „Einmauerung, eine Durch- ächüttelung und Durchschauerung" des Gehirns); rasch objectivirt sich diese zur „Thatsache", dass eine „Verfolgung" gegen ihn im Spiele sei. Jetzt sofort grosse Angst, die sich aber besänftigt durch „Anzeichen", dass eine höhere Mission, eine „Prüfung" im Spiele sei. Jede Wahr- nehmung wird auf diese Ahnungen hin geprüft, die Miene, die Worte, die Kleidung der Vorübergehenden; depressive und freudig gehobene Stimmungen lösen sich ab, je nach den „Zeichen", den freundlich zu- sprechenden, oder aber tadelnden Sinnestäuschungen. Oft verliert der Kranke trotz der Uberraschenden Zauberwelt seine Orientirung nicht; er weiss sich Tage lang noch leidlich gut zu führen, wozu er allerdings eine immer mühevolle geistige Präcision braucht. Endlich unterliegt die mühsam zusammengehaltene Kraft, und es tritt zunehmend ein Traumzu- stand ein, aber ohne gefühlten Uebergang. Das Ich bleibt sich daneben seiner geläufigen Beziehungen zur Umgebung bewusst; es geht nicht unter in den Spielen der Fata morgana. Das GrössengefUhl, das Wissen der „Begnadigung, der hohen Mission", bleibt erhalten, die neuen Concep- tionen sind nach diesem Inhalt geordnet und bis in's Kleinste „verständ- lich" und bedeutsam. Oft spielen auch wirkliche Wachträume episodisch dazwischen; aber das Ich verwirrt sich nicht dauernd, es findet sich im- mer wieder zurecht in den vorgegaukelten „Schlössern", „auf den Schif- fen", neben den grossen Männern aus früheren Jahrhunderten, welche plötzlich in unvermittelten und lebendigen Rapport mit dem Kranken tre- ten. Bei noch höherer Steigerung des Leidens kommen jetzt auch ener- gische affective Stimmungen mit motorischen Entladungen: der Kranke bietet vorübergehend das Bild eines Furors, äusserlich mit planlosem Entäusserungsdrang und einer Ideenflucht, welche zusammenhanglos und unverständlich erscheint, weil sie nur Bruchstücke des ausserordentlich intensiven inneren Traumlebens hervortreten lässt. Nach und nach, oft aber auch Uberraschend schnell (nach dem ersten Bade), folgt motorische Beruhigung und beginnende psychische Lucidität. Aber lange bleibt in der Regel noch ein Zustand von geistigem Torpor mit zähe klebenden Wabngedanken und gemüthlicher Indolenz mit Reizbarkeit (die Zeichen des erschöpften Gehirnlebens!) zurück. Auch der Drang zu „Deutungen" zieht sich manchmal noch lange in die Reconvalescenz hinein. Letztere erfolgt oft mit rapider Zunahme der Ernährung. Die Genesung aus die- ser Form ist in der Regel eine vollständige; doch gleichen sich die letzten Wahnvorstellungen oft erst lange nach der Entlassung des Kranken in die Auasenwelt ab; nicht selten erst nach stossweissen Recrudescenzen. Die Dauer der Krankheit erstreckt sich auf einige Tage, aber auch auf Wochen (1 2 Monate). In ungünstigen Fällen bleibt ein chronisch hal- lucinatorischer Wahnsinn, in welchem der Kranke immermebr zum Mi- nutenspiel seiner Eingebungen und Symbole herabsinkt, jede Sinneswahr- nehmung mit den fabelhaftesten Zuthaten versetzt erhält (abgeschnittene Menschenköpfe in den Speisen), und endlich in dieser Traumwelt dauernd

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Der acute Wahnsinn .

untergeht, unter zeitweisen melancholischen oder manischen oder wahn- sinnig-dementen Reactionen (alberne Kleidung oder Gebahren) mit para- phrastischer Verworrenheit.

Typus f. Acuter hypochondrischer Wahnsinn.

Die Entstehung ist, nach vorausgegangenem Status nervosus mit ängstlicher Grübelei, oft ausserordentlich rasch mit Einem Schlage. Eine zufällige Begegnung, eine Zeitungsnotiz, ein Gespräch, eine peinliche körperliche Sensation, lässt oft plötzlich den fertigen Wahnsinn empor- schiessen. Mit Einem Male wird dem Kranken sein Verhängniss klar: er hat eine Brust von Stein, ein verschobenes Herz, einen dislocirten Magen. Tiefe Depression bis zur Regungslosigkeit oder zu verschränkten Kör* perhaltungen (motorische Reflexe auf die abnormen inneren Organgefühle) beherrscht den willenlos gewordenen Kranken. Die sensibeln Allegorieen schaffen nun einen wahren Phantasiekörper: der Kehldeckel ist herabge- fallen, der Hals an einem Band aufgehängt; das Essen fällt in den Brust- raum, die Flüssigkeiten in den Herzbeutel. Die Lunge hat sich auf einen Quadratzoll zurückgezogen und ist durchlöchert, das Rückenmark ist aus- gelaufen ; der Kranke hält sich für unzerstörbar durch alle Elemente ; nach dem quasi-Tod leben und zucken seine Nerven in der Luft fort u. s. w. Nahrungsverweigerung, Misstrauen gegen die Umgebung, starre Resig- nation, neben einem seufzenden Klagedrang, plötzliche Raptus von Gewalt- thätigkeit setzen das nun folgende, oft durch Wochen hindurch ein- förmige, Krankheitsbild zusammen. In langsamer Abnahme, oft aber gegentheils auch überraschend schnell (nach Typbus, geheiltem acuten Magen darmkatarrh) hebt sich der psychische Bann, und tritt die Genesung ein. Sehr oft kommen auch hier früher oder später fast „photographisch gleiche" Recidiven; andere Male Anfälle von acutem Verfolgungs- oder exaltirtera Wahnsinn (Plänesucht, gesteigertes Selbstgefühl mit Reizbar- keit, Stimmungswechsel, Neigung zu „Deutungen und Ahnungen"; auch zu Excessen) ; oft wechseln alle diese Zustandsbilder periodisch mit ein- ander ab; mit jahrelangen Intermissionen.

Typus g. Acuter (subacuter) cerebrospinaler Wahn sinn.

Endlich stellt auch der cerebrospinale Wahnsinn sein Contin- gent zur acuten (resp. subacuten) Verlaufsform. So namentlich gern auf alkoholistischer Grundlage. Voraus geht ein 8tatus nervosus (Schwarzsehen vor den Augen, Hitze im Kopfe, Ziehen im Körper, schlechter Schlaf mit ängstlichen Träumen, präcordiale Sensationen) mit „Ahnungen", dass „Ver- dächtiges" geplant werde. Nun plötzlicher Ausbruch, oft in Einer Nacht: Visionen von guten und bösen Geistern, welche mit ihren Angriffen an den neuralgischen Punkten einsetzen, und so vom Kranken Besitz nehmen. Die Qualität der Geister wird jeweils aus den hemmenden oder erleich- ternden Körperempfindungen gemerkt; darnach gestaltet sich die feind- liche oder freundliche Reaction des Kranken. Im Verlauf führen beide im Körper des Kranken ihren „neuralgischen" Kampf weiter ; der Kranke sucht den „Guten" (die ihm vollen Athem geben) durch Gebet zu dienen, während er die „Bösen" durch Gegenwirkungen (Aderlässe an den Füssen, Aufkratzen) abzuleiten bestrebt ist. Aus allen Körperwinkeln „spricht" und „deutet" es; der Kranke ist in seinen ürtheilen (was gut und recht, was er thun oder lassen soll) nur noch von den Geistern bestimmt, die

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Acuter hypochond. W. ; ac. cerebrospin. W.; acuter melanch. Wahnsinn. 187

er einathmet oder ausspeit, sobald er an einem Stieb in der Herzge- gend merkt, dass er einen „bösen" verschluckte. Die Stimmung ist eine wandelbare, reactiv heitere, oder gedrückte. Ganz allmählich nimmt die Zahl der Geister ab, die Gefühle vermindern sich und treten zurück, die vernünftige Einsicht kommt zum Durchbruch. Im Verlauf von einigen Monaten ist der Kranke genesen.

Zweite Untergruppe.

Der acute melancholische Wahnsinn. Vorausgehender Status ner- tosus oder wirkliebe (melancholische) Depression; dann rascher Um- schlag in eine hallucinatorische Traumwelt mit Erhaltung resp. Aus- bildung der schmerzlich gefühlten Beziehungen zum Ich; daneben Fortdauer der Perception mit illusorischer Umdeutung nach derselben Richtung; manchmal episodische Expansionsdelirien; acuter, subacuter oder protrahirter Verlauf unter mehr oder minder tiefem Dämme- rungszustand, oft mit jähem Umschlag in lucidere Phasen; Raptus- anfälle von stupider agitirter Angst. Schliesslich Uebergang in 1. Genesung, oft in rascher Lösung; anderemale durch ein mehr oder weniger langes geistiges Erschöpfungsstadium mit Nachklang der melancholischen Grundstimmung; langsame Correctur mit lückenhafter, meist nur summarischer Erinnerung; 2. in unheilbare Geistesschwäche.

a) In den leichteren Formen bildet ein Vorstadium von gemütblicber Depression mit unschlüssigem, ungeschicktem theilnahmlosen Wesen die Einleitung. Unvermerkt, oft ahnungslos in der Stille der Nacht, oder nach einem Gemüthsaffect, oder nach einem schreckhaften Naturereigniss (Gewitter) stellen sich Sinnestäuschungen ein, bald vereinzelt und leise sich anmeldend, bald aber auch mit überwältigender Macht das Bewusst- sein verdunkelnd. Drohende Rufe, schreckhafte Gesichte, das jüngste Gericht, Modergeruch u. s. w. steigen auf. Jetzt folgt eine reactive Un- ruhe, der Kranke wälzt sich anhaltend und lautlos im Bette, springt wieder heraus, wirft sich auf die Kniee, ringt die Hände (oft bis sich Excoriationen bilden), klammert sich starren Blickes plötzlich an einen Dritten an, drängt dann wieder hinaus, ist unempfindlich gegen Berüh- rungen. Alles um ihn hat sich verändert, Sonne und Mond haben ihren Glanz verloren, alle Farben sind ausgelöscht; Todte wandeln leibhaft um- her; Uberall sind Mahnungen und Zeichen für immer grössere Schreck- nisse. Manchmal erleichtert sich der zum Tode geängstigte Dulder in einem Strom von Thränen, oder er sucht in irgend einer Selbstpeinigung Entlastung, oder er bricht in eintönige Schmerz- und Hilferufe ans, welche er automatisch Tag und Nacht wiederholt. So kann in weiterer Steige- rung sich vorübergehend eine „manische" Reactionsphase abspielen; ande- remale schliesst sich gegentheils eine Episode der Selbstzerknirschung an, mit krankhaftem Drange zu Tag und Nacht fortdauerndem Beten, so dass, nur um keine Minute nachzulassen, die Nahrung verweigert und jede Ansprache von aussen mit heftigster Negation oder mit Heulen erwiedert wird. In der Regel gehen lebhafte Sensibilitäts-Anomalieen (Parästhesieen

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188 Der acute Wahnsinn.

des Herzens und der Intercostalbahnen, Beschwerungsgeftthle im Körper) mit einher. Damit hängen oft im Weitern die psychischen Reflexkrämpfe zusammen, welche sich in Grimassiren des Gesichts, Zukneifen der Augen, rhythmischem Vorwärtsschleudern der Arme, Schütteln des Oberkörpers, An- und Abziehen der Beine u. s. w. kundgeben; auch auf den Vagus treten die Reflexe Uber, und rufen Anfälle von Laryngismus stridulus und geändertem Respirationstypus hervor, während der (gleichsinnige) Krampf in den Gefässnerven die Blutwelle unterdrückt und einen kleinen, in der Frequenz wechselnden Puls zu Stande bringt. Treten nicht kata- tone Phasen ein (was häufig der Fall), so kann sich schon nach einigen Wochen der Dämmerzustand unter Zurücktreten der Hallucinationen, Neu* ralgieen und des vasomotorischen Krampfes lösen. Der Kranke beginnt sich zu orientiren, die Aussenwelt wird wieder wie sie war, „nicht mehr so verdreht und umgestellt." Unter Zunahme der Ernährung folgt nun ein mehr weniger langes Correcturstadium mit Nachlass der Angst. Bei Frauen wirkt oft der Eintritt der Menses kritisch. Genesung ist die Regel, aber die Prognose durch Recidivfähigkeit eingeschränkt.

b)Die schwereren Formen des primären melancholischen Wahnsinns gehören der „dämonomanischen" Grnppe an. Der Verlauf derselben ist höchstens subacut, meist aber auf Monate ausgedehnt, entsprechend der Tiefe der Hirnaffection, resp. der Tiefe der aus- nahmslos hier vorhandenen Anämie (nicht selten mit Suppressio mensium). Der Kern des ausserordentlich mannigfaltigen Symptomen- bildes ist eine furchtbare Angst mit schreckhaften Hallucinationen und Illusionen, Verdunkelung des Bewusstseins, heftiger emotiver Re- action, gewöhnlich unter dem Bilde eines stupiden Furors.

Das Prodromalstadium ist oft unscheinbar, eine mehr weniger auf- fällige gemüthliche Verstimmung mit vagen nervösen Symptomen (Ziehen und Reissen in den Gliedern). Um so jäher erfolgt der Krankheitsaus- bruch, manchmal wiederum ganz plötzlich während der Nachtruhe, welche der Kranke noch ahnungslos angetreten (in einem meiner Fälle nach einem Rausche, wodurch der Kranke seinem geschwundenen Kraftgefühle wieder hatte aufhelfen wollen). Nicht selten geht auch eine kurze Phase religiösen Wahnsinns mit Christus- Visionen, lautem Predigen voraus. Oft eröffnet sofort eine brüske Handlung (Gewaltact) neben sofortiger tiefer Bewusstseinsstörung, welche nur einzelne Fragmente eines hallucinatorisch- dämonomanen Traumlebens (Teufel, Hexen) hervortreten lässt, zugleich mit heftiger Angst, die Scene. Der Kranke bietet das Bild einer stupiden Verwirrung; die Umgebung wird verkannt, oft in feindlichster Weise brutal angegriffen. Furchtbare Aufschreie, blinder Zerstörungsdrang, wechseln ab mit ängstlicher Hilflosigkeit. So kann das Krankheitsbild sich durch Wochen hindurch erhalten, wobei nur der jäh eintretende Um- schlag in lucidere Phasen mit Ruhe, scheu misstrauischem Wesen, und einer vollständig fehlenden Orientirtheit Uber Lage und Umgebung eine scharf contrastirende Abwechslung bilden. Immer aber drängt sich wieder der Sturm der Hallucinationen (namentlich des Gehörs und Gesichts, dann aber auch der übrigen Sinne) vor, und erzeugt wieder die stupide Pan-

Dgle

Acuter melanch. Wahnsinn: leichtere und schwerere Form.

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phobie mit den Raptus und dem triebartig 'perversen Gebahren. Die All-Angst kann oft eine conträre sein, indem der Kranke beim Anblick i. B. einer dargebotenen Speise aufschreit, etwas Anderes wünscht sofort aber beim Vorsetzen des Gewünschten in dieselbe Angstäusserung und Negation geräth. Das Delirium besteht theils in Erwiederungen auf die schreckhaften, beständig wechselnden und quälend imperativen Sinnes- täuschungen, theils in verwirrten Reproductionen, oft auch in zäher Fest- baltung einzelner, barocker Einfalls- Worte (z. B. Butterfass). Unter den dämonoraanen Inhalt mischt sich nicht selten auch ein lasciver, erotischer; anderemale ein religiöser. Oft stellen sich choreatische Gesichtsverzerrun- gen, Grimassirungen ein. Die tiefe Bewußtseinsstörung bleibt, ebenso auch das kaleidoskopisch wechselnde Spiel von deliranten und lichtem Episoden. In den schwersten Fällen werden in dem tobsüchtigen Reactionszustand die höchsten Grade des Furors erreicht: sinnloses Zerstören, Schmieren, Kopro- phagie, vollständige Verwirrung, mit selbstgemachten sinnlosen Worten oder nach zufälligen Assonanzen. Unter allmählichem Zurücktreten fast aller bewussten Vorgänge geben sich die Kranken einem kindischen Spiele, und den barocksten Verkehrtheiten aus den unklarsten Motiven hin: sie verstopfen sich Ohren und Nasenlöcher „damit der Wind nicht hindurchblase", ziehen sich nackt aus, wollen Alles (das Hemd vom Leibe) an Andere verschenken, starren stundenlang gegen die Wand, sehen lange Zeit in die offene Sonne, arbeiten mit verschlossenen Augen, sägen den Holzbock zusammen, onaniren schamlos u. s. w. Die Körperernährung sinkt; oft intercurirt Polyphagie und Polydipsie, Hyperidrosis. Nach und nach kommt mehr Ruhe und langsam aufdämmernde Klarheit. Aber die Angst erhält sich, oft in einem Grade, dass beim Anblick einer als feind- selig verkannten Person convulsive Reactionen entstehen. Ebenso hart- näckig bleibt die illusorische Auffassung der Umgebung, welche von den Kranken selbst nach raonatelangem Aufenthalt noch nicht erkannt wird. Manchmal folgt jetzt ein vielwöchentliches Stadium der Hirnerschöpfung nach, in welchem sie unthätig herumsitzen, zu Allem angehalten werden müssen. Wiederholt noch ballen sich die verschiedenen psychischen Ele- mente zu einem ausgesprochenen dämonoraanen Wahne zusammen; aber allmählich ohne die frühere Stupidität. In andern Fällen dauert über dieses Stadium eine körperliche und geistige Unbehaglichkeit und Empfind- lichkeit fort, welche durch die unschuldigsten Eindrücke oft aufs Unan- genehmste berührt wird, und bei directem Widerspruche stundenlange Zornparoxysmen mit sofortigem Rückfall in die hallucinatorische und illu- sorische Verwirrtheit hervorruft. Die Kranken laufen plötzlich wieder unruhig hin und her , halten sich von ihren „dämonischen Verfolgern" in abgemessener Ferne, stehen auch dem Arzte nicht Rede u. s. w. Bei Frauen bezeichnen die wieder eintretenden Menses jeweilige Etappen zur Besserung. Aber diese zieht sich in der Regel lange hinaus. Hin und wieder muss sich die Kranke förmlich zur richtigen Orientirung zurück- erziehen, oft durch unablässigen Fragezwang und Verificationsbestrebungen. Mit vieler Mühe und meistens erst durch ein nochmaliges aufgeregtes Schwächestadium hindurch (Disputirsucht, albernes Gefasel, stupider Trotz) arbeitet sich allmählich ein feststehender Vorstellungskern und damit be- ginnende Orientirung heraus. Manche Kranke müssen jetzt ihr „Ich" erst

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Der acute Wahnsinn.

wiederfinden, und sprechen erst noch einige Zeit per „Du" von sich; die Stimmung bleibt noch lange kleinmtithig, weinerlich, ängstlich, verlegen, unsicher; die Haltung schwach, albern, kindisch und wiederum apathisch; im Benehmen wechseln Gereiztheit, grillenhafte Laune mit planlosen stür- mischen Bestrebungen. Oft erfolgt die volle Aufklärung mit Krankheits- einsicht erst nach der Entlassung und zu Hause. Statt dieses protra- hirten Uebergangsstadiums mit Schwäche und zornmüthiger Reizbarkeit führt auch manchmal ein Zustand religiöser Expansion mit Bekehrungs- drang zur letzten Stufe der Reconvalescenz.

Die letztere ist stets durch Hebung der tiefen Anämie, Zunahme der Körperernährung, oft in einer den früheren Stand weit Uberschreitenden Weise gekennzeichnet. Die Recidivfähigkeit ist zumal bei Fortdauer schwächender Einflüsse (sexuellem Abusus, Masturbation, Menstruatio nimia) eine relativ grosse. Bei ungünstigem Verlaufe bleibt ein chroni- scher Secundärzustand mit Hallucinationen zurück, zugleich mit Nachlass oder Abschwächnng des emotiven Elementes und nicht selten mit be- schränkter theilweiser Erholung. In schweren Fällen kann aber auch die dämonomanische Unruhe und Angst auf Jahre hinaus chronisch werden, und der Kranke Tag um Tag und Nacht um Nacht seine Schreie, sein rastloses (schliesslich automatisches) Gebahren, seine Abwehr gegen die Stimmen, seine Proteste, oder auch seine Verwünschungen gegen sich wiederholen, mit dem immer gebieterischem Drange den „Teufel", mit welchem er sich längst identificirt hat, auf alle Weise zu schädigen. Ein weiterer Ausgang endlich ist ein nachfolgender, progressiver und schliesslich apathischer Blödsinn. Derselbe kann sich direct an das acute Wahnsinnsstadium anschliessen ; dies namentlich dann, wenn letzte- res mit starken Fluxionen und heftiger reactiver Mania (gravis) verlaufen war. Dieser Blödsinn besteht symptomatologisch nicht in einer einfachen Abschwächung der Geistesfunctionen , sondern in vorwiegender Stupi- dität, welche an Hirndruck (vielleicht Hirnödem?) denken lässt. Der früher ängstlich unruhige Kranke steht jetzt in zusammengebrochener Haltung unverrückt in der Ecke, den Kopf auf die Brust gesenkt (manch- mal so stark, dass die gezerrten Nackenmuskeln sich entzünden, und die Beuger des Halses sich verkürzen); er nimmt keine Notiz mehr von den Vorgängen um ihn, antwortet nicht, oder nur mit einer stummen Thräne ; bei stärkerem Drängen bricht er in einige kurze und unleidige Bemer- kungen aus (im Sinne seines melancholischen Verfolgungswahnes): dass alle an ihm plagten, dass doch nichts recht sei, was er thue. Jeder wolle es anders haben, er komme nicht mehr daraus, es heisse immer, er sei ein Teufel und solle umgebracht werden u. s. w. Dabei wird die Nega- tion immer grösser ; so kann der Kranke im Attonität übergehen. Nicht selten wirkt eine zu dieser Zeit energisch eingeleitete Therapie (wieder- holt schon die Einreibung des Schädels mit Tart. stib.) in dieser Phase günstig: der Kranke wird darnach regsamer, mittheilender, lenksamer. Er hält zwar an seiner „Besessenheit" fest, (welche sich noch lange in allerlei Paralgieen und Parästhesieen in seinem Körper fixirt), arbeitet sich aber nach und nach zu einer grösseren Klarheit hindurch. Bei un- günstigem Verlaufe wird aber die Stupidität chronisch mit blinder Nega- tion gegen jede Annäherung Dritter, so dass oft bei harmlosestem Anlasa

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Acuter manischer Wahnsinn.

eine verzweifelte reflectorische Abwehr erfolgt. Endlich tritt Indifferenz und zunehmende Passivität ein, so dass der Kranke auf Jahre hinaus wie ein Kind gepflegt werden muss. Diese Endstadien fallen vielfach mit denen aus der acuten hallucinatorischen Dementia (s. d.) zusammen.

Dritte Untergruppe.

Der acute manische Wahnsinn. Acute Entstehung, theils aus dem gesunden Leben heraus (bei erblich sehr Disponirten, nach einem tiefen Affecte), theils nach einem längern oder kürzern Status ner- vosus, meist mit nur vager, seltener mit ausgesprochen depressiver Stimmung (s. u.). Geschwächte Körperconstitution mit Anämie, be- sonders auf hysterischer (onanistischer) Grundlage disponiren. Frauen wiegen vor (Menses, Puerperium). Sofort im Krankheitsbeginn zahl- reiche Hailucinationen mit entsprechender Bewusstseinsverdunkelung; dann rasch zunehmende Unruhe bis zur Jactation und Verwirrung, unterbrochen durch lucide Phasen. Keine heitere Verstimmung; Ge- rn Uthslage im Gegentheil indifferent, im Einzelnen durch plötzliche Antriebe oder den Inhalt zufälliger Hailucinationen bestimmt, wie diese flüchtig und wechselnd. Incohärenz der sprachlichen Aeusse- rungen, Vorherrschen der Assonanzen vor der logischen Association. Lückenhafte und summarische Erinnerung. Acuter oder subacuter Verlauf in Genesung; oft rasch, und zwar direct oder nach inter- currenten körperlichen Affectionen (Furunculosis , Menses); seltener langsam durch ein Zwischenstadium von einfacher oder complicirter geistiger Schwäche hindurch. Mit der Reconvalescenz Zunahme der Körperernährung, Regulirung der vorhanden gewesenen körperlichen FunctionsstöruDgen (Menses). Ausgleich der vasomotorischen Symptome. Neigung zu Recidiven, bei gewissen Formen zu unregelmässiger Pe- riodicität.

Das Prodromalstadium wird nicht selten 1. von einem einfachen Status nervosus gebildet. Anderemale 2. geht eine kurze manische Er- regung mit massiger Ideenflucht, hochdeutscher Sprache, grosser Begehr- lichkeit und Geschäftigkeit voraus. Bei wieder anderen Kranken 3. leitet eine acute Rathlosigkeit mit hypochondrischer Unruhe die Scene ein: grosse Mattigkeit, Abgeschlagenheit, „Wuseln" und Zucken in den Augen, Stechen im Kopfe, innerliches Frösteln, plötzliche Stösse in den Armen, Furcht, dass das Blut vergiftet, dass fremde Substanzen dem Körper bei- gemischt seien u. s. w. Jetzt brechen massenhafte Hailucinationen ein und fahren rasch einen Strudel der Verwirrung herbei.

Der Kranke steht fast plötzlich mitten in einer Traumwelt, verkennt die Umgebung, äussert nur noch verwirrte Worte oder Angst, dass er selber oder ein Angehöriger sterben müsse u. s. w. Die Unruhe steigert sieb, es kommen herrische Rufe oder Scheltreden. Der Kranke ist in einer Stunde träumerisch heiter, in den andern gereizt, dann wieder

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Der acute Wahnsinn.

schläfrig, befangen oder indolent. Die Mimik und Geberden stellen ein Kaleidoskop von choreiformen Bewegungen und fragmentaren Acten dar. Zerfahren und jeden Augenblick neu, sind die motorischen Aeusserungen wahre Minutenacte, inscenirt durch die beständig abwechselnden Hallu- cinationen und Gefühle (Staubempfindungen auf der Haut), durch plötz- liche Antriebe, auch Raptus von blinder Heftigkeit. Dazwischen treten Episoden eines sinnvolleren Gebahrens: der Kranke ergeht sich in ero- tischen oder religiösen (Cultus-) Geberden und Stellungen, nimmt auch Grandezzahaltung an, schlingt und knüpft seine Kleider zu immer neuen Phantasiecostümen ; aber Alles in überstürzter Hast und Flüchtigkeit, in momentan aufblitzenden Einfällen. Das Bewusstsein ist benommen; oft bis zum Perceptionsabscbloss und zur Worttaubheit verdunkelt. Zeitweise sind die Kranken stupid, wie betrunken; sie rennen an Hindernisse an, ohne sie zu bemerken; dann aber treten auch wieder und oft in jähem Umschlag lucidere Phasen auf, in welchen der Kranke näher gelegene Fragen zu percipiren und richtig zu beantworten vermag, die Umgebung wahrnimmt und auch geordneter sich verhält. Den wechseln- den Graden der Bewusstheit entsprechend sind die sprachlichen Aeusse- rungen bald abrupte, monoton ausgerufene Worte, bald sinnlose Assonanzen, vorübergehend auch Reminiscenzen, Lieder oder selbsterfundene Einfalls- conceptionen, welche gesungen oder pathetisch declamirt werden; dazwi- schen aber auch kurze lucide Sätze.

Mit zunehmender Bewusstseinsstörung kann die Qualität der moto- rischen Bewegungen bis zur Reflexstufe sinken und das Symptomenbiid dem Typus der Mania gravis sich nähern. Jetzt tritt ein ruheloses Ver- stellen der Zimmergegenstände ein, ein Aus- und Anziehen der Kleider, in höhern Graden ein rücksichtsloses Zerstören, Schmieren u. 8. w. Sehr oft gehen Congestivzustände nach dem Kopfe, Erhöhung der Kopf- und Körpertemperatur, Enge der Pupillen, manchmal Zittern und einseitige Deviation der Zunge, Aftergeräusche am Herzen mit einher.

Die Reconvalescenz erfolgt oft 1. auffallend rasch nach 1 2 Wochen (manchmal wirkt auch hier ein Gastricismus kritisch), ist aber durch grosse Neigung zu Recidiven gefährdet und unterbrochen. Diese Fälle acuten exaltirten Wahnsinns sind dadurch die hauptsächlichsten Vertreter der „remittirenden" Manieen. Nicht selten erfolgen mehrfache Recidiven Schlag auf Schlag. Die Zwischenzeit ist durch ein ruhiges Erschöpfungs- stadium mit Torpor und Indolenz (peinliche Träume) gekennzeichnet. Andremale 2. wird die Genesung erst durch eine längere Uebergangs- periode von geistiger Schwäche mit kindischem Wesen und grösserer Reizbarkeit (Moria), oder aber einem Zustand völliger Unorientirtheit und Rathlosigkeit erreicht. Der befangene Kranke mit dem staunenden Ge- sichtsausdruck und dem halb schüchternen Wesen gleicht erst noch einem „vom Himmel Gefallenen'', wie der Volksmund sagt. Bald verlegen, bald ohne Grund auffahrend, bald sich zurückziehend, bald trotzig die Stirne bietend, ist er lange Zeit ganz unberechenbar, macht sinnlose Bemer- kungen, zittert vor Angst, oder macht plötzlich sonderbare SprUnge und Gesten, ist in einer Minute unterthänig und zudringlich, in der nächsten drohend und abstossend. Führt die Moria nicht direct in die Genesung, so kann sich noch eine torpide Depressionsphase mit Versündigungswahn

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Acuter manischer Wahnsinn. Therapie.

nnd gewaltthätigen Impulsen einschieben, welche, wie jene, nur sehr langsam in der Reconvalescenz abklingt. Die Erinnerung ist hier stets defect, oft nur summarisch; manchmal ist sie ganz gefälscht und bleibt so bis tief in die Genesung hinein, wo dann erst Correctur statt- findet. Bis dahin wird die Lücke durch allerhand Reminiscenzen aus der Traumzeit ausgefüllt, halb wirklich, halb mehr aber erdichtet, oft mit gänzlicher Verdrehung der damals halbwach gemachten Wahrnehmungen. In andern Fällen endlich werden aus der Traumzeit lange romanhafte nnd phantastische Erlebnisse erzählt: riesige Kämpfe mit Schlachten- donner und grässlichem Blutbad, Reisen in andere Himmelskörper, Ver- wandlungen u. 8. w. oft mit eigenthümlichen Verwebungen aus der illu- sorisch aufgefaßten Umgebung (Uebergänge zum hallucinatorischen Stupor).

Ausser diesen in der Regel auf wenige Wochen beschränkten Formen gibt es aber auch länger dauernde, welche auf mehrere Monate sich erstrecken können. Hysterische Constitution disponirt; die typischen Symptome sind: acute Entstehung; rasche tiefe BewusstseinsstÖrung mit wechselnder Lucidität; illusorische Verkennung der Umgebung, gänzliches Aufgehen in Antriebe und Einfälle (Hallucinationen sind oft spärlich); grillenhafte, flüchtige Stimmungslagen; perverser Bewegungsdrang (Schmie- ren, Zerreissen u. s. w.) neben Neigung zu Schabernak und albernem Komödienspiel; phantastische Aufschneidereien, romantischer Minuten- Grössenwahn in allen Registern umspringend; grosse Reizbarkeit, ab- wechselnd mit farblosen Stimmungsphasen. Regelloser abrupter Verlauf zwischen Aufregungen und Abspannungen in allen Graden der Lucidität schwankend. Längeres Uebergangsstadium von reizbarer Schwäche, oft plötzlich aufblitzende Grössen- und Verfolgungsideen. Vasomotorische Störungen, intercurrente Fluxionen, Anämie. Allmähliche Genesung unter vielfachen (immer schwächern) Recidiven.

Therapie.

Der acute Wahnsinn richtet sich in seinen therapeutischen Indi- cationen ganz nach den für die acut manischen, melancholischen, dementen (acute Erschöpfungs) Zustände gültigen Regeln. Dabei ist der Thatsache, dass hier sehr häufig körperliche Ausgangspunkte resp. Begleitaffectionen vorhanden sind, entsprechend Rechnuug zu tragen; so sind namentlich acute gastrische Zustände, Menstrualstö- rungen, Uterinleiden, acute Anämieen als wesentliche Indicationen zu berücksichtigen. In der Regel ist die Versetzung in die Anstalt nicht zu umgehen; sie ist um so wirksamer, je früher sie erfolgt In der Anstalt ist die richtige Vertheilung zwischen Isolirung und Aufenthalt in Gemeinschaft der Andern eine wichtige tägliche Auf- gabe für den Arzt. Grundlage für die Entscheidung muss die Er- keontniss bilden, dass man es in allen diesen Zuständen mit er- schöpften Gehirnen zu thun hat, welche der Ruhe und der sorg- samsten Abbaltuug aller Reize bedürfen in erhöhterm Grade noch

SchflU, Geisteskrankheiten. X Aal 13

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im

Der acute Walinsini).

als die einfach manischen Kranken. Bald schadet die fortgesetzte Isolirung, bald reizt den in illusorischen Verkennungen befangenen Kranken die noch so harmlose Umgebung: hier muss von Stunde zu Stunde neu entschieden werden. Sobald es geht, suche man den Kranken zu einer leichten, nur seine Aufmerksamkeit leitenden Be- schäftigung zu gewinnen, aber stets mit Maass! Jede leise Ermüdung kann rächen! Die launenhafte Empfindlichkeit des Kranken erfor- dert Berücksichtigung in Form eines zielbewussten Nachgebens; Widerspruch erbittert. Psychische Correcturversuche verschiebe man, bis das Gehirn des Kranken mit dessen sichtlich gehobener Ernäh- rung genügend erstarkt ist. Solange im acuten Stadium die Illusionen fortdauern, sei man mit Berührungen der Aussen weit (Briefe, Be- suche) höchst vorsichtig. Ist dagegen die Körperernährung wieder zur Norm hergestellt und der Kranke zu einer genügenden geistigen Klarheit und Selbstflihrung gefördert, so dass im orientirten Bewusst- sein nur noch die alten Reste des einstigen Wahnspucks uncorrigirt fortbestehen, dann versuche man die Entlassung in passende Aussen- Verhältnisse; in der Regel vollzieht jetzt die Wirklichkeit den letzten Schritt zur Aufklärung und Genesung. Somatisch ist ausser etwaigen Special-Indicationen die Hebung der Kräfte Hauptindication (Diät, Schlaf, Bäder, milde Hydrotherapie). Bei geschwächtem, vor- zugsweise durch anhaltende Reizbarkeit sich äusserndem Hirnleben, wirken fortgesetzte kleine oder mittlere Opiumgaben oft vortrefflich tonisirend. Prognostisch halte man stets die leichte Möglichkeit der Recidive und das häufige Auftreten in einer Serie kurzdauernder Anfälle im Auge. Bei Frauen verdient das Verhalten der Menses sorgsamste Berücksichtigung.

Der attonische Wahnsinn (die Katatonie) stellt der Behand- lung im Wesentlichen dieselben Indicationen ; spcciell der stupuröse Zustand und die katatone Dementia verlangen die sorgsamste robo- rirende Behandlung wie bei der acuten Dementia. Bilden doch mit dieser letztern die genannten Phasen die klinischen Haupttypen für Hirnanämie, wahrscheinlich mit consecutivem Oedem. Daher Bett- lage, Wein, ev. baldige Sondenfütterung. Alle directen Kopfreize, wie Douchen oder Ableitungen mit Tart. stib. Salbe, sind im An- fange sorgfältig zu meiden. Dagegen beachte man die zeitweiligen vasomotorischen Fluxionen, ev. massige dieselben mit Eisumschlägen. Im katatonen Blödsinn, welcher sich oft wochen- und monatelang hinauszieht, sind wiederum kleine oder mittlere Opiumgaben oft von unschätzbarer tonisirender Wirkung. Daneben sorgsame Ueber- wachung des Kranken gegen Selbstbeschädigung und individualisi-

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Der attonischo Wahnsinn

die Katatonie.

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rende psychische Therapie. Auch hier ist nicht selten langsame Neuerziehung nöthig. Die Bekämpfung der vasomotorischen Paresen wird durch faradische Pinselung, lauwarme Bäder, häufige Hand- bäder, wirksam unterstutzt. Selbstverständlich ist dieser umfassende, nach den wechselnden Zustandphasen immer wieder zu modificirende Heilapparat nur in einer Anstalt zu entfalten. Bei secundärem ka- tatonen Blödsinn vorsichtige, nach Bedarf wiederholte Kopfdouchen.

Der attonische Wahnsinn die Katatonie.

Literatur. Kahl bäum, Die Katatonie. Monogr. 1874. Rust, Katatonie. Inang.-Di88. 1879. Kiernan, AI. a. Neurol. 18*2. Derselbe, Detr. Lancet. tS94. Jensen, Alle. Encycl. d. Wiss. u. Künste (Ersen u. Gruber) 2. Serie, Bd. 24. Hammond, Am. J. of neur. a. psych. 18S3.

Die Katatonie ist eine specielle Erscheinungsform des acuten hallucinatorischen Wahnsinns und dadurch gekennzeichnet, dass als wesentliches Krankheitselement eine motorische Spannungsneurose sich einstellt, bald anhaltend, bald fluchtig intermittirend, während zu- gleich das Bewusstsein durch Hallucinationen und Illusionen Uberfüllt, sich vor den Perceptionen von aussen mehr oder minder vollständig abschliesst. Die motorische Starre kann noch einen physiognomischen Charakter beibehalten, und als solche einen „plastisch gewordenen" Wahngedanken darstellen (Fecht-, Prediger-, Kreuzigungs- Attitüde), oder aber eine rein „organische" sein, ohne geistige Formung (kata- leptisch oder tetanoid). Der psychische Zustand kann dem entspre- chend entweder inhaltlich auf der Traumstufe des acuten Wahnsinns bleiben, oder aber auf die des wirklichen temporären Blödsinns (Stupors) herabsinken. Aus beiden Phasen ist vollständige geistige Erholung möglich, in letzterem Falle durch einen eigenartigen Schwächezustand mit zeitweiligen katatonen Reminiscenzen hindurch. Der Verlauf ist stets ein cyklischer, von bedeutender Betheiligung des vasomotorischen Systems begleitet (eine echte Psychoneurose) ; er geht durch wechselnde Aufregungs-, Depressions-, Starrheitszustände hindurch, welche in ihrer physiologischen Verknüpfung und Folge (wie es scheint) an den Verlaufsgang der vasomotorischen Neurose gebunden sind. Der Ausgang ist Genesung oder bleibende (eigen- artige) Geistesschwäche. Klinisch lassen sich die verschiedenen Typen der Katatonie am einfachsten nach der grundliegenden Wahn-

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Der attonische Wahnsinn die Katatonie.

sinnsform sondern. Ich unterscheide demnach eine expansive und eine depressive Katatonie (religiösen oder dämonomanen Inhalts), an welche sich noch eine dritte Gruppe mit grundliegendem hysteri- schem Charakter anschliesst.

Die letztere, eine sehr hänßge Verlaufsform des hysterischen Wahn- sinns, ist in der Regel durch ein manisches Aufregungsstadium eingeleitet. Körperlicherseits handelt es sich immer um invalide (angeborene oder erworbene) Constitutionen, meistens mit mehr minder ausgeprägter Anämie; eine ausserordentlich wichtige Rolle spielt ätiologisch die Onanie. Jüngere Individuen sind mehr disponirt als ältere; schon die Pubertätszeit liefert ein ansehnliches Contingent. Das weibliche Geschlecht Uberwiegt in der Zahl der Erkrankungen.

Erste Untergruppe.

Religiös-expansive Form. Den Anfang der Krankheit bildet ent- weder direct ein acuter religiöser Wahnsinn, oder es geht erst eine hypochondrische Phase voraus, mit grossem Klagenreichthum , zeit- weiliger Aengstlichkeit, Unruhe, Selbstvorwürfen. Der Kranke wird in der Folge stiller, wortkarg, zieht sich zurück, widmet sich Tage und Nächte lang der Kastei ung und endloser Gebetübung. In mono- toner Wiederholung werden dieselben Bibelworte oder Verse aus- gesprochen, bald in abweisendem, strafendem Tone gegen die Um- gebung, bald prophetisch predigend; bei Einsprache erfolgt sofort die pathetische Berufung auf die höhere Mission, welche dem Kranken verliehen ist. Schon jetzt zeigt manchmal der mimische Aasdruck eine auffallende Härte und zeitweilige Starrheit der Züge der vorausgeworfene Schatten des spätem Acme-Zustandes. Oft liegt der Kranke auf Stunden unbeweglich, ohne zu reden oder zu essen, im Bette; beim Erwachen beginnen Verwünschungen gegen die sünd- hafte Umgebung, oder monotone Recitationen frommer Sprüche. Dazwischen stellen sich zeitweilige Congestivzustände zum Kopfe ein (abwechselnd mit Blässe des Aussehens, kleinerem ungleichen Pulse) ; dabei starke Schweisse und zunehmende gastrische Symptome. Der psychische Zustand bewegt sich immer mehr in jähen Sprüngen zwischen exaltirter Heiterkeit mit verworrenem Declamiren und Singen, und andrerseits einer angstvollen Unruhe. Oft folgen sich, in flüchtigem Wechsel, Anfälle von Starrheit, Angst und Exaltation. Vorübergehend innervirt der religiöse Wahngedanke den gesammten mimischen Ausdruck : der Kranke liegt stundenlang mit ausgebreiteten Armen da und bedeutet nachher, dass er die Kreuzigung habe be- stehen müssen, und Christus jetzt gleich sei. Episoden von gestei- gertem und herabgedrücktem Selbstgefühle wechseln, und damit die

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Klinisches Krankheitsbild. Religiös-expansive Form.

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conträrsten Geberden und Acte: Hüpfen, Springen, stundenlanges Hinknieen, absolute Schweigsamkeit, rasches Auffahren mit impro- visirtem Predigen. Kein Zuspruch vermag mehr Eingang zu finden. Der Kranke geht immer mehr in einem wahnhaften Innenleben, in dessen Bann nun auch Sinnestäuschungen aller Art einrücken, unter. Er steht plötzlich in kataleptischem Zustande da, oder bleibt in irgend einer Attitüde (nach einem himmlischen Lichtbild greifend) im Bette liegen; jede Berührung vermehrt die Steifigkeit der moto- rischen Haltung. Bei der Untersuchung zeigen sich die Muskeln des Stammes und die mimischen, wie aus Holz geschnittenen, Züge nicht in ihrem einfachen Tonus, sondern in mehr oder minder hochgradiger Spannung, wobei an den Extremitäten bald die Extensoren, bald die Flexoren überwiegen. Oft wechselt die Starre an beiden Muskel- groppen im Verlaufe von Stunden ab ; der Kranke ist bald steif und ausgestreckt wie eine Statue, bald in den Ellbogen flectirt, so zwar, dass der Widerstand schwer zu überwinden ist, und bei passiven Bewegungen sich fühlbar erhöht Die Kiefer sind durch Trismus geschlossen, die Lider so fest auf einander gepresst, dass sie oft ödematös werden. Andere Male, und oft wiederum nur im Umfluss von Stunden, ja selbst ganz unerwartet rasch, kann die bis dahin hölzerne, gespannte Muskulatur wieder schlaff sein: das Gesicht be- kommt einen maskenartigen leeren Ausdruck, die Arme und Hände bangen herab, und sinken, wenn erhoben, nach dem Gesetz der Schwere nieder. Dazwischen kehren aber die plastischen Attitüden immer wieder, so dass der Kranke plötzlich wie ein lebendes Bild in der oder jener geschraubten Pose fixirt erscheint in Wirklichkeit dem Bann eines neuen oder stereotypen Wahngedankens folgend, welcher hemmungslos in die Muskulatur sieb „einbildet". Manchmal entbehrt übrigens die Zwangshaltung auch eines mimischen Gepräges. Die Pupillen sind in der Regel erweitert.

Die Sensibilität ist in den höchsten Graden des Status attonitus er- loschen, d. h. es treten äusserlich keine Reflexe hervor; subjectiv ist die- selbe aber oft noch vorhanden (s. u.) und nur durch negative Willens- erregungen im Dienste des Wahnes gehemmt. Anderemale fehlt bei schwächern Eingriffen die Reaction, tritt aber bei stärkeren in irgend einem benachbarten Nervengebiet (z. B. Thränensecretion bei Nadelstichen um die Lippen» hervor, nicht selten auch in einer motorischen (oft ziel- losen) Explosion. Bemerkenswerth ist, dass sehr oft der Kranke eine exaete Erinnerung an diese sensibeln Prüfungen, gegen welche er ganz indolent erschien , bewahrt. Auf Kitzeln wird in der Regel prompter reagirt. Die circulatorischen Verhältnisse erfahren in der Attonität aus- nahmslos eine wesentliche Aenderung. Nach anfänglichen Fluxionen zum Kopfe prägt sich zunehmend eine Vasoparese aus, mit Kleinwerden des

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Der attoniscbe Wahnsinn die Katatonie.

Pulses, peripherer Cyanose, und Neigung au localen Oedemen (manchma Conjunctival-Ocdem). Auch in dem vasoparetischen Stadium tauscht sich der kleine Puls mit zeitweise vollem, gespanntem. Die Ernährung sinkt regelmässig. Allermeist ist jetzt künstliche Nahrungszufuhr nothwendig.

Auf der Hübe der vollentwickelten Krankheit bleibt das Bewußt- sein oft durch Wochen hindurch annähernd oder ganz auf der Traum- stufe mit entsprechendem Abschluss der Aussen -Perception. Um so reicher entfaltet sich ein hallucinatorisches Innenleben (Stimmen von Gott, Gesichte) ; doch können auch einzelne dämmerhafte, meist illu- sorisch umdeutete Wahrnehmungen sich einmischen. Zeitweilig sogar überrascht plötzlich eine ganz richtige Perception mit planvoll be- messener Entäusserung. Alle Phasen der Bewusstheit spielen in ein- ander, wenn auch die traumartig gebundene die maassgebende bleibt.

So kann der Kranke bald apathisch daliegen , bald umspielt ihn ein Lächeln, oder er macht irgend eine unerwartete Geberde: das Auge be- lebt sich, der Mund öffnet sich zu einem religiösen Spruch; plötzlich tritt ein verblüffender Ausruf hervor. In gleicher Weise bleiben sensible ftusserliche Reize, oder auch eindringliche Fragen, oft lange unbeantwortet; plötzlich ftber, zu einer andern Stunde, kann ein zufallig gesprochenes Wort in dem scheinbar ganz benommenen Kranken einen Starm heftig- ster Erregtheit, ja selbst schlagender Ironie, hervorrufen.

Der Kranke muss in diesem motorischen Spannungszustande allermeist im Bett gehalten werden, wo er halb sitzt, oder in allerlei verzwickten Stellungen, oft mit peinlich verschränkten rechtwinklig gebeugten Beinen verharrt. Hebt man ihn aus dem Bette, so bleibt die ganze Körpermasse in der eingehaltenen Starre; der Kranke hilft selbst nicht mit; die motorische Spannung verstärkt sich beim Anfassen oder dem Versuch einer passiven Bewegung. Dabei an- haltender Mutacismus. Dagegen löst sich auch jetzt die Starre immer wieder episodisch von selbst, und kehrt auch spontan wieder. Interessant ist, dass aufgenöthigte Attitüden (z. B. das Falten der Hände zum Gebet) dem (wie bypnotisirten) Kranken sofort die zuge- hörige Stimmung beibringen: der bis dahin Schweigende recitirt jetzt plötzlich einen Bibelspruch u. 8. w. Doch gelingt das Experiment nicht immer, was wohl mit der wechselnden Bewusstheit zusammenhängt. Letztere verbleibt in ihren Oscillationen auf den verschiedensten Helligkeitsstufen; sie kann oft künstlich durch Einwirkung von aussen zu höherer Intensität belebt werden. So lässt sich der regungslos daliegende Kranke erst leicht zur Hälfte Uber den Bett- rand schieben; jetzt aber, halb im Freien schwebend, beginnt er sofort mit sichtlich activem Aufgebot von Muskelkraft zu äquilibriren ; versagt letztere nach und nach, so fällt die starre Körpersäule nicht

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Klinisches Krankheitsbild. Religiös-expansive Form. 199

herab, sondern läget sieh vorsichtig herabgleiten, oder der Kranke schiebt sich jetzt langsam nnd wohl bemessen wieder in die sichere Gleichgewichtslage im Bette zurück. Sehr bemerkenswert!] sind die plötzlichen Gewaltacte, welche die Starre durchbrechen können. Oft nur als zerstörende Raptus oder Zerreissen von Bettzeug, explo- diren sie andere Male in Form gefährlicher Angriffe auf -die Um- gebung, oder auch als rücksichtslose Selbstverstümmelungen (nament- lich Attentate gegen die Genitalien).

In der Regel ist anhaltender oder intermittirender Speichelfluss vor- handen. Die Körpertemperatur hält sich vorzugsweise Morgens erheblich anter der Norm (36 37 in ano). Das Körpergewicht sinkt zunehmend, oft sehr bedeutend. Der Urin zeigt reichliche Sedimente. Der Stuhl ist verstopft; die Menses cessiren.

Auf dieser Höhe bleibt die Krankheit Wochen und selbst Monate lang. Löst sie sich, so geschieht dies erst nach voraufgegangener Besserung in der Körperernährung. Dann stellen sich erst seltenere, allmählich immer häufigere Zeichen von wiederkehrender psychischer Belebtheit ein. Der Blick, die Miene wird natürlicher, ausdrucks- voller. Die geistige Negation nimmt ab; der Kranke beginnt zu essen, lässt sich zur Reinlichkeit anhalten. Meistens steigert sich die einmal eingeleitete Belebung erst zu einer ungeordneten psycho- motorischen Erregung mit choreatischem Charakter. Die Fessel vom Sprachgebiet löst sich, geht aber auch erst durch ein vociferirendes Uebergangsstadium hindurch, gebildet aus Alliterationen und Asso- nanzen, und untermischt mit Lach - Paroxysmen oder krampfartig vorgestossenem Aufschreien. Nach und nach klären sich fragmen- tare Sätze mit Grössenwahnsphrasen (Füret, höherer Geist, Refor- mator) ab. Charakteristisch ist der pathetisch declamatorische Ton, mit welchem diese noch unzusammenhängenden, meist sinnlosen und nicht selten monoton wiederholten Sätze und Worte recitirt werden. Es ist nicht die heitere Lust des Maniacus, nicht die chicanirende Bosheit des periodisch Tobsüchtigen, mit welcher diese Sprachergtisse erfolgen, sondern ein hohles declamirendes Pathos, nicht selten mit allerlei theatralischen Attitüden begleitet. Mimik und Physiognomik bewahren immer noch die Neigung zu plastischen Einbildungen; aber die Neurose spielt bereits eine Stufe höher mehr im Psychischen, im Vergleich zur krampfhaft tetanischen Spannung auf der Krank- heitshöhe. Es ist übrigens interessant, dass einzelne Nachklänge der Spannungs-Neurose nicht selten bleiben und sich in die Recon- valescenz hinein ziehen, so z. B. flectirte Haltung eines oder des andern Fingers bei sonst wiedererlangter Dexterität der Hände im

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Der attonische Wahnsinn die Katatonie.

Allgemeinen. Bei weiblichen Patienten schliesst sich die Reeon- valescenz gern in etappen weisen Vorschüben an die Menstruations- terniine an.

Der Verlauf in die Genesung ist stets ein allmählicher, durch häufige, stunden- oder tagelange, katatonische Nachzügler unter- brochen. Oft schieben in der Folge sich noch Episoden von Auf- regung mit Verbigeriren , pathetischem Declamiren u. s. w. ein. So wird schrittweise, unter häufigen, aber stets ktlrzern und psychisch freiem Rückfällen die endliche volle Genesung erkämpft.

Aber der Verlauf ist nicht immer so günstig. Häufig führt er direct oder nach wiederholten (manchmal durch Jahre getrennten) Recidiven nach und nach in unheilbaren chronischen Wahnsinn mit zunehmender Verblödung. Auch in diesem Secundärzustand erhalten sich in der Regel noch partielle Krampfzustände in einzelnen Muskelgebieten. In schwerem Fällen bleiben die Kranken sogar als einseitig oder doppelseitig contracte und vertracte Körperfiguren übrig, welche mit zugeklemmten Augen, oft krampfhaft grimassirt, dabei mit beständigem Speichelfluss jahrelang bis ins Kleinste gepflegt werden müssen, äusserlicb, als indolente Schweiger, wie Idioten, erscheinen, aber dennoch innerlich zweifelsohne über ein mannigfach erhaltenes Geistesleben noch verfügen bis endlich eine Lungenphthise (die häufigste Todesursache) das bedauernswerthe Dasein ab8chliesst. (Weitere Verlaufs-Modificationen s. bei den folgenden Unter- gruppen).

Zweite Untergruppe.

Depressive (dämonomane) Form. Ist das einleitende Stadium ein hallucinatorischer Verfolgungswahn, so ist die dämonomanische Fär- bung auf depressiver Stimmungsgrundlage mit heftigen, meist im- pulsiven, Angstzufällen das häufigste klinische Bild. Die Kranken (es sind meist Uterinkranke Frauen, oder durch sexuellen Abusus geschwächte, anämische junge Individuen) sehen Alles verändert („schwarz"; was „links" ist, „rechts"); sie werden unruhig, schlaflos, weinen viel, klagen oft Uber Frösteln, abwechselnd mit Congestionen, weiden sehr schreckhaft, verzagt, sensuell hyperästhetisch, äussern hypochondrische oder melancholische Klagen (über Sündenschuld, Verlorensein), welche nicht selten ohne tiefern Aflfect und mit er- müdender Umständlichkeit vorgebracht werden (s. masturb. Melanch. und cerebrospin. Wahnsinn). Zunehmende Schwere im Kopfe führt zu einem Dämmerzustande, in welchem die Kranken immer abge- schlossener gegen die Umgebung, endlich ganz vor sich hinstaunend werden, höchstens fragmentare Aeusserungen („Teufels"wabn) vor sich hin lispeln. Jetzt treten lebhafte Sinnestäuschungen auf (Vi- sionen von Hexen , Thieren u. s. w.) ; zugleich versinkt der Kranke

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Klinisches Krankheitsbild. Daniornjmaiie Form.

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mit offenen Augen in ein faselndes, ganz abruptes Einfallsdelirium, in welchem er halb träumerisch allerlei ungeheuerlichen Unsinn re- citirt (dass er Hunderte von Jahren alt sei, dass er eine Schlange gewesen, dass er als ein Hund geboren worden, dass er Judas sei, dass sein Körper mit federnden Maschinen, mit Elektricität gefüllt sei u. s. w.). Oft brechen heftige Raptus von Zerstörungsdrang, von plötzlichen monotonen Aufschreien, oder auch von impulsiven An- griffen gegen sich oder gegen die Umgebung durch.

Andere werfen sich, im Schweisse gebadet, im Bette herum, speien und beissen, treten um sich, brüllen in unarticulirten Tönen, heulen ab- gerissene Worte religiösen oder drohenden Inhalts hinaus, verweigern Speise und Trank und sinken oft plötzlich in bedrohliche Callaps-Zustände. Der Puls ist frequent, die Temperatur kann bis gegen 39° steigen.

Nach und nach werden die Gesichtszüge gespannter, hölzerner, regungsloser. Die conträre Negation der Kranken gegen Ansprachen oder Zumuthuugen von aussen wächst. Unter zunehmender Träg- heit des Pulses und Ungleichheit der Blutvertheilung (Fluxionen zum " Kopfe mit vollem Carotidenschlag neben Kälte der Extremitäten und fadenförmiger Radialis) rückt die psychomotorische Starre heran, und beschlägt auf Stunden und Tage, bald allgemein, bald localer beschränkt, das Muskelgebiet. Damit wechseln wiederum allerlei plastisch fixirte Attitüden ab (Stellungen eines Fechters, eines knieen- den Beters, eines declamirenden Schauspielers). Andere stemmen die Füsse stundenlang senkrecht in die Höbe, tasten damit die Wand ab, während die Finger an die Genitalien gekrallt oder in den After geschoben und die Züge in erschreckender Verzerrung gehalten werden. Versucht man die Spannung passiv zu corrigiren, so wächst die Starre; manchmal bricht auch der Raptus einer explosiven Abwehrgeberde durch aber Alles unbemessen, ziel- und planlos. Unter Nahrungsverweigerung, vasomotorischer Parese, Ptyalisnius, vollendet sich das Höhestadium des katatonen Stupors. Der Blick wird glotzend, durch die obern Lider verdeckt, die Stirn in Falten gezogen, die Haltung schlaff, vorn Uberhängend, die obern Extremi- täten sinken herab, der Gang des Kranken wird schiebend, alle Be- wegungen träge, energielos und plump, der Gesichtsausdruck roh, leer und befangen. Ab und zu treten barocke Verschlingungen der Arme und Beine auf, welche sich sofort tixiren: die Kranken balan- ciren, wie Kautschukfiguren, oft durch Stunden hindurch. Zu einer Ortsveränderung passiv veranlasst, hüpfen sie in ihren verschränkten Attitüden automatisch weiter; oder wälzen sich hin und her, wenn sie zur Erde fallen ; oder verstricken sich in einem möglichen und

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Der attonische Wahnsinn die Katatonie.

unmöglichen Geberdenspiel („Geberden Verrücktheit" möchte man es nennen), bis sie plötzlich wie festgewurzelt liegen bleiben. Dabei ist bemerkenswerth , dass sich alle diese Verkehrtheiten nicht etwa mit einer ungestümen Unruhe, sondern meist in ruhiger Gemächlich- keit, mit einer ungeheuren Stimmungsapathie, abwickeln. Andere Male wechseln automatisch wiegende und schüttelnde Bewegungen, in stundenlanger Monotonie ausgeführt, damit ab. Dann kauern die Kranken auch wieder wie leblos auf dem Boden und sind, wenn erhoben, nicht im Stande, sich auf den Beinen zu erhalten. Bekommt man sonst den Eindruck, als ob jede Willensintention sofort den vorhandenen Muskelkrampf verstärke, oder eine conträre Spannung auslöse (so namentlich beim Versuch passiver Bewegungen), so schei- nen jetzt alle psychomotorischen Bewegungsbilder vorübergehend vergessen zu sein.

Interessant sind wiederum die Schwankungen in der Helle des Bewusstseins. Bald ist vollständiger Perceptionsabschluss vorhanden, bald ein Dämmerzustand mit dämonomaner Verkennung der Um- gebung; bald endlich ein leidlich lucider Zustand, so dass auf ein- fache Fragen kurze Antworten eintreten. Alle diese Phasen wechseln imberechenbar, wie in einem Kaleidoskop, manchmal von Stunde zu Stunde.

Auf dem Boden des so geschwächten Bewusstseins schiessen oft die verschiedenartigsten Hemmungen und Erregungen auf, welche nirgends einen einheitlichen Schlusspunkt finden und eine, mit der Minute oft wechselnde, psychische Situation schaffen. Bald sind es unmittelbare Sinneseindrücke , welche durch falsche Apperceptionen den Anlass zu irrigen Vorstellungen und falschen Verknüpfungen geben; bald Täuschun- gen eines oder aller Sinne, welche das spärliche Bewusstsein absorbiren; bald und vorzüglich sind es Störungen des Gemeiugefühls, in welchen der Kranke aufgeht; bald sind einzelne abgerissene Erinnerungen, um- gestaltet durch die Bewusstseinslage, die treibenden Motoren; bald be- herrschen unklare Gefühle, plötzlich aufsteigende Dränge, sinnlose Stre- bungen die ganze Persönlichkeit. Als Spielbali aller dieser meist com- binirten psychischen Hebel steht der Kranke nur selten in bewussten Kreisen; er repräsentirt vielmehr einen instinktmässigen Reflexautomaten. Je nachdem man den einen Hebel anzieht, finden die mannigfachsten psychischen Wechsel statt, welche aber nicht immer rasch abklingen, sondern oft Tage und Wochen dauernde Situationen schaffen. Der Kranke imponirt als ein Blödsinniger eigenthümlicher Art; er spricht oft wochen- lang kein Wort, lässt Alles willenlos mit sich geschehen, obwohl er das Nöthigstc an sich manchmal noch freiwillig besorgt, verharrt dazwischen anhaltend in seinen sonderbaren katatonen Stellungen. Nur ab und zu spannen ihn intercurrente Hallucinationen zu lebhafterer Reaction au. Gewöhnlich leiten sich damit die lucidern Bewusstseinsepisoden ein. Die motorische Reaction kann verschiedene Grade durchlaufen: von den ein-

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Klinisches Krankheitsbild. Dämonomane Forin.

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fachsten psychischen Reflexbewegungen (wie sie oben schon beschrieben wnrden) bis hinauf zum geläufigen Schelten, zur stürmischen Gewaltthat und zur überlegten Rachsucht. Das Streben, bei abnehmendem halluci- natorischem Drang sich von der schmerzlichen Spannung zu entlasten, kann blinde, fast thierische Wuthausbrüche vorübergehend entfesseln. Manchmal erfährt man aus den abrupten Aeusserungen des betäubten Kranken, dass während dieser Periode zwei Vorstellungen ihn leiten: die eine, dass man ihn umbringen wolle, die andere, dass er dem bösen Geiste verfallen sei. Diesem feindlichen Princip stellt sich bald himm- lische (hallucinatorische) Hülfe entgegen, verderbende und erlösende Offen- barungen bestürmen ihn, nicht selten mit noch andern, irdischen, Sinnes- täuschungen (Giftfurcht, Fluchtangebote u. s. w.).

Anderemale combiniren sich die wechselnden Bewusstseinsphasen in Form von längern Perioden. Die katatone Episode wechselt mit Auf- regungszuständen , in die Mitte zwischen beiden Zuständen schiebt sich eine Phase von grösserer oder geringerer Besonnenheit. Die Erregungs- paroxysmen beginnen dabei gewöhnlich damit, dass mitten aus der Atto- nität heraus ein zweckloses Muskelspiel mit Fratzenschneiden, Augenrollen, einförmigen Bewegungen einzelner Glieder (Stampfen mit den Füssen, Anschlagen einzelner Körpertheile an die Wand) mit fast convulsivischem Rhythmus anhebt, woran sich dann die freiem Bewegungen allgemeiner Aufregung anschliessen in Form triebartiger Acte, planloser motorischer Entfesselung. Zwischenherein, und oft Uberraschend plötzlich, kann der Kranke wieder der Umgebung sich nähern, verhältnissmässig besonnen sich äussern und Wunsch nach Heilung aussprechen.

So verbleibt der Zustand oft durch Tage und Wochen, während die Ernährung des Körpers immer tiefer herabgeht, und die Zeichen der vasomotorischen Parese, nur durch Kopffluxionen unterbrochen, andauern.

Beim Fortschritt in die Reconvalescenz, welche alsbald oder schon früher durch Hebung des Körpergewichts sich anzeigt, tritt zunächst die motorische Spannung zurück. Häufig (wie wenn diese erst durch Umschlag in eine zu hoch bemessene Erregtheit ihre Lösung zu finden vermöchte) geht der Zustand erst wiederum durch eine cho- reatische Unruhe hindurch, in welcher die Kranken Tage lang sich herumwälzen, sich zur Erde und von den Bänken stürzen lassen, Purzelbäume schlagen, ohne irgend eine Beschädigung zu empfinden, reiben, schmieren, Alles zu sich stecken. Die Rede besteht in einer chaotischen Aneinanderreihung von Worten, oft mit Fremdwörtern, oft mit Diminutiven vermischt Koch immer müssen die Kranken jetzt getragen, gewaschen, gefüttert werden. Manchmal folgt nun nochmals eine dämonomelancholische Phase, aber bereits logischer in ihrem Inhalt, und mit höchstens episodischer motorischer Spannung. In andern Fällen fehlt dieser manische Uebergangszustand , und der Attonitätsstatus löst sich durch ein Stadium von mürrisch -feind-

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Der attonische Wahnsinn

die Katatonie.

seliger Negation mit brüsker Abwehr gegen jede Ansprache, Neigung zu zerstören, sich zu zerkratzen, die Kleider zu zerreisseu. Die eigentliche Genesung tritt immer nur langsam ein, indem die Kran- ken Schritt um Schritt wieder zur Wirklichkeit müssen zurückerzogen werden. Oft gehen verstärkte und häufigere Herzbewegungen, an- haltende starke Schweisse mit einher, auch Wallungen zum Kopfe.

In noch andern Fällen wechseln acute Phasen von Verfolgungswahn (Gedankensperre, Gedankenablesen, totaler Willenszwang durch die „prü- fenden*' feindlichen Mächte; dabei intercurrente imperative Haliucina- tionen) mit Anfällen von katatonem vasomotorischem Stupor und reactiv hallucinatorischer Manie in cyklischer Wiederholung ab. Die Krankheit kommt oft auf Monate und Jahre hinaus zum Schweigen, und im Intervall klingt höchstens noch ein matter Verfolgungswahn hindurch, welcher aber den anscheinend genesenen Kranken nicht hindert wieder in seinen Beruf temporär zurückzukehren. Diese Form, nicht selten mit periodi- schen Trinkexcessen im Zusammenhang, führt in ihrem auf Jahre hinaus protrahirten Gesammtverlauf nicht zur vollen Genesung, sondern durch polymorphe Recidiven in chronisch hallucinatorische Verwirrtheit, oft mit intens urrenten katatonen Phasen und wiederum monatelanger manischer Aufregung.

Eine interessante Modification bilden einzelne dämonomane Ka- tatonieen auf spinal -sensibler Grundlage, indem die motorische Span- nungsneurose sich genau in eine zeitliche Nachfolge (vielleicht auch physiologische Abhängigkeit) zu bestimmten Neuralgieen setzt, deren motorische Reflexe sie darzustellen scheint.

Die Starre beschlägt hier ein Muskelgebiet nach dem andern, oft sprungweise, und stets im Anschluss an zuvor lebhaft gewesene Neural- gieen. Diese Anfangs partiellen Tetanieen werden immer verbreiteter, vertheilen sich aber ungleich auf die beiden Körperhälften, so dass die Gesichtszüge, die Extremitäten einseitig verzogen, ein Arm steif, der an- dere gebogen und angepresst, eine Thoraxseite abgeflacht (in Folge der einseitig gespannten Muskulatur) erscheinen kann. Diese Zustände kön- nen im Verlaufe der katatonen Phase wechseln, indem die partielle Te- tanie wandert, hier nachlässt, dort neu auftritt Gleichzeitig sinkt die Ernährung und treten die oben besprochenen trophischen und vasomoto- rischen Störungen auf. Bemerkenswerth ist die Ein- resp. Mitwirkung dieser motorischen Zustände auf das mit Eintritt der Starre modificirte krankhafte Bewusstsein. Während dieses im Anfang der Krankheit den gewöhnlichen Inhalt eines (neuralgischen) Verfolgungswahnes geboten hatte, sinkt es mit Eintritt der motorischen Neurose nicht einfach nur auf die Traumstufe, sondern es erhalten sich Wechselwirkungen zwischen der Starre und dem verdunkelten Bewusstsein in Form der gefühlten moto- rischen Hemmungen. Diese werden im Sinne des Wahnes allegorisirt, der Kranke fühlt (nach späterem Geständniss), dass er steif und regungs- los wird, und empfindet diese peinliche Beschränkung als einen Eingriff des „bösen Geistes", welcher ihn förmlich jetzt in Beschlag genommen

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Klinisches Kranklieitsbild. „Spinal-sensible" Unterform. 205

and verzaubert habe, die Sprache ihm „einstelle", seine Arme verdrehe und verziehe. Das Gefühl des Ueberwältigtseius stellt die inneren Wil- lensregungen des Kranken immer ausschliesslicher in den Dienst der mo- torischen Starre, und hilft diese verstärken. Der Kranke, im Gefühl seiner Ohnmacht, hört Befehle, dass er unregsam liegen bleiben müsse, dass die Welt untergehe u. s. w. Die katatone Phase dauert auch hier oft Wo- chen und Monate; säe kann sich successive wieder vollständig lösen, in Genesung Ubergehen und eine detaillirte Erinnerung zurücklassen. Es können aber auch die motorischen Spannungen sich theilweise erhalten resp. zeitweise wiederkehren, und durch ihre centripetalen Erregungen immer verhängnissvoller in die Ausgestaltung und Fixirung des dämono- manen Bewusstseinsinhalts eingreifen. Dies geschieht durch den mit der fortschreitenden geistigen Hirnerkrankung immer prompteren Zwang der Allegorisirung (die Umgebung „macht" dem Kranken die motorischen Ie8chränkungen, die Verzerrungen des Gesichts und der Glieder); daran schliessen sich Reflexhallucinationen mit Zorn-Raptus (feindliche Personen setzen sich Nachts auf das Bett des Kranken, verkrümmen ihm die Glie- der, hemmen ihm die Sprache, schrauben ihm den Kopf zusammen u. s. w.). In raschem Fortschritt neigt sich die Krankheit durch diese tobsüchtigen Erregungszustände mit immer gebieterischeren Hallucinationen und blitz- schnellen Zornaffecten hindurch in die tieferen Grade der psychischen Schwäche. Der Kranke macht dabei nicht den Eindruck eines Blödsinns durch Mangel der intellectuellen Energie, als vielmehr den der Ueber- wältigung in Folge des immer umfänglicheren Ausfalls der cerebralen Hem- mungen. Es ist in gewissem Sinne das natürliche Experiment infracorticaler Hyperästhesie mit Ausschaltung der hemmenden Hemisphärenthätigkeit. Alle Sinneseindrücke werden gesteigert und als lästig (feindlich zugefügt) empfunden, und erregen sofort die ungehemmten Affecte des Begehrens, des Schmerzes, der Wuth. Dabei ziehen sich die aus den früheren Krank- heitsstadien erworbenen Neigungen und Antipathieen, die dämonoroanen Illusionen, oft untermischt mit erotischen Perceptionen, hindurch. Die raschen und ungehemmten , bei der sensuellen Hyperästhesie oft bis zum Furor gesteigerten Affecte bringen psychisch eine immer tiefere Verworren- heit, motorisch eine Convulsibilität der Glieder, abwechselnd mit tonischen Spannungen der letzteren zu Stande, welche auf Jahre hinaus chronisch wird, und eine bemerkenswerthe Unterart von agitirtem Blödsinn ausmacht. Die Zwangsbewegungen des gereizten enthirnten Frosches bilden, wie oben schon angedeutet, das Schema zum klinischen Verständniss.

Hier ist noch eine weitere klinische Modification dieses kata- tonenBlödsinns auf cerebrospinal-neuralgischer Grundlage einzu- schalten.

Solche Kranke bieten oft auf Monate (und selbst über ein Jahr hin- aus) das Bild stupider Unruhe mit Unordnung der Bewegungen, welche theils als typisch choreatische, theils als klonisch krampfhafte, theils als gewollte imponiren aber weder das Eine, noch Andere, oder höch- stens vorübergehend sind vielmehr im Wesentlichen Reflexacte auf die zahllosen abnormen Sensationen darstellen. Sie vollziehen sich im- perativ, mit der Autonomie und dem Zwange des irren Willens; nicht

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2on

Der attonische Wahnsinn die Katatonie.

einfach nur automatisch (wie die oben besprochene convuLsive Geberden- „Verrücktheit", welcher sie äusserlich vielfach gleichen). Die Augenlider werden fest zusammengeklemmt, wo möglich noch mit Armen und Hän- den bedeckt; der Kopf auf eine Seite und abwärts verzogen, der Ober- körper in derselben Richtung gehalten, die Beine in den Knieen leicht gebogen, die Füsse nach einwärts gerichtet so laufen die Kranken mit schweren schleichenden Schritten bis zu einem Widerstande, Uber den sie, wenn möglich, hinweggehen, oder aber, zurückgeworfen, die frühere Bahn wieder einschlagen. Dabei schneiden sie Grimassen, schlen- dern den Kopf nach allen Richtungen, hüpfen wie Frösche, lassen sich auf den Boden fallen, kauern mit zugewendetem Gesiebte hart an die Wände oder liegen auch in irgend einer erzwungenen Stellung oder Hal- tung unregsam da, bis sich irgend eine unliebsame Person nähert, wo- rauf sie in die frühere Unruhe gerathen, oft heftig auffahrend (gegen fictive Vorwürfe : „ich bin kein Menschenfresser"), oder thierische Brumm- laute ausstos8en. Beim Essen machen sie erst allerlei Bücklinge und Segnungen, fassen den Teller, heben ihn rasch in die Höhe, drehen ihn im Kreise und lassen ihn plötzlich sammt dem Inhalte herabfallen, wo- rauf sie, nach mehrfacher Wiederholung des Schauspiels, hastig einige Löffel zum Munde führen und, ohne zu kauen, hinabschlingen, oder über den Tisch weg wieder herausspeien. Damit wechseln auch wieder luci- dere Phasen, wo sie gesprächig, freundlich, selbst zur Arbeit verwend- bar werden, in ihren Bewegungen sich edler geben , ihr Aensseres in Ordnung haben, freilich stets einen frivol-läppischen Zug beibehalten. Die Bestrebungen behalten in der Regel eine sehr niedere Richtung (na- mentlich ungeheuere Essgier). In der Unruhe werden stotternd und be- bend nur abgerissene Sätze, oft monoton wiederholt, ausgestossen , wäh- rend in den lucideren Phasen die Antworten gut, selbst witzig sind. Wenn es nun einmal gelingt in den Kranken tiefer einzudringen resp. ihn unter allerhand zögernden Andeutungen und öfteren Widerrufen zu veranlassen aus sich herauszutreten, so entdeckt man einen ausserordent- lich ausgedehnten Wahn, in welchem der Kranke steht und unter dessen Directive er das ganze barocke Gebahren unternehmen muss. Da enthüllen sich Täuschungen aller Sinne bald angenehmer, bald un- angenehmer Natur. Der Kranke selbst ist durch irgend ein Ereigniss seines Vorlebens befähigt „Uebernatürliches" zu sehen. Er erklärt jetzt, dass er die Augen schliesse, weil ihm das Licht „Scheine" macht. Diese „Scheine" sieht er bei Tag und Nacht, er sieht sie „Uberall" (nur nicht im Schlafe), sie ziehen ihn „mit magischer Stärke" in die finsteren Win- kel. „Er soll aber die Scheine sehen" befiehlt ihm eine Stimme von oben. Die „Scheine" bedrücken ihn bald auf dem Herzen, bald erleich- tern sie ihn. Dieselben repräsentiren „Gestalten und Erscheinungen guter und böser Natur". Die letztern sind „der Teufel", welcher in ihm wohne, und bald den, bald jenen Körpertheil als Quartier aussuche. Dadurch entstünden seine Körperhaltungen, weil jener ihn frech bald auf diese, bald auf jene Seite dränge, „wie wenn ihm Kugeln angehängt wären"; der Teufel „schmeisse" ihn förmlich (daher die hüpfenden Bewegungen). Auch in die Knochen fahre er ihm, so dass der Kranke ganz steif da- liegen müsse. Im Innern des Kranken tobt der Kampf gegen den Bö-

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Klinisches Krankheitsbild. Hysterische Form. ;„Katatone" Manie. 207

sen, der sich „wüst geberde", während das gute Princip zur Geduld mahnt. Oft kommen in diesem Sinne auch „heilige" Gestalten zum Tröste und zur Aufmunterung. Bei geschlechtlichen Reizungen stellen sich da- gegen auch wieder sexuelle Versuchungen ein („Mädchen, welche sich über die ganze Länge des Körpers andrücken"). Manchmal beunruhigt auch das Sprechen Dritter, „wodurch der Teufel im Kranken noch grösser wird"; das wird dem Kranken „zuleid" gethan (daher die rücksichts- lose Heftigkeit gegen die Umgebung). Im Essen werden manchmal Staub, Ameisen u. 8. w. geschmeckt. So wird der Zustand nach und nach dau- ernd (in wesentlichen klinischen Punkten identisch mit einer Ausgangs form des onanistischen primären Wahnsinns, s. diesen).

Dritte Untergruppe vorwiegend auf hysterisch constitutioneller Grundlage.

Die Einleitung wird hier in der Regel (s. übrigens auch Typ. VIII des hysterischen Wahnsinns) durch ein kürzeres oder längeres de- pressives Vorstadium gebildet, entweder mit diffus neuralgischem Charakter, oder auch mit Zwangsgedanken und hypochondrischen Grübeleien. Daran schliesst sich sehr häufig ein Exaltationsstadium an, welches in seinem klinischen Charakter viele hysterische Züge trägt, in seiner vollen Entfaltung aber eine specifische Signatur zeigt, 30 dass man dasselbe gewissermaassen als „katatone Manie" aus- zeichnen kann.

Der Umschlag in die Aufregung geschieht jäh, gewöhnlich unter Voraufgang eines gereizten rechthaberischen Wesens mit Wortspal- tereien, deren wechselnd barocker Inhalt zeitweilig die Stimmung und Gedankenrichtung zwangsmässig beherrscht. Rasch steigt jetzt mit der Aufregung die geistige Zerfahrenheit. Der Kranke verfällt einem phantastischen Gebahren voll toller Einfälle und alberner Streiche. Er macht den Eindruck eines angeheitert Betrunkenen mit Declamiren und Witzereissen und einer Amnesie für das Decorum, welche an beginnende Paralyse erinnert. Erhöhtes Selbstgefühl wechselt mit Verzagtheit, bombastische Wortprahlerei mit unmoti- virter Angst und Lebensüberdruss. Der Kern und die Signatur des aufgeregten Gebabrens ist aber eine wirkliche geistige Erschöpftheit und Schwäche; der nachfolgende Blödsinn wirft bereits seine Schatten voraus. Auch bei massiger Unruhe tritt eine grosse Benommenheit des Bewnsstseins , ein auffallender Mangel an Energie und Compo- nirtheit zu Tage. So kann der Kranke vorübergehend richtigen Be- scheid geben, geräth aber plötzlich in sinnlose Verworrenheit, welche bei den wechselndsten Affecten den gleichen kindischen Inhalt und Ausdruck bewahrt. Jeder launenhaften Willkür wird Folge gegeben; das Benehmen zersplittert sich in eine Reihe zusammenhangloser

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208 Der attoniscbe Wahnsinn die Katatonie.

Acte, welche auf Vorhalt sophistisch vertbeidigt werden, obwohl die Zwecke der kleinlichen Begehren nicht selten sich aufheben. Dann kommen auch wieder Pausen von ruhigerer Fassung, jedoch mit Er- haltung des gehobenen Selbstgefühls und des Dranges sich geltend zu machen, sich aufzuspielen. In raschem Uebergang mischen sich depressive Episoden ein mit gänzlich niedergehaltenem Selbstbewusst- sein, mit religiöser Zerknirschte eit und Drang zur Busse; anderemale gereizte und dann wieder indifferente Stimmungen ; aber alle Nuancen nur vorübergehend, ohne Ordnung und Gesetzmässigkeit. Die tob- süchtige Exaltation gewinnt bald wieder die Oberhand, theils nur in leisen Schattirungen des physiognomischen Ausdrucks, theils rasch ansteigend zur Beweglichkeit allgemeiner manischer Erregtheit: lautes pathetisches Predigen, rasches Anherrschen der Umgebung, spitzfindig selbstgefälliges Disputiren, oder verzwickte, aber wichtig betriebene Grübeleien. Der Kranke wird jetzt der typische Grössen wahnsinnige: tiberall findet er Symbole und Allegorieen oder auch göttliche Winke; er beschäftigt sich mit dem Perpetuum mobile, wühlt sich in phrasen- reiche Theorieen über die höchsten Probleme ein und dies Alles in unvermittelten Uebergängen, rasch wechselnd, nicht selten auch mit lucidern Zwischenpausen. Der Puls wird kleiner, der Kopf oft enorm congestionirt, während die Extremitäten (Hände) kühler wer- den. Zeitweilig melden sich Zwangsstellungen, anderemale motorische Raptus an; bald wird der Kranke jetzt auch in steifem Daliegen mit tonischer Spannung der Muskulatur betroffen, ekstatisch, und nur in monotoner Recitation von einzelnen Satzfragmenten, worunter eigens gemachte Worte und namentlich wieder Diminutiva (Ludwiglein u. s. w.) ebenso auffällig als charakteristisch sind. Immer mehr verdunkelt sich das Bewusstsein, während in gleichem Schritte die motorische Neurose sich ausbreitet. Zunächst mehr psychomotorisch in Form der Statuenstellung: Fechter, Büsser, Pfarrer u. s. w. erscheinen wieder, in wechselnden Typen, oft durch Stunden hindurch; dabei besteht Mutacismus, theilweise durch pathetisches Declamiren unterbrochen. Die Perception fehlt entweder ganz, oder besteht in tratimartig um- deuteten, unklaren Wahrnehmungen. In der nächsten Stunde kann das Bild wiederum ein ganz geändertes sein.

Unter plötzlichem Rash zum Kopfe wirft der Kranke jetzt angst- voll den Kopf nach der oder jener Seite, besieht sich von oben bis unten, betastet sich, streicht sich den Bart, spreizt die Beine, legt die Arme aus, geht einige Schritte vor- oder rückwärts, um plötzlich wie ange- mauert stehen zu bleiben, fängt in aller GemUthsruhe an sich in der Gegenwart Anderer auszuziehen, sich die Kleider zu zerreissen, allerhand Unverdauliches in den Mund zu stecken Alles ohne den leisesten Laut

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Klinische« Krankheitsbild. „Hysterische4' Form.

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von sich zu geben. Aber urplötzlich springt er wieder auf und davon, beginnt mit steigendem Drange das lebhafteste Geberdenspiel, wobei alle Affectschattirungen und die entfesselte Bewegungslust in buntester unge- ordneter Folge zum Ausdrucke kommen. Oft sind es nur ganz kurze und rasche Explosionen und Ausrufe ; ein Sprung, ein Stoss und der Kranke sinkt wieder still zusammen, oder es bricht ein Sturm gewaltig- ster furor-artiger Entäusserungen mit Mutacismus, oder auch mit gänz- licher sprachlicher Verworrenheit aus, worauf erst nach Stunden Er- schöpfung folgt.

Das Krankheitsbild wird in seinem folgenden Verlauf immer unberechenbarer, zusammenhangloser. Ruhepausen mit Hindämmern und localen klonischen Krämpfen (Augenzwinkern, Mundverziehen, Schnüffeln) wechseln ab mit monotonen choreaartigen Bewegungen (Purzelbäumen u. s. w.), beharrliches Schweigen und stupuröse Abulie mit theatralischen Zwangsstellungen und verworrenem Rededrang; zerstreutes, zerfahrenes Wesen, wobei der betäubte Kranke sogar seine Persönlichkeit vergisst, wechselt mit bebender Angst, partiellem nnd allgemeinem Körperzittern bei starr gehaltenen Augäpfeln ; diese wieder mit halbfreien Zuständen, in welchen der Kranke in abge- rissenen Sätzen, selbstgemachten Worten, Apostrophen, seltsamen Wendungen vor sich hinspricht.

Der Inhalt ist ein buntes Gemisch von Reminiscenzen, Lesefrüchten, verdeckten Andeutungen auf den frühem und gegenwärtigen Zustand; bald aber auch nur ein reiner Wortschwall. Bemerkenswerth ist dabei, d&ss sich der Vorstellungsablauf nie überstürzt und immer coupirt bleibt, auch wenn er rascher geht, ja, zeitweise liegt der Kranke förmlich in sprachlichen Geburtswehen, bis tropfen- und stossweise die Aeusserungen zn Tage kommen.

Unter Kleinerwerden des Pulses und zunehmender Gesichtsblässe, unter Hervortreten der Gesichtsvenen und peripherer Vasoparese rückt das eigentlich katatonische Bild immer mehr in den Vorder- grund. Der Kranke liegt stundenlang unregsam zu Boden, lässt passive Bewegungen mit sich machen, reagirt nicht, oder nur ganz betäubt anf sensible Reize, speichelt viel, spricht nicht mehr; zeit- weise treten traumartige Bewegungen der Extremitäten auf.

Diese Phase bezeichnet den Höhepunkt des Leidens. Sie kann von einigen Wochen bis mehrere Monate dauern. Löst sich die Spannung, so tritt zunächst wiederum ein ähnlich barockes Geber- denspiel, wie im Anfange, auf, als Ausdruck fragmentarer Innenvor- gänge: phantastische Stellungen und Körperhaltungen, abwechselnd mit motorischen Raptus ; dann wieder träumerische Ruhe ; zu andern Stunden Verbigeration oder Echolalie. Noch immer erfolgen Rück- schläge in vorübergehende motorische Starre und Mutacismus. So

SchftU, aeutosknakhaitoii. 3. Aufl. 14

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210 Der attonische Wahnsinn die Katatonie.

wechselt der Zustand kaleidoskopisch hin und her, bis unter Hebung der Ernährung und Circulation und allmählichem Schwinden der Vasoparese eine zunehmende Klärung des Bewusstseins und Percep- tionsfähigkeit eintritt. Jetzt folgen oft nochmals manische Erregungs- phasen wie anfangs mit erhöhtem Selbstgefühl, verzwickter Mimik, pathetischem Declamiren. Die eingeschobenen motorischen Ruhe- pausen verlaufen aber allmählich ohne Muskelstarre. Zwischen die wechselvollen Zustände treten jetzt auch freiere Stunden und Tage, an welchen der Kranke frei aufathmet, sich heiter und ziemlich natür- lich zeigt, und besonnen zu antworten vermag.

Die Erholung des Bewusstseins erfolgt stets sehr langsam und muss Schritt um Schritt erkämpft werden. Der Kranke hält sich lange noch nur mit sichtlicher Anstrengung in den geordneten Ge- leisen; immer hemmt ihn noch Etwas in seinem geistigen Mecha- nismus, und wenn man ihn schon frei glaubt, so macht er oft noch seine sonderbaren Seitensprünge mitten in die Verworrenheit. Auch die Stimmung schwankt noch lange zwischen Sympathieen und Anti- pathieen, und schafft blitzähnliche Affecte. Letztere fixiren sich manch- mal, so namentlich die Zornparoxysmen zu stundenlangem Dastehen mit geballten Fäusten. Alle möglichen und unmöglichen Attitüden werden oft wieder durch probirt, abwechseld mit automatischen Acten (Streichen mit der Hand), oder monoton wiederholten convulsiven Bewegungen (Schleudern der Arme, Zurückschnellen des Kopfes). Unter die freien Intervalle schieben sich noch immer zeitweise halb- träumerische Phasen.

Endlich klärt sich das Bewusstsein immer mehr. Manchmal geht das psychische Orientirungsgeschäft nun erst noch durch eine Phase mit Zwangsgedanken und peinlicher Präcision hindurch. Aber auch diese wird überwunden. Jetzt fehlt noch die Erinnerung an die katatone Zeit, während die an die vorangegangene sich rasch her- stellt. Die Aufhellung auch der ersteren bildet den Schluss der Ge- nesung, wobei die Kranken wiederum oft die interessantesten Ent- hüllungen machen: wie sie von Hallucinationen in einem wahren Traumleben gehalten worden seien, wie sie Alles um sich verwan- delt gesehen, auf keinem Punkte mehr die psychische Lage beherrscht hätten, dass für alle, auch die barocksten, Antriebe innere Motive sich ihnen untergeschoben hätten. Der Mutacismus wird dabei oft auf innere Gewissensbisse zurückgeführt, die freudige Aufregung auf phantastische Apergus, die katatone Starre auf Ahnungen, dass der Tod bevorstehe, oder auf die Empfindung, als ob der Kranke unter einer Champagnerflasche gestanden, ja selbst eine solche gewesen

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Klin. Krankheitsbild. Hysterische Form. Ausgänge. Secund. katatoner Blöds. 211

sei ; dass der Kranke sich gerne in die Steifheit gefügt hätte, damit man ihn für todt halte und hinausschaffen könne; das Einschlagen z. B. des Zeigefingers wird auf Rettungsbestrebungen gegen Versin- kende (Visionen) bezogen. Nach den Angaben einzelner Kranker erfolgte der Umschlag in die visionäre Traumwelt plötzlich, mit Einem Schlage.

Manchmal recurrirt die katatone Manie innerhalb Jahresfrist, oft mehreremale, bis endlich ein blödsinnig stupider Zustand mit Verbigeration dauernd bleibt.

Bei ungünstigem Verlauf bildet sich auch ein chronischer Secundär- zustand aus in der Form fortschreitender Auflösung der Bewusstseinsein- heit in zerfahrene Einfälle, Antriebe, momentane Stimmungen, der Typus des unheilbaren hysterischen Wahnsinns. Es kann aber auch nach unregelmässigen Schwankungen zwischen freiem und attonischen Phasen die psychische und motorische Gebundenheit chronisch werden: der Kranke verharrt nun Tag um Tag in Mutacismus und motorisch- mimischer Starre, womit nur der lebhaft umherschweifende, wenngleich gläserne Blick seltsam contrastirt. Dazwischen treten Raptus von plötz- licher Heftigkeit und zorniger Gereiztheit, namentlich wenn der Kranke zu irgend einer ihm unangenehmen Action (Kleiderwechsel) aufgefordert wird* Ortsveränderungen gehen, wenn auch nur auf Aufforderung, leich- ter von statten; sie geschehen aber ganz mechanisch; der Kranke läuft und bleibt stehen, wann immer man ihn anhält Gang und Mimik, Glieder- und Kopfhaltung bewahren auch bei diesen freieren Aeusserungen stets eine gewisse Spannung. Die vasomotorische Parese wird permanent (eis- kalte blaue Extremitäten) und daneben ein nicht zurückzudrängender, periodisch massenhafter Ptyalismus. So kann der Zustand in eine secun- däre katatone Dementia übergehen, welche Jahre lang, bis an das Lebensende, dauert. Auch jetzt noch, in der vollständigen Passivität der Stammmuskulatur, wobei die Kranken fast beständig auf dem Fauteuil oder im Bett gehalten werden müssen, keinen Laut mehr von sich geben, und wie Kinder zu pflegen sind, erhält sich ein attonischer Zustand in Form zeitweiliger localer Streckungen und Contracturen, einseitigen Ge- sichtsverziehungen, Spasmus der Lider. Der Tod erfolgt durch Maras- mus oder (sehr häufig) Phthise.

Die acute primäre Dementia.

Literatur. (Stupor) Gambarri, Gazz.lombard. 16ß4. Dagonet, Ann. meM. psych. 1972. laguet. Dem. simple prim. 1672. Newington, J. of m. sc. 1S7-1. Witte, Arch. f. Psych. 8. Binswangen Charitö Ann. VI. (na- mentlich über prim. Dem. ohne Stupor). Schüle, Allg. Zeitschr. f. Psych. 38. Fritsch, (pseudaphasische u. hallucinator. Verwirrtheit) Jahrb. f. Psych. 1680.— Hughe», Alienist. 1SS2.

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Die acute primäre Dementia.

Die klinische Zustandsform des „Blödsinns", welche uns bisher nur als Aasgang der ungeteilten Primärformen, der Melancholie, Manie und des Wahnsinns begegnete, kann selbst auch primär auftreten und zwar in einer von jener secundären mehrfach und nicht unwesentlich verschiedenen Gestaltung. Ein erster Unterschied liegt in dem Tempo der Entstehung: während diese beim secundären eine chronische ist, ist sie hier eine acute, selbst peracute. Ein zweiter Unterschied liegt in der Weise der Entwicklung und im gegenseitigen Verhältniss der psychischen Elemente des Symptomen- bildes: während der secundäre Blödsinn schrittweise erreicht wird unter Lähmung des emotiven Elements der Psychose (der affectiven Spannung in der Melancholie) neben anfangs noch leidlich, ja oft reich erhaltenem Vorstellungsinhalt ist hier, bei der primären Dementia, die Herabsetzung der int eile ctuellen Leistungskraft, der psychische Hirndruck im Ganzen, das auszeichnende Symptom (Uber die zweifache Weise der klinischen Erscheinung mit und ohne Stupor 8. u.). Die stupurösen Formen speciell haben noch die weitere klinische Besonderheit, dass sie auch für ihre chronischen ungeheilten Secundärzustände meistens einen Rest dieses geistigen Hirndruckes, als eine Art leisen Sopors, dauernd beibehalten. Eine nicht gerade durchgreifende, aber doch erwähnenswerthe, Differenz der acuten Blödsinnszustände gegenüber den chronischen liegt ferner in dem relativ häufigen Vorkommen von convulsiven Raptus, gegenüber dem friedlich monotonen und apathischen Charakter der secundären gei- stigen Schwäche.

Unter sich symptomatologisch betrachtet, scheiden sich die Fälle des acuten Blödsinns, je nachdem die intellectuelle Schwächung oder temporäre Sistirung der psychischen Functionen im wachen Be- wusstseinszustande sich vollzieht, oder in einem schlafähnlich gebundenen. Der einfachen Trägheit in den Associationen, Schwäche des Gedächtnisses und Gemüthsstumpfheit dort entspricht hier ein nicht minder vollständiger Mangel der Perception, der Stimmung und des Wollens, neben einer gradweisen Betäubtheit bis herab zur Bewusstlosigkeit, zugleich mit Aufhebung der Sensibilität und selbst der spinalen Reflexe. In einer umschriebenen Unter- grnppe finden wir diesen Sopor-artigen Zustand während des ganzen Verlaufs noch mit einer ausgesprochenen vasomotorischen und einer motorischen Neurose (tonische Spannung der Muskulatur, geändertes elektrisches und mechanisches Verhalten der Muskeln) einem Status attonitus verknüpft. Beide Zeichenreihen halten gleichen Schritt mit der Tiefe des psychischen Schlafzustandes. In der andern

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Klinische Eintheiluug.

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finden wohl noch gradweise Wahrnehmungen statt, auch noch ver- einzelte hallucinatorische Innenvorgänge, aber auch nur im Rahmen der allgemeinen Bewusstseinsverdunkelung.

Es ergeben sich somit nach dem soeben bezeichneten Haupt- moment — dem Verhalten des Bewusstseins zwei grosse Haupt- gruppen der primären Dementia: in der einen ist ein schlaf ähnlicher perceptions- und actionsloser resp. dämmerhafter und partiell träu- mender Bewusstseinszustand das normgebende Symptom, mit all- mählichem Aufwachen in vorübergehende oder bleibende Dementia (stupuröse Form); in der andern aber ein wacher primärer Blödsinn mit gradweise abgestufter geistiger Leistungsfähigkeit bis zur Nullität (primäre Dementia ohne Stupor). Jene bildet die Uebergänge zu den acuten Wahnsinnszuständen, diese zum secundären Blödsinn nach den Primärformen. Im Speciellen theilt sich a) die stupuröse Form weiter in eine 1. attonische (mit begleitender motorischer Spannungsneurose), und 2. eine stupid- hallucinatorische. An die Untergruppe 1. schliesst sich der postmanische Stupor, an die Untergruppe 2. der hallucinatorische (PseudoStupor) als Anhang. Daran reiht sich als Hauptgruppe b) die primäre Dementia ohne Stupor.

Bezeichnet man a potiori mit „Stupor" schlechthin die eine der hier- her gehörigen Gruppen (die attonische), so muss zwischen einem „orga- nischen" und „psychischen" Stupor unterschieden werden. Der Typus „psychischer" Form ist durch den „hallucinatorischen Stupor" (s. Anhang) repr&sentirt , welcher klinisch ebenso nahe dem acuten Wahnsinn ange- hört, als der attonische dem wirklichen Blödsinn. Die Aehnlichkeit beider Zustände ist deshalb nur eine äusserliche, dem „Stupor* -Habitus entnommene, und auch hier keine vollständige, insofern der organischen Form (dem wirklichen Stupor) ausser der Attonität noch die Vasomotorius- Neurose zukommt, welche der hallucinatorischen Form fehlt. Nicht min- der sind aber auch die grundliegenden Elemente, und namentlich die Entwicklung des Stupors in beiden Typen verschieden. Bei dem ersten unserer primären Dementia bildet ein wirklicher acuter Blödsinn den Kern der Krankheit; bei dem zweiten (dem hallucinatorischen Stupor) ist die physisch-motorische Gebundenheit nur die Folge eines Wahrnehmungsabschlusses aus innerlichem „Schauen". Die mangelnde Initiative und Erregbarkeit ist also dort das Wesen, hier nur ein ein- zelnes physisches (Reactions-)Sympton. Diese Unterscheidung ist fest- zuhalten auch für diejenigen Fälle echten d. h. organischen Stupors, in welchen zeitweilige Hallucinationen dazwischenlaufen (wie namentlich manchmal im Beginn). Am schärfsten zeigt sich aber die Differenz beider Zustände im Krankheitsverlauf, und in den Ausgängen: dort (bei der organischen Form) dauert der Stupor über den ganzen Anfall und erfordert nach Ablauf eine wirkliche Neuerziehung des acut blöd- sinnigen Kranken; hier bildet der Stupor in der Regel eine kürzere

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Die acute primäre Dementia.

oder längere Episode, aus welcher die Rückorientirung oft plözlich, oder, wenn langsamer, in gleichem Schritte mit dem Rückzüge der Hailucina- tionen und Illusionen erfolgt. Dort handelt es sich m. £. W. um einen organisch bedingten (wenn auch nur vorübergehenden) geistigen Defect, hier um eine psychisch motivirte Hemmung. Für die differentielle Diagnose zwischen attonischem Stupor und attonischer Melan- cholie, welche durch die Attonität eine gewisse äussere Aehnlichkeit haben, aber sonst grundverschiedene Processe darstellen, ist maassgebend: beim attonischen Stupor peracute Entstehung; bei der attonischen Melan- cholie eine allmähliche Entwicklung aus der Melancholie; dort blöde schlaffe Gesichtsmaske mit halb geöffnetem Munde und meist profuser Salivation; hier starre, angst- und schmerzvoll verzerrte Züge; dort pro- fuse Schweisse mit tardem, ausserordentlich wechselndem Pulse, hier trockene spröde Haut mit contrahirter Arterie; dort Unfähigkeit zur Nah- rungsaufnahme aus Blödsinn und Willenlosigkeit, hier absichtliche Nah« rungsverweigerung aus Wahn; dort Hautanästhesie ausSopor, hier schweig- same Duldung des richtig empfundenen Schmerzes aus melancholischem Schuldgefühl; dort Secessus inscii, hier krampfhafte (willentliche) Zurück- haltung; dort zeitweise attonisch starre, zeitweise schlaffe Muskulatur mit Neigung zu Katalepsie und Flexibilitas cerea, hier tonisch flectirte Haltung des Rumpfes und der Arme, in welcher sich der ängstliche, oder sich selbst erniedrigende Affect verkörpert; dort keine Erinnerung an die Zeit der wirklichen Bewusstseinsleere, hier peinlich exaetes Gedächt- niss an die Zeit eines mit allen drohenden Schrecknissen überfüllten Be- wußtseins. Ueber die differentiellen Unterschiede zwischen katatonem Wahnsinn resp. katatoner Dementia und stupid - hallucinatorischer De- mentia 8. d.

a) Die acute primäre Dementia mit Stupor (organischer Stupor).

1. Die attonUche Form. Der attonische Stupor ist ein subacut oder acut einsetzende geistige Hirnlähmung mit den klinischen Sym- ptomen aufgehobener psychischer Thätigkeit (Perceptionsabschluss, Stimmungsmangel, Abulie), in den höchsten Graden auch mit An- ästhesie und Fehlen der spinalen Reflexe. Damit gehen einher eine vasomotorische Neurose (locale Fluxionen, wechselnde Innervation des Herzens, Vasoparese), sodann ein sog. Status attonitus in der Muskulatur (mit Aenderungen in der galvanischen und idiopathischen muskulären Erregbarkeit); ausserdem gewisse allgemeine und locale trophische Störungen, vor Allem Gewichtsabnahme. Nach kürzerer oder längerer Dauer Uebergang in allmähliche Genesung mit ganzer oder theilweiser bleibender Amnesie an die Stupor-Phasc ; oder aber Niedergang in Blödsinn, entweder direct oder durch zwischenlaufende Aufregungszustände.

Die Vorläufer der Krankheit sind hypochondrische Grübeleien, namentlich bei vorausgegangenen sexualen Säfteverlusten, oder auch

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Klinisches Krankheitsbild. Attonische Form (Organischer Stupor). 215

ein vager neurasthenischer Znstand. Manchmal fehlen diese Zeichen; der Kranke gilt als gesnnd bis zn dem veranlassenden Gemttths- affect, an welchen sich sofort ein benommenes, zerstreutes Wesen mit depressiver Stimmung und Neigung zum „Simuliren" anschliesst. Bei genügend vorgearbeiteter (nervös-anämischer) Disposition kann ein erschütternder Affect auch direct in den Stupor überführen. Die Einleitung bilden in der Regel cerebrale Reizsymptome, unstete Erregtheit mit verworrenem Tag und Nacht fortdauerndem Sprechen (Sttndenschuld) auf Grundlage einer zunehmenden geistigen Betäubt- beit Manchmal steigert sich die Unruhe zu vorübergebender Pan- phobie mit abrupten Delirien und Jactation, so dass der gepeinigte Kranke keine mechanische Selbstbeschädigung wahrnimmt. Oder aber: es geht gegentheils die anfängliche ängstliche Befangenheit direct in einen immer benommenem Zustand Uber mit mangelnder Initiative, sodass der Kranke sehr bald schon zu den einfachsten Handlungen an- gehalten, geschoben werden muss. Jetzt treten in rascher Folge locale attonische Zeichen auf: Offenhalten des Mundes, Ausstrecken der Arme und Beine. Das vasomotorische System nimmt in plötzlichen Rash's zum Kopfe Antheil unter Beschleunigung der Pulsfrequenz, und nicht seltener Erhöhung der Temperatur bis 39" und darüber (in einem Falle vorübergehend 40,4). Die vollen Carotiden über- wiegen auffallend Uber die kleine Radialis. Oft contrastiren jetzt schon küble, röthlich-blaue Hände mit dem gerötheten Gesicht und der injicirten Conjunctiva. Stundenweise ist die Anästhesie und der Perceptionsabschluss vollständig; dazwischen oft dumpfes Kopfweh und Erbrechen. Schliesst sich nicht sofort der bleibende Stupor an, so können jetzt noch vorübergehende Erholungen zur Lucidität sich einschieben; es kann selbst nach nur mehrtägiger Dauer der be- gonnene Stupor sich wieder zurückbilden. Schreitet aber der Zu- stand weiter, so beschlägt die motorische Neurose immer allgemeiner die Muskulatur des Gesichts und Stamms, während alle bewussten Seelenäusserungen verschwinden. So bildet sich der vollendete Sta- tus attonitus heraus: vollständige geistige Regungslosigkeit, Mangel jeder Initiative, schlaffe ausdruckslose Gesichtsmaske mit fast be- ständigem Lidschluss (dabei oft tagelangem Blinzeln), Zurücktreten der Schmerzreflexe (am längsten erhält sich die Reaction auf Kitzeln) ; Verminderung der Sehnenreflexe, Erhöhung der mechanischen Er- regbarkeit der Muskeln ; schlaffes Daliegen mit halbflectirten Armen und ausgestreckten Füssen, welche in einem mittleren Muskel- und Gelenktonus verharren, ohne eigentlich, oder nur zeitweise, rigide zu sein, und passiven Bewegungen leicht nachgeben; jede angenommene,

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216 Die acute primäre Dementia.

wenn auch unbequeme, Lage zeigt Beharrung ohne Ermttduogszeichen. Der äussere Perceptionsabscbluss und innere Schlafzustand können manchmal sofort vollkommen sein, so dass kein Eindruck von aussen, keine Regung von innen heraus sich kenntlich macht; andere Male aber tritt zeitweilig noch ein Lispeln einzelner Worte, ein plötzlicher motorischer Raptus, aber ziel- und planlos zu Tage. Bei anämischen Personen, namentlich Mädchen, bleiben gewisse neuralgische Punkte trotz des Stupors in lebhafter Activität, so dass ein Druck auf die- selben (Intercostalbahnen) oft gentigt, um die schlaffe oder hölzerne Miene zu einer miraisch weinerlichen vorübergehend zu beleben und betäubte Abwehrbewegungen herbeizuführen. Bei Männern ist das- selbe bei irritable test beobachtet

Unter Abnahme der Frequenz und zunehmender Tardität des Pulses nimmt die geistige Regungslosigkeit immer zu; der Anfangs staunende Blick wird leer, gläsern; der Kranke lässt Alles passiv mit sich vornehmen, sich in jede Lage bringen. Die Initiative ist verschwunden, das Essen muss gereicht werden, die Excremente gehen unwillkürlich ab. Die Pupillen sind in der Regel erweitert, oft ungleich. Immer mehr bilden sich jetzt die vasomotorischen und trophischen Symptome aus (s. u.). Die Gesichtszüge werden hängend, ausdruckslos, die Kopfhaltung schlaff, aus dem halbgeöff- neten Munde fliesst profuser Speichel. Nicht so selten stellen sich auch zeitweise einseitige Inner vationsstörungen ein, sodass eine Augenspalte weiter, eine Gesichtshälfte straffer, eine Körperseite steifer als die andere erscheint Erscheinungen, welche im Ver- laufe wechseln, verschwinden und wieder eintreten können. Ebenso wechseln Schlaffheit und vorübergehende stärkere Spannung im Muskeltonus. Die Rückkehr aus passiv aufgenöthigten Stellungen erfolgt träge. Zeitweise werden die in den Knieen flectirten Beine heraufgezogen.

So kann der Zustand Wochen und selbst einige Monate sich hinziehen. Bei günstigem Verlauf tritt nach und nach Besserung einzelner Symptome ein. Es regen sich vereinzelte Actionen (ein- fachere, sodann complicirtere Muskelacte); aber vorerst scheinbar motivlos und unzugänglich auf Anreize von aussen. Dieselben sind erst eckig, unbeholfen. Die „spontan" ausgelöste Bewegung hat noch Neigung zum Verharren. Ab und zu werden unverständliche Worte gelispelt Immer schieben eich Rückfälle in den attonischen Zustand dazwischen; doch allmählich tritt jetzt bei passiven Bewegungen eine leise psychische Gegenwirkung ein. Die Ernährung hebt sich, der Puls wird entwickelter, die periphere Cyanose nimmt ab. Der

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Klin. Krankheitsbild. „Organischer" Stupor. Verlauf.

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Kranke hält jetzt auch manchmal die Augen offen und scheint den Vorkommnissen der Umgebung zu folgen; aber noch ganz theil- nahmlos und mit den frtthern schlaffen Gesichtszügen. Die Unrein- lichkeit wird seltener. Die abnorm weiten Pupillen reduciren sich mehr auf die Norm; auch die einseitigen Innervationsstörungen des Rumpfes gleichen sich nach und nach aus. In der Folge treten auch vereinzelte deutliche Intentionsbewegungen auf, aber vorerst noch unsicher und wenig bemessen; erst langsam werden sie kräf- tiger und zielvoller.

Bei vorausgegangenem hochgradigen Stupor müssen erst alle com- plicirtern Muskelbewegungen (Treppensteigen, weibliche Handarbeiten) wieder eingelernt werden. Es kommen Reconvalescenzen vor, in welchen der Kranke erst auf allen Vieren krabbelt, ehe er in aufrechtem Gange wieder normale Ortsveränderungen vornehmen kann.

Denselben Process einer wirklichen Neu-Erziehung müssen auch die geistigen Functionen durchmachen; es vergehen manchmal Wochen, bis die Kranken wieder sich zu orientiren vermögen. Inter- essant ist dabei die zeitweilige Durchgangsphase, welche das in tiefem Schlafe befangen gewesene Ich mit seinem Vorstellungsinhalt zu bestehen hat.

Da treten erst wochenlange Selbstgespräche des Kranken auf, in welchen eine zufällig geweckte Vorstellungsreihe nach der andern, erst in oberflächlicher, dann in immer mehr logischer Association abläuft, eine die andere nach sich ziehend wie eine erstarrt gewesene Wasser- masse, welche schmelzend in Fluss geräth. Lange ist noch keine Hege- monie im Vorstellungsablauf (kein „Ich") bemerkbar; der Kranke selbst spricht von sich noch in dritter Person.

Die Stimmung ist dabei Anfangs indifferent, erst nach und nach wird dieselbe für unangenehme Reproductionen oder äussere Ein- drücke afficirbar, und meist dann in explosiver Weise. Besonders lebhafte Einfälle können in endlos wiederholte Zwangsgedanken oder auch in (Pseudo-) Hallucinationen sich umsetzen. Manchmal kommen auch motivlose Zornwallungen mit plötzlicher Gewalttätig- keit gegen sich ödere Andere. Nicht so selten kann der transi- torische Erregungszustand sich zu einer Reihe von manischen Zer- störungsacten steigern; andere Male, namentlich bei jtingern Indivi- duen, werden Aufregungsstadien mit dem Charakter der Moral Insanity (brutale Neckereien, schamwidriges Benehmen, Schmieren) als kurze Durchgangsphasen beobachtet.

Erst langsam kämpft sich in diesen schweren Fällen die Ge- nesung durch; in leichtern vollzieht sich der Uebergang vergleichs-

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Die acute primäre Dementia.

weise rascher; bie und da auffallend rasch, so mit Eintritt der bis dabin cessirenden Menses.

In schwereren Fällen bleibt für die ganze Uberstandene Krankheit ein vollständiger Erinnerungsdefect zurück; in leichtern erhalten sich einzelne Erinnerungen, aber nur an den Anfang des Stupors (wie es plötzlich im Kopfe ganz todt geworden und der Körper nicht mehr habe bewegt werden können), und besonders an die Zeit der Lysis (erst ganz fremdartige Perception der Umgebung mit Verkennungen, mühsames Sich- Orientiren, Einlernen der frühem Dexterität). Für die Krankheits höhe s bleibt immer Amnesie.

Bemerkenswerth ist, dass in demselben Verlauf wiederholte Stupor-Anfälle (einmal in demselben Monate in zwei auf einander folgenden Jahren) auftreten und jeweils in Genesung übergehen können.

Ist mittlerweile die Körperernährung wesentlich gestiegen, so kann der zweite Anfall, obwohl für sich mit (graphisch d. h. nach den Wä- gungsergebnissen) derselben quantitativen Reduction des Körpergewichts einhergehend, dennoch milder und mit abgekürzter Reconvalescenz ver- laufen, trotz des gleichen klinischen Symptomenbildes und einer an- nähernd gleichen Krankheitsdauer.

Geht die acute Dementia in chronische Uber, so sind ver- schiedene Verlaufsarten möglich.

Es kann sich 1 . ein erregter Blödsinn anschliessen mit vollständiger Amnesie für die seit dem Stuporeintritt vorgekommenen Erlebnisse. Der Kranke erwacht und lebt weiter in dem zurückdatirten frühem Bewusst- seinskreis; er fühlt nicht die mittlerweile vorgegangene Veränderung in und um sich, äussert auch früher für ihn passende Wünsche und Stre- bungen, aber Alles abgeblasst, ohne Energie, schablonenartig. Das In- teresse, gegenwärtiges und früheres, schwindet. Die Reproductionen werden mehr mechanisch abgeleiert. Der Kranke lebt affectlos, aber gleichwohl reizbar, nur noch in der Minute. Mit zunehmender intellec- tueller Verblödung wird der Vorstellungsinhalt immer ärmer, reducirter, schliesslich dem Kranken selbst unverständlich. Der Sinn für das De- corum sinkt; intercurrente Congestivzustände zum Kopfe (manische Raptus) beschleunigen den Weg zum apathischen Blödsinn. Oder aber: 2. es bleibt eine chronische Stupidität zurück, eine Art geistigen Dämmer- lebens, in welcher der Kranke für Nichts mehr Sinn hat, weder für Gegenwärtiges noch für Vergangenes, weder Dieses noch Jenes mehr versteht, oft sein nächstes Vorleben, seine Familie nicht mehr kennt, ja, selbst sein eigenes Ich-Bewusstsein preisgibt („ich bin nichts, weiss nichts, verstehe nichts, Alles ist nichts"). Interessant ist dabei die manchmal isolirte Erhaltung einzelner früherer Kunstfertigkeiten (Kartenspielen, Singen u. s. w.). Dieser Blödsinn kann sich bis zu gewissen Graden wieder zurückbilden und der Kranke auf einem bescheidenen geistigen Niveau Jahre lang erhalten werden. Oder endlich: 3. es schliefst sich nach einer protrahirten manischen Uebergangsphase (Moria) ein leidlich

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Klinisches Krankheitsbild. „Organischer" Stupor. Ausgänge. 219

lucider Zustand an, mit anscheinendem Wiedergewinn der frühem Per- sönlichkeit; aber die „Blume" ist hinweg aus dem geistigen Leben, der Sinn fllr Höheres, der Tact, ist verloren gegangen, und jenes selbst um einige Marken tiefer eingestellt, wenn auch keine wesentlichen Lücken herausgebrochen sind. Langsam verlauft dieser Zustand, und zwar trotz der trügerisch gebesserten Körperernährung (auch trotz der wiederge- kehrten Menstruation), nach und nach in immer grössere psychische Schwäche.

In einem Falle (29 jähriges, erblich nicht belastetes, vollsinniges, aber zeitweilig dem Trunk ergebenes Mädchen) trat nach einer tiefen Gemüthsbewegung einige Tage ein sinnlos aufgeregtes Gebahren, übrigens ohne jegliches Zeichen einer entzündlichen Cerebralaffection, ein und 8 o f o r t nachher ein stupid blödsinniger Zustand. Die Kranke staunte vor sich hin, trippelte herum, sprach nichts, als „ja" und „nein". Die Gesichtsmuskulatur, sowie die Zunge und Hände zitterten stark; fehlender Patellar- und Triccpsreflex , erhaltenes Fussphänomen. Sie appercipirte die nächstliegenden Dinge, wusste sich aber nicht zu orientiren. Schon einige Tage später verstand sie auch die einfachsten vorgehaltenen Gegen- stände nicht mehr, blieb z. B. bei Annäherung einer Scheerenspitze gleich- gültig, lächelte höchstens blöde. Nach Umfluss von G Wochen 10 Kilo Abnahme am Körpergewicht, trotz reichlicher Nahrung, leidlichem Schlaf und gänzlich mangelndem Affecte. Vorübergehend Temperatursteigerung bis 3S°; dazwischen auch wieder 36,5. Nach 8 weitern Wochen ist Patientin eine vollständige psychische Null; sie dämmert vor sich hin, muss gefüttert werden wie ein neugeborenes Kind. Hin und wieder zeigt sich ein ausdrucksloses Grinsen. Die Haut verliert ihren Turgor; zeit- weilige legale Schweisse. 4 Wochen später: fortdauernde Gewichtsab- nahme, Unreinlichkeit, zeitweilige automatische Bewegungen. Nun kommen wiederholt Erstickungskrämpfe, plötzlich Apnoe, welche Anfangs unter Application des farad. Pinsels wieder gehoben werden. 8 Tage später: Collaps ohne erschwerte Respiration ; Exitus letalis. Die Autopsie zeigte : hochgradige primäre Atrophie der Stirn- und Temporalwindungen, und chronische diffuse Encephalitis neben Hydrops ventricul. (Hierher ge- hört auch der im Journ. of ment sc. 1881 referirte Fall von Bonville).

Anhang. Der postmanische (anergetische) Stupor tritt nach gewissen Fällen von Mania gravis auf. Die einleitende Manie ist durch sehr tiefe Betäubtheit, hallucinatorische Verwirrung oder blinden Furor, Congestivzustände gewöhnlich mit Temperaturstei- gerung (bis 39°) ausgezeichnet. Die Dauer ist in der Regel nur eine kurze, wenige Tage bis 1—2 Wochen. Der sofort mit der Ruhe eintretende Stupor zeigt verschiedene klinische Bilder : es kann ein vasomotorischer Stupor, ganz wie der vorbeschriebene, sich ein- stellen, bald mit, bald ohne Attonität. Die Bewusstseinsstörung ist jedoch selten eine so vollständige; es finden immer noch Beziehungen mit der Umgebung in Form einzelner (mehr oder minder klarer) Perceptionen statt. Ebenso ist selten ein Stimmungsmangel wie im

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Die acute primäre Dementia.

echten Stupor vorhanden ; der Kranke erscheint wohl apathisch, aber mit einem Zug ängstlicher Depression oder feindlichen Misstrauens In gleicher Weise kann auch die vasomotorische Neurose fehlen, oder unbedeutend ausgeprägt sein. Dagegen trifft die Reduction der Körperernährung, der Mutacismus, die Nahrungsverweigerung bei beiden Formen zusammen, zum Theil auch die Passivität des Ge- sammtverhaltens, welche übrigens beim postmanischen Stupor, ent- sprechend der activern innern Stimmungslage, einen Zug von con- trärer Negation beigemischt trägt.

Unzweifelhaft liegen diesen individuellen Nüancirungen des klinischen Bildes theila einfache Erschöpfungs-, theils Hirndruckzustände anatomisch zu Gründe, mit allen möglichen Mischungen und Uebergängen. Der „Hirndruck" kann oft ein so grosser sein, dass der wie ein Klotz da- sitzende Kranke den Eindruck macht, als ob er einen Keulenschlag auf den Kopf erhalten hätte, und dass plötzlich auf ihn eindringende sensible Reize Reöexzuckungen durch den ganzen Stamm hervorrufen wie beim Thierexperimente nach vollzogener Enthirnung.

Unter diesen verschiedenen grundliegenden Verhältnissen ist der Verlauf des postmanischen Stupors ein sehr verschiedener. Einfache Formen mit psychisch motivirter Attonität, aber ohne mitbegleitende Vasoparese, verlaufen in der Regel günstig, wenn auch mit sehr langer Reconvalescenz. Die „Hirndruck"- Fälle mit der grossen Stupidität und Gefässlähmung (eiskalte Extremitäten, welche selbst gegen feuchte lauwarme Einpackungen reactionslos bleiben) treten in der Regel ihren successiven Niedergang zum apathischen Blödsinn an freilich nicht ohne vorübergehende lucidere Zwischenzeiten, in welchen die Kranken Uber quälende Hallucinationen (Schimpf- worte, Verfolgungen) und über peinliche Kopfgefühle klagen („man solle ihnen den Kopf zermalmen"). Dabei Bulimie, heftiger Mastur- bationsdrang. Manche wachen aus ihrem geistigen (Gehirn-) Schlaf intervallär zum Niveau einer einfachen mechanischen Arbeitsfähig- keit auf. Aber die intercurrenten Fluxionen zerstören jeweils die leise wieder gehegten Hoffnungen. Manchmal schliesst eine Phthise oder ein Darmkatarrh nach Jahresfrist das schwere Leiden.

2. Die stupide (hallucinatorische) Form. Diese Gruppe bildet eine klinische Mittelstellung zwischen dem echten Stupor und der folgenden Gruppe der primären Dementia ohne Stupor. Nach Seite der Bewusst seinsstÖrung, welche auch hier das primäre und maassgebende Symptom bildet, mischen sich traumartige und halblucide Phasen; es ist eine Art blödsinnigen Dämmerzustandes, kein vollständiger Perceptionsabschhiss ohne Innenleben, wie in der vorigen Gruppe, sondern ein halbwaches oder selbst zeitweise waches Bewusstsein, aber auf der niedersten Stufe der Function, kaum zureichend für die nächstliegenden Wahrnehmungen

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„Postmanischer" Stupor. Stupid-hallucin. Form der prim. Dem. 221

uod einfachsten Reactionen; ein Zustand ungeheuerster Verlangsamang resp. Hemmung der intellectuellen, gemtlthlichen und psychomotorischen Thä- tigkeit. Gleichwie beim echten Stupor ist also das gedämpfte und ver- schwommene Wahrnehmen nicht durch ein abnorm gesteigertes Innenleben, welches die Reize von aussen abhält, bedingt (wie dies beim psychischen resp. hallucinatorischen Stupor der Fall), sondern durch eine primäre Betäubtheit des 8ensoriums, durch eine Functionsschwäche der gesammten geistigen Hirntbätigkeit. Die dazwischen laufenden Sinnestäuschungen sind nicht selbständige und formgebende Krankheitselemente, sondern mehr minder zufällige Begleiterscheinungen in psychologischer Um- schreibung ausgedrückt: vereinzelte Reactionen der centralen Sinnesfläche ohne perceptiv verarbeitende und associirende Thätigkeit des (functions- schwachen) Grosshirns. Dieselben sind deshalb hier, im Gegensatz zum hallucinatorischen stupiden Wahnsinn (dem PseudoStupor), auch stets nur fragmentar und abrupt, während sie bei dem letztern ebenso zusammen- hängende Romane, ja oft förmliche Traumerlebnisse bilden. In derselben Weise erheben sie sich , den ausserordentlich plastischen Formgebilden des letztern gegenüber, sehr oft nur zur schattenhaften Gestaltung einer sog. Pseudohallucination d. h. der „Objectivation" automatischer und alo- gischer Gedankenvorgänge in Folge des Torpors der Reflexion.

Gleichwohl bestehen zum stupiden und namentlich zum attonischen Wahnsinn vielfache und sehr fliessende Uebergänge, deren sichere Ab- grenzung klinisch nur ermöglicht wird für die reinen Fälle und nur durch den Gesammtcharakter a potiori: hier (bei der primären Dementia) more or less absence of cerebration, dort traumartiges Innenleben; hier motorische Apathie aus demselben Innervationsmangel, dort Atto- nität oder aber paradoxes Gebahren, „Geberdenverrücktheit" aus Sinnen- wahn. Eine weitere Differenz bringt der Verlauf beider Zustandsformen herbei , welcher hier einen einfach aufwärts oder abwärts steigenden Gang einhält, dort aber einen aus allen psychischen Zustandsformen gemischten polymorphen und dabei cyklisch zusammenhängenden.

Voraus geht manchmal eine der Umgebung auffällige Zerstreut- heit des Wesens und Schwäche des Gedächtnisses. Die bis dahin heitern Mädchen oder jungen Männer werden in ihrer Stimmung gedämpfter, vorübergehend deprimirt oder theilnahmslos. Niemand kennt die Ursache (Gemüthsbewegungen , Ueberarbeitungen , Nacht- wachen, Chlorose, Menstruationsstörungen); die Kranken am wenig- sten selbst, so wenig sie ihren eigenen geänderten Zustand wahr- nehmen. Nun überrascht plötzlich eine grundlose Aufregung, welche unter der Hülle einer manischen Beweglichkeit sofort einen riesigen Zerfall der Persönlichkeit erschreckend offenbart. Die Kranken faseln, tischen allerlei träumerische Einfälle auf (glauben plötzlich in fremden Ländern, im Himmel zu sein, beten, halluciniren gelegent- lich), Alles mit ungeheurer Indolenz, ohne sich zu verwundern, im- provisiren auch einen Raptus, brutal und einsichtslos, lachen blöde wenn sie zur Rede gestellt werden, oder geben ein läppisches Ein-

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Die acute primäre Dementia.

falls-Motiv an. In diesem unklaren verschwommenen Wesen, ohne Consequenz und Ueberlegung, rein nur in der Minute wachend oder träumend, ohne verbindende Association, dämmern sie hin.

Bringt man sie zu einer Antwort, so geben sie sehr oft und immer wieder Kopfschmerz an, aber sie wissen ihre Klagen nicht zu verdeut- lichen, so wenig sie selbst ein Bedürfniss zu Mittheilung äussern. Die gesprochenen Sätze sind abrupt, unklar, unfertig („ich weiss selbst nicht ich bin einmal" „da macht der etwas vor ich weiss nicht, wie's mir ist" u. s. w.). Oft kramt der Kranke affectlos die barocksten Ein- fälle aus (,Jetzt werden wir verbrannt" „der dort ist das Kind Je- sus"). Bald schon wissen sie auch ihren Aufenthaltsort, selbst ihren Na- men nicht mehr. Vorübergehend kann sich diese Stupidität, in welcher sie zum Essen u. 8. w. angehalten werden müssen, zu stärkerer und an- haltender motorischer Erregung steigern. Sehr oft sind es Angstreflexe auf Hallucinationen ; die Kranken schreien plötzlich „Feuer", suchen in blindem Drange zu entfliehen, oder sie wiederholen raptusartig lebens- gefährliche Angriffe gegen die Umgebung, welche sie nicht kennen oder sehr oft verkennen ; oder endlich sie erschöpfen sich in sinnlosen Drängen (blasen aus Leibeskräften stundenlang mit aufgeblähten Backen u. s. w.). Kleidung und Decorum wird nicht mehr beachtet Manche hängen Tage lang an der Thürklinke, stürzen sich in blindem Drange hinaus, wieder- holen dabei indolent und mechanisch dasselbe Wort, dieselbe perverse Phrase. Oft schieben sich auch wirkliche depressive Momente dazwischen, in welchen die Kranken fortverlangen, oder in kläglicher, weinerlicher Manier, mit kindischem Jargon, eine Selbstbeschuldigung vorbringen, aber auch nur wie geistesabwesend, in unklaren, verworrenen, oft unvollendeten Sätzen. Die Stimmung erhebt sich nicht bis zur Stärke des Affects. Sie achten nicht die Temperaturunterschiede, kennen Uberhaupt nicht mehr die kleinste Fürsorge für sich; sie stürzen halbangezogen ins Freie und stellen sich mit blossen Füssen in den Schnee so zerstreut, rath- und reactionslo8 , wie vorher im Zimmer; oder sie trippeln stundenlang mit unsicherem Schritte eine kurze Wegstrecke hin und her mit steifer ver- legener Armhaltung und vornüberhängendem Kopfe, tippen gelegentlich mit den Händen auf den Boden, um diese oder jene Kleinigkeit aus dem Schmutze zu heben, in den Mund zu fuhren und dem Spiel der Kau- muskeln zu überlassen. Manchmal gelingt es durch irgend eine Näscherei oder dargereichtes Obst sie auf eine Stunde zu beruhigen; aber dann bleiben sie wiederum theilnahmlos sitzen ; reicht man ihnen eine leichte, gewohnte Handarbeit, so wissen sie nichts anzufangen. Zu Allem, was sie beginnen, müssen sie angetrieben werden, und nur langsam zögernd, oft eher auf ein barsches als auf ein freundliches Wort, setzt sich die träge Maschine in Bewegung. Nicht selten hört das ohne Kraft und inneren Trieb inscenirte Handeln mit dem letzten Worte, welches zu sei- ner Aufmunterung gesagt wurde, wieder auf. Auf Anrede geräth der Kranke in sichtliche Verlegenheit und in unzweckmäßige zitternde Be- wegungen, erhebt fragend den stieren Blick, wechselt auch die Farbe, spricht aber nichts, oder bewegt höchstens und fast automatisch die Sprach- werkzeuge, ohne einen Laut zu produciren, oder von inneren Vorstellungen

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Stupid-hallucinat. Form der prim. Dementia. Verlauf. 223

geleitet zu sein. Seltener nur wird ein leises Lispeln oder ein „Ja" oder „Nein" vernehmbar, letzteres häufiger als ersteres. Weder die gewählte Verschiedenheit in Ton und Ausdruck, noch die Schwere oder Leichtig- keit des Inhalts vermögen einen Eindruck zu machen, oder wenigstens eine passende Reaction hervorzurufen: er bleibt stumm und hölzern. Auch die gemüthlichen Interessen sind untergegangen; weder die Lieb- kosungen, noch die Thränen der Angehörigen beleben die „Bildsäule" zu einer Action, das gläserne, zerfahrene Auge zu einem „Blick". Ein Druck scheint auf dem Gehirn zu lasten auch nach den injicirten Conjunctivae, dem überwiegenden Carotis- Pulse, dem warmen, zur Tran- spiration geneigten Kopfe zu schliessen, und dieser Druck lastet, aller ärztlichen Einwirkungen spottend, oft unverändert durch Wochen und mehrere Monate.

In günstigen Fällen, welche hier glücklicherweise durchaus nicht selten sind, bricht nun allmählich eine sichtliche Hebung der ge- sunkenen Ernährung durch; das Aussehen wird besser. Nach uud nach nimmt der Kranke auch an der Arbeit Theil, Anfangs noch mehr zuschauend als mitwirkend, ohne Kenntniss des Zweckmässigen und ohne Energie. Allmählich regulirt sich der bis dahin ausser- ordentlich trüge Stuhl; oft wirkt in diesem Stadium auch eine massige Opiumgabe wahrhaft als „Tonicum" des geschwächten Ge- hirns. Die Spannung der Züge lässt nach, die Haltung des Kranken wird freier, Interesse und persönliche Zuneigung stellen sich ein. Der Kranke gibt Antwort, stellt auch bald selbst Fragen, freut sich über ihm ertheiltes Lob. So wird fortschreitend das Benehmen immer natürlicher. An die Stelle des frühern Schweigens tritt so- gar nicht selten jetzt eine kindische Geschwätzigkeit. Der Kranke lernt immer mehr sich zu orientiren. Befangenheit und Schwäche des Urtheils bleiben Anfangs noch lange Zeit zurück, weichen aber nach und nach der wiederkehrenden frühem Klarheit und Sicher- heit. Im Verlauf von Monaten Schritt um Schritt wird die Genesung erkämpft.

Bezüglich der Erinnerung an die ttberstandene Krankheit variiren die Angaben der Kranken bedeutend. Manche wissen Uber den Ausbruch der Krankheit und das Aufthauen aus dem Stumpfsinn wünschenswerthes Detail zu erzählen was aber zwischen diesen Zeiträumen liegt, ist wie ein vergessenes Traumleben an ihnen vorübergegangen. Andere dagegen wissen auch aus dieser Phase zu berichten und erzählen jetzt, „dass sie da- mals ohne Gedächtniss und Empfindung gewesen, dass sie keine Worte mehr gefunden, dass sie Alles hätten glauben müssen, was an wirren Ge- danken durch ihren Kopf gegangen". Im Verlauf von 3—4 Monaten kann die Genesung und dauernd erreicht sein.

Ist der Verlauf nicht günstig, so vollzieht sich fortschreitend der Niedergang zum chronischen definitiven Blödsinn. Die geistige

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Die acute primäre Dementia.

Persönlichkeit zerfällt in Einzelacte unter der Form von zerstreuten Einfällen, unmotivirten Antrieben und einer zwischen Apathie und plötzlichen Aufwallungen schwankenden unklaren Gemüthsstimmung. Auch hier geht (darin verschieden vom secundären Wahnsinn) stets ein leiserer oder tieferer Sopor eine begleitende Stupidität mit. So kann der Krankheitszustand jetzt schon für dauernd abschliessen.

In andern Fällen treten unregelmässig, und ganz zusammenhang- los, Episoden von Furor (Hallucinationen, Zorn-Raptus) dazwischen. Dann folgen ebenso regellos wieder Stupiditäts- Phasen, manchmal mit nächfolgender (betäubter) Moria. Mit jedem neuen Anfall ist ein weiteres Stück geistigen Capitals unwiederbringlich verloren. Die Verblödung (nach Seite des Kopfes wie des Herzens) schreitet voran. Viele Kranke vergessen dauernd, wie sie geheissen haben, sie leben ausser Raum und Zeit, behaupten tausend und noch mehr Jahre alt zu sein, gestorben und wieder auferstanden zu sein. Andere bilden sich zu einer stationären Blödsinnsform aus, in wel- cher sie in ihrem Vorstellungskreis ganz in der Zeit und Weise, wie vor ihrer Erkrankung, beharren: sie fahren fort als Kaufleute täg- lich ihre Waaren, ihren Gewinn und Verlust zu berechnen; die Zeit und die Umgebung geht an ihnen spurlos vorüber; sie verstehen nichts mehr davon, bekümmern sich auch um nichts mehr; sie ver- sinken im Nichtsthun oder in der Monotonie eines längst verlebten Vorstellungskreises und gemüthlich in einer Indolenz, welche nur noch für Befriedigung der Leibesbedürfnisse Raum hat. Wieder Andere wenden sich einer nichtssagenden Vielgeschäftigkeit zu, welche treffend als „Form ohne Inhalt" bezeichnet wurde. Sie üben sich in einen mechanischen Tagesdienst ein, d. h. in ceremo- nielle Schablonen ohne Werth und Wirkung, postiren sich an die Thüren, machen devote Complimente an die Ein- und Austretenden, versehen allerlei nichtssagende Functionen. Andere exerciren reli- giöse Cultus-Geberden, bekreuzen sich, knieen hin und erheben sich

Alles in endloser mechanischer Wiederholung. In ihren schrift- lichen Auslassungen leisten sie Kinderbriefe oder verbalen Gallima- thias. Auf noch tiefern Stufen versinken sie endlich in mecha- nisches Verspielen: sie werden Sammler, denen man jeden Abend ihre Taschen leert, damit sie dieselben am andern Tage mit der alten Emsigkeit wieder füllen; oder aber sie verfallen auf automatische Bewegungen, Strecken und Beugen der Extremitäten, Herumwälzen des Körpers, GrimasBirungen, Sicb-selbst-Schlagen, fangen ihre Aus- leerungen auf, schmieren sich ein, verzehren allerlei Unratb (Sand, Koth , Käfer u. s. w.). Auf dieser Stufe des apathisch gewordenen

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Stupid-ballucin. Form. Ausgänge. Pseudo- (psychischer) Stupor. 225

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Blödsinns gesellen sich auch die schamlosen Entäusserungen des Sexualdranges in Form cynischer Angriffe oder rücksichtsloser Ma- sturbation hinzu. Besonders zu beachten sind auch für dieses spätere Stadium die unregelmässig periodischen Raptus von Gewalttätigkeit (Zerstörungen oder drohende Attaken auf die Umgebung, ohne jedes Vorzeichen und verständliche Motiv). Weiteres s. u. apath. Blöds.

Von körperlicher Seite haben sich mittlerweile längst sehr be- achtenswerthe trophische und circulatorische Zeichen aufgethan. Oft schon nach Dauer von kaum wenigen Wochen bemerkt man eine Überhandneh- mende Vasoparese in Form der bläulichen, kalten, leicht schwitzenden Extremitäten. Daneben gehen aber in der Regel auch temperaturerhö- bende Fluxionen zum Kopfe einher, besonders in den intercurrenten Er- regungsphasen. Viele Kranke erhalten dadurch ein gedunsenes, braun- röthliches Aussehen mit Plumpheit der Gesichtszüge und einem zunehmend stumpferen, oft geradezu brutalen Ausdruck. Auffallend ist daneben oft der glänzende, eigentlich gläserne, inhaltsleere Blick. (Weiteres s. u. apath. Blödsinn.)

Anhang. Der hallucinatorische Stupor. (Psychischer Stu- por; stupider, hallucinatorischer Wahnsinn.) Neuropathische Anlage. Invalides Gehirn. Nach einem Vorstadium von psychischer Reizbar- keit mit Erschöpf barkeit, manchmal mit depressiver Stimmung und primärer geistiger Benommenheit tritt eine Bewusstseinsverdunkelung bis zu illusorischer Verkennung der Umgebung und einem lebhaften hallucinatorischen Innenleben ein, mit Willenstorpor und mehr oder weniger vollständigem (äusserlichem) Stimmungsmangel. Uebergang in die Genesung theils direct, theils durch ein manisches Zwischen- stadium mit psychischer Schwäche (Moria).

Die genannte Psychoneurose kommt seltener in reiner und so präg- nanter Form vor, dass sie für die Signatur des Krankheitszustandes a potiori maasagebend wird; häufiger erscheint sie als mehr weniger lange und öfters sich wiederholende Episode in constitutionellen psychischen Neuropathieen (Hysterie).

Die Vorläufer sind ein gesteigerter Status nervosus, nicht selten mit sexuellen Reizzuständen, oder (bei Mädchen) menstrualen Stö- rungen. Depressive Gemüthsaffecte wirken als fördernde Gelegen- heitsursachen. Anomalieen der Stimmung, namentlich depressive mit uiotivlosem Weinen, abwechselnd mit Reizbarkeit, Eigensinn, bizarren Einfällen und Begehrungen, andere Male aber auch eine vage me- lancholische oder hypochondrische Gemüthslage bilden die Einleitung. Damit geht ein chlorotischer Körperzustaud mit langsamer Ernäh- mngsabnahme Hand in Hand. Der Uebergang in den Stupor ge- schieht allmählich, kann aber auch (namentlich bei Recidiven) rasch erfolgen. Der Stupor selbst charakterisirt sich durch Apathie,

Schale, GeisVwVrankbeiteo. 3. Aufl. 15

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Die acute primäre Dementia.

Abulie mit Negation, und einem mehr oder weniger tiefen geistigen Dämmerzustand, welcher aber nie bis zur Stufe der vollen Perceptions- losigkeit herabsinkt. Die Kranken sitzen herum, ohne Beschäftigung, äussern kein Interesse für die Umgebung, weichen jeder Bewegung aus, lachen viel vor sich hin, beachten kein Decorum, sind wider- strebend gegen Nahrungsaufnahme, An- und Ausziehen, werden ge- legentlich bei Zuspräche auch heftig, bleiben indolent gegen Auf- munterung oder Zurechtweisung. Hin und wieder, bei stärkerem Eindringen, werden Aeusserungen laut, welche das ausgedehnte hallucinatorische Innenleben und gänzliche illusorische Verkennen der Umgebung kundthun.

In den Speisen sind Mistkäfer; die zerschnittenen Fleiscbstücke sind belebt und bewegen sich ; auf der Hand kriechen Schlangen und veran- lassen die schüttelnden, oft automatisch träumerischen Abwehrbewegnngen ; die Umgebung stinkt, in die Ohren sind unreine Ingredienzien gestrichen, die Zunge gibt Giftgeschmack u. s. w.

Dabei bleibt die Stimmung anscheinend indolent und sind die Kranken schlaff und regungslos, wenn man sie nicht anredet, oder nicht ein innerer Antrieb sie zum Lächeln oder zu irgend einem gelispel- ten Worte bringt. Die Reinlichkeit wird nicht beachtet, ebenso wenig die Fürsorge für die Kleider. Initiative und Interesse fehlen. Der Kranke beharrt durch Wochen hindurch in diesem Dämmerzustand. Die Innervation der Muskeln zeigt keine Anomalieen (s. u.); auch Puls und Temperatur nicht. Die Sensibilität ist erhalten, das Aus- sehen blass, die Körper-Ernährung sachte zurückweichend. Sonstige trophische Störungen und Lähmungserscheinungen (Salivation) wer- den nicht beobachtet Oft steigern sich die perversen Empfindungen bis zum Gefühl, dass Körpertheile fehlen, oder statt des eigenen Kopfes ein falscher aufgesetzt sei. Auch diese innern Wahrnehmungen gehen meist reactionslos in der unermesslichen Schlaffheit, welche selbst zu wochenlanger Bettsucht führt, unter. In andern Fällen folgt aber ein reactiv manischer Zustand, gewöhnlich in Form eines gereizten Furors mit triebartigen Entäusserungen und einem zwischen zorniger Gereiztheit und weinseliger Heiterkeit schwankenden Stim- mungswechsel.

Nach kürzerer oder längerer Dauer (Wochen, aber auch meh- rere Monate) tritt nach und nach Ruhe und Klarheit ein, oft lang- sam (s. u.), andere Male plötzlich, oft sofort dauernd, andere Male transitorisch auf Stunden , und dann sofort wieder durch neues Ver- sinken in die Traumphase abgelöst. Mittlerweile hat sich das ge- sunkene Körpergewicht und die Ernährung gehoben, in der Regel

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Pseudo- (psychischer) Stupor. Krankheitsbild. Verlauf. 227

in steiler Curve. Diese letztere setzt ihren Anstieg fort, auch wenn (bei langsamer Reconvalescenz) die manische Uebergangsphase sich einschiebt. Dieses Zwischenstadium besteht in der Regel in einer Aufregung mittleren oder auch nur massigen Grades mit dem Cha- rakter der Moria (zuweilen mit Chorea).

Heitere muthwillige Stimmung mit Neigung zu allerlei Schabernack, rastloser Handlungsdrang mit beständigem Wechsel der Beschäftigung, Zerstreutheit mit Hingabe an bizarre Einfälle, gewöhnlich mit grosser Reizbarkeit und emotivem Wesen, so dass auf jede Einsprache oder einen versagten Wunsch sofort kindischer Trotz und Starrsinn, andere- male aber auch rasch aufbrausender Zorn erfolgt; Disputirsucht oder ge- hässiges Zuwiderhandeln mit alberner Auflehnung gegen das Gebot oder Verbot sind die wesentlichen Züge.

Nach und nach, meist erst nach Wochen, gleicht sich dieselbe unter weiterer Besserung der Ernährung und Blutmischung (bei Mädchen nach Regulirung der retardirten resp. cessirenden Menses) unter vorsichtiger psychischer Behandlung in die Genesung ab. Die Erinnerung an die durchlebte Stupor- Phase ist eine oft bis in die Einzelnheiten getreue; man erstaunt dabei über das bizarre Traum- leben, welches die Kranken geführt haben.

Eine solche Patientin reiste in andere Welten oder im Fluge durch audere Länder; vor ihr entstanden Städte und versanken; über die Erde weg flog sie zur Sonne und wurde von göttlicher Wonne durchglüht; dann bildete sie als Centrai-Sonne den Mittelpunkt des „Alls", an wel- ches die anderen Wesen „wie magnetisch" sich angliederten u. s. w. An- deremale wandelt sie sich in Thiere um, bald in Blindschleichen, dann in Löwen oder in einen Mammuth, in dessen Gestalt sie der Sintfluth bei- wohnte, und anschwimmende Leichen abzuwehren hatte. Alles um sie lebte: Heere von Soldaten, klein wie Käferchen, aber aufs Vollstän- digste equipirt , „sogar mit Blechmusik" zogen sie in ihrem Zimmer auf, und schlüpften behend in die Poren ihres Körpers ein. Von sich selbst hatte sie bald richtiges Bewusstsein, bald fühlte sie sich in allerlei Körper- und Seelenwandlungen. Am merkwürdigsten imponirten ihr die eigentümlichen illusorischen und hallucinatorischen Spiele während des Stupors: sie sah die eintretenden Personen, aber in beständig neuen Masken; plötzlich konnten dieselben ganz verwesen in Luft oder ver- glimmen in feuriger Lohe, oder auch in „schwarzer Lethe" zerrinnen vorübergehend zur empfindlichen Trauer der Kranken. Die Illusionen im vorgesetztem Essen waren geradezu haarsträubend: abgeschnittene Menschenköpfe, „flehende Augen", Zungen, Leichentheile ; dann aber auch wieder Schlangen und Würmer krochen täglich Uber ihren Speise- teller. — Aus der Zeit des sich lösenden Stupors wird namentlich die Erinnerung an die ersten, wieder richtigen Wahrnehmungen aufbewahrt, welche Anfangs noch neben jenen Schattenfiguren einherliefen, aber doch wirksam blieben. So wissen manche Kranke getreu und lebhaft von dem ersten nachhaltigen psychischen Eindruck zu erzählen, von einem freund-

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Die acute primäre Dementia.

liehen Wort, einer ihnen erwiesenen Aufmerksamkeit (Blume), woran sie sich wieder zur Wirklichkeit emporrankten und fortschreitend sich selbst wiederzufinden vermochten (s. Melanch.).

Es gibt nun auch noch gewisse Fälle von hallucinatorischem PseudoStupor mit Status attonitus in Form vorübergehender allge- meiner oder localer kataleptischer Zustände (minutenlanges Auf- heben des Armes, tage- und wochenlange Schief haltung des Kopfes; Einschlagen oder Ausstrecken eines oder mehrerer Finger u. s. w.) und gleicher Verlaufsform wie die vorbeschriebene. Es ist klinisch bemerkenswerth , dass bei diesen Uebergängen zum echten Stupor die mitbegleitende vasomotorische Neurose fehlt, oder nur als Träg- heit und Schwäche der Circulation (welche hier ebenso gut einfaches Symptom der allgemeinen Anämie sein können) angedeutet ist.

b. Die acute primäre Dementia ohne Stupor. Diese zweite Haupt- gruppe steht bezüglich der Häufigkeit ihres Vorkommens der vorher be- schriebenen (mit Stupor) zweifellos nach. Doch sind die mittelgradigen Zustände immerhin in postfebrilen Zuständen, namentlich nach schweren Infectionskrankheiten wie Typhus und Variola, und speciell im Puerperium, noch ziemlich häufig. Die extremen und zugleich acut resp. subacut ver- laufenden Fälle durften dagegen sehr selten sein (Bins wanger). Zahlrei- cher sind die Fälle von primärer hochgradiger Dementia mit chronischem Verlauf, worunter die nach Kopfverletzungen ätiologisch in erster Reihe stehen.

Als postfebrile Psychose stellt die primäre Dementia den acuten Erschöpfungszustand des Gehirns nach dem consumirenden Fieber- process dar. Die Kranken sind motorisch und psychisch aufs Aeusserste geschwächt. Sie sitzen tagelang herum, ohne ein Wort zu sprechen; die Wahrnehmungen sind ihnen unklar und selbst in der einfachsten Form unverständlich. Sie wissen sich nicht in ihrem Aufenthalte zu orientiren, und müssen gepflegt werden wie Kinder. Die leichtesten Rechenexempel misslingen; manche Kranke ver- sichern, dass sie Anfangs sogar ihren Namen nicht mehr gewusst hätten. Die Stimmung ist indolent oder weinerlich. Mit zunehmen- der Körperkräftigung tritt die psychische Reconvalescenz ein, und erholt sich der Kranke aus seinem transitorischen Blödsinn wieder in den allmählichen geistigen Vollgenuss des Status quo ante. Manch- mal geht dieser Weg zur Genesung erst durch zwischenlaufende manische Erregungszustände hindurch. Andere Kranke behalten auch nach der Genesung noch auf Jahre hinaus eine geistige Er- schöpfbarkeit und geringere Widerstandsfähigkeit.

Hierher gehören auch die in der Literatur aufgeführten Fälle von primärer acuter Dementia nach Strangulationen, sowie nach Kohlenoxyd- gas- Vergiftungen. Ich vermag dieselben um eine Beobachtung zu er-

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Klin. UebergäDge zwiscb. psych, u. org. Stupor. Prim. Dem. ohne Stupor. 229

weitem. Ein 4 6 jähriger, erblich nicht belaateter Mann, gerieth aus psychischen Ursachen in beginnende Melancholie, in welcher er einen Erhängungsversuch machte, aber noch rechtzeitig abgeschnitten wurde. Heftige Convnlsionen und ein Zustand stupid-manischen Gebahrens durch mehrere Stunden folgten der gelungenen Rettung. Von nun an war der Kranke blödsinnig, und zwar machte er den Eindruck eines Paralytikers mit ungleichen Pupilleu, ungleicher Innervation der Gesichts- züge, steifem Gange, verlangsamter Sprache. Letztere führte der Kranke selbst auf die überstandenen Krämpfe (nach dem Erhängen) zurück. Der psychische Zustand war der einer vollständigen Indolenz mit weiner- lichem Wesen, geschwächtem Gedächtnis und Urtheil, raschem unmoti- virtem Umschlag der Stimmung von euphorischem Wohlbehagen in kin- disches Weinen. Der Kranke wusste sich nicht auf unmittelbare Vor- gänge zurückzuerinnern, und sagte wiederholt selbst: er sei blödsinnig. Nach Umflus8 von 8 Monaten langsam beginnende Besserung mit allmählichem Uebergang in Heilung, aber bleibendem leisem De- fect. Später, nach Jahren, Recidive mit Uebergang in Unheilbarkeit. Auch die psychischen Schwachsinnszustände , welche im Gefolge der Cachexia strumipriva auftreten, dürften hier einzureihen sein.

Unter den Graviditätspsychosen sind namentlich die milderen Fälle relativ häufiger. Man trifft nicht selten nach einem Partus mit starkem Blutverlust und nachfolgender angreifender Lactation (besonders bei ungenügender Ernährung oder nach Gemttthsbewe- gungen) primäre geistige Schwächezustände ganz acuter Entstehung, welche direct das Bild einer ausgeprägten Dementia darbieten.

Meist sind es die versatilen Formen des Schwachsinns : die hoch- gradig anämischen Kranken gerathen nach kurzem Vorstadium eines ge- steigerten Status nervosus mit Schlaf losigkeit in Unruhe; sie wissen sich in ihrer Umgebung nicht mehr zurecht zu finden, kennen Kind und Mann nicht mehr, haben keinen Sinn für die einfachsten Anforderungen des Decorum, müssen gepflegt und zur Beachtung der Reinlichkeit und Ein- nahme der Nahrung angehalten werden. Ohne jede Schätzung einer Gefahr machen sie lachend die waghalsigsten Experimente, sie verzehren ohne Sättigungsgefühl, was ihnen in die Hand kommt, nehmen weg, was sie sehen, und stecken es ein. Dabei vermögen sie kaum auf die ein- fachste Frage Antwort zu geben, sie widersprechen sich ohne es zu merken, finden die einfachsten Worte nicht mehr, machen die barocksten Umschreibungen (Pseudaphasie), verkennen die Personen (und zwar immer wieder anders, je nach ihren Einfallen), leben wach ausser Raum und Zeit.

Andere scheinen ihre Vergangenheit ganz vergessen zu haben, leben barmlos und unbekümmert in den Tag hinein, haben keine Frage und keine Antwort. Für sich bilden sie bald ein Perpetuum mobile (wobei sie stundenlang im Kreise herumlaufen, dieselbe Melodie pfeifen, son- derbare Bewegungen mit Kopf und Händen machen, bei jeder Annähe« rang oder Berührung sich schütteln oder grimassiren j ; bald kauern sie in den Ecken umher, bespucken den Boden, schreien oder lachen gele-

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Die acute primlre Dementia.

gentlich hinaus, leben nur in Minuteneinfällen, in welchen sie sich ver- spielen, oft kindisch, oft mehr in der Form einer neckischen oder brutal plumpen Moria. Dazwischen treten auch dann und wann einzelne Hallu- cinationen ohne System und Ordnung, welchen die Kranken bald indiffe- rent sich hingeben, bald aber auch durch panphobische oder gewalttä- tige Reactionen antworten. Oft halten sie stundenlange Monologe in wechselnden Sing- und Brummtönen; anderemale sind sie in tagelangeil Schweigen versunken und widerstreben heftig. Der Verlauf kann ein günstiger sein (durch die Moria hindurch mit zunehmendem psychischen G ehalt und Hemmungsvermögen), nicht selten aber auch ungünstig (Onanie) zu dauernder blödsinniger Abstumpfung.

Seltener ist die acute apathische Form des Blödsinns. Der Binswanger'sche Fall bietet eines der wenigen bis jetzt bekannten und zugleich eclatantesten Beispiele.

Eine Frau von 30 Jahren, ohne erbliche Belastung, mit guter Schulbildung, aber von dissolutem zugleich kümmerlichem Lebenswandel, wird schwanger und gerätb (gegen Ende) nach einer flüchtigen Aufre- gung (lautes, unarticulirtes Schreien, verworrenes Sprechen) in einen Zu- stand tiefster geistiger Abstumpfung, in welchem sie ihren Namen, ihr Alter nicht mehr weiss, die einfachsten Gegenstände verwechselt, meist nur mit irgend einem gerade einfallenden Worte oder aber mit Brummen antwortet, nicht einmal an die inzwischen erfolgte Niederkunft sich er- innert, die dahinzielenden Fragen bald bejaht, bald verneint. Körper- licher8eits war Kühle der Extremitäten, sehr herabgesetzte Aesthesis, unwillkürlicher Urinabgang vorhanden. Die Kranke erholt sich einige Wochen nachher unter gleichzeitiger Hebung des sehr herabgesetzten Körpergewichts allmählich wieder zur Besserung ihrer geistigen Fähig- keiten auf den Status quo ante; bleibt aber ohne Erinnerung an die durchlebte Zeit der Erkrankung.

Dieser Beobachtung einer directen, ohne Stupor, eingeleiteten pri- mären Demenz, welche sich von dem sonst Symptomengleichen, apathisch- secundären Terminal-Blödsinn nur durch Heilbarkeit unterschied, kann ich zwei weitere aus meiner hiesigen Beobachtung anführen. Die erste betrifft mehr einen partiellen acuten Blödsinn eine primäre Ge- föhlsabstumpfung und Abulte mit theilweiser Amnesie und vollständiger intellectueller Interesselosigkeit, gleichfalls im Gefolge des Puerperiums. Eine junge, in sehr angenehmen Verhältnissen glücklich lebende verhei- rathete, Frau war im Anfang der zweiten Schwangerschaft vorübergehend leicht melancholisch afficirt, aber später wieder geistig wohl geworden. Da begibt sie sich in einem der letzten Graviditätsmonate, nachdem sie heftige Leibschmerzen gefohlt hatte, auf das Closet und legt sich nach- her, ohne dass der Umgebung das Mindeste aufgefallen wäre, zu Bett. Am dritten Tage, nachdem die Kranke ganz zufrieden und ohne Klage sich im Bette gehalten, bemerkt man Blutspuren. Der her- beigerufene Arzt constatirt eine vor einigen Tagen stattgefundene Nie- derkunft, welche, wie die spätere Untersuchung erwies, auf dem Abort sich vollzogen hatte. Die Kranke, welche im Moment der Niederkunft nicht bewusstlos war, aber das Vorgefallene vergessen hatte,

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Primäre Dementia ohne Stupor.

Therapie.

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blieb auch nachher vollständig indifferent. Sie war oberflächlich heiter, aber abuliscb, bekümmerte sich um Nichts, nahm Alles wahr, gab rich- tige Antworten, und hielt nur auf ihre Bettlage. Sie war sehr anämisch. Nach vorübergehender scheinbarer Besserung durch eine Zerstreuungs- reise stellte sich mit dem Widereintritt der Menses derselbe acut blöd- sinnige Zustand abermals ein. Erst eine mehrmonatliche Cur in einem Asyl befreite sie jetzt dauernd aus der geistigen Abstumpfung, und stellte ihre frühern psychischen Fähigkeiten in vollem Umfang wieder her.

Der zweite Fall ist durch seine Anamnese bemerkenswerth. Ein junger Mann wurde durch den heftigen Knall einer unerwartet neben ihm losgehenden Kanone aufs Tiefste erschreckt und büsste zugleich sein Gehör ein. Sofort nach diesem Ereigniss trat eine Umänderung seines Wesens ein: früher freundlich, wurde er jetzt düster, menschenscheu, ge- reizt, wollte nicht mehr arbeiten; auf Zuspruch benahm er sich heftig und gewaltthätig. In der Folge progressive und rapide Zunahme des Blödsinns: allgemeine Theilnahmlosigkeit, starrsinniger Widerstand, zeit- weiliges Schimpfen mit Andeutungen von Verfolgungswahn (Gehörshailuc.) ; Verstösse gegen das Decorum, Gehässigkeit. Unaufhaltsamer Zerfall in bleibenden apathischen Blödsinn. Daran schliessen sich die acuten primären Dementia-Zustände aus Kopfverletzungen an (s. die Monogr. von Sehlager, Krafft-Ebing und die neueste Bearbeitung von Hart- man n, Aren. f. Psych. 15).

Therapie.

Die Behandlung des attonischen Stupors ist eine symptoma- tische: Bettruhe, Sorge für genügende Ernährung, für Reinlichkeit. Manchmal genügt die Darreichung kräftigen Leguminosen-Schleims (Peptonchocolade) mit dem Löffel, welchen man vorsichtig bis gegen den Zungengrund vorschiebt, anderemale ist die Sonde nöthig. Für Reinhaltung des Mundes ist bei dem starken Ptyalismus durch Aus- spülung mit Kali chlor. Sorge zu tragen. Pflege der Haut durch lau- wanne Bäder (Seifenbäder). Grosse Sorgfalt beim Wechseln der Bettwäsche, da ein festeres Anfassen des Kopfes mit der flachen Hand schon genügen kann ein Othämatom zu erzeugen. Von Zeit zu Zeit Probung, ob nicht hinter der äusseren Stupormaske bereits einige Perception wiederzukehren begonnen hat: dies geschieht durch Application leichter Hautreize (Kitzeln, passive Gliederbewegungen u. 8. w.), welche wiederholt werden, sowie sich einige Reaction seitens des Patienten zeigt. Unter sorgfältiger Berücksichtigung der nervösen Erschöpfbarkeit des Kranken wird die Wiederholung in grösseren Pausen fortgesetzt. Oft versagt der Versuch nach anfang- lichem Gelingen wieder, und man muss aufs Neue zuwarten ; andere Male aber, besonders wenn bereits der Fortschritt der Körperernäh- rung, die Hebung des Pulses, zeitweilige spontane Bewegungen des

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Die acute primäre Dementia.

Kranken den Nachlass des Hemmungszustandes ankündigen, werden die Reactionen des Kranken immer ausgiebiger, zielvoller, mit sicht- lichem Affect begleitet. Nicht selten gelingt es so die leise be- gonnene Reconvalescenz zu beschleunigen, und den Kranken mehr minder rasch zur Perceptionsfdhigkeit zurückzuführen. In anderen Fällen vollzieht sich diese Rückkehr mit Besserung des somatischen Zustandes von selbst. Die nun folgende Erholungs- oder Reactions- periode ist nach psychischer und somatischer Seite aufs Sorgfältigste ärztlich zu leiten. Der wieder erwachende Kranke ist entweder schwachsinnig ruhig und indolent, oder schwachsinnig aufgeregt und reizbar. In beiden Fällen gilt es: die kleine geistige Kraft zu schonen, sie methodisch langsam zu üben ohne Uberanzustrengen, sie gemüthlich anzuregen ohne zu reizen. Es gilt nichts Geringeres als die Rückerziehung eines einsichtslosen, oft eigensinnigen, auf directen Widerspruch oft convulsivisch reagirenden Kindes. Bei ge- steigerter Reizbarkeit Xeres mit kleinen Gaben Opium; häufige lau- warme Bäder; Gewährung kleiner Aufmerksamkeiten, von Esswün- schen u. s. w. Daneben körperlich umfassende Methodus roboraus (China, Malz-Extract, Bettruhe, Diät, Sitzen im Freien u. s. w.); sachter Wiederbeginn einer leichten, vorerst mehr mechanischen Be- schäftigung. Grosse Vorsicht mit Besuchen der Angehörigen, oder mit Briefen! Diese Reconvalescenzzeit ist oft auf lange Wochen hinaus eine grosse Geduldsprobe für den Arzt; der Kranke muss förmlich Schritt um Schritt wieder in die frühere Norm eingewöhnt werden; andere Male vollzieht sich die Rttck-Orientirung rascher. Der Ge- nesene muss einige Zeit noch Quarantäne in der Anstalt halten. Die hallucinatorisch-stupide Form verlangt neben sorg- samer somatischer Pflege (Diät, Schlaf) möglichste Beruhigung gegen die verwirrenden Einwirkungen der Hallucinationen. Gegen diese wirkt wiederum Opium sehr oft zurückdrängend; bei Widerstand des Kranken in subcutaner Form. Nimmt die acut demente Be- täubung zu, dann sorgfältige Aufsicht gegen mögliche Selbstbeschä- digung des Kranken (Verschlucken!), für regelmässige Besorgung von Urin und Stuhl, gegen intercurrente Congestionen (Bäder, Hiru- dines, Ableitungen; bei Frauen Beachtung der event. cessirenden Menses). Wird der Zustand chronisch, zeigt sich livide und gedun- sene Gesichtsfarbe, event. Stirnödem, dann sind in Pausen wieder- holte Ableitungen angezeigt; mehrfach erwies sich uns jetzt die Einreibung der Brech weinsteinsalbe sichtlich günstig; bei reactiven Aufregungszuständen sind Bäder und Opium indicirt Sobald es angeht und die Körperkraft es zulässt, muss sofort mit der Rttck-

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Das hysterische Irresein.

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erziehung des Kranken begonnen werden, welcher oft noch lange in seinen Sinnestäuschungen sich verspielt: eine individuell ange- paßte Beschäftigung führt auch hier am sichersten in die Wirklich- keit ein. Bei Frauen sind die Menseszeiten sorgsamst zu beauf- sichtigen (Bettlage).

Der anergetische Stupor erfordert, frisch entstanden, Ruhe (psychisch und körperlich), Uebung der Ernährung, sorgsamste Abhaltung aller Reize, Bekämpfung intercurrenter Fluxionen. Wiederholt leisteten mir methodisch Priessuitz'sche Einpackungen mit Eisbehandlung des Kopfes gute Dienste. Die Nahrungsverweigerung kann vorübergehend Sonden- gebrauch erfordern. In spätem protrahirten Stadien (wenn alle fluxionären Reizerscheinungen vorUber) sind zeitweilige Kopfdouchen ein sehr wirk- sames Mittel; ebenso faradische Pinselung. Daneben Erziehung zu kör- perlicher Beschäftigung mit Muskelbewegung (Massage unter Umständen). Während der ganzen Stuporzeit ist sorgfaltige Beaufsichtigung (gegen etwaige Raptus von Gewaltthätigkeit) Uber den Kranken zu führen.

Das hysterische Irresein.

Literatur über Hysterie im Allgemeinen siehe Jolly, d. Handb. 12, mit ausführt. Literatur.

Hysterisches Irresein: Morel, I.e. v. Krafft-Ebing, Lehrb. II. Hyster. Epilepsie: d'Olier, Ann. m£d. psych. 1881. Richer, Monogr. Paris ISS I . F6re, Arch. deNeur. 1882. Huchard, Ibid. Dobie, Brain 1SS2. Mabille, l'Enceph. 1S83. Bourneville et Bonnaire, Arch. de Neur. IS84 (bei einem jungen Manne). Aetiologle: Skene, Arch. of med. III. u. Schm. Jahrb. 186 (Zusammenhang mit weiblichen Sexualerkrankgn.). Opera- tive Therapie: Maenner, Deutsche allgem. Wochenschr. 1881 (Castration mit Erfolg). Landau u. Reimak, Zeitschr. f. kliu. Med. VI (gegen). Goodell, Am. Journ. of Ins. 1S82 (theilweise erfolgreich). Flechsig, Neurol. Centrlbl. 1>S4. (Erfolg). Richter, Berl. kl. Wochenschr. 188U. (psych. Therapie bei mo- tor. Störungen). Culerre, Ann. me\l. psych. 18S0. (Metallotherapie).

Neuere Epldemieen: Chiap, G. e F. Franzolini, Riv. Bper. V. Tamburini, Ibid. Colin, Ann. d'hyg. publ. isso.

Die Grundlage der hierher gehörigen ausserordentlich formen- reichen psychopathischen Zustände bildet das sog. „hysterische Tem- perament" d. h. der in succum et sanguinem übergegangene byste- risch-neuropatbische Charakter. Dieser letztere kann entweder die Weiterentwickelung und Vollendung der hereditären Neurose (s. d.) bilden, oder aber erworben sein in Folge eines invalid gewordenen Nervenlebens , wobei gewisse Sexual- und Uterinzustände von er- fahrungsgemäss wichtigem Einflüsse sind.

a) Das hysterische Temperament. Bezeichnen wir in Kürze dessen Signatur, so lautet diese in klinischer Hinsicht: gesteigerte

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Das hysterische Irresein.

Erregbarkeit mit Schwäche; in physiologischer: Ueberwiegen der Reflexthätigkeit Uber die cerebralen Hemmungsfunctionen neben erhöhter Convulsibilität der infracorticalen (sensoriellen und sensibeln) Centren; in psychologischer: krankhafte Gemtithsreizbarkeit neben Willensschwäche, gesteigertes Phantasieleben ; endlich in psy- chophysischer: abnorme Minderung des intracerebralen Leistungs- widerstandes, Erniedrigung der Empfindungssch welle, Discontinuität der höchsten psychischen Wellenlinie (des bewussten Denkens, Em- pfindens, Strebens). Die krankhafte Gemtithsreizbarkeit und gestei- gerte reflectorische Erregbarkeit (1) stehen für unsere Betrachtung im Kern des klinischen Bildes. Die Kranke wird durch jeden sensibeln Eindruck abnorm tief und nachhaltig beeinflusst, und zwar sowohl durch körperliche Empfindungen als durch gemüthliche Emotionen. Dabei stehen die beiden letzteren so im Zusammenhang und Wechsel- wirkung, dass jede GemUthsbewegung abnorm leicht durch den „sen- sibeln Nervenbaum" zittert, und sich in irgend einem Locus dolens fixirt, oder vasomotorische Stürme aufruft. Durch dieses associirte periphere Moment vollzieht sich aber eine Bindung des centralen psychischen Factors, so zwar, dass das Ich sich von den erlittenen Gemtithseindrilcken abnorm schwer mehr befreien kann, von den- selben „organisch" beherrscht bleibt. Bei der gesteigerten Reflex- thätigkeit treten mit den Hyperästhesieen auch motorische Convul- sionen in dieses Associationsverhältniss: die Emotion, der peinliche Gedanke, löst jetzt auch einen Krampfanfall aus, nicht selten unter hallucinatorischer Begleitung und entsprechender Verdunkelung des Bewusstseins; oder aber es entsteht eine plötzliche Verwirrtheit mit perversen Acten, aus welchen erst ein längerer Schlaf wieder zur Lucidität und Selbstflihrung zurückleitet (s. unten „hyster. Irres."). Hallucinatton, Neuralgie (im weitesten Sinne), Krampf bleiben einmal geweckt in der besprochenen „psychischen Function"; sie bilden den gefühlten Wiederhall für das gereizte Gemüth, bald aber auch die Signale, welche, von anderwärts aufgerufen, rückwirkend dem Ich die associirte Stimmung zuführen und aufdrängen ; sie wer- den Resonanzboden und tonangebende Stimmungsclaviatur zugleich. Diese directe und unmittelbare Abhängigkeit vom körperlichen Befin- den — des Gemüths von den Nerven erzeugt eine ausserordentlich labile Gemüthslage, ein stetes Schwanken, eine (geistig unmotivirte, körperlich begründete) Launenhaftigkeit. Diese ist der z w e i te Haupt- grundzug im Temperament der Hysterischen. Die Umgebung und Eindrücke werden unter die unerbittlichen Kategorieen von Augen- blickssympathieen oder -antipathieen gestellt und darnach das Han-

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Hysterischer Charakter (Temperament).

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dein entschieden. Für das prüfende Urtheil ist kein Platz; an die Stelle der „Reflexion" ist das „Reflex"handeln getreten. Kommt die Reflexion nach, so dringt sie nicht bis znr Einsicht der Kranken in ihr unüberlegtes Benehmen durch ; anch auf dieser Stufe beharrt die dominirende Macht des nervös reizbaren Gemüthes, welches den „Verstand" höchstens zur nachträglichen Rechtfertigung für das un- überlegte (in Wahrheit: organisch aufgezwungene) Benehmen zulässt.

Aber diese logisch unbegreiflichen» anziehenden und abstossenden Neigungen begegnen sich ausserdem noch in einem Oontrastspiel : oft wird geradezu für die antipathische, abstossende, entschieden ; je- doch für gewöhnlich nicht absichtlich, sondern auch wieder in Folge eines nervösen „Muss" diesmal, weil die anfängliche Scheu vor dem Widerlichen eine convulsive Neigung wachruft in Form des „Kitzels", und so gerade das Widerliche in den Sinnesempfindungen, das Barocke und Paradoxe in den Strebungen der Kranken anzieht. Ohne Zweifel wurzelt in dieser physiopsychologischen Verkettung zum grossen Theile die wunderliche Sucht dieser Kranken nach Origina- lität, der unwiderstehlich prickelnde Hang zum Widersprach, zum Nörgeln und Disputiren dieser dritte Hauptzug im hysterischen Wesen. Daran d. h. an diese unwillkürliche Verkettung knüpft sich endlich aber auch die bewusste Reflexion der Kranken über diese Eigenart und der schliessliche Hang nach Auffälligkeiten, die schlecht verhüllte Absichtlichkeit sich um jeden Preis „interessant" zu machen. Ausserdem bringen auch Viele, namentlich solche mit originär neuro- patbischer Anlage, einen gewissen Zug erhöhten Selbstgefühls mit, welcher sie von jeher ebenso empfindlich gegen die Frictionen des Lebens als eingebildet in ihrer eigenen Werthschätzung macht. Es ist eine verhängnissvolle Erfüllung des alten Spruchs: dass der Mensch das Maass der Dinge sei wenn dieser Maassstab seine schwankenden Pole in der jeweiligen Stimmunglage kranker Ner- ven trägt!

Daraus resultirt der nie fehlende Egoismus dieser Kranken der vierte Charakterzug. Gewohnt immer auf sich zu achten, aber auch immer wieder an ihren Körper gemahnt durch die krankhaft gesteigerte nervöse Empfindlichkeit, machen sie auch den Anspruch, in ihrer Leidensflllle als „Dulderinnen" entsprechend anerkannt und berücksichtigt zu werden. Während sie in ihren Rechten sich immer höher steigern, vergessen sie ihrer Pflichten gegen die Um- gebung: sie vernachlässigen ihre Berufsaufgabe, werden unempfind- lich für das Leiden Anderer, indolent für die grossen Ereignisse des Tages.

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Das hysterische Irresein.

Aber der Proteus der Krankheit erschöpft sich nicht in dieser Richtung der erwähnten Charakterzüge. Oft ist gegentheils eine Ueberbethätigung altruistischer Gefühle und Strebungen vorhanden; die bis dahin nur auf sich zurückgezogene Kranke beginnt Werke der Wohlthätigkeit zu üben, vermag sich darin nicht genug zu thun. In der That darf die jetzt oft unermüdliche Bethätigung, an sich und durch die Weise wie Jene plötzlich sich und ihr tausendfaches „Weh und Ach" vergessen konnte, manchmal ihres Gleichen suchen. So finden sich namentlich auf dem Gebiete der Krankenpflege solche staunenswerthe Leistungen hysterischer Kranker, welch letztere kurz zuvor noch als Convulsionäre den Rath des Arztes auf schwere Proben gestellt hatten. Gewiss liegt diesen hysterischen Grossthaten viel- fach ein egoistischer Zug das Streben anerkannt und bewundert zu werden zu Grunde; aber für alle Fälle ist dies auch wieder nicht zutreffend. Es gibt ohne Zweifel darunter viele edle Naturen, welche nur durch ein hohes, echt sittliches Streben der Krankheit ihr Können abrangen im wahren Sinne „durch die Macht des Gemütbs ihrer krankhaften Empfindungen und Gefühle Meister wur- den." Freilich leider nur vorübergehend; denn in der Regel folgen auf diese Parforceleistungen rächende Ermattungen ein weiterer Charakterzug im hysterischen Temperament, welches überall und immer den Gegensatz des „Stetigen" repräsentirt , auch darin die Krampfnatur bewahrend: erst Ueberleistung, dann Erschlaffung, und zwar meist in periodischen Schwankungen wechselnd.

Den verhängnissvollsten Eingriff in das Gemüthsleben übt die Hysterie durch ihre Schädigung der moralischen resp. ethischen Ge- fühle im engeren Sinne. Glücklicherweise betrifft dieser Charakter- zug nur einen Bruchtheil der Fälle und zwar die schwersten Grade, so dass derselbe im psychischen Symptomenbilde das eigentlich degenerative Element des hysterischen Charakters darstellt. In seinen Grundzügen, richtiger in seiner negativen Entfaltung, lag derselbe bereits im Egoismus der Kranken (s. oben) ausgeprägt. Doch betraf er hier vorwiegend nur die sittliche Schwäche, den Mangel alt- ruistischer Gefühle und Neigungen als Folge der krapkhaften Con- centrirung aufs eigene Ich. Hier aber tritt er activ auf in der Form moralischer Perversion als krankhafte Bosheit, Verlogenheit, Ver- läumdungssucht, Cynismus und macht diese Kranken mit Recht in ihrer Familie unmöglich, in der Anstalt, dem einzigen Deteutions- orte, gefürchtet.

Eine besondere Erwähnung verdienen die nicht selten ganz auoroalen Sexualgefühle. Die bezüglichen Verirrungen (Masturbation, conträre Se-

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Hysterischer Charakter (Temperament)

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xnalempfindung, Amor lesbicus u. s. w.) werden auf keinem invaliden Ner- vengeistesleben häufiger betroffen, als auf dem phantastisch schranken- losen, überreizt erregbaren der Hysterie. Namentlich ist auch des, glücklicherweise nicht so häufigen, krankhaft gesteigerten normalen Ge- schlechtstriebes zu gedenken, welcher disponirte Mädchen und selbst in glücklicher Ehe lebende Frauen zu Messalinen werden lässt. Ich kenne Fälle, wo bereits auf der Hochzeitreise Fluchtversuche mit Männern aus zufälliger Begegnung gemacht; wo geachtete Frauen Liaisons ohne Wahl anknüpften und in unersättlicher Gier jede Würde opferten. Interessant ist, dass dieser ethisch perverse Trieb manchmal nur periodisch auftritt mit noch andern geistigen und auch nervo» - trophischen Begleitzeichen eines krankhaften Exaltationszustandes. Oft arbeitet sich in der Folge ein langsam zunehmender chronischer Eifersuchtswahn heraus (welcher forense Wichtigkeit bekommen kann durch Attentate auf den Ehemann resp. Geliebten) mit oft frappirender Schonung der übrigen geistigen Per- sönlichkeit (s. Moral Insanity und Erotomanie unter Zwangshdlgn.).

In diese Rubrik gehört namentlich auch die Tendenz der Kran- ken ihre Leiden zu Ubertreiben, zu simuliren oder zu dissimuliren, je nachdem es ihrem krankhaften Drange zum Wichtigthun entspricht

Für die klinische Würdigung dieses Symptoms der ethischen Depra- virung sind zwei Momente in Betracht zu ziehen: das eine liegt auf dem Gebiete des krankhaft gesteigerten Empfindungslebens und rückt für den ärztlichen Beurtheiler die „unmoralische" Handlungsweise dieser Kranken unter die Classe der Reflexacte, bei denen ein anomaler Drang (Sexual- empfindung) zur gebieterischen Erfüllung treibt, weil das cerebrale Hem- mungsvermögen geschwächt ist. Die Kranken reagiren hier als Kinder. Ein zweites Moment ist die Uberwuchernde Phantasie dieser Hysterischen, wodurch sich die sinnlichen Reize in Nacht- und Tagesträume Ubersetzen, in Romane', welche in das wache Bewusstsein hineinwuchern, Wahrheit und Dichtung, Erlebnisse und Sehnsuchtsgedanken zu Einem Gusse ver- einigen und den Kranken als Wirklichkeit imponiren. FUr die classische „Bosheit und Rachsucht" der Hysterischen ist die depressive Gemüths- gmndlage nicht zu Übersehen, der leise oder offene Verfolgungs- oder Beeinträchtigungswahn aus dem Gefühle der Gekränktheit und der feh- lenden Geltung welcher die Kranken bitter macht, ihrer Brust den Haas und ihrer Zunge den Stachel leiht. Zur „Lügenhaftigkeit" der Hy- sterischen kommt als ein weiteres Moment hinzu, dass auf dieser Krank- heitsstufe die Reproductionen sich nicht mehr treu und echt einstellen, sondern nur mehr weniger gefälscht, aber ohne dass die Kranken es merken. Diese „lügen" deshalb nur scheinbar; in Wirklichkeit thnn sie es optima fide; sie selbst sind die Getäuschten (s. auch Mor. Ins.).

Dieser Punkt führt uns zur kurzen Betrachtung des Vorstellungs- lebens im Status bystericus. Neben und auf Grund einer reichen intellectuellen Begabung und Ausbildung, welche namentlich an Leb- haftigkeit der Entfaltung, an Raschheit und vielseitiger Gewandtheit den gesunden Zustand oft weit Ubertrifft , besteht eine krankhafte

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Das hysterische Irresein.

Neigung zu allerlei Barockheiten, zur Beschäftigung mit den ent- legensten Wissensgebieten, und in Allem eine Methode der Erfassung, welche ungleich mehr in die Breite als in die Tiefe geht, neben philosophirendem Aufputz oft recht ungeschickt in der einfachsten Logik bleibt Geistreichthun und Beschränktheit in Einer Person. Die ästhetischen „Blaustrümpfe" beziehen ihr grösstes Contingent aus den Reihen der Hysterischen. Ausser dieser Schiefheit und Disharmonie der Entwicklungsrichtung im Allgemeinen welche übrigens kein Grundzug, wenn auch sehr häufiges Vorkommniss ist; viele Hystericae sind Typen einer wirklichen echten Geistesbildung kommen specifisch krankhafte Mißsverhältnisse im Vorstellungs- leben vor und auch Neigung zu wirklichen formalen Störungen (s. o). Zu den erstem gehört das abnorme Ueberwuchern der Phantasie Uber die intellectuellen (reflectirenden) Functionen; zu den letztern die grosse Disposition der Hysterischen zu Zwangsvorstellungen. Die gesteigerte Phantasiethätigkeit dieser Kranken zeigt sich in der Ge- neigtheit zu bilderreichen Perceptionen, namentlich zur Allegorisi- rung von Sinnesempfindungen (die Hyperästhesieen, speciell der Vis- ceralnerven, liefern hierzu ein sehr dankbares Material), ferner zu lebhaften Träumen, zu Illusionen und Hallucinationen, zu Wach- träumen, welche schliesslich beliebig d. h. willkürlich von dem Kranken zu produciren sind. Am meisten und verhängnissvollsten tritt aber die Macht der Phantasie zu Tage in der Fähigkeit der Kranken, Leidenszustände spontan concipirte oder an Andern be- obachtete — in Wahrheit sich „einzubilden", so dass sie in der Folge selbst daran wirklich leiden.

Hieher gehören ans früheren Jahrhunderten die Stigmatisirungen, aus unserer Zeit die epidemisch auftretenden d. h. gegenseitig abge- lauschten Zuckungen und Krämpfe, nicht minder aber auch die zauber- haften, plötzlichen Genesungen, welche bekanntlich oft auf harmlose In- gredienzien erfolgen, wenn nur die Phantasie mit dem Zukunftsbild sicher eintretender Heilung erfüllt ist.

Die Zwangsvorstellungen (s. d.) sind theils emotiver, theils in- tellectualer Natur; sie treten bald als harmlose Schrullen auf, bald aber auch als furienartige Mächte, welche die Kranken zu allerlei albernen und unsinnigen Handlungen, nicht selten zu Selbstschädi- gungen oder zu Beleidigungen der Umgebung, ja zu förmlichen ma- nischen Reactionen treiben können, weil die Kranken des lästigen Eindringlings nicht mehr los werden, und zwar trotz klarer, kritischer Einsicht. Die Geneigtheit zu Wachträumen macht die Kranken zu periodischen Deliranten, als welche sie in wachem Zustande allerlei

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Hysterischer Charakter. Hysterisches Irresein.

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Erdichtungen als eigene Erlebnisse auftischen, oder in zeitweilige Ekstasen verfallen, mit mystischem Geisterverkehr.

Die Handlungsweise der Hysterischen im Allgemeinen richtet sich nach den im Vorstehenden geschilderten Prämissen resp. Ab- änderungen im intellectualen und GemUthsleben. Es erhellt daraus, in wie vielfacher Weise im Einzelnen die EntSchliessungen und Handlungen beeinflusst, und von der Norm abweichend modificirt werden müssen, welchen schädigenden Einflnss namentlich die ge- steigerte Gemüthsreizbarkeit und Reflexerregbarkeit mit Ueberrum- pelung oder convulsiver Ausschaltung der Reflexion ausübt.

Dadurch bekommt das Handeln der Hysterischen einen so auszeich- nend emotiven und krankhaft überstürzten Charakter. Viele Acte erfol- gen aber rein nur zwangsmässig d. h. sie gehen ganz unter dem Be- wuastsein hindurch. Die Kranken versichern oft in aller Ruhe, dass sie wie in einem Traumzustande manchmal Sachen thun müssten, wofllr sie absolut kein Motiv kennten; sie spürten einfach nur die Empfindung des Müsse ns, könnten aber die Ausführung beim besten Willen nicht hemmen, „ähnlich wie Maschinen". Für die besonders bevorzugten Hand- lungsrichtungen, wenigstens in gewissen Stadien des Status hystericus, ist namentlich auf die ethisch perversen Gefühle speciell vom Sexualgebiet aus hinzuweisen. Sie bilden die mächtig treibenden Factoren für manche abenteuerliche That dieser Kranken, welche bald mit dem romantischen Aufputz einer schrankenlosen Phantasie ausgerüstet nur wohlberechnetes Aufsehen erregen soll, bald aber auch durch die unterstützende Dialektik eines raffinirten Verstandes zu einer erschreckenden cause celebre führt. Die Kriminalstatistik aller Länder (einer der berühmtesten Fälle bleibt wohl der von La Ronciere) liefert Belege für das auf diesem Gebiete Mögliche eigentlich unmöglich Geglaubte.

Für das „normale" Wollen und Handeln der Hysterischen ist namentlich an die mehrfach schon betoute Periodicität zu erinnern, in welcher die psychische Curve dieser Kranken schwankt; so be- wegt sich denn manches einst viel versprechende Streben im steten Wechsel von Leistungskraft (oft Ueberleistung) und Ermattung, und zerrinnt an diesem aufgedrungenen organischen Zwange.

Körperlicherseits gehören zum Status hystericus alle die be- kannten Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen, sowie die sensorischen, va- somotorischen und trophischen Affectionen, wie sie der hysterischen Neurose eigen sind. Für die Entstehung der eigentlichen Irreseinszustände sind darunter die sensibeln und vasomotorischen Anomalieen am wichtigsten. Besonders hervorzuheben , als oft Jahre lang vorausgehende Schatten grosser Ereignisse, ist die sehr häufige heftige Migräne vieler Hysteri- scher, ebenso der menstruale Paroxysmus, welcher nicht selten von der Pubertät an ein wiederkehrendes wirkliches Kranksein bildet.

b) Das hysterische Irresein selbst ist ein ausserordentlich man- nigfaches. Es kann acut oder chronisch, vorübergehend oder dauernd

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Das hysterische Irresein.

auftreten. Symptomatologisch kann es alle klinischen Zustands- formen annehmen resp. durchlaufen enthält doch der Status hys- tericus die Elemente zur Manie, zum einfachen und katatonischen Wahnsinn, zur Verrücktheit und zum Blödsinn, leiht aber jeder dieser Erscheinungsweisen ein mehr oder minder specifisches Gepräge, so dass es bis zu einem gewissen Grade eine „ätiologische" Krank- heitsgruppe bildet. Schon die einfache gradweise Steigerung des hysterischen Temperaments nach Seite der Gemttthserregbarkeit und cerebrospinalen Hyperästhesie setzt einen klinischen Zustand zu- sammen, welchem wir bereits bei der Schilderung der Melancholie unter einer chronischen Abart der hypochondrischen Form begegnet sind (8. d.). Eine zweite klinische Form, welche in gewissem Sinne gleichfalls eine Steigerung des hysterischen Temperaments darstellt, ist das hystero- epileptische Irresein.

Die Veranlassung ist in der Uberwiegenden Mehrzahl der Fälle ein Schreck, wornnter namentlich (bei jungen Mädchen) sexuelle Attentate eine hantige Rolle spielen. Vorausgegangene körperlich schwächende und physisch degenerirende Momente, namentlich Masturbation, theilweise auch Excesse im Dienste der Venus vulgivaga, disponiren.

Bei genügendem Affectchok kann sich unmittelbar ein allgemeiner Krampfinsult mit Bewusstseinsverdunkelung und Delirium einstellen. An- deremale ist es der Reiz der menstrualen Ovulation, oder auch die Irri- tation von einer schmerzhaften Narbe aus, in deren peinliche Empfindung sich zugleich ein nagender Gram verwebt welche den ersten Paroxysmus einleitet. In einer weiteren Gruppe endlich ist keine dieser accidentellen Schädlichkeiten nachzuweisen, und der hystero-epileptische Insult stellt sich als die einfache Folgeentwicklung der hysterischen Gesammtconstitution dar (8. o.), nachdem transitorische Paralysen, sensuelle Anästhesieen, Hyper- ästhesieen , periodische Ruhe und Aufregung u. s. w. Jahre lang voraus- gegangen waren.

Der Krampfanfall tritt entweder plötzlich oder nach kurzen Prodromis, wobei die Kranken still werden, stieren Blick bekommen, manchmal auch weinen, Uber heftigen Stirnkopf-(Ovarial )Schmerz klagen, in Scene. Der Insult selbst kann nun auftreten: 1. in Form der bekannten hystero-epi- leptischen Convulsionen mit Hiustürzen, Um-sich-Schlagen, Grimassiren des Gesichts, Beissen, Spucken u. 8. w., wobei aber die motorischen Entäusse rungen nicht einfach nur Reflexacte, sondern zugleich das deutliche psy- chische Gepräge eines dämonomanischen Wahnes resp. der Abwehr gegen feindliche Verfolger oder llallucinationen darstellen. Manchmal trägt das Chorea magna- artige Gebahren die Form von blindheftigen Angst- handlungen als Reaction auf schreckhafte Delirien. Oder aber 2. der Anfall bildet einen förmlichen tobsüchtigen Wuthparoxysmus mit gewalt- tätigen Tendenzen gegen sich oder die Umgebung (psychisches Aeq tri- valent für den hysterischen Krampfparoxysmus, wie die Mania furiosa für den epileptischen Insult). In einer oder der andern Erscheinungsweise ist der Anfall begleitet von Delirien resp. von plötzlicher illusorischer

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Ilystero-eplleptisches Irresein. Krankheitsbild. Verlauf 241

Verkennung der Umgebung, wobei der delirante Inhalt oft mit einer pein- lichen Genauigkeit (selbst bis auf die vorgebrachten Scheltworte) die Er- innerung an den ursächlichen Affectchok wiederholt. Die „Verfolger" erscheinen in allegorisirter Gestalt als „Teufel" oder „Dämonen". Da- zwischen tauchen aber auch halblucide Momente auf, in welchen die Kranke auf Fragen richtig antwortet, gehörte Worte verdreht, daran so- fort zornige oder schmerzliche Ausbrüche knüpft, die Entrüstete, die Ver- zweifelte, die Märtyrerin spielt um, wenn die mimische Sprache ver- sagt, in ihrem Krampfspiel sich weiter auszutoben. Druck auf die Ovarien erhöht (manchmal gegentheils sistirt) die „krampfige" Aufregung. Nach flberstan de nem Anfall, welcher bis zu einigen Stunden (oft in mehreren Acten mit eingeschobenen Ruhepausen) dauern kann und ohne Tempe- raturerhöhung verläuft, folgt ein stupuröser Erschöpfungszustand mit ge- müthlicher Depression und grosser Reizbarkeit, welcher nur langsam wie- der in die Norm abklingt. Die Erinnerung ist eine summarische und reicht gewöhnlich nicht über den Anfang des Anfalls hinaus. Für die Anfallshöhe, bei stärkeren Attaken, besteht Amnesie (Uebergang zu den epileptischen Zuständen). Bei keiner der hysterischen Psychosen treten früher und beschwerender, als bei dieser, die perversen ethisch dege- nerativen — Symptome hervor, und bilden einen chronisch protrahir- ten Irreseinszustand, welcher zu den ernstesten der gesammten klinischen Psychiatrie gehört. Das hysterische Temperament nach der schwersten Seite seiner Entwicklung bricht sich Bahn und verbindet sich mit den immer bereiteren Krampfattaken, so zwar, dass diese jeden versagten Wunsch, jeden unbefriedigten Anspruch, endlich jede kleinste Verletzung der gesteigerten Empfindlichkeit der Kranken begleiten. Gemeinsam wer- den alle diese „Kränkungen" schliesslich nur mit der Einen Sprache eines convulsiven Anfalls beantwortet; ein einziges Wort genügt, um die Kranke zu unbändiger motorischer Entfesselung und der affect vollsten Verwirrung zu bringen, so dass sie toto de coelo zu toben beginnt, Alles zerschlägt, rücksichtslos gegen sich und Andere wüthet. Das sind die mit Recht so gefürchteten chronischen hystero- epileptischen Kranken. In der Zwischenzeit sind sie meist anscheinend timide, betreiben aber hinter- rücks um so reger das Geschäft der Verhetzung, der Verläumdung und Ränkesucht. Gelingt es, durch die schwierigste aller Therapieen solche Kranke nach und nach aus ihrer „Convulsibilität" zu befreien und „zu- rück-zu-erziehen", so werden sie nicht selten wieder sich und der Aussen- welt, zu bescheidener Functionsleistung zurückgegeben; meistens droht aber die Recidive. Bei nicht günstigem Verlaufe bleiben sie die schwere Crux jedes Anstaltslebens und gehen nach und nach in psychischer Schwäche unter. Dabei können die früheren tobsüchtigen Attaken in Anfälle von temporärer Stupidität sich transformiren , in welchen die Kranken eine rudis Moles bilden mit plumpem Gesichtsausdruck und mehr minder voll- ständiger psychischer Gebundenheit (namentlich Gemüthsstumpf heit) ; manchmal blitzen auch jetzt noch furiöse Raptus auf ; merkwürdigerweise aber kommen auch bei jahrelangem Verlaufe d. h. wiederholten Recidiven mit progressiv schwererem Charakter noch „Heilungen", natürlich mit entsprechendem psychischen Defect, vor.

Schftl«, G einUek rank hei tea. 3. Aufl. 16

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Das hysterische Irresein.

Zu den häufigsten acut auftretenden Irreseinsformen der Hyste- rischen gehören die Dämmerzustände und Ekstasen, welche, einmal „eingelebt", eine ausserordentlich zähe Persistenz annehmen können, so dass deren Eintritt nicht nur an immer kürzere perio- dische Schwankungen im Nervenleben geknüpft ist, sondern in dag Willensbelieben der Kranken gestellt wird (spontaner Hypnotismus).

Die Ekstase Visionszustand besteht in einem temporären Per- ceptionsabschluss nach aussen und Concentrirung der Aufmerksamkeit auf hallucinatorische Innenvorgänge. Sie hat verschiedene Stufen, entspre- chend dem Grade der Perceptionsfähigkeit, welch letztere theils nur ver- mindert, theils aber auch 'ganz aufgehoben ist. Alle diese Grade und Stufen gehen in einander Uber. Intercurrirend kann die Ekstase bald vorübergehend auf Grundlage eines einfachen hysterischen Temperaments auftreten, bald als Theilerscheinung (transitorisches Symptom) verschie- dener hysterischer Irreseinszustände. So complicirt sie den dämonomanen und erotischen Wahnsinn, ganz besonders aber die acuten hallucinatori- schen Formen. Der Eintritt kann plötzlich oder in raschem Anstieg der Bewusstseinsverdunkelung erfolgen. In den Anfällen selbst besteht katalep- tische Starre mehr minder hohen Grades, ohne und mit Flexibilitas cerea (manchmal, bei leichteren Anwandlungen, werden träumerische monotone Actionen vorgenommen), die Augen sind starr auf einen Punkt geheftet oder auch fest zugekniffen, die Pupillen weit, manchmal in hippusartiger Bewegung. Dabei mehr minder vollständige Anästhesie (selbst der Con- junetiva), oft marmorartige Blässe, anderemale aber auch gegentheils con- gestionirter Kopf, tarder, seltener, oder aber klopfender frequenter Puls. Die Dauer des Zustandes kann einige Augenblicke oder auch Stunden betragen ; die Rückkehr zur Besinnung erfolgt theils durch kräftiges An- rufen, oder Hautreize (kaltes Wasser), oder gewaltsames Oeffnen der Li- der; oft geschieht das Erwachen unter heftigem Grimassiren des Gesichts, Seufzen, winselnder Abwehr gegen jede Berührung. Der Inhalt des in der Ekstase „Geschauten" wird nicht selten sorgfältig von den Kranken verborgen gehalten; anderemale erfährt man aus den Bekenntnissen der- selben oder aus ihren singend recitirten Faseleien während des An- falls, dass sie in Verbindung mit himmlischen Geistern, mit Abgeschie- denen, mit ihrem „heiligen Schau-Bräutigam" sich gefühlt, oder in wan- delnden Decorationen aus richtigen Wahrnehmungen und phantastisch aus- gesponnenen Bildern, in welchen sie selbst „wachend" mitmachten, gelebt hätten. Diese Anfälle können in grösseren Zwischenräumen, manch- mal auch täglich vorkommen; dieselben können im chronisch hysterischen Irresein längere Phasen bilden, welche kommen und gehen, hie und da aber auch nach Monate langem Bestehen für die übrige Krankheitsdauer verschwinden.

Die hysterische Melancholie. Der klinische Typus entspricht im Grossen und Ganzen der gewöhnlichen Melancholie, und bietet oft nur dieser entsprechende klinische Bilder. Gewöhnlich sind aber auch charakteristische hysterische Züge beigemengt.

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Dämmerzustände. Hysterische Melancholie.

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Als solche möchte Ich bezeichnen: a) wesentlich stärkeres Hervor- treten des mitbegleitenden neuralgischen Elements, gegenüber der „rü- stigen" Melancholie. Die zahlreichen, sehr prägnanten Sensibilitätsstö- rnngen unterhalten nicht bloss einen sehr lebhaften Circulus vitiosus, sondern schaffen auch einen Status hypochondriacus neben und zu dem melancholischen, welcher oft phasenweise mit letzterem abwechselt. Die hypochondrisch-melancholischen Klagen selbst sind maasslos übertreibend nnd zugleich phantastisch-überschwänglich, oft mit verblüffenden sprach- lichen Bezeichnungen und Vergleichen (hereinragender Zug von Verrückt- heit!). Die Kranken sind „ausgehöhlt", sie „verbrennen innerlich"; sie haben ein Schwächegefühl, als ob sie „wie ein Fackeltanz innerlich aus- löschten" ; anderemale fühlen sie sich „dick werden wie ein zugebundener Schwartenmagen" u. s. w. b) Unvermittelt impulsive Raptus melancho- lici sind hier relativ viel häufiger, als in der gewöhnlichen Melancholie. Manchmal stellen sich auch paroxysmelle Zwangsbewegungen ein : wirbel- artiges Herumrutschen auf dem GesBss, Nickkrämpfe mit dem Kopfe, Grimassen mit dem Gesichte. Oft gehen starke vasomotorische Fluxionen zum Kopfe mit Herzpalpitationen und sehr hoher Pulsfrequenz mit einher. Dabei oft jäher Umschlag in eine componirtere Stimmung, oder umge- kehrt aus dieser in die motorischen Raptus, c) Zeitweilige Anfälle von Lach- und Weinkrämpfen, Globussensationen, Ischuria, oft mitten in das melancholische Pathos hinein, d) Sehr bereites Auftreten von Hallucina- tionen, namentlich von Reflexhallucinationen. e) Polymorpher Wechsel verschiedener psychischer Zustandsformen ; dabei in fragmentarer Ausbil- dung und jähen Uebergängen; so namentlich im Krankheitsbeginn. Auf vage melancholische Unruhe folgt unversehens ein kurzer Furor; dann kommen Intermissionen, darauf (ganz atypisch) wieder Aufregungsphasen, bis endlich nach mehrwöchentlichem Krankheitsverlauf die definitive Me- lancholie sich ausgebildet hat. f ) Die depressive Stimmung ist selten so constant und consequent wie in der rüstigen Melancholie; sie ist gegen - theils meist schwankend und trägt einen inneren Widerspruch in sich: dicht neben dem thränenreichen Weltschmerz liegt ein hastiges Interesse für Vergnügen, neben dem „Sttndergefühl" eine begehrliche Anspruchsftllle und persönliche Empfindlichkeit; Grossthun durch Verschenken u. s. w. g) Erhaltung der hysterischen TemperamentszUge im melancholischen Krankheitsbilde: forcirte Uebertreibung des Schmerzes, absichtliches Schmerzbehagen, Demonstrationssucht, Bedttrfniss nach Anerkennung der „Scbmerzberecbti^ung", bei verletzter Empfindlichkeit Hass gegen den Arzt (Klage Uber Vernachlässigung), Neigung zur Intrigue u. s. w. h) Grosse Geneigtheit zu Zwangsvorstellungen (namentlich obseönen und blasphemi- schen Inhalts), plötzliche Impromptu'«, mit welchen sofort unter Thränen coquettirt wird (z. B. dass Angehörige plötzlich gestorben seien u. 8. w.).

In einer eigenen hochinteressanten Gruppe von hysterischen Melan- cholieen kommen mit den Zwangsgedanken auch Zwangsbewegungen und krampfhaft hervorgestossene Worte (oft im sinnlosesten Kauderwälsoh) vor, bei Erhaltung des Be wusstseins. In der Zwischenzeit ist die (der) Kranke deprimirt, weil sie sich in Folge dieses aufgedrungenen Zwanges bebext glaubt. Die Anfälle gehen aura artig von irgend einer Körper- steile aus, gewöhnlich vom Unterleib, beginnen mit dem Gefühle des Blä-

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lJas hysterische Irresein.

hens, des Luftausstossens ; dann „steigt es herauf" in den Kopf, worauf ein dramatisches Intermezzo mit Vociferiren , sinnlosem Gesticuliren, Schreien in allen Thierlauten (Bellen, Um-sich-beissen) sich anschliesst. Die Kranken proclamiren oft selbst ihre „Hundswuth". Sie bilden viel- fach noch die ergiebigen Objecte für Exorcismen. In einer andern bemerkenswerthen Beobachtung hatte eine obscöne Berührung bei der geschädigten Frau (Climacterium) erst heftige Selbstvorwürfe und dann eine hysterische Melancholie nach sich gezogen, deren psychischer Kern eine genitale Erinnerungshallucination in Form der bestän- dig gefühlten obscönen Handbetastung bildete.

Die hysterische Manie. Ein Theil der hierher gehörigen klini- schen Formen verläuft unter den Typen des acuten manischen Wahn- sinns, beziehungsweise des wahnsinnigen Furors; manche verlaufen periodisch als Mania menstrualis, andere unregelmässig periodisch als Aequivalente hysterischer Krampfanfälle (acute Erotomanie mit Raptus von Zerstörungsdrang, Ideenßucht, wechselnder Bewusstseins- lucidität, polymorpher Stimmung u. s. w.). Eine zweite Reihe hysterischer Manieen schliesst sich symptomatologisch mehr an die typischen Manieen an, jedoch mit einigen auszeichnenden (annähernd) specitischen Charakteren.

Letztere dürften etwa darin gelegen sein : a) in der Hegel sind nicht die luxuriirenden Bewegungen, sondern die Ideenflucht das am meisten hervortretende Symptom (pauseloses Schwätzen, Vociferiren, Verbigeriren); b) die „Ideenflucht" erfolgt vorwiegend nicht nach logischen Associationen oder nach Assonanzen, sondern besteht in abrupten Einfallen und kalei- doskopischen Wortvermengungen, wovon oft ein beliebiges herausgegriffen und förmlich zu Tode gehetzt wird. Oft stundenlanger „Frage-Zwang" in Monologform, oder auch als Dialog mit Halluzinationen.

Stylprobe: Wer rechnet Regenbogen? Wer zimmert Aepfel? Wer hat Köpfe zu verlieren und Knöpfe zu zählen? Herr Kaiser, wer hat die Ehre auf einem Schiffe Luftballon zu tanzen ? Herr Papst, wer ist Ihr unterer Schiffsagent und Thierbändiger? Wie heisst Ihr schönster Maler? 1. 2. 3. Geben Sie mir das Licht 10 mal, 25 mal, 95 mal, 1000 mal u. s. w.

c) Die Halluciuationen sind zahlreicher als in der typischen Manie, aber nicht so Überwiegend und auch nicht so imperativ als im manischen Wahnsinn. Ihre Färbung ist keine stetige, meist depressiv- exaltirt ge- mischte. Sehr oft werden sinn- und associationslose Worte zugerufen.

d) Die Stimmung ist flüchtig, in Extremen umspringend, enthält aber einen durchgehenden Grundzug von Disputirsucht und grillenhaftem Eigensinn.

e) Sehwankende Bewusstseinshelle wie im manischen Wahnsinn in einer Stunde lucid, in der nächsten dämmerhaft oder hallucinatorisch ver- dunkelt, f) In den motorischen Aeusserungen geht Willkürliches und Unwillkürliches regellos und abrupt durcheinander (Zerstören von Gegen- ständen, Dreinschlagen, stürmisches Liebkosen, kindische Einfälle, zwangs- mässige Marionettenbewegungen , schauspielerisches Coquettiren u. s. w.). g) Mitbegleitender Globus, Pica, vasomotorische Rash's.

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Hysterische Manie. Hysterischer Wahnsinn

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Der Verlauf dieser Formen ist in der Regel protrahirt (mehrere Mo- nate), und geht erst durch ein Stadium aufgeregten hysterischen Tempe- raments hindurch. Recidiven mit znnehmend erschwertem Charakter sind häofig.

Der hysterische Wahnsinn (Verrücktheit). Keine der bisher be- sprochenen Formen des hysterischen Irreseins ist so nahe mit dem hysterischen Temperament verknüpft, als gerade die Paranoia. Man kann dieselbe theilweise als die naturgemässe Weiterentwick- lung und Ausreifung der hysterischen Anlage bezeichnen, und somit in gewissem Sinne als die typische Erscheinungsweise des hysteri- schen Irreseins.

Typus 1 wandert in die originäre Verrücktheit (s.d.) über, deren directe Vorfrucht der constitutionelle Ilysterismus bildet. Der spätere Verrücktheitszustand stellt im Wesentlichen die „Hypertrophie" des hysterischen Charakters dar.

Typus 2 wird durch den hypochondrischen Wahnsinn gebildet (s. d.). Auch dieser Verlauf bildet nur die Weiterentwicklung der hysterischen Anlage. Charakteristisch ist wiederum die phantastische Cmdeutung der hysterischen Sensationen (Einschrumpfung von Innen- organen, Dislocationen, Fehlen und Schwinden derselben u. s. w.). Manch- mal schliesst sich eine exaltirte Transformation an, oft aber auch gegen- theils eine tief depressive Reaction. Interessant sind die Reflexillusionen dieser hysterischen Hypochonder: weil sie sich im Kopfe hohl fühlen, so sind auch die andern Personen „Simpel" geworden ; weil sie abnorme Sensationen in ihrem Rücken haben, so hat sich auch die Umgebung in „Bucklige" und „Krüppel" umgewandelt.

Ein 3. Typus ist von eminent chronischer Natur und besteht kli- nisch aus der excessiven Steigerung der hysterischen Launenhaftigkeit, der Sucht nach barockem demonstrativem Gebahren, der Unterwürfigkeit unter allerlei Einfälle auf der weitern Grundlage eines der Welt sich immer mehr entfremdenden Egoismus. Es sind die Gegenbilder der ein- gefleischten männlichen Hypochonder. Dadurch entstehen die häuslichen Störenfriede, die unsocialen, anspruchsvollen, unerschöpflich klagereichen, dabei grillenhaften Virtuosinnen der sensibeln Nerven, welche sich für jedes Zusammenleben unmöglich machen, schliesslich eine Einsamkeit sich gründen, in welcher sie ihren phantastischen Erfindungen nachhängen und ihren barocken Einrichtungen (verzwickte Toiletten) leben. Viele erhalten lange ihre geistige Klarheit.

Ein 4. Typus ist vager Verfolgungswahn, inhaltlich wechselnd und ohne Systematisirung, gewöhnlich mit erotistischen Richtungen verquickt, auf Grundlage einer launenhaft schwankenden, meistens gereizten Stim- mung, und eines in lauter Einfälle und Antriebe zerfahrenen geistigen Lebens. Häufig gehen Hallucinationen mit einher. Das Krankheitsbild im Ganzen trägt die Züge einer Moria: beständig wechselnde, in allen Extremen umspringende Gemüthslage, grosse Reizbarkeit mit rücksichts- loser Reaction, sittliche Schwäche u. s. w., intercurrente manische An-

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2iC

Das hysterische Irresein.

fälle (oft periodisch menstrual). Dazwischen auch wieder lacide, ge- mtlthlich componirte Phasen. Der chronische Krankheitsverlauf besteht aus einer Reihe unberechenbar, in den schroffsten Uebergängen, an ein- ander gereihter Episoden. In den erotischen Phasen besteht gewöhnlich grosser Drang zur Masturbation. Genesung ist möglich, aber Recidive- fäbigkeit gross. Bei ungünstigem Verlauf Untergang in immer grössere psychische Schwäche mit Erhaltung des gezeichneten Typus.

Der 5. Typus wird von den acuten „abortiven" Wahnsinnszustän- den in Form von plötzlichen Zwangsgedanken gebildet. Die Paroxysmen begleiten manchmal die Menstrualepoche, können aber auch ausserhalb derselben auftreten (s. acuter Wahnsinn, Typ. I). Es kann sich aber auch ein protra hirter Irreseinszustand mit paroxysmenweise auftretenden Zwangsgedanken, -Empfindungen, -Impulsen, ev. auch im- perativen Hallucioationen neben begleitender Lucidität, später mit reac- tiven melancholischen, manischen und stupid-blödsinnigen Episoden her- ausbilden. Beginn mit Eifersuchtswahn, abwechselnd mit stürmischer Libido; in der Folge transitorische Furoranfälle gegen den Ehemann (Beissen, Treten, gemeine Schimpfworte), oder Zerstören von Gegenständen der Umgebung bei erhaltenem Bewusstsein. Mit den impulsiven Raptus (Menses) wechseln zerknirschte Reueperioden. Immer umfänglichere Aus- bildung des psychischen und psychomotorischen Krampfzustandes (Gri- massirungen des Gesichts, plötzliches Herumspringen auf Möbel u. s. w.), theatralische Selbstbeschädigungen, Einstechen von Nadeln in's Gesicht u. s. w. mit sofortiger Rückkehr zur Besinnung und Beherrschung, sowie ein gebietendes Wort gesprochen wird oder eine autoritäre Person eintritt Die Phasen der Depression bestehen oft in wochenlanger Bettsucht mit Indolenz gegen Familie und gegen sich; anderemale in monotonem Reci- tiren derselben Selbstvorwürfe Uber verlorenes Leben, mangelnde Selbst- zucht; nicht selten geht ein kleinlicher Geiz mit einher. In den Exal- tationsperioden sentimental gehobenes Selbstgefühl mit überschwenglichem Unternehmungsdrang (Dichten, Componiren u. s. w.) bis plötzlich wieder eine „Krarapfattake" dazwischen blitzt, um so verletzender für die Umgebung, als die Kranken im Maass ihrer Kränkungen sich kaum genügen zu können scheinen, am schmerzlichsten aber für die letztern selbst, welche wissen, wie wehe sie thun und es doch nicht hemmen können. Hin und wieder freilich behaupten sie, gar nicht mehr zu wissen, was sie thaten. Der geschilderte Zustand kann (durch Besserung des Uterinleidens?) insofern sich mildern, als die Attaken seltener werden, oder aufhören, und der periodische Wechsel zwischen Exaltation und Depression, obwohl bleibend, doch in seinen grellen Contrasten sich mildert. Der Zustand kehrt wieder in die Grenzen des hysterischen Temperaments zurück. Bei nicht günstigem Verlaufe werden die Zwangs- gedanken zum fixen Wahn mit zeitweiligen reactiven Paroxysmen und beständig drohenden impulsiven Raptus, neben einer tieferen Gemüths- abstumpfung. Die Gefühle für die Familie schwinden, ein niedriger Egoismus greift uro sich, die Sorge für das Decorum geht unter (lässige Toilette, Unredlichkeit). Sehr häufig, unter wachsender Fettsucht, nimmt die geistige Schwäche auf allen Gebieten zu; dabei erhält sich manch- mal noch lange ein spielendes Interesse für frühere Liebhabereien ; nicht

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Hysterischer Wahnsinn. Klinische Typen.

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selten aber auch ein intriguanter Zug mit Neigung zu Entstellungen und rechtfertigender Dialektik (hysterische Degeneration).

Der 6. Typus verläuft im Symptomenbilde des katatonischen Wahn- sinns, entweder nach dessen dämonomanischer Form, oder nach dem Typus des hallucinatorischen Stupors. Die Einleitung ist entweder: 1. eine allmähliche, aus einem schon länger dauernden Hysterismus mit tiefer Anämie heraus (in 2 meiner Fälle spielten dabei Sorgen um ein vorhandenes Uterinleiden eine grosse Rolle ; bei beiden fiel merkwürdiger- weise der Beginn der acuten psychischen Erkrankung mit der Einleitung der gynäkologischen Cur zusammen); ein vager Depressionszustand mit vorwiegend farbloser Stimmung und abulischem Wesen, zeitweilig unter- brochen durch barocke Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, leitet die Scene ein. Oder 2. es kann ein hypochondrisches Stadium mit zeit- weiligen hysterischen Krampfanfällen und sonstiger Lucidität des Be- wußtseins vorausgehen, mit centralen Gemeingeflihlstäuschungen und Reflexhallucinationen (die Kranke sieht ihren Kopf im Spiegel falsch auf- gesetzt, die Nase translocirt u. s. w.), und nach kurzem Zwischenstadium (mit rathloser Aengstlichkeit, zerstreutem Wesen) in den Stupor Uber- gehen. Oder endlich 3. die Entwicklung der Psychose erfolgt nach einem Prodromalstadium hallucinatorischer Verwirrung mit Giftfurcht und Nah- rungsverweigerung und heftigem Widerstand gegen jede Annäherung ; an dieses schliesst sich sofort der Stupor an.

Es scheint fUr die katatonen Wahnsinnsfälle von ausgeprägt hyste- rischer Grundlage charakteristisch zu sein, dass sie sowohl in den Vor- ais in den Nachstadien der eigentlichen Stuporphase einen ausserordent- lichen Polymorphismus von jäh in einander umspringenden klinischen Zustandsformen darbieten: Grübelsucht mit peinlichster Scrupulosität und massiger Depression wechselt mit hallucinatorischen Phasen; diese mit Zwangsgedanken, Symbolisirungen ; die letztere Phase wieder mit deli- rantem Fabuliren; darauf kommt wieder eiae melancholische, vorwiegend abulische Episode mit sentimentalen Contrastschätzungen (sie selbst sind schuldbeladen und klein; die Andern erklärte Tugendideale); dann wieder lucide, in welchen die Kranken mit peinlichst detaillirten Krankheits- mittheilungen sich ermüden und so schwankt der Zustand hin und ber, bis endlich Nahrungsverweigerung, Mutacismus und Attonität heran- rückt. Der Stupor selbst zeichnet sich häufig durch eine starke Be- gleitung von motorischen Krampferscheinungen aus: klonische und to- nische Zuckungen manchmal bis zu Opisthotonus; dann heftige Rash's zum Kopfe mit gesteigerter Pulsfrequenz, manchmal auch Temperatur- erhöhung.

Löst sich der Stupor, welcher oft durch äusserst lebhafte Halluci- nationen innerlich belebt ist (Elektricitätsempfindungen und magnetische Strömungen), so ist in manchen Fällen für lange Zeit eine grosse psy- chische Schwäche vorherrschend, mit Zwangsantrieben, automatischen, stundenlang sich ableiernden Bewegungen, Verkennen der Personen, ab- soluter Rath- und Hilflosigkeit, wobei die (der) Kranke durch zufällige äussere Wahrnehmungen (Verkennungen) gebieterisch dirigirt, oft in den verzwicktesten Stellungen lange festgebannt wird. Dabei wechselt das klinische Bild von Stunde zu Stunde. Bald Mutacismus mit dämmerhaften

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Das hysterische Irreseln.

Acten (welche kaum begonnen, wieder durch contrXre durchkreuzt und vereitelt werden), bald stufenweise Lucidität, bald ein Aufgehen in Mi- nutenantrieben und -Stimmungen. Die (der) Kranke gleicht einer auto- matischen Drahtpuppe. Zorniges Aufbrausen, sentimentale Freundlich- keit, träumerische Phasen, moriaartige Tändeleien wechseln wie wandelnde Bilder. Manchmal schwindet auch das Bewusstsein der eigenen Person (er ist gestorben, redet von sich nur noch per „Er")« Dann kommt auch wieder natürlicheres Verhalten, aber in steter Gefährdung eines jähen Umschlags in blödes Lachen, confuses Fabuliren. Die Hallucinationen dauern während dieser Zeit lebhaft fort. Der Uebergang in die Ge- nesung, stets durch Hebung der Ernährung angekündigt, ist oft ein sehr rascher („es ist mir, wie wenn eine Binde von den Augen gefallen wäre"); die Reconvalescenz meist aber noch durch allerlei Steigerungen des ur- sprünglichen hysterischen Charakters vielfach unterbrochen. Recidive mit erschwertem Symptomenbilde ist nicht selten. Bei ungünstigem Verlauf (wozu übrigens auch noch die Typen des katatonen Wahnsinns einzusehen sind) bildet sich entweder a) ein chronischer Stupiditätszu- stand heraus, untermischt mit dämmerhaften Angstparoxysmen und im- pulsiven Raptus, und allmählichem Niedergang in apathischen Blödsinn (Fettwerden, Fettschweiss im Gesicht); oder aber b) ein chronischer ex- pansiver Wahnsinn. Die Entwicklung dieses letztern Zustandes geht durch ein poststupuröses Blödsinnsstadium mit ungeheurer Rathlosigkeit und conträrer Negation hindurch. Die intendirten Handlungen erfolgen nur staccato, die Willensimpulse selbst schlagen sofort in Hemmung um, so- wie man die zögernde Kranke durch Beihülfe fördern will; oder aber der erhobene Arm greift rasch und plötzlich zu gewöhnlich mit Ver- fehlen des Zieles. So sind auch die ersten Antworten, wenn die Kranken aus ihrem monatelangen Mutacismus erwachen, zögernd, unsicher, ver- legen, dann plötzlich hastig überstürzend; aber sofort wieder innehaltend. Bald überrascht auch ein treffendes witziges Wort. Im Ganzen lebt aber die Kranke noch in Einfällen und launenhaft wandelbaren Stimmungen. Anscheinend harmlos und zufrieden, kann sie auch plötzlich mit einem improvisirten Selbstschädigungsversuch überraschen. Aber unter dem äusserlich widerspruchsvollen Gebahren anscheinend ohne Interesse und Theilnahme, von Indolenz zu Zornausbrüchen unvermittelt Ubergehend, und dann wieder zu einem lieblich schmiegsamen Wesen setzt sich doch allmählich die frühere Persönlichkeit wieder zusammen (artisti- sche Fähigkeiten, Ciavierspiel u. 8. w. werden wieder begonnen); aber es scbliesst sich jetzt auch der Grössenwahn auf: die Kranke ist ein Kind von fürstlicher Abkunft, ist geadelt u. s. w. In der Folge können sich beide Gebiete neben einander abgrenzen, und so eine Heilung mit Defect zu Stande bringen. Es kann aber auch der Wahn activ werden, und durch die ständigen Aufregungen und Conflicte die Kranke einem immer ausgebreitetem secundären Schwächezustand zuführen.

Der 7. Typus endlich umfasst die Fälle von chronischem, unheil- barem Hysterismus mit Degenerescenzsymptomen.

Es lassen sich dabei zwei Unterformen unterscheiden, wovon die eine a) als eigentlich degenerativer Wahnsinn, die zweite b) als primärer hysterischer Blödsinn kurz zu bezeichnen ist.

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Chronisch degenerativer hysterischer Wahnsinn. 249

Untergruppe a. Chronisch degenerati ver hysterischer Wahnsinn.

Meistens hereditäre Anlage. Hysterische Charakterzlige in der see- lischen Entwicklung von Jugend an; auch Zwangsgedanken, Raptus me- lancholici. Früh entwickeltes Geschlechtsleben mit Neigung zu Selbst- befriedigung, mitunter auch zur Perversität. Oft glänzende, aber einseitige intellectuelle Begabung. Krankheitsentwicklung entweder acut (nach eingreifenden Gemtithsbewegungenj: Aufregung, Schlaflosigkeit, exaltirtes Wesen, in der Form der Mania mitis, zeitweilige hysterische Krampf- anf älle, bald primordiale Verfolgungshallucinationen ; in der Folge brüsker Wechsel zwischen manischen und depressiven (luciden) Phasen. Oder aber: allmähliche Krankheitsentfaltung ohne schroffen Uebergang aus dem hysterischen Charakter heraus, zunehmend schärfere Ausprägung des „impulsiven Charakters" in EntSchliessungen, Ansichten, Handlungen; kitzelnde Neigung zum Contrast mit gebieterischer Unterwürfigkeit unter einen periodisch wiederkehrenden Wechsel in Sym- und Antipatliieen, in der Wahl der Lebensweise, der Toilette, der Umgebung, der Liebhabe- reien. Immer fertigere Herausgestaltung eines periodischen Typus, auf dessen Acmestadien die sog. Krisen entfallen, während die Intervalle wenigstens Anfangs noch leidlich lucid bleiben. In den Krisen heftiges Aufwirbeln der Zwangsgedanken und Zwangsimpulse: Verfolgungs- und Grössenideen (namentlich aber erstere), Hallucinationen und Illusionen, gesteigerter Reproductionsdrang, plötzlich gewechselte Sym- und Anti- •patbieen beherrschen die Kranke, wann und wie sie einfallen, und wirken imperativ. Je nach dem Inhalt folgen heftigere oder mildere Furorreactionen (Zerstören von Gegenständen, stundenlange Aufschreie, Angriffe auf die Umgebung, oder beleidigende Kränkungen, Schmähungen aller Art in Worten und endlosen Briefen). Zunehmend steigert sich der Gedankendrang bis zur acuten Verwirrung, manchmal bis zum Verlust des PersönlichkeitsgefUhls, so dass, oft in heftigem Zornproteste, in Allem Verifikationen gemacht werden. Sonst erhält sich, mit Ausnahme dieser Höhestadien, das Bewusstsein mit einer merkwürdigen Lucidität. Die Kranke weiss ihre Verkehrtheiten und beurtheilt sie sogar richtig; aber sie kann ihr triebartiges Zerstörungswerk nicht hemmen, noch ihre In- vectiven in sich verschliessen ; sie muss pervers handeln und sprechen „wie ein Papagei". Nicht selten gehen gesteigerte sexuelle Dränge (Ent- blößungen, Masturbation, perverse Neigungen) mit einher; körperlicher- seits Fluxionen zum Kopf mit eiskalten Händen, Schlaflosigkeit. Form und Dauer der Krisen wechseln, selbst in demselben Krankheitsverlaufe. Manche werden auch durch unendliche Abulie, Schlafsucht, Neigung zur Unredlichkeit u. 8. w. mit raisonnirender Dialektik, Rückwärtsgrübeleien mit unerschöpflichem Verificationszwang ausgefüllt. Hin und wieder scbliessen sie sich an die Menses an. Auf die Uberstandene Krise folgt tiefe Abspannung, Bettsucht, reuevolles Nachempfinden; in andern Fällen tritt aber gegentheils Euphorie ein, wie nach einem reinigenden Ge- witter. In der Folge werden die Intervalle immer gedrückter und be- lasteter, die Kranke unausgesetzt schwerer krank, wenn auch daneben oft die Krisen selbst an Intensität einbüssen.

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Das hysterische Irresein.

Untergruppe b. Primäre hysterische Dementia mit De- generation.

Nach dem Alter der Betroffenen (jüngere Individuen) und den klini- schen Grundzilgen dürfte diese Untergruppe eine Modifikation der acuten Dementia resp. der Dementia praecox (s. hered. Neurose) bilden. Hit der acuten Dementia hat sie auch die zwei Verlaufsarten gemein: sie beginnt nämlich sowohl mit acutem hallucinatorischem Stupor, als auch ohne solchen als directes Stillestehen der bis dahin befriedigenden, ja hoffnungsreichen, geistigen Entwicklung, mit rapidem hemmungslosem Nie- dergang. Die Form des psychischen Schwächezustandes ist darnach ent- weder eine chronische Stupidität mit Dämmerzustand und Hallucinationen, oder aber eine Art wachen Zerfalls, dessen Signatur die ungeheuerste gemüthliche Indolenz und sittliche Apathie ist, während die intellectuellen Functionen noch leidlich, oft auffallend, wenigstens partiell, geschont bleiben können. Das Charakterisirende für den hysterischen Ursprung ist die Erhaltung des hysterischen Charakters auch im Blö(hinn: schwan- kende Bewusstseinsincidität, Neigung zu Zwangsgedanken, polymorpher Stimmungswechsel auf Grundlage einer sittlichen Degeneration, einer wirk- lichen Verrohung aller ethischen und socialen Eigenschaften; dazwischen treten allerlei hysterische Tics und Krampfzufälle, oft in den Aequivalenten eines vorübergehenden Furors. Ueberraschend ist oft der ungemein jähe Zusammenbruch des geistigen Aufbaues: schon aus der ersten hallucina- tori8chen Attake gehen die Kranken mit der fertigen Dementia hervor. Sie haben sich, ihre Gemüthsbeziehungen, ihre Lebensziele, ja selbst ihre. Würde vergessen, sie tändeln nur noch in stossweisen Anläufen einer sog. Beschäftigung, zerzupfen und zerschneiden plan- und ziellos, oft unter schallendem Gelächter. Zu anderen Zeiten sitzen sie schweigsam herum mit niedergeschlagenen Augen, mit hängender Gesichtsmaske, müssen ge- pflegt werden wie Kinder. Dazwischen treten die widersprechendsten Impulse raptusartig auf : Zuschlagen, Beissen und sofort wieder Küs- sen, grobe Verletzungen des Decorum und dann wieder Singen und Ciavierspielen in einförmig mechanischer Wiederholung derselben zufäl- ligen musikalischen Reminiscenzen. Zornige, zärtliche, affectiv heftige Scenen wechseln mit abulischem Dasitzen Alles abrupt, unmotivirt. Dann folgen auch wieder blöde Attentate gegen sich, wobei Alles ohne Wahl verschluckt wird, was die Kranke vorfindet. Nicht selten klingt durch die fragmentaren , vor sich hingelispelten Sätze ein „erotischer" Zug; anderemale wird stundenlang still und laut mit Stimmen verkehrt. Immer mehr geht die Kranke in ihrem zerfahrenen, von Sinnestäuschungen, Illusionen, Einfällen und plötzlichen Antrieben geleiteten Innenleben auf. Für frühere Erinnerungen, für die Forderungen des Tages ist kein Ver- ständni8S, für die einstigen Regungen des Herzens kein Interesse mehr vorhanden. Das stumpfe Hindämmern wird höchstens noch durch unmoti- virtes Lachen oder unverständliche Geberden, verworrene Worte und Aus- rufe, flüsternde Monologe mit allerlei dramatischen Pantomimen zeitweise belebt. Oft scheiden die Menstrualtermine noch bestimmtere psychische Perioden ab; aber auch diese Marke verwischt sich allmählich. Die Kranke muss längst zur Nahrung und Reinlichkeit angehalten werden. Der apathische Blödsinn ist ein stationärer, nur noch von zeitweiligen

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Degenerative hyater. Dementia. Therapie.

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Raptus von Schreien, Zerstörungs- und blindem Selbstschädigungsdrang in trauriger Abwechslung unterbrochen.

Therapie.

Bezüglich der Behandlung der Hysterie, welche die Grundlage für die der hysterischen Psychosen bilden muss, wird auf das ein- schlägige Capitel dieses Werkes verwiesen. Im Folgenden finden deshalb nur die allgemeinen Gesichtspunkte, und nur soweit sie auf unser specielles Gebiet Bezng haben, summarische Erwähnung. Da- neben ist auch die Therapie der Melancholie, Manie u. s. w. einzu- sehen, welche hier sich wiederholt, mit der erweiterten Indication der zu Grunde liegenden constitutionellen Neurose.

a) Somatische. Die hier in Betracht kommenden Indicationen richten sich nach der individuellen Ursache des hysterischen Nerven- leidens. Diese ist nie eine einfache, sondern stets combinirte; in der Regel handelt es sich 1. um Anomalieen der Blutbildung und Ernährung; 2. um eine mehr minder entwickelte genitale Neurose; 3. um hereditäre oder erworbene spinale oder cerebro-spinale Neur- asthenie. Je nach der verschiedenen Mischung dieser Componenten im Einzelfall ist auch die Therapie eine individuell verschiedene; stets müssen aber sämmtliche beachtet und bald gleichzeitig, bald nach einander in den umfassenden Curplan einbezogen werden.

Hierher gehört das grosse Capitel der Therapie der Chlorose und Anämie nach den Regeln der innern Medicin, mit der beson- deren Betonung, dass sehr oft nur eine lange und unentwegt fort- gesetzte Behandlung zum endlichen Ziele fuhrt. Sorgsame Auswahl namentlich der Eisenpräparate, mit specieller Berücksichtigung der individuell oft sehr delicaten Empfindlichkeit ist unerlässlich. Ver- dauungsverhältnisse, menstruale Zustände u. s. w. sind, wie über- haupt, so namentlich in der hysterischen Neurose für den speciellen Curplan in genaue Berücksichtigung zu nehmen. Nur keine Scha- blone ! Damit Hand in Hand muss eine umsichtig regulirte roborirende Diätetik gehen. Für einzelne Fälle, namentlich von nervöser D\rs- pepsie, ist die Playfair'Mitchell'sche Behandlung zu versuchen (Jolly), wenn auch mit individuellen Modifikationen des täglichen Nahrungs- Pensums. Bei schlaffen hysterischen Melancholieen verdient die Massage eine besondere Beachtung, ebenso die allgemeine Faradi- sation (s. u.). Sind spinale Hyperästhesieen vorwiegend ausgeprägt, so leistet die galvanische Behandlung des Rückens oft sehr gute Dienste. Galvanische Eopfbehandlung geschehe vorsichtig! Auch wir erlebten durch dieselbe in einem Falle das Auftreten dauernder Gebörshallucinationen. Eine milde Kaltwasserbehandlung entfaltet,

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Das hysterische Irresein.

wenn anders zulässig, bei allgemeiner Atonie und psychischem „Schmerzbehagen" ihre geistig-körperlich kräftigende Wirkung. Bei Frauen sorgsame Beachtung der Menstruationszeiten, namentlich der Menstruatio nimia mit ihren schwächenden Folgen! Bezüglich des zu erwartenden Erfolgs roborirender Cur- Methoden muss übrigens stets im Auge behalten werden, dass viele Chlorosen Hysterischer „nervösen" Ursprungs sind.

Sehr häufig liegt den hysterischen Psychosen (und zwar aller Formen, besonders aber der Wahnsinnsgruppe) eine genitale Neu- rose, ausgehend von einem Leiden der Sexualorgane, zu Grunde. Damit schliesst sich eine ev. gynäkologische Behandlung in den Curplan ein.

Die Ermittlung, wo diese indicirt ist, fällt oft nicht leicht. Sie trifft zusammen mit der Frage: wo ist ein sexuelles Localleiden vor- handen? Die Antwort wäre einfach, wenn man eine ev. gynäkologische Untersuchung schlechthin preisgeben dürfte. Aber diese ist in jedem Falle eine Sache ernster Erwägung. Nach meiner Ueberzeugung darf man sich nur auf feste oder wenigstens höchst wahrscheinliche Indica- tionen hin zu einer solchen entschliessen, und nur in denjenigen Fällen, wo man das volle Vertrauen der Patientin bereits erworben hat, und deren Zustimmung sicher ist. Zwangsmaassregeln (Chloroformirungi zu diesem Zwecke sind zu verwerfen und höchstens bei vitaler Indication zu recht- fertigen; sonst warte man geduldig zu, bis die Kranke selbst einwilligt, und auch dann sei man vorsichtig, ob nicht dieselbe Nebenabsichten, die sie später in lasciver Weise ausbeutet (bei hysterischer Moral In- sanity), damit verbindet. In diesem letzteren Falle werde, wenn die Un- tersuchung ärztlicherseits absolut geboten, eine Wärterin mit beigezogen. Wann aber erscheint eine Exploration überhaupt angezeigt? Die In- dicationen können aus somatischen und aus psychischen Symptomen her- genommen werden. Zu den ersteren gehören alle aus der Gynäkologie bekannte Zeichen: profuse Menstruation, eitriger, blutig tingirter Fluor, uterine und abdominelle Sensationen, welche mit Grund auf ein Locallei- den zu beziehen sind, vaginale Hyperästhesieen u. s. w. Zu den zweiten sind vorwiegend erotische Vorstellungsrichtungen (oft in untermischt dä- monomaner Maskirung), Schwangerschaftswahn und namentlich sexuelle Verfolgungsideen zu zählen. Ein sicherer Rückschluss a priori besteht übrigens in letzterem Falle nie, höchstens ein wahrscheinlicher; aber die Gründe könuen aus fortgesetzter Beobachtung so dringlich werden, dass die Annahme eines „allegorisirenden" Zusammenhanges immer gerechtfer- tigter erscheint und damit die Pflicht einer Verificirung durch örtliche Untersuchung. In diesem Sinne gilt das bekannte Wort: „dass das durch das Speculum einfallende Licht manche Hysterie aufkläre" auch heute noch. Die hier am häufigsten in Betracht kommenden Zustände sind chronische Infarcte mit Orih'cialgeschwttren, Endometritiden, Lageverände- rungen des Uterus mit und ohne Verwachsungen der Vaginalportion u. s. w. Die Behandlung dieser Zustände hat nach gynäkologischen Re-

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Therapie. Genitale Localbehandlung.

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geln zu erfolgen. Der Erfolg auf die iradiirte Spinalneurose, auf Regu- lirung der Menses, der Verdauung und im Weitern auf Gemüthsstimmung und Haltung der Patientin ist oft ein eclatanter, Schritt um Schritt ver- folgbarer; aus dem allmählichen Zurücktreten gewisser sexueller Wahn- ideen ergibt sich, dass die Localbehandlung thatsächlich gegen diese, in- dem sie ihnen den somatischen Boden entzog, den Angriff führte. Für künftig wird auch die operative Gynäkologie nach den neuerdings von He gar speciell für die Castration festgestellten Indicationen in ernstliche Erwägung zu ziehen sein; nur werden derartige grössere Eingriffe, ab- gesehen von der sorgfältigen individuellen Auswahl, nicht zu spät resp. erst, wenn der krankhafte Circulus vitiosus bereits tief in das Ner- vensystem sich eingeschlichen hat, vorzunehmen sein. Vielleicht, dass wir von der operativen Gynäkologie auch noch die radicale Bekämpfung der Hyper- und Parästhesieen der Pndendalnerven , welche so oft dem ärztlichen Können die schwierigsten Aufgaben stellen und für die ratio- nelle Behandlung vieler hysterischer Psychosen unzweifelhaft von der entscheidendsten Bedeutung wären, noch erhoffen dürfen. Hartnäckige Masturbation, nymphomanische Paroxysmcn und möglicherweise ausgebil- dete Wahnsinnsformen bauen sich auf den dadurch vermittelten Sensationen auf. Bis jetzt stehen uns dagegen nur interne und locale Behandlung mit Bromkali, Suppositorien aus Opium und Bromkampher, örtliche An- wendung von 1 2°/o Carbolwasser, Bestreichungen von 1 0 0 o Calabarin- lösung, gelegentliche Aetzungen der Clitoris, neben kalten Klystieren, Kleiensitzbädern u. s. w. zur Verfügung, theils mit, theils ohne, theils mit nur vorübergehendem Erfolg.

Die Behandlung der vorhandenen neurasthenischen Grundlage richtet sich nach den hieflir geltenden therapeutischen Grundsätzen. In die Hauptrolle theilen sich milde Kaltwasserbehandlungen und elektrische Curen (s. o.).

b) Psychische. Die Grundzüge sind wesentlich dieselben, wie sie für die „reizbare Schwäche" im Allgemeinen gelten (siehe die frühem Capitel), nur mit einzelnen, aus dem psychischen Wesen des hysterischen Charakters sich ergebenden Modifikationen. Kurz re- sümirt dürften es folgende sein. Aufgabe ist: die gesteigerte geistige Erregbarkeit mässigen, und den Willen sowohl nach seiner hemmen- den als nach seiner activ energischen Richtung zu kräftigen. Um dieses bei der Kranken zu erlangen, muss der ärztliche Einfluss ein möglichst autoritativer werden. Dazu gehört unbedingtes Vertrauen, und um dieses zu gewinnen, muss der Arzt volle Theilnahme und Verständniss der Kranken entgegenbringen. Die Kranke muss sich aussprechen können und dürfen, aber nicht in einseitiger Gewährung ihres Klagedranges, sondern sofern es der Arzt nach dem jeweiligen Gemüthszustande für räthlich zur Beruhigung findet. Neben dem geduldigen Abhören der Klagen muss auch eine gelegentliche Nicht- beachtung oder nur summarische Behandlung (tröstend, wohlwollend,

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Das hysterische Irresein.

aufmunternd) ihre wohl erwogene Stelle im ärztlichen Cnrplan finden. Dagegen werde jeder Zweifel oder jeder Übel angebrachte Scherz Seitens des Arztes vermieden! Wird die demonstrative Hingabe der Kranken an ihr Schmerzbehagen zu gross : dann ernstlicher Zuspruch, ev. Verbot zu klagen, weil die Gewährung desselben schade. Da- neben sorgsame individuelle Ablenkung durch Arbeit (mechanische: als Haus- oder Gartenbeschäftigung; oder intellectuelle: als ernstere, die Aufmerksamkeit und das Urtheil [nicht die Phantasie!] anregende LectUre). Den schwankenden Grillen werde eine von unerbittlicher sittlicher Strenge getragene Directive entgegengesetzt, den wechseln- den Einfällen ein zielbewusstes festes, aber in der Gonsequenz nicht einseitig starres Handeln. Es gilt oft die ganze Kunst der Erziehung eines launischen, reizbaren Kindes. Aber die verbale Pädagogik werde cum grano salis geübt, weil sie gar oft reizt und den Wider- spruch verstärkt; selbst die als nöthig erkannte thatsächliche (z. B. Gebot des Aufstehens, der eigenen Mithülfe) geschehe stets mit Rücksicht auf die reizbare Schwäche der Kranken, welche auf ein kräftig consequentes Anfassen nicht selten mit einer verstärkten psychischen Hemmung antwortet. So werden manche, namentlich tief anämische, Hysterische durch directe Anrufe an ihr Mithelfen- müssen in ein noch grösseres Nichtkönnen versetzt, und sind erst auf Umwegen (dadurch, dass man ihre Schwäche zuerst bis ins Kleinste berücksichtigt und anerkennt) zu Anfängen eigener Initiative und Activität zu gewinnen. In der Wahl der Curpläne, nament- lich der medicinischen, werde stets auf die Impressionabilität der Kran- ken gebührende Rücksicht genommen, so dass aus der Schablone kein Bedürfniss entstehe (Vorsicht in der Gewöhnung an Narcotica !j.

Speciell für die hysterische Melancholie auf der Grundlage einer „schlaffen Faser" sind die allgemeine Faradisation und die Massage sehr werthvolle Unterstützungsmittel ex indicatione morbi; ebenso temperirte Einpackungen mit kalten Abwaschungen. Bei den acuten Raptuszufallen mit Kopffluxionen , welche oft noch den Menses sich anschlieasen : fort- gesetzte Eisbehandlung, Chapman'sche Rückenkühler. Bei einigermaassen schwererer Ausbildung der Psychose ist Anstaltsbehandlung unumgäng- lich nöthig. Das Letztere gilt ohne Einschränkung von den verschie- denen Wahnsinnsformen. Manische Zufälle, welche oft nach 1 2 Wochen vorübergehen, können unter günstigen Bedingungen ausserhalb der Anstalt zu behandeln versucht werden und heilen so nicht selten. Dagegen gehören die Moral-Insanity-Fälle sämmtlich, und möglichst bald, in Asylpflege. Die hystero-epileptoiden Zufälle können, wenn sie leich- terer Art sind, durch Spitalbehandlung (ja manchmal zu Hause) mit Er- folg bekämpft werden (Bromkali in fortgesetzter Anwendung) ; bei schwe- rerer Form aber und namentlich bei starker Ausbildung des hysterischen

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Das epileptische Irresein.

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Charakters ist die Versetzung in das „Traitement inoral" der Anstalt un- erläßlich. In mehreren der schwersten Fälle dieser „crux nosocomiaüs" führte eine methodische Morphiumbehandlung (Injection jeweils im ersten Beginn der Podromi applicirt) neben entsprechendem sonstigen Curregi- men zur dauernden Genesung.

Das epileptische Irresein.

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Christian, Ibid. Otto, Arch. f. Psych. 5 (Bromkali-Cur). Stark, Allg. Ztschr. f. Psych. 31 (Bromkali). Wildermuth, Berl. klin. Woch. 1884 (Osmium- säure). — Fürsorge für Epileptische und epileptische Irre: Le Grand du Saulle, Ann. meu. psych. 1879. Lunier, Ibid. 1881. Jolly, Allg. Ztschr. f. Psych. 38. Derselbe, Arch. f. Psych. 13. Pelman, Allg. Ztschr. f. Psych. 39. Kind, Ibid. 40. F. Fischer, Ibid. Rieger, Ibid. 41 (gefähr). Epi- lept.). — Derselbe, Irrenfreund. 1885 (Epilept. Anstalten). Wildermuth, Zbchr. f. d. Behdlg. Blöds. u. Epilept. Jahrg. IV u. V. Derselbe, AUg. Ztschr. f. Psych. 40 (Anstaltsbehandlung). Jugendliche Epileptiker: Krelin, AI. a. Neur. 18S2.

Die Thatsacben, auf welche sich die Aufstellung eines „epileptischen Irreseins" als einer nach Entwicklung, Verlauf und Symptomatologie eigenartigen klinischen Gruppe grtlndet, sind folgende:

1. Acute Irreseinszustände schliessen sich oft unmittelbar in typi- scher Weise an epileptische Krampfanfälle an und wiederholen sich mehr weniger regelmässiger Weise nach jedem Krampfanfall, resp. nach einer Gruppe von mehreren rasch aufeinander folgenden Insulten (typisches postepilepti8ches Irresein) ;

2. solche Irreseinszustände können statt eines Krampfanfalles eintreten (Aequivalente);

3. in weniger typischer Weise kommt es auch vor, das dieses Irre- sein dem Krampfanfalle vorangeht, resp. zwischen mehrere Insulte sich einschiebt, oder dass das Irresein von Krampfanfallen unterbrochen wird; oder endlich: dass ein Krampfanfall das erstere abschliesst.

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Das epileptische Irresein.

Dabei ist aber eine sichere Beziehung zwischen Häufigkeit und In- tensität der Krampfanfälle einerseits und Irresein andererseits nicht fest- zustellen.

4. Bei Epileptikern, deren Leiden sich in einer oder der anderen Weise mit psychischen Störungen verbindet, bildet sich im Verlaufe eine geistige Stimmungslage mit bestimmten intellectucllen Anomalieen und sittlichen Defecten aus, welche habituell wird, und in den meisten Fällen in vollständige Demenz tibergeht. Man bezeichnet dieselbe analog dem hysterischen Temperament als epileptischen Charakter. Dieser sowohl als auch der nachfolgende Blödsinn bewahren eine typi- sche und vielfach speeifische Eigenart.

Die Art der Entstehung und weitem Entwicklung des epilep- tischen Irreseins ist gewöhnlich die, dass an die von früher Jugend bestehende oder zur Pubertätszeit ausgebrochene Neurose sich sachte der epileptische Charakter (s. u.) anschliesst; daran nach längerer Zeit (mehreren Jahren) das Irresein, und an letzteres nach und nach der Blödsinn. Dieser Typus zeigt Übrigens vielfache Modificationen. So kann a) der epileptische Charakter schon von Kindheit an in einzelnen Erscheinungen vorhanden sein, und auf dieser Grundlage in späterer Zeit sich der motorische Insult und das Irresein erheben; oder b) es besteht ein angeboruer Sehwachsinn mit epileptischer Reizbarkeit, welcher später (oft erst Decennien nachher) seine Weiter- entwicklung in wirkliche Epilepsie mit psychischer Transformation durchmacht. Sehr häufig haben solche Kinder in den ersten Lebens- jahren an Convulsionen (oft Meningitis) gelitten. Am seltensten ist, dass ein Epileptiker von Kindheit an vollständig gesund war, sich normal entwickelte, keine somatischen und psychischen Abnormitäten zeigte, und erst in der Jugend an epileptischen Krampfanfällen mit psychischen Störungen erkrankte (s. u.).

Bezüglich des zeitlichen Erscheinens dieses Irreseins sei noch die Möglichkeit erwähnt, dass ein psychischer Paroxysmus der ersten Krampf- attake vorausgehen kann. Dagegen vermögen wir der Auffassung, dass Irreseinsanfälle , welche in ihrer Entstehung, ihrem Verlauf und ihrer Symptomatologie den epileptischen gleichen, an Stelle der Krampfanfalle Uberhaupt treten, und nur dadurch (ohne sonstige Erscheinung) ihre Zugehörigkeit zur epileptischen Erkrankung sollen beanspruchen dürfen („psychische Epilepsie"), nicht beizustimmen. Wohl aber können Irreseins- anfälle als Aequivalente von Krampfparoxysmen bei einem Individuum beobachtet werden, welches ausser den ersteren noch andere Erschei- nungen der epileptischen Erkrankung (Petit mal u. s. w.) aufweist.

Das acute typische Irresein kommt gewöhnlich bei Kranken mit seltenen, aber heftigen Krampfaufällen vor, während bei Epilep- tikern mit rudimentären Anfällen (allein oder abwechselnd mit voll- ständigen) das klinische Bild sich in mehreren theilweise ganz indi-

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Klinische Symptomatologie. Der postepileptische Stupor. 257

viduellen Modificationen bewegt. Der Zeitraum, innerhalb dessen die vier Factoren der epileptischen Erkrankung Krampfanfälle, epileptischer Charakter, Irresein, Demenz nach einander in die Erscheinung treten, ist ebenso wechselnd wie die Aufeinanderfolge der letztern im Einzelfalle. Manchmal schon in einigen Monaten sich bis zur vollen Demenz entwickelnd, können andere Male Jahre ver- gehen, bis die ersten Zeichen des Schwachsinus anrücken, und wie- derum weitere, bis dieser langsam zum Blödsinn fortgeschritten ist. Oft kürzt ein rascher Tod im Status epilepticus unter gehäuften An- fällen jäh den Verlauf ab. Diese letztere Wendung kann sich auch während des ausgebildeten, durch Jahre bestandenen Irreseins plötz- lich vollziehen. Nicht selten liegt ein ansehnlicher Zeitraum zwi- schen dem ersten Krampf- und Irreseinsanfall. Die Insulte können manchmal von selbst längere Zeit (Monate, Jahre) vollständig auf- hören oder nur äusserst selten eintreten und plötzlich mit erneuter Heftigkeit und Häufigkeit einbrechend rapid zum Tode führen, wäh- rend das Irresein in der anfallsfreien Zeit fortbestand. Mit der zu- nehmenden Demenz verwischt sich gewöhnlich das typische Krank- heitsbild, wenn sich immer auch noch, wie ehedem, die Paroxysnien an den Krampfanfall anschliessen. Daneben protrahirt sich häufig jetzt das Irresein und zeigt höchstens noch geringe Steigerungen durch den motorischen Insult; in der Folge werden aber auch diese Exacerbationen nicht mehr beobachtet, und es tritt ein Gemisch von Schwachsinn, epileptischem Charakter und Irreseinsbruchstücken zu Tage. Bemerkenswerth ist das bei diesen epileptisch Blöden oft 6ehr lange erhaltene Krankheitsgefühl.

Klinische Symptomatologie. Diese entwickelt sich am einfachsten von der Betrachtung des postepileptischen Irreseins aus. Für letzteres lassen sich zwei Typen aufstellen:

1. Der postepileptische Stupor. An einen oder mehrere Krampf- anfälle schliesst sieb unmittelbar, oder durch einen kurz dauernden Schlaf vermittelt, ein mehr oder weniger tiefer Stupor an, in welchem der Kranke in regungslosem oder taumelndem Mutacismus verharrt, auch leise sinnlos vor sich hinschwatzt, manchmal Assonanzen an einander reiht, auf Fragen nicht oder durch einen traumhaften Blick reagirt, automatische Bewegungen macht, gegen jede äussere Be- rührung sich wehrt, plötzlich gegen seine Umgebung in blinder Weise gewaltthätig wird. Die Lösung des Stupors geschieht gewöhnlich nur allmählich, kann aber auch plötzlich erfolgen, insbesondere dann, wenn ein neuer Krampfanfall dazwischen tritt. Auf der Höhe des ßtupurösen Dämmerzustandes, oder auch erst nachher, kann der

Schal«. Geiateskrankheiten. 3. Aufl. 17

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Das epileptische Irresein.

Kranke die schreckhaftesten Delirien äussern. Der nachherige gänz- liche Erinnerungsdefect beweist die tiefe Bewusstseinsstörung wäh- rend der Stuporphase. Uebrigens erstreckt sich die Gedächtnis- lücke selten auf die ganze Dauer der letztern (dies nur bei sehr acuten und kurzdauernden Anfällen). Gewöhnlich wissen sich die Kranken einzelner Vorgänge, wenn auch nur dunkel und traumhaft, zu erinnern; der blinde Gewaltact selbst bleibt nicht selten ver- gessen, während merkwürdigerweise kleine Zufälligkeiten, unbedeu- tende Begleiterlebnisse, stückweise in der Erinnerung reproducirt werden können. Interessant und eigentümlich ist, dass oft im Ver- lauf des Stupors, und während anscheinender Lucidität, das Vorgefal- lene richtig reproducirt wird - und nach Lösung des Stupors wiedeT untertaucht, um jetzt für die Erinnerung unerreichbar zu bleiben. Da übrigens der Grad der Bewusstseinsstörung innerhalb desselben Stupor- anfalls stufenweise wechselt und auch im Ganzen ein verschiedener ist, je nach den einzelnen Anfällen, so ergeben sich daraus unzählige Modifikationen der Erinnerung im Einzelfall.

Für gewöhnlich weiss der Kranke nach dem Ablauf des Stupors, dass etwas mit ihm vorgegangen ist. Er fühlt sich körperlich unwohl, ermattet, schläfrig, hat keinen Appetit, klagt Über Kopfweh oder Schwin- del; manchmal befällt ihn dann eine tremorartige Muskelunruhe. Die Notwendigkeit, sich Uber sich selbst, Ort und Zeit zu orientiren, zeigt ihm, dass er einen krankhaften Zustand durchgemacht hat. Wenn nun dieses Ereignisa und damit die Notwendigkeit sich auszukennen häutiger wiederkehrt, lernt er allmählich, dass er Zufällen unterworfen ist, von denen er nachher keine, oder nur eine summarische Erinnerung hat.

Der tiefe Stupor dauert gewöhnlich nur einige Stunden oder Tage; zögert er sich (als Dämmerzustand s. u.) über Wochen und Monate hinaus, so wechselt er meistens gradweise sehr erheblich.

% Das acute poslepileptische ängstliche Delirium mit raisonniren- dem Charakter und hallucinatorischer Erregung (Grand mal intellec- tuel, Falret).

Nach einem oder mehreren Krampfanfällen verfällt der Kranke plötzlich, oder nach einem kurzdauernden Intervall von allgemeinem Unwohlsein (häufig nach mehrstündigem Schlaf), in die heftigste ängstliche Erregung; er stürzt in blindem Ungestüm, mit fast thie- rischer Gewalt, auf seine Umgebung los, beisst, tritt, spuckt, demo- lirt Alles, rennt mit dem Kopfe gegen die Wand, sucht sich auf jede Weise zu schädigen, schreit, lärmt, verbirgt sich. Der Kopf er- scheint stark geröthet, die Pupillen wechseln (häufig erweitert), die Conjunctivae sind stark injicirt, die Augen thränend, der Blick starr;

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Das acute postepileptische ängstliche Delirium (Grand mal Intellect.). 259

dabei vermehrte Speichelabsonderung, starkes Klopfen der Carotiden, beschleunigter Puls mit ungleichen vollem und schwächern Schlägen. Erhöhung der Temperatur ist gewöhnlich nicht nachweisbar. Nach einigen Stunden oder wenigen Tagen verfällt der Kranke wieder in einen mehrstündigen Schlaf, aus welchem er durch einen kurz- dauernden Stupor oder Angstzustand zum Status quo ante zurück- kehrt. Er fühlt sich jetzt krank, klagt über Kopfweh, grosse Er- mattung, hat viel Durst und nimmt langsam wieder Nahrung zu sich, die er während seines deliranten Zustandes verweigert hatte. Die Erinnerung an das Vorgefallene ist in diesen Fällen eine äusserst mangelhafte. Wohl erinnert sich der Kranke im Allgemeinen an den Inhalt der Delirien und Hallucinationen, aber nicht auch an die beglei- tenden Vorgänge (wie und warum er in das Isolir-Zimmer gebracht wurde, wie lange er dort war). Die Orientirung erfolgt mehr weniger rasch. Die Delirien sind wie beim Stupor ängstlicher, schreck- hafter Natur, ebenso die Sinnestäuschungen. Die Kranken sehen Gott, Engel, Teufel, schwarze haarige Männer, welche gross und klein werden ; Frauen mit weissen Kleidern und schwarzen Kränzen, reissende Thiere, Lichtflammen und dann plötzliche Dunkelheit; sie glauben im Himmel, in der Hölle zu sein, sehen schneien, regnen, Fäden vor den Augen, Nebel u. 8. w. , hören singen, Musik, Schelt- worte, Drohungen, Klopfen an der Thür, Donnern, Schiessen u. s. w., haben krabbelnde, kriechende, hauchende, schmerzhafte u. s. w. Sen- sationen auf der Haut und manchmal auch auf den Schleimhäuten; Geftthle, als ob sie in der Luft schwebten; schmecken und riechen die widerlichsten Dinge. Religiöser Inhalt ist vorherrschend. Eine yerschiedengradige concentrische Gesichtsfeldeineugung begleitet diese postepileptischen Irreseinszustände (s. u.).

Während der Stupor bei öfterer Wiederholung grosse Verschie- denheiten bezüglich seiner Dauer und seines Grades zeigt, tritt gegen- theils bei dem acuten postepileptischen Delirium eine mehr oder weniger vollständige Gleichheit der sich wiederholenden Anfälle, sowohl bezüglich des Verlaufs als der Symptomatologie entgegen.

Varietäten. Beide Typen der Stupor und das Delirium kommen nicht immer in der geschilderten, scharf ausgesprochenen Form vor, sondern zeigen in ihrer Erscheinungsweise, Dauer, und der Art des Verlaufs zahlreiche grössere und kleinere Modificationen. So kann, an den Stupor anknüpfend, a) die sprachliche Keaction in folgenden Formen auftreten: 1. als vollständiger Mutacismus; 2. als leises unver- ständliches Lispeln; 3. als sinnloses Plappern mit Wiederholung von Silben, Worten oder Assonanzen; 4. als schwatzhaftes Raisonniren; 5. als ein auffallend erschwertes Sprechen mit Verwechslung und Ver-

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Das epileptische Irresein.

schlucken einzelner Silben. b) Die activen Bewegungen sind ent- weder vollständig gehemmt, oder verlangsamt und trage, oder aber geschehen in Form monotoner Zwangsacte; oft zeigt sich leiser Tre- mor, taumelnder Gang, Rückwärtsgehen, Kreis-Gang u. s. w. In ver- schiedenster Form können c) automatische Handlungen und plötzliche Gewaltthätigkciten zum Ausdruck kommen (s. u.), letztere gewöhnlich als Reactionen auf die sehr beängstigenden oder religiösen imperativen Delirien.

Das Bewusst8ein ist stets tief gestört. Gleichwohl darf aus der nachherigen Amnesie nicht ohne Weiteres auf eine vollständige Bewusstlosigkeit (wie beim epileptischen Krampfanfall) geschlossen werden. Die spätere Reproduction des deliranten Inhalts legt hier- gegen Verwahrung ein, und deutet, sowie auch das Vorhandensein der Reflexe, auf ein gewisses Erhaltenbleiben des Bewusstseins hin. Es treten überhaupt in dieser Richtung die verschiedensten Verhält- nisse auf. So kann ein vollständiges Fehlen der Erinnerung für einzelne Handlungen auf Stunden, ganze Tage und Wochen hin* aus constatirt werden gleichsam eine partielle und temporäre Latenz der Selbstbesinnlichkeit. Dass es sich nicht um ein voll- ständig erloschenes Bewusstsein handelt, beweist u. A. die Fähigkeit der Kranken, in diesen Zuständen zweckmässige Handlungen vor- zunehmen. Was auf dem Bewusstsein während dieser Zeit lastet, was ihm theilweise Besonnenheit gestattet und doch die Rückbesin- nung verwehrt, wissen wir nicht, und vermögen es auch von den Kranken später nicht zu erfahren. So können Kranke auch plötz- lich fortlaufen, um an einem fremden Orte erst zu „erwachen", ohne sich die mindeste Rechenschaft geben zu können, warum und wohin sie entwichen sind. Andere ziehen sich während des Tages aus, legen sich nieder, und sind nach einigen Stunden erstaunt, dass sie sich zu Bett befinden. Auch von der während dieser somnambulen Acte verstrichenen Zeit haben die Kranken keinen Begriff ; dieselbe kann auf Tage und Wochen sich erstrecken, und der Reconvalescent erst auf dem Wege mühevoller und langsamer Orientirung an äus- sern Anhaltspunkten sich die ergänzende Anschauung erwerbeu. Im Anfang kommt ihm nur Alles fremd vor; allmählich wird er sich bewusst, dass Etwas mit ihm vorgegangen, was in seiner Erinnerung fehlt; und so gelingt es ihm nach und nach, mit allen äussern und innern Hilfen, schrittweise die Lücke zu überbrücken. Es kommt auch vor, dass zeitlich und örtlich falsch pereipirte Dinge in die- ser illusorischen Weise bei beginnender Lucidität noch erin- nert werden, und dass nach Ablauf des ganzen Paroxysmus die Erinnerung fehlt. Ein vollständiger Ausfall der Erinnerung trifft na-

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Verhalten des Bewusstseins, der Erinnerung. Verh. des Irreseins zu d. Insulten. 26 1

mentlich für Gewaltacte häufig zu (s. o.). So Ut es Thatsache, dass im epileptischen Irresein Morde, Selbstmordsversuche, brutale Noth- zachtsversuche u. s. w. verübt werden, wofür der Kranke später vollkommen amnestisch bleibt.

Die Art dieser Gewaltacte hat etwas Specifisches. Dieselben erfolgen momentan, werden mit blinder Gewalt und äusserster Heftig- keit gegen die Umgebung ausgeführt, mag diese ein belebtes Wesen sein oder ein zufälliger Gegenstand. Zahlreiche Beispiele von Selbst- verstümmelung lassen auch schliessen, dass der Schmerz nicht zu jener Empfindung kommt, wie beim normalen Bewusstsein.

Nach der Art des Verlaufs und der Beziehungen dieses Irreseins zu den Krampfanfällen , sowie nach der Symptomatologie hat man verschiedene Formen unterschieden. Unsere Darstellung ist vom postepileptischen ausgegangen, d. h. von jener typischen Form, welche sich unmittelbar an den Insult anschliesst, und durch tiefe Bewusstseinsstörung, ängstliche Delirien und Hallucinationen, hoch- gradige Erregung mit raisonnirendem Charakter, kurzdauernden Ver- lauf, plötzlichen Beginn, raschen Abschluss und verschiedenartige somatische Begleiterscheinungen charakterisirt ist. Allein auch der Stupor ist ein postepileptisches Irresein, und kommt überhaupt nur im Anschluss an Krampfanfälle vor. Das erstgenannte Irresein da- gegen kann auch als Aequivalent d. h. ohne vorhergegangene Krampfanfalle an Stelle derselben auftreten. Die Frage, ob es Fälle gibt, in welchen dieses Irresein den epileptischen Krampfanfällen unmittelbar vorhergehe, wird verschieden beantwortet, weil man die Möglichkeit nicht beobachteter Krampfanfälle immer im Auge hat Sichergestellt ist übrigens dieses Vorkommen für das protrahirte und recidivirende epileptische Irresein.

Diese verschiedenen Thatsachen müssen hervorgehoben werden, da auf denselben unsere von der geläufigen Eintheilung des epileptischen Irreseins abweichende Auffassung beruht. So typisch das postepileptische (delirante) Symptomenbild, so ist dasselbe doch als solches nicht allein nur postepileptischer Natur; ohne sich klinisch zu ändern, zeigt es sich wandelbar in seiner Beziehung zum Insult; m. a. W.: wir treffen den- selben Zeichencomplex in der Nachfolge wie im Vorausgang resp. als Ersatz des Krampfanfalls. Damit aber trennen wir uns von der seit- herigen Eintheilung in ein prä-, postepileptisches Irresein und Aequivalent; oder: wenn wir eine oder die andere der Bezeichnungen annehmen, so drücken wir damit nur verschiedene formelle Beziehungen (zeitliche zum Insult), nicht aber eo ipso auch klinische Differenzen aus. Ebenso venig können wir den Inhalt der Delirien (schreckhaft -ängstlich oder aber religiös exaltirt) als normgebend anerkennen, da derselbe ohne jeden Einfluss auf den Verlauf des einzelnen Zustandsbildes ist. Es bleibt uns

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Das epileptische Irresein.

deshalb nur der allgemein-symptomatologische Standpunkt als Grundlage für unsere Specialgruppen des epileptischen Irreseins übrig.

Darnach, also rein symptomatologisch , unterscheiden wir fol- gende Erscheinungsweisen des epileptischen Irreseins, resp. tritt letz- teres auf:

1. als Stupor (s. o.).

a) mit tiefer Bewusstseinsstörung, ohne nachherige Erinnerung; kurze Dauer.

b) mit traumhafter Bewusstseinsstörung (Dämmerzustand), nach- folgender, theilweiser Erinnerung in der geschilderten Weise; verzögerter Verlauf.

c) Uebergangsformen zwischen a) und b) und zwischen diesen und den andern Formen des epileptischen Irreseins (klinische Varietäten nach Sprache und Bewegungsstörung s. o.).

2. als acutes hallucinatorisch es Delirium (s. o.) mit schreckhaften, angstvollen Sinnestäuschungen, furibunden reactiven Wuthanfällen gegen die Umgebung, tiefer Bewusstseinsstörung. Dauer von einigen Stunden bis zu 3 14 Tagen. Plötzlicher Beginn und rascher Abschluss. Verlauf remittirend, scheinbar lucide Phasen wechseln mit tief betäubten. Häufige Recidive.

3. als protrahirte Dämmerzustände von wochen- und monatelanger Dauer mit traumartiger Bewusstseinsstörung, beängsti- genden Delirien und Hallucinationcn, grosser Reizbarkeit und dadurch bedingter Gewaltthätigkeit, lebhaften Nachtträumen, welche halluci- natorische Plastik und Nachwirkung auf das Tagesleben behalten, äusserst langsamer Lösung, summarischer RUckerinnerung. (Diese Stupiditätszustände kommen insbesondere auch durch Bromkalium hervorgerufen vor.)

4. als manische Erregungszustände vom Charakter des Furors oder der Mania gravis, von wochen-, monate- und jahrelanger Dauer mit tiefer Bewusstseinsstörung, hochgradiger Gereiztheit, Nei- gung zu blinder Gewalt gegen sich und gegen Andere, ängstlichen und religiösen Delirien, ebensolchen Illusionen und Hallucinationen, mit und ohne Remissionen von verschiedener Intensität und Dauer. Diese Erregungszustände entstehen gewöhnlich acut, und bilden oft den Uebergang zum Blödsinn.

5. als heitere Erregung mit traumhafter Bewusstseinsstörung, vereinzelten Hallucinationen religiösen oder ängstlichen Inhalts, kin- discher Reizbarkeit, mit blödsinniger Schwäche gemischt, auf Wochen, Monate und Jahre sich hinziehend, mit Uebergaug in tiefen Blödsinn.

Symptomatologlsche Erscheinungsweisen des epileptischen Irreseins. 2G3

6. als plötzlich eintretende Angstzustände meist von sehr schwerem Charakter mit traumhaftem Bewusstsein, grosser Reizbar- keit, Drang zu Selbstmord, zu Gewaltacten, meist ohne sie auszu- führen, zum Umherirren u. 8. w., von sehr kurzer bis zu mehrtägiger Dauer.

7. als momentane, in wenigen Minuten vorübergehende Ab- senzen mit anscheinend zweckmässigen (automatischen) Handlungen und vollständiger Amnesie.

Hieher gehören jene Anfälle von impulsivem Davonlaufen, momen- taner Gewalttätigkeit, planmassiger Päderastie und andern sexuellen Handlungen, von plötzlichem Drange zu Homicidium oder Suicidium ; aber auch die harmlosen Acte des Einkaufens, Stehlens u. s. w.

(Mit diesen letztern Zuständen sind die gelegentlich im Gefolge von Berauschungen auftretenden,* anscheinend luciden, später vergessenen Triebacte in Beziehung zu setzen [s. Alkoholismus], sodann die plötzlichen perversen Sexualacte [Entblössungen der Genitalien vor Kindern, nym- phomanische Raptus], bei hereditär Belasteten ohne frühere und spätere epileptische Krampfanfälle, wovon Anjel Arch. f. Psych. 15 erzählt.)

An diese das epileptische Irresein x«r' l^ox^v zusammensetzenden Erscheinungsformen sind

8. die gewöhnlichen Habitualformen der Melancholie, Manie und des Wahnsinns anzureihen, welche nicht selten in ihrer typischen Gestalt und ohne jede modificirende Einwirkung Seitens der epilep- tischen Erkrankung in deren Gefolge auftreten. In andern Fällen mischen sich (bei intcrcurrentem Wahnsinn) aber auch Bewusstseins- störungen bei, welche an jene des epileptischen Irreseins erinnern.

Somatische Begleiterscheinungen.

a) Steigerung der Körper temper atur kommt bei den Irreseins- anfällen mit schwerer Bewusstseinsstörung vor, ist aber häufig an das gleichzeitige Eintreten von Krampf insulten gebunden. Mit der Erhöhung der Körpertemperatur lässt sich eine deutliche Beschleunigung der Puls- frequenz nachweisen. Die Qualität der Pulswelle zeigt nichts Charakte- ristisches. — b) Deutlich ausgeprägte Fluxionszu stände nach dem Kopfe. c) Verhalten der Pupillen. Dasselbe ist während der Krampfin8ulte bei den einzelnen Epileptikern verschieden. Bei schwerer Epilepsie erweitern sich zunächst die Pupillen während des tetanischen und klonischen Stadiums etwas ; dann kommt eine rasch wechselnde Ver- engerung und Erweiterung, und schliesslich bleibt die letztere maximal und reactionslos , um mit der allmählichen Rückkehr des Bewusstseins wieder zur Norm zurückzukehren. Schliesst sich ein acuter postepilep- tischer Anfall an, so bleibt gewöhnlich die Erweiterung auch während des letztern. Andere epileptische Zufälle verlaufen ohne Einfluss auf die Pupillen und sodann auch der acute psychische Paroxysmus. d) Verhalten des Gesichtsfeldes. Nach den neuesten Untersuchungen

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Das epileptische Irresein.

von T b o m 8 e n und Oppenheim kommt die sensorische Anästhesie, speciell die concentrische Gesichtsfeldeinengung (welch1 letztere übrigens nicht constant zu sein scheint) mit oder ohne cutane Sensibilitätsstörung unter 2 Formen bei Epileptischen vor: 1. als passagere Anästhesie und zwar: a) nach einem epileptischen Anfall mit nachfolgender Be- wusstseinstrübung; b) nach einem Insult mit sich anschliessender De- pression, emotiver Reizbarkeit und Bewusstseinslucidität ; c) nach Aequi- valenten und Abortivanfällen. Dieselbe fehlt dagegen ganz nach rein motorischen Krampfanfällen. 2. als stationäre Anästhesie bei lang- jährigen, meist etwas schwachsinnigen Epileptikern (merkwürdigerweise scheint sie bei jugendlichen zu fehlen); dieselbe tritt unabhängig vom Anfall und von der Art desselben auf; d) begleitende Kopf Sen- sationen (bohrende, reissende Schmerzen theils im Hinterkopf, theils in der Stirne; Gefühle des Summens, Sausens, Krabbeins, Knisterns; des Wackeins des Gehirns im Schädel, wie wenn Kugeln im Kopf herum- fahren; Schwindel); e) das Verhalten der Menses ist bezüglich des Auf- tretens motorischer Insulte und anschliessender Psychosen ein sehr ver- schiedenes: manchmal findet diese Coincidenz statt (periodisches epilep- tisch • menstruales Irresein) ; noch häufiger aber ist kein bestimmter Zusammenhang nachweisbar, und die Menstrualzeit kündigt sich nur durch grossere psychische Zornmüthigkeit an.

Der epileptische Charakter und epileptische Blödsinn zeigen viele individuelle Spielarten bei Erhaltung eines typischen Gesammtbildes. Generell stellt der erstere einen psychischen Ent- artungszustand dar, ähnlich dem hysterischen, dessen Signatarzug neben und vor dem intellectuellen ein sittlicher Defect, eine eigen- artige Moral Insanity, bildet.

Nirgends tritt der Egoismus eines psychisch Gestörten deut- licher hervor, als beim Epileptiker auf dieser Erkrankungsstufe. Er lebt nur für sich und verliert das Gefühl für andere Menschen (insociable). Nichts kann ihn stören in der pedantischen Regelung seiner Bedürfnisse. In jedem leisesten Widerstande oder Hinderniss erkennt er sofort eine feindselige Hemmung, einen Feind, welchen er rücksichtslos aus dem Wege zu räumen sucht. Was Andere wünschen, ist ihm ganz gleichgiltig, sofern es nicht seine eigenen Wünsche berührt oder stört. Wichtig und von Bedeutung ist ftir ihn nur, was seine Person betrifft; alles Andere hat keine Berech- tigung zur Existenz. Vom Nachgeben ist keine Rede. Tritt ihm Jemand in den Weg, so genügt ein geringfügiger Anstoss zum heftig- sten Zornausbruch uud zur brutalen zermalmenden Gewaltthat (ab- scheuliche Schimpfworte, blindwUthende Misshaudlungen, Tödtungen). Andere Dritte dagegen, welche den Kranken nicht contrariiren, oder ihm momentan willfährig sind, werden mit den höchsten Lobes- erhebungen überschüttet. Eine nachherige Einsicht in seine Hand-

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lungsweise fehlt ihm vollständig. Auch gegen seine Opfer ergeht er sich gewöhnlich noch in schimpfender und raisonnirender Weise mit Erörterungen Uber Recht und Unrecht. So kommt es, dass er sich von der Welt zurückgesetzt und verachtet glaubt (auch wirklich ge- mieden ist), und in der Folge immer mürrischer und misstrauischer wird. Ein erst leiser, schliesslich offener Verfolgungswahn thut sich auf. Unbegründete Beschuldigungen über Misshandlungen seitens der Umgebung, Verdächtigungen wegen Entwendung des Eigenthums u. s. w. werden zu stehenden Klagen und bei jedem Anlass vorwurfs- voll geäussert. Ueberall glaubt der Kranke besser behandelt und geachtet worden zu sein, als gerade von seiner augenblicklichen Umgebung. Steigert sich das Zerwürfniss mit der Aussenwelt, so droht er sofort mit Selbstmord, welcher für ihn die gleiche Bedeu- tung hat, wie eine beliebige andere körperliche Nöthigung. Er führt denselben auch sofort impulsiv aus, in directer Consequenz seines Aergers oder seines physischen Unbehagens.

Eine Epileptische hatte sich erhängt und wurde noch kurz vor dem Eintritt des Todes abgeschnitten. Als sie wieder zu sich kam, gab sie als Motiv zur That mehrtägige Stuhlverstopfung an und war durch ein Klystier sehr erfreut, und sofort mit dem Leben wieder versöhnt. So vermag auch oft eine kleine Vergünstigung, ein Brief, eine Blume, eine Cigarre u. s. w. den Kranken wie im Umschlag aus hoher emotiver Erregung wieder zur Ruhe, ja selbst in freundliche Stimmung überzuführen.

Das Verhalten der Epileptischen gegenüber ihren körper- lichen Beschwerden steht mit dieser impulsiven Handlungsweise und speciell mit der triebartigen Entschlossenheit, womit sie oft bei Bagatellen Uber die Gewohnheit des Daseins hinwegschreiteu, in schroffem Widerspruch. Wenn der Kranke heute sich für vollständig gesund ausgibt und die grössten Pläne ausspinnt, kann er morgen zu Bett liegen wegen eines unbedeutenden Schmerzes, dem Arzte mit weitschweifender Umständlichkeit und Pedanterie für jede kleinste Missempfindung anliegen, und die Fürsorge wie für einen Todt- kranken beanspruchen. Allen unbehaglichen Gefühlen legt er die grösste Wichtigkeit bei, und verlangt deshalb in empfindlicher Weise die Aufmerksamkeit seiner Umgebung und besonders des Arztes.

Einsicht in seine Krankheit fehlt dem Epileptiker vollständig. Es ist bekannt, dass Kranke häufig ihre Krampfunfälle in Abrede stellen, und ihre Umgebung, welche dafür einstehen will, als Lügner bezeichnen. Viele gehen noch weiter; sie behaupten zeitweise, Uber- haupt nicht krank zu sein, und weisen mit Selbstüberhebung und gesteigertem Hochgefühl auf ihre ausgezeichneten Leistungen hin. Gehen sie an eine Arbeit, so zeigen sie für den Anfang zwar oft

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Das epileptische Irresein.

einen übertriebenen Eifer, welchem aber die Beständigkeit und nicht minder auch die innere Befriedigung fehlt. Der Kranke arbeitet bald überhaupt nur mehr um äussere Belohnung; bald verweigert er die Arbeit ganz, weil man sie zu niedrig taxirt und zu schlecht belohnt, gegenüber den nach seiner Meinung viel geringem Leistungen der Umgebung. Andere dagegen bleiben unverdrossene und aus- dauernde Arbeiter, sofern man sie ganz gewähren lässt und nichts hineinredet, ja sie nie tadelt. Eine besondere Eigenschaft des epileptischen Charakters ist das Familien-Lobreden. Sie selbst und die Ihrigen sind die tugendhaftesten Menschen, welche nie genug zu preisen sind. Ebenso häufig und bezeichnend ist die übertriebene Ausübung äusserer Religionsformen. Gott, Christus, Maria sind die Kamen und Betheuerungen, welche immer im Munde geführt werden; in der Kirche sind namentlich die exponirtesten Plätze beliebt, ohne dass der Kranke dabei die mindeste Rücksicht auf einen möglichen Krampfzufall nimmt. Das Triebartige diese auszeichnende Eigenschaft der epileptischen Handlungsweise tritt namentlich auch in dem geschlechtlichen Leben in seiner rohen Nacktheit zu Tage. Insbesondere leisten weibliche Epileptische hier oft Un- glaubliches, und wissen dabei mit allem Aufgebote boshafter Lüge zu dissimuliren. Onanie ist sehr verbreitet, auch perverse und con- träre Sexualempfindung (s. d.). Manchmal wird auch vollständiger Mangel des Geschlechtstriebes mit heftiger Abneigung gegen jeden Geschlechtsverkehr beobachtet. Eine besonders zu erwähnende Eigenschaft der Epileptischen im Anstaltsleben ist die Neigung zu Complotten gegen die Umgebung, so wenig sie auch sonst zu har- moniren wissen (Unterschied von andern Wahn- und Blödsinnigen). Für sich bleibt der Epileptiker, zerfallen mit der Welt und inner- lich ohne Halt, der Spielball seiner Augenblicks - Erregungen und Impulse (hierin den Hysterischen verwandt), und unberechenbar wie diese. Wechselvoll und unbeständig, einigen sich seine Acte und die Launen seines Benehraens nur in dem Momente einer steten Krieg- führung mit der Umgebung, in einem Leben voll Bitterkeit, Miss- trauen und Collisionen. So wird das „difficile ä vi vre" von Falret verständlich.

Daneben gibt es aber auch Kranke, welche diese Züge einer eigenartigen ethischen Degenerescenz nur in schwächern Andeu- tungen (rudimentär) enthalten, und ausser diesen noch eine weitere Gruppe, welche davon ganz frei bleiben, bei ihrem Schwachsinn eine gewisse Gutmüthigkeit bewahren und nie in heftige Erregungen ge- rathen.

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Die epileptische Demenz.

Tatholog.-anat. Befunde.

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In der Mehrzahl der Fälle kommt es schliesslich zur epilep- tischen Demenz. Der Typus dieser tritt besonders prägnant bei jenen Patienten zu Tage, welche einst auf hoher intellectueller Stufe standen, und einem rapid progressiven Niedergange verfielen. Die Perception ist auffallend erschwert und verlangsamt, die Erinnerung an das soeben und früher Vergangene defect. Damit ist eine immer mangelhaftere Anknüpfung an frühere Ideenassociationen gegeben. Der reducirte Kreis von Vorstellungen bildet mit den oberflächlichen neuen Perceptionen für den Kranken den Maassstab seines Urtheils. Die formalen logischen Gesetze können dabei erhalten bleiben ; allein die vielen Defecte und der Mangel jedes erweiterten und vertieften Gedankenganges schwächen und verfälschen immer mehr die psy- chischen Leistungen. Als letzte Hilfe bleibt schliesslich nur noch die Anlehnung an früher geübte und mit der Zeit mechanisch ge- wordene Regeln. Charakteristisch ist, wie im Beginne der Demenz die Defecte der Erinnerung, der Begriffe u. s. w. in stockender und stotternder Weise durch umständliche Beschreibung der einfachsten Dinge auszugleichen gesucht werden. In diesem psychologischen Verhalten liegt eine diesen epileptischen Blödsinn auszeichnende Besonderheit, welche nur bei minder gebildeten Kranken und bei langsamer Entwicklung nicht so prägnant in die Erscheinung zu treten vermag. Individualität, Charakter der Erkrankung und Ver- lauf bilden ebenso viele Modifikationen im Einzelfalle. So kann bei sehr protrahirtem Verlauf eine zeitweise erschwerte Perception mit kaum merklichen Erinnerungslücken und Ausfall einzelner Begriffe und Vorstellungsreihen lange den einzigen vorausgeworfenen Schatten der bereits begonnenen und unaufhaltsam progressiven Dementia bilden. Dunkel noch ist die Pathogenese dieses Blödsinns, welcher manchmal ausserordentlich rapid sich entwickelt, andere Male trotz der zahlzeichsten jahrelangen Grand-Mal-Anfälle sich nicht einstellt.

Bezüglich der pathologischen Anatomie ist auf die Epilepsie im Allgemeinen (Bd. XII des Handbuchs) zu verweisen. Die häufig vor- gefundene Atrophie eines oder beider Ammonshörner ist u. E. nicht als specifischer Befund, sondern als Theilerscheinung der allgemeinen Atro- phie des Gehirns aufzufassen, wobei allerdings bis jetzt unerklärt bleibt a) warum die Ammonshörner vorzugsweise und zuerst von dieser Atrophie ergriffen werden, und b) warum die letztere häufig nur das Ammonshorn Einer Seite beschlägt. Constant finden sich in chronischen epileptischen Psychosen die Hirnhäute afficirt in Form von Verdickung rcsp. sul- ziger Aufquellung, und zwar ist speciell die äussere (Arachnoideal-)Schicht ergriffen. Die Affection ist am stärksten in der Umgebung der Gefässe; nicht selten finden sich neben den letztern noch Reste kleiner Apoplexieen (in Form eingesprengter gelber Punkte), jedoch nur auf der Convexität.

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Das epileptische Irresein.

Topographisch bemerkenswert!! (vgl. Paralyse) ist, dass sich die lepto- meningitische Affection hier mit anscheinend constanter Vorliebe an den Bereich des convexen Theils des Scheitel- und Stirnlappens, speciell entlang der Fossa Sylvii hält (Wildermath). Die Hirnrinde an diesen Stellen ist verschmälert, die Furchen verbreitert (cystische Degeneration mikroskopisch nachgewiesen). Seltener, und nur in weitgediehenen Fällen, finden sich Veränderungen an der Dura; häufiger dagegen cir- cumscripte Transparenzen des Schädeldachs, entsprechend den sulzig ge- quollenen Piastellen.

Die wichtigen forensen Beziehungen der epileptischen Geistesstö- rung sind in den betr. Lehrbüchern nachzusehen. Hier soll nur ein Zweifaches knrz Erwähnung finden: 1. der A Ugem ein Charakter vieler epileptischer Acte: das unvermittelte Auftreten und das Impulsive der Ausfuhrung. Während der Epileptiker beide Momente mit der ver- wandten Handlungsweise der Hysterischen theilt, kommt bei ihm noch als specifische Zuthat das triebartige Ungestüm hinzu, womit er stiehlt, mordet u. s. w. ohne Effectbewusstsein und Effectgefuhl, bis ihm eine äussere überwältigende Schranke hemmend entgegentritt. Diesen gegenüber sind nicht minder wichtig 2. die anscheinend normalen Hand- lungen in manchen psychisch-epileptischen Paroxysmen, für welche nach- her volle Amnesie besteht. Letztere ist und bleibt das wichtigste und entscheidende psychologische Kriterium für wirkliche Epilepsie; nur sind die verschiedenen Modi derselben im Einzelfalle einzurechnen (s. o.).

Die Behandlung eines epileptischen Irreseinsanfalls erfordert fast immer ein Asyl, für die frischen und acuten ein entsprechend eingerichtetes Spital, für die chronischen und häufig recidivirenden die Irrenanstalt. Der Kranke muss in erster Linie abgehalten wer- den sich und Andere zu beschädigen. Bei der oben chrarakterisirten Natur des Handelns und der in der Regel tiefen Bcwussteeinsstörung ist zunächst Isolirung nöthig. Wegen der Gefahr des Selbstmords, des Triebs zur Verstümmelung, sowie einer Verletzung durch das plötzliche Eintreten eines Krampfanfalls muss der Kranke ständig beobachtet resp. geschützt werden. Ist der Paroxysmus ein rasch vorübergehender, so ist auch die Isolirung nur entsprechend kurz nothwendig; bei protrahirterm Verlauf gibt der vorhandene Reiz- zustand oft Anlass zu längerer resp. nach Bedürfniss wiederholter Isolirung. Oft genügt die einfache Bettlage in einem gemeinsamen Sehlafsaal. Für die Fälle mit Gefahr der Selbstbeschädigung ist eine Polsterzelle sehr wünsebenswertb.

Die Bekämpfung starker Congestionen nach dem Kopfe ist, so lange das acute Erreguugsstadium andauert, meist unmöglich. Da jedoch diese Zustände gewöhnlich rasch vorübergehen, oder durch einen oder mehrere Krampfanfälle unterbrochen werden, so ist erst der passende Moment abzuwarten für Application von Eis, ableitende

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Forense Gesichtspunkte. Therapie.

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Mittel, Blutentziehungen, lauwarme Bäder mit Umschlägen. Ist das Erregungsstadium hochgradig, oder zieht sich dasselbe längere Zeit hinaus und ist dadurch Gefahr für das Leben vorhanden, so sind Narcotica indicirt. Am raschesten und sichersten wirkt eine Chloral- do8is von 2— 3 Gramm (per os ev. per anum); Morphiuminjectionen haben gewöhnlich keinen Effect Die Wirkung des Bromkaliums ist für diese bedrohliche Situation eine zu unsichere und zu langsame; dagegen wird dasselbe nicht selten mit Vortheil mit Chloral ver- banden.

Im Uebrigen fällt die Behandlung des epileptischen Irreseins mit jener der idiopathischen Epilepsie Uberhaupt zusammen. In erster Linie muss auf die Beseitigung der motorischen Insulte hin- gearbeitet werden (vgl. hierüber Epilepsie Bd. XII).

Gelegentlich ist anzuführen, dass nicht selten die Compression eines Aasgangspunktes der Aura oder auch der Carotiden, ferner Verschlucken von Salz, von etwas Wein, einen drohenden Anfall zu coupiren vermag.

Psych ischerseits bildet die Reizbarkeit der Epileptiker die wich- tigste Indication (daher meistens Asylbehandlung unerlässlich!). Die gesammte Lebensweise, das Maass der geistigen Arbeit, die (vor- wiegend vegetabilische) Diät sind sorgfältigst zu regeln; daneben sind Alcoholica und Tabak möglichst zu vermeiden. Eine ange- messene körperliche Beschäftigung mit viel Aufenthalt im Freien ist ungemein heilsam. Zwischen Thätigkeit und Ruhe ist das richtige Verhältniss herzustellen.

Im Speciellen sind von unverkennbarem Nutzen manche hy- dropathische Curen, wobei als erste Regel gilt, dass sie individuell angepasst und mit Energie und Ausdauer längere Zeit fortgeführt werden: temperirte Waschungen, feuchte Einpackungen mit nach- folgender kalter Douche auf den Kopf; einfache Douche (10— 15 °R) anf den Kopf; im Sommer Flussbäder. Die Douche werde vorsichtig applicirt, nur als Regendouche, und von höchstens 10—15 Secunden Dauer (mit Berücksichtigung auch der Schultergegend, um tiefe Inspirationen zu erzielen); nach der Douche starke Frottirung des Körpers und speciell des Kopfes. Die Haare müssen zu diesem Zwecke kurz geschnitten werden.

Worauf die erfahrungsgemäss gute Wirkung dieser Procedur beruht, ist physiologisch nur so zu erklären, dass wir im Momente der Appli- cation der kalten Douche auf den Kopf einen Zurücktritt des Blutes von den äusseren Theilen zum Gehirn und einen Ausgleich nach aussen durch das nachfolgende starke Frottiren erzielen. Die Normirung der Circu- lation wird durch die künstlich hervorgerufenen tiefen Inspirationen be- günstigt

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Das epileptische Irresein.

Die Brompräparate erfreuen sich immer noch der vorzugs- weisen Berufenheit als Specifica. Deren Anwendung steht deshalb unter den Arzneimitteln in erster Reihe. Die Tagesdosis schwankt von 6-8—12—15 gr. pro die, wobei aber die Wirkung bezüglich der Intoxication (Bromismus) individuell sorgsam zu überwachen ist (s. u.). Die Grösse der Dosis und die methodische Anwendung („wie das tägliche Brod") ist es, was in schweren Fällen so viele glänzende Erfolge gebracht hat und fortan sichert

Unter der Wirkung dieses Mittels hören: a) nach einiger Zeit die Krampfanfälle und mit ihnen die psychische Störung vollständig auf; der epileptische Charakter und die consecutive Demenz bilden sich zurück; oder aber b) es treten die motorischen Insulte zurück, oder vermindern sich, während das Irresein in gleicher oder etwas modificirter Weise fort- dauert; oder c) die Krampfanfälle und das Irresein werden seltner, kommen aber plötzlich mit um so grösserer Heftigkeit und Häufigkeit; oder d) die Krampfanfälle hören vollständig auf, dagegen setzt jetzt da* Irresein mit desto stärkerer Intensität und in protrahirtem Verlaufe ein; oder e) es entwickelt sich mit dem Aufboren der Insulte und des Irre- seins eine so tiefe Apathie, dass Bromkali ausgesetzt werden muss; da- mit kehrt aber jetzt der frühere Zustand zurück; f) die eben genannte Apathie entwickelt sich nur bis zu einem mässigen Grade und bildet sich von selbst wieder zurück; nun erfolgt auch das Aufhören der In- sulte und des Irreseins, aber nur auf eine beschränkte Zeit; g) Krampf- anfälle und Irresein werden durch das Mittel in keiner oder kaum be- merkenswerter Weise beeinflusst; h) manchmal ist selbst in veralteten und hereditär belasteten Fällen noch eine günstige Wirkung des Brom- kali zu constatiren vorausgesetzt, dass es sich nicht um einen in früher Jugend durch Epilepsie erworbenen Blödsinn handelt.

Warum andere Brompräparate, wie Bromuatrium, Bromammo- nium weniger wirksam sind, ist nicht festgestellt. Dagegen wissen wir, dass eine Verbindung der letztgenannten Präparate mit Brom- kalium oft sehr förderlich ist, indem dieselbe die unangenehmen Nebenwirkungen des Bromkaliums allein nicht hat.

Die Toleranz gegen die Brompräparate, insbesondere gegen das Bromkalium ist eine individuell sehr verschiedene. Manche Kranke können das Mittel Jahre lang in grosser Dosis unbehelligt fortsetzen; Andere bekommen bald die bekannten Digestionsstörungen (wogegen Ein- nehmen der Bromlösung in Zuckerwasser mit Nachtrinken von Milch em- pfehlenswertli), Schwäche und Verlangsamung der Herzaction, körperliche und geistige Erschlaffung, welche selbst gefahrdrohend werden können; oder Exantheme mit Geschwüren, hochgradige Störungen der allgemeinen Körperernährung u. s. w. Bei noch höhern Graden der Intoxication treten psychische Exaltationszustände auf, oder auch eine unheimliche Betäubtheit des Sensoriums mit Ataxieen in Gang und Sprache, Erinne* rungsdefecten , Hallucinationen. Diesen unangenehmen Nebenwirkungen des sog. Bromismus begegnet man durch zeitweilige Verminderung der

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Therapie. Die „jugendlichen Epileptiker".

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Tagesdosis, durch Combinirung der Brompräparate; speciell der Brom- acne durch gleichzeitige« Darreichen von Sol. Fowl. Plötzliches Ab- brechen des Mittels muss wegen Gefahr des 4tat du mal vermieden werden.

Führen die Brompräparate nicht zum Ziele, so wird oft mit grossem Yortheil mit Atropin abgewechselt; in andern Fällen sind beide Mittel zweckmässig zu combiniren, namentlich auch in frischen Fällen. Wildermuth fand nach nutzloser Brombehandlung wie- derholt osmiumsaures Kali (10 20 mgr. p. die, in Pillenform) von einem zweifellosen Erfolg begleitet; auch die Reizbarkeit nach den Anfällen wurde herabgesetzt und die intellectuelle Schwäche ge- bessert. In einem Fall dagegen minderten sich dabei die Anfälle; aber es trat jetzt ein psychischer Erregungszustand auf.

In sehr seltenen Fällen erlebt man auch eine spontane Heilung des (noch frischen, auf wenige Anfälle erst beschränkten) epileptischen Irreseins mit bleibender Dauer. Interessant ist die von Fischer ge- machte Beobachtung, wonach eine schwere nnd tief eingewurzelte epilep- tische Psychose durch einen intercurrenten Typhus in einen hallucinato- rischen Wahnsinn, ganz nach dem Typus des hysterischen überging mit zeitweilig jetzt auftretenden, echt hysterischen, Krampfattaken, und von da in vollständige und dauernde Genesung.

Anhang. Die jugendlichen Epileptiker erfordern wegen ihres theilweise von dem vorbeschriebenen verschiedenen Verhaltens eine gesonderte Besprechung. Gemeinsam ist auch ihnen (welche die Krampfneurose vor oder während der Pubertätszeit erwerben) a) eine chronische Psychose eine Art epileptischen Charakters, nnd b) ein acutes Irresein, welches bald an die Insulte sich an- scbliesst resp. vorausgeht oder die letztern ersetzt, bald unabhängig intervallär oder aber vor dem Beginn resp. nach dem Aufhören der gpecifischen Krampfanfälle auftritt.

a) Die chronische Psychose der jugendlichen Epileptiker. Nach Wildermuth's Schätzung sind höchstens 20— 25 °/o der letztern als geistig intact zu bezeichnen, und auch unter diesen steht die Mehrzahl an der Grenze geistiger Gesundheit. Sie verdanken viel- leicht ihr günstigeres Geschick dem relativ erst spätem Eintritt der schädigenden Krampfneurose (nach dem 5. Lebensjahre). In je früherm Alter letztere auftritt, desto grösser ist die Gefahr, desto früher der Eintritt des Idiotismus.

Diese jugendliche epileptische Idiotie zeigt als Hauptsymptom eine psychische Schwäche anergetischer Form. Namentlich ist der Ablauf der Vorstellungen ausserordentlich verlangsamt. Sehr häutig sind gewisse Bizarrerieen damit verbunden: Sammeltrieb, Freude an bestimmten Be- wegungen, an wehenden, flatternden u. s. w. Gegenständen. Es kommen

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Das epileptische Irresein.

alle Grade vor, vom leichtern bildungsfähigen Schwachsinn bis zum voll- ständigen Blödsinn. Die letztern haben keine speeifischen Merkmale; da- gegen zeichnet die erstem eine auffallende Abnahme des Ge- dächtnisses für längst Vergangenes in hohem Grade aus, neben einer sonst leidlich noch erhaltenen Intelligenz, ja oft als eine fast selbständige Functionsstörung. Ebenso charakteristisch, und in scharfem Gegensatz zur Idiotie aus andern Ursachen, ist auch hier das Vorhandensein eines oft recht lebhaften Krankheitsgefühls, nicht bloss bezüglich der „Anfälle", sondern speciell auch des psychischen Verhaltens (vgl. 8. 257).

Ob an eine vorausgegangene Epilepsie sich ein psychischer Zu- stand anschliessen werde, entscheidet sich in der Regel im Zeitraum von 1—2 Jahren nach Auftreten der erstem. Wohl aber leitet gegen- theils sehr oft eine psychische Veränderung den Ausbruch eigent- licher epileptischer Anfälle ein, wenn letztere auf vorausgegangene Traumen oder auf Infectionskrankheiten (worunter Scarlatina voran- steht) nachfolgen. Diese vorausgeworfenen „geistigen Schatten" be- stehen theils in intellectueller Abschwächung, theils in einem auf- geregten ängstlichen Wesen, oder auch in einer auffälligen Hastigkeit des Benehmens (manchmal mit choreaartigen Zuständen); in andern Fällen in grosser Reizbarkeit und Zornmütbigkeit, welche sogar bis zu Angriffen auf die Umgebung führt. Nach mehr oder minder langem Bestand dieser prämonitorischen Charakteränderung brechen dann die Insulte aus.

Viel häufiger ist jene dagegen eine consecutive, als Nachwirkung der bestehenden Krankheit auftretend. Verschieden vom Erwach- senen scheint hier, in der Jugend, die Häufigkeit der Anfälle nicht ohne Einwirkung auf den Eintritt der chronischen Psychose zu sein. Die letztere d. h. die typische Charakteränderung pflegt in der Pubertätszeit zu beginnen. Sie erstreckt sich nach intellec- tueller und nach ethischer Seite, führt dort zu einem zunehmenden Schwachsinn, welcher in der Regel erst die Function des Gedächt- nisses beschlägt (s. o.), später allgemein wird; hier zu einer beson- dern Form moralischer Entartung.

Die bis dahin folgsamen, zuthunlichen Kranken werden mürrisch, widerstrebend, ungesellig, streitsüchtig; allmählich pietätslos, endlich roh, gewaltthätig (Misshandlung von Thieren, von Gespielen, Geschwistern). Es ist bemerkenswerth und für die organisch krankhafte Natur dieser psychischen Umwandlung bezeichnend, dass diese Charakteränderung in gleicher Weise und gleich unaufhaltsam in der liebevollen Pflege des Elternhauses, wie unter der rationellen und consequenten Erziehung der Anstalt, oder in den kümmerlichen Verhältnissen des Proletariers sich vollziehen kann. Von dem moralischen Defectzustand des gewöhnlichen Idioten unterscheidet sich diese epileptische Depravation durch ihre emi- nente Activität, dnreh den Grundzug der Gewalttätigkeit, welcher

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Die jugendlichen Epileptiker. Charakteränderung.

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ihr innewohnt, und namentlich auch durch die relative Erhaltung der Intelligenz. Der epileptische Charakter scheint sich sogar mit Vorliebe die Fälle auszusuchen , in welchen die Intelligenz eine wesentliche Ein- busse noch nicht erlitten hat. Im Speciellen lässt sich eine schwerere nnd eine leichtere Form des epileptischen Charakters unterscheiden. Die erste re entwickelt sich in der oben bezeichneten Richtung des Verküm- merns und endlichen Untergangs der altruistischen Gefühle weiter bis zu den Höhegraden der Moral Insanity; aus ihr wachsen später die gefähr- lichen Epileptiker auf. Die zweite bleibt zunächst auf der Consolidirung einer mürrischen, misstrauischen Stimmungsgrundlage stehen, und bewahrt neben krankhaften Antipathieen ein sonst gutmUthiges Wesen. In der Folge fallen aber die Träger einem Beachtungswahn anheim (Verspottung durch Andere); sie werden unsocial und nicht selten brutal gewaltthätig. Die dadurch entstehenden Misshelligkeiten, verbunden mit der krankhaften Unfähigkeit sich consequent zu beschäftigen, machen die Kranken ar- beitsscheu und führen Viele dem Vagantenthum zu. So entstehen die „epileptischen Bummler". Interessant ist der Einflus9 der socialen Stellung auf diese letztere Gruppe. Während die der untern Klassen, ohne äusseres Correctiv und inneres Steuer, in der Regel früher oder später zu Landstreichern und Gewohnheitsdieben werden und als solche der Justiz zuwandern, entwickeln sich die social besser situirten Kranken, welchen das gute Beispiel ihrer Geschwister, die Würde der elterlichen Stellung zum lebendigen Aufblick verblieben ist, nach der Art hebe- phrener Prahlhänse. Sie tragen sich mit phantastischen Zukunftsplänen, lieben die Weltklugen zu spielen, mit wissenschaftlichem Flitter zu para- diren, in der Politik zu kannegiessern, bleiben aber unfähig zu jeder gründlichen Erlernung, nnd verlaufen endlich kläglich in dem traurig- komischen Contrast ihrer Grossmannssucht mit ihrer wirklichen geistigen Impotenz. Bei weiblichen Kranken stellt sich nicht selten ein ausge- prägter Hang zu sentimental -tragischem Wesen ein: die Kranken ge- fallen sich in der Rolle der Leidenden, tragen auch mit Vorliebe die vermeintlichen Kränkungen seitens der Umgebung mit der Miene der unschuldigen Dulderin vor, fallen aber gelegentlich mit sehr unzarten Schimpf- und Räsonnirparoxysmen bedeutend aus der Rolle. Ein bei- den Geschlechtern zukommender Charakterzu^, welcher auch erst in den Pubertätsjahren aufzutreten pflegt, ist die „klettenartige Aufdringlich- keit" dieser jugendlichen Epileptiker, wodurch sie ohne Rücksicht auf Ort, Zeit und Stimmungslage ihres ausgesuchten Opfers mit eintöniger Beredtsamkeit endlose Klagen, oder auch völlig affectlos unendliche Erzäh- lungen über ganz gleichgültige Dinge vorbringen. Auch die demon- strativ-religiöse Färbung des Charakters (grundverschieden von der naiven echten Frömmigkeit des Kindesalters) pflegt in den Pubertätsjahren sich aufzu9chlie8seu.

Bemerkenswerth für alle diese Charakterzüge ist I . dass sie oft ausser- ordentlich rapid sich entwickeln, und 2. dass sie in vielfachen Zusammen- hang mit den Insulten treten und darnach zahlreiche Schwankungen zeigeu.

Vergleicht man diese chronisebe Neuropsychose mit den ein- zelnen Formen der grundliegendcn Epilepsie, so lassen sich durch-

Scbüle, GeiataikrankUeiUn. 3. Aufl. IS

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Da« epileptische Irresein.

greifende Unterschiede d. h. constante psychische Varietäten nicht auffinden. Doch bleiben immerhin einige beachtenswerthe Nuancen. So entspricht a) der typischen Epilepsie (ausgebildete Krampfanfälle mit völliger Bewusstseinsstörung; allgemeine tonische und klonische Convulsionen ; petit mal; meist völlig dunkle Aetiologie) das Vor- kommen sämmtlicher oben skizzirter intervallärer Störungen; da- gegen der b) Epilepsie mit Hemiparese (i. e. halbseitige Affection der Pyramidenbahnen; klinisch: erst halbseitige, dann allgemeine Zuckungen, complete Bewusstseinsstörung oder petit mal; häufigste Ursache: Scharlach) ein mittlerer und hochgradiger Schwachsinn mit weniger typischer Charakterdegeneration; während die c) corti- cale Epilepsie durch psychische Intactheit resp. mässige psychische Schwäche ausgezeichnet ist. Eine vierte Gruppe d) lässt sich noch anfügen, welche in grosser Gleichartigkeit eine Annäherung an die allgemeine Paralyse darbietet.

Jedoch vorwiegend in den somatischen Zeichen: hochgradige Coor- dinationsstörung in der Sprache, Schrift, untern Extremitäten, weniger in den Armen und Händen. Auch die Aetiologie (geistige Ueberanstrengung, Kopfcontusion) trifft zu. Die psychischen Symptome beschränken sich auf die progressive Demenz, welcher aber die für die klassische Para- lyse specifischen Detailzeichen (Grössen wahn u. s. w.) fehlen. Auch der „progressive" Charakter ist ein begrenzter; derselbe entwickelt sich nur bis zu einem gewissen Grade, bleibt aber dann stehen (Aehnlichkeit mit gewissen alkoholischen Paralyseformen). Darin und in der sehr langen Dauer liegen weitere Unterschiede gegenüber der klassischen Form. Die epileptischen Anfälle, welche zu diesem klinischen Typus führen, sind sehr schwere typische; petit mal ist vorhanden; die geistige Ab- nahme eine sehr rapide; die Form der (acuten) psychischen Störung ist Stupor mit gelegentlichen Erregungszuständen.

Beachtenswerth ist das Verhalten der motorischen Insulte zu den Veränderungen im ethisch- psychischen Charakter. Dasselbe ist sehr verschieden. Der epileptische Charakter kann sich entwickeln a) gleich- zeitig mit häufigem und schwerern Anfällen (d. h. bei Verschlechte- rung des Leidens); b) beim Gleichbleiben der motorischen Symptome, und c) nach wesentlicher Besserung, ja Sistirung der letzteren.

b) Die intercurrir enden acuten psychischen Störungen bei jugend- lichen Epileptikern. Allgemein kann behauptet werden, dass schwere acute Formen selten sind; namentlich scheinen die Zustände furi- bunder Manie (bei Erwachsenen so häufig) bei den jugendlichen Epileptikern zu fehlen. Für die Entwicklung sämmtlicher inter- currenter Psychosen ist wiederum die Pubertät die entscheidende Zeit

Bezüglich des Verhaltens derselben zu den Insulten lassen sich etwa 3 Gruppen aufstellen:

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Die jugendlichen Epileptiker. Intercurrente acute Irreseinsanfalle. 275

a) Es treten zeitweilige psychische Störungen auf, aber ohne einen deutlichen zeitlichen Zusammenhang mit den Krampfattaken resp. mit einer besonderen Häufung oder Intensität der letztern. Sie kommen in unregelmässiger Weise vor, ohne Insulte, oder letztere einleitend, oder denselben nachfolgend. Die klinischen Formen sind acutes hallucinatorisches Delirium, und Dämmerzustände mit reli- giösem Delirium.

Die Kranken werden zeitweise stiller, träumerischer, oder versinken in einen Zustand von tiefer Stupidität, in welchem aber oft noch ein Schimmer von Perception bleibt. Während desselben reges hallucinato- risches Traumleben (Gesichte von Engeln, schwebenden Figuren, himm- lischen und höllischen Geistern). Aus diesem gehen sie theils allmählich wieder in das gewöhnliche Verhalten über, oder aber durch ein Zwischen- stadium von Aufregung und Gewalttätigkeit mit Hallucinationen, welche aber nicht schreckhaften Inhalts sind. Manchmal trägt die Erregungs- phase einen gehobenen Charakter mit „Gott"hallucinationen.

b) Die Psychose resp. pathologische Stimmungsänderung steht mit den Anfällen in Zusammenhang, aber ohne dass sich zwischen prä- und postepileptischer Periode ein klinischer Unterschied machen Hesse.

Der Kranke befindet sich und zwar wiederholt sich dies jedes- mal in ziemlich gleichmässiger Weise 1 2 Tage vor oder nach dem Anfall resp. während der ganzen Zeit einer Anfallsgruppe in einer krank- haften Stimmung (streitsüchtiges, mürrisches, begehrerisches Wesen), welche allmählich wieder in das normale Verhalten übergeht. Das Be- wusstsein bleibt dabei erhalten und fehlt nur in den Krampfattaken.

c) Die psychische Aenderung ist an den Anfall gebunden und tritt deutlich prä- oder postepileptisch auf. Diese beiden Phasen wiederholen sich jeweils typisch, so dass man nach der einen oder anderen deutlich erkennen kann, ob der Kranke eine Krarapfattake gehabt oder eine solche bekommen werde (bemerkenswerther Unter- schied gegenüber dem Erwachsenen!).

Hier kommen eine Menge Varietäten und Abstufungen vor. Im Ganzen kann gesagt werden, dass das jugendliche Gehirn vom einzelneu Anfall weniger afticirt wird als das des Erwachsenen. Lang anhaltender Stupor ist sehr selten, nicht minder eine wirklich ausgebildete postepi- leptiscbe Psychose, worunter die furibunde Manie ganz zu fehlen scheint (8. o.). In der Regel handelt es sich nur um fragmentare Psychosen d. h. um Stimmungsänderungen. Unter diesen kann eine depressive Phase der Krampfattake vorhergehen und eine euphorische dem Insult folgen, oder auch umgekehrt (letzteres übrigens seltener). Bemerkenswerth ist die gleichmässige Wiederholung des einmal angenommenen Typus. Der Inhalt der präepileptisch depressiven Phase ist entweder hypochondrischer Natur (Leib verfault, Zähne fallen aus), oder mehr ein melancholischer, oder endlich gereizt zornmüthiger, mit Selbst- und Gemeingefährlichkeit.

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Das epileptische Irresein.

Die euphorische Phase besteht in gutmttthiger Zuthunlichkcit und schwach- sinniger Zufriedenheit. Prognostisch wichtig ist der übereinstimmend schwere Charakter dieser Gruppe; der therapeutische Erfolg erweist sich allermeist = Null, oder als höchstens sehr unbedeutend.

d) Die psychische Störung tritt als Aequivalent ein.

Hier finden die vielfachsten Variationen statt. So kann a) die Krank- heit mit acuten psychischen Anfällen 'von ganz kurzer Dauer (Davon* springen, plötzliche Heftigkeit) einsetzen, und nach und nach in typische (motorische) Epilepsie Ubergehen. Oder (1) die typischen Insulte ver- schwinden, und an deren Stelle treten periodische Erregungszustände (Zerreissen, Zerstören, Wegwerfen, zweckloses Stehlen ; oder aber wider- wärtiges, streitsüchtiges, arbeitsscheues Wesen). Manchmal bleiben die Insulte, scheiden sich aber in starke und schwache; an die letztern schliessen sich traumartig hallucinatorische Erregungszustände an, während die erstem durch ein leicht soporöses Stadium in Euphorie übergehen. Interessant sind die Fälle, in welchen nach Zurücktreten der Insulte psychische Erregungszustände eintreten, welche später mit der Wieder- kehr der motorischen Attaken wieder verschwinden.

Auch im Verlauf des jugendlichen epileptischen Irreseins können intercurrirend hysterische Anfälle mit Vociferationen, Grand mou- vement und charakteristischem psychischem Verhalten auftreten. Die- selben kritisiren sich durch mehrtägigen nachfolgenden Sopor.

Therapie.

Die somatische (arzneiliche) Therapie ist nach den für die er- wachsenen Epileptiker besprochenen Indicationen m. m. einzurichten. In psychischer Hinsicht ist auf Berufswahl und Beschäftigung der jungen Kranken die sorgsamste Rücksicht zu lenken. Als Grund- satz gilt hier, dass für Alle, welche in einem erheblichen Grade an dieser Krankheit leiden, ein gelehrter resp. höherer technischer Beruf sich nicht eignet; am besten ein Handwerk, welches Beschäftigung zu Hause gestattet (Buchbinder, Korbmacher, Mechaniker, Gärtner, Oekonomen). Es ist gut dies den Eltern vorher zu sagen, um ihnen eine Reihe schmerzvoller Enttäuschungen, fehlgeschlagener Hoff- nungen zu ersparen, und alle die nutzlosen Experimente zu verhin- dern, welche auf die ganze Entwicklung des Kranken den ungünstig- sten Eiufluss äussern. Namentlich hüte man sich die Eltern auf die Entwicklungszeit des Kindes in der Pubertät zu vertrösten; keine einzige dieser Versprechungen erfüllt sich; denn die Pubertät ist ja gerade die Keimstätte für die Entfaltung dieser schrecklichen Neurose. Machen die eiuzelnen Anfälle oder das psychische Ver- halten den regelmässigen Besuch einer öffentlichen Schule unmöglich, dann ist (ganz glänzende Verhältnisse vielleicht abgerechnet) die Verbringung in eine Anstalt angezeigt

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Das hypochondrische Irresein.

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Die letztere muss neben geregeltem ärztlichem Dienst Gelegenheit geben a) zur Erwerbung guter Volksschulkenntnisse, b) zur Ausbildung in geeigneten Gewerken, und c) zu vieler Bewegung im Freien und ge- regeltem Turnunterricht. (Ueber die nöthigen Requisiten vgl. die citirten Aufsätze von Wildermuth.) Psycbiatrischerseits ist das Postulat auf- zustellen, dass Anstalten für Epileptische unter ärztliche Directiou zu stehen kommen. Diese ist hier so nothwendig wie bei Irrenheilanstalten, und nothwendiger als bei Irrenpflegeanstalten. Es ist eine dringende Pflicht des Staats diese hochwichtige Aufgabe, welche an Wichtigkeit der übrigen Irrenfürsorge nicht nachsteht, seinerseits in die Hand zu nehmen!

Das hypochondrische Irresein.

Literatur s. beiJolly, d. Handb. 12. Le Grand du Saulle, Gaz. des höp. 1681. Zur nenrasthenfschen Unterform: Beard, Nervenschwäche. Chambard, l'Enceph. 1882. Tuczek, Allg. Ztschr. f. Psych. 39. v. Holst, Mooogr. 1883. (Behandlung).

Unter Hypochondrie versteht man eine psychische Neurose auf Grundlage einer Hyperästhesie der Empfindungsnerven einzelner oder aller Organgebiete, und mit der Wirkung eines dadurch gesetzten Zwanges auf das gesammte Seelenleben. Dieser äussert sich intel- lectuell in der anhaltenden Concentrirung der Aufmerksamkeit auf das leidende Empfindungsgebiet, in der Gemlithssphäre als Ver- stimmung und Angst, und nach Seite des Willens als Unruhe und Aufregung neben zunehmender Apathie fUr die ausserhalb des kör- perlichen Schmerzgebiets liegenden Reize und Anregungen.

Es entgehen nicht die in dieser nosologischen Umschreibung gele- genen und tatsächlich vorhandenen, vielfachen Beziehungen zur Melan- cholie, und andererseits zur Hysterie. Mit ersterer theilt die Hypochon- drie dasselbe Grundelement einer psychischen Hyperästhesie und die reactive Verstimmung; mit letzterer den Reflexzwang, welcher die jewei- lige seelische Disposition ganz nur an die irritirte sensible Nervenfaser bindet. Noch eine andere Eigentümlichkeit verknüpft die hypochon- drische Neurose mit den beiden vorgenannten und ausserdem noch mit gewissen Formen des Wahnsinns: die prompte Wechselwirkung zwischen peripherer „Neuralgie" und dem psychischen Centrum, und ebenso zwi- schen diesem und dem Empfindungsgebiet, wodurch centrale Gefühle sich in letzteres „einzubilden", zu wirklichen körperlichen Sensationen sich zu gestalten vermögen. Wir begegnen deshalb der hypochondrischen Neurose auch gelegentlich unter der Form der Melancholie und des Wahnsinns. Zwischen hysterischem und hypochondrischem Charakter ist vollends im Gebiete des „körperlichen Weheseins" keine nosologische

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Das hypochondrische Irresein.

Unterscheidung zu ziehen. Die gesonderte Besprechung an dieser Stelle will der Thatsache Rechnung tragen, dass der hypochondrische Seelen- zustand sehr oft auch für sich auftritt, als selbstständige Neurose, welche zwar in Melancholie oder Wahnsinn übergehen kann, nicht selten aber auch in ihrem klinischen Habitus verbleibt resp. in psychische Schwäche tibergeht. Als solcher bildet das hypochondrische Irresein neben dem hysterischen und epileptischen eine besondere psychische Constitution*- erkrankung, und mit den letzteren zugleich eine eigene Form der geistigen Degenerescenz.

Analyse der Symptome und Krankheitsentwicklung.

1. Psychische Hyperästhesie auf dem Empfindungs- gebiet Hauptsymptom. „Der Hypochonder ist der Virtuose auf den sensibeln Nerven." Alle körperlichen ReizeindrUcke werden ge- steigert empfunden. Bald ist es nur ein bestimmtes Gebiet, wel- ches diese gesteigerten Schwellenwerthe besitzt, bald der sensible „Nervenbaum" in allen Zweigen, anhaltend oder auch zeitweise nach einzelnen Provinzen wechselnd. Begünstigt sind erfahrungsgemäß die Unterleibs- und Genitalnerven, deren Eindrücke besonders ein- schneidend vom Sensorium erfasst werden. Die Empfindungen sind aber nicht nur gesteigert, sondern sehr häufig auch qualitativ parästhetisch geändert; sie imponiren dem Kranken als neu, un- gewohnt, unfassbar, keiner Bezeichnung zugänglich.

Der Hypochonder fithlt eben nicht nur die Allen geläufigen Verstim- mungen in gesteigertem Grade, sondern thatsächlich auch ganz specifische, dem normalen Empfindungskreise sonst verschlossene. So kann das für den gesunden Menschen unfühlbare Verdauungsgeschäft sich für den Hy- pochonder in eine Welt der eigenartigsten Sensationen aus der Peristaltik des Magens und der Gedärme, welche er deutlich mitempfinden muss, auflösen. Die häufig der hypochondrischen Neurose zu Grunde liegende Neurasthenie läset keine Körperbewegung zu Stande kommen, ohne eine schmerzliche Mitempfindung; ja selbst die stille Arbeit des Denkens wird unangenehm, oft sogar schmerzlich pereipirt; nicht minder aber ebenso auch die körperliche oder geistige Ruhe. Die Sinneseindrücke gestalten sich zu peinlichen Geräuschen, Lichtblitzen u. s. w.

Aber es bleibt nicht einfach bei dieser sensibeln und sensoriellen Hyperästhesie. In den Blickpunkt des Bewusstseins eingetreten, bleiben die Empfindungen haften, fesseln die Aufmerksamkeit und knüpfen sich, indem sie zugleich in beängstigender Weise das Ge- müth erregen, an gleichsinnige Vorstellungen an. Der Kranke wird zum grüblerischen Philosophen seines verstimmten Empfindung«- Instruments. Er findet in den bestürmenden Sensationen etwas Be- achtenswerthes, was ihn mit Grund beunruhigen muss. Nun hilft die Phantasie oder die emsig cousultirte Lectüre zur Vollendung des

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Analyse der Symptome und Krankheitsentwicklung.

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Wabnschlusses. Der aufgetriebene Magen lässt ..innere Hämor- rhoiden" oder gar noch Schlimmeres vermuthen , der zeitweilige Rückenschmerz die heranschleichende Tabes, der „Kopfdrack" das leise sich vorbereitende Hirnleiden diagnosticiren. Nnn wird weiter geforscht, beobachtet und verworfen, verbessert und wieder neu entdeckt: der geistig- körperliche Cirkel schliesst sich zu einer fllr den Kranken immer zweifelloseren Thatsache. Entspricht der aus- legende Gedanke ganz und einzig der Qualität des körperlichen Gefühls, so regt sich andrerseits dieses letztere immer und sofort neu, sobald nur die befürchtete Vermuthung leise anklopft. So wird der geistige Zwang und die „Schablone" fertig, welche sich nun mit täglich frischem Krankheitsinhalt anfüllt. Damit ist's aber jetzt auch um die Ruhe des Kranken geschehen: zur sensibeln Hyper- ästhesie kommt nun auch die des Gemüths; der Kranke wird traurig, und verfällt einer zunehmenden Angst In dieser Phase des Leidens geht der Hypochonder mit dem Melancholiker zusammen ; jener bleibt nur realer in den subjectiven Beweisgründen seiner Resignation oder Verzweiflung, während dieser mehr aus der Metaphysik seine Er- klärung holt. Manchmal gehen thatsächlich beide Zustände auch zeitlich in einander Uber: erst ist der Kranke ein hypochondrischer Melancholiker, später der Gemüthsgedrückte aus Sündenschuld. Der Zwang des krankhaften Fühlens bleibt derselbe. Der definitive Hypochonder verbleibt aber im Bann seiner körperlichen Miss- empfindungen und Befürchtungen. Er ist krank, schwerkrank, un- heilbar. Die jeweilige Beschaffenheit des Stuhlgangs, das Eintreten oder Fehlen irgend einer erwarteten Empfindung wirft unerbittlich die Tagesloose für seine Stimmung. Dabei erblasst, wie beim Me- lancholiker, das Gemüth8intere88e fllr Alles ausserhalb der krank- haften Gefühlskreise Gelegene. Für sich ängstlich, überbesorgt, wird der Kranke gegen Andere gleichmütig; der krankhafte Selbst- Ciilt führt zum Egoismus, und dieser nach und nach zu einer voll- ständigen Gemüthsverknöcherung, zur endlichen Theilnahmlosigkeit selbst für die Familie, für den Beruf, für alles Ideale. Nur für die Anerkennung seiner berechtigten Klagen bewahrt der Kranke eine feine, fast gesteigerte, ja reizbare Empfindung, und ebenso auch für den Neid gegenüber Anderen, Gesunden (gleichwie beim Melancho- liker gegen Glückliche).

Doch ist dieses Verhalten nicht ausnahmslos : es gibt viele jahrelang und schwer geprüfte Hypochonder, welche in der Stille zu dulden wissen, und in ihrer Brust und ihrem äusseren Benehmen Manches von dem ein- stigen „göttlichen Feuer" zu retten vermögen; sie bleiben bei aller Un-

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Das hypochondrische Irresein.

liebenswürdigkeit, die sie nun einmal begehen müssen, gelassene und ge- duldige Menschen, und dabei dankbar und vertrauend.

2. Das Vorstellen ist verlangsamt bei innerer UeberfUllung wie beim Melancholiker. Die gesteigerten Sensationen erzwingen sich und binden die Aufmerksamkeit; die dazu „gestimmten" Vor- stellungen werden aufgesogen und angebildet, die übrigen laufen träger ab, oder stagniren. Daher die Monotonie des Vorstellens, welche schliesslich zu immer grösserer Oede des intellectuellen Be- sitzes führt, weil jeder zur Uauptgruppe nicht passende Complex verdunkelt und gehemmt wird, und ein neuer nur unter unangenehmen Hirnempfindungen vorzudringen vermag, so dass die psychische Hyperästhesie immer aufs Neue wieder geweckt wird. Wenn nicht (durch Uebergang in Wahnsinn) gefälschte Vorstellungen sich ein- mischen, so kann der Gedankeninhalt des Hypochonders auf Jahre, selbst durch das Leben hindurch, qualitativ geschont bleiben. Stets bildet sich aber mit der immer grössern Stagnation auch eine all- mähliche geistige Abschwächung ein, welche nach und nach in Blöd- sinn Ubergehen kann.

Aber auch in diesem Seelengebiete gibt es Helden, welche trotz des niederziehenden Zwanges der lästigen OrgangefUhle und deren Beäng- stigungen tapfer auf der Höhe ihrer intellectuellen Schaffungskraft sich zu halten vermögen.

Steht die Hypochondrie auf erblich belasteter oder neurasthenischer Grundlage, so erschließt sich auf dem grüblerischen geistigen Boden sehr oft ein Heer von Zwangsvorstellungen, mit und ohne BerUhrungsfurcht; sehr häufig mit Vorstellungsschwindel (Platz-Angst).

3. Die Willenssphäre als Reflex der abnormen Gemuths- lagen uud peinlich aufgedrungenen Stimmungen ist, wie diese, tief geschädigt. Ueberempfindlich und reizbar auf der einen Seite, unter- liegen auf der andern die Kranken einer schwächlichen Weinerlich- keit; selbst rüstige Männer werden oft in „ihren Thränen lebende Wasserpflanzen". In ihren Paroxysmen, welche oft chronisch sind und Jahre dauern können, erschöpfen sie sich durch eine rath- und fassungslose Unruhe, welche keine Befriedigung kennt. Wohl schei- nen sie manchmal nach einer geduldigen ärztlichen Abhör getröstet und ermuthigt, aber der „Wurm in ihrem Gehirn" stirbt nicht.

Nach aussen suchen Viele ihrem Schmerze einen möglichst osten- sibeln Ausdruck zu geben; sie schleppen sich in zusammengebrochen müder Haltung, die Hände am Bauche oder den Genitalien, herum, for- dern mit dem wehmüthigsten Blicke uud dem schmerzlichsten Gesichts- ausdruck das allgemeine Mitleid heraus, legen sich viel hin, vermeiden die mindeste Anstrengung, stöhnen, seufzen, schluchzen für sieh, oder sowie Jemand in ihre Nahe kommt. Stärkere Naturen wissen ihre

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Analyse der Symptome. Körperliche Begleitzeichen. 281

würdevolle Haltung zu bewahren und aufrecht zu bleiben, und nur die gramdurchfurchte Stirne und das umwölkte Auge im bleichen, missfar- bigen Gesichte treten als stumme Zeugen der inneren Leiden hervor.

Aerzte über Aerzte werden consultirt; mit dem Genuss sich auszusprechen vermehrt sich die Begierde. Die Bereitwilligkeit, in den Tod zu gehen, statt dieses Daseins Schwere weiterzutragen, wird zur stehenden Redensart, welche glücklicherweise nicht gerade häufig sich in die That umsetzt; aber doch oft genug, um die sorgsamste Ueberwachung des Arztes zu rechtfertigen. Ein täg- lich und stündlich vorgesagter Gedanke vermag auch eine krank- hafte Feigheit zum Verhängniss zu treiben, zumal bei der Emotivität dieser gemüthsschwachen Menschen! Unbefriedigt durch ärztliche Curen und die versuchten Geheimmittel, durch die Elektricitäts* und Wasserkünste, wird der Hypochonder endlich zum Selbstarzt Nun beginnt die Medicina crudelis selbstersonnener Quälereien. Der Stuhlgang wird täglich aufgefangen und analysirt, der Urin beob- achtet, dabei wacker Pulse gezählt, die Kleidung nach jedem Thermometerstand genau regulirt, mathematisch abgezählte Zimmer- gymnastik getrieben („um das Blut bald nach ein-, bald nach aus- wärts zu leiten"), Uber Pollutionen sorgsam Buch geführt, mit Hebeln und Schrauben zu deren Bekämpfung geschritten, allen „Bacterien" in Speisen und Getränken peinlichst aus dem Wege ge- gangen — der ganze Tageslauf geht schliesslich in einem Register von scharf abgewogenem Thun und Lassen auf. Der Kranke dieses Grades wird für seinen Beruf, für die Umgebung immer mehr todt, und lebt, ein Verschollener, nur noch sein selbstgezimmertes künst- liches Dasein.

Aber auch hier gibt es Ausnahmen ! Mit bewundernswerter Selbst- hilfe schaffen sie sich allerlei geistige „Krücken" (sie ordnen täglich ihren gesammten Zimmerbestand in neuer und systematischer Anlage, fegen und scheuern u. s. w.), und beschwichtigen dadurch jeweils für den Tag ihre krankhaften Sensationen, so dass sie fllr einige Stunden frei und wieder zu „Menschen" werden.

Körperliche Symptome, a) Sensibi litätsstöruugen. Hieherge- hört das ganze Heer von Hyperitsthesieen und Neuralgieen, wie sie na- mentlich den neurasthenischen Syraptomencomplex zusammensetzen. Da- runter treten besonders hervor: die Klagen Uber Kopf, Rücken, Unterleib, Kopfdruck in allen Formen, Kopfweh, vor Allem aber Schwindel (nicht immer in „drehender" Form, sondern oft, als ob die Kranken in ein Loch herabträten, oder mit dem Körper schwebten); sodann peinliche BegleitgefUhle bei geistigen Arbeiten (beim Sich-Besinnen u. s. w.); para- doxe Sensationen im Kopfinnern (als ob ein Rad drin gehe, Waschseile aufgespannt wären, Theile fehlten); im Rücken: rasche Ermüdung, Amei- senkriechen, elektrische Sensationen, Kreuzschmerz mit Irradiationen Uber

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Das bypochoudrische Irresein.

Beine und Blase, allmählich aufsteigend in die Brustgegend, mit Inter- co8talschmerzen, Occipitalneuralgieen, Trigeminus3chmerz. Sensorielle Hy- perästhesie, besonders des Gesichts und Gehörs mit grosser Neigung zu phantastischer Umbildung; ausserordentlich gesteigerter Geruch- und Ge- schmacksinn (z. B. gegen Pfeffer). Spinalanästhesie und -Analgesie ist vergleichweise seltener (Taub- und Eingeschlafensein der Extremitäten), häufiger dagegen Verminderung der sensoriellen Functionen (trüberes Sehen besonders bei Fixation, mit Flimmern vor den Augen, stumpferes Gehör, beides oft bis zu transitorischer Blindheit oder Taubheit auf Tage hinaus). b) Motilitätsstörungen. Krämpfe local (Wadenkrampf), und manchmal allgemein in Form von (hysterischen) Zuckungen, Muskel- „Pulsationen", epileptoide Anwandlungen (Schwindelgeflihle und wirk- liches zeitweiliges Umsinken mit Ohnmacht); oft Tremor am ganzen Körper. Von Lähmungen beobachtete ich wiederholt solche der Stimm- bänder. — c) Vegetative und trophische Anomalieen. Schmer- zen im Magen und in den Gedärmen, speciell in der Herzgrube, so dass die Kranken das Kleid nicht zukuöpfen können, die aufgelegte Hand nicht ertragen, sich nicht bücken, nicht im Bett umdrehen können; pein- lich gefühlte Peristaltik mit oft gänzlicher Sistirung des Denkens wäh- rend der Verdauung, und umgekehrt sofortige Verdauungsstörung bei geistiger Anstrengung nach dem Essen (Flatulenz, beschleunigter Stuhl- gang, Schmerz im Epigastrium); krampfhafte Contraction einzelner Darm- partieen mit Aufgetriebenbeit (Herabsinken der Gedärme), hartnäckige Obstipation mit froschlaichähnlichem Schleimabgang, oft zwischenläufigen Diarrhöen. Sehr häufige Hämorrhoidalentwicklung. Ungleicher Appetit; oft Bulimie ohne Sättigungsgefühl. Gestörter Schlaf, öfteres Aufwachen mit Gedankenjagd, häufiges Alpdrücken. Vermehrte Pollutionen, Ano- malieen der Poteuz. d) Vasomotorische Störungen. Ungleiche Blutvertheilung, Kälte der Extremitäten, fliegende Hitze, Rash's zum Kopfe, gesteigerte Neigung zur Transspiration, klopfende Pulsationen im Kopfe, Ohr , Fingern , Unterleib u. s. w. Anomalieen der Temperatar- nerven der Haut: peinliche Frostgefühle. Sehr häufig Herzklopfen, oft intermittirender Herzschlag, Respirationsbeklemmungen (Asthma, trockener Husten).

Verlauf und Ausgänge.

Die Hypochondrie ist stets eine chronische, auf Jahre, nicht selten auf das ganze Leben sich erstreckende Krankheit. Der Be- ginn ist in der Regel ein allmählicher. Ein allgemeiner körperlicher Schwächezustand (welcher seine Entstehung, sowie die künftigen neuropsychischen Fäden vorzüglich aus den beiden Centren a) ge- störter Verdauung, b) anomaler Geschlechtsfunction bezieht), oder Spinalirritation, oder endlich cerebrale Neurasthenie (s. u.) gehen in der Regel Jahre lang voraus. Nicht selten kann aber bei entspre- chender neuropsychischer Disposition auch ein acuter Beginn ein- setzen (gerade wie auch bei neuralgisch vorbereiteten Melancholieen): irgend eine Gemüthsbewegung, die Furcht vor Cholera, der Schreck

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Verlauf und Ausgänge. Hypochondrischer Wahnsinn.

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eines jähen Todesfalles scbliessen durch den Affectvorgang selbst die bis dahin getrennten Glieder (eines peripheren Nerven- leidens und eines hyperästhetischen psychischen Organs) zn der Kette zusammen, welche von nun an die psychischen Bewegungen mehr oder weniger an die nervösen Wellenbewegungen vno xovÖQiag an- knüpft. Der Gang der einmal manifesten Krankheit ist für gewöhn- lich ein exacerbescirend-remittirender : nach längern oder kurzem Intervallen, in welchen der Kranke sich wohl und rüstig fühlt, kehrt der alte Jammer wieder, nicht selten in der Form einer tief schmerz- lichen Rückwirkung auf das Gemttthsleben (intercurrente hypochon- drische Melancholie; s. d.). In andern Fällen geht die Krankheit nach kürzerer oder längerer Dauer in Wahnsinn Uber. Dieser kann entweder in der Richtung des gewöhnlichen Verfolgungswahns sich ausbilden, indem die unfassbaren und so aufdringlichen Sensationen (weil sie eben so ungewohnt sind) von sich aus den Weg zum Ich - entzweienden Trugschluss (als seien sie von aussen gemacht) nehmen; oder es entwickelt sich ohne Verfolgungsideen ein speci- fisch hypochondrischer Wahnsinn, indem der logisch unlösbare Rest, welcher jeder körperlichen Empfindung anhängt, phantastisch apper- cipirt und ohne Reflexion zur wirklichen Thatsache erhoben wird. So entsteht für den Kranken ein neuer Phantasie Körper an Stelle des bisherigen.

Der Kranke klagt, dass ihm „Knöpfe" im Leibe herumziehen, dass ihs Herz in die Hypochondrien herabsänke, die Eingeweide durch den Hodensack herausträten; die Därme sind eingeschnurrt, der After ver- trocknet; er spürt sogar schwarzb raunen Stuhlgang die linke Seite des Leibes herablaufen u. s. w. Der Hodensack ist mit Holzklötzen ge- füllt, und dann plötzlich wieder leer ; die „Venen" sind überfüllt ; durch die Schläfen blasen Winde; nirgends ist mehr Absonderung; der Kranke verdorrt bei lebendigem Leibe; der Kopf ist zu klein, das Hinterhaupt zu gerade, das Herz klopft zu stark u. s. w.

Neben dieser chronischen kommt auch eine acute Modification vor (S. 186). In andern Fällen bleibt die Hypochondrie bestehen und geht, fortan noch unter Schwankungen, in endlichen Blödsinn über. Dabei kann sich der hypochondrische Wahn bis zu einem gewissen Grade „abkapseln", und einer noch leidlichen Regsamkeit der geschont gebliebenen übrigen Seelenthätigkeit Raum geben.

Solche Kranke gedeihen bei den bescheidenen Ansprüchen der ihnen individuell angepassten Einrichtung des Asyllebens vortrefflich, füllen auch noch manchmal eine nützliche Stelle aus, während sie, in den Kampf nm's Dasein gestellt, verloren sind. Andere dagegen gehen in kindischer Sorge um ihren Corpus auf; sie grübeln über jede Kleinigkeit, consul- tiren täglich über eine Warze, berichten Uber jeden verstopften Schmeer-

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Das hypochondrische Irresein.

balg, controlliren stundenlang vor dem Spiegel ihr Aussehen, verlangen immer neue Rechenschaft Uber das Heilverfahren u. 8. w. Damit treten wechselnde Affecte in Scene: die Kranken äussern Unzufriedenheit, Wi- derstreben, drängen fort. Manche lassen jetzt gelegentlich einen Ver- folgungswahn" durchblicken. Andere wieder dringen zu einem wahnhaft gesteigerten Selbstgefühl mit Grössenwabn vor wohl als Rückschlag auf schmerzliche innere Verletztheit wegen der ungenügenden Anerken- nung ihres Leidens. Merkwürdig sind die oft plötzlich und abrupt auf- tretenden Grössenideen oder beliebigen mystisch „bedeutungsvollen" Ein- falle aus dem Munde solcher, bis dahin nur „körperlich" philosophirender Kranker. Andere bekommen zeitweilige stupide Angstzufälle mit oft heftigem Selbstmorddrang.

So kann unter Besserungen und Verschlimmerungen, mit immer wieder eingestreuten freiem Zeiten, der Zustand sich protrahiren, periodisch sich mit neuen Masken zudecken (Melancholie, Wahn- sinnsphasen, Aufregungszustände), endlich auch stationär bleiben, oder aber bei entsprechender Grundlage mit der originären Verrücktheit (als einer Erscheinungsweise der letztem) gleichen Ver- laufsweg und Ausgang nehmen. Nicht selten schliesst jetzt noch ein Suicidium brüske ab.

Ein anderer Ausgang ist in ein organisches Himleiden (Atrophie), zu welchem eine tiefe umfassende Hypochondrie nicht selten das erste Stadium, sehr oft auch das bleibende Krankheitsbild liefert (8. Cerebropathieen).

Die syphilitische Hypochondrie siehe unter den invaliden Melan- cholieen (S. 72).

In unserem nervenreichen und „nerv"armen Zeitalter, dessen Sig- natur die Neurasthenie auf allen Gebieten darstellt, tritt immer mehr ein Specialtypus von Hypochondrie hervor, welcher sich zu einem geschlos- seneren klinischen Bilde abzurunden beginnt. Derselbe ist eine psychische Form (Erscheinungsweise) der sog. cerebralen Neurasthenie, und be- gegnet mir immer häufiger unter den Folgezuständeu geistiger Ueberan- strengung, speciell nach den monotonen Arbeiten vielbeschäftigter Cassen- beamter. Dessen Symptomenbild ist kurz folgendes:

In der Conversation fühlen sich die Kranken trüb und müde; sie haben das Gefühl, als ob sie nicht recht bei der Sache wären, „wie in einer Art Halbschlummer". Sprechen sie eine Ansicht aus, so überkömmt sie die Angst, ob sie nichts Ungereimtes gesagt haben. Sie versprechen sich leicht und verlieren leicht den logischen Faden. Die Auffassung ist stumpfer, oft unendlich mühsam, zerstreut, die Erinnerung unvollstän- dig, abgeblasst, nach Tageserlebnissen oft so, als ob Monate und Jahre dazwischen lägen. Für sich fühlen sich die Kranken in einer bestan- digen Unsicherheit, kommen Uber das Detail nicht hinweg, müssen oft verificiren, nur um das Gefühl der Sicherheit zu erlangen. Sie werden durch Kleinigkeiten, die ihnen zufällig begegnen, so gestört, dass sie ans dem Concept kommen, und nicht eher fortfahren können, als bis das An-

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Cerebral-neuraathenisches Symptomenbild.

Therapie.

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stoss gebende Ding entfernt, oder aber lange und scharf beobachtet wor- den ißt. Thun sie dies nicht, so gelangen sie über Unklarheit und Zweifel nicht hinaus. Aeusserer Zwang gibt vorübergehend grössere Sicherheit. Die Auffassung der Aussenwelt ist fühlbar stumpfer, die Dinge „packen nicht". Einen Ueberblick zu erhalten fällt ausserordentlich schwer, und erfordert stets stückweises Auffassen oder einen höchst quälenden Ge- dankengang. Beim Lesen ist ein beständiges Recapituliren nöthig. Leich- ter geht es bei lautem Lesen. Manchmal wird aber gegentheils ein erst klar gewesener Gedanke trübe, sowie der Kranke den Versuch der näheren Betrachtung oder des Aussprechens unternimmt ; auf diese Weise können logisch völlig ausgedachte Pläne unter dem Fixirpunkt der Aufmerksam- keit wieder verschwinden, und die ganze Arbeit muss neu begonnen werden. Der Kranke hat dabei oft das Gefühl, als ob er wie im Halb- scblafe sich befände. Bei rasch wechselnden Gegenständen kommt so- fort Unruhe in alle Nerven. Dies wirkt wieder auf den Kopf zurück, und alle Gedanken beginnen jetzt sich zu jagen. Im Gcmüthsleben ist Angst und Unsicherheit das am meisten hervortretende Symptom. Alles vollzieht sich mit Angst, das Alleinsein, das Alleinrcisen, das Auf- machen von Schubladen, das Auspacken von Paketen u. s. w. Bei son- nigem Wetter ist die Angst gewöhnlich geringer als an trüben nebligen Tagen. Mit der Angst stellt sich in der Regel Gedankenverwirrung ein (der Kranke muss oft plötzlich auf gewohntem Wege stehen bleiben und sich besinnen, wo er sei), und körperliche Auftreibung des Leibes und peinlicher Afterzwang. Die Angst ist dem Kranken so aufsässig , wie ein „böses Gewissen". Gegen sonst liebgewohntc Dinge stellt sich Ab- neigung und Eckel ein. Das frühere Interesse schwindet. Daneben greift eine weiche, bange, weinerliche Stimmung immer mehr um sich. Alles rührt den Kranken sofort zu Thränen, so namentlich Musik. Immer Öde und schwankend in seinem innern Selbstgefühl, verfällt er einem Hang zum Grübeln und Brüten, so dass er für den Umgang mit andern immer unfähiger wird. Er geht Tage lang, in seine Gedanken versenkt, in sei- nem Zimmer auf und ab, und ist überrascht, wie schnell die Zeit ver- schwunden ist. Dazwischen treten aber auch klarere Momente , so bei anderweitigen körperlichen Schmerzen, oder bei stärkeren Emotionen. Beim Schreiben sind viele Kranke ruhiger, als beim Lesen. Bemerkens- wertb ist , dass spontane geistige Thätigkeit mitunter wohlthuender em- pfunden wird, als reeeptive.

Therapie.

Die Behandlung der ausgesprocheneu hypochondrischen Psychose muss nach den für die Hypochondrie im Allgemeinen und Speciellen giltigen Grundsätzen geleitet werden (siehe den betreffenden Ab- schnitt in diesem Werke). Je nach dem „centralen Brennpunkte" der hypochondrisch-melancholischen Klagen und Empfindungen wird bald der Magen und Darmkanal, bald die Sexualsphäre (Pollutionen und Folgezustände), bald endlich eine allgemein spinale oder cere- brospinale Neurasthenie als Mittelpunkt des speciellen Curregimens

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Das hypochondrische Irresein.

sich darbieten. Die Behandlung dieser einzelnen Varietäten hat nach den Regeln der innern Medicin zu geschehen. Im Medicationsstyl ist möglichste Einfachheit zu empfehlen. In die wirkliche Therapie wird mit Vortheil eine zeitweilige Schein-Therapie eingefügt, um den Kranken nicht zu sehr unter die Schablone zu gewöhnen. Haupt- sache ist und bleibt die psychische Behandlung, welche in den GrundzUgen ganz nach der für die Hysterie giltigen einzurichten ist. Nicht selten ist ein wenigstens temporärer Asyl -Aufenthalt für den rathlosen hypochondrischen Melancholiker sehr rathsam; dieser ge- winnt dabei in der Regel wieder so viel innere Kraft und Zuversicht, um draussen den Kampf mit seinem schweren Leiden wieder wirk- samer bestehen zu können. Zu dauernden Anstaltsgästen sollen aber nur die schwersten Formen des eigentlichen hypochondrischen Ma- rasmus werden, und müssen es, wenn Neigung zu Suicidium vor- handen ist. Aber auch bei diesen ist ein zeitweiliger Entlassungs- versuch oft mit Erfolg begleitet, wenn man sich entschliessen kann dem Kranken seine massigen „Morphium"-Krücken für draussen zu belassen, mit deren Unterstützung er nicht selten sich zu einem kleinen bescheidenen Wirken wieder frei zu machen vermag.

Die Behandlung speciell der neurasthenischen Form der Hypo- chondrie verlangt eine ausserordentlich sorgsame geistige und körper- liche Diätetik, wie sie am besten in einer gut geleiteten Curanstalt geübt wird. Nach der Entlassung bildet eine rationelle Einrichtung der Lebensweise die wichtigste Indication, um Recidiven vorzubeugen; doch sei man vorsichtig einen bis dahin thätigen und arbeitsgewohn- ten Menschen schlechthin zum Aufgeben jedes Berufs zu veranlassen: der jähe üebergang zur Passivität erzeugt nicht selten Melancholie und ein vorzeitiges Senium ! Der Kranke vermeide wohl Congestio- nirung seines Gehirns durch Beschäftigung, nicht aber zugleich die ihm nothwendige cerebrale Erfrischung durch eine zusagende, nicht überanstrengende Thätigkeit! Er lerne die grosse Kunst des Maass- haltens und der Selbstbeschränkung. Das „Du sollst den Sabbath heiligen" hat auch einen tiefen Sinn für die praktische Lebens- philosophie.

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Die periodischen, circulären und alternirenden Psychosen. 287

Die periodischen, circulären und alternirenden

Psychosen.

Anhang: Mens t rua 1- Psy ohosen.

Literatur. Periodisches Irresein : Esquirol II, 1G8. Morel, Traite Alb. Fair et, Malad, ment. Spielmann, Diagnostik 324. Focke, Ztschr. f. Psych. 5 (nach Malaria.) Koster, Ibid. IG. Kirn, Ibid. 2G. er selbe, Die periodischen Psychosen, Monogr. 1878. Mendel, Manie I.e. Neftel, (period. Melanch.) Ccntralbl. f. med. Wissensch. 22. Koster, Ueber die Gesetze des periodischen Irreseins etc. Monogr. 1882. Bechterew, Petersb. med. Woch. 1879 (Verhalten der Temp.). Hurd, Am. J. of Ins. 1882 (Behandlung).

Circulftres Irresein: Kirn, I.e. Koster, I.e. Emmerich, Ueber cykl. Seelenstörungen, Schm. Jahrb. 1Ü0 (Literatur). Huppert, Ibid. 1877. Falret. Bull, de l'acad. de meU 1854 T. 19. u. Arch. gön. 1879. Baillarger, Ann. me'd. psych. 1854. Derselbe, Ibid. 188u. - Ball, Ibid. 1880. L, Meyer, Arch. f. Psych. 4 (Literatur). Dittmar, Ueberregul. u. cykl. Geistesstörungen, Bonn 1877. Hughes, AI. and Neur. 18SU (nach Malaria). Schäfer, Neur. Ctrlbl. 1SS2. Doutrebente, An. med. psych. 1S82. Ritti, Ibid. (körperl. Symptome). Derselbe, Trait<5 clinique etc. Paris 1881. Foville, Brain 1*82. Karrer, Allg. Ztschr. f. Psych. 37. Hjertstroem, Schm. Jahrb. 201. Kahlbaum, irrenfreund. 1882. Tonnini, Arch. ital. 1883.

Menstrualpsychosen: Schlager, Allg. Ztschr. f. Psych. 15. Schroe- der, Ibid. 30 u. 21. v. Krafft-Ebing, Arch. f. Psych. 8 (Literatur). Ellen Powers (Dissertat. sub ausp. Forel) 1883 (mit sehr ausführt. Liter.). Cabarde, l'Enc^ph. 1883. Algeri, Arch. ital. 1884.

Darunter versteht man Psychopathieen von verschiedener klini- scher Form, deren Auftreten nicht in einem einzelnen Anfall, sondern in wiederkehrenden Paroxysmen (derselben oder modificirter Artung) besteht, welche zeitlich getrennt sind durch ein relativ lucides Intervall, aber klinisch zusammenhängen als sich wieder- holende resp. abwechselnde Acte eines unausgesetzt geisteskranken Zustandes.

In rein periodischer Wiederkehr treten namentlich gewisse melan- cholische und manische Symptomencomplexe auf als periodische Melan- cholieen und Manieen. Verbinden sich beide in directer Aufeinander- folge (Melancholie Manie, oder umgekehrt) und zwar in cyklischer Wiederkehr und mit lucidem Intervall, so entsteht die symptomatolo- gische Abart des „circulären Irreseins". In diese letztere Verbindung können auch der Stupor und der exaltirte Wahnsinn als klinische Aequi- valente eintreten. Beide Arten des cyklischen Irreseins, das periodische und das circuläre, setzen eine invalide Nervenanlage voraus, welche in den meisten Fällen eine hereditäre, in seltenern eine erworbene ist.

Der Verlauf beider Formen ist in der Regel ein protrahirter, auf Jahre, ja selbst auf das ganze Leben ausgedehnt. Die Einzel- Anfälle können bei der Wiederholung typisch („photographisch") dieselben bleiben; meistens aber erschweren sie sich, je öfter sie

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Die periodischen Manieen.

wiederkehren, und erhalten dann sehr häufig einen degenerativen Charakter letzteres um so leichter, wenn die periodische oder circuläre Verlaufsform auf dem Boden eines protrahirten hysterischen oder epileptischen Irreseins ersteht Als functionelle " Neuropsy- chosen können beide Formen heilen, die circuläre viel schwieriger als die rein periodische. Klinisch kommen beide Formen getrennt vor, aber nicht selten auch wieder in der Weise verbunden, dass der periodische und der circuläre Typus im Verlauf desselben Krank- heitsfalles mit einander abwechseln.

Die nur „scheinbare" oder „theilweise" Lucidität des Intervalls ist charakteristisch für die eyklischen Psychosen ; dieses wesentliche Moment, welches die letzteren übrigens mit den remittirenden Manieen gemeinsam haben, trennt die periodischen Formen von den einfachen „Recidiven". Dass die Trennung übrigens keine absolute, beweist die allmähliche Uebergangsfähigkeit von anfangs recidivirenden Manieen in später fii periodische. So setzt auch manchmal ein späterer circulärer Cyklus mit einer einfachen Melancholie, und nachfolgender Manie ein; dann kommt eine jahrelange Pause, und jetzt erst erwacht der funeste Cyklus. Für diese prognostische Würdigung ist namentlich der klinische Charakter des ersten melancholisch-manischen Anfalls (Melancholie ohne Wahnvor- stellungen und Hallucinationen; ausgeprägtes selbstständiges mani- sches Nachstadium mit Folie raisonuante) sehr bedeutungsvoll. Nach dem wichtigen Verhalten des Körpergewichts stehen die periodischen Manieen näher bei den einfachen, als die circulären; doch ist auch dieser Factor nicht durchgreifend und noch weniger corfstant (s. u.).

Die periodischen Psychosen.

a) Die periodische Manie. Die Entwicklung knüpft mit Vor- liebe an die hereditäre Neurose an, oder weist wenigstens ein stark neuropathisches Vorleben auf. In den erworbenen Fällen spielen Onanie und Kopfverletzungen eine besondere Rolle. Reizbarkeit und Zornmüthigkeit in der Charakteranlage wird in der Mehrzahl der Fälle angegeben; manchmal ist neben dieser hochentwickelten Emotivität eine in den Schuljahren hervortretende intellectuelle Träg- heit nicht zu verkennen (s. hered. Neurose). Fehler in der Er- ziehung, namentlich falsch angebrachte und rücksichtslose Strenge, mögen von erheblichem Belang sein dafür, dass eiue schlummernde Prädisposition gleichsam als Reaction für die verschluckten Turä- nen uud Verunglimpfungen gerade diese Richtung einer erst- maligen und später recidivirenden Zorn-Manie einschlägt. Andere- male entwickelt sie. sich in milderer Form aus jenem hereditären Naturell, welches neben Neigung zur Phantasterei eine gewisse Grossmannssucht in die Wiege gelegt bekam. Aber auch hier geht dem wirklichen Ausbruch erst ein aufregender Kampf mit der

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Klinische Typen.

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„unverständigen" Umgebung in der Form fortgesetzter Gemttths- bewegungen voraus.

Man wird nicht fehlgehen, wenn für den ersten Paroxysmus stets ein kürzeres oder auch länger dauerndes depressives Stadium angenommen wird. In ihrem „innern Kampf und äussern Streit" werden die Kranken verbittert, reizbarer; Lust und Freude ver- gehen ihnen; sie fühlen sich schwach und matt, träumen viel, ge- rathen manchmal in starke Schweisse, Kopfcongestionen , neben kalten Extremitäten; werden endlich plötzlich ängstlich und ein- geschüchtert. Viele suchen durch Aenderung des Wohnorts, durch raptusartigen Wechsel ihres Berufs dem ewigen Aerger, welcher sich durch Brennen und Unruhe in der Magengegend peinlich fixirt und den Schlaf stört, zu entgehen. Oft gestaltet sich der einleitende Status nervosus zu einem wohl charakterisirten melancholischen Bilde mit Klagen über Denkunfahigkeit, Verschuldung und Willen- losigkeit, Todessehnsucht. Bei Andern wieder verschärft sich das Gefühl des innerlichen Schwankens zum Trotz und zur aufbrausenden Heftigkeit; wieder Andere greifen zur beruhigenden Flasche. Mit dem letztern Moment ist eine sehr häufige Entstehungsart des ersten manischen Anfalls bezeichnet: die Kranken werden Dipsomanen. Sie berauschen sich unsinnig und vermehren mit der Alkoholisirung die ohnehin verminderte Widerstandsfähigkeit ihres Gehirns: die Empfindlichkeit und Reizbarkeit steigern sich, bei der geringsten Entgegnung ist die Zorn-Manie, der Furor, fertig. Das ist eine klinische Form des ersten Anfalls. Die Symptomatologie entspricht im Wesentlichen der früher geschilderten: die Kranken werden rücksichtslos brutal in ihren Anforderungen, maasslos heftig in ihrer Erwiederung; Gewaltthätigkeiten aller Art, Misshandlung oder Be- drohung von Personen und Sachen, Feuergefabrdung, wuthartiges Zerstören entfesselt sich lawinenartig; man glaubt oft einen Epilep- tiker vor sich zu haben. In der Regel begleitet ein Verfolgungs- wahn, welcher seine Motive aus den erlittenen Beeinträchtigungen holt, den psychomotorischen Krampfan fal 1 ; mau merkt aber der Fadenscheinigkeit und Kleinlichkeit der Motive sofort die Schwäche an, welche die „Gründe" nur als vorgeschobene verräth, als ex post angehängte Rechtfertigungsversuche für einen aus unbewusster Nöthigung erfolgten Handlungszwang. Unter günstigen Umständen (Versetzung in die Anstalt) erfolgt nicht selten in kurzer Zeit, oft schon nach einigen Tagen, die Beruhigung, vorerst noch ohne Krankheitseinsicht, welch' letztere aber in dieser Periode meistens noch nachfolgt

Sch&le, GeifUrtraakhaiten. 3. Aufl. 19

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Die periodischen Manieen.

In andern Fällen bricht nach mehrstündiger grosser Müdigkeit und Erschöpfung eine plötzliche (oft religiös gefärbte) Verwirrtheit aus mit Verkennen der Personen, untermischt mit freieren Zeiten, in welchen der Kranke über Dumpfheit und Taubsein im Vorder- kopfe klagt, mit rascher Steigerung zum Toben und Zerstören und allen Erscheinungen der Mania gravis. Gewöhnlich gehen hier sehr bald auch Sinnestäuschungen mit (Scheltstimmen, Obscönitäten, bäss- liche Gerüche, Thierfratzen u. s. w.). Bemerkenswerth ist dabei, dass der Kranke trotz der kühnsten Sätze und Sprünge, womit er die verschiedensten Vorstellungsreihen durchläuft, doch in der Regel seine Besinnung nie ganz verliert das bedeutungsvolle Zeichen der ungleichmässigen Vertheilung zwischen intellectuellem und motorischem Delirium, welches bereits den Keim der spätem psychischen Entartung offenbart. Die Aufmerksamkeit ist in dieser Zeit für keinen Gegenstand festzuhalten; Tag und Nacht dauert die geschwätzige Unruhe fort. Manchmal begleitet eine anhaltende schmerzliche Verstimmung und eine stupide Angst diese Paroxysnien: die Kranken fürchten umgebracht, erwürgt zu werden; sie sehen es den Gesichtern der Personen an, dass diese Feindliches gegen sie im Schilde führen, und bemessen darnach instinctiv ihre Ent- äusserungen. Nicht selten werden die manischen Angstparoxysmen auch durch Hallucinationen aller Sinne (neckische Stimmen, Spinn- webe und allerlei Unrath im Essen, Pferdestaub im Bette, Schlangen im Halse u. s. w., bei onanistischen Individuen auch parästhetische Genitalsensationen) unterstützt. Im ganzen Benehmen tritt sehr oft von Anfang an eine erschreckende Brutalität hervor.

Es gibt aber auch Fälle, in welchen der Rest der Besonnenheit auf der Höhe des manischen Anfalls gauz untergebt, der Kranke, voll- ständig abwesend und bodenlos verwirrt, von einer Stimmung in die andere geworfen wird. Erst ausgelassen, heiter, singend, jubilirend, jauchzend, Jedermanns Freund und Bekannter, zu trivialen Witzen auf- gelegt — wird der Kranke plötzlich äusserst gereizt und heftig, schimpft, brüllt, droht, zerstört, ist ganz unnahbar; dann wieder in kindischer Ge- schäftigkeit sammelnd, mit allem Flitter spielend, klettert er Uberall hin- auf, verstellt Alles, macht die sonderbarsten Gesten durcheinander, schaut in die offene Sonne, lebt ausser Kaum und Zeit.

Die Uebergangszeit zur Ruhe kann manchmal in raschem Um- schlag, andremale aber auch langsamer, durch ein Stadium von eitler Selbstüberschätzung mit Grössen wahn (namentlich religiösen Inhalts) erfolgen. Ab und zu trägt selbst der ganze manische Paroxysmus dieses „verrückte" Gepräge. Der Kranke geberdet sich in seinem rücksichtslos herrischen Auftreten als Reformator, will Eisenbahnen

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Klinische Typen.

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und Kriege abschaffen, faselt in verworrenster Weise von Adam und Eva, von Lucifer u. s. w., verkennt Personen und Umgebung in Minutenblitzen.

Doch lässt er nicht selten seine vagen Träumereien und Behaup- tungen bei eindringlichem Nachfragen alsbald wieder fallen. Hält, wie gewöhnlich, die Ideenflucht dazwischen ein massigeres Tempo ein, so werden Bibelstellen, Liederverse, Sprichwörter, goldene Kegeln, Beleh- rungen, Reminiscenzen, Reflexionen Uber die verschiedenartigsten Gegen- stände, wie sie dem Kranken eben in den Wurf kommen, alberne Be- hauptungen, triviale Anspielungen, oft ins Ironische und Sarkastische übergehend, zusammenhangslos durcheinandergeworfen. Ideen Uber Land, Menschen, Gesetze, Religion, Begattung, Kindererziehung, Unterricht, Landwirtschaft u. s. w. stehen gesellig nebeneinander, und werden iu sinnlosem Gallimathias in den Selbstgesprächen des Kranken ausge- kramt.

Dies die zweite klinische Form.

Die dritte nimmt im Wesentlichen das Bild der Mania mitis an. Gehobenes Selbstgefühl, Plänemacherei, Heirathsgedanken, (Kauflustl), sinnlose Geschäftigkeit (Sammeln), Wichtig- und doch eigentlich Nichtsthun, grosser Wechsel der GemUthslage mit reiz- barer Verstimmung sind die vortretenden Züge. Dazu kommt eine dienstbereite raisonnirende Dialektik, welche aus Allem und für Alles Entschuldigungen und Rechtfertigungen zu holen weiss, eine förmliche „Beweiswuth" mit nergelnder Disputirsucht. Dieser Zustand erhält sich manchmal durch den ganzen Paroxysmus ; andere- male aber steigert er sich im Laufe weniger Tage. Der Gesichts- ausdruck wird verwirrter, das Auge steif und glänzend; der Kranke beginnt mit Kopf und Händen lebhaft zu gesticuliren, ohne Unter- lass zu sprechen; die Rede steigert sich zu einem enormen Ge- dankendrange, so dass die Kranken in Wahrheit das Herz auf der Zunge tragen, Nichts verschweigen, mit ihren Bekenntnissen (nicht selten intimen!) sich an Jeden herandrängen und in die pein- lichste Unruhe gerathen, wenn sie sich nicht aussprechen können, aufdriuglich die Umgebung corrigiren und belehren, ungereimte Fragen stellen, hochtrabende Sentenzen um sich werfen, Bibelsprüche verschwenden u. s. w.; oder sie queruliren ihre Umgebung mit der Betonung ihres Rechtsstandpunkts, stellen sich Jedem als Opfer der Justiz dar, verdächtigen Behörden und Anverwandte, behalten in Allem das letzte Wort. Jeder Einfall wird „gebucht"; vorher findet der Kranke keine Ruhe, keinen Schlaf. Dasselbe Ungestüm bricht auch in das Wollen ein: jeder Wunsch drängt zur Erfüllung, und inuss erfüllt werden , selbst wenn die Einrede Dritter vorübergehend angenommen wird. Der Kranke ist der speeifische Schwätzer, der

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292 Die periodischen Manieen.

rücksichtslose Meisterer, der unerschöpfliche Advocat der Umgebung. Die Stimmung ist für gewöhnlich sorglos, heiter, leicht geschürzt bis zum Cynismus, gutmüthig. Dazwischen schieben sich Zeiten von Verstimmung mit scheinbarer Abspannung, manchmal selbst mit einiger Krankheitseinsicht, ein. In der Folge kann sich dieser manische Zustand bis zur Verwirrtheit steigern; oder es können sich bei erhaltener Lucidität perverse Richtungen einschieben, so nament- lich ein Drang sich mit grösster Indiscretion in die Verhältnisse Anderer zu mischen, und dieselben moralisch zu verurtheilen. Die anfänglich in Putzsucht sich genügende erotische Richtung tritt in unverhülltern Formen, endlich als cynische Nymphomanie auf, nicht selten mit gebieterischem Drange zur Entblössung und zur Mastur- bation. Dabei geräth der Kranke in eine zunehmende Reizbarkeit; immer steht beim geringsten Entgegentreten ein Zorn-Affect bereit, sehr häufig bis zum rücksichtslosesten Schimpfen, selbst Zerstören. Der Kranke ist missgestimmt im Gefühle seiner Krankheit. Interessant ist die oft paroxysmal auftretende Sym- oder Antipathie gegen ge- wisse Personen (Ehefrau resp. Ehemann).

Diese dritte Form ist symptomatologisch oft bis in die kleinsten Züge identisch mit der manischen Phase in der circulären Manie. Die Uebergänge in die freie Zwischenzeit sind mannigfaltig. In einer Reibe klingt die Aufregung schrittweise ab; in einer zweiten geht der Paro- xysmus erst durch ein längeres hypochondrisches Stadium hindurch, wel- chem aber in der maasslosen Uebertreibung der nervösen Beschwerden und der Wichtigthuerei der exaltirte Charakter erhalten bleibt

In einem vierten Typus schliesst sich an die belebtere Periode zunächst eine längere Phase von psychischer Gebundenheit an die motorisch exaltirte eine motorisch gehemmte an, aus welcher nur stossweise einzelne der frühern Erscheinungen hervorbrechen. Der Kranke verharrt dann lange Zeit in irgend einer Stellung oder Lage, führt plötzlich eine vereinzelte Bewegung aus, stösst ein Wort hervor, thut einen Schrei, lacht gellend auf, verzerrt das Gesicht um sofort wieder in die frühere Einförmigkeit zurückzusinken. Aus dieser kann er wieder in die frühere Erregungs Periode zurück- kehren, oder aber bald in rascher, bald allmählicher Lösung der Spannung in das Intervall übergehen (s. u.).

Man könnte diesen vier klinischen Typen noch einen fünften anreihen, bei welchem sich ein ausgesprochener ch oreati sc her Zug durch die Qualität der manischen Entäusserungen hindurch- zieht — zerfahrene, abrupte, stossweise und unmotivirte Gesticola- tionen an Stelle der coordinirten triebartigen Handlungen in den einfachen manischen Symptomenbildern.

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Juveniler Typus. Intervall.

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Der Kranke kann nicht ruhig stehen bleiben; er wechselt öfters das Bein, dreht den Stamm, wendet den Kopf, verdreht die Augen, ist selten eine Minute ruhig. Dazwischen fahren plötzliche Raptus von Zerstörungs- drang (Fenstereinschlagen u. 8. w.). Diese klinische Modifikation wird na- mentlich bei jugendlichen Periodikern in der Pubertätszeit (manch- mal mit gleichzeitiger Entwicklungshemmung in den Genitalien) beobach- tet. Das Bewusstsein ist dabei ganz leidlich lucid, die Stimmung massig düster oder reizbar. In der Folge kann sich der geschilderte Typus umbilden , und den regelrechten manischen Formcharakter annehmen : nach einleitender Verstimmung, Trägheit, Schweigsamkeit, unaufgelegtem schläfrigem Wesen kommt ein urplötzlicher Ausbruch von gereiztem, heftigem Schelten mit Neigung zu allerlei verkehrten Streichen bis zu blinder Zerstörungswut!^ mit Drang zu schmieren u. s. w. Die Stimmung ist dabei oft deutlich in zwei Perioden unterschieden : anfanglich (in der ersten Hälfte des Anfalls) ausgelassen heiter und exaltirt (Singen, Pfei- fen, selbstgemachte Worte , Zoten u. s. w.), in der zweiten weinerlich, schmerzlich gereizt, mit Fluchen, Schelten, Jammern, kindischem Heulen. Interessant ist die Beobachtung in einem unsrer Fälle, wo in der Zeit der einleitenden Depression (mit Neuralgieen und Reflexkrämpfen) die Sprache einen um den andern Tag ausblieb, und periodisch auf Stun- den sich ein unruhiges Spiel mit den Fingern einstellte.

Die Intervalle bieten in gleicher Weise grosse symptomato- logische Unterschiede. Zeitlich schliessen sie sich entweder direct an den Paroxysmus an; oder aber es schiebt sich erst noch eine Stupiditätsphase als Uebergang ein (in einem Falle beobachtete ich ein kurzes Zwischenstadium von Moria mit dämonomanen Angstzu- fällen). In dem ersten Falle kann der Abfall entweder ein brtlsker sein, oder aber ein allmählicher.

Interessant ist beim successiven Uebergange der Kampf des krank- haften Dranges mit dem einrückendem gesunden Bewusstsein. Der Kranke gibt sich Mühe das eben Gehörte festzuhalten und plötzlich schneidet ein Unsinn die richtige Antwort auf halbem Wege ab; oder der Kranke müht sichtlich sich ab in das richtige Geleise einzulenken, und nahe daran, wird er von einem mächtigen Eingriff wieder auf die Seite geworfen.

Ihrem formellen Charakter nach richten sich die Intervalle im Allgemeinen nach dem Krankheitsstadium und nach der Intensität des vorausgegangenen manischen Paroxysmus; im nähern Detail nach der individuellen Grundlage des Krankheitsfalles. Je früher im Krankheitsverlauf d. h. je weniger Paroxysmen vorausgegangen, je milder die letzteren verliefen, desto freier gestalten sich c. p. die Zwischenpausen. Man wird die letztern in den ersten Zeiten oft nicht von den Nachstadien einfacher Manieen zu unterscheiden ver- mögen, so wenig als der erste Paroxysmus immer mit Sicherheit als ein künftig periodischer sich erkennen lässt. Von einem eigent- lichen „Intervall" kann deshalb auch füglich erst nach dem Ablauf

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Die periodischen Manieen.

zweier oder dreier Paroxysmen die Rede sein. Nicht selten bietet dasselbe im Anfange auch Nichts weiter dar, als einen einfachen neuropathischen Zustand, wie er ,der hereditären Neurose (dieser „Vorfrucht" zu den periodischen Manieen) eigen ist. Freilich bleiben in der Regel frühe schon einzelne Nachwirkungen des Anfalls haften und zwar namentlich in Form eines misstrauischen Wesens, welches überall Beeinträchtigung wittert, und Uber eine abnorme Reizbarkeit und Affectbereitschaft verfügt. Anfänglich klingen auch diese Reste wieder ab, und der Kranke erscheint wohl. Gleichwohl entdeckt man bei tieferem Eingehen bald eine gewisse, wenn auch leise in- tellectuelle Torpidität, welche sich in etwas erschwerterem geistigen Arbeiten kundgibt. Iu anderen Fällen dagegen tritt ein auffallend räsonnirendes Bestreben hervor, für die perversen Acte während der Krankheit eine Ausrede oder einen plausibeln Grund vorzuführen. Krankheitseinsicht ist nicht da, wohl aber Krankheitsgefühl. Die in der manischen Phase aufgetretene Neigung zu Trinkexcessen ist in der Regel jetzt verschwunden; der Kranke wird sogar über- trieben mässig; doch gibt es auch Fälle (der obigen vierten Form), wo jetzt erst, im Intervall, eine gesteigerte Trink- und Geschlechts- lust sich regt (Reaction gegen Schwächegefühle). Mit der zunehmen- den Schwere, Zeitdauer (Länge) und auch der Zahl der Paroxysmen, ändert sich der psychische Charakter des Intervalls, und erhält ein immer ausgesprocheneres krankhaftes Gepräge. Dieses tritt mit jedem neuen Anfalle verschärft hervor. Das Erste, was nothleidet, ist die Gefühlssphäre : hier greift eine immer markantere Abstumpfung um sich, zuerst der höhern sittlichen Gefühle (der religiösen und ästhetischen), und dann auch weiter der socialen. Feinfühlige Men- schen werden roh; sie gefallen sich in Plattheiten, oder sie werden apathisch, verlernen Rührung und Mitleid „die Blume ist hinweg aus ihrem Leben". Gleichzeitig, wenn auch durchaus nicht gleichen Schritt haltend (der ungleiche Gang ist vielmehr Regel), sinkt die intellectuelle Energie und gibt einer Verstandesabstumpfung Raum, welche bei den schwersten Fällen nach und nach bis zum Blödsinn fortschreitet.

Hatte der Anfang die Höhe der Mania gravis erreicht, so stellt das Intervall einen Zustand acuter Hirnerschöpfung dar, in welchem der Kranke sich in der Umgebung nicht mehr zu Orientiren weiss, für die einfachsten Dinge unschlüssig, in seinem Benehmen ziel- und planlos ist, und erst mühsam sich leidlich erholt.

Die Zeitdauer des Intervalls ist eine nach den Einzelfällen ver- schiedene. Sehr häufig steht sie in annähernder Proportion zur

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Intervall. Klinische Varietäten. Weiterverlauf.

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Dauer des vorausgegangenen Anfalls, aber nicht immer (s. u.j. Die Erinnerung ist bald nur eine summarische, oder selbst fehlend; bald aber auch bis ins Kleinste getreu, und gibt als solche nicht selten den Grund ab für innere Vorwürfe und ein GefUhl der Beschämtheit, welches zartere Naturen oft auf längere Zeit den Verkehr mit der Umgebung meiden lässt.

Die weitere Entwicklung und Ausgestaltung der einmal begon- nenen Krankheit erfolgt nun an der Hand immer wiederkehrender manischer Anfälle, welche geschieden sind durch kürzere oder län- gere Intervalle. Bezüglich der Form dieser successiven Paroxysmen finden mancherlei klinische Verschiedenheiten statt. Es können 1. die einzelnen Anfälle sich durch die grösste Einförmigkeit und Regelmässigkeit auszeichnen, so dass der nachfolgende oft bis in kleine Detailzüge die Symptome des vorausgegangenen wiederholt. Letzteres betrifft namentlich die Anfänge, welche sehr häufig photo- graphisch gleich sind, so zwar, dass der aufmerksame Kranke selbst den Beginn eines Anfalls zu diaguosticireu lernt.

So beobachtete ich einen Periodicus, dessen erste Warnung für das aufziehende Gewitter die Erscheinung eines graueu Vogels war, den er, der bis dahin Ahnungslose, plötzlich neben sich gewahrte. Um sich in seiner Bestürzung (denn er kannte allmählich die peinliche Vorbedeu- tung!) zu vergewissern, suchte er denselben mit der Mütze zu fangen; aber siehe, der Vogel war nicht zu erhaschen, sondern immer neben der Mütze zu sehen. Nun wusste der Mann sofort, wie er daran war; er ging heim, bestellte seiu Haus, und meldete sich direct zur Wiederauf- nahme in die Anstalt. Andere Kranke fangen zu singen, zu musi- ciren, zu zeichnen an; wieder Andere treiben plötzlich gesteigerten reli- giösen Cult. Andere endlich werden empfindlicher, klagesüchtiger, nament- lich begehrlicher, und auch hier oft genau im Gebiet stereotyper, ihnen sonst fremder Wünsche. Eine letzte Gruppe fängt an zu trinken. Einer unsrer Kranken steckte sich jeweils vor Beginn des Paroxysmus ein Federchen auf den Hut ganz unscheinbar; und wie Vieles sagte das harmlose Ding auf Monate voraus!

Interessant ist die Selbstbeobachtung eines ärztlichen Collegen über den Anfallsbeginn: Es sei ihm allmählich geworden, wie wenn er sein Vorderhirn spürte, wie wenn eine Spannung dort bestünde, fast so, als ob er es sehen könnte. Er verliere die Stimmung, und gerathe in einen Redefluss mit Drang zum Schwatzen von allen Kleinigkeiten; dann werde er disputirsüchtig, beweiswüthig und zunehmend reizbar. Jetzt Hyperästhesie des Gehörs, mangelnder Schlaf, und dafür unter Tags ein träumerischer Zustand ; Schmerzgefühle im Kopfe, aber nur „psychische", keine „periphere". Dann anrückendes Wohlgefühl mit gesteigerter gei- stiger Arbeitskraft und Leistung; dazwischen depressive Zwangsempfin- dnngen (als ob er enthauptet wäre, und der Kopf auf dem Abtritt läge); dasselbe „Spaltungsgefühl" seiner Persönlichkeit begleite ihn durch den

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Die periodischen Manieen.

ganzen Paroxysmus. Auch im Intervall sei er nicht der natürliche Mensch ; er spüre zwar wachend keine geistige Aenderung als höchstens etwas Müdigkeit; aber dafür sei der Schlaf geändert; er sei zu „persön- lich" im Schlafe; er träume nie, sondern er denke schlafend; während im gesunden Schlafe die Persönlichkeit zurücktrete, so sei bei ihm (in der Zeit des Intervalls) gerade das Gegentheil der Fall: er sehe sich, und trete immer handelnd auf.

Es kann aber auch 2. der nachfolgende Paroxysmus zwar „den- selben Faden aber in höherer oder niedrigerer Nummer" darstellen, d. h. auf eine Mania mitis eine Mania gravis, oder umgekehrt, folgen. Gewöhnlich, wenn auch nicht regelmässig, wird mit der vermehrten Wiederkehr der Anfälle deren klinischer Charakter ein schwererer.

Letzteres geschieht, indem a) die Bewusstseinsstörung mit jedem Anfalle zunimmt, der beschleunigte Vorstellungsablauf sich zur Verwor renheit steigert, delirante Episoden mit Hallucinationen sich einschieben; oder b) indem der sittliche Entartungscharakter der Manie sich immer stärker ausprägt (s. degenerative Manie); oder endlich c) indem sich dem manischen Symptomenbilde immer mehr Züge von secundärem Wahn- sinn beimengen. Zu den motorischen Exaltationsäusserungen des Singens, Jauchzens, Schreiens treten unarticulirte Thierlaute (die Kranken bellen wie Hunde, wiehern wie Pferde); statt der früheren manischen Geschäftig- keit und Handlungsvirtuosität stellen sich jetzt triebartige Zwangsbe- wegungen ein : die Kranken trippeln, tanzen mit den sonderbarsten Gesten, scharren mit den Füssen, bleiben plötzlich mit gespreizten Beinen stehen ; dann galoppiren sie, wenn man sich ihnen nähert, wiegen sich auf einer . Seite, als ob sie umfallen wollten, sprechen in albernen, absichtlich ver- drehten und verschränkten Reden, oft unter einem aberwitzigen, ver- zwickten Lächeln. In der Folge bildet sich die verschrobenste sinnlose Ideenassociation aus.

Sprachprobe: Ich bin kein Gaul, kein Aufseher; ich muss in Strassburg den Feldzug mitmachen; der Kaiser wird nicht umsonst gesagt haben, der Mond ist ihm hinter die Ohren gegangen u. s. w. Ich heis8e bald so, bald anders; ich bin der Sohn des Kurfürsten, habe Sonne und Mond im Munde, die Bilder des Kaisers im Leibe; ich bin unter einem Glase abgestanden; der Kurfürstentisch hängt an mir; ich habe die wahre Natur durch den Mensa -Tisch verloren, welcher mir durch den Sonnenstich in den Leib gejagt wurde; der Kurfürst Elias ist in meinem Leib gestorben; ich habe die Natur eines Kindes, den Mund eines Affen bekommen u. s. w.

Manchmal mischen sich auch Züge von hypochondrischem Verfol- gungswahnsinn darunter.

Auch die Intervalle werden im Verlauf psychisch immer belasteter. Die Kranken werden nie mehr reconvalescent. Sie kommen wohl wieder aus dem Paroxysmus hinaus; aber sie bleiben im günstigsten Falle ein geistiges Phlegma. So kehren sie heim, um oft beim

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Weiterirerlauf. Ausgänge.

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ersten Anpralle der Wirklichkeit wieder zu straucheln. In ihrem Geschäfte werden sie untüchtiger, endlich unfähig; in der Familie finden sie sich nicht mehr zurecht, umso weniger, als sie gemüthlich fremd geworden sind. In der Anstalt dämmern sie von einem Paro- xysmus zum andern hin, ohne Interesse, ohne Wunsch, ohne Klage, höchstens mechanischen Ansprüchen genügend. Andere wieder, freilich nur die selteneren Fälle, vermögen hier unter Abhaltung aller Reize ihr Intervall zu verlängern, und so sich wieder bis zu einer gewissen geistigen Leistungshöhe zu erholen. Dagegen kürzt sich bei solchen, welche aus der Uberstandenen Manie eine zunehmende geistige Reizbarkeit überkommen haben, die kaum errungene Ruhe- pause oft jäh wieder ab, und schlägt in einen neuen Paroxysmus um.

Je länger und öfter wiederholt, desto leichter setzt sich dieser in Scene. War Anfangs noch ein entsprechender Affcct-Chok nöthig ge- wesen, so genügt allmählich die leiseste Contrariirung, ja ein einziges unangenehmes Wort; endlich selbst eine harmlose Aenderung der Tages- ordnung (eine Festlichkeit, ein Besuch, ein weiterer Spaziergang, ein Glas Uber den Durst, ein körperliches Unwohlsein), um sofort wieder den Sturm zu entfesseln. Der Volksmund spricht vom Eintiuss des „Mondwechsels" (s. später). Manchmal sind selbst nicht einmal solche leichteste Reize mehr nachzuweisen : der Anfall bricht nach kürzerer oder längerer Ruhepause aus, „wie wenn der Wind ihn anbliese", und endet so auch „als ob man einen Schleier wegzöge". Bemerkenswerth ist, da&s hin und wieder ein manischer Paroxysmus in der remittirenden Form auftreten , und sich aus einer Serie von 2 3 tägigen Einzelan- fällen mit zwischenläufigen Ruhepausen zusammensetzen kann.

Dagegen vermag in gewissen Fällen das Intervall sich auch auf Jahre und selbst auf viele Jahre auszudehnen, so dass man an eine relative Heilung denken möchte. Aber das Damoklesschwert bleibt auch nach Umfluss eines Decenniunis noch über einem solchen Periodicus aufgehängt, und erweist thatsächlich jetzt noch seine Gegen- wart. Doch sind auch wirkliche und dauernde Genesungen verbürgt (Kirn), und zwar sind es namentlich die kürzeren manisch hef- tigem Paroxysmen, welche diese seltene bessere Prognose abgeben.

Jedoch selten genug! Man sei deshalb übervorsichtig mit der Prognose! So sah ich in einem Falle erst die 2 3 Wochen dauern- den periodischen Anfalle schwinden ; nun aber trat an Stelle des bis dahin immer ruhigen Intervalls erst zornige Gereiztheit, und dann ein zunehmender Einfallswahnsinn mit perversen Drängen, welcher nach und nach in dauernden apathischen Blödsinn Uberging. Einmal sah ich Ge- nesang nach Typhus erfolgen, und zwar fiel die Lysis beider Zustände genau zusammen. Sehr interessant ist auch der von mir beobachtete Verlauf einer mehrjährig typischen periodischen Manie (mit Moral Insanity gemischt) durch eine periodische Melancholie hindurch in dauernde Genesung.

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Die periodischen Melancholieen.

Die periodische Manie kann sieb, wenn ungebeilt, auf Jahre und Jahrzehnte oder auf das ganze Leben erstrecken. Oft werden unter günstigen Aussenverbältnissen mit den höhern Jahreu die Anfälle seltener, und verlaufen in flachern Hügeln; aber nicht immer. Nicht wenige Kranke bleiben in einem letzten Paroxysmal als chronische Maniaci dauernd hängen.

Körperlicherseits sind sämmtliche Begleitsymptome, wie sie bei der Manie zur Sprache kamen, auch hier aufzuführen. Namentlich stimmt, wie oben schon erwähnt, das Verhalten des Körpergewichts ganz zu den bei der Manie vorkommenden Befunden. Der Beginn des Paroxysmus wird sehr häufig durch starke Kopfcongestionen mit Schläfrigkeit und eigentümlich steifem Blick gekennzeichnet. Bei den kurzen Paroxysmen gibt nicht selten der Eintritt der Menses die Auslösung ab. Der Kopf ist auf der Höhe der Krankheit oft roth, gedunsen und heiss, später blass und gedunsen; die Pupille enge, der Blick während des Paroxys- mus manchmal schielend. Constant scheint bei den heftigen manischen Paroxysmen die erhöhte Ausscheidung von Uraten zu sein, welche durch Reizung des Blasenhalses manchmal die gesteigerten sexuellen Reize (Onanie) bedingen.

b) Die periodischen Melancholieen entbehren der z. Th. scharf geschnittenen klinischen Signatur, welche die Manieen kennzeichnet, und nicht selten schon beim ersten Anfall eine Wahrscheinlichkeits- diagnose stellen lässt. Die allgemeinen nosologischen Charaktere sind dieselben wie bei den Manieen: Ueberwiegend häufig erbliche Anlage, rascher Beginn und oft ebenso brüskes Aufhören; die letztern Momente treten mit häufigerer Wiederholung der Anfälle um so prägnanter hervor („oft von einem Tag zum andern gesund und krank"). Die in Betracht kommenden klinischen Formen sind so- wohl die der agitirten als der ruhigen resp. passiven Melancholie, und zwar mit der Auszeichnung, dass Sinnestäuschungen in der Regel fehlen, ebenso Wahnvorstellungen: es sind allermeist ganz reine Depressionszustände aus dem Gefühl Nichts leisten zu können ; damit verbunden: allgemeine Abulie, Bettsucht, tagelanges Seufzen mit Vernachlässigung aller persönlichen Fürsorge. Manchmal schliesst sich in der Folge ein Versündigungswahn an, oft in Form schmerz- licher Resignation, seltener als active Melancholie mit Angst, Ten- tamen Suicid. und Nahrungsverweigerung. Körperlicherseits gehen gewöhnlich anämische Zustände mit Gastricismen mit einher, oder (bei den agitirten Formen) Fluxionen zum Kopf mit heftiger Gefäss- erregung, Neuralgieeu. Nie fehlt Abnahme des Körpergewichts. Die chronischen, langgestreckten Anfälle verlaufen oft nur unter dem Bilde a) einer beständigen Angst, welche bald inhaltslos ist,

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Klinische Bilder. Entwicklung. Verlauf. Auggänge.

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bald in hypochondrischer Weise sich um die Befürchtung der Un- heilbarkeit und qualvollen Leidens bewegt; oder b) einer ebenso ausdauernden Unzufriedenheit mit der Umgebung, mit der Kost» Wäsche, Bedienung, und in täglichen Nergeleien in Folge des innern Unbehagens. Moral Insanity in Form boshafter Gehässigkeit, Intri- guenlust u. s. w., wie sie die protrahirten manischen Zustände aus- zeichnet, fehlt hier. Das Bewusstsein bleibt lucid, die Stimmung natürlich dankbar und zartsinnig. Nur mit zunehmender psychischer Schwäche, welcher die Kranken mit jedem neuen Anfall langsam zusteuern, schliesst sich auch der unzertrennliche Egoismus auf.

Nach Aufhören des Anfalls tritt entweder ein ruhiges Intervall ein, welches eine relativ viel normalere Leistungsfähigkeit, und auch zeitlich viel länger gestattet, als nach den entsprechenden mani- schen Zuständen ; oder: es folgt eine Periode gesteigerter Lebens- und Schaffenslust, welche sich aber ganz in der Breite einer natür- lichen Reaction erhält. Bezüglich des zeitlichen Eintritts der Par- oxysmen trifft nicht selten dieselbe „astronomische" Regelmässigkeit ein, wie bei den periodischen Manieen; viele Kranke können sicher rechnen, dass sie mit Eintritt eines bestimmten Monats, der heissen Jahreszeit u. s. w. in ihre obligate Schwermuth verfallen. Oft bleibt aber nur die latente Disposition zurück, welche erst noch eines äussern Anstosses bedarf, um activ zu werden; dazu genügen dann allerdings oft leichte Veranlassungen (Festlichkeiten, Besuche). Der Weiterverlauf ist auch hier im Wesentlichen wie bei den manischen Typosen. Ein Theil der Fälle zieht sich durch das ganze Leben hin, selten aber in sich wiederholender Gleichheit der Anfälle; manche werden im Verlauf milder und dabei protrahirter , andere dagegen auch milder und kürzer; ein grosser Theil aber erschwert sich in erheblicher Weise, geht aus der einfach apathischen Form von anfänglich monatelangcr Dauer in ein chronisches Irresein auf Jahre hinaus über, complicirt sich dabei mit Hallucinationen, Zwangs- gedanken und -Impulsen (Suicidium!), oder auch mit Zügen von Verfolgungs- resp. Grössenwahn, unter Fettzunahme des Körpers. Wieder andere aber heilen auch, namentlich juvenile Formen, mit dem Eintritt in ein höheres Lebensjahrzehut.

Der schweren Form chronischer (hirnatrophischer) Melaucholieen, welche oft periodisch und in wachsender Verschlimmerung mit jeder neuen Anfallsetappe verläuft, ist S. 63 gedacht worden.

Die cireulttren Geistesstörungen. Vorleben und Entwicklung fällt in der Mehrzahl der Fälle ganz mit den periodischen Psychosen zusammen. Es ist wiederum die

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Die circulären Psychosen.

hereditäre Grundlage, und zwar nicht immer nur in Form einfacher Prädisposition, sondern der Belastung mit greifbaren „Stigmata he- reditatis", welche wie dort die Einleitung bildet Hatte die perio- dische Manie an die im hereditären Charakter vorhandene Reizbar- keit und Emotivität angeknüpft, deren Excess in Form pathologischer Steigerung sie in gewissem Sinne bildete: so entfaltet sich die cir- culäre Störung aus jener Eigenart der Nervenfunctionen in der erb- lichen Neurose, welche wir als „convulsive" kennen lernen werden, d. h. als ein Schwanken zwischen gesteigerter Thätigkeit und abnor- mer Erschöpfung an Stelle einer continnirlichen Leistungs-Curve. Dieser Wechsel zwischen „Krampf und Erschlaffung" bildet ohne Zweifel das physiologische Vorbild für die spätere Abwechslung von Exaltation und Depression; nur, dass beide alternirende Phasen jetzt zu vollständigen klinischen Zustandsformen als Manie und Me- lancholie — entwickelt sind. In dieser Genese beginnt die circuläre Psychose manchmal ihren manifesten Bestand schon zur Pubertäts- zeit, nachdem die Kindheit und Jugend dieser Kranken schon auf Jahre zuvor den besprochenen Zickzackgang in der nervösen Energie und auch in der gemtithlichen Stimmungslage eingebalten hatte. Aber diese „Invalidität" nervösen Functionirens kann freilich in vergleichsweise viel seltenern Fällen auch erworben werden, wie denn thatsächlich die circuläre Psychose auch ohne erbliche Anlage vorkommt (so nach tiefen Gemüthsbewegungen mit anämi- scher oder kachektischer Blutbescbaffenheit, oder als vorübergehen- des und selbst definitives Stadium im Verlauf eingewurzelter constitu- tioneller Neuropsychosen hysterischen und epileptischen Charakters).

In diesem genetischen Zusammenhang ist oben bereits der anfäng- lich nicht cyklisch veranlagten Melancholieen gedacht worden , welche fUr's Erste noch mit einer Manie abschliessen , dann in ein jahrelanges Wohlsein Ubergehen, später aber wieder ausbrechen und jetzt cyklisch weiter verlaufen. Dabei ist hier nachzutragen, dass der so erworbene Typus nicht immer dauernd bleibt, sondern manchmal nach Ablauf mehrerer Cyklen noch in definitive Genesung Ubergehen kann.

Interessant ist ferner die Entwicklung der cyklischen Psychose aus einer ursprünglich periodischen (8. oben). Es gibt gewisse Manieen der letzteren Form, welche durch ein Gemisch von tiefster Depression oder Exaltation (oft im UmHuss von nur einigen Stunden jäh in einander Uber- gehend) sich auszeichnen. Hier kann eine allmählich strenge Sonderung der beiden gegensätzlichen Stimmungsphasen sich ausbilden, und der Weiter- verlauf von jetzt an in dieser abwechselnden (circulären) Reihenfolge verbleiben.

In kleinem Maassstab nicht als selbstständige Krankheitsform in zwei klinisch differenten Typen, sondern nur als abgeänderter

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Allgemeine Symptomatologie. Entwicklung.

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Verlaufs-Modus einer bestehen bleibenden Psychose kommt dieser Wechsel zwischen „Krampf und Erschlaffung" auch sonst vor, so namentlich in gewissen Depressionszustanden. Man bezeichnet den- selben hier als „alternirenden Typus", und versteht darunter die Verlaufsart einer Melancholie, wobei abwechselnd der eine Tag psy- chisch krank, der andere mehr oder weniger geistig frei ist. Das kann durch lange Jahre hindurch sich erhalten, und ein Symptom eines unheilbaren Zustandes abgeben (s. u.) ; der alternirende Typus kann aber auch nur vorübergehend auftreten, und mit günstigem Ausgange gewisse Reconvalescenz - Stadien begleiten (so besonders in gewissen senilen Zuständen).

Das circuläre Irresein besteht in seiner typischen Form aus der Aufeinanderfolge von:

1. einer Exaltationsphase,

2. einer Depressionsphase, und

3. einer „freien" Zwischenzeit, dem Intervall. Unter den Exal- tations-Zuständen steht klinisch die Manie in erster Reihe der Häufig- keit; in zweiter der aufgeregte Grössen Wahnsinn. Die Depressions- phase verläuft stets unter dem klinischen Bilde der Melancholie. Diesen zwei Gruppen steht eine dritte gegenüber, in welcher das eine Stadium durch einen Zustand von aufgeregtem Stupor, das andere durch einen apathischen Depressionszustand repräsentirt ist Das Intervall ist entweder in präciser Ausgestaltung als „freie" Zwischenzeit vorhanden, oder aber nur rudimentär in Form der sachte ausklingenden vorhergegangenen Krankheitsphase (Melancholie oder Manie); nicht selten kann dasselbe, namentlich bei rascher Aufeinanderfolge der Paroxysmen, auch ganz zum Ausfall kommen, so dass an das Ende des melancholischen Stadiums sich sofort das manische anschliesst und umgekehrt*). Die Oombination resp. zeit- liche Aufeinanderfolge der psychischen Hauptstadien ist eine ver- schiedene: es kann die Melancholie den Reigen beginnen, oder aber die Manie. Ersteres scheint das häutigere Vorkommnise zu sein.

Nach meinen Erfahrungen bin ich geneigt zu bestätigen, dass bei melancholischem Krankheitsbeginn sehr oft die Initialmelancholie den später wiederkehrenden Paroxysmen gegenüber die stärkste Intensität zeigt. Doch kann ich das jetzt nachfolgende Intervall nicht auch für das längste und geistig freieste erklären. Es kann auch auf die an- fängliche Melancholie sofort der manische Paroxysmus folgen, und als Drittes erst das Intervall (s. u.).

•) Baillarger unterscheidet darnach eine folie ä double forme gegenüber der folie circulaire s. str.

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302

Die circulären Psychosen.

Bezüglich der Stärke der Ausbildung kann eine Phase die an- dere bedeutend überragen. So ist sehr oft die melancholische ausser- ordentlich stark ausgeprägt, und die manische verläuft in mildester Form. Anderemale liegt der Hauptaccent auf der manischen, welche bis in schwere Grade sich entwickelt, während die melancholische sich nicht Uber ein gewisses mittleres Maass erhebt. Dann aber können auch wieder beide Phasen eine analoge Entwicklungshöhe aufweisen. Alle diese verschiedenen Modi können selbst im Ver- laufe desselben Krankheitsfalles wechseln.

Ebenso verschieden ist auch die Art resp. Schnelligkeit der Entwicklung. Regel scheint zu sein, dass der häufigen Wiederkehr auch die Leichtigkeit des Ausbruchs proportional geht: in spätem Paroxysmen geschieht der Umschlag nicht selten in wenigen Stunden, in einer Nacht, ja selbst manchmal noch schneller (in einigen Minuten in Fällen von circulärem Stupor). Der Anfangsparoxys- mus dagegen, sei er manisch oder melancholisch (namentlich der letztere), bereitet sich aus längerer Hand vor.

Eine weitere Spielart ist die, dass eine Zeit lang d. h. im Anfange der Erkrankung die manische Phase brüsk in die depressive timschlägt, und im spätem Verlauf umgekehrt die depressive brüsk in die exal- tirte; während jetzt die manische sachte in das Intervall ausklingt, und dieses allmählich sich zur Depression vertieft.

Klinisches Symptomenbild.

a) Die virculäre Manie. Diese kann, wie die periodische, in leichterer und schwererer Form vorkommen; während aber für jene die schwereren Formen die häutigeren sind, so findet für die circuläre das Umgekehrte statt. Die Mania mitis ist der charakteristische Typus, und zwar ganz in der für die periodischen Formen besproche- nen klinischen Artung. Als neu, und dem circulären Modus vielleicht ausschliesslich zugehörig, tritt hier eine so milde Varietät dieser in „Intellect und Willen" aufgenommenen Manie auf, dass dieselbe fast als Mania mitissima bezeichnet werden dürfte. Die Kranken dieser Kategorie zeigen eine Erhöhung ihrer normalen Persönlichkeit nur um ein minimales Register: sie sind belebter, unterhaltender und unternehmender, liebenswürdiger im Wesen, heiterer in der Stimmung. Sie fühlen sich wohl, wie seit lange nicht mehr, sehen frischer und jugendlicher, unternehmender aus, und kennen kein grösseres An- liegen, als ihre „Gesundheit" Jedermann gegenüber zu rühmen. Ihre geistigen Leistungen erhalten das Relief weittragender für die Menschheit bedeutungsvoller Thaten; ihr Umgang adelt, oder aber lässt sie nur „geistig bedeutende" Menschen um sich ausfinden.

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Die circuläre Manie. Klinische Typen.

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Manche entwickeln eine ausgiebige und wohllautende Singstimme. Alle schlummernden Talente, namentlich bei weiblichen Patienten, treten auf; eine besonders beliebte BethUtigung ist ein unerschöpf- liches Anfertigen von Blumen und allerlei Nippsachen, oft in den Phantasie vol Uten und originellsten Erfindungen. Auch in die Haare werden Blumen geflochten, für Augenlider und Wangen allerlei kos- metische Färbungen verwendet; die Kleider in selbst erfundenen, recht auffälligen Moden aufgebauscht. Bei Männern tritt grosse Lust nach sinnlichen und zerstreuenden Genüssen (Rauchen, Billardspielen) hervor. Die kreuz und quer geschriebenen Briefe sind endlos durch die überströmende Fülle des Details, nicht selten ohne stylistische Interpunction. Andere Patienten reisen ohne Unterlass, und blühen auf unter den Reisestrapazen. Bei Manchen gewinnt die beginnende Erregung bald einen ausgesprochen erotischen Charakter: der ältere Hagestolz stellt sich auf FreiersfUsse , die climacterische Frau putzt sich und kokettirt ohne Rücksicht auf Anstand und Würde. Aller- meist tritt aus diesen Formen, wenn auch noch in milder Prägung, der bekannte Charakterzug hervor, welcher in der weitern Entwick- lung gleichmässig die periodischen und so auch die circulären Zu- stände begleitet: ein leiser sittlicher Defect. Behagen an der Ver- legenheit Anderer, Lust zu mäkeln und zu kritisiren, der Umgebung etwas anzuhängen, überlegenes Selbstgefühl mit einem schranken- losen Cultus des Ich, im Umgang gelegentlich auch einmal eine Noth- oder Verlegenheitslüge das sind Pinselstriche, welche auch in dieses graziöse Maniebild sich einschwärzen , freilich oft sehr verdeckt, weil die Kranken sich zu beherrschen und im Nothfall fein zu „raisonnircn" wissen. Sehr viele dieser circulären Fälle, welche nicht zu höhern Stadien sich entwickeln, betreten nie die Schwelle eines Asyls: sie spielen sich Jahre, ja selbst das ganze Leben lang, in der Stille des Familienlebens ab, oder bleiben in der Laufbahn des einsamen Gelehrten oder Künstlers, welcher perio- disch zwischen Phasen von productiver Schaffenslust und misan- throper, weltschmerzlicher Abulie bin- und herschwankt, und nicht selten dadurch, trotz grosser Begabtheit, eflfectlos zerrinnt. Steigern sich die Symptome, so kommt bis ins Einzelne das unter der perio- dischen Manie geschilderte Bild der Mania mitis zur Entfaltung, auf dessen Schilderung hier verwiesen werden kann.

Die diagnostische Unterscheidung zwischen einfacher and circulärer Mania mitis stützt sich vorwiegend auf dieses begleitende Moment der reizbaren Moral Insanity. Dazu kommt noch die ungleiche Vertheilung der manischen Erregung zwischen Intellect- und Willenssphäre: in den

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Die circulären Psychosen.

circulären (wie auch in den periodischen Formen) überwiegt in der Regel das Delirium der Acte Uber das der Vorstellungen.

Die Stimmung ist beweglich und wandelbar, vorherrschend guter Laune (doch fehlen auch Momente nicht, in welchen die Kranken auf Stunden förmlich zusammenbrechen, „weil sie wirklich so tief unglücklich seien"); oft spielt ein neckischer Muthwille durch, stets aber eine grosse Empfindlichkeit und Verletzlichkeit mit Neigung zu gereizten Ausbrüchen.

Selten bleibt es auf dieser Stufe. Die Aufregung nimmt in der Hegel bald zu. Eine muthwillige Heiterkeit und profuse Geschwätzig- keit stellt sich ein und damit zugleich ein unstäteres Wesen, ein wechselnderes Begehren, eine grössere Reizbarkeit. Der Kranke fuhrt jetzt das grosse Wort, wird leicht ungeduldig, hat täglich neue Wünsche und Bedürfnisse, lebt leichtfertig in den Tag hinein, ge- räth beim leisesten Anlasse in Zornausbrüche und Balgereien. Dies das eine klinische Bild.

Das andere stellt ganz analog der schwereren Form der perio- dischen Tobsucht eine allgemeine hochgradige Manie dar, mit enor- mem Bewegungsdrang (planlose Geschäftigkeit, Abreiben der Wände, triebartige Bewegungen, Springen, Turnübungen, sinnlose Zerstörun- gen u. s. w.), Uberfluthender Geschwätzigkeit, Reden voll von Selbst- überschätzung und eiteln phantastischen Prahlereien; dazwischen maasslose Bitterkeit mit Drohen und Schelten, brutalem Fortver- langen u. s. w. Auch hier treten , namentlich im Verlauf späterer Paroxysmen, die Züge der Moral Insanity bald in erschreckender Weise hinzu, als: krankhafte Bosheit, frivoler Cynismus u. 8. w., wie sie die sogenannte „degenerative Manie" kennzeichnen (s. Moral Ins.).

b) Der circuläre Wahnsinn trägt expansiven (religiösen oder politischen) Charakter, und enthält keine oder nur matte Verfol- gungsideen.

Die Einleitung wird in der Regel von einer manischen ErregUDg gebildet. Der Kranke beginnt zu kaufen , zu trinken , den Spaß- macher zu spielen, mit seiner finanziellen Leistungsfähigkeit zu prahlen. Bald verräth er aber seine „geheime Mission": er ist heimlich bei einem fürstlichen Hause oder der Diplomatie aecreditirt, und hat wichtige politische Aufgaben. Orden werden vorgezaubert, welche sich der Kranke gekauft hat und zur Beglaubigung vorzeigt; phantastische, selbsterdichtete Romane über frühere Carrieren und politisch wichtige Dienste werden dabei aufgetischt, aber nicht an Jedermann (wie es der richtige Maniacus oder Paralytiker thut), sondern nur an auserwahlte Vertrauenspersonen als Ausdruck persönlicher Huld und Confidenz. Mit diesem fixen Wahne weiden bald alle Tagesereignisse in Beziehung gesetzt, er der Kranke

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Der circuläre Wahnsinn. Die melancholische Phase. 305

ist der eigentliche, wenn auch in der Stille sich haltende, Faiseur; Documente mit Siegeln und Emblemen (natürlich selbstfabricirte) bilden den stets bereit gehaltenen Beleg. Ueberzeugt, wie er von seinem Wahne ist, überhört er lächelnd jeden Einwand; er sieht bald nur noch Gläu- bige um sich. Bei der Zeitungsnachricht eines hohen Todesfalls legt er sofort Trauerkleider an; bei gespannten politischen Situationen ver- schwindet er plötzlich auf einige Tage, und kommt dann, den Arm in der Schlinge, zurück: er war mittlerweile berufen einen mysteriösen politischen Ehrenhandel im Duelle auszufechten ; daher die Armwunde. Und dabei zeigt er eine alte Narbe auf, oder ein frisches Panaritium! Merkwürdig ist das Doppelbewusstsein in vielen dieser Krankheitsphasen. Während der Kranke in den erlogensten Phantasieen mit dem Aufgebot seiner raisonnirenden Dialektik sich ergeht, kann er zu einer andern Stande in seiner Berufsarbeit leben, als Advocat seine Acten bearbeiten, ja sogar plaidiren ! Bezüglich des Krankheitsbewusstseins habe ich es erlebt, dass ein solcher sehr intellectueller Patient, als er zufällig mit seinen gekauften Orden auf einem Spaziergang einem Vorgesetzten be- gegnete , vor der Begrüssung rasch seinen per nefas besternten " Rock- umschlag zuknöpfte, und erst als er wieder allein sich fühlte, seiner' Decorationsfreude offenen Ausdruck gab. Grosse, selbst verschwende- rische, Ausgaben, Uniformirungen nach dem Schnitte der erträumten Rangstellung etc. bilden nach aussen die Kundgebungen des Wahnes; doch weiss der Kranke auch mit diesen Demonstrationen nach Bedarf Maass zu halten. So sehr er sich aber auch, wo es gilt, zu beherrschen weiss, um so unbeschränkter macht sich gegen Untergebene, und namentlich gegen die eigene Familie, eine hochfahrende Härte und Heftigkeit gel- tend, welche nicht selten rücksichtslos roh und selbst gemein wird.

So hält sich der Zustand Wochen oder auch Monate lang, und klingt wie die Form a) entweder langsam oder manchmal brüsk in die negative Phase ab.

Diese letztere kann, wie Eingangs angedeutet, «) die Melan- cholie, oder aber ß) das Intervall mit erst nachfolgendem Depressions- stadium sein. Folgt sofort die Melancholie nach, so hat diese nicht selten bereits Wochen zuvor ihren Schatten vorausgeworfen, indem der damals noch manische Kranke plötzlich ohne Motiv ins Weinen ausbrach, und stundenlang Uber sein „Unglück" wehklagte.

a) Die melancholische Phase stellt in ihrer typischen Ge- staltung das Bild der gewöhnlichen Melancholie dar, und zwar in einer so scbulgerechten reinen Form, wie sie isolirt kaum vorkommt. Die passive Form ist wohl die häufigere. Die Kranken ziehen sich aus der Gesellschaft zurück, werden verzagt und wortkarg, schüch- tern im Benehmen; es ist ihnen Alles recht, wie es geht und ist; die geistigen Beschäftigungen geschehen nur noch mechanisch, ohne tiefern Ernst ; über das ganze Wesen legt sich eine gewisse geistige Müdigkeit, ein energieloser, schwächlicher, unentschlossener Grund-

Schttle, Q«Ut«Bkn!ikheiUm. 3. Aufl. 20

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Die circularen Psychosen.

zag. Andere werden selbst ganz unregsam, statuenartig; sie ant- worten kaum, seufzen und weinen viel, müssen zu Allem angebalten werden, leisten manchmal gegen jede Ansprache blinden Widerstand. Kräftige Singstimmen in der Erregungszeit bringen jetzt nur heisere dünne Fisteltöne heraus. Viele verweigern die Nahrung, oder neh- men dieselbe nur unter Nöthigung. Andere suchen das Bett auf, und sind wochenlang nicht zum Aufstehen zu bewegen. Wieder Andere sind byperscnsibel und leicht verletzlich, so dass sie aus jedem Zuspruch Thränen ziehen. In ihren Klagen steht das unendlich schmerzliche Gefühl der Willenlosigkeit obenan; sie sind zu nichts mehr nütze, sie sehen nur, wie die Andern zu arbeiten und zu wirken vermögen; für sich sind sie ohne Kraft und Willen.

Dies trifft namentlich für die kleinen taglichen Sorgen und Wirrnisse, „für die Nadelstiche des Alltagslebens" zu ; Uber diese wissen die Kranken oft nicht hinwegzukommen, während sie merkwürdigerweise für grössere Fragen und Entschliessungen vorübergehend sich noch aufzuraffen ver- mögen.

Im Kopfe ist es leer und öde, die Gedanken gehen nicht mehr; die Kranken fühlen sich unermesslich schwach und geistig elend. Nur der Schmerz über dieses Elend erfüllt sie und um so drücken- der, als sie in eine hoffnungslose Zukunft schauen müssen, welche für sie keinen Ausweg mehr hat, oft gar „durch ihre eigene Schuld". Andere wieder erfassen ihren Schmerz materieller; sie sehen sich in selbstverschuldeter Armuth und finanziellem Ruin; vor einigen Tagen noch mit Ausgaben von Tausenden leichten Herzens spielend, zählen sie jetzt die Kartoffeln zu den Mahlzeiten.

Sehr oft begleitet eine Menge nervöser Sensationen die schmerzliche Verstimmung, namentlich Neuralgieen und ue urasthenische Allgemein- gefühle (Kopfdruck, furchtbare Müdigkeit, Palpitationen). Dabei werden dieselben nicht einfach nur als lästig, soudern in der denkbar quälendsten Form, „unnatürlich peinlich", und sogleich mit den übertriebensten Be- fürchtungen empfunden.

Die activen Formen bewegen sich in der bekannten ruhelosen motorischen Entäusserung auf Grundlage aller erdenklichen Selbst- vorwürfe. Oft schelten sich die Kranken in ihrem gesunkenen Selbst- gefühle als „Missgeburten" und „Mondkälber", als „Versehen der Natur". Sie kauen sich die Finger ab, zerkratzen und peinigen sich. Viele schleichen gebückt einher, und wimmern mit Fistelstimme. Eine reiche Scala kliuischer Bilder wird mit den Einzeltypen aus- gefüllt. Besonders, und dies namentlich gegen die manischen Phasen hin, fehlen auch ganz leichte Depressionszustände nicht, in wel- chen die Kranken nur Uberempfindsam, krittelig und nergelnd sind,

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Die „circulare Melancholie". Das Intervall.

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bald in schmiegsamer Hilfsbedürftigkeit und unerschöpflichem Klage- reichthum, bald aber auch in einer Verbitterung gegen sich und Andere, welche der Geduld der Umgebung schwere Proben setzt (die Kost ist ihnen zu schwer, die Luft zu dicht, der Lärm im Hause zu gross, die Behandlung nicht freundlich genug, und dabei die Kosten zu theuer u. 8. w.).

Neben diesen allgemeinen Verwandtschaftszügen bewahren diese cir- culären Melancholieen einige auszeichnende symptomatologische Eigen- heiten gegenüber den gewöhnlichen typischen: 1. es kommen fast nie wirk- liche Hallucinationen vor, sondern höchstens Pseudohallucinationen, und auch diese nur vorübergehend ; 2. es finden sich sehr häufig Wahnsinus- züge (Symbolisirungen, Verfolgungsideen mit romanhaften Conceptionen wie im hysterischen Irresein) beigemischt; ebenso 3. Züge von Moral In- aanity (degenerative Melancholie): das innere Wehegefühl reflectirt sich in ausgesuchten Kränkungen und Anklagen der Umgebung, in demon- strativen Selbstmorddrohungen, gelegentlichen Wuthattaken u. s. w.

Bemerkenswerth ist, dass nicht selten ein melancholischer Par- oxysmus durch einen plötzlichen erschütternden Gemüthseindruck (Nachricht vom Tode Angehöriger) abgeschnitten wird.

ß) Das Intervall kann symptomatologisch dreierlei Formen bieten: 1. es setzt die voraufgehende Phase fort in nachklingender melancholischer oder manischer Färbung, aber mit zuuehmender Lucidität und Annäherung an den Normalzustand; oder 2. es stellt ohne ausgesprochene Färbung ein geistiges Erschlaffungsstadium dar. Ein leiser Sopor legt sich über die Persönlichkeit des Kranken, welche jetzt „wie abgedämpft, weil weniger individualisirt" erscheint; das ganze psychische Wesen ist träge, unendlich müde, ohne Ini- tiative, die Stimmung muth- und theilnahmslos, mit einem Zug leiser Verstimmtheit oder selbst Depression; die Haltung schüchtern und verzagt, das Handeln mühsam, ohne Nachdruck, und rasch sich er- schöpfend. Schliesst sich das Intervall in dieser Form direct an eine vorausgegangene Manie an, so erhält es nicht selten durch be- gleitende Reue- und Schamgefühle Uber die vorausgegangenen und (bis ins Detail erinnerlichen) manischen Licenzen einen ausgeprägten melancholischen Zug (s. o.), so dass man oft nicht weiss, ob der Kranke sich in einem Intervall, oder in der melancholischen Phase befindet. Im Verlauf von Monaten arbeitet sich immer mehr die frühere Persönlichkeit wieder heraus, ohne aber je die einstige Kraft und Frische zu erreichen. Die Stimmung namentlich bleibt in einer Art Dämmerung aus dem Schatten der letzten Vergangenheit und dem Dunkel der ungewissen Zukunft. Diesem Typus steht ein dritter gegenüber, in welchem mit der ruhigen Phase ein vollständig

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Die circul&ren Psychosen.

neuer Mensch beginnt, ohne anknüpfende oder nachwirkende Erinne- rung an die verflossene Exaltation. Dafür ist diese mit der nächst- folgenden Erregungsperiode um so näher verbunden, so zwar, dass in dieser erst das Gedächtniss an die frühere, und jetzt oft bis in die kleinsten Details erwacht wiederum einer Art Doppelbewusst- sein, wie in gewissen alternirenden Melancholieen.

Ist die Krankheit durch Ausprägung dieser Einzelphasen defi- nitiv gebildet, so besteht der Weiterve r lauf in deren cyklischer Wiederholung. Es ist oben schon bemerkt worden, dass bezüglich der Aufeinanderfolge der Componenten eine sehr reichhaltige Ver- schiedenheit obwaltet; ebenso bezüglich der Dauer und des Eintritts der Einzelanfälle (speciell Uber letztern Punkt s. u.). Das Endschicksal ist folgendes. Entweder 1. es bleibt der verhängnissvolle Cyklus Uber die ganze Dauer oder wenigstens den grössten Theil des Lebens bestehen.

Dabei muss der Modification Erwähnung geschehen, dass die anfäng- lich scharf alternirenden manischen und melancholischen Episoden im Verlaufe manchmal zu weniger präcisen und reinen sich umgestalten, und in den mannigfaltigsten Schattirungen in einander übergehen können. So kann an Stelle des tief depressiven Typus ein Zustand von mässiger Abspannung und Ermüdung treten, oft mit richtiger Kritik über die ge- schehenen Ausschreitungen in der Aufregungszeit; dann kann wieder fast als Ironie darauf eine Exaltation in Form von ungeordneter Leb- haftigkeit und Possenreisserei folgen, wobei der Kranke (echt verrückt) sich Mühe gibt allerlei barocke Verkehrtheiten nach aussen treten zn lassen, und dasselbe verzwickte Spiel auch in der folgenden torpiden Phase wiederholt, indem er sich an- und auskleiden und selbst füttern lässt, und statt zu sprechen allerlei symbolische Gesten eines Stummen nachahmt. Der Weiterverlauf schliesst in diesem Falle mit einem Zu- stand allgemeiner Verwirrung (Vorsichhinsprechen und •Lachen, barocke Kopf- und Körperhaltungen, Zwangsbewegungen) und endlichem Unter- gang in einem stillen apathischen Blödsinn ab.

Oder 2. es tritt bei günstigen Verhältnissen (vor Allem in der Ruhe des Anstaltslebens) ein immer mehr sich protrahirendes Intervall ein, mit dem Charakter einer langsam zunehmenden geistigen Schwäche und bleibender Geneigtheit zur Recidive; oder 3. es schliesst sich ein dauernder manischer oder melancholischer Zustand an, mit allmählichem Versinken in Demenz. Der Maniacus bildet sich zur chronischen degenerativeu Form aus (s. u. „Mor. Ins."), der expansiv Wahnsinnige zum phantastischen Reformator und typischen Anstalts- Querulanten; beide Zustände können aber auch in eine chronische Melancholie auslaufen, in welcher der Kranke Jahre lang im Bett liegt, auf jede Ansprache weint, allen Verkehr nach aussen

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Das Intervall. „Degenerative Melancholie". Der circuläre Stupor. 309

ängstlich abbricht, in eine Art hyperästhetischer Stumpfheit sich einbannt, und nur in einem selbstgeschaffenen egoistischen Tages- programm, worin oft die Fürsorge für Waschen und Reinlichkeit fehlt, sieb schliesslich beruhigt und abfindet. Dabei können alle Herzensbeziehungen, namentlich aber die intellectuellen Functionen, Urtheile, sich lange in einer gewissen Ungetrübtheit erhalten, welche mit der Abulie (in Allem, was Uber die enge Sphäre des Tages- pensums hinausliegt) im schroffsten Widerspruche steht. Der Krauke fühlt dies selbst; aber er hat nur vermehrte Thränen für jede Auf- munterung. Man könnte diesen Ausgang als eine besondere Unter- art von degenerativer Melancholie (S. 306) bezeichnen. Es kann endlich auch 4. eine wirkliche Genesung eintreten.

Ein zwar sehr seltener Ausgang, welcher aber um 60 bemerkend werther ist, als er selbst bei einer klassischen Folie circulaire (mit ein- leitender speeifischer Moral-Insanity-Manie) ein oder das andere Mal glü- cken kann, sogar auf schwer hereditärer Grundlage.

c) Der circuläre Stupor. Hierunter reihe ich eine Gruppe cyklischer Psychosen ein, deren Paroxysmen aus der Verbindung resp. Aufeinanderfolge einer aufgeregten und einer athenischen Stupor- Phase bestehen, mit nachfolgendem Intervall. Den vorbesprochenen Formen gegenüber zeichnet sich diese Gruppe durch die Kürze sowohl der Anfälle als des Zwischenstadiums aus (einige Tage bis ' 1 2 Wochen), sowie durch den ausserordentlich jähen Umschlag der einen Phase in die andere (manchmal während des Sprechens, des Gehens). Die aufgeregte Stupor-Pbase verläuft entweder unter dem Bilde einer stupiden Manie mit tiefster Bewusstseinsstörung und plötzlichen Raptus 1. Unterform; oder als aufgeregter hallu- cinatorischer Stupor mit grosser Angst, Verkennen der Personen, und heftigen motorischen Reactioncn von Gewaltthätigkeit 2. Unterform.

Die 1. Unter form entsteht in der Regel auf stark belasteter Grundlage. Der Ausbruch erfolgt unter heftigem Congestiv-Zustand zum Kopfe, localen Schweissen und jagenden Pulsen; dabei wird der Kranke rasch, oft wie mit Einem Schlage, der Wirklichkeit entrückt, beginnt zu schreien, um sich zu schlagen, wild zu zer- stören. Es ist das einleitende Bild eines peracuten Furors, welcher manche Aehnlichkeit mit dem epileptischen hat.

Die 2. Unterform stellt einen hallucinatorischen Dämmer- zustand dar, mit stupider Angst, Illusionen und Hallucinationen, untermischt mit theilweise richtigen Wahrnehmungen; träumerische Acte wechseln in jähem Umschlag, und regellos, mit lucidern, moto-

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Die circulären Psychosen.

rische Raptus mit choreatischen Bewegungen, coordinirten Krämpfen, dann wieder mit Singen, Vociferiren u. 8. w. Manchmal fehlen Sinnestäuschungen, nnd der aufgeregte Dämmerzustand spielt sich in einer Reihe somnambuler, perverser Acte ab (Verstellen von Gegenständen, Fortwerfen derselben durch das Fenster), bei fast voll- ständigem Perceptionsabschluss.

In beiden Fällen bricht nach kurzer Dauer, in welcher eigent- lich keine Zunahme der (bereits in der Acme einsetzenden) Auf- regung stattfindet, der stupurös-manische Zustand ab. Unter den Erscheinungen der Vasoparese (kühle Hände, Kleinwerden des Pulses) und starkem Speicheln wird der Kranke stupid apathisch, verharrt in Zwangsstellungen, lässt die Excremente unter sich gehen, widerstrebt gegen jeden Eingriff, antwortet bei eindringlicherem Zu- setzen mit Thränen. Darauf folgt, oft scharf abgeschnitten, das eigentliche Intervall, welches in verschiedenen Graden der Lucidi- tät sich bewegt, immer aber einen gewissen Zug von leisem Sopor bewahrt, ohne je die Helligkeit des Bewusstseins, wie bei den andern circulären Formen, zu erreichen. Die Erinnerung ist eine stufen- weise, stets defecte, oft fehlende.

Der Weiterverlauf ist ein wechselvoller, nach meinen Beob- achtungen stets zur Chronicität resp. Unheilbarkeit sich neigender. Dabei werden die Paroxysmen nicht selten um die apathische (katatone) Phase verkürzt, so dass der erregte Stupor direct in das Intervall Ubergeht. Dieses gestaltet sich zu einem immer tiefern psychischen Schwächezustand mit Betäubtheit und gemttthlicber Indolenz.

Letztere wird nicht selten gegen den Paroxysmus hin jeweils durch Züge von Reizbarkeit oder aufgeregte Moral Insanity vorübergehend be- lebt: die apathischen Kranken werden plötzlich unsocial, schlagen Andern das Essen oder Arbeitsgegenstande aus der Hand, lachen blöde, erzählen Zoten, entblössen sich u. s. w.

Die typischen Anfälle erhalten sich dabei oft mit einer fast umthematischen Genauigkeit (s. u.) ; anderemale aber verwischen sie sich, und gehen in unregelmässig periodische Erregungszustände eines mittlerweile stationär gewordenen Blödsinns über.

Zeitliche Gruppiruny der Paroxysmen in den periodischen

und circulären Psychosen.

Es ist längst den Beobachtern aufgefallen, dass der Eintritt der einzelnen Phasen in den beiden Gruppen nicht nur im Allgemeinen ein cyklischer ist, sondern dass derselbe sich oft in einer Art fast

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Zeitliche Gruppirang der Paroxysmen (Einzelphaaen). 3 1 1

astronomischer Regelnlässigkeit einstellt, und dass die Dauer der Einzelphasen die einmal angenommene Zeitspanne oft mit mathe- matischer Genauigkeit einhält. Man hat die Ursachen dieser interes- santen Erscheinung in siderischen Einflüssen gesucht, und namentlich die Mondsphasen dafUr verantwortlich gemacht. So beachtenswerth diese, namentlich von Koster neuerdings wieder urgirte Hypo- these auch ist, so dürfen doch auch die terrestrischen Erscheinungen nicht unterschätzt werden. Ohne Zweifel spielen nämlich auch sub- jective Momente aus dem Individual-Leben, aus der Umgebung und den Aussenverhältnissen des Kranken eine gewisse und oft grosse ätiologische Rolle. Mehr als uns lieb, wiederholt sich die Erfahrung, dass eine genesene entlassene Maniaca mit dem Eintritt in eine ihr nicht zusagende Situation draussen sofort recidiv wird, und so, nach mehrfacher Wiederholung, endlich spontan periodisch wird. In gleicher Weise bringt bei gebesserten Kranken, welche „Meer und Stürme längst hinter sich lassend" eines jahrelangen Intervalls sich freuten, irgend eine Ausbiegung vom jahrelang eingelebten Tages- lauf (plötzlicher fremder Besuch, Betheiligung an einem Feste) den anerwarteten Rückfall mit. Der manchmal plötzlichen Sistirung der melancholischen Phase durch eine zufällige Gemüthserschütterung ist oben schon gedacht worden. So gibt es irdische Schädlichkeiten genug, welche erfahrungsgemäss ausreichen, ohne dass wir nöthig hätten nach den „Sternen" zu greifen. Gleichwohl bleibt daneben eine Reihe beglaubigter Thatsachen von einem regelmässig periodischen Einsetzen des Einzelanfalls „ganz aus der Gesund- heit heraus" feststehen, und ebenso von einer oft Uberraschend gleichen Zeitdauer der Einzelphasen und des Intervalls. Die Ur- sachen dieser regelmässigen pathologischen „Wellenbewegungen", deren physiologischen Typus bekanntlich der Menstruationsvorgang darstellt, sind uns bis jetzt dunkel, sowie nicht minder die Kennt- niss des auslösenden Modus selbst. Verschiedene Thatsachen scheinen dafür zu sprechen, dass bald vasomotorische (Fluxionen), bald nervös- reflectorische Einflüsse (periodische Neuralgieen) als Zwischenglieder im Spiele sind. Ohne hier in Hypothesen über die ev. letzte Ursache einzutreten, soll im Nachstehenden als Beitrag zu den klinischen Thatsachen, soweit sie die aufgeworfene Frage berühren, eine Reihe von bei uns gemachten Beobachtungen Uber Eintritt, Zeit- dauer und Aufeinanderfolge der einzelnen Phasen in den ver- schiedenen Circulärformen angefügt werden.

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Die circularen Psychosen.

Ad periodische Psychosen.

NB. Der graphischen Uebersichtlichkcit wegen werden in den folgenden Tabellen die manischen resp. stupuros aufgeregten Cyklen mit Cursiv-Züfern , die melancholi- schen re«p. stupurös attonischen mit fetten Ziffern , die Intervalle mit halbfetten Ziffern in den eingeschriebenen Zahlen, welche Tage- resp. Wochen- re«p. Jahreszeitraunie bezeichnen, ausgedruckt.

1. Q r. 1. Aufnahme. November. P. 4 M.

J. 2'/a Jahre. 2. Aufnahme. Juli. (Ursache: Verlobung.) P. 4 M.

J. 8 M.

Ist cir- r i Jahr später Verheirathung. Jetzt einige Zeit Depression, culär !

gewor- | 3. Aufnahme. Juli. (Vermögensverluste.) P. 6 M. mit nach- den l folgender mehrmonatl. Depression; J. 4 Jahre.

4. Aufnahme. Mai. (Geschäftsei' Weiterung.) P. 6.

Während des Intervalls abermals Recidiv mit Aufnahme in einer auswärtigen Anstalt.

Perio- dische < Manie.

5. Aufnahme. Juni. (Keine specielle Ursache.) P. 8.

J. IV2 Jahre.

6. Aufnahme. Octbr. (Keine specielle Ursache.) P. mehrere Monate, dann Abgleich in eine ruhigere phlegraat. Phase, welche bis jetzt andauert (seit 4 Jahren).

2. W— r. 1. Aufnahme. Decbr. (Keine Ursache.)

1\ 8 Tage. J. 5 Jahre.

2. Aufnahme. Juli. P. 8 Tage. . .

J. 4 Wochen. ( le,chte Form> August. P. 8 Tage.

J. 4'/i Wochen.

jetzt depressiver Zustand mit Uebergang in Reconvalescenz.

Nach 3 Jahren:

3. Aufnahme. Juni. P. 4 Tage. Ii-,, r,

J. 4>, Wochen.} Ie,ch,e Form' P. 17 Tage (schwere Form).

Nach 3 Monaten Pause:

4. Aufnahme. Octbr. P. 4 Tage.

J. 5 Wochen. P. 8 Tage, seit 14 Jahren frei.

3. K— r. 1. Aufnahme. Novbr. (Ursache: verunglückte Speculation.)

P. 14 Tage (schwere Form).

1 Jahr später:

2. Aufnahme. Novbr. P. 16 Tage. | .

I 7 iw l 8chwere Form m,t P. 16 Tage'. | Frössen« - Ideen.

leichte Form,

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Zeitliche Gnippirung der Paroxysmen.

313

3. K— r. 10 Jahre spater:

3. Aufnahme. März. (Ursache: Gemüthsbewegungen.)

P. 6 Wochen.

Im Intervall nach Hause, hier rascher Umschlag in Manie. Mai. In der Anstalt bald wieder ruhig.

Juli 31. August. P. 6 Wochen (schwere Form, gleich wie die seitherige).

Im September l Woche scharf alternirender Typus; bald über den andern Tag, bald zwischen Morgen und Nach- mittag, bald zwischen Tag und Nacht.

Octbr. u. 1 P. 6* Wochen. (Mania gravis, brüsker Um-

Novmbr. J J. 4 Wochen. schlag.)

Decmbr. P. 3 Wochen.

J. 4 Wochen.

Im Januar und Februar je 3 Wochen heftigsten Heim- drängens; (manisches Äquivalent); nachher Ruhe und Intervall.

Nach ti Monaten:

4. Aufnahme. Novbr. (Ursache: Process.) P. 4 Wochen.

Nach l'/i Jahren:

5. Aufnahme. Febr. (Keine Ursache.) Nun folgen sich die

Paroxysmen und Intervalle:

8. 4. || 4. 6. || 4. 3. || 3. 4. J 0. jetzt apathisches Intervall mit Entlassung.

6. Aufnahme. Febr. (Keine Ursache.)

3% 6. f| 4. 1. 8 3% 3'/->. || 4. 4. 3% 1. || 2. 2. || 2. 2. ||

subcut. Morph.-lnject.;

die folgenden Paroxysmen werden durch erhöhte metho- dische Morphiumgaben coupirt. Im indolenten apathischen Stadium entlassen.

Nach mehreren Jahren:

7. Aufnahme. April. 4 wöch entliche Paroxysmen resp.

Intervalle (ohne Morphium).

Nach kurzer Entlassung:

S.Aufnahme. Juli. Einige Zeit hält sich noch der Typus, dann verwischt er sich unter Chloral- und später Hyoscyaminbehandlung, und wird ganz unregelmässig. Besteht als solcher noch fort.

Es kommen hier ausserordentlich zahlreiche und eigenartige Verlaufs- varietäten vor. So kenne ich einen Fall (nicht hereditär), bei welchem jahrelange Satyriasis der im 30. Lebensjahre beginnenden Erkrankung vorausging. Jetzt initiale Melancholie, erst mit Aspermatismus und zu- nehmender Aphrodisie; dann manischer Paroxy^raus mit Trinkexcessen,

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314 Die circularen Psychosen.

brutaler Gewalttätigkeit, paradoxen Behauptungen, grosser Reizbarkeit und Unzufriedenheit. Diese Aufregungszustände wiederholten sich jahre- lang erst unregelmässig, nachher in regelmässigen, jeweils 8 10 Tage dauernden und allmonatlich sich einstellenden Perioden. Darauf nach im Ganzen 16 jähriger Krankheitsdauer Stillstand und relatives Wohl- befinden mit nur noch jeden Monat eintretenden 2 3 tägigen melan- cholischen Anfällen; auch diese verloren sich nach und nach, und der Kranke blieb von da an anfallsfrei.

Ad circttläro Formen.

Manisch-melancholische Gruppe.

1. H n. Das in diesem Fall besonders hervorragende melan- cholische Stadium dauert:

1866 vom 11. März 1. Juni

1867 = 19. Juli 16. Octbr. 1S68 = 10. April 8. Juli

1869 = 30. August 26. Novbr.

1870 = 10. August 14. Novbr.

1871 = 15. Mai 5. August

1872 = 14. Febr. 25. April

1873 = 12. August 1. Decbr. 1S74 = 8. August 2. Decbr.

1875 = 7. Septbr. l. Decbr.

1876 = 18. Mai 15. Juli 1S77 = 11. Febr. S. Mai

1878 = 22. Septbr. 25. Jan. 1879

1879 - 16. Juni Ende Novbr.,

dann Pause; 1SS3 = 16. Juni 9. Septbr. 1884 = 31. Juli Ende Novbr.

2. G— ck. Prävalirende m a n i s c h e Paroxysmen, oft bis zur Mania gravis; dieselben dauerten:

1579 vom 1. Septbr. 11. Novbr.

1580 : 3. April 29. Mai ß j : 25. April 15. Mai

lbbl\ = 29. Octbr. 26. Novbr.

1S82 = 12. Octbr. 31. Decbr.

ic J » 22. Januar 12. April

23. Septbr. 19. Novbr.

3. L r. Dieselbe manisc u - prävalirende Form:

1879 vom 3. Octbr. 7. Febr. 1880

1SS1 * 27. Januar 13. April

18S2 = 9. März 14. Juni

9. Januar 3. März

1 1. Octbr. 21. Novbr.

1SS3

{:

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Zeitliche Gruppirung der Paroxysmen (Einzelphasen).

315

circu- läreAn-^ fälle

4. L— k. Erst circuläre, dann periodisch-manische Erkrankung.

1. Aufnahme mit 16 Jahren. (Ursache: ausser erblicher An- lage sehr starke Onanie.) Beginnt im Februar 1852 mit

melanchol. P. 2!/2 Wochen; dann

J. 2 Wochen ; dann manischer M. 2 Wochen ; jetzt Intervall 2 Monate; dann

2. 2. 2. (jeweils Wochen). Jetzt 1 V2 Jahre Pause ohne vollständige geistige Gesund- heit. Onanie hatte in gleicher Weise fortgedauert.

2. Aufnahme. Januar 1854 beginnt mit 2 Wochen. 16 Tage. 4 W. 18 T. 8 T. einige Tage.

8 T. Jetzt Melancholie, in welcher Entlassung.

3. Aufnahme. November 1856 mehrmonatliche sehr schwere (degenerative) Manie;

dann Intervall: abwechselnd zwischen manischen und melancholischen Phasen. Dipsomanie.

4. Aufnahme. Mai 1865 mehrmonatliche schwere Manie (bis September);

dann lucides Intervall.

Von jetzt an nur periodisch-manische Anfälle, jeweils durch starke Trinkexcease eingeleitet; die stärksten derselben entfallen alljähr- lich auf die Monate

April Mai Juni. Zerfall in Blödsinn.

Circulär-stupuröse Gruppe.

5. St— r. P. 19 Tage. Atton. Stupor mehrere T«se. J. 4 Wochen.

circu- P. 77 Tage. Atton. Stupor mehrere Tage.

läreAn- J. mehrere Wochen,

fälle P. 3 Tage. Atton. Stupor 12 Tage.

Nachher: P. 4 Tage. J. 4 Wochen.

Von jetzt periodische manische Anfälle ohne Stupor; P. dauert jeweils an 3 Wochen.

6. X g. Circulärer Stupor, welcher Anfangs getheilt ist in die ball negatorische und attonische Form; später aber vorwiegend einen Zu- stand von Stupidität mit Verkennen der Personen und impulsiven Raptus darstellt. Die Dauer der Stuporanfälle ist:

1 879. 14. Juni 5. Juli; 20. Juli 13. August; 19. December S. Februar 1 SSO. Dazwischen ruhige Intervalle mit beschränk- tem kindischem Wesen.

1880. 26. Februar 17. März; 14.April 9. Juli; 12. Juli 28. Juli; 8. August 26. October.

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316

Die circulären (alteruirenden) Psychosen.

immer mit ein-

18S1. 6. Januar 18. März; 10. Mai S. August; 3. October 10. October; 2. November 23. November.

1882. 11. März 4. April; 18. April 15. Mai; 28. Mai 19. Juni; 7. Juli 24. Juli; 8. August 28. August; 12. September 5. October; 28. October 7. November; 21. November 6. December; 26. December 0. Januar 1883.

1S83. 21. Januar 15. Februar; 4. März 5. April; IC. April 24. Juli; 3. August 21. August; ? September 7. No- vember (unsicher); 26. November S.April 18S4.

1884. 15. April 1. Mai; 15. Mai 8. Juni; 21. Juli .

7. H ch. Circulärer Stupor. Schwere erbliche Belastung. Be- ginn mit 30 Jahren. P. Anfangs zusammengesetzt aus a) einer aufge- regten Stuporphase, ß) einem depressiv-stupiden Nachstadium, einem freiem Intervall. Im Verlauf fällt Phase p aus.

Dauer der «-Stuporphasen:

11. 14. 11. (sämmtl. Tage); jetzt 3 Wochen Intervall, 10. 12. ( do. ); jetzt wieder 3 Wochen In- tervall,

MM se 16' jetzt wieder 3 Wochen In-

^" nl tervall,

nur «-Stupor und Intervall: 12. 11. 10. 16. //. 13. 17. 10. 17. 11. ö Wochen. 17. 12. 12. 17. 10. 10. 4. 19. 11. 13. 7. 10. 11. 17. 7. 15. 10. 14. 12. 13. 12. 10. 14. 10. Von jetzt 4 Wochen lang über- den andern Tag alternirender Typus. 14. 4. Jetzt wieder 5 Tage täglich alternirender Typus; sodann eine Phase von je 2 bessern resp. 2 schlimmem Tagen nacheinander. Nun IG ( höchstgradiger Stupor, in welchem künstliche Ernährung nöthig; starke Salivation; Secessus inscii); 14 (recht befriedigende Lucidität); 13. In Privatpflege entlassen.

Die alteruirenden Psychosen.

Unter dieser Bezeichnung werden Psychopathieen zusammen- gefasst, deren wesentlicher Charakter in einem zwischen einzelnen bessern und schlimmem Tagen regelmässig abwechselnden Verlaufe- typus besteht. Man könnte auch sagen: der Verlauf bewegt sich typisch zwischen Exacerbation der Grundkrankheit und einem Inter- vall, beide in Form von kürzester Dauer, gewöhnlich 1 Tag, oder den Bruchtheil eines Tags, eventuell auch 2— 3 Tage. Eine Gruppe der soeben betrachteten cyklischen Stuporformen hat hierfür schon das klinische Beispiel geliefert; aber auch in der manisch-melancho- lischen Gruppe sind Fälle bekannt, welche in 3tägige Paroxysmen sich gliedern, wovon 1 Tag auf die manische Unruhe, 1 auf die melancholische Depression und 1 weiterer auf das Intervall ent- fallen. Dieses Verhältniss kann im Weiterverlauf wiederum sich

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Symptomatologie.

317

ändern, so dass die Einzelphasen jetzt 1 bis 2 Wochen währen, bald mit Einhaltung, bald mit Ueberspringen des Intervalls; es kann aber ebenso gnt der anfängliche Typus mit den kurzen, auf 1 oder höch- stens 2 Tage eingeschränkten Phasen, beide schroff in einander über- gehend, im spätem Decursus der Krankheit wiederkehren.

Der specifisch alternirende Typus d. h. der regelmässige Wechsel zwischen 1 freien und 1 gestörten Tage kommt einer sehr grossen Anzahl von psychischen Krankheitszuständen zu. So tritt der be- zeichnete Verlaufsmodus häufig im hysterischen und epileptischen, namentlich aber im paralytischen Irresein auf, in letzterem jedoch stets nur anfallsweise und vorübergehend, wenn auch oftmals zähe sich wiederholend. In der hysterischen Psychose, speciell in den sog. Dämmerzuständen, ist die Kranke am gestörten Tag unruhig, in blinder Entäusserung wechselnder psychomotorischer Einfälle; am folgenden Tage still, apathisch, träumerisch. Jn den alternirenden Stadien der Paralyse, welche namentlich in der Anfangszeit der Krankheit manchmal vorkommen, schwärmt der Kranke am ersten . Tag von seinem gehobenen Wohlgefühl, von der Vortrefflichkeit seiner Umgebung „fUr deren Ruhm er nicht genug Hände zum Be- schreiben hat", und am nächsten verwünscht er mürrisch, was er Tags zuvor in den Himmel erhoben hatte.

Besonders häufig tritt der alternirende Typus (episodisch) in der hypochondrischen Abart der Paralyse auf: am heitern Tage von be- wundernswerthem Gedächtniss, Uberströmend von Reden mit höchst ge- steigertem Selbstgefühle und in athemloser Bewegung sitzt der Kranke am trüben Tage mit geschlossenen Augen da, will nicht essen, ist widerstrebend, fühlt sich von derselben Hallucination verfolgt, hat keine Zunge, keinen Magen, kurz kein Organ, nach welchem man fragt; ist er selbst nicht mehr, ist längst gestorben u. s. w. Am heitern Tage ist der Puls 100—120 mit etwas erhöhter Hauttemperatur; am trüben SO— 90, sind die Hände kalt und bläulich.

Aber auch in der Reconvalescenz mancher Melancholieen, nament- lich auf seniler Grundlage, kommt vorübergehend ein alternirender Typus vor: 1 Tag ist der Kranke heiter im Vorgefühl der Genesung und nach herrlichem Schlafe; den folgenden Tag verzagt, ob der Zukunft hängend, und oft schlaflos trotz kräftiger Narcotica. Mit dem Herannahen der Genesung klingt der Typus ab, und weicht einem continuirlich fortschreitenden Wohlbefinden.

Dauernd, und zwar oft auf Jahre hinaus, gestaltet sich der beschriebene Verlaufsmodus vorzugsweise in gewissen chronischen Melancholieen. Derselbe bietet hier zweifellos ein Symptom der Tiefe des organischen Hirnleidens; er ist in der Regel unangreifbar für

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Die circulären (alternirenden) Psychosen.

die antitypischen Arzneimittel, höchstens, dass er manchmal vorüber- gehend zurücktritt (merkwürdig oft bei jeder neu angewendeten differenten Arzneicor oder durch Besuche), um bald in alter Stärke wiederzukehren. Die Melancholieen , in welchen ein alternirender Typus (und hier wohl als degeneratives Zeichen) sich ausprägt, sind climacterische oder senile, und zwar, soweit meine Beobachtungen reichen, auf Grundlage von sexuellen Excessen (Onanie) und Uterin- leiden. In einem Fall war die alternirende Melancholie die Vor- läuferin einer spätem hypochondrischen Paralyse. Manchmal zeigt der Beginn der Krankheit den besprochenen Typus noch nicht; es sind gewöhnliche agitirte Melancholieen mit ausgeprägten (organischen) Angstzufällen, und erst allmählich fixirt sich der Wechsel zwischen freien und schlimmen Tagen; Anfangs nur vorübergehend, in der Folge aber wiederkehrend, und endlich mit bleibender Dauer. Der Typus selbst kann ein kalendarisch-regelmässiger sein, so dass sich im Anfang der Woche genau die luciden und die gestörten Tage . ausrechnen lassen ; er kann aber auch in der Folge sich modificiren, manchmal in 2 aufeinanderfolgenden schlimmen und ebenso vielen nachfolgenden guten sich abspielen; dann auch wieder in 1 •/« schlimmen und {h guten; anderemale in regelmässig sehr schlimmen Morgen mit jeweils freien Nachmittagen; oder endlich je l Tag mit früh beginnender langer Depression und 1 darauf folgenden mit später einsetzender und nur kurz dauernder Verstimmung. Bei sehr pro- trahirtem Verlaufe kann der Typus zeitweise verschwinden und wiederkehren; es kann auch ein lucides Intervall ohne jede Spur eines Wechsels (Typus) auf Wochen hinaus sich einfügen, und der verhängnissvolle Turnus nachher Wiederbeginnen.

Beide Phasen, die freie und die kranke, gleichen sich manch- mal bis aufs Kleinste; sowie sie auch manchmal genau zu derselben Tagesstunde beginnen. Andere Male ist nur beim ersten Eintritt des Typus der „gute Tag" ein exaltirt heiterer, und der „böse" ein me- lancholisch verzweifelter; später aber unterscheidet sich der gute vom bösen nur durch ein Minus von Melancholie (welche jetzt über beide Tage sich ausdehnt), um noch später durch einen apathischen neben einem melancholischen ersetzt zu werden. Starke psychische Ablenkungen können nicht selten den Eintritt des Paroxysraus um eine oder mehrere Stunden verschieben. Aber auch ohne solche kann der unruhige Tag einmal später gegen Morgen, ein anderes Mal schon um Mitternacht beginnen. Regel scheint übrigens zu sein, dass der schlimme Tag zeitlich viel früher einsetzt (oft um mehrere Stunden) als der gute. Auch Arzneimittel (Chloral, Hyoscyamin)

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Körperliche Begleitsymptome der cyklischen Psychosen.

319

vermögen den Typus zu beeinflussen, aber stets nur vorübergehend, und stets mit gesteigerter Nachfolge des zurückgedrängten Anfalls- tages. Dio Kranken selbst bewahren ein höchst genaues Gedächt- niss an den schlimmen Tag ; sie beben vor demselben in Erwartung, und bitten nicht selten flehentlich um Schutz und Hilfe. Der paro- xysmale Tag besteht in der typischen Wiederkehr desselben Angst- actes, welchen manchmal somatisch die Symptome einer höchstge- steigerten Vagus-Neurose begleiten: frequenter kleiner Puls, höchst- gradiger Lufthunger, Glottisparese mit heisern Schreien; dazu kommen triebartige Reflexacte bald in Form von Sich -Schlagen, Haar- Aus- raufen, Teut. Suicidii, oder in Gewaltthätigkeiten gegen Andere, in Schimpfworten und selbst Blasphemieen sämmtlich Befreiungs- dränge aus der ungeheuren innern Beklemmung. In andern Fällen verläuft der schlimme Tag farbloser, und besteht nur in monotonem Jammern, Selbstvorwürfen und nicht selten automatischen Geberden (in-die-Hände-Klatschen, sich-Schlagen, Grimassiren, Hin- und Her- rennen u. s. w.). Am ruhigen Tage sind die Kranken gedrückt, ver- zagt, kleinmüthig, aber ruhig. Manchmal kann die Stimmung aber auch in eine heitere Exaltation umschlagen.

In einem unserer Fälle war langjährige und auch in der Krankheit fortgesetzte Onanie die anamnestisch und auch von der Kranken selbst zugegebene Ursache der alternirenden Melancholie gewesen; bei der Section fand sieb cystöse Degeneration beider Ovarien (neben Pacchy- meningitis externa, Craniosklerose und massiger Hirnatrophio bei einer "5jährigen Frau).

Körperliche Begleitsymptome.

Als solche kommen sensible, vasomotorische und ganz besonders tro- phische Störuugen in Betracht. Die sensibeln betreffen die melancholische Phase, und bestehen in den verschiedensten Sensibilitätsanomalieen : Kopf- druck, perverse Kopfgefühle (namentlich eine peinliche Oede und Leer- heit des Schädelinnern), sodann Neuralgieen und Parästhesieen aller Art, theils allgemein, theils mehr umschrieben. Nicht selten bezeichnen ty- pisch wiederkehrende Neuralgieen (der Intercostalnerven oder der Zähne) den drohenden Wiedereintritt des depressiven Paroxysmus. Oft bildet dann der ausgedehnteste und in den grellsten Farben gefühlte neurasthe- nische Symptomencomplex, gewöhnlich hypochondrisch umdeutet, die Ein- leitung oder auch den Inhalt der nachfolgenden Melancholie. Nicht selten erwachen damit auch sexuelle Irritationen und reizen gebieterisch zur Selbstbefriedigung bei sittenstrengen Naturen ein steter Selbstvor- wurf und der Kern ihrer subjectiven Selbsterniedrigung. Eine grosse Kolle spielen bei manchen Kranken die lästigen HautgefÜhle, namentlich Staubempfindungen, wodurch sie zu tagelangem Waschen und Abkratzen der Wände, Aufscheuern des Fussbodens gedrängt werden. Die vasomo- torischen und circulatorischen Symptome halten keinen gesetzmässigen

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320

Die circularen Psychosen.

d. h. für die einzelnen Phasen charakteristischen Gang ein; im Allge- meinen ist die manische Phase durch lebhaftere Gefässthätigkeit und raschere Herzaction, durch gerötheten Kopf, manchmal auch durch ver- änderte Innervation der Mimik, durch sonderbare Parästhesieen (als ob Pulverkörner im Kopfe zersprängen, als ob Brust und Bauch leer und nur mit der Haut überspannt wären) ausgezeichnet; die melancholische dagegen durch einen trägen und seltenen Puls und grössere Geneigtheit zu Kühle der Extremitäten. Doch kommen auch in Erregungsstadien sehr oft intercurrente vasomotorische Krampfzustände, Neigung zu Ohn- mächten mit Frösteln und kaltem Schweisse vor, besonders nach Gemtiths- bewegungen (erregbare vasomotorische Schwäche). Die schwereren Ma- nieformen verlaufen regelmässig mit beschleunigter Gefässthätigkeit und Congestionen zum Kopfe. In den attonischen Phasen der circulären Stu- porformen entwickelt sich der vasoparalytische Charakter oft bis zur Oedembildung an den Extremitäten mit monoerotem Pulse; doch inter- curriren auch hier Fluxionen zum Kopfe. Höchst interessant sind die trophischen Störungen. Diese haben theils localen, theils allgemeinen Charakter, und betreffen in letzterem Falle die gesammte Körperernäh- rung. Local treten sie in gewissen, die Erregungsphasen begleitenden Hautausschlägen (namentlich Prurigo) zu Tage, vereinzelt auch in der Beeinflussung des Haarwachsthums und selbst der Haarfärbung: man hat Grauwerden der Kopfhaare in der Melancholie mit Rückbildung zum brü- netten Habitus und dichterem Haarwuchs in der Manie (u. zwar in re- gelmässig wechselnder Aufeinanderfolge) beobachtet. Manchmal cessiren gewohnte Effluvien, z. B. Eiterungen mit dem Beginn der Melancholie, und fliessen wieder mit Eintritt der psychischen Erregungsphase.

Wichtiger noch sind die Aenderungen des Aussehens und des Kör- pergewichts. Die Kranken erscheinen im manischen Stadium , jünger", die Wangen zeigen auffallende Frische, Gang und Haltung gewinnen eine mit den Altersjahren contrastirende Elasticität. Der ganze Mensch ist im vegetativen Turgor oft um Decennien hinaufgerückt. Ebenso gehen auch alle Functionen prompt von Statten, namentlich ist der Schlaf oft von grösster Regelraässigkeit; Appetit und Verdauung sind vortrefflich. Dem entsprechend steigt auch die Cnrve des Körpergewichts: innerhalb einer oder mehreren Wochen kann der Kranke um 10 oder 20 und noch mehr Pfunde zunehmen. In der melancholisch en Phase findet das gegenthcilige Verhältniss statt: es vollzieht sich eine Gewichtsabnahme und zwar oft nicht weniger rapide, als die Zunahme in der manischen Periode; steile Curvenabfälle, oft um 10 Pfund in einer Woche, sind wiederum nicht selten. Der Appetit ist jetzt vermindert, oder wird, wenn vorhanden, aus Gründen der psychischen Depression nicht befriedigt. Der Schlaf ist unregelmässig, unbefriedigend; oft ist es ein dämmerndes Wach- bleiben, in welchem der Kranke sich peinvoll zwischen Sich-selbst- Ver- gessen und aufgezwungener halber Lucidität hindurchkämpft. Viele Kranke, welche in der Manie polyphag waren , leiden jetzt an Polydipsie. Das kurz zuvor noch blühende Gesicht wird blass oder missfarbig, welk und alt. Mit der neuen Paroxysmusreihe wiederholt sich das beschriebene trophische Spiel, uud so fort durch Jahre, bis endlich das protrahirte In* tervall mit dem stationären oder sachte zunehmenden Schwächezustaud

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Körperliche Begleitsymptome. Körpergewicht.

321

eintritt, woran sich das vegetative Leben gewöhnlich mit Zunahme der Obesitas, oft bis zu wahren Fettmonstren betheiligt.

Man hat aus diesem Befunde, welcher namentlich die in längeren Phasen (und in der milderen Form) sich abspielenden d. h. die eigent- lich klassischen Fälle der circulären Manie auszeichnet, auf eine „Tro- phoneurose" geschlossen, welche den psychischen Hirnzustand begleite, und höchst wahrscheinlich einen nicht - vasomotorischen Ursprung habe, insofern die Circulationsverhttltnisse in den beiden Phasen nicht dieselben Gegensätze zeigen. Diese Annahme ist sehr wahrscheinlich, wenn auch die exacte Begründung erst noch zu liefern ist, und zwar dorch sorgfältige Stoffwechseluntersucbungen d. h. die vergleichende Be- rechnung aus Ein- und Ausfuhr. Aber auch so bleibt es unbestreitbar, dass die Zunahme des Körpergewichts nicht nur in einfachem Verhältniss mit der eingenommenen Nahrungsmenge und der täglichen Ausgabe (psy- chische und motorische Aufregungen!) steht; zweifellos müssen noch neu- rotische Verhältnisse ausserdem mitwirken. Aber wie weit? ist erst zu prüfen. Das eben erwähnte Verhalten ist übrigens kein ausnahmsloses. So gibt es nicht wenige circuläre Fälle, welche gegentheils in der Manie eine Gewichtsabnahme zeigen, und umgekehrt in der Abspannungsperiode eine Gewichtszunahme. Vielleicht mag hier die Ursache in der ungenü- genden Nahrung wälirend der manischen Erregtheit und Vielgeschäftigkeit gelegen sein, und andererseits das erspriessliche Gedeihen in der mit der nötigen Ruhe genossenen Kost in der Phlcgmazeit. Aber die Gewichts- curven, auch diejenigen, welche in das obige Schema passen, sind nicht so einfach. Genauer analysirt, findet sich in der Exaltation der Curven- gipfel nicht schlechthin nur stetig ansteigend, sondern aufs Mannigfachste zerklüftet, in Hebungen und Senkungen eingetheilt. Ferner correspon- dirt durchaus nicht immer das Maximum der Erregung mit den höchsten, und die Acme der Depressionen mit den tiefsten Punkten des (Gewichts-) Cnrvenverlauf8. Vieles hängt ohne Zweifel an dem individuellen Tem- perament: emotive, in beständigen Affectstürmen explodirende Naturen werden sich schwieriger gegenüber der trophisch fördernden Neurose im manischen Paroxysmus verhalten, als temperamentsruhige und dabei in ir- gend einem Grössenwahn heiter schwelgende, keinen Widerspruch em- pfindende Oykliker. Manchmal bricht die Ernährungscurve auch schon jähe ab, während die Exaltation noch eine Zeit lang fortdauert: es sind die vorausgeworfenen „Reflexe und Schatten" analog den melancholischen Anwandlungen, welche oft auch schon auf Stunden hinaus sich in die manische Heiterkeit einschieben (s. o.).

Die knrzen schweren Manieformen verlaufen sämratlich unter Abnahme des Körpergewichts, hierin Ubereinstimmend mit den analogen periodischen Paroxysmen. In den circulären Stuporformen mit kurzen Anfällen und kurzen Intervallen richtet sich die Körpergewichtscurve an- scheinend gar nicht nach dem Cyklus der psychischen Symptome; nur wenn der Stupor, und zwar in seiner attonischen (vasoparetischen) Modi- fication, länger dauert, sinkt auch die Curve und verharrt pari passu auf ihrem Depressionsniveau (verminderte Nahrungsaufnahme?)

Schale, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 21

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322 Die menstrualen (periodischen) Psychosen.

Anhang-. Die menstrualen Psychosen. Es gibt eine Reihe periodischer Psychosen, welche sich an die Menstruationstermine an- schliessen, bald an den Eintritt der Menses selbst, bald an die prä- menstrnale resp. postmenstrnale Zeit. Die auf das Prämenstrium entfallenden sind wahrscheinlich die zahlreichsten. Nach den kli- nischen Formen vertheilt, sind es in der ersten Reihe psychische Aufregungszustände, und zwar Manieen mit dem Charakter des Furors (8. Sexual-Manieen) ; nach dieser Form kommen einfache Exaltations- zustände, mehr mit dem Charakter der Mania mitis, und ausgezeichnet besonders durch grosse Reizbarkeit und schnippisches disputirsüch- tiges Wesen, mit Neigung zu Gewalttätigkeit. In zweiter Linie sind acute dämonomane Wahnsinnszustände zu nennen, mit schreck- haften Hallucinationen, depressiver Stimmung, Raptus zur Selbstbe- schädigung, zwischenläufigen stupurösen Phasen, zeitweiligen Däm- merzuständen. Die Übrigen nun noch zu nennenden psychopathiscben Zustandsformen stehen in der Zahl erheblich hinter den vorgenannten zurück; es sind: 1. acuter exaltirter Wahnsinn; 2. acuter Verfolgungs- wahn mit Hallucinationen und Zwangsgedanken; 3. acute Anfälle von Melancholie mit heftigen neuralgischen Symptomen, Lebensüber- druss, manchmal mit homiciden Impulsen; 4. kataleptische Anfälle mit Stupor; 5. hysterische und epileptische Zufälle; 6. Dipsomania men8trualis periodica (Krafft-Ebing), und 7. Rleptomania men- strualis periodica (Ellen Powers).

Wie der Beginn (im Verhältniss zur Menstruationsphasej ein wechselnder, so ist es auch die Dauer dieser Paroxysmen. Manch- mal beginnen sie brtlsk einige Tage vor den Menses, resp. mit oder nach denselben; andere Male werden sie erst durch nervöse Sym- ptome, Schlaflosigkeit, Kopfcongestionen eingeleitet Ebenso ver- schieden ist der Ausgang. Bald hören sie scharf abgeschnitten, nach einigen Tagen, auf; bald ziehen sie sich an S— 14 Tage hinaus. Dabei kann in demselben Krankheitsverlauf eine anfänglich post- menstruale Psychose zu einer menstrualen oder prämenstrualen sich umgestalten; es kann ferner der Paroxysmus mit jeder Periode sich einstellen, oder aber eine und die andere Uberspringen, oder end- lich nur alle paar Monate einsetzen. Das Intervall ist theils psy- chisch frei, theils durch ausgesprochene nervöse Symptome oder leicht melancholische Verstimmung gedrückt. In letzterem Falle kann ein circuläres Krankheitsbild entstehen.

Darunter ist ganz besonders interessant jene Modification , wo das Intervall in zwei scharf geschnittene Hälften getheilt ist, von denen die eine tief melancholisch, die andere furorartig- manisch sich gestaltet; die

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Klinische Symptomatologie. Einfluss der Menstruation im Allgemeinen. 323

genannten beiden Phasen können dabei mit einer bis auf die resp. Ein- trittstunde (Tag, Nacht) regelmässigen Periodicität einsetzen.

Der Weiterverlauf und das Endscbicksal dieser menstrualen Psychosen zeigt in gleicher Weise die vielfachsten Unterschiede. Wohl in der grössten Zahl der Fälle ist der Ausgang ein günstiger, wodurch sich diese Gruppe wesentlich von den gewöhnlichen Typosen unterscheidet. Die Anfälle kommen immer milder und dauern kürzer; endlich bleiben sie ganz weg; und zwar verlaufen die einfach pe- riodischen wie die circulären mit melancholischem Intervall meist in derselben Weise günstig. Die circulären mit melancholisch -ma- nischem Intervall schlagen nicht selten erst einen Umweg ein durch einen quotidianen oder alternirenden , endlich ganz unregelmässigen Typus; dann kommt eine anhaltende Ruhe-Phase, anfänglich noch mit Apathie, welche nach und nach in die Reconvalescenz Ubergeht. Es kann aber auch eine anfänglich periodische Menstrualtypose in ein chronisches protrahirtes Irresein Ubergehen, oder endlich in ein definitives periodisches resp. circuläres der schweren Form.

Die körperlichen Begleitsymptome sind unbeständig, wie es scheint auch bei den prämenstrualen und postmenstrualen Psychosen verschieden. Dort Uberwiegen die activen Fluxionszustände zum Kopfe, gewöhnlich mit gesteigerter Pulsfrequenz und nicht selten mit leichten Temperatur- steigerungen; Neuralgieen, Spinalirritation sind sehr häufig; anderemale wird auch Hyperidrosis beobachtet. Hier dagegen stehen anämische Zustände mit kleinem, oft auch frequentem Pulse, ungleiche vasomotori- sche Blutvertheilungen (Rash's) im Vordergrunde, wozu häufig wiederum neuralgische Beschwerden treten.

Bemerkenswerth ist das Verhalten der Erinnerung, welche in der Regel nur eine ungenaue, summarische ist. Doch findet sich hin und wieder auch eino klare Rückschau. In Fällen auf ausgesprochener neur- asthenischer Grundlage beobachtet man auch die kritische Lösung des Anfalls durch einen tiefen Schlaf mit nachfolgender totaler Amnesie (s. transitor. neurasth. Psychosen).

Nachsatz. Zahlreicher als diese „periodischen" Menstrual- Psychosen sind die periodisch im Gefolge der Menses auftreten- den Verschlimmerungen bereits bestehender Seelenstö- rungen.

In der Regel stellen sich sowohl bei Melancholieen als bei Manieen transitorische Exacerbationen des Krankheitszustandes ein, und zwar wieder prä- resp. postmenstrual, oder während des Monatsfiusses selbst. Manchmal sind es besonders die „letzten Tropfen", welche einen beson- ders peinigenden, von den Kranken selbst gefühlten und reactiv weiter verwertheten Reiz ausüben. Namentlich steht auch der Verfolgungswahn unter diesem verschlimmernden Einfluss der Menstruation, besonders bei complicirenden Uterinleiden und mitbegleitender Hyperästhesie des n. pu-

21*

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Ü24

Die menstrualen (periodischen) Psychosen.

dendus. Unter gesteigerten perversen Empfindungen in den Genitalien nehmen hier die Wahnvorstellungen den Inhalt sexualer Verfolgungen an, und veranlassen reactive Zornmanieen mit stürmischen Raptus von Zer- störungswut oder Gewalttätigkeit. Auch die hysterischen Psychosen zeigen regelmässig menstruale Verschlimmerungen, nicht selten unter Kopftiuxionen mit Pulsfrequenz und psychischer Gesammterregung 7 oder als Dämmerzustände mit automatischen Bewegungen, imperativen Raptus zur Selbstbeschädigung. Remittirende Manieen und acute Wahnsinnsformen wählen sich mit Vorliebe die Epochen zum Wiederausbruch aus. Die gewöhnlichen periodischen und circulären Seelenstörungen empfinden gleich- falls sehr häufig den menstrualen Einfluss. So fällt (bei kurzen melan- cholisch-manischen Anfällem nicht selten der Beginn der Aufregungsphase in die zweite Hälfte des Intervalls, so zwar, dass die Höhe des mani- schen Paroxysmus mit dem Beginn der Menstruation zusammentrifft. Doch ist dies nicht durchgängig, ja selbst in demselben Krankheitsfälle nicht bleibende Regel; es kann vielmehr der geschilderte anfängliche Typns sich in der Folge verschieben und die Depressionsphase mit der Men- struation coincidiren. Interessant ist dabei die mir von G. Burckhardt mitgetheilte Beobachtung, dass bei Goincidenz der Menstruationszeit mit der manischen Phase die Menses hellroth fliessen, beim Zusammentreffen mit der Depressionszeit aber entschieden viel dunkler. Des Verhält- nisses der Menstruation zu den Psychosen im Allgemeinen sei hier nur andeutend gedacht. Die genauere Erwägung dieses Einflusses ge- hört in die Aetiologie. Klinisch lässt sich nur sagen, dass die verschie- densten Variationen hierin vorkommen. Oft bricht die Psychose mit dem Eintritt der Menses aus (so manchmal mit den ersten) ; anderemale schliesst sie sich an eine Suppressio an, wobei nicht selten noch Zwischenglieder (Gemüthsbewegungen) sich einschieben. Nicht selten kommt die Recon- valescenz mit dem Wiedereintritt cessirter Menses mit Einem Schlage; anderemale etappenweise fortschreitend mit jeder neuen Menstruation; oft bringt eine Epoche einen wesentlich besseren und die nächstfolgende wie- der einen schlimmeren Zustand. Es können aber gegentheils die Menses nach langer Gessation wieder eintreten, ohne die geringste psychische Rückwirkung; so wie sie auch nicht selten ohne jeden Einfluss während einer Psychose ungestört andauern. Nosologisch liegen die Verhält- nisse zweifellos sehr complicirt und individuell verschieden. Ein Theil der Fälle dürfte unter die Reflexpsychosen gehören, ausgehend vom Ova- rialreiz; ein zweiter hängt aber entschieden mit den vasomotorischen Fluxionen im Gefolge des Menstruationsvorganges zusammen; ein dritter (so namentlich viele prämenstruale) dürfte sich nach dem Typus der „Wellenbewegung" im weiblichen Körper (II e gar, Reinl) einrichten; ein vierter endlich, wohin ein grosser Theil der postmenstrualen Psychosen (und zwar der nicht-fluxionären) gehört, ist entschieden auf die direct anämisirende Wirkung des Blutverlustes zurückzuführen.

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Das Delirium acutum. 325

Das Delirium acutum.

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Das Delirium acutum ist z. Z. noch eiu Sammelname für eine Reihe von klinischen Symptomencomplexen, welche Ubereinstimmen in der Tiefe und prognostischen Gefährlichkeit der zu Grunde lie- genden Hirnaffection, in der (meist) plötzlichen Entstehung und dem acuten Verlauf. Dieselben können theils für sieb, theils im Gefolge schon bestehender Psychosen auftreten. Die zugehörigen Krankheits- bilder trennen sich im Speciellen in 2 Haupttypen: 1. in den einer intensiven Hirnreizung mit congestiver Grundlage; und 2. in den einer acuten Hirnerschöpfung «auf anämischer Basis. Beide Typen besitzen als wesentliche klinische Charaktere: tiefe Bewusstseins- störung in Form stupuröser Zustände, abwechselnd mit träumerischen und selbst halbluciden; schwere, direct cerebrale (nicht psychisch vermittelte) Schädigungen der Motilität; vasomotorische und tro- phische Störungen. Die „Hirnreiz"-Gruppe 1. zerlegt sich wiederum in zwei Untergruppen: die erste a) repräsentirt das klinische Bild eines reinen activen Hirnreizes von acutester Entstehung, manisch - convulsivem Charakter, hoch febrilem und dabei charakteristisch remittirendem Verlauf; die zweite b) stellt ein aus Hirn-Torpor mit Reizsymptomen gemischtes Bild dar (mit Ueberwiegen des erstem), von minder acuter und stürmischer Entstehung, melancholisch -stu- pidem Charakter, mässig febrilem oder fieberlosem Verlauf. Noso- logisch reiht sich die Untergruppe a) der activen acuten Meningeal- (Hirn-) Hyperämie; die Untergruppe bj der activ- passiven Hirncon- gestion mit Uebergang in Hirndruck ein.

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Das Delirium acutum.

Dieser „Hirnreiz"-Gruppe gegenüber repräsentirt die Gruppe 2. den klinischen Typus acuter anämischer Hirnerschöpfung: tiefe Be- wusstseinsstörung aus Inanition mit fragmentar delirantem Charakter (ohne bestimmten Inhalt), motorischer Adynamie, Oblongata- Lähmung, afebrilem Verlauf.

1. Die irritativen Formen, die „H irnreiz"-Gruppe. a) Das Delirium acutum maniacale. Der hierunter begriffene Symptomen- Complex entsteht acut oder peracut auf Grundlage einer Constitutionen invaliden (neuropathischen) Gehirn-Constitution, oder eines durch schwächende körperliche Processe erschöpften Gehini- lebens ; oder endlich intercurrent auf dem Boden einer bereits be- stehenden psychischen Cerebral-Affection. Die Signatur des Krank- heitszustandes ist die einer intensivsten Gehirnreizung. Das Sympto- menbild zeigt psychisch: tiefe Bewusstseinsstörung resp. aufgehobene« Bewusstsein mit incohärenter Ideenflucht; heftige motorische Jacta- tion, untermischt mit (convulsiven) Bewegungen; remittirendes, mehr oder minder hochgradiges Fieber, mit activen Congestivzuständen zum Kopfe ; in der Regel rascher letaler Ausgang (acute Hirnerschöpfung), sehr viel seltener in chronische cerebrale Functionsschwäche (Blöd- sinn). Der Verlauf ist peracut, innerhalb weniger Tage, höchstens einer Woche.

Symptomenbild, a) In den idiopathischen Fällen beginnt die Krankheit entweder plötzlich ohne auffällige Vorboten, oder sie scbliesst sich an ein kurzes Prodromalstadium an, mit allgemeinem Uebelbefinden , gesteigerter Reizbarkeit, unmotivirt abwechselnder Stimmung und vagen nervösen Allgemeinsymptomen, Schlaflosig- keit, intensivem Kopfschmerz.

In der Regel sind heftige Gehirnstrapatzen vorhergegangen: ent- weder mclir körperlicher Art, durch Insolation, Potus; oder geistig als Ueberarbeitung (Examenstudien) mit Nachtwachen, oder als erschütternde gemüthliche ArTecte, unter Umständen auch als heftige 8chmerzen (Pana- ritiura) in der Reconvalescenz aus einer andern Psychose.

Nach wenigen Tagen zunehmender Unruhe und Verwirrung, untermischt mit anfänglich noch luciden Zwischenpausen, eilt die Krankheitsentwicklung rasch zur vollen Höhe. Das Krankheitsbild, nach dem ruhelosen Gebahren der Kranken und ihrem pauselosen, sehr bald incohärenten Sprechen beurtheilt, macht auf den ersten Anblick den Eindruck der acuten Mania gravis höhern Grades, na- mentlich auch bezüglich der leisem oder stärkern Betäubtheit, welche über der ganzen Erscheinung des Kranken liegt. Anfangs werden die Perceptionen noch aus der Umgebung geholt; es erfolgen auch

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Manische Fora. Klinische Symptomatologie. 327

einige kurze passende Antworten; aber alle Wahrnehmungen spinnen sich sofort ins Traumhafte hinein und spielen sich delirant weiter (s. u.). Anfangs tritt auch noch ein rascher, echt manischer Stim- mungswechsel entgegen: der Kranke scherzt, lacht, droht, greift an; aber sehr bald schon kommt gar keine ausgeprägte wache Stimmung, nicht einmal auf Minuten mehr, zu Stande, sondern nur mehr träu- merische, kaum percipirte und flüchtige Regungen, welche auf Stunden hinaus oft einer stupiden Indifferenz, neben und unter dem Bewegungssturm , Raum geben. Körperlicherseits ist der Puls be- schleunigt, die Temperatur gesteigert, manchmal nur über 38°; in peracuten Fällen aber auch , und sehr bald schon , Uber 39 °, ja bis 41 °. Der Kranke dämmert bereits in schwankendem Gange und mit zunehmender Rastlosigkeit umher, ziel- und planlos, wirft Bettstücke weg, entblösst sich, wischt die Wände ab, stösst jede Annäherung zurück, schlägt das Essen weg. Er gibt jetzt keine oder höchstens nur ganz betäubte Antworten. Das verworrene Delirium hat ent- weder einen drohend gereizten, oder ängstlichen Inhalt. Der Kranke faselt von Feinden und Vernichtung, von Himmel und Teufel, von Schuften und Verfolgern; dazwischen auch von Gnade und himm- lischem Königreich; dann wieder von Sünde und Weltuntergang. Dabei kann ein Wort, eine Silbe, durch alle möglichen und unmög- lichen Assonanzen hindurch gehetzt werden, oft in verschiedenen Sprachen, um zuletzt in sinnlosen alliterirenden und assonirenden Resten sich zu verlieren:

Julieltna Guitarra et moi et toi Grille nous sommes chez vous etsch en droit moi monsieur Müllerchen Drillerchen Allmächtiger Vater für die Gigolagaga gaga ja ja brillant gagerlaga moi, toi oui, oni, non, non griffige, pfiffige u. 8. w.

Oder der Kranke äussert ein verwirrtes Chaos von Wörtern und Ausrufen auf Gesichts- und Gehörs- Hallucinationen, von fragmentaren Sätzen, ohne die Umgebung weiter als höchstens in träumerischen Minutenblitzen und kaleidoskopischen Illusionen wahrzunehmen. Immer mehr nimmt jetzt die Unruhe zu; der Kranke ist fast nicht mehr im Bette zu halten; er vociferirt unaufhörlich trotz des aus- getrockneten Gaumens; dazwischen mengen sich Zisch- und Schnalz- laute; endlich werden nur noch unarticulirte Töne oder Geräusche nicht gesprochen mehr, sondern vorgestossen. Sucht man ihn festzuhalten, so entdeckt man eine bedeutende Hauthyperästhesie mit gesteigerter Reflexerregbarkeit, so zwar, dass unter der Hand sich die Muskeln des erfassten Armes contrahiren, die Extremität steif

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Das Delirium acutum.

wird, der Rumpf in vorübergehende tonische Starrheit geräth. Aber auch von selbst, ohne vorausgehenden äussern Hautreiz durch An- fassen, zucken flüchtige Streckkrämpfe durch den Körper und durch die Extremitäten, wie elektrische Stösse. Die Gesichtszüge werden hölzern, gespannt, dazwischen auch wieder schlaff, maskenartig; plötzlich aber in choreatische Grimassirungen verzerrt. Die Bewe- gungen der Arme erhalten einen stossenden, convulsiven Charakter; andere Male spielen die Hände wieder an den Bettstücken, zupfen am Körper herum, greifen unruhig nach den Zähnen, der Zunge u.s.w., oder beschreiben träumerisch symbolische Luftzeichnungen und Luft- schriften. In der Ruhe sind die Arme meist tonisch contrahirt, fest an den Thorax angepresst, die Hände geschlossen, geballt mit ein- gekrallten Fingerspitzen. Nach kürzern oder längern Pausen eines stupiden ruhigen Daliegens bricht plötzlich der Redestrom wieder los in den verworrenen Alliterationen, Assonanzen und Wortfragmenten, während die Stimme immer mehr einen näselnden Ton annimmt. Oft treten jetzt automatische Schüttel- und Stossbewegungen der Arme auf, oder Hin- und Herwerfen des Rumpfes, Gesichtsverzer- rungen, Schnauzkrämpfe Alles in fast pauseloser Aufeinanderfolge, und so stürmisch, dass der in Schweiss gebadete Kranke sich zu erschöpfen droht. Die Nahrungsaufnahme erfolgt bei den zugeknif- fenen Lippen um so schwieriger, als bei Einführung des Löffels so- fort Trismus entsteht, und beim Eingiessen der Flüssigkeit resp. bei Berührung der letztern mit der Mundschleimhaut reflectorisches Aus- spucken folgt ; einmal begonnen, spielen sich die blasenden, jappen- den, saugenden Mundbewegungen auf Stunden hindurch weiter. Durch das rücksichtslose Anschlagen der hin- und hergeschleuderten Extre- mitäten werden diese in der Regel sehr bald über und über mit Contusionen und Suggillationen bedeckt. Der Urin, meist eiweiss- haltig, wird zurückgehalten oder ins Bett gelassen. Der Stuhl ist meist verstopft. Die Zähne werden bald fuliginös ; in der Lidspalte sammelt sich eitriges Conjunctivalsecret. Die Pupillen sind bald verengt, hald mittelweit, oft ungleich, stets in der Reaction träger. Der Patellarreflex bleibt erhalten. Das Fieber verbleibt Uber die ganze Zeit auf hohen Nummern, 39° 40°— 41 °, und zeigt die be- achtungswerthe EigenthUmlichkeit, dass es in ausserordentlich sprin- genden Temperaturen, oft im Umfluss von einigen Stunden und noch kürzer, in Differenzen von einigen Graden herab bis zu 3S resp. 37—38° sich bewegt. Nicht minder schwankt die Helligkeit des Bewusstseins in den überraschendsten Breiten: vom tiefen Sopor bis zu leidlicher (nie vollständiger) Lucidität, und Dies in denselben

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Manische Form. Symptomatologie. Verlauf.

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jähen Uebergängeii. Das Gesicht ist bald glühend heiss, bald blass, die Hände und Vorderarme auf Stunden hinaus oft kirschroth.

So zieht sich unter Exacerbationen und Remissionen der Zustand mehrere Tage (bis 1 resp. 1 yji Wochen) hin. Ab und zu tritt mehr- stündiger Schlaf ein, aber mit häufigem Aufschrecken; auch die Nahrungsaufnahme erfolgt dazwischen befriedigend; der Kranke kennt auf Momente Personen aus der Umgebung: man glaubt in die Reconvalescenz eingetreten zu sein. Aber leider ist in der Uber- wiegenden Mehrzahl der Fälle diese Hoffnung nur eine trügerische. In der Regel ohne markante Zwischenfälle (wie solche in Form apoplektiformer Insulte beobachtet sind) geht der vorübergehende Stupor der ersten Tage in immer anhaltenderen Sopor über. Lang- samer oder schneller beginnt sich eine zunehmende Hirn- resp. Herz- Lähmung vorzubereiten. Trotz des calor mordax am Körper werden Hände und Füsse, auch die Nasenspitze, kühler, Hände und Lippen leicht eyanotisch. Die borkig belegte Zunge zittert, wird beim Vor- strecken höchstens noch bis zwischen die Zähne gebracht, oder bleibt in der Mundhöhle liegen; die Nasenflügel sinken ein. Der Kranke beginnt zu collabiren; der Blick wird matt und gebrochen; der Hautturgor nimmt ab. Oft zeigt sich früh schon Decubitus. Der Puls wird jetzt ungleich, oft aussetzend, ebenso auch die Respi- ration. Die eingeflössten Flüssigkeiten werden im Munde umherge- gurgelt, und dann wieder herauslaufen gelassen: der Schling- apparat fängt an seine Dienste zu versagen. Subsultus tendinum stellt sich ein. Die Lider senken sich halb über die leise hin- und herrollenden oder starr fixirten, prallen Bulbi; oft einseitig stärker. Der Kranke lispelt nur noch Unverständliches vor sich hin, reagirt für gewöhnlich auf keine Frage mehr. Auch jetzt noch können die täuschenden Remissionen sich einschieben, in welchen der Kranke einzelne deutliche Worte spricht, sogar Esswünsche stammelt; aber es sind nur noch letzte Lichtfunken. Ziemlich häufig macht sich sub finem eine Anschwellung der Submaxillardrüse bemerklich, bei deren Palpation der Kranke schmerzlich das Gesicht verzieht Er collabirt immer mehr; das Sehnenhüpfen nimmt zu. Secessus inscii, oft in Form von Diarrhoen, treten auf; bei Frauen zeigt sich manch- mal blutiger Abgang ex vagina. Ueber das Gesicht spielen fortan leise krampfartige Zuckungen. Die Finger greifen träumerisch an den Bettstücken oder den Wänden herum ; ab und zu hebt sich auch automatisch ein Arm oder ein Bein. Die Respiration wird zunehmend frequenter, bis auf 60. So rückt, nicht selten unter Tracheal-Rasseln und abundanten Schweissen, der Exitus letalis heran, gewöhnlich

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Das Delirium acutum.

unter scharfem Anstieg der Temperatur. Vereinzeltemale sind auch finale Convulsionen beobachtet worden. Ausser diesem langsameren Hirntod kann auch ein rascherer „Herz"-Tod (es ist die Erschöpfung des „abgehetzten Wildes") die Scene beschliessen.

Geht die Krankheit nicht in den Tod über (was aber nur bei leichtern Graden zu erhoffen ist, und auch dann noch selten genug), so folgt unter Ermässigung sämmtlicher Hauptsymptome der Rück- gang. Das Fieber nimmt langsam ab, die motorischen Actionen werden wieder zielvoller und psychisch geformter; die verworrene Ideenflucht gewinnt nach und nach wieder einigen innern Zu- sammenhang; die luciden Bewusstseinspbasen dehnen sich aus. Die begonnene Reconvalescenz muss nun noch ein mindestens mehr- wöchentliches Stadium eines acuten Blödsinns durchlaufen, welches nach leichtern Attaken sich wohl wieder zurdckzubilden vermag (ob ganz?); nach vollentwickeltem Delirium acutum aber (nach meinen Beobachtungen) immer zu chronischer Geistesschwäche führt. Dazu ist einzurechnen, dass auch nach begonnener Reconvalescenz ein neuer plötzlicher Anstieg auf die Krankheitshöhe möglich ist, welcher in diesem Rückfalle tödten kann.

b) Das Delirium acutum, welches nicht selten die allgemeine Para- lyse, manchmal schon in den Anfangsstadien, zu jähem Abschlnss bringt, besteht in einer acuten Steigerung der oft noch mässigen Exaltation zu einer incohärenten Ideenflucht (Gemisch von traumartigem Gefasel: Grössen- wann, Schuldideen, Himmelswonne, Todesschrecken, halb lucide Percep- tionen, tiefe Stupidität), triebartiger motorischer Unruhe mit blinder Jac- tation (Anstossen an alle Hindernisse), zunehmendem Muskeltremor in den Extremitäten, starkem fibrillärem Zucken der Gesichtsmuskulatur. Dabei rapider Collaps. Die Augen werden tiefliegend, halbweit; der Blick matt; in der Lidspalte sammelt sich gelblicher Schleim; Zunge und Lippen werden trocken, borkig belegt, rissig. Der Kopf ist heiss, der Puls be- schleunigt, klein; calor mordax bis zu 41°. Rasch treten mussitirende Delirien mit gemischten Hallucinationen und einer erschöpfenden Unruhe hinzu. Flüssigkeiten werden hastig genommen, können aber bald nicht mehr geschluckt werden. Die Stupidität und der allgemeine Zerfall nehmen zu ; Meteorismus und Retentio urinae stellen sich ein, sehr häufig auch zerfliessende Schweisse. Der Tod erfolgt unter den Symptomen einer rasch zunehmenden Hirnlähmung, oder auch von den Lungen aas (lobuläre Pneumonieen).

c) Das Delirium acutum melancholicum (stupurosum). (Theil- weise „delusional Stupor", Newington).

Die Erkrankung entsteht hier nicht so peracut, wie die vorige Form, und ist stets durch ein besser charakterisirtes Vorläuferstadium (depressiven Inhalts oder einer allgemeinen Rathlosigkeit mit Angst)

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Delir. ac. maniac. in d. Paralyse. Melanch.-stupuröse Form. Krankheitsbild. 331

eingeleitet. Der psychische Allgemeincharakter ist der einer mit Hirnreizsymptomen gemischten Stupidität, jedoch so, dass letztere vorwiegt Ebenso vereinigen sich in den motorischen Symptomen Ataxieen und partielle Lähmungen mit zeitweiligen tonischen Krampf- zuständen. Im Speciellen steht dem acut manischen Bilde der vorigen Form hier ein ebenso ausgesprochenes melancholisches gegenüber: depressive Stimmung neben und unter der sensoriellen Betäubtheit, stupide Angstzufälle mit reactiver Unruhe, unter Um- ständen ein fragmentarisch hallucinatorisches Traumleben. Der Con- gestivzustand zum Kopfe, dort ein fluxionärer im höchsten Grade activer, trägt hier die Zeichen der Passivität, der Hirnstase. Die Temperatur, dort sehr erhöht, ist hier normal oder nur wenig Uber* normal. Dagegen treten beide Formen wiederum in den springen- den Temperaturen, ebenso auch psychisch in dem wechselvollen, zwischen luciden und traumartigen Phasen schwankenden Verlaufe zusammen. Das Krankheitsbild, dort der Typus höchster psychisch- motorischer Aufregung, ist hier vorwiegend das einer erregten Stupidität, einer unter gelegentlichen Reizsymptomen sich vollziehen- den Lähmung (Tod durch innere „Hirnstrangulirung", Hirndruck). Die Prognose ist besser als bei der vorigen Form, aber immer noch ernst genug; der Verlauf protrahirter (eine bis mehrere Wochen).

Das melancholische Delirium acutum ist die acute cerebrale Con- sumptions- Krankheit der reifern und höhern Jahre und auf mehr con- stitutioneller Grundlage (Climacterium, Puerperium, Lactation); die mania- cale Form dagegen die der j Ungern Lebensperioden und auf Grundlage von directen heftigen Hirnreizen (geistige Ueberanstrengungen, Insolation, Potus, 8. oben).

Die Einleitung der Krankheit ist in der Regel eine längere, ausnahmsweise aber auch kürzere, selbst nur mehrtägige. Dieselbe stellt das Bild einer tiefen cerebralen Asthenie dar: ängstliche Rath- loBigkeit mit Kopfdruck und Schlaflosigkeit, gesteigerte Empfindlich- keit fUr äussere Eindrücke. Nach anfänglichen vagen, hypochondri- schen Klagen, wobei aber sofort die geistige Benommenheit befremdet, tritt bald eine ängstliche Unruhe ein, namentlich Nachts, oft ganz unerwartet, triebartig. Der Kranke hat nirgends Ruhe, klammert sich krampfhaft Uberall an, setzt jedem Eingriff heftige Negation entgegen. Alles erschreckt ihn, die Umgebung, jedes Geräusch. So lange er noch mehr bei sich ist, bringt er zerstreut allerlei klein- liche Anklagen gegen sich oder Selbstvorwürfe vor; oder er be- schwert sich, dass man ihn vergiften, bestehlen wolle. Dazwischen treten wieder die lucidern Stunden mit leidlicher Besinnung, in wel- chen der Kranke auch Trost entgegen nimmt, aber dabei auffallend

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Das Delirium acutum.

confus und apathisch bleibt Immer wieder bricht aber die Angst los, nnd zwar mit dem Charakter zunehmender Betäubtheit Nah- rungsverweigerung stellt sich ein, aus Giftfurcht Bald nehmen die Gesichtszüge einen schlaffen, hölzernen Ausdruck an, vorwiegend auch einen krampfartig verzerrten (forcirtes Aufsperren des Mundes, grasses Anklotzen mit den Augen, zugleich mit der Neigung zu to- nischer Beharrung, oft auf eine Reihe von Minuten). In gleicher Weise gestalten sich die Abwehr-Reactionen gegen innere Traum- vorgänge und ängstliche Hallucinationen zu allerlei Körperverschrän- kungen, Drohgeberden, Grimassirungen. Dem Versuch eines passiven Ausgleichs stellt sich Seitens des Kranken ein reÜectorischer Wider- stand entgegen. Der Uebergang in den 8 tu porösen Zustand erfolgt oft allmählich, oft aber auch rasch aus einem Angstparoxysmus heraus. Jetzt verharrt der Kranke in stumpfem Daliegen mit starren offenen Augen, theils, wie es scheint, in regungslosem Schlafzustand (ohne innere und äussere Perception), theils, und wohl noch öfter, in der mehr oder weniger tiefen Dämmerungsphase eines angstvoll oder verworren Träumenden. Diese wird oft genug durch plötzliche ziellose Entäusserungen (Herausspringen aus dem Bette, stupide An- griffe auf die Umgebung) unterbrochen. Alle diese Acte tragen den Eindruck einer dumpfen Angst mit Abwehr, aus hallucinatorischen Eingebungen. Dazwischen werden einzelne Worte (Stindenschuld, Gift, Verfolgung u. s. w.) oder abrupte Sätze desselben depressiv- ängstlichen Inhalts hingelispelt. Zu einer andern Stunde, und un- vermittelt, erhebt sich aus der Traumphase das Bewusstsein wieder zu einer Halbklarheit, in welcher der Kranke umherschaut und deutlich einzelne Perceptionen (meist illusorisch umdeutete, jedoch auch richtige) zu machen vermag. Andere Male wiederholen sich panphobische Anfälle mit triebartiger Unruhe und nachfolgender Rückkehr in den Stupor. Die motorischen Acte tragen das Gepräge der Adynamie; sie sind träge, oft zitterig, ataktisch, insufficient; in der Ruhe sind die Muskeln bald schlaff, bald gespannt anzufühlen. Oft sind die Arme matt, herabfallend, und zu gleicher Zeit die Beine steif. Oder es ist eine Gesichtshälfte in Contractur, die andere schlaff, uud wiederum zeitweilig fibrillär zuckend. Die Sensibilität der Haut ist herabgesetzt oder fehlt ganz; die Hyperästhesie -und die gesteigerte Reflexerregbarkeit (wie im Delirium acutum mania- cale) wird hier vermisst. Die Gesichtsfarbe ist bald roth, mit einem Stich in's Bläuliche und injicirter Conjunctiva, bald ist das Ausseben dagegen blass. Die Anfangs normale oder mässig febrile Tempe- ratur sinkt manchmal während der Stuporphase auf subnormale

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Melancholisch- Btupuröse Form. Verlauf. Ausgänge.

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Kammern, behält aber die charakteristischen Schwankungen bei (37,5—37,2—36,-37,6-37,3 bei anhaltender Bettlage und motori- scher Ruhe). Anderemale verharrt dieselbe auf den tiefern Nummern, bis complicirende körperliche Vorgänge (Furunkeln, Decubitus, Pneu- monieen) einen neuen Anstieg bedingen. Der Puls ist zeitweise schwach und klein, nicht selten ungleich ; anderemale dagegen auch voll und hart Die Frequenz ist eine mässige (höchstens etwas Uber 100, manchmal gegentheils auch selten), und lässt den Parallelgang mit der Temperatursteigerung vermissen. Das letztere Verhältniss trifft auch für die Respiration zu, welche selbst bei den febrilen Anfangsstadien selten über 30 p. M. steigt. Oft intercurriren massen- hafte Schweisse, aber meist nur in localer Ausdehnung. Die Blut- fttlle der Haut ist überhaupt eine ungleiche, oder gestaltet sich im Verlauf zur ungleichen Vertheilung, so dass oft das Gesicht cyano- tisch livid und warm, die Füsse und Hände dagegen kühl sind. Nie fehlen gastrische Symptome. Die Zunge ist stets dick gelblich belegt, mit Neigung zum Austrocknen; so auch die Lippen. Dabei starker Foetor ex ore. Constant ist auch eine hartnäckige Obsti- pation. Der Leib ist brettartig gespannt (durch Contraction der Recti), nicht selten muldenförmig eingezogen. Stets tritt schon in den ersten Krankheitstagen eine obstinate Nahrungsverweigerung ein, deren Ursache Anfangs vielleicht noch in depressiven Halluci- nationen, in der Folge aber wesentlich in motorischen Innervations- störungen des Schlingapparats (Krampf-, später Lähmungszustände) begründet ist.

So verharrt der Zustand in charakteristischem Wechsel zwischen Besserung und Verschlimmerung, zwischen tiefem Sopor und halb- lucidem Stupor, durch Tage und selbst durch einige Wochen. Neigt sich die Krankheit zur Reconvalescenz, so ist die Besserung immer durch eine deutliche Hebung der Ernährung, kräftigern, regelmässi- gem Puls, normale Temperaturnummern, spontane Stühle angekündigt. Die Bewegungen werden kräftiger, ausgiebiger ; es tritt eine natür- liche Mimik mit geistigem Formgepräge ein; die luciden Bewusst- aeinsphasen gewinnen an Klarheit. Im Verlaufe von Wochen wird die Genesung erreicht, in der Regel durch ein melancholisches Schlussstadium hindurch, in welchem die Ideen der Sündhaftigkeit, des Bestohlen-seins nochmals hervortreten, aber nur mehr vereinzelt, und immer mehr durch die realen Wahrnehmungen corrigirt. An den Uberstandenen Krankheitszustand bleibt nur eine summarische, unklare Erinnerung.

Geht die Krankheit, wie leider noch häufiger, nicht in Genesung

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Das Delirium acutum.

Uber, so sind zwei Ausgänge möglich: 1. in chronische geistige Schwäche mit melancholischer Färbung; oder aber 2. in den Tod. Der letztere tritt ein a) unter den Zeichen des zunehmenden Hirn- drucks (Oblongata- Lähmung): der Puls wird ungleich, aussetzend, frequenter, die Respiration unregelmässig, oft ausgesprochen cepha- lisch, die Schlingfunction immer defecter, und endlich durch Gaumen* parese unmöglich; die bis dahin oft ungleichen Pupillen erweitern sich; der Sopor nimmt zu, bis derselbe kampflos in den Tod über- geht. Oder aber b) es erfolgt das letale Ende durch intercurrente ProcesBe, auf Grundlage tieferer trophischer Störungen (Abscesse, Decubitus, colliquative Diarrhoen, Pneumonieen u. s. w.).

2. Die Inanitionsformen. Das Delirium acutum anergeticum s. paralyticum.

Das hierher gehörige Krankheitsbild tritt nicht acut wie das mani- sche, und nicht subacut wie das melancholische, auf. Stets gehen viel- mehr längere Prodromi voraus, welche psychisch eine entwickelte Dämonomanie oder hypochondrische Depression zum Inhalt, körperlich einen anämischen Zustand mit Ernährungsschwäche und nervöser Er- schöpfung zur Grundlage haben. Es sind invalide Melancholieen ohne rüstigen Affect, oft sogar mit ausgesprochener Apathie, und physische Typen einer nervösen Consumptiou, eines nahezu banquerotten Ernäh- rungshaushalts.

Manchmal wird der Beginn der Krankheit durch eine stupide Aufregung gebildet, mit planlos unbesinnlichem Gebahren (Entwei- chen, unmotivirtes Zerstören), worauf erst das depressive, melancho- lische Stadium nachfolgt, hie und da mit Hallucinationen , welche bald gebieterisch auftreten (als „Stimmen Gottes"), bald aber nur als matte und wirkungslose Licht- und Schattenbilder nebenhergehen. Dabei ist das Bewusstsein für den nächstliegenden Kreis von Wahr- nehmungen oft noch längere Zeit leidlich frei. Die Stimmung ist unberechenbar wechselnd, wenn auch vorzugsweise gedrückt, oft tief melancholisch , so dass die Kranke schmerzlich weint (z. B. in der Application eines Klystiers den Raub ihrer Unschuld bejammert). In der Folge wird das Bewusstsein immer dämmerhafter und schwankt, oft im Wechsel von Viertelstunden, zwischen wachern und traum- artigen Phasen, welch letztere aber hier einer intercurrirenden Syncope näher stehen als dem Stupor. Während der Kranke eben noch per- cipirte und auf Fragen oder eine Aufforderung erwiederte, wird plötzlich der Blick wie halb gebrochen, die Miene starr und regungs- los, der halb offene Mund bleibt geöffnet und erst nach einigen Minuten erwacht die Besinnlichkeit wieder (oft unter einem Seufzer),

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„Inanitions"form. Krankheitsbild. Verlauf. Ausgange.

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so dass der Kranke mit der Umgebung jetzt wieder zu coinmuni- ciren vermag. Ebenso wechseln auch die sprachlichen Aeusserungen zwischen leidlich richtigen Antworten, und andererseits einem ver- worrenen lispelnden Gefasel ; oder in den Stuporpausen einer vorübergehenden Sprachlosigkeit. Die Körperernäbrung ist reducirt, der Puls klein, mässig frequent; die Extremitäten kühl. Bald stellt sich Nahrungsverweigerung ein und nach motorischer Seite eine zunehmende Schwäche und Hilflosigkeit, so dass die Kranken ausser- halb des Bettes zusammenbrechen, beim Aufsitzen sofort zusammen- kauern, den passiv erhobenen Kopf auf die Brust sinken lassen. Nur in den ersten Tagen der Krankheit erscheint die mangelnde Nahrungsaufnahme als eine durch melancholische Hemmung oder hallucinatorischen Befehl bedingte. Im Fortschritte des Leidens rücken immer mehr die Zeichen einer wirklichen motorischen Läh- mung im Schlingapparat ein: die Anfangs psychisch motivirte Ab- stinenz wird zur organisch-paralytischen. In gleichem Schritte wird die erst noch betäubte Abwehr gegen die (künstliche) Beibringung von Nahrung immer mehr zur willenlosen Passivität; die Kranken halten automatisch den Mund geöffnet, lassen ohne Widerstand jede Operation Uber sich ergehen; dabei Retentio urinae, Secessus inscii. Das Bewusstsein ist jetzt aufs Tiefste gestört; der Kranke percipirt nur noch träumerisch, oder gar nicht; die Bewegungen werden ziel- los flatternd, oder erfolgen reflectorisch, unbewusst. Die zeitweiligen sprachlichen Aeusserungen sind selbstgemachte assonirende Silben oder sinnlose Wortcombinationen.

Sprach probe: gagaga bebeleb ; oder sinnlose Wortcombinationen : grüner Rock rothe Fäden blaue Blätter graue Lilien der Rosenkranz noch einmal samrat den Ochsen mit der Mistgabel blaue Ohrenlappen rothe Ohrenringe Kasten für einen Halsknopf mit meinem Ochsenriemen da hab ich im Nachtgebet so fang ich Ratten u. s. w.

Oft dauern diese Monologe Tag und Nacht fort. Dazwischen erhalten sich die charakteristischen Schwankungen: in einer Stunde apathisch und perceptionslos , kann d^er Kranke zu einer andern leidlich lucide sein, und einige passende Antworten zu Stande bringen. Manche geben jetzt an, dass ihnen die Worte und die Bewegungen „gemacht" würden, ohne dass sie wüssten, warum? Letztere be- stehen in oft Tag und Nacht hindurch fortgesetzten Handtierungen (Herumzerren des Bettzeuges, „fortwollendes" Herausdrängen), wobei weder der mangelnde Effect, noch eine etwaige Beschädigung be- achtet wird. Eine wirkliche Stimmung fehlt; selbst die gelegent- lichen Offenbarungen des Kranken, dass er keinen Kopf, keinen

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Das Delirium acutum.

Magen habe, todt sei, innerlich austrockne gehen ohne sichtliche Reaction vorüber. Die Temperatur ist jetzt meist subnormal, der Puls klein, die Haut schlaff, bald spröde, bald klebrig schwitzend. Unter zunehmender Abmagerung, hochgradiger Anämie, Neigung zu raschem Decubitus, Katarrhen der Bronchien und der Blase, neben dick belegter trockener Zunge, bässlichem Foetor (manchmal auch Ptyalismus) zerfallen die Kranken innerhalb 1 2 Wochen; sie rutschen im Bett zusammen, liegen apathisch mit tief eingesunkenen Augen, geöffnetem Munde da, wiewohl nicht ohne eine zeitweilige dumpfe Perception der Umgebung. In regellosem Verlaufe und trügerischen Remissionen gehen sie in der Regel im Verlauf von mehreren Wochen dem Tod durch Inanition, oder durch intercur- rente Processc (lobuläre Pneumonieen, Phlegmonen, Diarrhoen u. s. w.) entgegen.

Oefter aber gelingt gerade bei dieser (Inanitions-) Deliriumsform auch die allmähliche Erholung. Der Kranke, Uber die kritische Acme seines Erschöpfungszustandes hin weggebracht, beginnt wieder von selbst zu essen; der Puls wird kräftiger; die Temperatur steigt wieder mehr zur Norm auf. Es bleibt nun noch längere Zeit ein geistiger Schwächezustand mit dem verworrenen Vociferiren (manch- mal Echolalie, tagelanges Nachahmen von Thierlauten), schlaffer, hängender Gesichtsmaske, planlos vagen Gesticulationen. Das Schlucken, und nicht minder die feinern combinirten Bewegungen mit den Händen müssen oft förmlich wieder eingelernt werden, ähnlicherweise, wenn auch mit zeitlich rascherem Erfolge als nach dem primären Stupor. Doch verfliessen bis zu voller Genesung immer mindestens einige Wochen, unter starker Steigung der Körper- gewichts-Curve.

Pathologische Anatomie. Der Hirnreizgruppe I des Deli- rium acutum entspricht ein hoch- resp. höchstgradiger Blutreichthum des Gehirns und der weichen Häute incl. des Rückenmarks. Derselbe zeigt sich als mehr minder intensive Hyperämie der Meningen, der Corticalis, der MarkBubstanz, der Ganglien, der venösen Blutleiter, der knöchernen Schädeldecken. Mit diesem Befund Hand in Hand gehen seröse Durch- feuchtungen der verschiedensten Grade, welche sich auf die Häute und das Gehirn vertheilen. Auf Durchschnitten zeigt sich die Hyperämie bald in zonenartiger bläulich violetter Färbung der Corticalis, bald mehr in Form insel förmiger Plaques, welche durch Rindengrau unterbrochen sind. Die Marksubstanz hat gleichfalls eine violette Beimischung und lässt bei Transversalschnitteu siebförmig eine Menge kleinster dunkler Bluttröpfchen hervortreten ; die Meningen sind bald bis aufs Feinste arte- riell ramificirt (oft mit weissen Randsäumen der korkzieherförmig gewun- denen Gefässe), bald mehr in ihrem veuösen Theile hyperämisch, so dass

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Pathologisch-anatomischer Befund.

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diese in prall gefüllten geschlängelten Wülsten sich Uber die Oberfläche ausbreiten. Auch die Ventrikel zeigen in der Regel hochgradige Injec- tion, manchmal mit kleinen Ecchymosirungen, und Vermehrung der intra- ventriculären , oft röthlich gefärbten Flüssigkeit. Auch das Spinalgrau nimmt an dieser theils allgemeinen, theils plaqueweisen Hyperämie Antheil.

Dieso generellen Erfunde modificiren sich nun beträchtlich nach den Einzelfällen, resp. (wie es scheint) nach dem Grade der vorhanden ge- wesenen Hirnreizung, und dann auch nach dem Krankheitsstadium. Ver- gleicht man eine grössere Reihe von autoptischen Ergebnissen, so drängt sich die Erkenntniss auf, dass es sich bei der in Rede stehenden Gruppe zwar Ubereinstimmend um eine abnorme Blutüberftillung des Gehirns, im Einzelnen aber bald mehr um active, bald mehr um passive Con* gestion handelt. Im Zusammenhalt mit den klinischen Symptomenbildern entfallen die activ byperämischen Zustände vorwiegend auf die Unter- gruppe a) , die passiven mehr auf die Untergruppe b) , wobei aber die zahlreichen klinischen Uebergänge nicht ausser Betracht zu lassen sind. 8odann hat auf den autoptischen Erfund das mehr minder vorhandene Hirnödem einen wesentlichen Einfluss, und muss bei der epikritischen Ab- schätzung entsprechend in Betracht gezogen werden. Wahrscheinlich muss dieser Factor speciell für die Erklärung der bald mehr continuirlichen, bald mehr nur inselförmigen („rosig geflammten, gesprenkelten") Corticalis- Röthe eingerechnet werden; darauf fuhrt schon die nähere Betrachtung der interpolirten Partieen von Rindengrau, welche oft deutlich gequollen, transparent, aussehen. Sodann wechselt der hyperämische Befund örtlich, je nach der verticalen und transversalen Richtung der SchnittfUhrung. Am häufigsten scheinen die innersten Corticalis- und anstossenden ober- sten Marklager besonders stark hyperämisch zu sein, während schichten- weise nach abwärts die seröse Hirndurchfeuchtung überwiegt. Doch ist dies nicht Regel; man trifft auch Fälle von Uberwiegendem Oedem in den obern Marklagern und Abnahme desselben gegen die Basis hin resp. stärker hervortretendem Blutgehalt in dieser letztern. Auch auf den topogra- phischen Territorien längs der Oberfläche ist der Befund bezüglich der hyperämischen Vertheilung ein sehr wechselnder. Das Kleinhirn ist meist in die Hyperämie einbezogen, dagegen die Medulla oblongata und der Pons in der Regel blass und ödematös. Die Hirnconsistenz in den Marklagern ist trotz des Oederas gewöhnlich zähe und klebrig, mit nach- ziehenden Gefässen auf Querschnitten.

Den möglichst reinen Fällen der Inanitionsforra 2 entspricht ein vorwiegend anämischer, bezw. ödematöser Zustand des Gehirns, wobei die Hemisphären prall gewölbt, turgescent sind (mit auf Durchschnitten reich- lich austretenden Blutpunkten), der Hirnstaram dagegen wiederum stärker Ödematös ist. Auch hier zeigt sich die Innenschicht der Corticalis in um- schriebenen Partieen leicht geröthet, manchmal mit weicherm Gefüge. Die Meningen sind stellenweise venös hyperämisch, dann und wann mit blutigen Suffusionen durchsetzt, und in der Regel in toto ödematös.

Die in der neuesten Zeit hervorgehobene Enge der Foramina iugu- laria (Hertz; ich traf denselben Befund auch in einem meiner jüngsten Fälle) dürfte als mechanisches Moment für die Zurückhaltung einer ab- normen BlutfUlle im Gehirn, welche im Weitern zu dessen „Stranguli-

Schftle. GeiaUakrankhtiten. 3. Aufl. 22

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338 Das Delirium acutum.

rung" führen könnte, erheblich werden, wenn (wie in meinem Falle) noch bedeutende Schädelverdickungen mit Verschluss der ausführenden (venö- sen) Knochenkanäle hinzutritt. Vielleicht ist nicht minder wichtig die individuelle Leistungsgrenze des vasomotorischen Systems im Gehirn, wodurch (bei angeborner Schwäche) eine Relaxation der Gefässe bedingt werden kann, welche den Ausgleich einer höhergradigen Hyperämie im Schädelinnern nicht mehr zu bezwingen vermag, und dadurch (besonders noch in Verbindung mit einem der eben genannten mechanischen Momente) die venöse Hirnerstickung herbeiführt.

Von Fürstner ist der interessante Befund von colloider Muskel- degeneration in mehreren Fällen von Delirium acutum, ohne gleichzeitig markanten Hirnbefund, mikroskopisch constatirt worden.

Die mikroskopische Untersuchung der Corticalis bestätigt nach meinen Erfahrungen für die manische Gruppe den Befund einer hochgradigen activen und passiven Hirnhyperämie mit ungleicher localer Vertheilung; Auswanderungen von Blutkugeln ins Parenchym (von Leidesdorf beobachtet) konnte ich nur einmal bei Delirium acutum im Verlaufe einer allgemeinen Paralyse beobachten. Dagegen ergab sich mir eine auffallende Maceration der Neuroglia, daran kenntlich, dass sich die Ganglienkörper mit ihren zahlreichen Ausläufen schon bei der ein- fachsten Zerzupfung des frischen Präparats (und nach eintägigem Ein- hegen in Kali bichrom.) in einer solchen Zahl und Intaktheit aus dem Zwischengewebe auslösen, wie es sonst erst nach längerer künstlicher Macerirung der Fall ist. Die Neuroglia selbst zeigte sich stark mit Serum resp. Lymphe imbibirt; ebenso waren die Arachniden in der Nähe der hyperämischen Ge fasse mit derselben opaken mattglänzenden Flüssigkeit gefüllt. Hochgradige Schwellung der Saftzellennetze durch die ganze Corticalis, wodurch ein wirkliches Ebranlement u der einge- schlossenen Nervengebiete wahrscheinlich wurde, hat sich in einem frühern Befund dargeboten; in einem weitern Falle des heftigsten maniakalen Delirium, bei einer Intermittens-Dyskrasie, wurde Melanämie im Gehirn constatirt. Diesen positiven Erfunden bei Delirium acutum stehen nun auch vielfach beglaubigte negative entgegen; doch dürften diese nament- lich bezüglich der Frage der corticalen Hyperämisirung so lange nicht als vollgiltige Gegenzeugen aufgeführt werden, als nicht die weitere eines etwa bestandenen Oedems, welches die vorhanden gewesene Gefassinjec- tion verdrängte, jeweils für den Einzelfall entschieden ist. (Neuere For- scher wollen Blutveränderungen und die Anwesenheit von Bacterien con- statirt haben, s. Lit.).

Sollen wir Uberhaupt eine klinische Zustandsform Delirium acu- tum" beibehalten? Diese Frage ist in Form des Einwands in neuerer Zeit wiederholt gestellt, von competenter Seite als berechtigt erklärt (Mendel, Jollyj, und darnach die Existenzberechtigung einer besondern Krankheitsform verneint worden. Man hat hierfür namentlich hervorge- hoben, dass unter der genannten Bezeichnung ganz heterogene Processe zusammengefasst würden: diffuse Hirnerkrankungen, intoxicatorische De- lirien, manische und melancholische Processe u. s. w., und hat nament- lich auch frühere und spätere Auslassungen meinerseits als nicht in ge- genseitiger Uebereinstimmung befinden wollen. Gleichwohl bin ich mir

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Pathol.-anat. Befund. Klin.-symptomat. Existenzberechtgg. d. Delir. acut. 339

bewusst meinem ursprünglichen Standpunkt getreu geblieben zu sein. Ich behaupte auch heute noch, dass das Delirium acutum keine Krank- heit sui generis ist; auch ich halte fest, dass dasselbe auf eine Reihe Ton acuten Hirnaffectionen und Neuropsychosen sich vertheilt; ich ver- kenne auch nicht die nahen Zusammenhänge der irritativen Gruppe mit gewissen Formen der Mania gravis, der melancholischen mit gewissen acuten fieberhaften Stuporanfallen. Aber damit ist m. E. nicht auch die Wesenseinheit der genannten Processe dargethan. Symptomatologisch fehlen der peracuten Mania gravis die convulsive Art der motorischen Störungen, die gesteigerte Reflexerregbarkeit, die charakteristische Ideen- flucht4*, die hochgradige primäre Stupidität, speciell aber die Remis- sionen im Krankheitsverlauf, wie sie dem Delirium acutum so eigentüm- lich sind. Acute febrile „Stupor "-Phasen beobachtete ich in schweren activen Melancholieen ; aber sie traten plötzlich ein, und schoben sich ebenso rasch wieder aus hierin wirklich einem Status epilepticus ver- gleichbar, welchem Fürstner neuerdings das Delirium acutum Uber- haupt nosologisch gleichstellen wollte (wie mir scheint, mit Unrecht); jene Stupor-Episoden modificiren auch nicht in so entscheidender Weise den Krankheitsverlauf, dass dieser dadurch plötzlich zu einem lebensge- fährlichen wird und im günstigsten Falle dauernde Nachwirkungen setzt, wie das Delirium acutum. Es ist nun allerdings zuzugeben, dass wir, wie in allen psychischen Zustandsformen, so auch hier Uebergänge be- obachten ; dass speciell die Mania gravis unter gewissen, uns unbekannten Bedingungen in das für das Delirium acutum charakteristische Sympto- menbild sich „steigern" kann. Aber auch diese Thatsache kann unmög- lich einen Einwand gegen die Aufstellung eines gesonderten klinischen Symptomen Verbandes abgeben. Denn feststehend bleibt trotzdem die klinische Eigenartung des letztern (nach Qualität der Einzelsymptome, sowie nach ihren Verbänden, und ihrem Verlauf), welche der Mania gravis als solcher nicht zukommt, und ferner die Thatsache, dass mit dieser Modifikation sofort auch eine ganz veränderte Prognose ge- geben ist. Von der theoretischen Berechtigung abgesehen, liegt in der Aufstellung des Delirium acutum als einer gesonderten psychischen Zustandsform auch noch ein grosser praktischer Vortheil; es ist die Signatur der G e f a h r , welche prognostisch verlässlich sich einem jeden Krankheitsfall aufprägt, in welchem diese Symptomen* Combination und diese Symptomen- Qualität auftritt, sei es, dass sie selbstständig und direct entsteht, oder als Episode resp. Ausgang sich in den Verlauf eines acuten Wahnsinns, einer idiopathischen Manie, oder einer Paralyse einflicht.

Vielleicht liegt die Zeit nicht ferne, dass das Delirium acutum auch sein anatomisches Bürgerrecht zu legitimiren vermag, wenn, woran ich nicht zweifeln möchte, die manische Form als eine active Flnxionshyperämie (acute Erschöpfung), die melancholische als ein relaxa- tiver Congestionstorpor mit Stasen- und Oedembildung (Erstickung des Hirnlebens), und die paralytische als ein anämischer Inanitionszustand des Gehirns endgiltig sich erweisen. Dann wird sich auch immer mehr muth- maassen resp. begreifen lassen, welche Psychosen-Formen nach ihrer so- matischen Grundlage sich zu einem oder dem andern dieser Ausgange eignen resp. zu steigern vermögen. Bis dahin aber möchte es nicht zu

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Das Delirium acutum.

rechtfertigen, und noch weniger zu empfehlen sein, schon aus dem an- gezogenen praktischen Gesichtspunkte nicht, auf einen auch in seinem klinischen Bilde so geschlossenen Symptomen-Complex zu verzichten ; denn obwohl die klinische Specifitat nicht an wesentlich neuen Zeichen hängt, sondern vornehmlich an einer Modification und Combination ge- gebener Symptome so macht doch die Scharfe und Eigenart dieser und deren übereinstimmender Verlauf die quäst. Zustandsform sicher diagno- sticirbar, und praktisch so verwerthbar.

Therapie.

Die Behandlung der beiden Gruppen des Delirium acutum hat wesentlich verschiedene Indicationen zu erfüllen. Bei der ersten, der irritativen Form, steht die Bekämpfung der activen Fluxionen und der passiven (gemischt activ-passiven) Hyperämieen in erster Linie; bei der zweiten, der asthenischen (paralytischen) Form, die Bekämpfung der Inanition. Dort ist die antiphlogistische, hier die roborirende Methode Hauptindication. Aber auch bei der ersten Gruppe kann die Hebung des körperlichen Kräftezustandes, zumal wenn Nahrungsverweigerung d. h. Unfähigkeit der Nahrungsaufnahme ein- tritt, zur gebieterischen Anzeige werden.

Specicll ist für alle Formen Bettruhe unerlässlich, wenn nöthig erzwungene; daneben sorgsamste Abhaltung aller Reize von aussen. Daher Isolirung in einem verdunkelten Zimmer, mit Beachtung der grösstmöglichen Stille der Umgebung. Eisblasen auf den Kopf, häufig Eisstückchen in den Mund, kühle Ueberschläge über den Leib, unter Umständen temperirte Bäder. Erträgt es der Kräfte- zustand, so dürfen im Anfange auch kleine locale Blutentziehungen nicht gescheut werden. Ableitungen auf den Darmkanal. Bei sehr heftigen Fluxionen wirken Einspritzungen von Ergotin nicht selten ermässigend. Die Nahrungseinflössung geschehe löffelweise (sehr concentrirte Fleischbrühe mit Ei) und sehr häufig, mit steter Be- rücksichtigung der gesteigerten und durch die Ansprache der Mund- und Schlingmuskulatur noch mehr erhöhten Reflexerregbarkeit. Nährklystiere. Bei beginnender Adynamie Champagner, Moschus. Bei der anergetischen Form ist neben der Bettruhe auch die Er- haltung der Köperwärme, bei Insufficienz des Schlingacts Sonden- fütterung unerlässlich. Man zögere mit letzterer nicht! Daneben Waschungen mit Wein; bei drohendem Collaps Kampher- und Aether- injectionen. Die lebensbedrohliche Schwäche kehrt nicht selten un- erwartet wieder; deshalb fortgesetzte Vorsicht! Bei deliranter Un- ruhe ex inanitione leistet nicht selten Xeres mit einigen Opium- tropfen, mehrmals täglich gereicht, sowohl zur Beruhigung (Schlaft als auch zur Förderung des Kräftezustandes gute Mithülfe.

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Die typische Paralyse. 341

Die typische Paralyse.

Literatur. Ausführt. Literatur bei Krafft-Ebing, Allg. Ztachr. f. Psych. 1866, ferner bei Hitzig, D. Hdb. Bd. 11. Dazu die neueren Specialwerke von Voisin: TraUe" de la paralysie g^n. des ali£n6s. 1879, von Mendel, Die progressive Paralyse der Irren 18S0; ferner in Wernicke's Lehrb. d. Gehirnkrkhten. III. Rosenthal, Paralys. progr.Pami^tnik.tow.lak. warsz. 1879. Neuere Special- arbeiten: Conrulsionen: Westphal, Arch. f. Psych. 5. Baillarger, Ann. mM. psych. 185S. Zacher, (auch üb. motorisches Verhalten nach Convulsionen, Sehstörungen, vasomot. Störungen, Hautreflexe) Arch. f. Psych. 14. Bechterew, Petersb. med. Wochenschr. 18S1 und Arch. f. Psych. 14. Eickholt, Allg. Z. f. Psych. 41. Pupillen: Thurnam, Journ.ofm.se. 1880. Sprache: Kussmaul, Störungen der Sprache, p. 206. Brosius, Allg. Ztschr. f. Psych. 14. Zenker, Ibid. 37. Voisin, Arch. gen. 1876. G all opain, Ann. m£d. psych. 1876. Sehrift und Lesen: Rabbas, Allg. Ztschr. f. Psych. 41. Rieger, Würzb. Sitzungsber. 1884. Knlepbünomen: Westphal, Arch. f. Psvch. 8. Claus, Allg. Ztschr. f. Psych. 38. Fischer, Arch. f. Psych. 11. Mickle, Journ. of m. sc. 1882. Spitzka, Am. J. of neur. a. psych. 1883 (Sehnenreflexe). Seh« Störungen und Ilulliu Inationen: G. Ludwig, Allg. Ztschr. f. Psych. 13. Wendt, Ibid. 19 u. 25. Westphal, Arch. f. Psych. 1. Klein, Psych. Stud. aus Leidesdorfs Klinik. Mickle, Jour. ofment.se. 1881 u. 82. Fürstner, Arch. f. Psych. 8. Claus, Allg. Ztschr. f. Psych. 35. Moeli, Ibid. 39. Duterque, Ann. me"d. psych. 1882. Borysiekiewicz, Allg. Wiener med. Ztg. 1882. Hirschberg, Neur. Ctrlbl. 18S3. Wiglesworth and Bicker- ton, Brain 1S84. Uhthoff, Centralbl. f. klin. Med. 1883. S tenger, Arch. f. Psych. 13. TemperaturverhUltnlsse: Reinhard, Arch. f. Psych. 10. Kr öm er, Allg. Ztschr. f. Psych. 36 (Literatur). Riva, Arch.it. 1S*0. Bech- terew, Petersb. med. Wochenschr. 1881 u. 1882 (abnorm niedrige Temperatur). Derselbe, Arch. f. Psych. 14. Hitzig, Arch. f. Psych. Neurologen- Versmlg. 1884 (über dasselbe Thema). Wirsch, Inaug.-Diss. Berl. 1881. Zur Ver- gleichung: Williams, Med. Times a. Gaz. 1867. Gibson, J. of in. sc. 1868.— Clouston, Ibid. Maragliano e Sepilli, Riv. sper. 1879. Tambroni, Ibid. 1884. Trophifcche Störungen: Bonnet, l'Enceph. 5. Klinisches: a) Beginn der Paralyse: Sander, Berl. klin. Wochenschr. 1876. Kirn, Arch. f. klin. Med. 1877. Kiernan, (Kleptomanie) Journ. of nerv. a. ment. dis. 1881. Weiss, Wien. med. Wochenschr. 1SS3. Lizar et (plötzlich eintretende centrale Ermüdung als Anfangs symptom), Revue me"d. de l'Est 1884. Howard, Am. J. of neur. etc. 1883. b) Remissionen (Intervalle): Christian, Ann. me"d. p6ych. 1880. Andruzky, Kowalewsky 's Centralbl. 18S3. Hammond, J. of n. a. ment. dis. 1883. Boettger, Allg. Ztschr. f. Psych. 34. Krafft-Ebing (forense Bedeutung) in Friedreich's Blättern (mit Literatur), c) Varietäten des Verlaufs: Hoestermann, Allg. Zeitschr. f. Psych. 32. Schüle, Ibid. 1876.

Baillarger, Ann. med. psych. 1877. Derselbe, Ibid. 1880 (Beginn mit He- miplegie). — Ders., Ibid. 1881 (vorausgehendes Stad. congest. mit Aphasie u. Aura).

Foville, Ibid. 1881. d) Circuläre Paralyse: Lafitte, Ann. mäd. psych. I SS2. Bigot, Ibid. 1SS3. Laehr, Allg. Zeitschr. f. Psych. 39. Benno, Ibid. 39. Pathologische Anatomie: s. Hitzig, 1. c. u. Emminghaus, Psychopathologie (mit ausführl. Literatur). Neuere Arbeiten: Tuczek, Neu- rolog. Centralbl. 1883 u. Beiträge zur pathol. Anatomie u. zur Patbolog. der Dementia par. Monogr. 1884.— Mendel, Neurol. Centralbl. 1882 u. Berl. kl. Woch. 1883. Baillarger, Ann. meU pBycb. 1882. Rey, Ibid. Claus, Arch. für Psych. 12. Amadei, Riv. sper. 18*3. Binswanger, Jenaer Sitzgsber. 1884. Beziehungen des Rückenmarks, klinisch und anatomisch: Westphal, Vircb. Arch. 39 u. Arch. f. Psych. 12. - Simon, Arch. f. Psych. 1 u. 2. v. Ra- benau, Ibid. 3. L. Meyer, Ibid. Tigges, Allg. Zeitschr. f. Psych. 29. (s. auch „modif. Paralyse'4). Frauenparalyse: Sander, Berl. klin. Woch. 1970. v. Krafft-Ebing, Arch. f. Psych. 35. Jung, Allg. Zeitschr. f. Psych. 35. Frit sc h, Wiener med. Pr. 1879. Sioli, Char. Ann. IV. 1877. - Adam,

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Die typische Paralyse.

Thöse, Paris 1ST9. Coloritch, Inaug.-Diss., ref. v. Regis in TEnc£ph. 1S83. Sepil Ii, Riv. sper.lX. 1883. Nosologie in derParalyse: Spitzka, Chic. Med. Revue 1881. Loggia (übers, von Workman im Alien, a. >eur. 18S3>. Wann, Bost. med a snrg. Journ. 1879. Baillarger, Ann. m£d. psych. 1883.

Therapie: L. Meyer (Ung. stib. Einreibungen), Berl. klin. Woch. 1877. Ders., Ibid. 1SS0. (Replik gegen Haunhorst, Ibid. Nr. 13). Oebeke, Allg. Zeitschr. f. Psych. 5S. Geheilte Paralysen: Calmeil, Tratte" p. 286. Baillarger, Ann. m6d. psych. III, t. IV. Nasse, Irrenfreund 1870. Schüle, Allg. Ztschr. f. Psych. 32. F 1 emming, Irrenfreund 1877. Stölzner, Ibid.

üauster, Psych. Centrlbl. 1876 u. Jahrb. f. Psych. 1879. Oebeke, Allg Ztschr. f. Psych. 36. Ann. möd. psych. 1879. L. Meyer, Berl. klin. Wocb. 1878. Tuczek, 1. c.

Die klassische Paralyse.

Die klassische Paralyse ist ein chronischer, selten subacuter, Krankheitsprocess, welcher symptomatologisch aus einer Verbindung geistiger und körperlicher (motorischer) Krankheitszeichen besteht, mit dem Charakter des fortschreitenden Zerfalls: einerseits in Blöd- sinn, andererseits in mehr oder minder vollständige Lähmung. Im Beginn des Leidens symptomatologisch ausserordentlich mannigfaltig d. h. unter verschiedenen psychischen Zustandsformen auftretend, und zugleich in der Prävalenz theils der psychischen, theils der motorischen Zeichenreihe wechselnd, zeichnen sich alle Fälle psy- chisch durch eine primäre geistige Schwäche die meisten auch durch den speeifischen Grössen wahn aus, und motorisch durch den charakteristischen Decursus aus erst psychomotorischen (corti- calen) Defecten in schliessliche palpable Ataxie und Lähmung spi- nalen Charakters. Aetiologisch bilden in der Regel directe cerebro- spinale Erschöpfungszustände und vasoparaly tische centrale Hyper- ämieen die Grundlage des Leidens; von biologischer Seite tritt biezu als prädisponirend das Stadium des vollkräftigen Hirn- lebens, der „Turgescenz" des Gehirns (30—45 Jahre beim Mannet. Erblichkeit spielt häufig mit. Die Paralyse in ihrer ausgebildeten klinischen Form ist vorzugsweise eine Krankheit der Männer; die ungleich seltnere Frauenparalyse zeigt häufig ein modificirtes Sym- ptomenbild. Der Verlauf der typischen Fälle ist ein zickzackfbr- miger, zwischen Exacerbationen und Remissionen (manchmal bis zu täuschenden Intermissionen) schwankender. In den spätem Verlaufs- stadien mischen sich dem Krankheitsbild immer mehr die somati- schen Zeichen der nunmehr palpabel gewordenen (d. b. in Atrophie Ubergegangenen) diffusen Hirnkrankheit bei. Der weitaus häutigste Ausgang ist der Tod; Genesungen sind ausserordentlich selten, jedoch in der kleinen vorhandenen Zahl verbürgt. (Ueber die anatomische Diaguose s. u.)

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Allgemeine Symptomatologie. Intellectuelle Störungen. 343

Analyse der Symptome.

Das Bewusstsein (als wache Gesammtresultante der psychi- schen Ich-Functionen) ist ausnahmslos tief gestört, und zwar nicht etwa nur auf Grundlage einer specifischen Vorstellungsanomalie (Grössenwahn), sondern zuvor schon durch eine universelle geistige Schwäche. Schon von den ersten und unscheinbaren Krankheits- anfängen an liegt ein leiser Sopor über der kranken Persönlichkeit mag diese sonst in geistigen Einzeläusserungen noch so nahe an das Bild der vorhergegangenen gesunden Tage anknüpfen. Der Charakter ist ein anderer leichter bestimmbar geworden, und Dies neben und trotz der im Einzelnen (namentlich intcllectuell) noch intact ablaufenden Functionen, trotz der anscheinenden und that- sachlich oft noch lange vorhandenen Correctheit in den geistigen Einzelleistungen. Die höchsten erworbenen Vorstellungsreihen, die Vorschriften der Moral, der Pflicht und guten Sitte, der Achtung Anderer und der eigenen Würde sind noch vorhanden, aber wirkungsloser geworden. Die gemüthlichen Regungen, welche das Ich einst zum „fremden Selbst erweitert" hatten, erschlaffen und engen sich kleinlich auf die eigene Persönlichkeit ein; Schönheits- sinn und Mitleid verlieren ihre belebende Wärme für das Vorstellungs- leben. Und der Kranke merkt es nicht! Schrittweise und unversehens greift die Schwäcbuug auch in die Mechanik des engern Vorstellungslebens ein: die Fähigkeit sich zu concentriren (aufzu- merken) beginnt leise Noth zu leiden, und, daran anschliessend, die einstige Geübtheit logisch gegliederte, längere Gedankenreihen zu bilden (zu reflectiren); daneben können kurze und alt eingewohnte Ideenverbindungen noch prompt gelingen. Allmählich, oft recht frühe schon, treten auch Gedächtnissdefecte zu Tage: der Kranke vergisst wichtige Maassnahmen, und zwar oft gerade solche, welche durch lange Berufsübung am meisten gewohnt waren, und macht sich nichts daraus, wenn er an seinen Lapsus gemahnt wird. Er fühlt ihn nicht!

Dabei ist psychologisch bemerkenswerth, dass der Kranke, welcher „den Balken im eigenen Auge" nicht gewahr wird, manchmal den „Splitter" im Auge seines Mitpatienten entdeckt und richtig zu beur- tbeilen vermag.

Bald lockert sich jetzt auch das Gefüge der erworbenen und erlernten Vorstellungsassociationen; da und dort fallen dem Kranken geläufige Begriffe und Worte aus; er stockt im Flusse seiner Rede, geht von Einem aufs Andere über, weil ihm überall der Faden bricht. Er lernt auch nichts mehr; neue Wahrnehmungen finden

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Die typische Paralyse.

keine Apperception , oder keine richtige. «Die allgemeinen Denk- kategorieen des Raums und der Zeit stehen nicht mehr sicher; der Kranke vergreift sich im Datum, in der Abschätzung der Tageszeit, des Ortes, wo er sich befindet. Er erkennt Personen, die er täg- lich sah, nicht wieder; weiss ihren Namen nicht mehr, verwechselt dieselben. Damit und neben dem leise fortschreitenden Zerfall des vorhandenen Besitzes schwindet immer mehr das Verständniss für die Wirklichkeit, zugleich aber auch die Fähigkeit für Urtheil und Kritik; neben dem progressiven Blödsinn ist jetzt die Grundlage vorbereitet für das Aufblühen des Grössenwahns. Dessen Cha- raktere, speciell in der klassischen Paralyse, sind: die Unmittelbar- keit der Entstehung, die sinnliche Plastik, das Unmögliche und oft barock Groteske des Inhalts und dem Verrückten gegenüber das Umspringen der Grössenideen, endlich deren Wandelbarkeit, oft auf die nichtigsten Einwände.

In Einem Athemzuge werden Tausende von Millionen verschenkt, „Tonnen von Caviar und Berge von Buttersemmeln commandirt", und im nächsten Augenblicke wieder vergessen. Inhaltlich wird Alles, was die Erinnerung birgt, was die zufällige Wahrnehmung bringt, jeder Einfall, in den „organischen Multiplicator" eingeschaltet, und daraus, unter Auf- gebot der krankhaft Uberheizten Phantasie, die chaotisch wechselnde Grössenwahnsgallerie geformt. Aus dem Himmelsgewölbe werden die Sterne herabgenommen und als goldene Kugeln wieder eingesetzt; Uber alle Gebirge der Welt werden Eisenbahnen gelegt und im Nu in den Mond hinaufgeführt; der Kranke hat die Atmosphäre gepachtet und lässt sich jeden Zug Athmungsluft von den Andern mit einer Million bezahlen; er selbst ist Milliarden Jahre alt, besitzt Tausende von Frauen, bevöl- kert in seiner riesigen Potenz die ganze Welt täglich neu ; er belebt alle Abgeschiedenen; er hat Alles gedichtet und geschrieben: Homer, Dante und Shakespeare sind nur Pseudonyme seiner unendlichen Person; er ist Gott, ja Obergott, vor welchem „der gewöhnliche Gott auf die Kniee fallen müsse". Von einer „Methode im Wahnsinn", welche der acut Wahnsinnige, trotz alles Schwelgens in seinen oft auch maasslosen Be- glückungsideen beibehält, ist beim Paralytiker keine Spur zu entdecken. Je höher man fragt, desto höher versteigt sich der Kranke, wird aber in demselben Maasse alberner und kindischer, und vor Allem systemloser in seinen Conceptionen. Durch eine erbetene Cigarre mit Streichhölz- chen lässt er sich vom höchsten Flug wieder in die Wirklichkeit zurück- führen, und bleibt glücklich, wie vorher.

Diesem „expansiven" Grössen walin steht ein „depressiver", dem po- sitiven ein nihilistischer, gegenüber, ebenso schrankenlos in der Form, ebenso ungeheuerlich in phantastischer Uebertreibung; in gewissen Fällen aber insofern realer, als er sich häufiger auf hypochond rische Sen- sationen aufbaut. Es ist eine Art „Mikromanie", jener vorher beschrie- benen „Megalomanie" gegenüber. Die Kranken mit Verdauungsstö- rungen — fühlen ihren Magen zugenäht und verstopft, ihren Mund und

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AUg. Symptomatologie. Grössenwahn. Störungen der Gemttthsfunct. 345

After geschlossen, das Körperinnere mit Eiter erfüllt; sie sind winzig klein, weigern sich zu Tische zu sitzen, weil kein Stuhl für sie hoch genug ist; sie fühlen sich in allen vertracten Körperformen (z. B. drei- eckig); sie haben keinen Kopf, keine FUsse, können nichts essen und verdauen, weil die Gedärme fehlen, weil die Löffel zu gross, die vorge- setzte Suppe u. s. w. ihrer Kleinheit gegenüber ein unendliches Meer vor- stellt, in welchem sie zu ertrinken fürchten; aus dem Nabel entbinden sich Schachteln mit Nürnberger Spielsachen u. s. w.

Anderemale enthalten die mikromanen Wahnperceptionen eine me- lancholische Färbung: die Kranken sind die Ausgeburten der Hölle, unermessliche Scheusale ; Alles, was sie geniessen, ist der hässlichste Un- rath ; sie selbst befinden sich in Nacht und Finsterniss u. s. w.

BemerkenBwerth , und ein wichtiger Beleg fUr die unreflectirte (organische) Entstehung dieser Stimmungs- und Bewussteeinslagen ist der rasche Umschlag der expansiven in die depressive Phase.

Ganz jählings stürzt der Kranke mit seinen ätherischen Himmels- wonnen in die ebenso grundlose Tiefe; erst noch „Obergott", ist er jetzt der Verdammten Einer geworden (Meschede). Es können beide Phasen im Zeitraum von nur einer Stunde wechseln, oder auch typisch im Verlaufe desselben Tages: Morgens die expansive, Abends die depressive. Die letz- tere bringt oft brüske Raptus von Selbstmorddrang mit sich.

Die Gemüthsfunctionen zeigen eine gleich tiefe Schädigung wie die des Vorstellungslebens, ja vielleicht noch eine mächtigere, wenn die von Anfang der Krankheit schon vorhandenen moralischen Defecte die egoistische Charakteränderung, der erblindende Sinn für das Ideale, für Würde und Decorum eingerechnet werden. Aber auch die Stimmung ist vom Beginn an krankhaft In der Regel ist es eine allgemeine Euphorie, ein erhöhtes Wohlgefühl, welches die Krankheit einleitet eine furchtbare Ironie der Natur, welche dem Kranken das Trugbild aller innerlichen Wonnen vorhält, wäh- rend sie an ihm den unaufhaltsamen Ruin seines geistigen Besitzes vollzieht; ihn in maasslosem Selbstgefühl sich wiegen lässt, während er im geistigen Banquerott zusammenbricht! Die Kranken sind Uber- glücklich, gesund wie nie zuvor, und im Gefühl einer körperlichen Leistungskraft, welche sie alle Excesse aufsuchen lässt. Bei dem abgestumpften Sinn für Das, was sich ziemt, werden alle diese Nei- gungen und Bethätigungen des beginnenden Paralytikers zu ebenso vielen groben Verstössen gegen den Anstand, gegen die eigene und Familienwürde (brutale Debauchen in Venere und Baccho). Aller Kummer der Vergangenheit ist weggewischt; die Pflicht des Tages macht auf den gemüthsschwachen Kranken keinen Eindruck mehr. Er erträgt Alles spielend, sofort mit der Nonchalance des Blödsin- nigen: die Trauer der Angehörigen, die Trennung von denselben, den Abschied aus dem liebgewohnten Lebensberuf.

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Die typische Paralyse.

Diese Gefühlskalte nimmt mit den vorgeschrittenen Leidensstadien za, nicht aber ohne manchmal noch spät zu einer wohlthuenden Wärme vorübergehend belebt werden zu können. (Ueber differentes Verhalten dieser affectiven und ethischen Functionen in gewissen ünterformen der Paralyse 8. u.)

Neben der Indolenz des Gemtttbs geht in der Regel eine nicht minder grosse Reizbarkeit einher; ein versagter Wunsch kann den bis dahin harmlosen, freundlichen Kranken in zornige Wuth und brutale Gefährlichkeit versetzen. In der Weise des Ausbruchs dieser Affecthandlungen, in der unendlichen Rücksichtslosigkeit, ja Gemein- heit des einst feingebildeten (und intellectuell noch leidlich geschonten) Kranken, in den Misshandlungen von Frau und Kindern enthüllt sich erschreckend der gemüthliche Defect. Vielfach fallen auch Conflicte mit dem Strafgesetze gerade in diese Anfangszeit der Krankheit (s. u.). Nach der That ist jeweils Alles sofort vergessen ; es zeigt sich keine Reue, weil der Kranke seine Rohheit nicht merkt, nicht fühlt.

Mit zunehmendem Fortschritt des Leidens nimmt die Gemtiths- verblödung immer zu, und erreicht dieselben äussersten Grade, wie der intellectuelle Blödsinn. Doch ist dieser Gang nicht ein voll- ständig congruenter; manchmal verbleibt eine gewisse schwachsinnige Gutmüthigkeit, oft aber gegentheils, oder abwechselnd, eine raotiv- lose Reizbarkeit (der lawinenartige Reflex eines zeitweiligen innern Unbehagens) mit Raptus von grausamer Gewaltthätigkeit gegen sich und Andere.

Wie mit dem Grössenwahn die nihilistischen Ideen, so lösen sich mit der Stimmungs - Euphorie auch depressive Gemüthszustände ab, und zwar nicht selten in einem gleich jähen Umschlage. Dieselben können bald einen ausgesprochen melancholischen Inhalt haben, sehr oft aber auch einen hypochondrischen. Manchmal tritt ein alter- nirender Typus darin auf (s. u.). Aber auch Stunden von richtigem Krankheitsgefühl fehlen nicht; es gibt Paralytiker, welche zeitweise Uber ihre Unheilbarkeit klagen (ein ärztlicher College sogar Uber die „Atrophie des Gehirns"); oder es folgt auf eine euphorische Phase ein wochenlanges Stadium schmerzlicher Gedrücktheit, mit Weinen und übertriebener Aengstlichkeit, wobei der Kranke peinlich seinen Urin beschaut, seinen Speichel aufbewahrt und untersucht, über eine nächtliche Pollution in Verzweiflung geräth.

In Fällen von Paralyse ohne specilischen Grössenwahn (primäre De- mentia s. u.) kann eine allgemeine Ruhelosigkeit der Stimmung mit stets bereiten Thränen neben hypochondrischer Aengstlichkeit, welch letztere sich mit vager Genesungshoffnung immer selbst wieder beschwichtigt, die Stimmungsgrundlage durch den grössten Theil des Krankheitsverlaufs

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Allg. Symptomatologie. Störungen der Wilensspbäre. Forenses. 347

bilden; erst gegen Scillase erfolgt der Umschlag in eine untröstliche Hoff- nungslosigkeit.

a) Die Störungen der Willenssphäre sind grösstenteils in der Schilderung der vorstehenden Vorstellungs - und Stimraungsano- malieen gegeben. Es sind Acte der krankhaften Reizbarkeit (des pathologischen Affects), sowie nicht minder des expansiven oder depressiven Grössenwahns, oder endlich der blödsinnigen Schwäche (theils auf Grundlage einer ungezähmten sinnlichen Triebrichtung, theils einer Urtheilslosigkeit, welche „Mein und Dein" verwechselt), oder endlich einer idiotischen Bosheit und Rachsucht. In allen For- men ist die krankhafte Handlungsweise psychisch motivirt, bald be- wnsst, bald erst ex post (raisonnirend); sehr oft treten die Motive nicht über einen dunkel gefühlten Drang heraus, wofür der Kranke keine Rechtfertigung weiss.

Auf allen diesen Wegen begegnet der Paralytiker dem Strafgesetz, und in der That dürfte ausser der Epilepsie und dem Alkoholismus keine andere Geistesstörung eine ebenso grosse Menge crimineller Acte liefern. In den erregten Stadien des Krankheitsanfanges sind es namentlich die Conflicte mit der Polizei, die Ruhestörungen, die Verletzungen des An- standes, die öffentlichen Beleidigungen, welche den Kranken compromit- tiren; oder andererseits die maasslosen Verschwendungen, die sinnlosen Verkäufe, die phantastischen Unternehmungen. Dann kommen die An- griffe auf fremdes Gut und Leben, die Brandstiftungen aus kindischer Rache, „um Bettwanzen zu vertreiben", oder „um Kartoffeln im Zimmer zu braten"; die plumpen, frechen Diebstähle, die Betrügereien aus al- berner Profitsncht, endlich die Inceste ans gesteigertem Sexualdrang, wel- cher, Anstand und Würde vergessend, zur nackten Schamlosigkeit (Noth- zucht, Entblössungen auf öffentlicher Strasse, Vergehen an Kindern u.s.w.) herabgesunken ist. Auch die Morde sind nicht selten, manchmal wegen Bagatellen, ja selbst in Form anscheinend motivloser brüsker Attentate. Auch die nicht so seltenen Suicidien sind hier einzureihen, gleichfalls kurzer Hand, in impulsiven Raptus, unternommen.

Mit dem fortschreitenden Blödsinn wird die Qualität der psychischen Handlung immer mehr zur triebartigen Schablone: die Kranken fallen einem Sammeltrieb anheim, in welchem sie sich täglich mit Steinchen, Scherben und allerhand Unrath die Taschen füllen, um sie am Abend ausleeren zu lassen, und am andern Morgen ihre kindische Spielerei, hinter welcher sie allerdings die Anhäufung von Gold und Pretiosen erblicken, neu zu beginnen; sie stecken nicht minder auch fremdes Eigenthum ein, oder tragen es offen fort, weil sie nichts dabei denken. Hypochondrisch melan- cholische Paralytiker verweigern auch gelegentlich, und oft recht intensiv, die Nahrung. Andere gegentheils verfallen in ihrem ver- blödeten Grössenwahne auf allerlei perverse Acte: sie verschlucken

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was ihnen in die Hand kommt, oder schicken sich an sich aus dem Fenster zu stürzen, „weil sie Engel geworden und Flügel be- sässen."

Auf eine localisirte Affection höherer corticaler Coordinationscentren sind wohl die triebartigen Actionen vieler Kranker: das tage- und wochen- lange Abreiben der Wände, das Scheuern am Körper, die automatischen Greif- und Webebewegungen u. s. w. zu beziehen.

b) Motorische. Hier kommen zuerst die psychomotorischen Störungen der Sprache, Schrift und Mimik in Betracht. Alle drei, besonders die zwei ersten, sind in einer charakteristischen, theilweise pathognomonischen Weise in der Paralyse verändert. In der Stufenleiter dieser Aenderungen legen beide zugleich den fort- schreitenden Störungsgang des Paralyse- Processes im Allgemeinen klar: wie der destructive Angriff zuerst auf die psychische, dann auf die psychomotorische Qualität dieser combinirten Bewegungs- acte erfolgt, und endlich die grob motorische Läsion (die Lähmung) übrig lässt, nachdem die Corticalis-Affection zu einer Tiefe gediehen ist, welche keine „psychischen", sondern nur mehr „organische" Reactionssymptome noch ermöglicht.

So besteht die Aenderung der Sprache im ersten Beginn in einem einfachen Häsitiren (einem psychischen Schwanken), weil die Asso- ciationen sich nicht mehr mit der früheren Promptheit einstellen. In der Folge kommt eine erst leise, dann immer deutlichere Störung in der for- mellen Leistung des Hypoglosso-Facialis-Gebietes hinzu, welche sich in einer Einbusse an Geschmeidigkeit und Geläufigkeit der Sprache und namentlich auch an dem Metall der Stimme kundgibt. Eine Reihe von Worten wird noch ganz prompt gesprochen ; dann kommt plötzlich eine kleine Stockung der Articulation , eine flüchtige Convulsion der Zunge. In der Folge treten Umsetzungen und Ellipsen von Silben ein, nament- lich bei zusammengesetzten Worten wohl in Folge von Gedächtniss- defecten im Wortbilde. Im Weiteren macht sich die psychische (Sil- benstolpern) und von nun an auch grob-motorische Schwerfälligkeit kennt- lich in dem forcirteren Aufgebot von muskulärem Kraftaufwand: als convulsivische Mitbewegungen der Lippen- und Mundmuskeln, dann des Gesichts, sogar der Arme; oder aber: es werden die übrigen Gesichts- partieen und selbst die Arme durch Aneinanderpressen der Finger steif gehalten als arbeiteten sie auf die schwere Leistung hin die Zunge zu beherrschen. Aus derselben halb bewussten, halb unbewussten Inten- tion im Verein mit der zunehmenden Anarthrie bildet sich allmählich eine Ummodelung von Vocalen und Consonanten aus, je nach den beque- meren d. h. articulatorisch leichteren Uebergängen (z. B. ü statt u, oa statt a), nicht selten auch in dem Einflicken von Vocalen zu demselben Nothbehelf (Sch— e— wa— ger statt „Schwager"). Endlich bilden sich die gröberen anartbrischen Störungen immer herrschender aus: so im Rederhythmus (Pausen im Sprechen, präcipitirtes Hervorstossen von Wor- ten, oft förmliche Sprachexplosionen); sodann Tremuliren der Stimme

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Allg. Symptomatologie. Störungen der Sprache, Schrift. 349

(durch musculäre Insuffizienzen in den Stimmbändern, im Velum und im Ansatzrohr) ; endlich gellende und meckernde Stimme, und am Schlags an- arthrische Aphasie mit Zungenlähmung bis zu vollständiger Sprachlosig- keit und Ersatz durch unarticulirte Laute.

Merkwürdig ist die zeitweilige manische Aphasie (Wernicke) ge- wisser Paralytiker, welche darin besteht, dass unter entsprechenden mono- tonen Gesticulationen dieselben sinnlos verdrehten Worte hinausgeschrieen und in ewiger Wiederkehr förmlich „zu Tode gehetzt" werden.

Sprachprobe: Ich blase , wenn ich geblasen habe , dann höre ich mit Blasen auf; ich will die Katzen anblasen, auch sechs Pferde können blasen; wenn die Kühe blasen könnten, dann könnten die Scharfschützen auch blasen; wenn ich kein Kalbfleisch bekomme, dann kann ich nicht blasen, und wenn ich nicht blasen kann, dann ist Alles aus. Man ruft mir: blase! blase! Weisst du, wie man blasen muss? Sag, was du willst, wenn du nur blasen kannst; o blase doch! Alles muss geblasen werden; das Blasen hört nicht auf, wenn ich einen Rausch habe, dann ist Blasen das Beste u. s. w.

Intercurrente Zufälle im Einzelverlaufe können in der mannigfaltig- sten Weise abändernd auf diesen Stufengang einwirken und einen be- schleunigten Decursus herbeiführen. So bleibt nach einem stärkeren An- fall von Convulsionen in der Regel mindestens eine kürzere oder längere, amnestische Aphasie (oft in charakteristischer Weise mit Ausfall der Sub- stantiva, wofür der Kranke in den begriff liehen Umschreibungen sich zu verdeutlichen abmüht); anderemalc verfügt er Tage lang nur über Ein Wort, womit er Alles bezeichnet; oder endlich: er befindet sich über mehrere Stunden oder Tage in einem verbalen Delirium. Immer bleibt nach diesem ersten Chok durch einen paralytischen Anfall eine, wenn auch leise, Zunahme der Sprachstörung zurück. Auffallendes Erhaltenbleiben der Sprache neben den progressiv weiter entwickelten übrigen Symptomen kommt bei der typischen Form nicht vor; ich beobachtete es bei der syphilitischen und tabischen Paralyse ; in einem Falle aus letzterer Kate- gorie sprach der Kranke anhaltend ein forcirtes Hochdeutsch, mit ganz eigenartiger Accentbetonung.

Die Aenderungen in der Schrift verfolgen den gleichen Decursus aus dem Kreis anfänglich bloss „psychischer" Defecte in schliesslich „or- ganische" d. h. grob motorische. Im Beginn finden sich Auslassungen von Worten in Folge der unsicheren Vorstellungsassociationen ; später Silbenellipsen, so dass einzelne Worte verstümmelt werden, oder auch Silbenverdoppelungen und Silbenumstellungen (die Analogie des corticalen „Silben8tolpern8"). Im weiteren Verlaufe, oft auch gleichzeitig, erschei- nen graphische (ataktische) Störungen, welche sich kundgeben a) in einem Tremolo einzelner Buchstaben, indem die bis dahin sicher schreibende Uand plötzlich (in Folge einer leisen Zuckung) aus der Linie fährt und dem Buchstaben ein „Zickzack" anhängt; nach und nach vertheilt sich dieses „winklige" Ausfahren auf immer mehr Schriftzeichen; b) in einer ungleichmässigen Schrift, wobei die einen Buchstaben abnorm gross, die andern klein werden und zugleich im Ductus der Buchstaben selbst ver- doppelt angesetzt wird. Schliesslich werden die letzteren ganz eckig, bilden nur noch aneinandergereihte Zickzacks das Schlusstableau gra-

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Die typische Paralyse.

phischen Zerfalls eines auch innerlich „verwaschen" gewordenen Schrift- bildes.

Ins psychische Gebiet der „Schrift" und Sprache gehörig sind hier die sehr interessanten und vielfach charakteristischen Paragraphieen und Paralexieen einzelner Paralytiker (namentlich auch beginnender) kurz zu erwähnen. Diese Kranken lesen (ohne im Geringsten aphasisch zu sein) ganz falsche Worte (besonders mehrsilbige werden entsetzlich verdreht), können vorgesprochene nur verstümmelt niederschreiben, letz- tere nicht wiederlesen ; 8ie vermögen nur noch in bescheidenen Grenzen mechanisch zu zählen, und straucheln bei den einfachsten Rechenopera- tionen, wozu intellectuelle Combination gehört (Rabbas, Rieger).

Die rein motorischen Störungen haben nicht die specifische Bewertbung, wie die vorgenannten psychomotorischen; sie kommen vielmehr der klassischen Paralyse gerade so, wie der modificirten (ans primär palpabeln Hirnaffectionen) zu.

Störungen im Gang, Haltung, Bewegungen u. 8. w. Dieselben combiniren sich aus den directen Folgen der anatomischen Läsion resp. Fnnctionsstörung und aus hinzutretenden Compensations- bewegungen. Die erstem sind Anfangs ausgesprochen ataktische mangelnde Coordination ; die zweiten bestehen in einer verstärkten Innervation einzelner Muskeln und Muskelcombinationen, zum Zwecke der Gegenwirkung und Stützung. Dadurch erhalten die Actionen der Fttsse beim Gehen (analog wie die Bewegungen der Lippen- und der Gesichtsmuskulatur beim Sprechen) ein convulsives Gepräge. Die Beine „schlurfen" und werden stossweise vorgeschleudert; zn gleicher Zeit nimmt aber der Rumpf entweder eine vorwiegend flec- tirte Haltung (watschelnder, nickender Hahnenschrittsgang), oder eine Neigung zur extendirten an (Grandezza, Parade-, Schlittschuh- läuferschritt, Zenker). Bei raschem Anhalten oder Umdrehen er- folgt Schwanken, ein Ueberwerfen nach einer Seite, oder auch ein Umstürzen. Aus der anfanglichen Ataxie wird allmählich Parese und Paralyse in Form eines breitspurigen, plumpen, unbeholfenen, endlich ganz versagenden Ganges. Ebenso sind auch die Bewegungen der oberen Extremitäten Anfangs rein ataktische, aus psychischen Defecten in den Bewegungsanscbauungen und in den motorischen Associationen zusammengesetzte : der Kranke verfügt noch Uber eine ansehnliche Muskelkraft, während er schon seine Kleider nicht mehr ordentlich, oder nur mit verstärktem Willensimpuls, zuknöpfen kann. Fortschreitend wird das Zittern und die Unsicherheit stärker (das anfänglich leise Muskelzittern lässt sich namentlich durch das auf- gelegte Ohr deutlich hörbar machen) ; endlich wird mit dem Fort- schritt der Krankheit die Hand vollständig ungeschickt und kraftlos.

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Allg. Symptomatologie. Störungen im Gang (Sehnenreflexe), Zunge. 351

Nicht so selten bilden sich in der Folge da und dort Contrac- turen oder vorübergehende Athetose in einzelnen Fingern aus ; oder auch, es gesellt sich jetzt secundär Muskelatrophie aus aufgehobener Function dazu; in andern Fällen treten locale Muskelzuckungen, zeitweises Emporschnellen einer Extremität ein. Die Gesichtsinner- vation wird ungleich d. h. einseitig stärker und das Gesicht verzogen; nach und nach bilden sich dadurch, und wohl auch in Folge der secundären Muskelatrophie, einseitige Verflachungen der Gesichts- falten (namentlich in der Stirne) aus. Oft steht eine Augenbraue höher, als die andere; ebenso die Oberlippe. Umschriebene Zuckungen sind nicht selten, namentlich in den Nasolabialfurchen.

Das Verhalten der Sehnenreflexe ist verschieden; einen typi- schen Befund gibt es nicht. Eine Steigerung derselben im Beginn der Krankheit ist nicht selten, und zwar ohne jeweils vorhandene Lateral- sklerose. Bei begleitender Erkrankung der Hinterstränge fehlen, wie auch sonst, die Sehnenreflexe (s. tabische Paralyse); doch scheint der Ausfall erst auf einer gewissen Erkrankungshöhe aufzutreten (s. sp.). So zuverlässig im letzteren Falle der diagnostische Rückschluss gelingt, so wenig lässt sich bis jetzt der Befund der Sehnenreflexe im Allgemeinen mit der Art und Intensität der anatomischen Gehirnvorgänge in der Para- lyse in irgend eine Beziehung setzen. Auch das Verhalten der elek- trischen (farad. u. galvan.) Erregbarkeit der Nerven und Muskeln im Paralyseprocess ist ein zu verschiedenes und wandelbares, um irgend- wie sicher diagnostisch (bis jetzt) verwerthet zu werden. Ein nicht sel- tener Befund ist Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit der Nerven nach vorausgegangener Steigerung. Häufiger noch findet sich eine Dif- ferenz in der quantitativen elektrischen Erregbarkeit beider Körperseiten, besonders in den Peronei. Qualitative Erregbarkeitsänderungen kommen bei D. p. nur vor, wenn sich mit derselben eine Erkrankung der vor- deren grauen Substanz oder der vorderen Wurzeln des Rückenmarks verbindet.

Die Störungen in der Z u n g e bestehen in einem ataktischen Zittern beim Herausstrecken, so dass die Zunge beständig aus der Führungslinie schwankt, in leisem Tremolo zurück und dann wieder vorwärts zuckt, und von dem Kranken nur durch Fixiren mit den Zähnen in leidlicher Ruhe erhalten werden kann. Dieses wichtige (vielleicht speeifische) Verhalten zeigt sich meist schon unter den ersten Krankheitssymptomen. In der Folge wird das Zittern durch Hinzutreten fibrillärer Zuckungen noch verstärkt. In den spätem Stadien nimmt die Beweglichkeit der Zunge schrittweise ab ; manch- mal kann sie nicht mehr aus dem Munde bewegt werden; nicht selten tritt auch hier zur Parese noch muskuläre Atrophie.

Die anfänglich ataktische Störung der Stamm- und Extremitäten- moskeln schreitet bis zur vollständigen Lähmung fort, sodass

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Die typische ParalyBe.

der Kranke, unfähig zum Geben, Stehen und zu jeder Arm- und Handbewegung, zu einer vollständigen Moles iners wird. In gleichem Schritte erhöht sich die spinale Reflexerregbarkeit, so dass leiseste periphere Reize eine wahre Muskelanarchie auszulösen vermögen.

Mimik. Der Blick ist im anfanglichen Erregangstadium der Para- lyse glänzend, funkelnd, animirt; später wird er matt, gläsern, inhalts- leer (durch Divergenz der Angenaxen). Die Lider sinken in den spätem Stadien oft herab und geben dem Gesichte ein schläfriges Aussehen; zu andern Zeiten sind sie gegentheils weit aufgerissen, bei contrahirten Fron- tales. Merkwürdig ist die manchmal zu beobachtende Paramimie, so dass die Kranken bei Freudeäusserungen einen weinerlichen Gesichtsausdruck bekommen; hin und wieder ist der letztere über längere Zeit anhaltend vorhanden (bei complicirenden schweren Rttckenmarksaffectionen, speciell des Bulbus). Gegen Schluss der Krankheit werden die Züge grob und träge, schlaf? und hängend, der Ausdruck harmlos und einförmig; viele Kranke haben für die Freude nur noch ein ganz unbeherrschtes Lachen, für die Aufmerksamkeit ein glotziges Staunen, für die Verdriesslichkeit auch nur eine Nuance; bei ruhiger Gesichtslage sieht die Maske wie aus Holz geschnitten aus, während dagegen beim ängstlichen Affect sich die Züge zu einem erschreckenden, furchtbaren Anblick spannen und verzerren.

Pupillen. In der weitaus grössern Hälfte aller Paralyse-Fälle ist die Reaction der Pupillen träger, und sind letztere selbst ein- seitig weiter. Manchmal wechselt ausserdem noch die Form und die Pupille wird verzogen, und zwar theils für eine längere Zeit- dauer, theils nur für den Umfluss einiger Stunden. Oft tritt bei den acuten Kopf-Rash's im Verlaufe der Paralyse ganz plötzlich eine sehr starke Mydriase auf, welche mit Nachlass der Wallung sich wieder zurUckbildet. Anderemale fehlt die Reaction auf Licht, tritt aber bei der Accomodation (Bewegung der Augenaxen) ein: so bei begleitenden Spinal- und Optionsaffectionen ; oder aber umgekehrt: es fehlt die Reaction bei der Convergenz, dieselbe ist aber für Licht erhalten, so bei Erkrankung des oculomotorischen Bündels im me- dialen Pedunculus (Wem icke). In manchen Fällen endlich wird auch Myosis beobachtet, mit fehlender Reaction auf Lichtunterschiede (in einem meiner Fälle blieb diese das einzige restirende Symptom nach sonst vollständigem Rückgang der übrigen Symptome). Bei Complicationen können sich auch locale Oculomotorius- und Abducens- Paresen einstellen.

Die Störungen in der Stimm-Muskulatur sind oben bereits kurz erwähnt worden. Es sind Fälle beobachtet, in welchen der Verlust einer ehedem schönen Singstimme das erste eintretende Krankheitszeichen bildete. Sonst wird die Stimme oft näselnd, oder

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Allg. Symptomatologie. Mimik; Pupillen; Zunge; Deglutition ; Convulsionen. 853

guttural, in ihrem Timbre meckernd, kreischend, zeitweise auch gaiiz heiser.

Störungen der Deglutition(Zenker). Dieselben theilen sich in i. Coordinationsstörungen der Lippen- und Backenmuskulatur mit Unbehilf lichkeit der Kaubewegungen und tibercompensirenden Mitbewe- gungen; 2. mangelhaft beherrschte Aspiration mit Verschlucken beim Trinken; 3. Insuffizienzen des Velum alle drei Momente aus geschwäch- ter Facialis-Innervation ; 4. masticatorische Coordinationsstörungen durch Fnnctionsdefecte im Quintus; 5. Hypoglossnsstörungen in Form mangel- hafter Bissenbildung, mit verlangsamtem Hinabschlucken bei ungenügendem Absen luss des Isthmus; 6. Hyperästhesie, oder gegentheils Anästhesie, in der Mundschleimhaut (Quintus- und Olossopharyngeusgebiet), mit Trismus und Oesophagealspasmus; 7. stufen weises Erlöschen der Reflexaction und der Emporbewegungen des Kehlkopfes mit mangelhaftem Verschluss des Ostium laryngis das praktisch wichtigste Vorkommniss in den End- stadien der Paralyse, oder intercurrirend nach epileptischen Anfällen.

Ein ausserordentlich häufiges motorisches Symptom ist das Zähne- knirschen, bald nur vorübergehend (oft schon in den Anfangsstadien), bald aber auch durch Wochen hindurch anhaltend.

Störungen in der Urinentleerung treten theils als Ischurie, theils als Incontinenz und zwar vorübergehend, oder (in den Schlussstadien) dauernd auf.

Eine sehr wichtige Zeichengruppe endlich bilden die sog. pa- ralytischen Anfälle die Convulsionen. Abgesehen von den vielen individuellen Variationen lassen sich nach Form und Ausdehnung zwei Gruppen unterscheiden, welche symptomatologisch wesentlich different sind, nach der Prognose ein verschiedenes Ver- halten zeigen, und höchst wahrscheinlich auch eine verschiedene cerebrale Entstehung haben.

Bei der ersten Gruppe handelt es sich bloss um klonische (oft mit Voran sgang tonischer) Krämpfe in umschriebenen Muskelgebieten des Ge- sichts oder der oberen Extremitäten, mit Erhaltung des Bewnsstseins, so zwar, dass der Kranke während der Convulsionen noch leidlich zu per- cipiren und kurze passende Antworten zu geben vermag. Die zweite Gruppe dagegen umschliesst mehr minder allgemeine (oft aus erst par- tiellen entstehende) tonische und klonische Zuckungen, mit vollständiger Ausschaltung des Bewusstseins und in der Regel hochgradig gesteigerter Reflexerregbarkeit. Die Krämpfe können einseitige sein und in Absätzen sich in gleicher Weise wiederholen, oder aber von einer auf die andere Seite übergehen; oft kann krampfhafte Beugung der oberen mit Streckung der gleichnamigen unteren Extremität eintreten. Der Anfall beginnt ge- wöhnlich im Facialisgebiet und in den Drehern des Nackens; die para- lytischen Muskelgebiete sind die hauptsachlich ergriffenen. Die Beein- flussung der Respiration erfolgt bei dieser zweiten Gruppe ganz analog dem specifisch epileptischen Insulte. Der Puls ist frequent (jedoch nicht regelmässig; manchmal auch nur 60 70 und von ungleicher Stärke);

Schal«, Geirtwkrtakheiten. 3. Aufl. 23

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Die typische Paralyse.

die Temperatur oft stark erhöht; reichliche Transspiration, namentlich im erhitzten Gesichte, geht mit einher. Variirend können auch allgemeine tetanische Krämpfe mit klonischen abwechseln, und ein mehrstündiges kataleptisches Nachstadium folgen; anderemale treten Anfälle von hef- tigstem allgemeinem Zittern ein. Diese Grand -mal -Anfälle sind in der Regel von Vorboten, häufig auch von Nachsymptomen, begleitet. Zu den Vorboten gehört gesteigerte Unruhe des Kranken mit stärkeren mo- torischen Störungen und 'einem benommenen Wesen; sehr häufig sind auch Congestiverscheinungen, Zähneknirschen, manchmal Aphasie nachzu- weisen. Unter den Nachsymptomen steht Sopor mit partiellen Paresen resp. mono- und hemiplegischen Paralysen (oft mit andauernden fibril- lären Zuckungen und Sprachstörungen, Aphasie, Worttaubheit) in erster Reihe; es kann aber auch ein manischer Zustand mit triebartigem Zer- störun^sdrang und Gefährdung gegen sich und andere nachfolgen. Höchst selten tritt eine interkurrente Besserung ein (s. u.). Auch mehrwöchent- liche starke Polyurie ist beobachtet. Sehr interessant ist das zeitweilige Auftreten von automatischen combinirten Handbewegungen, welche voll- ständig wie „gewollte" imponiren nach einem solchen Krampfanfall (s. o.).

An sich und in Beziehung zum Gesammt verlaufe der Krankheit bedeutet ein grosser paralytischer Anfall stets eine bleibende Etappe nach abwärts in der fortschreitenden psychischen und motorischen Lähmung. Die Anfälle können sich bis zu 48 in 24 Stunden wieder- holen; es kann aber auch bei wenigen sich bewenden, und in diesen wenigen der Tod erfolgen.

Interessant sind dabei die manchmal dazwischen tretenden freieren Remissionen. Nach mehrstündigen (leichteren) Convulsionen kann der Kranke wieder umhergehen, ruhig sprechen, ohne sich an das Voraus- gegangene im Geringsten zu erinnern, Cigarren rauchen u. s. w.; dann kann nach mehrstündiger Pause sich ein allmählicher Sopor mit sterto- röser Respiration entwickeln , mit Unempfindlichkeit der Haut , nahezu vollständig aufgehobener Reflexerregbarkeit und Pupillenreaction ; dann nach einer Reihe von Stunden wieder freie Zeit über einen Tag und mehr; dann wieder Aufregung und Convulsionen; dann wieder Sopor, freie Zeit u. s. w.

Bei starken Convulsionen erfolgt nicht so selten Zerbeissen der Zunge, selbst einzelne Male bis zu völliger Continuitätstrennung und Verlust eines grössern Stückes (welcher sich theilweise narbig aus- gleicht, sogar mit Wiederkehr eines beschränkten Sprach Vermögens). Der nach dem epileptiformen Anfall gelassene Harn ist oft (nicht immer) ei weiss haltig.

Was den muthmaasslichen Sitz der beschriebenen Anfälle im Gehirn betrifft, so sind die der ersten Gruppe wohl unzweifelhaft direct cor- ticaler Natur. Wahrscheinlich ist auch für die zweite Gruppe das Grand mal dieselbe Localisation zu beanspruchen (schon nach der Natur der Folgesymptome, speciell der Paralysen); aber als viel ausge- dehntere HirnrindenarTection. Möglicherweise handelt es sich bei diesen

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Allg. Symptomatologie. Convulsionen, apopleküf. Anfalle. 355

am vasomotorische Reflexe grossen Stils von infracorticalen (Budge'schen oder Not h nage l'schen) Krampfcentren aus. Die Ursache der auslösenden Reize kann entweder peripher gelegen sein erfahrungsgemäss ver- mag eine Ueberftlllung der Blase oder des Mastdarms einen Anfall her- vorzurufen, eine passive Bewegung, ein stärkeres Anfassen der hyper- ästhetischen Haut nach einem Anfall, die sofortige Recidive zu bewirken oder central durch directe Einwirkung der im Gehirn aufgespeicherten und durch die degenerirten Geftlsse nicht prompt wegzuschaffenden lym- phatischen Stoffe (Burckhardt).

Seltener als die eben geschilderten paralytischen Convulsionen sind die zeitweilig intercurrirenden apoplektiformen Anfälle. Dieselben treten manchmal schon unter den Vorboten der Krankheit auf (Paralysis congestiva s. u.), häufiger aber erst in den spätem Stadien. Man trifft hier oft Kranke, welche ohne auffällige voraus- gegangene Bewusstseinsstörungen plötzlich mehr oder minder ver- breitete Paresen oder Paralysen im Gesichte oder auf einer Extrem itätenseite darbieten. Dieselben gehen in der Regel rasch wieder vorüber. Sie können aber auch in Form von leichten Hemi- paresen dauernd werden. Sehr bemerkenswerth ist, dass beinahe ausnahmslos niemals Gontracturen (wie bei gewöhnlichen Apo- plexieen) nachfolgen.

Die anatomische Ursache bilden höchst wahrscheinlich plötzliche intra- cranielle Druckschwankungen in Folge von Störungen in der Vertheilung des Liq. cerebrospinalis. Manchmal sind vielleicht auch einseitig stär- kere Atrophieen in den motorischen Corticalisfeldern (Parencephalieen), namentlich für die dauernden Hemiparesen, verantwortlich zu machen. Wirkliche blutige Apoplexieen kommen, wie es scheint, der „typischen" Paralyse nicht zu, sowie auch bei den in Rede stehenden Anfällen der klassische apoplektische Insult fehlt.

c) Sensorielle und sensible Störungen. Erregungszustände in allen Sinnesgebieten unter der Form von Hallucinationen sind nicht so selten, am seltensten vielleicht die des Gehörs. Die letztern, wenn sie vorkommen, haben keinen speeifischen Inhalt (Scheltworte, Drohungen, Versprechungen, Musik, Thierstimmen). Häufiger sind in den manischen Perioden die Visionen, welche vielen gewalttäti- gen Acten der Paralytiker zu Grunde liegen. Geruchs- und Ge- schmackstäuschungen mögen den häufigen Vergiftungswahn bedingen, vielleicht in ihrer angenehmen Kehrseite auch die „Ambrosia"- und „Nektar"- Genüsse, welche die Kranken aus den gewöhnlichsten Ess- gegenständen zu kosten vorgeben. In den spätem Stadien erlöschen die Functionen der zwei letztern Sinnesgebiete, mit dem fortschrei- tenden Blödsinn Hand in Hand gehend, so zwar, dass die Kranken für die hässlichsten Geschmäcke und Gerüche keine Empfindung

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Die typische Paralyse

mehr haben. Interessant nnd bemerkenswerth ist, wie das paraly- tische Krankheitsbild selbst dnrch die oft zahlreichen nnd mannig- faltigen Sinnestäuschungen so wenig modificirt wird (Unterschied von den andern mit Hallucinationen verknüpften Psychosen, speciell auch vom Alkoholismus).

Von hohem klinischen Interesse sind die eigentümlichen Sehstörungen gewisser Paralytiker (mit complicirenden Herdsymptomen im Hinterhaupts- lappen, Fürstner). Die Sehstörung besteht darin, dass die Kranken den vorgehaltenen Gegenstand zwar sehen, aber nicht psychisch erkennen können. Sie sind also auf einem oder beiden Augen „seelen"blind. Die betr. Fälle, welche stets vorgeschrittenen Krankheitsstadien angehören, können wieder in Besserung, oder aber in totale Blindheit (Rindenblindheit) tibergehen. Der Augenspiegelbefund ist normal. Auch eine eigenartige Asymbolie ist nach paralytischen Anfallen beobachtet worden (Wer- nicke), wobei die Kranken nach ihrem Gesammtverhalten zu ur- theilen zu sehen, zu hören und zu tasten vermögen, aber nichts desto weniger die Fähigkeit, die sinnlich percipirten Dinge wiederzuerkennen (zu „appercipiren"), eingebüast haben. Daher die grosse Rath- und Wil- lenlosigkeit dieser Kranken nach einem solchen Anfalle, welche oft Wochen lang dauert, bis sie wieder so viel Erinnerungsbilder aufgefrischt haben, um sich wieder orientiren zu können.

Von sensorischen Reizzuständen im Acusticus im Verlauf der Para- lyse ist die Beobachtung aus der Krankheitsgeschichte des Componisten Schumann zu bewahren, wornach sich bei dem Patienten oft urplötzlich ein bestimmter Ton einstellte, aus welchem sich immer weitere Melo- dieen, und schliesslich ganze Ouvertüren entfalteten.

Die Sensibilität ist stets mitergriffen. Zwar im Beginne weniger, so dass in diesem Momente eines der noch verlässlichsten differentiellen Merkmale gegenüber dem chronischen Alkoholismus gelegen ist um so entschiedener aber im Verlaufe der Krankheit. Manchmal tritt Anästhesie und Analgesie aber schon recht frühe au£ und bildet dann nicht selten die Grundlage für grössenwahnsinnige Allegorisirungen (Federn am Körper, Engels-Metamorphose). In den späteren Stadien erreicht die Gefühlsabstumpfung einen so hohen Grad, dass die Kranken umfängliche Hautentzündungen (Phlegmonen, Carbunkel) gar nicht merken, dass sie Attentate auf die feinstnervigen Körpertheile machen, ohne den mindesten Schmerz zu äussern. Die- selbe Anästhesirung erstreckt sich auch auf die inneren Schleimhänte, und wird bald für die Urethra (bei Handhabung des Catheterismus) wichtig. Ein allgemein vorkommendes Symptom, namentlich im Beginn und prämonitorisch, ist Kopfschmerz, besonders vorne, theils diffus, theils halbseitig, und besonders nach geistiger Anstren- gung (Geinüthsbewegung) hervortretend.

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Sensorielle and sensible, vasomotorische and trophiscbe Störungen. 357

Die sexuellen Functionen sind im Beginne der Krankheit (in den Erregungsphasen) in der Regel erhöht, und bilden durch die oft schamlose Weise ihrer Befriedigung sehr häufig den Ausgangspunkt der compromittirendsten Handlungen, und namentlich auch crimineller Acte. Später erlischt mit zunehmender Lähmung der anormale Drang und auch die Function (unwillkürliche Pollutionen bei erschlafftem Gliede, Samen- abgang bei Harn und Stuhlgang).

d) Vasomotorische und trophische Störungen. Zu den vasomo- torischen Störungen gehören: stunden- und tagelange Fluxionen zum Kopfe mit Papillen Verengerung, Röthung des Ohres und der betr. Gesichtshälfte mit vollem, weichem, sehr frequentem Carotidenschlag (oft mit Schinerzhaftigkeit des obern Halsganglions auf Fingerdruck ; dies namentlich in convulsiven Anfällen). Manchmal sc h Hessen sich plötzliche Hals- und Gesichtserytheme mit bedeutender Temperatur- erhöhung an einen vorangegangenen leichten Alkohol-Reiz an. Sel- tener sind Eruptionen von Zoster und auch Bronzed skin beobachtet worden. Oft überrascht eisige Kälte der Extremitäten, manchmal mit profusem Schweisse (letzterer nicht selten nur partiell, oder auch einseitig) und tiefer sensorischer Benommenheit. Oft wechseln vaso- motorische Krampf- und Lähmungszustände miteinander ab. Das Körpergewicht ergibt für die ruhigen Schlussstadien eine Zunahme („Fettsucht" der Paralytiker).

Ueber die Temperatur Verhältnisse schwanken die Angaben. Scheidet man die Einzelfälle aus dem Sammelnamen der „Paralyse" genauer, so wird sich für die typischen Fälle keine dauernde Temperaturerhöhung ergeben accidentelle Zustände ausgenommen (vasomotorische Fluxionen, Coprostasen, Decubitus u. s. w.). Dieses Moment scheint mir so wichtig, dass ich darnach u. A. die reinen und andrerseits die modificirten (resp. im Verlauf sich durch encephalitische und leptomeningitische Aflectionen complicirenden) Fälle trennen möchte. Acute Hirnzufälle (Gonvulsionen) bringen Temperaturerhöhung. Bei vorgeschrittenen und in der Körper- ernährung sehr reducirten Kranken finden sich in den manischen Erregungs- zuständen (mit Neigung zum Sich-Entblössen und zur Unreinlichkeit) nicht selten starke Temperatur ab fälle bis zu 34 und 3u° C. Agonal sind bei marantischen Kranken Temperaturen sogar bis zu 22° C. beobachtet wor- den; gegentheils hier aber auch wieder neuroparalytische Steigerungen bis 42° C. und darüber.

Der Harn erleidet im Demenzstadium eine Abnahme im Volu- men und der absoluten Menge an Harnstoff und Chloriden, unter Zunahme des spec. Gewichts und vermehrter Neigung zur Alkales- cenz. Der Phosphor- und Schwefelsäuregehalt desselben steigt in der Periode des abnehmenden Körpergewichts trotz stärkerm Appetit und fehlender Temperaturerhöhung. Die Knochen, und darunter namentlich die Rippen, werden wohl in Folge des Verlustes von

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Die typische Paralyse.

Kalksalzen brüchiger und fracturiren leichter. Sehr häufig entstehen bei den „dyskrasischen" und allen mechanischen Schäd- lichkeiten sich aussetzenden Kranken Othämatome, sehr selten Rhinhämatome. Parenchymatöse Muskeldegenerationen mit Hämorrhagieen (im Transversus abd.) sind gleichfalls beob- achtet, wenn auch nur selten. Höchst interessant sind auch die (allerdings nicht häufigen) Blutaustritte in die Haut in der Form von Purpura, von grossen Blutblasen, von profusem Nasenbluten, von „Blutschwitzen" hinter dem Ohre, endlich von Decubitus acutus (trotz sorgsamster Reinlichkeitspflege). Auch Pemphigus acutus kommt vor. Hartnäckige Blasenkatarrhe mit pyelitischen Affectionen sind häufig, und meistens wohl die Folge von Urinretention. Etwas sel- tener, aber doch noch zahlreich genug, sind ausgedehnte Haut- Phlegmonen mit Neigung zu raschem brandigem Zerfall. Der Decubitus chronicus führt manchmal zu Knochen -Cari es, sogar mit contiguirender Entzündung der Rückenmarkshäute. Ganz besonders sind hier auch die häufigen Lungen hypostasen mit Entwicklung lobulär pneumonischer Herde zu erwähnen, welche oft sehr rapid sich entwickeln ein Symptom der nachlassenden Vagusinnervation der Lunge. Auch die Haut geht trophiscbe Veränderungen ein, indem sie in spätem Stadien oft trocken, spröde und leicht ab- schuppend wird. Das Haar ergraut leicht, oder nimmt eine ganz ungewöhnliche Farbennuance (Stich ins Grünliche) an; oft erscheint Canities praematura, theils allgemein, theils partiell. Der Puls ent- wickelt sich successive zu tarderm Charakter, übrigens ohne sphyg- mographische Specifität.

Klinisches Krankheitsbild.

Die ausserordentliche Mannigfaltigkeit der klinischen Bilder, na- mentlich auch nach Beginn und Verlauf, nöthigt zur getrennten Be- schreibung. Ich stelle das am meisten typische Bild voran. Das- selbe umfasst diejenigen Fälle, welche mit wesensgleicher Aetiologie denselben Beginn und einen in den Hauptsymptomen gleichen kli- nischen Verlauf zeigen, welche sich fast so ähnlich sind wie ein Ei dem andern; daran knüpfen sich dann die anderen Typen entweder als Modifikationen dieses ersten, oder als eigentliche Varietäten.

1. Typisches Bild. Manische Form. Der Beginn der Krankheit vollzieht sich still und geräuschlos in Form einer immer auffallenderen Charakteränderung, wie sie oben ge- zeichnet wurde. Der sonst gewissenhafte tüchtige Mann kommt etwas weniger gut mit seinen Berufsgeschäften zurecht; sein Gedächtniss

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Specielle Symptomatologie. Manwche Form.

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strauchelt; gewohnte, ja auffallenderweise sonst geläufigste Dinge voll- ziehen sich fUr ihn schwerer. Zugleich wird die Stimmung reizbarer; der geringste Widerspruch bringt ihn ausser sich, und entfesselt sofort eine zornige Wallung, in welcher der Kranke seine eigene Selbstachtung und zarte Herzensrttcksichten brüsk bei Seite setzt. Er wird heftig, ja roh, gegen seine Angehörigen, ungezogen gegen seine Vorgesetzten. Dabei ist intellectuell noch keine Einbusse zu bemerken, wenn man die zeitweiligen Gedächtnisspausen abrechnet; Urtheil und Wissen entfalten sich noch in der frühem Promptheit. Doch aber entdeckt der tiefere Blick einen Allgemein-Zug von Apathie, welcher sich über die geistige Persönlichkeit ausbreitet; der Kranke ist im Ganzen stumpfer geworden : weniger Initiative, geschwächtes Interesse, abnehmende FeinfUhligkeit und dies Alles, ohne dass der Kranke selbst es merkt. Er behauptet sogar gesunder wie je zu sein, und wird bei der leisesten Insinuation des Gegentheils aufgebracht. Die Stimmung ist heiter, nonchalant, oft duselig weinselig. Zwar fehlen bei manchen Kranken auch zeitweilige trübe Stunden nicht, in welchen sie ihren Defect gegenüber von früher fühlen, selbst vorübergehend Einsicht äussern; aber Das geht vorUber. Schlaflosigkeit und allerlei Missbehagen im Kopfe wird nicht lange schwer genommen, obwohl der Kopfschmerz nicht selten heftig ist. Dabei ist wiederum be- merkenswert!], dass Manche, welche in frühern Jahren oder jetzt, im Beginn, an heftiger Migraine gelitten, sich mit dem wirklichen Ein- tritt des verhängni 88 vollen Leidens erleichtert und schmerzfrei flihlen. Bedenklicher wird für die Umgebung der Zustand des Kranken, wenn die Gedächtnissdefecte, die Gemüthsschwäche, und die Verstösse gegen das Decorum auch gegenüber der Aussenwelt zu Tage treten, wenn der Kassenbeamte plötzlich seine Schlüssel stecken und ohne Wei- teres sich wieder zurückgeben lässt, oder wenn der bis dahin wür- dige Familienvater öffentliche Häuser ungenirt aufsucht, der feine Gesellschafter plötzlich Zoten auftischt und von alledem bei Vorhalt wiederum nichts merkt, sondern höchstens in affectvollem Proteste auf- fährt Nicht selten sind zu dieser Zeit schon leise motorische Defecte nachweisbar, vor Allem in der Sprache (Häsitiren, Silbenstolpern), in der Schrift (Wort- und Silben-Ellipsen); die vorgestreckte Zunge zittert (s. o.) ; ungleiche Gesichtsinnervation und vasomotorische Kopffluxio- nen intercurriren ; Pupillendifferenz tritt auf. Auch Conflicte mit der Polizei und ernstere mit dem Strafgesetz werfen oft genug die bang- sten Ahnungen und Schrecken schon in diese Periode.

Auf dieses einleitende richtiger erste Stadium der Krank- heit folgt nun in der Regel eine manische Episode. Diese spielt sich

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Die typische Paralyse.

gewöhnlich zuerst in Form einer Mania mitis ab, mit dem Gehoben- sein der Gesammtpersönlichkeit, dem gesteigerten Selbstgefühl, der Euphorie, der Plänesacht und Kauflust. Aber bald klärt der para- lytische Grössenwabn mit der Unendlichkeit des Inhalts, mit der schrankenlosesten (oft poetischen) Phantasie als vorstellender Form, und mit seiner absoluten Evidenz als Handlungsnorm des Kranken die Sachlage auch für die bis dahin ahnungslose Um- gebung. In der That hat der Kranke damit bereits die riesige Höhe der Bewusstseinsstörung beschritten; aus seinen Überschwenglich eu Projecten schaut dieselbe Grössendimension seines Blödsinns. Nicht selten werden in diesem Stadium Vermögen verschleudert, weil ja des erträumten Reich tbums kein Ende. Erschüttert in seinen erwor- benen Vorstellungsassociationen, unfähig für neue Perceptionen, dabei absolut kritiklos, verfällt er immer tiefer in seine deliranten Ideen. Tage und Wochen lang lebt er wachen Sinnes in der Welt seiner Phantasieen. Er verspielt sich dabei wie ein Kind, beglückt Über sein mit flitterhaften Fetzen drapirtes Costtlm, über seine ein- gesammelten Kleinodien. Anderemale bricht er in tagelange Zorn- tobsucht aus, wenn man seinen unsinnigen Begehren in den Weg tritt. Aber auch von selbst steigert sich die Mania mitis oft zur Mania gravis; mitten unter den Faseleien von Millionen und den stolzen Ausrufen seines Weltkaiserthums beschäftigt sich der Kranke mit sinnlosem Zerstören und Zerreissen, mit Schmieren und selbst Kothessen unter seiner Hand wandelt sich der hässlichste Schmutz in Gold und Leckereien. Dazwischen treten auch wieder lucidere Momente, und neben diese wiederum regellose Paroxysmen des heftig- sten Tobens und blinder convulsiver Gewaltthätigkeit. Die Stim- mung ist mit der Minute wechselnd: heiter und überglücklich, mit jedem Dritten sich verbrüdernd, wird sie in jähem Umschlag ge- bieterisch oder feindselig. Ebenso wechselt aber auch die Euphorie und das maasslose Selbstgefühl mit verzehrender Hypochondrie und Kleinheitswahn. Der „Gott" und „Kaiser" in einer Stunde ist in der folgenden oder am andern Tage ein fluchbeladener Sünder oder ein „armer Teufel" ; der „Uebergesunde" ein „rettungslos Kranker", ein „in seinen Organen Verfaulter". Treten in diesen Paroxysmen Hallucinationen auf, so nehmen diese in der Regel die Färbung der Beeinträchtigung an: die Kranken schmecken Aasgeruch und Gift in den Speisen, sie hören Schaffotandrohungen, sehen abgeschnittene Köpfe, und reagiren mit der Angst des Verzweifelten auf jede Be- gegnung mit den vermeintlichen Verfolgern. Man möchte einen epi- leptischen Grundzug im psychischen Gebahren dieser hallucinatorisch

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Specielle Symptomatologie. Manische Form. Verlauf. Remissionen. 361

aufgeregten Paralytiker durchfühlen. Homi- und Suicidium sind nicht selten, oft unerwartet raptusartig. Anderemale ziehen die wechselnd- sten Sinnestäuschungen wirkungslos an dem umdämmerten Bewusst- sein vorüber; die Kranken sind trotz ihrer rollenden Augen bald wieder zufrieden, und lassen sich durch jede leichte Version ablenken.

In gleichem Schritt haben in der Regel die motorischen Störungen mittlerweile zugenommen. Das Silbenstolpern ist stärker, die Mitaction der Mundmuskulatur bei den forcirten Sprach- intonationen zu einem begleitenden ataktischen Zittern geworden. Die beschriebenen Defecte in Schrift und Gang nehmen gleichfalls ihren charakteristischen fortschreitenden Decursus. Die Körper- ernährung reducirt sich unter der oft Tag und Nacht fortdauernden Aufregung, und der zeitweise geringen, oder ttberhastigen , oder mit allerlei Ingredienzien vermengten Nahrungsaufnahme. Bei Gift- wahn wird nicht selten das Essen vorübergehend ganz verweigert, an euphorischen Tagen dagegen maasslos hinabgeschlungen. Oft intercurriren vasomotorische Fluxionen; auch epileptiforme Anfälle können jetzt dazwischentreten.

Merkwürdig und klinisch beachtenswerth ist das nicht seltene zeit- liche Divergiren im Auftreten der specifischen psychischen Symptome (Grössenwahn-Exaltation) und der motorischen Zeichen. So gehen manch- mal die letztern längere Zeit voraus; in anderen Fällen ist das manische Grössenstadium schon in voller BlUthe, und man kann nur erst schwierig leise Sprachstörung oder Lippenataxie entdecken; speciell der „Gang" hält oft sehr lange untadelig Stand. In wieder anderen Fällen schreiten wieder beide Symptomen-Reihen pari passu voran.

Das manische Erregungsstadium selbst zeigt in Stärke und Dauer eine ausserordentliche Variation in den Einzelfällen. So sehr der Verlauf bis hierher einen oft bis in's Kleinste gleichen Symptomen- kreis zeigt, so vielfach differiren die weitern Schicksale. Es kann: 1. das manische Stadium in seiner milden Form überwiegen und nur vorübergehend sich zur Mania gravis steigern, aus welcher es dann in ein Schwächestadium abfällt. Dieses letztere kann als erste Etappe des definitiven Blödsinns dauernd werden, und gewöhnlich unter wiederholten manischen Nachschüben, schrittweise, zu den tiefern Schwächestufen vorschreiten; oder 2. es erfolgt aus dem postmanischen Blödsinn eine langsame psychische und motorische Erholung, welche sogar nicht selten eine Genesung vortäuschen und sich auf Monate und selbst Jahresfrist ausdehnen kann. Es sind dies die sogenannten Remissionen der Paralyse (s. u.), bei deren klinischer Beurtheilung stets zu erwägen ist, dass der Kranke eine empfindliche Einbusse durch den Anfall erlitten haben

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Die typische Paralyse.

kann, aber gleichwohl auch jetzt noch mit seinem Vermögen zu glänzen vermag, sofern er zuvor reich an natürlichem geistigen Capitale gewesen ; oder es kann 3. auf die Mania mitis oder gravis eine melancholische Phase folgen mit dem charakteristischen Klein- heitswahn, Selbstbesch'ädigungen, kindischer Hilflosigkeit, Nahrungs- verweigerung; beide genannte Phasen können in der Folge mit einander abwechseln (s. hypoch. Paralyse); oder endlich 4. es dauert die manische Exaltation Jahre lang in wechselnder Intensität fort, und geht beim Nachlass in das apathische Schlussstadium Uber. In letzterem Falle rückt in das manische Symptomenbild der Blödsinn schrittweise immer stärker herein: der Grössenwahn verliert seine poetische Race, und wird immer kindischer.

Bemerkenswerth ist, dass die Kranken oft auf Jahre dieselbe Zahlen- hyperbel, z. B. 80,000, beibehalten: sie sind 80,000 Jahre alt, haben Su,000 Bände geschrieben, besitzen 80,000 Länder und Orden u. s. w. (s. oben „manische Aphasie").

Endlich bleibt nur noch ein blöder Optimismus übrig. Die Vor- stellungsassociationen werden trümmerhaft, so dass nur noch Worte und dürftige Satzfragmente an einander gereiht werden; die Hand- lungen werden triebartig automatisch (Schmieren, Sammeln); endlich verlieren die motorischen Entäusserungen ihr psychisches Formge- präge ganz, und der Kranke gesticulirt nur in schleudernden und schlenkernden Bewegungen, ohne allen mimischen Ausdruck oder accomodirten Zweck automatischen Drahtpuppen ähnlich. Sprach- lich tritt allmählich sinnloses Vociferiren auf, mit allen möglichen und unmöglichen Modulationen der Stimme (s. o.). Complicirende epileptiforme oder apoplektiforme Anfälle sind als weitere Varietäten des Bildes längst und wiederholt dazwischen getreten (mit ihren oben beschriebenen Nachwirkungen) ; doch gibt es auch sehr viele klassische Paralysen ohne die genannten Insulte.

Das Schlussstadium ist das der definitiven und bleibenden psychischen und motorischen Lähmung. Der Kranke wird zum blödsinnig- apathischen Phlegma. Ohne Interesse, ohne Initiative, ohne erwärmendes Gefühl schrumpft er immer mehr zur vegetativen Maschine herab. Seine Tagesarbeit ist automatisches Sammeln, oder sonst eine plan- und ziellose Entäusserung : Abreiben der Wände, des Bodens, Zerzupfen von Kleidern u. s. w. Wird ihm entgegnet, so erwiedert er reflectorisch brutal. Doch glimmen ab und zu auch noch Fünkchen einer gemüthlichen Empfänglichkeit aus diesen aus- gebrannten geistigen Kratern auf: eine Weihnachtsbescheerung bringt ein freudiges Lächeln, oft die Thräne eines fühlenden Verständnisses

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Spec. Symptomatologie. Manische Form. Ausgänge.

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hervor. Für freundliche Aufmerksamkeiten belohnt nicht selten ein Druck der Hand. Motorisch ist der Kranke immer machtloser ge- worden; er fällt ohne Unterstützung um, und muss sorgsam wie ein Kind geleitet werden. Die Sprache ist zum anarthrischen Lallen ge- worden. Die Blase versagt ihren Dienst. Katarrhe melden sich. Pie Dysphagie gebietet sorgfältiges Ueberwachen der eingeflössten Nahrung, welche nur noch in vorsichtiger Verkleinerung, bald nur noch flüssig, beizubringen ist. Ab und zu rücken locale Paresen an, welche bald wieder vergehen, bald auch bleiben. Der Kranke ist so anästhetisch, dass er Wunden und Contusionen nicht mehr fühlt. Viele zerkratzen sich die Haut, bohren sich mit den Fingern am Auge, zerren am Penis bis zu groben Verletzungen. Decubitus stellt sich ein, selbst bei sorgsamster Reinlichkeit und Wechsel der Bett- lage (wenngleich eine genaue Beaufsichtigung, möglichst unter Druck- vermeidung der bedrohten Körperstellen, prophylaktisch Vieles ver- mag!). Immer mehr greift eine sich ausbreitende Vasoparalyse Platz, mit Kälte der Extremitäten, lividen Wangen, elendem Pulse, zeit- weiligem und endlich bleibendem Oedem der Füsse und abnehmen- der Körpertemperatur. Endlich erfolgt der einzig erlösende Tod; in der Regel entweder 1 . an Marasmus mit marantischer Thrombose ; oder 2. an Senkungs-Pneumonie, gewöhnlich mit lobulären Herden ; oder 3. an Convulsionen ; 4. an Delirium acutum; 5. an acuter Hirn- lähmung mit frappanten Temperaturanomalieen und den Symptomen des acuten Hydrocephalus internus; oder endlich 6. an acciden- tellen Krankheiten, unter welchen Pneumonie (selten Phthise), Pleu- ritis in Folge von Rippenbrüchen, Decubitus mit Septhaemie, Cystitis und Pyelitis, ausgedehnte gangränöse Hauptphlegmonen in erster Reihe stehen. Nicht selten sind auch Verschluckungen aus Dysphagie. Ueber „Genesungen" s. unten.

2. Klinisch-symptomcUologische Varietäten.

a) Das Krankheitsbild kann von Beginn an den oben geschilderten hypochondrisch deliranten Charakter annehmen, mit fehlenden, oder nur schwach angedeuteten (oft erst finalen) Grössenideen, andere- male aber mit abwechselndem typisch entwickeltem Exaltationsstadium.

a) Aus einer prodromalen Zerstreutheit und Vergesslichkeit, verbun- den mit reizbar affectivem Wesen, entwickelt sich eine ängstliche Ver- stimmung mit nihilistischen Wahnvorstellungen (der Körper ist vernäht, tu klein, ohne Ein- und Ausgangsöffnung, die Augen laufen aus; der Kranke hat Niemanden mehr, muss verhungern, bei lebendigem Leibe verwesen u. s. w.), mit ungleichen Pupillen, leichten Paresen im Gange und der Zunge, Zittern der Hände, schmerzhafter Hyperästhesie, ge- steigerter Reflexerregbarkeit. Der genannte Wahnkreis, verbunden mit

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Die typische Paralyse.

grenzenloser Depression und der Rathlosigkeit des jetzt schon manifesten Blödsinns, bleibt nun bestehen, und schreitet unter dem hypochondrisch- melancholischen Bilde, nicht selten in alternirendem Typus, weiter, mit immer universellerem Nihilismus, stupid ängstlichem Widerstreben, furcht- barer Angst (dass durch die Excremente das Leben und die Gedanken abgingen u. 8. w.) bis endlich unter geistigen und körperlichen Re- missionen nach und nach, oft auch rapid, ein Marasmus mit Vasoparese, oder Convulsionen , Decubitus, allgemeine Furunculose mit Pyämie, die Scene schliessen hypochondrische Paralyse. Dabei ist Deiner- kenswerth, dass manchmal die psychischen Lähmungserscheinungen von den motorischen und sensibeln ungleich Uberholt werden, so dass der körperlich schon ganz gebrochene und anästhetische Kranke noch Aber Familienverhältnisse zu sprechen und theilweise richtige Krankheitsein- sicht zu äussern vermag. Es gibt Fälle, in welchen während des Krank- heitsverlaufs eine vollständige Klarheit Uber die Entwicklung des Leidens erhalten bleibt

Oder aber ß) die hypochondrische Modification bildet einen Act, und zwar den ersten, des Dramas, schliesst mit einer Remission, und nach dieser setzt ein klassisches exaltirtes Grössenstadium ein. Dieses kann nun bis zu Ende bleiben, oder nochmals mit der hypochondrischen Form abwechseln (circuläre Paralyse).

In einer y) Modification endlich setzt die Krankheit mit einem Ver- folgungswahn mit Täuschungen aller Sinne (und den charakteristischen motorischen Zeichen) ein; im Verlauf baut sich auf die hallucinatorischen und illusorischen Missempfindungen eine umfassende (echt paralytisch ge- färbte) Hypochondrie auf, unter Fortdauer des Verfolgungswahnes und der Uallucinationen. Im Verlaufe schieben sich einzelne Züge von para- lytischem Grössenwahn ein, bleiben aber den hypochondrischen gegen- über — viel maassvoller, weniger fixirt, und wechseln mehr. Die Stim- mung ist vorwiegend eine verdrossene und unzufriedene, dabei wandelbar, leicht weinerlich ; das Gemtlth erhält sich in seinen frühem edeln Zügen und Regungen, selbst gegenüber den Anfechtungen der Sinnestäuschungen, auffallend geschont Das Gedächtniss dagegen zerfällt ganz; Personen- verwechslung. Die Willensäusserungen determiniren sich immer mehr auf das zähe Festhalten verkehrter Bestrebungen. Successiver geistiger Marasmus und Lähmung mit intercurrenten, manchmal ansehnlichen, Re- missionen.

b) Die Krankheit beginnt mit dem gewöhnlichen Prodromal- stadium der Zerstreutheit und reizbaren Verstimmtheit, wobei eine allgemeine geistige Schwäche prägnant im Vordergründe steht, mit Verlangsamung der intellectuellen Leistungen.

Dabei ist bemerkenswert!), dass ein verhältnismässig gesundes Urtheil, soweit es die gewöhnlichsten Verhältnisse betrifft, oft durch eine längere Zeit, sogar neben tiefen und groben „Schnitzern" im Denken, sich er- halten kann. Auch die GemUthsseite des Seelenlebens bleibt ganz im Gegensatze zum typischen Verhalten oft noch vergleichsweise lange conservirt, und behält neben der leichten Bestimmbarkeit und dem nn-

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Spec. Symptomatologie. Hypochondrische Paralyse; primär demente Form. 365

motivirten Wechsel der Stimmung (der kindischen Laune) ein grosses Wohlwollen und eine zarte Rücksicht bei, welche in wohlthuender Weise lange noch die ursprungliche Humanität des Kranken und den Adel seines Herzens erkennen lassen. Auch bei dieser Varietät können psychische Exaltationsphasen sich einschieben, aber doch nur in vergleichsweise be- scheidenem Maasse. Dies gilt namentlich vom Grössenwahne , welcher sich hier nur in sehr massige Höhen versteigt (reiche Heirath, ansehn- licher Güterbesitz), und bei entgegengehaltenen Vernunftgründen sich vor- übergehend, oft bis zur Tiefe der Wirklichkeit, ermässigen läset. Die Kranken benehmen sich auch ruhig und geordnet, fügen sich in die Haus- ordnung, sind zu Allem bereit, freundlich im Umgang, reinlich in der Kleidung, aber ganz ohne Interesse, nur die Andern gewähren lassend. Die Sprache ist gedehnt, langsam, stotternd; die Zunge zittert in charak- teristischer Weise und weicht seitlich ab; die Pupillen sind träge und ungleich, die Innervation des Gesichts hängend, der Stand der Beine ge- spreizt , der Gang unsicher, grosses Müdigkeitsgefllhl u. s. w. Die ma- nische Phase (wenn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann) vollzieht sich in einem unbestimmt wechselnden, kleinlichen und erfolg- losen Drängen und Streben, in einer gesteigerten Geschäftigkeit, wobei der Kranke tausenderlei unternimmt, aber nichts fertig bekommt, weil er Alles zerstreut, abspringend, unüberlegt, ungeschickt angeht. Viele brau- chen Stunden zur Erstellung ihrer bescheidenen Toilette, machen dasselbe Geschäft zehnmal des Tages, mustern täglich ihre Briefschaften, Effecten, arrangiren ebenso oft ihr Zimmer, behandeln jeden Gegenstand mit lächer- licher Aufmerksamkeit und Subtilität. Dazwischen kommen hypochon- drische Sorgen Uber jede Bagatelle, worüber sie dieselbe drangvolle Aengst- lichkeit äussern. Zu anderen Zeiten schieben sich Perioden von grösserer oder geringerer Hemmung und Aufhebung alles Geistigen ein : da stehen die Kranken lange auf Einem Flecke, starren ins Blaue, verharren halb angezogen in sonderbaren Attitüden, reagiren auf keinerlei Ansprache, lassen willenlos mit sich geschehen, was nöthig ist, oder leisten passiven gereizten Widerstand.

Rasch zunehmende Indolenz mit colossalen Verstössen gegen Anstand und Sitte (schamloses Sich - Entblössen auf offener Strasse, blödsinniges Stehlen n. s. w.), Parese in Armen und Beinen, in der Sprache ohne eigentlich ataktischen Charakter ist gleich im Beginn, oder sehr bald nachher, nachzuweisen. So schreitet der Zustand progressiv voran (in manchen Fällen ausserordentlich lang- sam), psychisch immer höhern Blödsinnsstufen, körperlich einer immer umfänglicheren Lähmung zusteuernd. Nicht so selten kann aber auch (und zwar vergleichsweise häufiger als in der typischen Pa- ralyse) eine namhafte Besserung mit theilweiser Krankheitseinsicht, und bedeutender Ueduction der Grössenideen eintreten, so dass der Kranke dieselben für gewöhnlich zu unterdrücken vermag.

Eine andere Verlaufsmodification dieser Unterart zeigt im Ganzen keinen psychischen Exaltationszustand ; namentlich fehlt jede specifische

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Die typische Paralyse.

Grössenidee; nur eine blödsinnige Euphorie das Gefühl eines glück- lichen Seins erhellt subjectiv die zunehmende geistige Umnachtung. Zeitweilige vasomotorische Krampf- resp. Lähmungszustände mit glühend heissem Kopfe (Temperatur bis 41°) und eiskalten Extremitäten inter- curriren; in anderen Fällen dagegen schieben sich (manchmal in perio- dischen Intervallen) Aufregungszustände ein mit Optimismus, oder auch mit delirantem Toben und Zerstören und tiefer Benommenheit des Be- wusstseins. Der Tod erfolgt unter den gewöhnlichen Ausgängen der Paralyse, worunter acute Hirnlähmung und Convulsionen, manchmal auch Apoplexieen, bevorzugt sind.

Nicht so selten täuscht der Anfangsverlauf dieser b) Variation eine Schwäche- Melancholie mit vager Verstimmung, weichlichem, thränen- bereitem Wesen und grosser Rathlosigkeit vor, während die moto- rischen Symptome vorerst verdeckt bleiben. Die Unfähigkeit leichte Briefe zu schreiben, einfache Zahlen zu addiren, Lapsus memoriae etc. lassen aber bald den Blödsinn aus dem Krankheitsbild herausschauen. Oft laufen stupid-manische Erregungszustände dazwischen, nach deren Abklingen jetzt erst die Parese auftritt und oft so rasch zunimmt, dass der nunmehr declarirte Paralytiker in wenigen Wochen dem letalen Ausgange entgegen galoppirt.

Nach acuten fieberhaften Krankheiten tritt manchmal ein acuter Blödsinn mit acuter Ataxie auf, welcher wieder in Heilung Ubergeht. Einen solchen Fall beobachtete ich im Nachstadium von Variola. Häufiger tritt nach Typhus, und zwar im vorgeschrittenen Reconvalescenzstadium, eine chronische „Paralyse" auf in der vorbeschriebenen modificirten klinischen Form: Gemüthsstumpfheit, Interesselosigkeit, Mangel an Initiative, kin- dische Pläne, welche nicht gerade hochgehen, aber doch im Missverbält- niss mit der Situation des Kranken stehen, Ungeschicklichkeit im Ge- schäfte, Verlust des Decorum, inhaltlose Geschäftigkeit, negirendes Ver- halten, hypochondrische und nihilistische Ideen (es gibt nichts in der Welt, weder Tag noch Nacht, Alles ist zu gross oder zu klein, zu eng oder zu weit, der Kranke hat keinen Kopf, keine Augen u. s. w.); Zerfall der Ernährung. Die motorischen (paralytischen) Symptome treten erst spat, manchmal sogar erst ganz am Schluss des Krankheitsverlaufs ein (ge- spreizter Gang, langsame und undeutliche Sprache, Zittern der Zunge, fliegende partielle Muskelkrämpfe, Blasen- und Mastdarm-Paresen). Auf- fallend ist in manchen Fällen die lange Erhaltung des Gedächtnisses. Auch viele der schwereren Kopf-Trauma-Psychosen wandeln das geschil- derte Krankheitsbild ab (s. auch die Psychosen nach Kohlenoxydvergiftung und Strangulation, unter der primären acuten Dementia S. 228).

3. Varietäten im klinischen Verlauf. a) Der Krankheitsbeginn kann statt des stillen und geräusch- losen Prodromalstadiums mit sehr ausgesprochenen vasomotori- schen Attaken Fluxionen zum Kopfe mit apoplektiformen Anfällen, heftigem Kopfweh, Aphasia fugax, Zufallen der Ohren;

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Spec. Symptomatologie. Varietäten im klinischen Verlauf. 367

oder mit vasomotorischem Gefässkrampf (Eiseskälte der Extremitäten, Ohnmachtsanwandlungen) - einsetzen, woran sich direct das manische Grössenstadium anschliesst. In einer Anzahl von Fällen gehen gewisse motorische Symptome (Sprachhemmungen) den psychi- schen längere Zeit voraus; doch dürfte für die genauere Beobach- tung hierbei eine, wenn auch noch so leise, psychische Schwäche (Gedächtnissdefect) nie fehlen.

In einem Falle meiner Beobachtung trat ohne alle und jede Vor- zeichen ein plötzliches Starrwerden des bis dahin gesunden Mannes auf, so dass derselbe den Löffel nicht mehr aus der Suppe zu heben ver- mochte, und erst durch Bestreichen mit Essig wieder zu sich und zu der Empfindung kam, als ob er aus einem schweren Schlafe erwacht sei. Darauf einige Tage volle Componirtheit ; nachher zunehmende Reizbarkeit, dann Plänesucht, und jetzt erst leiser Beginn der motorischen Störungen.

Dieser Varietät steht eine andere gegenüber, die sog. Lunier-Bail- larger'sche Paralyse, in welcher das ausgesprochene psychische Bild die Scene eröffnet, mit kaum schwacher Andeutung motorischer Symptome (in der Sprache), und erst allmählichem Einrücken der charakteristischen Bewegungsstörungen.

b) Der Anfang der conclamirten Paralyse erfolgt nicht als selbst- ständige und erste Erkrankung, sondern als Folgestadium einer vorausgegangenen andern Psychose, entweder direct oder mit zwischenliegendem längeren oder kürzeren euphorischen Inter- valle. Die vorausgegangene Psychose kann dabei entweder 1. keine Andeutung auf die nachfolgende Paralyse enthalten; oder aber 2. es finden sich bereits Anfangs leise motorische Symptome (Pupillenungleichheit, unsicherer Stand auf den Beinen, leises Schwan- ken beim Aufstehen, aber intacte Sprache!).

Als solche einleitende Acte des spätem definitiven Dramas sind be- obachtet: Manie, hypochondrische Melancholie mit grosser psychischer Reizbarkeit, Verfolguugswalinsinn. Ich beobachtete in demselben Verlaufs- zusammenbang auch initiale Melancholie mit grosser Indifferenz und einer bis zur schmerzlichsten Verzweiflung gehenden Rathlosigkeit bei jeder Leistungsansprache, und leisen motorischen Symptomen ; darauf folgte eine psychische Reconvalescenz von mehrern Monaten, wobei nur die Pupillen- differenz blieb; dann Rückfall von Melancholie, aber jetzt mit ganz stu- pidem Charakter und heftigstem Selbstmorddrang, mit denselben immer noch schwach ausgeprägten motorischen Begleitzeichen. Nun abermalige vollständige Erholung von fast einem Jahre. Darauf Ausbruch einer ma- nischen Paralyse mit Grössenwahn und galoppirendem Verlauf.

c) Der Verlauf kann ein auf viele Jahre langgestreckter, oder gegentheils kurzer sein (mehrere Monate). In letzterm Falle können Convulsionen (als Ursache) dazwischen treten, oder aber complicirende acute Hirnzufälle (Hämatome); oder: es steigert sich

368

Die typische Paralyse.

die manische Erregung in das Delirium acutum; oder endlich: der gesammte Paralyseprocess entwickelt sich zum galoppirenden Ver- lauf (durch acute Leptomeningitis , s. Cerebropath.) , oder scbliesst durch einen rapiden Marasmus ab.

d) Es kann nach einem anfänglichen länger oder kürzer (einige Wochen resp. Monate) dauernden Grössenwahnsinnsstadium mit den charakteristischen motorischen Störungen in der Sprache, in der mimischen Innervation, in der Pupille u. s. w., ein successiver Nach- laB8 der Erscheinungen folgen, mit Rückkehr in einen geistigen Normalzustand (s. u.), welcher nicht selten sogar Krankheitseinsicht aufweist

Derselbe unterscheidet sich aber von der tadellosen Gesundheit intellectuell durch eine wenn auch oft nur leise geistige Müdigkeit, durch rasche Erschöpf barkeit, durch die fortdauernde Neigung des Re- convalescenten seine Verhältnisse, Kräfte und Kenntnisse, wenn auch io bescheidenem Maasse, zu überschätzen; gemüthlich durch Oberfläch- lichkeit und leichtere Beweglichkeit, oft durch eine rührselige Stimmungs- weichheit; charakterologisch durch Minderung der Männlichkeit, der Gesetztheit im Benehmen und Auftreten. Sprachstörungen können in ge- mindertem Grade dabei fortdauern in einem meiner neueren Fälle blieb eine beiderseitige Myosis persistent aber in ganz seltenen Fällen nach und nach gleichfalls verschwinden. Das sind die geheilten Paralysen, welche sich bis jetzt erst auf sehr vereinzelte Beobachtun- gen beschränken, gleichwohl aber wenigstens die Möglichkeit einer Restitutio bezeugen.

In beschränkterm Grade erfolgt die Rückbildung der Krank- heitssymptome nicht so selten und zwar in den verschiedensten Epochen des Verlaufs, gewöhnlich nach der Initial - Manie ; aber selbst noch manchmal nach der viel spätem Nihilismus - Periode. Die Kranken bleiben in einem ruhigen Schwachsinnszustand, meist mit depressiver Stimmung und einem eigensinnig reizbaren Wesen; arbeiten sich aber unter günstigen Verhältnissen noch weiter zu einem ruhigen gelassenen Benehmen mit beschränkter Krankheits- einsicht und Leistungsfähigkeit in ihrem Berufe hinauf. Das sind die sog. lucida Intervalla der Paralyse. Dieselben stellen keine eigentlichen Intermissionen, sondern nur Remissionen der Krankheit dar.

Der Kranke ist während derselben nicht als gesund, und forens nicht als imputationsffihig zu betrachten. Diese Remissionen sind nicht immer leicht zu erkennen, namenlich dann nicht, wenn die initiale Manie nur das „paralytische" Gepräge im Allgemeinen, nicht aber zugleich auch die charakteristischen Bewegungsstörungen dargeboten hatte.

Die Verlaufsdauer des paralystischen Processes ist eine ver- schiedene. Nach ziemlich übereinstimmenden Beobachtungen ist sie

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Spec. Symptomatologie. Lucida iutervalla. Verlauf. - Pathol. Anatomie. 369

überwiegend in die Frist der ersten zwei bis drei Jabre einge- schlossen. Es gibt aber auch Fälle von 5 6jähriger Dauer, sowie gegentbeils andere von nur mebrmonatlicbem Verlauf (s. o. und unter „modificirter Paralyse").

Selbstverständlich spielen in der Krankheitsdauer, ausser inter- currenten innern Erkrankungen oder möglichen UnglUcksereignissen, auch die von der Cerebralaffection selbst bedingten Zufälle eine grosse Rolle (apoplektiforme und epileptoide Convulsionen).

Pathologische Anatomie.

a) Makroskopisch.

1. Verdickung des Schädels Hyperostose, theils allgemein, theils vorwiegend die Glastafel betreffend, hier oft in Form warziger Osteophyten mit reicher Canalisirung; an der Schädelbasis dagegen sehr oft osteoporotischer Schwund (durch Druck des Schädelinhaltsj.

Die Dura ist fast regelmässig verdickt und fest mit dem Schädel- dach verwachsen, oft so, dass sie nicht mehr, oder nur mit Zerreissung, gelöst werden kann. Die Innenfläche ist theils intact, glatt und glänzend, theils aber auch mit aufgelagerten zarten fibrinösen oder rosigen Häut- chen streckenweise belegt.

2. Diffuse Trübung und Verdickung der Leptomenin- gen, ausgehend von der Umgebung der Gefässe, meistens ohne Adhä- sionen an die unterliegende Corticalis, oder letzteres nur auf kleinere herd- weise umschriebene Strecken. Manchmal finden sich in der Pia entweder oberflächlich, oder in das Gewebe eingeschlossen, knötchenförmige An- häufungen von Epithelzellen (Epithelgranulationen). In den weissen oder weiss-gelblichen Verdickungen sind manchmal kleine Stecknadel- bis hirse- ko rüg rosse Herdchen von derber Consistenz eingesprengt. Die verdickte, in toto oft milchglasartig transparente Pia ist den unterliegenden atrophischen Windungspartieen entsprechend fast ausnahmslos zu- gleich der Sitz eines mehr minder hochgradigen Oedems. Die Piaaffection betrifft vorwiegend Stirnhirn (oft mit Uebertritt auf die Orbitalfläche), Centraiwindungen, meist auch noch iuclus. der obern Parietalwindung und der ersten Temporal windung; die übrigen Windungen des Scheitel- und Hinterlappeus, sowie des Temporallappeus, sind in der Regel mit einer zarten Pia bekleidet. In den Anfangsstadien überwiegt der activ congestive Zustand der weichen Häute : in den spätem Stadien, und mit Zunahme der Trübungen, wird die Blutfülle geringer und vorwiegend venös, oft mit geschlängelten dicken Venen durchzogen.

3. Atrophie des Gehirns (in vorgerücktem Stadien) und zwar in überwiegender Häufigkeit nur in dem Bereich der eben beschriebenen Piaverdickuugen: Stirnhirn und Central Windungen sammt oberer Tem- poral- und Scheitelwindung bieten die für Atrophie beanspruchten Cha- raktere der Verschmälerung, Kammverschärfung, Kerbung der betreffen- den Gyri mit entsprechender Verbreiterung der Sulci. Treffen damit Einsiukungen der in ihrem Volumen reducirten Gyri unter das Niveau der Übrigen zusammen, so entstehen umschriebene, mit Piaödem ausge-

Schftle, GeusUwkrankheitea. 3. Aull. 21

370

Die typische Paralyse.

glichene Parencephalieen. Sehr häufig ist eine Hemisphäre atrophischer als die andere ; oft sind einzelne Windungen oder Windungspartieen in auszeichnendem Grade betroffen (klinisch topographisch wichtig !). Atro- phie der übrigen Windungen der Convexität kommt auch vor, aber ver- gleichsweise selten, und nie so bevorzugt, als die der genannten, vorzugs- weise das Pyramidengebiet umfassenden Partieen. Manchmal finden sich in der Rinde kleine Cystchen. In einzelnen Fällen ist die Rinde dünn und weich, und lässt sich ganz oder schichtenweise von der verhär- teten Marksubstanz abheben. (Bai 11 arg er, Rey.) Das Gewicht des Gehirns kann von 1350 (bei Männern resp. 1200 bei Frauen) bis auf 1200 resp. 1000 herabsinken. Als Folgezustand der Stabkranz- atrophie findet sich in den Endstadien regelmässig Erweiterung der Ventrikel mit Hydrocephalus internus, und sehr gewöhnlich auch Granuli rung des Ependym's (oft chagrinartig und reibeisen- förmig wie eine „Katzenzunge"). Die Plexus sind nicht selten cystös, manchmal psammomatös, entartet.

4. Myelitis bald total, bald nur in den Hinterseitensträngen, bald auch noch in Verbindung mit Myelitis des grauen Kerns. Auch graue Degeneration. der Hinterstränge wird hie und da beobachtet. Sehr oft ist Leptomeningitis spinalis zugegen. Was die Beziehung der spi- nalen zur cerebralen Affection anlangt, so ist hier ein allgemeiner Modus nicht festzustellen; wahrscheinlich sind es zum grössten T heile se- cundäre Degenerationen von bestimmten cerebralen Ernährungscentren aus, welche durch den Paralyseprocess in Ausfall gekommen sind; viel- leicht dürfte man an die Ausschaltung der psychomotorischen Rinden- centren denken, obwohl der Nachweis der Körnchenzellen bis über die Basalgangl ien hinauf noch nicht gelungen ist. Zum anderen Theil sind aber zweifellos auch idiopathische Spinalprocesse im Spiel, und zwar sowohl secundäre (von den Leptomeningitiden ausgehend), als auch pri- märe, in Form chronisch myelitischer Herderkrankungen mit secundarer Entartung durch Leitungsunterbrechung.

b) Mikroskopisch.

Die Veränderungen in der Corticalis betreffen in den verschiedenen Stadien, speciell in den Schlussstadien: 1. die Gefässe; 2. die Gan- glien und feinsten markhaltigen Nervenfasern; 3. die Giia-

u> Anfangsstadien der Krankheit und Krankheitshöhe:

1. Die Gefässe: a) Hyperämie; und zwar betrifft die Blutfillle vorzugsweise die Innenzone der Corticalis; b) Erweiterung des Gefäas- lumens, bald allgemein, bald umschrieben als aneurysmatische Verände- rungen des Gefäs8rohre8; c) Verdickung der Gefässwände mit bestäubtem oder aber opakem Aussehen, nicht selten mit Beeinträchtigung des Ge- fässlumens; d) Vermehruug der Gefässkerne, Durchsetzung des Gefass- rohres mit Rundzellen (eingewanderten Leukocyten?) mit nachfolgender theils fettiger, theils colloider, theils pigmentöser Umwandlung.

2. Die L y m p h b a h n e n sind mit Leukocyten und vereinzelten rothen Blutkörperchen, sehr oft auch mit Hämatoidinkugeln , mehr oder weniger angefüllt und überfüllt; so namentlich an den Theilungsstellen resp. Astwinkeln der Gefässe. Es ist zu bemerken, dass nicht alle

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Pathologische Anatomie. Mikroskopische Befunde. 371

Corticalispartieen die beschriebenen mikroskopischen Veränderungen zei- gen, und auch nicht gleichmässig; neben stark veränderten Stellen finden sich angrenzend viel weniger afficirte, selbst anscheinend normale. Am stärksten ergriffen erweisen sich in der Regel die Stirn- und Centrai- windungen.

ß) In den Endstadien der Krankheit zeigen sich die histo- logischen Weiterentwicklungen dieser eben beschriebenen Befunde:

a) Anämie der Gefässe durch Beeinträchtigung des Lumens in Folge von Gefässwandprocessen und interstitiellen sklerosirenden Gliavorgängen;

b) Verengerung der Gefässlumina durch Ilypertrophirung der Ge- fässwand, partielle Gefässobliteration in Folge von fibrillärer Entartung und colloiden Embolieen; umschriebene oder ausgedehntere fettige und pigmentöse Degenerationen der protoplasmatischen Gefässröhren und der eingelagerten Rundzellen (Fettkörnchen -Kugeln; jedoch erst in den tie- feren Hirnpartieen und von da an nach abwärts vorkommend);

c) hochgradige Erweiterung der Lymphbahnen bis zu klaffenden Lücken (etat crible\); in weiter gediehenen Fällen mit Folgewirkung auf das Corticalispareuchym, in welchem sich durch die Lymphstauung stellen- weise ein grobporöses Maschenwerk (löcherigem Käse vergleichbar) bildet, welches oft bis zu makroskopisch wahrnehmbaren Cystchen sich erweitert mit eingespannten Septa; daneben Druckrarefaction der Hirnsubstanz;

d) zunehmeuder Belag mit Pinselzellen ; Vergrösserung der Saftzellen mit protagonartiger Umwandlung des Inhalts. In den letzten Endstadien Schrumpfung der Spinnenzellen mit derber und glänzender werdendem Contour und Fortsätzen;

e) die Ganglien zeigen alle Bilder des molekularen Zerfalls und der Schrumpfung: Untergang des Kernkörperchens, bestäubtes Aussehen, pig- mentöse und schollige Entartung, Sklerosirung, Vacuolenbildung. Die markhaltigen feinsten Nervenfasern der Rinde schwinden schon in früheren Stadien der Krankheit, und zunehmend mit deren Fortschritt (Tuczek).

Die G 1 i a zeigt in den Anfangsstadien der typischen Paralyse keine Aenderung. Später wandelt sie sich um in eine homogene, mattglänzende Masse, mit Untergang der lichtbrechenden, molekulären KUgelchen (Ver- mehrung der Kittsubstanz, Untergang des höher organisirten Eiweiss- stoffes). Die homogene Grundmasse kann sich in Fasern zerspalten und der Glia stellenweise ein filzartiges Ansehen geben. Auch die Arach- niden können in den Endstadien des paralytischen Hirnschwunds eine sichtliche Vermehrung erreichen; daneben finden sich in der Regel zahl- reiche Kerne mit geringer Protoplasmaschicht (ausgewanderte Leuko- cyten?). Vielleicht reichen die gegen Schluss immer zahlreicheren Amy- loidkörper auf denselben Ursprung zurück.

Einzelnemale ist „colloide" Degeneration der Corticalis (Glia und feinste Gefässe) beobachtet worden, vornehmlich in der hypochondrischen Paralyse ; auch graue Degeneration resp. Sklerose des subcorticalen Mark- streifens (Meschede, Tuczek).

Die beschriebenen Veränderungen des Markschwundes der Nerven- fasern mit Einstreuung von Körnchenzellen, Amyloidkugeln, Verdickung und Sklerosirung der Gefässe und der Glia lässt sich auch durch die Marklager des Grosshirns in den Linsenkern (StreifenhUgel), und durch

2i*

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Die typische Paralyse.

HirD8chenkel und die Pyramidenbahn nach abwärts in das Rückenmark verfolgen.

Im Kleinhirn ist Sklerosirung der Purkinje'schen Zellen beob- achtet worden.

Im Rückenmark findet sich gewöhnlich Myelitis der Seiten- und Hiuterstränge in wechselnder Ausdehnung und Configuration ; es kommen die Bilder der abwärts steigenden Degeneration, der primären Myelitis und der consecutiven aus Leptomeningitis, bald rein, bald gemischt, bald strangweise, bald mehr unregelmässig localisirt vor (s. auch „tabische Paralyse").

Peripher vorgefundene Veränderungen sind nicht constant. Ver- fettung des Herzmuskels, Hämatombildung in Stammmuskeln wird gelegent- lich beobachtet.

Versuchen wir aus den reichhaltigen pathologisch -anatomischen Befunden diejenigen Thatsachen zu resumiren, welche zu einer ab- schliessenden Diagnose und im Weiteren (mit den klinischen) zu einer nosologischen Charakteristik der Paralyse (in ihrer klassischen Form) zu verwerthen sind, so begegnen wir: makro- skopisch einer chronischen Ernährungsstörung des Gehirns und theilweise auch des Rückenmarks mit Ausgang in Atrophie und mit (secundärer) Betheiligung der Hirnhäute; mikroskopisch in den Endstadien des vollentwickelten Leidens einem Schwund der corti- calen Ganglienkörper und der Associationsfasern, zugleich mit Dege- neration der Gefasse und (secundärer) Umwandlung bezw. Vermehrung der gliösen Elemente.

Nehmen wir die klinischen Thatsachen und die Momente aus der Aetiologie und Biologie zur Vervollständigung noch hinzu, so charakterisirt sich der Paralyseprocess klinisch und ätiologisch als eine auf der Lebenshöhe des Individuums sich vollziehende früh- zeitige Involution, und zwar eines Uberreizten, functionell turges- cirenden Gehirns; anatomisch als ein allgemeiner Atrophirungs- Vorgang, speciell der Rinde, und zwar in bestimmten Abschnitten des Grosshirns, mit Zerfall der Nervenelemente, secundärer Gliaverdich- tung, den Residuen stattgehabter Fluxionen und Lymphstauungen im Gehirn und in den Häuten.

Man hat sich gewöhnt für alle diese Befunde summarisch die Bezeichnung einer „Periencephalitis chronica diffusa" einzuführen, ist aber den Beweis schuldig geblieben, dass es sich um eine primär entzündliche Natur des anatomischen Processes handelt

Geht man vorurteilslos an die Analyse der Befunde und zwar aus den entscheidenden Anfangs- und Höhestadien der Krankheit, so vermag man nur 1. einen congestiven Zustand der Hirnrinde, und 2. die Zeichen einer mehr oder minder vorgeschrittenen Atrophie

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Versuch einer Nosologie.

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der nervösen Elemente zu erkennen. Eigentliche Reizungs Vorgänge an diesen und an der Glia sind nicht vorhanden, oder nur bei in- dividuellen Complicationen. Die Degeneration der Ganglien, der Schwund der Nervenfasern, die histologische Umwandlung der Zwi- schensubstanz unterscheiden sich nicht wesentlich von den Involutions- vorgängen des senilen Gehirns, welche wir auch nicht als entzünd- liche auffassen. Die Verdickung und Trübung der Pia kann ganz gut als Folge der chronischen Hyperämieen und der Lymphstauungen erklärt werden, ohne dass man eine primäre chronische „Meningitis" zu unterschieben nöthig bat, wogegen auch die klinischen Zeichen (Temperatur) Bedenken erheben, noch mehr aber die makroskopische Thatsache, dass gar nicht selten jeder gewichtigere Befund an den Meningen überhaupt fehlt, trotz zweifelloser typischer Paralyse.

Für einen Theil von Fällen dürfen wir nach dem Sections- ergebniss direct die Einreihung unter die senil-atrophischen Zustände beanspruchen. Sie repräsentiren ein Senium praecox in den Jahren cerebraler Vollkraft; bei diesen erscheint die Paralyse als eine kli- nische Form der Degenerescenz, wozu oft genug die Keime in allerlei anomalen charakterologischen Eigenschaften schon im Vorleben vor- handen waren. Ein anderer, und zwar grösserer, Theil von Para- lysen lässt aber eine schlechthinnige Vermischung mit den Alters- Involutionen nicht zu. Bei diesen ist in allen Stadien des Leidens eine Betheiligung des Gefässsystems in Form einer starken Con- gestionirung mit Dilatation der kleinsten Gefässröhren, und zuneh- mend (in den spätem Stadien) einer Ueberschwemmung der subadven- titialen Lymph räume, neben Degeneration der Gefässwandung, nach- zuweisen. Für die genannte Gruppe muss deshalb neben dem atro- phirenden Nerven- Vorgang auch noch dieser erheblich congestive berücksichtigt d. h. eingerechnet werden. Beide stehen ausserdem auch noch in zeitlichem Zusammenhang die fluxionären Zustände leiten die Krankheit ein und höchst wahrscheinlich in einem noch viel wichtigeren causalen. Der abnorme Congestivzustand des Gehirns führt consecutiv zu der Ernährungsstörung, welche in Atro- phie ausgeht. Soweit bewegt sich die Epikrise ganz auf dem Boden der nekroskopischen und klinischen Thatsacben. Nun gibt uns aber die mikroskopische Untersuchung noch einen Befund an die Hand, welcher vielleicht auf die tiefere Ursache hinweist, wodurch jene anfängliche Congestion zu einer dauernden, und so pernieiösen, wird. Dieser Befund bezieht sich auf die veränderten optischen Eigenschaften der Gefässröhren (bestäubtes hyalines Aussehen), mit den nie fehlenden massenhaften Diapedesen weisser und ebenso auch

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Die typische Paralyse.

rother Blutzellen. Es ist vorerst noch Hypothese, welche aber m. E. volle Berechtigung hat, wenn ich aus dem erwähnten Befunde auf eine abnorme Beschaffenheit der feinsten Gefässröhren schliesse, und in dieser die Ursache für die Störung der Exosmose, und im Weiteren für die Verstopfung der Lymphräume durch aus- gewanderte Blutelemente mithin das physiologische Mittelglied für den Congestions- und speciell Degenerationsvorgang erkenne.*)

Die Einbeziehung einer krankhaften Wandbeschaffenheit der Gefässe sei sie angeboren oder erworben führt uns nun einen Schritt tiefer zur allerdings gleichfalls erst hypothetisch möglichen nosologischen Erfassung des Paralyseprocesses. Die klassische Paralyse, sagten wir oben, ist das Senium praecox eines abnorm veranlagten, oder aber Uberleisteten Gehirns. Diese Definition lautet jetzt: der paralytische Vorgang stellt in Form eines geschlossenen klinischen Bildes die Reactionsweise eines absterbenden Gehirnlebens dar, und zwar als Effect einer Schädigung in der physiologisch- chemischen Function derGefäss-Protoplasmarohren, mit nachfolgender lnanition und endlichem Untergang des Organs. Diese Invalidität resp. Vulnerabilität der Gefässwände bildet m. E. den letzten und eigentlichen Ausdruck für die vereinigten ätiologischen, klinischen und anatomischen Ergebnisse; in ihr erkenne ich bei den hereditären Fällen die präexistirende (physiologische) Grundlage, bei den andern die erworbene (pathologischej für eine widerstandlos zum Zerfall neigende Hirnorganisation ; nach beiden Richtungen aber den genetischen Ausgangspunkt für die deletäre Gestaltung der fluxio- uären Hirnprocesse, speciell für die frühzeitige Involution. Die hohe Wichtigkeit einer anomalen Sympathicusthätigkeit in ihrer Folge- wirkung auf die wechselnde Hyperämisiruug des cerebralen Gefäss- gebiets, und dadurch zugleich auf die histologische Textur der (sehr empfindlichen) Gefässwand selbst, werden uns auf derselben Grund- lage jetzt verständlich (Tgl. die Experimente von Cohnheim).

Nosologisch möchte ich darnach den Paralyseprocess definiren als: „eine perniciöse Neurose der psychischen und psychomotorischen Hirnpartieen (Carotidcn- Ernährungsgebiet), welche auf einer ange- borneu oder erworbenen Vulnerabilität der intracerebralen Gefäss- wände, ätiologisch auf einer fluxionären Hirntiberleistung beruht (nach beiden Seiten durch anormale Thätigkeit des Hals-Sympathicus

♦) Sehr interessant sind in dieser Beziehung die Experimente Mendol's, welcher Huude durch wochenlang fortgesetzte Drehbewegungen (Hirncongestio- nirung) künstlich „paralytisch" machte.

Paralyse der Frauen.

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begünstigt und unterhalten), und anatomisch fast ausnahmslos den degenerativen Zerfall des Hirnorgans mit sich führt."

Die Paralyse der Frauen darf, obwohl vielfach bezweifelt, als ein sicheres klinisches Vorkommniss bezeichnet werden. Nur ist sie zweifellos . sehr viel seltener als bei den Männern, 1:7; nach meinen Beobachtungen des letzten Decenninms steht sie in einem noch viel kleinern Procentsatz. Ihre Hauptziffer fällt auf eine spä- tere Lebensepoche als beim Mann (10— 50 Jahre); auch in der Aus- wahl der Bevölkerungsschicht ist sie von der männlichen Paralyse verschieden, indem sie sich vorzugsweise aus den ärmeren Klassen recrutirt, während jene bekanntlich die besser situirten heimsucht. Unter den Ursachen sind, wie bei jenen, congestionirende Hirn- erschöpfungen ("sexuelle Excesse) aufzuführen, sodann Kampf ums Dasein (Kummer, Sorge), und ganz besonders die Wirkungen des Climacteriums oder der Menstrualstörungen.

Das klinische Bild ist im Wesentlichen dasselbe wie bei Män- nern, zeigt aber in der Regel Modifikationen. Diese bestehen vor Allem darin, dass, entgegen der massgebenden manischen Paralyseform bei männlichen Kranken, hier die ruhige Demenz mit den verblassten oder nur zu bescheidener Höhe sich versteigenden Grössenideen den leiten- den Typus darstellt. An Steile des verzehrenden Feuers in den phan- tastischen Conceptionen ist hier mehr die stille Gluth getreten; die Un- endlichkeitsformel, welche beim männlichen Grössenwahn das Universum umspannte und in multiplicatorischen, immer weitern Kreisen sich bewegte, ist hier zur blöden Euphorie ermässigt, welche im glücklichen Sein, in schönen Kleidern, vielen Kindern, herrlicher Gesundheit u. s. w. sich be- gnügt. Doch gibt es auch einzelne Fälle mit Annäherungen an den ersteren (männlichen) Typus; aber sie bilden die Ausnahme; ganz erreicht wird die Phantasiekraft der männlichen Leistungen, wenigstens nach meinen Beobachtungen, nicht. Dementsprechend ist auch der Verlauf ein ver- gleichsweise milderer, lange nicht so turbulenter, wie bei den Männern; es kommen wohl auch manische Phasen vor, aber viel moderirter in der Stärke und kürzer in der Dauer. Der Verlauf ist überhaupt pro- trahirter; während er sich dort in 3 Jahren durchschnittlich abspielt, ist hier die annähernd doppelte Dauer die Regel. Die motorischen Stö- rungen sind im Wesentlichen dieselben; doch Uberwiegt der paralytische Charakter Uber den convulsiv-ataktischen. Remissionen sind im Ganzen seltener, ebenso aber auch die epileptoiden und paralytischen Anfälle, wiewohl diese nicht immer fehlen. Ganz selten werden dieselben im An- fangsstadium getroffen; die „congestive" Form (s. d.) ist deshalb aus der Frauenparalyse auszuscheiden. Auch die Hallucinationen sind seltener als in der männlichen Paralyse. Krankheitsbild und Verlauf tragen den Charakter eines mehr minder geräuschlos sich vollziehenden verfrühten Seniums, welchem aber (klinisch und autoptisch) der gemässigte Uuxionäre Charakter erhalten bleibt.

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Die typische Paralyse.

Therapie.

Ein Specificum gegen diese höchst gefährliche trophische Neurose eines in der biologischen Turgescenzperiode begriffenen, aber durch Ueberconsumption erschöpften Gehirnlebens gibt es bis heute nicht; auch kein Abortivum. Gleichwohl bleibt es eine hochwichtige Auf- gabe unentwegt den Kampf gegen dieses furchtbare (in statistischer Zunahme begriffene) Leiden, welches die Geisel unserer Zeit ist, auf- zunehmen. Dies kann aber wirksam nur in den Anfangsstadien geschehen; daher die Wichtigkeit einer genügend frühzeitigen Dia- gnose! Die Indication ist: tonisiren ohne zu reizen, die cerebrale vasomotorische Affection, ev. den fluxionären Hirnzustand bekämpfen.

Das wichtigste Curerforderniss ist Ruhe. Der beginnende Para- lytiker werde sofort aus seiner beruflichen Thätigkeit enthoben, und ungesäumt einem Asyle übergeben. Am besten eignen sich dafür die ländlich gelegenen, in welchen bei der nöth igen Isolirtheit auch die Gelegenheit zu vieler Bewegung in freier Luft ev. Gartenarbeiten gegeben ist. Neben der Ruhe und einem sorgfältig regulirten Tages- lauf, mit Abhaltung aller emotiven Einwirkungen, werde eine kräftige, aber milde und reizlose Diät eingehalten. Dazu passt ein mildes hydriatisches Verfahren mit Vermeidung von Kopfdouchen, Verbot des Rauchens und der Alcoholica (letztere höchstens bei körperlich Geschwächten in medicinischen Dosen zulässig), Vorsicht gegen Son- nenhitze; Regulirung des Schlafs. Peinliche Abhaltung aller soma- tischen und psychischen Reize muss der Grundzug der Behandlung sein.

Die speci eilen Indicationen richten sich nach dem Einzelfall. Ist Neigung zu activen Fluxionen vorhanden, so werde diese sorg- samst bekämpft: Bettruhe, blande Diät, Derivantien, Eis, Bäder mit Umschlägen, Fussbäder, zeitweilige Blutegel hinter die Ohren. Bei mehr anhaltender activ- passiver Hirncongestion (nach vorausgegan- genen Excessen) ist die täglich durch 1 2 Stunden fortgesetzte Eis- behandlung neben unerschütterlich einfachstem diätlichem Regimen angezeigt. Von Arzneimitteln verdient Seeale nach dieser Richtung Beachtung; unter Umständen auch Jodkali. Verräth der ganze Ha- bitus (Aussehen, Carotis-Puls, Injection der Conjunctiva, Kopfdruck, unruhiger Schlaf mit Träumen) die dauernde Hyperämisirung, so er- wäge man ernstlich die Anwendung eines Haarseils ev. die vorsich- tige Einreibung von Tart. stib. Salbe auf den Scheitel ; ermuthigende Erfahrungen darüber stehen nicht mehr vereinzelt. Bei Schlaf- losigkeit werde Chloral möglichst gemieden, jedenfalls in fortgesetzter Anwendung.

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Therapie.

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Ist der anämische Charakter beim Patienten vorherrschend, sind erschöpfende Debauchen vorausgegangen oder auch geistige Ueber- anstrengung, so passt neben der geeigneten roborirend reizlosen Diät (mit etwas Wein und Bier) der arzneiliche Gebrauch von Chinin mit Eisen, Arsenik, ev. mit oder ohne kleinere Gaben von Opium. Hier ist es auch, wo die Anwendung des constanten Stroms durch den Kopf (vorsichtig mit Rheostat, kurze Sitzungen) ihre Erfolge zu ver- zeichnen hat. Die Kranken fühlen sich darnach wohler, schlafen besser, die geistige Leistungskraft scheint sich sachte zu heben, die motorischen Störungen (Sprache) mindern sich. Wenn auch nicht Heilung erzielt wird, so belohnt doch nicht selten eine erfreuliche Remission. Mit der Kopfgalvanisation wird mit Vortheil die der Wirbelsäule (aufsteigend 1 iy« Min.) verbunden.

Ist mit einer oder der andern Behandlungsweise ein Erfolg (selbst nur ein mässiger oder wenigstens den Krankheitsfortschritt hemmender) erzielt worden, so lasse man den Kranken noch mög- lichst lange nach psychischer und somatischer Richtung Quarantäne halten ! Ein einziger Excess und bei dem vulnerabeln Gehirn ge- staltet sich schon ein mässiger alkoholischer oder sexueller Reiz zu einem solchen! kann das mühsam Erreichte vernichten. Auch mit der Rückkehr in den Beruf werde solange als möglich gezögert. Mit Vortheil schliessen sich in der Behandlung jetzt Villegiaturen (massige Höhen-Curorte, Seeluft ohne Bäder) an.

Ist erst eine manische Attake mit dem specifischen Grössen- wahn eingetreten, so mindern sich mit den prognostischen Aussichten auch die Chancen einer noch wirksamen Therapie. Doch lässt sich auch hier durch sorgsamste Abhaltung aller Reize und Bekämpfung des fluxionären Kopfzustandes nicht selten noch eine Eindämmung des Aufregungszustandes erreichen, so zwar, dass nachher eine Remission folgt. Letztere bildet erst recht die Aufgabe der ein- gehendsten körperlichen und geistigen Ueberwachung Seitens des Arztes, nach Maassgabe der Eingangs entwickelten Grundsätze.

Vor Allem ist Trennung von der Familie reap. Verhinderung des ehelichen Verkehrs sowohl für deu der Schonung bedürftigen Patienten, als für die zu erwartende Descendenz unerlässücb. Diese sehr schwie- rige Aufgabe, meist noch erhöht durch die gebotene Fürsorge wegen möglicherweise finanziell schädigender Regungen von Grössenwahn (Käufe, Vertragsabschlüsse), lässt auch jetzt einen Asylaufenthalt (wenn auch unter freieren Formen) nicht umgehen. Freilich bildet der Eigenwille des sich gesund fühlenden Kranken, verbunden mit seiner Reizbarkeit, oft genug ein schwer zu überwindendes Hinderniss. Hier muss die Au- torität des Arztes in richtiger psychisch -individualisirender Weise klug, aber fest, eintreten.

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Die psychischen Cerebropathieen.

Die spätem Stadien der fortschreitenden Krankheit erfordern durchaus den Aufenthalt in einer mit allen Ressourcen (Feldbeschäf- tigung) ausgestatteten Anstalt. Die Indicationen richten sich nach den einzelnen Krankheitsphasen, immer unter entsprechender Berück- sichtigung des so besonders vulnerabeln Paralytiker-Gehirns. Werden die motorischen Störungen stärker, so wächst die Aufgabe des Arztes und des Wartepersonals. Abgesehen von der Hilflosigkeit durch den immer erschwertem Gang u. s. w. erfordern die anrückenden Insufß- cienzen im Schlingapparat, in den Functionen der Blase und des Mastdarms eine tägliche, ja stündliche, einsichtsvolle Ueberwachung. Bei der hypochondrischen Form ist die Gefahr der Selbstbeschädi- gung sehr zu berücksichtigen. Nimmt die Lähmung überhand und wird der Kranke bettlägerig, so ist Alles zur Vermeidung des De- cubitus und der Senk-Pneumonieen aufzubieten. Blasenkatarrhe er- heischen regelmässigen Katheterismus. In diesen Secundärstadien sei die Kost eine roborirend reizlose (Alles fein zerhackt), und werde durch Darreichung von Bier und kräftigem Wein unterstützt.

Die psychischen Cerebropathieen (modificirten

Paralysen).

Literatur. Coraplicireude PacchymeningUta: Ausführliche Literatur bei Huguenin, d. Handb. Bd. XI. Fürstnor, Arch. f. Psych, 8. Arndt, Virch. Arch. 52. Savagc, Jour. of ment. sc. 1884. Paralyse nach Herderkrankung-en ( Apoplexieen): Mendel, Deut, med Wochenschr. S Jahrgg. Foville, Ann. med. psych. 1 ss«» u. Sl. Eickholt, Arch. f. Psych. 12. Speciell nach Ca- pillarapoplexieeu: L. Meyer, Arch. f. Psych. 1. Arndt, Virch. Arch. 51 namentlich mikroBk. Befund). Savage, J. of m. sc. 1832. Bei multipler Sklerose s. betr. Literatur; ferner Schultze, Arch. f. Psych. 11. Raynaud, Gaz. des hop. lssi. Greiff, Arch. f. Psych. I i. Bei Dementia senilis com- plicata: Marc»*, Kecherches etc. de la di'mence senile 1S<>3. Wille, Allg. Z. t. Psych. 30. Weiss, Psychosen des Seuiums. Wien. med. Pr. ISsii. Sepilli v Riva, Riv. sper. 1880. - de la Cullerre, Ann. med. psych. 18S3. Bei Ge- hirntumoren: Rey, Ibid. 18*2. Field, Lanc. 1871». „Tabische" nnd „spastisohe" Irrenparalyse: s. oben bei Literatur der typ. Paralyse; ausserdem: Micklc, Lancetl*84. Mills, J. of nerv, a ment. dis. 1 >ss3 (Tabes). Gnauck, Perl. klin. Wochenscbr. 18M)(Lateralsklerosc). Zacher, Arch. f. Psych. 13 u. 15 (spastischer Symptomencomplext. Moeli, Char. Ann. VI. Syphilitische Para- lyse: Virchow, Arch. 15, Geschwülste II. lleubner, Luetische Erkrankung der Hirnarterien 1S74 (Literatur); Ders., d. Handb. XI. Esmarch u. Jessen, Allg. Ztschr. 1. Psych. 14. L.Meyer, Ibid. 18. Westphal, Ibid. 20. Wille, Ibid. 2S. Schule, Ibid. 28. - Rinning, Ibid. 37. Schale, Sec- tionsergebnisse 1874. Erlemeyer, Luetische Psychosen, II. Aufl. 1879 (Literatur). Mendel, Berl. kl. Woch. l*7i). Charcot u. Gombault, Arch. de phys. 1873. Foville, Ann. med. psych. 1 ST9. Discuss. des rapp. eutre la syph. et la paral. gen., Ibid. Ball, Ann. et Bull, de la soc. de m6d. de Gand tSSl. Mickle, J. of m. sc. 1879. Ü bersteiner, Wien. med. Woch. 1883. Schulz, Neurol. Centbl. 1883. Kiernan, Alien, and Xeur. 1883.

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Subacute uud galoppirende Paralyse.

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a) Meningo-Perienccphalitis chronica und subacuta, oder Encepha- litis subacuta: Manie mit Grössenwahn und motorischen Störungen mit Uebergang in Blödsinn unter paralytischen Reizsymptomen.

Allgemeines Krankheitsbild. Die erste Einleitung er- folgt nicht selten ganz wie bei der gewöhnlichen Paralyse (Reizbar- keit mit brutaler Reaction, GemUthsstumpfheit neben dicht daneben liegender Weinerlichkeit), und nimmt erst nach und nach ein stürmi- scheres Verlaufstempo an. Sehr häufig imponireu aber die Kranken schon im Prodromalstadium durch starke cephalische Beschwerden (namentlich Schwindel und heftiges Kopfweh; manchmal geht Jahre- lang intensive Migräne voraus), und geistig durch eine aussergewöhn- lich starke Benommenheit, grobe Gedächtnisslückcn, Verstösse gegen das Decorum, und eine intellectuelle Zerstreutheit, welche selbst mässige Leistungen im eingewöhnten Berufe nicht mehr gelingen lägst. Frühe schon zeigen sich heftige Congcstivzustände; der Kranke flieht die Sonnenhitze, wird nach kleinen Alkoholmengen unver- hältnissmässig rasch und tief berauscht. Die heitere Grössenwahns- episode der typischen Paralyse wird übersprungen, oder steigert sich, kaum betreten, zur Mania gravis. Diese bildet unter Tag und Nacht fortdauerndem wildem Toben und vernichtendem Zerstörungs- drang die erste Phase der eigentlichen Krankheit. Gewöhnlich, wenn auch nicht immer, sind jetzt schon die motorischen Störungen in Sprache, Gang, Handbewegungen, Pupillen, in auffallend verstärktem Grade ausgeprägt. Das Bewusstsein ist sehr tief benommen, so dass der Kranke keine Umgebung beachtet, keine Frage zu beantworten vermag, auf Ansprachen mit plumper Heftigkeit eindringt, Alles unter 8ich gehen lässt, ruhelos an den Wänden umhergreift, oder automatisch Schreilaute ohne Sinn ausstösst. Dann und wann tritt auch ein frag- mentarer Grössenwahn dazwischen: Kaiser Millionen Gold Diamanten, aber nur in träumerisch abgerissenen Worten, ohne ver- bindende Association. Damit wechseln in jähem Umschlag Angst- paroxysmen, mit dem bangen Aufschrei eines Verfolgten, ab. Der Kranke kommt in einen panphobischen deliranten Zustand; er ver- kriecht sich, verweigert die Nahrung, macht in blindem Drange ver- zweifelte Angriffe, vermuthet überall Gift. Auch in diesen negativen Aeusserungcn dieselbe Unklarheit, Verworrenheit, rasch sich ver- wischende Flüchtigkeit. Das Bewusstsein bleibt anhaltend tief be- täubt, dämmerhaft, höchstens mit etwas lucidern, aber nie eigentlich klaren Phasen wechselnd. In der Regel begleitet den heftigen mani- schen Sturm eine sehr beschleunigte Herzthätigkeit, warmer Kopf, frequenter, dicroter Puls und Erhöhung der Temperatur (bis zu 39"

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Die psychischen Cerebropathieeo.

und noch darüber); jedoch kommen auch Congestivzustände ohne Temperaturerhöhung vor. Wenn jetzt im Verlauf von Tagen oder einigen Wochen sich ein Nacblass einstellt, so ist der fertige Blöd- sinn da, gewöhnlich noch nicht in der apathischen Form, sondern in der einer beständigen, triebartigen, plan- und ziellosen Unruhe. Die motorischen Störungen, gemischt aus Lähmungs- und Reiz- symptomen, nehmen rasch Uberhand; die Sprache wird durch die hochgradige Ataxie der Zunge und durch krampfartige Mitbewe- gungen der Lippen-Muskulatur schon jetzt schwer verständlich. Auch in der Ruhe fliegen beständig leise Zuckungen, oder plötzliche Stösse, Uber einzelne Gesichts- oder Stammmuskeln hin; nicht selten geräth der Körper vorübergehend in ein allgemeines Zittern. Es ist, wie wenn das gesammte motorische System neben zunehmender Insuffi- cienz in einem Reizzustand unterhalten würde, welcher durch inter- mittirende schwächere oder stärkere Convulsionen einzelner Muskeln oder Muskelbündel sich wieder begleicht. Intercurrent brechen auch Insulte von epileptiformen Zuckungen ein, welche weder nach moto- rischer noch psychischer Seite sich von denen der gewöhnlichen Paralyse unterscheiden. Die Temperatur bleibt oft auf lange Wochen eine erhöhte, meistens mit abendlicher Steigerung. Zeitweise schie- ben sich immer wieder manische Erregungszustände in den Krank- heitsverlauf ein, mit dem triebartigen, „convulsiven" Charakter der motorischen Acte und unter andauernd tiefster Benommenheit Der Vorstellungsgang wird immer öder, defecter, und bietet bald nur noch ein Gemisch von vereinzelten Fragmenten kindischer Grössen- ideen und starren Resten eines affectlosen Verfolgungswahnes dar. Heiter vergnügt oder stumpf gleichgültig plappern die Kranken diese monotonen Vorstellungsreihen her, deren Sinn sie nicht mehr ver- stehen. Mit den Erregungszufällen wechseln auch Phasen von Stupor ab. Andremale treten unter congestivem Sturme, bedeutender Tem- peratur-Erhöhung und raschem Collaps die Zeichen des Delirium acutum ein, und führen die Krankheit zum letalen Ende. Bei ruhi- gerem Verlaufe stellt nach den manisch-congestiven Anfällen wohl immer wieder ein Nacblass sich ein, aber stets unter Einrücken auf eine tiefere Stufe des Blödsinns und der Lähmung. Eigentliche „Re- missionen" wie in der typischen Paralyse treten hier nicht auf; folgt einmal eine Pause, so ist es nur eine Etappe im zunehmenden Blöd- sinn. In der Regel treten früher oder später (oft schon nach wenigen Monaten) tiefe trophische Störungen ein; die Kranken magern trotz reichlicher Nahrung zu Skeletten ab ; oftmals kommen auch heftige, fast unstillbare Diarrhöen. Auf diesem Wege oder durch einen der

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Galoppirende Paralyse. Patholog. Anatomie.

andern, bei der gewöhnlichen Paralyse namhaft gemachten Schluss- processe (vom Gehirn oder von den Lungen ans) schliesst sich die Scene, manchmal schon nach Wochen oder nach einigen Monaten.

Das gesammte Krankheitsbild stellt einen symptomatologisch acnt verlaufenden Paralysenprocess dar, weshalb demselben auch die Bezeich- nung der galoppirenden Paralyse" gegeben wurde. Die klinische Eigen- art, gegenüber der typischen Paralyse, liegt aber nicht nur in der Rasch - heit des Verlaufs, sondern auch in dessen Abkürzung. Die Anfangs- stadien der Normalparalyse fehlen hier ; der Beginn tritt sofort mit einem manischen Anfalle von der tiefern psychischen Formqualität, wie diese dort erst in spätem (Blödsinns) Stadien zu Stande kommt, in Scene. Ebenso ist der Verlauf d. h. die Aufeinanderfolge der einzelnen Phasen absolut regellos, der typischen Paralyse gegenüber. Die häufigen anhal- tenden Febricitationen weisen auf einen activen cerebralen Reizvorgang hin, welcher sich auch in dem Verhalten der Muskulatur in der Ruhe (selbstständiges fibrilläres Zucken) ausspricht. Nicht ein schrittweiser Degenerationsvorgang, nicht eine fortschreitende Reduction der erreichten psychischen und psychomotorischen Entwicklungshöhe, nicht ein stufen- weises Herunterrücken aus der feinen geistigen Form in das erst Unge- schickte und endlich grob Täppische motorischer Defectleistungen tritt uns hier entgegen, wie in der klassischen Paralyse, sondern ein von vornherein brüsk einsetzender organischer Destructionsprocess; nicht eine functionelle Hirnerschöpfung unter dem Bilde eines in Zuckungen abster- benden Nerven, sondern eine quasi- traumatische Vernichtung der gei- stigen Hirnelemente, unter dem Bilde einer mehr minder acut verlaufen- den destructiven Meningitis und Encephalitis. Die „organische Belastung" der Elemente im psychischen Symptomenbilde ist nicht minder charakte- ristisch, als der gekürzte acute Verlauf im Ganzen. Letzterer zeigt auch keine verständliche Folge der einzelnen Stadien mehr: die entzündliche Hirnkrankheit, als solche, bestimmt deren Gang allein. Nicht selten schliesst eine acute Meningitis mit Nackenstarre, Delirien, Sopor den Krankheits- verlauf ab. Bezüglich des Anfangs ist noch zu bemerken, dass manch- mal, wie bei der congestiven Form der gewöhnlichen Paralyse, ein apo- plektiformer Insult, oder ein Anfall von Convulsionen die erste Einlei- tung bilden.

Das pathologisch anatomische Bild ergibt: a) Die Befunde einer subacuten Meningo-Periencephalitis. Grauweissliche Verdickung der Lepto-Meningen (die Arachnitis Bayle's), mit da und dort eingesprengten gelblichen Plaques eines acutem Reizprocesses , und diffuser reichlicher lymphatischer Durchtränkung; die Exsudate nehmen mit Vorliebe die Um- gebung der Gefässe ein. Starke arterielle Injection der Meningen. Die weichen Häute haften in grösster Ausdehnung an der Gehirnoberfläche an, und zwar vorzugsweise längs der Stirn-, Central- und oberu Scheitelwin- dung, und längs der Umgebung der Sylvi'schen Spalte. Die Hinterhaupts- windungen und die Basis, sowie die Medianfläche, sind meist (nicht immer) frei. Nicht selten findet sich in den Fällen, welche gegen Krankheits- schluss ein Delirium acutum gezeigt hatten, die Steigerung der Meningitis zu einer acut eitrigen Entzündung. Die abgezogene Pia lässt an den Ad-

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Die psychischen Cerebropathieen,

härenzstellen eine geschwürige blutende Wundfläche an der Corticalis zurück. Die Windungen turgesciren in frischen Fällen. Das ganze Ge- hirn ist nicht selten geschwellt. Die Corticalis selbst ist in den frischern Krankheitsstadien verbreitert, roth, mit einem Stich in's Bläuliche, aber nicht gleichmässig, sondern gefleckt, streifig, mit blassern Inseln durch- setzt, zuweilen eigentümlich „schimmernd und glitzernd * vom Glanz der colloiden Substanzen (L. Meyer). Die Consistenz ist vermindert, jedoch nicht gleichmässig; oft finden sich erweichte neben verhärteten Stellen. Auch das Übrige Gehirn ist bluterfüllt, namentlich die Basalganglien. In den Hirnhöhlen Granulirung des Ependyms und Ansammlung einer ge- trübten Flüssigkeit. Derselbe hyperämische Befund betrifft auch das Rückenmark, sowie dessen Häute, letztere gewöhnlich nur an der die hintere Markhälfte umgebenden Partie.

Mikroskopisch findet sich pralle GefässfÜllung, Ausweitung und Vollpfropfung der Lymphscheiden mit Leukocyten und sehr vielen rothen Blutkugeln; die Gefasswände sind opak, oft deutlich verdickt, und mit prall gefüllten und vergrösserten Spinnenzellen bedeckt; letztere bilden oft lange Züge durch die Glia. In der Umgebung der Ge fasse findet sich stellenweise die anschliessende Glia wie verwaschen, und durch lympha- tische Exsudationen abgedrängt. In dieser theilweisen Abtrennung neben der an andern Partieen derbem Verbindung durch die aufsitzenden hyper- plastischen Spinnenzellen (letztere sind namentlich stark in den subpialen, und äussern Corticalislagern vertreten ) scheint die Thatsache der starkern Anheftung einerseits, und der ausgiebigen Ulcerirung des Corticalis-Stra- tum's andrerseits beim Abheben bedingt zu sein. An den Capillaren und den Uebergangsgefässen zeigen sich Wucherungen von sehr vollkommen entwickelten „Zellen" (keine Kernproliferationen), oft mit fibrillären Fort- sätzen, und so mächtig die kleinsten Gefässe umscheidend, dass deren Lumen sogar theilweise zum Verschwinden kommt. Später tritt hyaline und fettige Degeneration auf. Die Ganglien zeigen da und dort trübe Schwellung; in spätem Stadien Schrumpfung und Zerfall. Es kann aber auch bei dieser acuten Paralyse b) der anatomische Process die Hirnhäute intact lassen, und als parenchymatöser, encephalitischer Pro- cess nur die Innenschicht der Corticalis und die Hirnhöhlen in diffus entzündliche Affection ziehen. Hier zeigt sich keine Spur einer iepto- meningealen Verdickung ; auch die äussere Corticalisschicht ist weissgrau, kaum verändert; dagegen die innere vollständig erweicht und ausseror- dentlich stark geröthet. Neben stärkster GefHssentwicklung resp. Hyper- ämie mit den obigen Veränderungen der Gefässröhren, der Lymph- und Saftbahnen fehlen hier oft auch capilläre Apoplexieen nicht. Meschede beschreibt auch für diese acuten Fälle „aufgeschwellte, erweichte und mit Fettkörnchen erfüllte Nervenzellen".

Unter diese Gruppe der subacuten Paralysen möchte ich auch jene Fälle der anhaltenden Mania gravis rechnen, bei welchen eine primäre blödsinnige Schwäche mit tobsüchtiger Aufregung und Ver- wirrung, faselndem Grösseuwahn, Sinnestäuschungen, blindem Zer- störungsdrang, und sinnlos perversem motorischem Gebahren die wesentliche psychische Symptomengrappe bilden. Die motorischen

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Paralyse durch Pacchymeningitis modificirt.

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Störungen treten daneben ungleich schwächer in die Erscheinung. Plötzlich klärt ein Anfall von allgemeinen Convulsiouen, welcher nicht selten sofort letal ausgeht, anderemale Schlag auf Schlag sich wiederholt, über die tiefe organische Hirnkrankheit auf; die Autopsie weist die vorbeschriebenen Zeichen der Meniugo-Periencephalitis nach (vgl. S. 110 und 111).

Die Kranken sind unbezwingbare Zerstörer, wozu sie Hände und Füsse und Zähne gebrauchen, machen die verkehrtesten Handlungen (laufen, tanzen, klettern ohne jede Rücksicht auf Gefahr, wühlen im Un- rath, tragen diesen mit dem Munde zusammen, verbeissen, was sie er- haschen können, verschlingen ohne Auswahl), sind unreinlich, sprechen anhaltend, oder schreien verwirrte fragmentare Reden, selbstgemachte Worte u. s. w. Tag und Nacht hinaus. Darunter eine Fluth von Grössen- ideen : sie sind Kaiser und Könige, Erzengel, wollen sich mit Gott messen („wer grösser sei" u. s. \v.), pissen goldene Uhren u. s. w. Absolute Un- orientirtheit über ihre Lage, über Zeit und Raum. Rohes brutales Be- nehmen. Stimmung schwankt zwischen den Extremen heiterer oder ge- reizter Exaltation und schaler Indolenz. Gehörs-, Gesichts- und Gefühls- täuschungen (häufig wiederkehrende Klagen, dass der Kranke Nachts von den Geistern geschlagen werde). Allmählich bedeutender Rückgang der Ernährung. Jetzt auch nach und nach motorische Zeichen: Ungleichheit der Pupillen ; die Rumpfmuskulatur ist in einer gewaltsamen, tetanusar- tigen, aber durchaus willkürlichen Spannung; Oberlippe beim Vorstrecken der Zunge oft leise erbebend; Sprache schnell und gut, Gang sicher und behende. Im Verlauf von Monaten allmählich Ruhe, aber gleichbleibende Verwirrung und geistige Schwäche. Auch in der Ruhe noch blödsinnige Geschäftigkeit (Sammeln, kindisches Spielen und Tändeln, Zerstören). Dabei nimmt auch jetzt noch der Umfang der motorischen Störungen nicht sichtlich zu. Gang und Sprache bleiben ungehemmt. In manchen Fällen findet sich choreatisches Zittern des ganzen Körpers oder einzel- ner Theile mit Steigerung der Reflexerregbarkeit. Die paralytische Ver- blödung nimmt ihren Decursus weiter, oft unter zwischenlaufenden mani- schen Phasen. Plötzlich allgemeine Convulsionen ohne nachweisbare Ursache. Mittlere Krankheitsdauer: 1 2 Jahre.

b) Complicirendc Pacchymeningitis. Bei der ausserordentlichen klinischen Mannigfaltigkeit in der Ausdehnung, dem Sitze, der Ein- trittszeit der genannten Dural -Erkrankung lässt sich ein auch nur einigermaassen constantes Symptomenbild nicht geben. Selbstver- ständlich lässt (schon allgemein) die das paralytische Bild modificirende Ursache einen verschiedenen Eingriff erwarten, je nachdem es sich um ein Plus von Reizsymptomen, ausgehend von dem duralen Ent- zündungsvorgang, handelt, oder aber um Effecte des Hirudrucks, herrührend von einem umfangreichen Hämatom. In der Praxis kom- men beide Reihen allerdings meistens gemischt vor. Aber auch die Veränderungsfähigkeit eines paralytischen Symptomenbildes (als Re-

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Die psychischen Cerebropathieen.

action eines degenerirenden Gehirns) wird speciell gegenüber den Wir- kungen des raumbeschränkenden Blutergusses eine andere sein müssen bei einem nahezu noch intacten Hirnvolumen, als bei einem bereits atrophisch erheblich reducirten. Während im erstem Falle schon durch kleine Vorgänge relativ grosse Effecte erzielt werden können, wird im letztern unter Umständen die lähmende Wirkung gar nicht zur Entfaltung kommen, wenigstens nicht in Form eines brüsken Insults.

Nach meinen Erfahrungen sind es im Grossen und Ganzen zwei Typen von durch Pacchymeningitis complicirten Paralysen. Der erste Typus entwickelt sich wie eine gewöhnliche Paralyse, und die Modification beginnt erst mit dem Auftreten der Hämatom anfalle; der zweite dagegen zeigt gleich vom Beginn an ein ab- geändertes Symptomenbild. Auffällig ist aber auch in vielen Fällen des ersten Typus das Fehlen oder die vergleichsweise nur matte Entwicklung der Grössenwahnsphase ; dafUr stehen die Vergcsslich- keit, die geistige und gemüthliche Schwäche, die Euphorie des Blöd- sinns im Vordergrund. Der zweite Typus führt sofort im Anfang der Krankheit eine sehr auffällige Stupidität in das psychische Symptomenbild ein: die Kranken dämmern herum, sind nicht bloss geistig apathisch, sondern förmlich schlummersüchtig, unbesinnlich. Manche sehen aus wie mit einer Keule aufs Haupt geschlagen. Sie zeigen oft frühe schon ein allgemeines Körperzittern, sehr erhöhte Sehnenreflexe und eine gesteigerte Reflexerregbarkeit, wie beides der Normal - Paralytiker erst in spätem Verlaufsstadien darbietet. Der apathische Blödsinn scheint schon an den Krankheitsbegiun vorgeschoben zu sein, und zwar nicht in der Form „wacher" gei- stiger Schwäche mit dem kindisch albernen Wesen, sondern in der eines stupiden Halbschlafes. Sind bei der ersten Modification erst einige pacchymeningitische Anfälle eingetreten, so sinken auch diese Kranken (oft ausserordentlich rapid) auf das Nullitäts- Niveau der zweiten Form herab. Entsprechend der tiefen Blödsinnsstufe treten und dies schon frühe nicht die charakteristischen amnestischen, und erst feinem, articulatorischeu Sprachstörungen ein, sondern viel- mehr die schweren anarthrischen Formen; manche Kranke werden sehr bald schou dauernd aphasisch. Die Aufregungszustände, welche sich regellos in den Krankheitsgang einschieben, sind manische Phasen eines stumpfen Blödsinns: triebartiges, sinn- und planloses Zerreissen und Zerstören, Schmiereu, unarticulirtes Schreien und Brüllen. Bei den Kranken der zweiten Form findet sich sehr häufig eine beraerkenswerthe Pulsverlangsamung (bis 36). Letztere tritt in

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Paralyse durch Pacchymeningitis modificirt.

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charakteristischer Weise manchmal nach den Hämatom-Insulten ein. Die Papillen sind verengt, nicht selten bis zar Grösse eines Steck- nadelkopfes, nnd gegen Beschattung unempfindlich; sie erweitern sich oft selbst auf Atropin nicht, oder nur spurweise. Die Erholung nach den pacchymeningitischen Anfällen hält sich in der Regel in viel bescheidenem Grenzen als nach den apoplektiformen oder epi- leptoiden Zufällen der gewöhnlichen Paralyse; meistenteils bezieht sie sich nur auf langsame Besserungen der Motilität; aber der Blöd- sinn bleibt, oder hat wesentlich zugenommen. Sehr wichtig ist das Auftreten von Stauungspapille, meist einseitig, hie und da aber auch doppelseitig.

Die eigentlichen pacchymeningitischen Zufälle erfolgen theils in Form von stupider Aufregung, theils als apoplektisch convulsive Insulte. Beide Formen können sich auch mit einander verbinden , die Convulsionen an das Erregungsstadium sich anschliessen. Dieses letztere besteht ge- wöhnlich in einem triebartigen Bewegungsdrang, oft mit anhaltendem An- schlagen des Kopfes an die Wand, verworrenem Faseln, Kopfcongestionen, Pulsfrequenz, profusen Schweissen. Der Insult dagegen zeigt Gesichts- blässe , Pulsus cephalicus oft mit Respiratio cephalica, und convulsiveu Zuckungen tonischer und klonischer Art, welche in einigen Punkten sich von denen der gewöhnlichen Paralyse unterscheiden (FUrstner). Am häu- figsten scheint die tonische Deviation des Kopfes nach einer Seite vor- zukommen, zugleich mit Nystagmus, sodass die Bulbi von auswärts be- ständig bis gegen die Mittellinie der Lidspalte hin und her oacilliren. Die Zuckungen der Extremitäten sind abwechselnd tonische und klonische, theils einseitig, theils doppelseitig; besonders gerne greifen sie von einer auf die andere Körperseite über. Sehr beachtenswerth sind die „gewollt und zweckmässig" aussehenden Bewegungen, welche die Kranken oft stun- denlang machen (Uerumgreifen am Bettzeug, am Hemde, im Gesichte; wohl zweifellos als directe ReizeÄecte der motorischen Rindencentren). Sehr häufig stellen sich locale oder ausgedehntere Zuckungen bei halbluci- dem (nicht aufgehobenem) Bewusstsein ein. Damit intercurriren oft voll- ständige Hemiplegieen, welche stets nur langsam durch ein Stadium von grösster Ungeschicklichkeit sich ausgleichen, nicht selten aber auch dau- ernd bleiben. Manchmal kommt (bei Fortschritt der Blutung über den Schläfelappen) auch noch brüske Aphasie, bei Uebertritt auf die Basis contralaterale Anästhesie hinzu. Temperaturerhöhung im Anfang ist sehr häufig, aber nicht regelmässig.

Der Weiterverlauf ist bald successive abwärtsgehend (mitunter galoppirend, unter rascher Abmagerung, Purpura, Fnrunculosis) , oder durch eine Reihe von neuen Insulten unterbrochen. Die Remissionen, wie in der klassischen Paralyse, scheinen zu fehlen. Von den Ausgän- gen sei speciell der durch Marasmus in Folge verschiedener anderweitiger Hämatombildnngen (Zwerchfell, Rippenpleura, Bauchserosa) erwähnt (in zwei Beobachtungen).

Schftlo, Geiatwknnkheiten. 3. Aufl. 25

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Die psychischen Cerebro'patbieeii.

c) Die primäre Hirnatrophie. Auch hier ist die Reichhaltigkeit der unter diese anatomische Diagnose einzureihenden klinischen Krankheitsbilder eine so grosse, dass eine Allgemeinschilderung nicht möglich ist. Ich beschränke mich deshalb auf die Aufführung der mir unter einer grÖ68ern Anzahl von Fällen vorgekommenen Typen. Nach der anatomischen Diagnose trenne ich dieselben in: 1. primäre Hirnatrophie ohne Reizerscb einungen (diffuse chronische Sklerose); und 2. primäre Hirnatrophie mit Reizerscheinungen. Die erste Untergruppe bildet die Vermittlung zwischen der typischen Paralyse und der Dementia senilis; die zweite leitet Uber zu der plaque- förmigen Sklerose, und zu den encephalitischen und apoplektischen Herderkrankungen.

1. Die primäre Hirnatrophie ohne (entzündliche) Reiz- erscheinungen.

1. Typus. Wohl in ihrer reinsten Form beginnt die primäre Hirnatrophie mit einer melancholischen oder hypochondrischen Verstimmung senilen Charakters (Wahn verhungern zu müssen). Die hypo- chondrische Richtung führt zu peinlichster Grübelei, mit maasslos ängst- licher Uebertreibung und geradezu monströsen Befürchtungen (weisse Luftbläschen in dem Urin imponiren als Stärke-Zucker, daher Diabetes- furcht ; Nasenschleim als Hirnausfluss). Psychische Symptome : Mühe die Gedanken zusammenzubringen, Hemmungen, Versagen des Gedächtnisses, ausserordentlich rasche geistige Ermüdung. Daneben Dumpfheit und Wüst- heit im Kopfe; beim Gedankenconcentriren das Gefühl „als ob man mit einem stumpfen Messer in Holz schneiden wolle"; Ziehen und Spannen im Hinterkopf; Schwerhörigkeit und Augenschwache; Vergehen der Ge- danken beim Augenschluss; pappiger übler Geschmack, Völle des Leibes; Mattigkeit und Zerschlagenheit der Glieder. Nicht selten barocke Zwangs- gedanken und Localgeftihle z. B. von Trompetenstössen an einzelnen Kopf- gegenden u. 8. w. Peinlich ängstigendes Gefühl einer totalen Aende- rung. Patient will in nichts mehr der alte Mensch sein. Sehr häufig krankhafte Schlafsucht, besonders wenn der Kranke wach bleiben will, also unter Tags; oft in eigenthUmlichster Form veranlasst z. B. bei Be- rührung der Nasenwurzel. Daneben fehlt Nachts der normale Schlaf; beim Einduseln oft sehr beängstigende Stösse und Zuckungen, sodass der Kranke zusammenschreckt und momentan Gefühle im Hirne bekommt „als ob er sofort verrückt wäre \ Sensorielle und sensible Hyperästhesieen, wo- durch der Kranke nicht das leiseste Geräusch mehr erträgt, doppelt hört, seine eigene Stimme im ganzen Körper resoniren spürt; mit furchtbaren Angstanwandlungen („ Kainsangsf); Zittern am ganzen Körper. Daneben aber auch sensorielle und sensible Anästhesieen und Parästhesieen. Die Speisen schmecken süsslich, wie Uberzuckert, während andere Ge- schmacksempfindungen wie abgedämpft sind. Auch die Temperaturem- pfindung ist abnorm: abwechselnde Kälte- und Hitzegefühle, oft so, dass der Kranke wiederholt unter Tags die Kleider wechseln muss; halbsei-

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Paralysen aus primärer (nicht-entzündlicher) Hirnatrophie. 387

tige Kältegefühle, „oft bis zur Erfrierung", selbst im Hochsommer. In der Folge perverse Hantsensationen, als ob Sch weiss daran herabliefe (ohne objective Grundlage). Nach und nach kommen auch pelzige und prickelnde Gefühle in den Fingern, abnehmende Locomotionsgefühle, so dass der Kranke zum Stock greifen musa; intercurrente Schwindel- und Betaubtheitsanwandlungen, als ob er auf die Stirne fallen müsse. Nach und nach „Abnahme des Bewusstseins M, während früher „nur die Gedan- ken abgenommen hätten Anwandlungen von Traumzuständen unter Tags unter das Wachen herein. Geistige Arbeit ist schliesslich gar nicht mehr möglich. Die Stimmung ist überaus wechselnd, immer sehr weich und abhängig, bald zerknirscht und hingegeben, bald stumpf und gleichgültig, bald ärgerlich gereizt und trotzig, meist kopflos verzagt und kindisch muthlos, nie eigentlich schmerzlich affectvoll. Immer mehr sinkt sie zur Fassungslosigkeit herab. Oft zeigt sich in der Stimmungslage ein alter- nirender Typus. Der Verkehr mit dem Kranken ist durch das krittelige Wesen, welches sich mitunter ziemlich unzart auslässt, und durch den krankhaften Eigensinn, welcher den verkehrtesten momentanen Eingebun- gen folgt, ein zunehmend schwierigerer. Körperlich wird der Kranke immer invalider. Häufige Klage, als ob die Glieder, namentlich die Arme, „wie an einem Hampelmann herabhingen". Oft Empfindung, als ob die- selben „ganz gelockert", „flüssig" würden. Langsam zunehmender gei- stiger und körperlicher Zerfall; nicht selten aber mit Pausen relativer Erholung. Tod gewöhnlich durch einen intercurrenten acuten Hirnpro- cess (Paccbymeningitis), oder durch Pneumonie, oder Apoplexie (Suicid.!).

2. Typus. Die andere Form ist vorwiegend hallucinatorischen Charakters auf Grundlage einer stupiden Bewusstseinsstörung und einer tief depressiven (nihilistischen) Stimmung. Sie schliesst sich an die hallu- cinatorische primäre Dementia an, ist symptomatologisch im Wesentlichen deren Wiederholung, nur mit qualitativ tieferem (organischerm) Charakter der psychischen Symptome, und complicirt mit bleibenden, mehr minder ausgesprochenen, motorischen InnervationsstÖrungen in der Mimik und den intendirten Bewegungen. Sie beginnt mit Schlaflosigkeit, Zerstreutheit, träumerischem Wesen, Vergesslichkeit, Raptus von perversen Acten; dann Halhicinationen bald eines, bald mehrerer Sinne, mit immer mehr imperativem Charakter. Jäher Umschlag in Stimmungsextreme; die schroff- sten Gegensätze gehen in einander Uber, ohne dass eine Nachwirkung bleibt. Conträres Verhalten bei Ansprachen, mit Steigerung der motorischen Ne- gation bei Zuspruch; bei Gewahrenlassen Nachlass der Spannung. Für sich absolut rathlos, untersteht der Kranke nur der Directive seiner ge- bietenden Sinnestäuschungen, deren crasseste Zumuthungen er auszuführen strebt (gefährliche Acte!). In der Folge bunt wechselnde Stimmung (schwachsinnige Euphorie mit verzehrender Verzweiflung; manchmal auch hier die abenteuerlichsten hypochondrischen Quälereien, wie oben und in der typ. Paralyse). Wahnsinnige Ideen-Agglutinationen nach dem Modus zufälliger Wahrnehmungen oder Erinnerungen, faselnde Monologe, zu- nehmende Stupidität und Amnesie. Die einfachsten eingelebten Gewohn- heiten des Essens und des Sichanziehens bedürfen der Nachhilfe und grossen Zeitaufwandes. Motorische Schwäche nimmt mit der psychischen zu, während die Hallucinationen pari passu übermächtig werden. Zerfall

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Die psychischen Cerebropathieeo.

der Körperernährung. Tod vom Gehirn ans, oder durch einen Lungen - process.

3. Typus. Auch der primäre chronische Wahnsinn stellt sein Symptomenbild unter die klinischen Erscheinungsformen der primä- ren Hirnatrophie. Ein Zustand von Depression mit heftigen Angstexplo- sionen leitet häufig die Krankheit ein. Darauf folgt, als Erschöpfungs- phase auf den vorausgegangenen Reizzustand, eine Episode von Stupidität, und zwar gleich mit den Zeichen tiefer Betäubtheit (nicht einfacher Hern' mung): Vergessen der einfachsten Tagesgewohnheiten, plumpe Verstösse gegen das Decorum u. s. w.; zeitweise können auch lncidere Phasen da- zwischen laufen. Der nunmehr nachfolgende und definitive Verfolgungs- wahn trägt generell die Züge des gewöhnlichen Wahnsinns ; im Einzelnen aber die charakteristischen Modificationen durch die Cerebropathie (speciell des organischen resp. atrophischen Hirnprocesses). Zu Grunde liegt, und durch alle Phasen des ausserordentlich mannigfaltigen Krankheitsbildes verfolgbar, ein tiefes universelles Misstrauen (beruhend wohl auf dem innerlich percipirten Schwanken des geistigen Existenzgefühles), mit gros- ser Angst und Rastlosigkeit; daraus und aus dem innerlich gefühlten Zwiespalt zwischen dem kranken und dem noch gesunden Bewusstseins- antheil baut sich allegorisch der erst vage, in der Folge aber systema- tisirte Verfolgungswahn auf, in der Regel ausgefüllt durch centrale Sen- sibilitätsanomalieen. Dem „functionellen" primären Wahnsinn entgegen, mit seinem psychologisch abgewogenen Verhältniss zwischen Wahnelement und Reaction, und logischer Folge der aufeinanderfolgenden Znstands-' phasen zeigt das Krankheitsbild des „organischen" Wahnsinns nur frag- mentare und dabei gegensätzliche Krankheitsacte, ohne psychologisch ver- mittelten Uebergang und ohne Ausgleichung: auf der einen Seite stehen Unruhe und Unstätigkeit neben einem reizbaren und empfindlichen, brutal rücksichtslosen Wesen, und auf der andern grosse Befangenheit und Hem- mung, geistige und körperliche Müdigkeit bis zur stupiden Indifferenz und Abulie. Zwischen diesen Extremen schwankt das Tagesbild hin und her, in buntem jähem Wechsel, nicht selten in einem Gemisch beider, dazwi- schen auch wieder mit lucideren, gemüthswärmeren Phasen durchsetzt. Das Bewusstsein ist tief benommen, der Kranke ganz das Spiel seiner Einfälle, welche in demselben widerspruchsvollen Gegensatz sich bewe- gen , nicht selten auch in sinnlos extravagirenden Gegensätzen sich ver- flüchtigen. Es sind Zustände, welche theils an die degenerativen Formen der hysterischen Verrücktheit, theils an die Paralyse sich anlehnen, von beiden aber klinisch ebenso scharf sich sondern. Dabei intercurriren im- perative Hallucinationen , Hyperästhesie der Haut (wie in den vorigen Fällen), ein zeitweiliges eigentümliches Zittern einzelner Muskeln oder -Partieen (wohl in Folge geänderter d. h. theilweise ausfallender Innerva- tion), Zittern der Zunge, trophische Störungen der Haut. Progressiver Fort- schritt in geistigen Schwachsinn, unter immer mehr alberner und kritik- loser Ausbreitung des Verfolgungswahns auf die kleinlichsten Verhältnisse.

4. Typus. Ist die primäre Hirnatrophie mit besonders hervortre- tender Betheiligung einer chronischen Ependymitis der Ventrikel und starker Wasseransammlung in denselben (Hydrocephalus internus) com- plicirt, so entsteht sehr häufig eine modificirte Paralyse in Form eines pri-

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Paralysen aus primärer Hirnatrophie mit intercurr. entzundl. Encephalitis. 389

mären Blödsinns, welchem jahrelange Amaurose (wohl durch Druck- schwund des Chiasma in Folge des erweiterten Infundibulums) vorausgeht. Der allmählich einrückende Blödsinn verbindet sich mit fortschreitender motorischer Paralyse (nicht Ataxie). Manchmal ist die geistige Umnach- tung durch einen vagen, faselnden Grössenwahn etwas erhellt. Zähne- knirschen scheint hier ein häufigeres Symptom zu sein, früher eintretend und andauernder als in den sonstigen Paralyse fällen. Der Abwärtsgang' in Apathie des höchsten Grades ist gewöhnlich durch stupide Aufregungs- zustände unterbrochen.

2. Die primäre Hirnatrophie mit intercurrenten entzündlichen Reizerscheinungen.

Das Krankheitsbild ist hier ein nicht weniger mannigfaltiges als bei der vorigen Form, entsprechend der verschiedenen und ver- schieden starken Localisation des Hirnprocesses. Je nach dem mehr diffusen, oder aber ausserdem auch noch localen Auftreten des letz- teren; je nach der vorwiegenden Betheiligang des Gehirns, oder aber der ev. Mitaffection der Häute; endlich je nach der ev. Verbindung mit (d. h. umschriebener Steigerung zu) Herdaffectionen muss selbstverständlich das klinische Symptomenbild die mannigfaltigsten Züge und Verlaufsarten darbieten. Es lassen sich deshalb auch nur einzelne generelle Züge namhaft machen; im Speciellen ist jeder EiDzellfall nur für sich und aus sich selbst nach den allgemeinen Grundsätzen der Hirndiagnostik zu beurtbeilen.

Von psychischer Seite besteht symptomatologisch noch die meiste Uebereinstimmung unter der hierher gehörigen Casuistik. Allermeist setzt das Leiden mit einer primären Dementia ein: Nachlass des Interesses, der Leistungsfähigkeit, des Gedächtnisses. Nicht selten übt der gefühlte Einbruch der geistigen Schwäche einen Rückschlag auf das Gemüthsleben des Kranken in Form einer melancholischen Depression, welche aber durch ihre Inhaltlosigkeit, und durch den matten Affect sich sofort mehr als wirkliche psychische Abnahme, denn als Hemmung ausweist. Bei stärkerer vasomotorischer Erregbarkeit können vorübergehende Ohnmachts- anwandlungen, oder aber Aphasieen, anderemale (bei heftigen Congestiv- zuständen) auch Aufregungen daz wischenlaufen, mit dem stupiden trieb- artigen Charakter der Mania gravis. Soweit ist der Beginn gewisser Varietäten der allgemeinen Paralyse oft nicht unähnlich; dazu kommen schon sehr bald motorische Störungen, namentlich in der Sprache (Bradi- phasie), breitspuriger Gang, ungelenke Handleistungen alle diese De- fecte aber sofort mit echt paralytischem Charakter. Nicht wenige Kranke haben auch zeitweiliges Krankheitsbewusstsein. Echter Grössen- wahn, wie in der klassischen Paralyse,, wird nicht beobachtet; allermeist fehlt derselbe ganz; anderemale erhebt er sich nicht über ein „glückliches Sein" oder ein vages delirantes Faseln in den (fiebernden) Erregungszu- ständen. Die begonnene geistige Schwäche schreitet nun progressiv weiter, oft überraschend schnell, so dass nach wenigen Monaten bereits eine tiefe

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Die psychischen Cerebropathieen.

Blödsinnsstufe erreicht ist. Das mehr minder rasche Tempo ist bedingt durch die dazwischenrufenden acuten CerebralzuBtände, welche klinisch bald unter dem Bilde eines fieberhaften Stupors, bald einer stupiden Manie, bald heftiger Wallungszustände mit Delirien und Panphobie, bald schmerz« hafter Reuralgieen und localer Krampfzustände (Zwerchfellskrämpfe. Schlingkrämpfe), oder Anfällen von choreatischen Bewegungen verlaufen. Nach jedem derartigen Insult nimmt der Blödsinn und motorisch die Läh- mung zu. Ab und zu treten auch wieder zeitweilige, aber immer nur höchst bescheidene, Erholungen ein.

Im motorischen Gebiete tauchen umschriebene, an Intensität und Ausdehnung wechselnde, Krämpfe und Lähmungszustände auf: Schüttel- krämpfe in der einen oder andern Extremität, „raideur" der Muskeln abwechselnd mit Schlaffheit , flüchtige Contracturen, choreatische Bewe- gungen in einem oder beiden Armen, anderemale automatische (aber g e- formte) Bewegungen mit den Händen, temporäre Schiefstellungen des Kopfes, der Augen (mit Strabismus), alle möglichen Pupillendifformitäteo, bald vorübergehend, bald bleibend, oft vor und nach den Anfällen ver- schieden; Abnahme resp. Ausfall und dann auch partieller Wiedereintritt der Sehnenreflexe; Anästhesie und Analgesie, gleichfalls in überraschender Weise wechselnd. Manchmal zeigt sich auch einseitiger Verlust des Ge- ruchs, oder des Gesichts (Atrophie der Pupillen), mit Hemianopsie und Farbensinnstörungen. Oonstanter dagegen scheinen zwei Symptomenreihen zu bleiben: die sehr gesteigerte Reflexerregbarkeit der Haut, und die starke Betheiligung des vasomotorischen Systems (ungleiche und sehr wechselnde Blutveitheilung Uber den Stamm und den Kopf, mit endlich immer ausgeprägterer Vasoparese der Hände und Füsse). Gegentiber der klassischen Paralyse ist der Verlauf ausserordentlich wechselvoll, und in der Aufeinanderfolge der Einzelphasen und der Gestaltung der Einzel- symptome ganz unberechenbar. Die Betheiligung des trophischen Systems findet in derselben Weise und Ausdehnung, wie bei der allgemeinen Para- lyse statt; doch tritt hier, dem intensiven Charakter des organischen Pro - cesses entsprechend, die Muskelatrophie viel entschiedener und regel- mässiger auf als dort, manchmal schon frühzeitig.

Als Anhang zu c) sei hier die Hirnatrophie mit localen Erweichungsherden oder Apoplexieen (Capillarektasien und miliaren Herden) oder auch mit multipeln Sklerosen angereiht

Dabei kann wiederum die Beziehung der erstem zur Herd- erkrankung eine primäre oder eine secundäre sein. Im ersten Falle geht eine diffuse cerebrale Allgemeinerkrankung voran, in deren Verlauf später die Herderkrankung auftritt; im zweiten ist die Herderkrankung das primäre Symptom, und an diese d. h. an deren FolgezustUude schliesst sich secundär die allgemeine Atrophie an. Darnach unterscheiden sich die klinischen Bilder: 1. als primärer Blödsinn mit progressiver Parese, mit intercurrenten Hemiplegieen und Apoplexieen; 2. Apoplexie mit secundärem Blödsinn; 3. Blöd- sinn mit allgemeiner fortschreitender Lähmung, untermischt mit localen

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Paralysen au3 schwerer Dementia senilis.

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Paresen; 4. hallucinatorischer (magnetischer) Verfolgungswahn3inn; mit Allegorisirung der „rheumatischen" Sensationen und progressiver Demenz mit Parese (vgl. S. 364, y).

Die beiden ersten Gruppen (1 und 2) werden vorzugsweise ge- deckt durch die formenreiche Gruppe der atheromatösen Encephalitis. Vor Allem gehören hierher die Altersprocesse , welche unter dem Sammelnamen der schweren Dementia senilis zasammengefasst werden (mit fortschreitender Lähmung).

Der eigentlichen Krankheit geht ein Stad. prodrom. voraus, gebildet aas körperlichen und psychischen Symptomen. Zu den erstem gehören die Zeichen eines diffusen Hirnreizzustandes, verschieden je nach der Natur und dem Sitz der durch Atherose bedingten Circulationsstörung, und untermischt mit allgemeinen Sehwächeaymptomen: Kopfweh, Schwin- del, Schlaflosigkeit, allgemeinem Unbehagen, Fro3t- und UnruhegefUhlen, namentlich in den Füssen, zuckendem Puls mit den Zeichen vermehrter arterieller Spannung (Ei weiss im Urin); zu den letzter n enorme Ver- gesslichkeit, so dass selbst die Tageszeiten verwechselt werden, rasche geistige Ermüdung, unleserliche Schrift mit Schreibfehlern und Wortellip- sen, getragen durch ein weinerliches, hilfloses Wesen mit Uberaus grosser Verletzlichkeit und Reizbarkeit; oft geht auch ein zunehmender Geiz mit Menschenscheu vorher. Die eigentliche Krankheit kann nun entweder mit einer acuten Geistesstörung, meistens im Sinn einer aufgeregten Melan- cholie mit Wahnvorstellungen nnd Hallucinationen (Wahn des Bestohlen- werdens, sogar ihres geistigen Hirnbesitzes!), manchmal auch in Gestalt einer verzehrenden, maasslos oft übertreibenden Hypochondrie (Wirbel dislocirt, alle Körpertheile auseinander gerissen, Muskulatur geschrumpft, Fleisch vom Gesicht genommen, intercurrente völlige Blindheit) beginnen; oder in Form einer primären Dementia (Rücksichtslosigkeit, Verletzung des Anstandes, Vergesst ichkeit, Lähmung in Gang und Sprache, enormer Easgier, Anflug von mattem Grössen wahn, abwechselnd mit Depression, saccessive zunehmendem Blödsinn mit Paralyse, manchmil mit langsamer Opticusatrophie) ; oder endlich: motorisch durch einen apoplektischen Anfall mit Hemiplegie (Aphasie), selten durch epileptiforme Convulsionen. In der Regel schreitet die Erkrankung nach psychischer Seite (zunehmen- der Blödsinn), sowie nach somatischer (neue dazwischentretende Lähmungs- anfälle) progressiv weiter. Es kann aber dieser Verlauf besonders im Anfang noch durch sehr bemerkenswerthe Aufregungszustände regellos durchkreuzt und unterbrochen werden: so entsteht eine zwecklose Ge- schäftigkeit (besonders mit den Kleidern und der Wäsche u. s. w.), mit zeitweiliger Verstimmung (Diebsfurcht!), Brummen unl Schelten, wie bei einem unartigen Kinde; aber selten mit Heftigkeit. Vermag die Erre- gung noch in einer höhern geistigen Sphäre sich abzuspielen, so treten gelegentlich perverse Handlungen zu Tage, worunter namentlich klepto- manische und erotische Antriebe eine social oft sehr bedenkliche Aus- schreitung bringen. Die Conflicte mit dem Strafgesetz sind nicht selten. Spricht der krankhafte Hirnreiz dagegen mehr die psychomotorischen und niedern Centren an, so können auch brutale Manieen auftreten, mit Ver-

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Die psychischen Cerebropathieen.

worrenbeit und planlosem Zerstörungsdrang. Fehlen die Aufregungszu- stände, und verläuft die Krankheit in depressiver Richtung weiter, so verräth sich auch, hierbei der tiefere organische Hirnreiz in den triebar- tigen Angstzufallen, Zwangsvorstellungen und motorischen Raptus, welche oft zu Gewaltthaten führen. Findet eine Motivirung der Angst statt, so ist diese dem Grade der Hirnstörung entsprechend läppisch und kindisch (ein Kranker aus meiner Beobachtung brachte Nächte hindurch in Angst aus dem unbesiegbaren Zwangsgedanken hin, dass er früher einmal ein Hemd verkehrt angezogen habe!); zunehmende Sinnestäuschungen. Wille macht die richtige Bemerkung, dass oft diese ganze melancholische Sce- nerie mit den verkehrten Handlungen nur Nachts spiele, während der Kranke unter Tags kaum Abweichungen von seinem gewohnten Verhal- ten zeige; manchmal wird darin ein alternirender Typus beobachtet.

In einer wie in der andern Verlaufsart zielt der endliche Verlauf zur definitiven Geistesschwäche, mit zunehmender motorischer Lähmung. Die Kranken werden immer theilnahmloser, vorübergehend stupid (Hirn- druck in Folge der atheromatösen Circulationsstörungen), schlafen oft ein, zeigen eine allgemeine Betäubung. In den freiem Zeiten sind sie reizbar, raisonnirend, ärgerlich, unzufrieden, widerstrebend, und dabei von Minute zu Minute vergesslich. Sie vergessen nicht selten ihren eigenen Namen, oder lehnen denselben auf Vorhalt zornig ab, führen mit ihrem Spiegel- bild ernstliche Selbstgespräche, trinken behaglich schmunzelnd ihren Urin u. s. w. Die Sprachstörung ist, entgegen der typisch-paralytischen, nicht von der ataktischen, sondern glossoplegischen Form : wie wenn die Kran- ken Brei im Munde hätten. Grösser noch sind die Associationsstörungen ; kein Satz, selbst nicht der einfachste, vermag mehr grammatikalisch durch- geführt zu werden; nach wenigen Worten stockt der Vorstellungsgang; dann schiebt sich nach einer Pause ein weiteres Satzfragment vor, und so gehen die sprachlichen Anakoluthieen weiter. Oft wird das Wort nicht gefunden, oder kann nicht ausgesprochen werden, weil die Zunge temporär ganz ungefüge ist (dadurch grosse Verstimmung mit zorniger Reaction !). Manchmal versucht der Kranke durch hieroglyphische Zeichen seinem Sprachdefect schriftlich abzuhelfen. Neben der Agraphie besteht oft Alexie und Paralexie. Immer mehr schreitet der intellectuelle und namentlich auch sittliche Zerfall (perverse Acte) voran; nicht selten in- tercurrirt noch eine Zeit lang ein alberner monotoner Grössen wann; der Kranke muss schliesslich zur Reinlichkeit gemahnt und gefüttert werden, und sinkt immer mehr zum Schlafzustande des Säuglings herab.

In diese continuirliche Verlaufscurve nach abwärts treten nun noch die mannigfachsten motorischen Krampf- und Lähmungs- zufälle: epileptoide, apoplektische , hemiplegische, apbasische An- fälle — bald vorübergehend, bald auch bleibend. Auch Anomalieen der Sensibilität schieben sich ein und Aenderungen der Sehnenreflexe, theils zeitweilig, theils dauernd. Trotz grosser Gefrässigkeit magert der Kranke ab, bis endlich ein neuer Schlaganfall, oder Decubi- tus, oder Cystitis, eine Pneumonie, das reducirte Dasein (welchem übrigens oft überraschend freie Lichtblicke nicht fehlen) abschliesst.

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Paralysen aus Apoplexieen, aus dissemenirter Sklerose.

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Beim Hirntod machen sich bei dieser Form besonders häufig auch die Veränderungen des Athmungstypus geltend (cephalische Respira- tion, Cheyne-Stockes'sches Phänomen).

Die Dauer der Krankheit ist eine sehr verschiedene. Es gibt peracut in mehreren Wochen tödtlich verlaufende Fälle. In andern können, selbst nach schweren Insulten, befriedigende Remissionen (von Monaten) eintreten. In der Regel aber ist die Krankheit andauernd, und verläuft innerhalb 1—4 Jahren.

Die Blödsinn-Lähmungszustände, welche nach Apople- xieen (Embolieen) auftreten, verhalten sich je nach dem dauernden oder abwechselnden Ueberwiegen von Hirnreizvorgängen, oder aber zunehmendem einfachem Hirnschwunde, symptomatologisch verschie- den. Wesentlich wirkt natürlich auf die Gestaltung des individuellen klinischen Bildes Ort und Tiefe des apoplektischen Herdes, und nicht unwesentlich auch der biologische Reifezustand d. h. die vitale Leistungsfähigkeit des Gehirns mit

In einem Falle von Apoplexie bei einem jungen Manne (in Folge einer heftigen Erhitzung auf Grundlage einer frühem schweren Kopfver- letzung) sah ich bleibende Hemiplegie mit zunehmender Geistesschwäche folgen, wobei Anfangs ein acut ballucinatorischer Wahnsinn (durch mehrere Wochen) ausbrach, später ein bleibender Verfolgungswahn, mit grosser Reizbarkeit, zeitweisen Kopffluxionen und allerlei perversen Sensationen. Der letztere führte später zum Morde des behandelnden Arztes. Bei einem 57 jährigen Manne beobachtete ich 2 Jahre nach einer Apoplexie zuerst eine gesteigerte Reizbarkeit und darauf eine Uber l Jahr dauernde Mania gravis, mit blinden motorischen Excessen , bodenloser Verwirrung, triebartig sinnlosem Gebahren, bedeutender Abmagerung. Jetzt ein Sta- dium von spielendem und faselndem Grössenwahn (Kaiser, Millionen). Nach mehreren Monaten trat ein manisches Schwächestadium (Moria) auf ; hier- auf nochmals kurze Recidive von Mania gravis, mit Uebergang in ruhigen Blödsinn. Aus diesem erfolgte, unter Hebung der Körperernährung, eine allmähliche, aber schliesslich vollständige und bleibende geistige Ge- nesung.

Mit dem Stillestehen und Ausheilen der apoplektischen Hirn- verletzung kann auch Stillstand und relative Heilung der psychischen Schwäche, mit ernstlicher Besserung der Lähmungserscheinungen eintreten (s. o.). Dies sind die klinischen Uebergangsfälle zu den traumatischen Psychosen.

d) Die Encephalitis mit dissemenirten sklerotischen Herden bildet ihrerseits den natürlichen Uebergang zu den syphilitischen Psychosen.

Die psychischen Störungen bei der klassischen Hirnrückenmarks- aklerose verlaufen gewöhnlich unter dem Bilde einer krankhaft gestei- gerten Reizbarkeit, unmotivirtem Stimmungswechsel, grosser Weinerlichkeit, Gedflcbtnissschwäche , deliranten Einfällen mit Hallucinationen, Anwand-

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Die psychischen Cerebropathieeo.

lungen von Verfolgungsangst, zwischenläufiger schwachsinniger Euphorie, albernem GrÖssenwahn progressiv (manchmal auch in rapidem Abfall) bis in die höchste Stupidität. Die höheren ethischen Gefühle bleiben in der Regel lange, oft dauernd, geschont. In einzelnen Fällen sind auch melancholische Depressionszustände mit Tentamen suicidii verzeichnet; in andern folgte auf das depressive Stadium heiterer GrÖssenwahn mit Selbstüberschätzung. Für die differentielle Diagnose sind die somatischen Zeichen der multipeln Sklerose (locale Paresen mit Steifheit, Intentions- zittern, Zungenlähmung u. s. w.) beizuziehen.

Die von mir beobachteten Fälle von progressivem Blödsinn mit Läh- mung auf der Grundlage einer Encephalitis mit Capillarektasieen und miliaren Herden waren beide durch einen anhaltend sehr hohen Betäubungszustand mit intercurrenten motorischen Herderscheinungen und apoplektischen Anfällen ausgezeichnet. Mit der Stupidität wechselten Erregungszustände mit blindem Zerstörungsdrange ab. Schliesslich wurde die tiefste Stufe des apathischen Blödsinns mit allgemeiner Parese, neben localen Lähmungen, erreicht. Der L. Meyer'sche Fall (zugleich der erste in dieser Hinsicht beobachtete) entwickelte sich aus Melancholie mit epileptoiden Angstzufällen zu einem geistigen Schwachsinn, mit mo- torischer Parese im Hypoglossus und Facialis und Abstumpfung des Schmerzgefühls, wie bei der progressiven Paralyse.

e) Psychische Cerebralleiden unter der klinischen Form des progres- siven Blödsinns mit Lähmung, bedingt durch Neubildungen im Gehirn

werden hier bloss der Vollständigkeit wegen angeführt, da sich eine all- gemeine Symptomatologie nicht einmal in groben Umrissen geben läs-?t. Sitz des Tumors, Grösse, Wachsthumsschnelle, complicirende mechanische Folgewirkungen u. s. w. machen jeden Fall zu einem individuellen. Das ausserordentlich polymorphe, regellos verlaufende, gewöhnlich aus diffusen und Herderscheinungen gemischte Bild zeigt wohl im Allgemeinen die Symptome eines mehr oder minder raschen Blödsinns (allgemein und par- tiell) mit den mannigfachsten Lähmungen ; dazwischen aber stupid manische, delirant hallucinatorische und auch lucidere Phasen. Selbst das Paralyse- bild ist wiederholt bei Tumoren beobachtet worden, manchmal anhaltend, in andern Fällen vorübergehend, bis dann plötzliche Insulte und locale sprungweise Lähmungen, ophthalmoskopische Erscheinungen u. s.w. die Specificität des atrophirenden Hirnleidens aufklärten, lieber die speciellen diagnostischen Gesichtspunkte s. Bd. XI d. Hdb.

f) Complicirende Rückenmarkserkrankungen. Die hier in Betracht kommenden spinalen Processe sind: graue Degeneration der Hinter- stränge (Tabes, „tabische Paralyse"), Lateralsklerose (spastische Paralyse), fleckweise Degeneration der Hinter- und Seitenstränge, centrale Myelitis, Syringomyelie.

Ein bestimmteres allgemeines Krankheitsbild lässt sich auch für diese verschiedenen coraplicirenden Spinalprocesse nicht geben. Am ehesten noch bilden die „tabischen Paralysen" eine klinisch ge- schlossene Gruppe. Aber auch hier differiren die Syraptomenbilder

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Paralysen aus capill. Apoplexieen; Hirntumoren; „tabische" Paralyse. 395

wesentlich nach der Eintrittszeit der Tabes, insofern diese dem para- lytischen Hirnprocess bald vorausgehen, bald nachfolgen kann (s. u.). In beiden Fällen kann das cerebrale Bild das einer gewöhnlichen Paralyse sein, und die spinalen Tabessymptome sich einfach dazu summiren. Sehr oft aber, namentlich bei vorausgehender Tabes, können die durch die letztere gebrachten Zeichen klinisch im Vor- dergrunde stehen bleiben, und die cerebralen nur erst unbestimmt \sich kundgeben.

Nach den einleitenden charakteristisch rheumatoiden Schmerzen (sehr oft auf Grundlage derselben) bildet sich ein hypochondrischer Zustand aus, welcher schrittweise in Dementia übergeht, während die immer um- fassenderen Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen den Fortschritt der Tabes nach oben, und das Hinzutreten von anarthrischer Aphasie den Ueber- griff des Leidens speciell auf den Med. oblong, darlegen. Der Verlauf dieses tabischen Blödsinns ist oft ein sehr rascher; in anderen Fällen treten aber gegentheils auch oft unerwartete, jahrelange Remissionen nach psychischer und körperlicher Seite ein. Das psychische Bild, welches sich auf der Tabes aufbaut, zeigt aber nicht selten eine mannigfaltigere Gestal- tung und Entwicklung. Dasselbe setzt a) mit Verfolgungswahn (s. S. 1 62) ein, welcher seine Allegorieen aus den spinalen Sensibilitätsstörungen be- zieht; oder b) es treten erst manische Anfälle auf mit gemischtem de- pressiv exaltirtem (GrÖssen-)Delirium, woran sich erst Genesung und dann nene Nachschübe, oder aber ein hypochondrisches Schwächestadium an- schliesst, mit progressiver Dementia. Interessant sind die temporären Besserungen des Blödsinns und der Ataxie, oft ganz plötzlich, auf Tage oder Stunden hinaus. Dafür ist andererseits der Verlauf der Fälle durch häufigere Convulsionen unterbrochen als die gewöhnliche Paralyse. Der ataktische Charakter der Bewegungsstörungen mit den Aenderungen der Sehnenreflexe (s. typ. Paralyse) bleibt, neben der progressiv einrückenden motorischen Paralyse, das auszeichnende Symptom.

Als eine besondere Modification tabischer Dementia hat Simon einen Zustand von progressivem Blödsinn mit Lähmung beschrieben, in welchem die Dementia und die Tabes gleichzeitig einsetzen. Die erstere hat die Eigenart der senilen Form: Vergesslichkeit, Hang zu träumerischen Faseleien, kindisches, sehr reizbares Wesen mit Anstreifungen an einen albernen fragmentaren Grössenwahn, frühzeitige Bulbärsymptome , An- ästhesie und Analgesie. Simon fand in seinem Falle hochgradige Sklero- Birnng der Marksubstanz des Grosshirns neben stahlblauer Verfärbung der Corticalis, graue Degeneration der Hinterstränge, Körnchenzellen- Myelitis der Seitenstränge.

Für die Epikrise ist zu beachten, dass manchmal p. m. Degeneration der Hinterstränge bei Paralyse sich findet ohne intra vitam bestandene Ataxie und Sensibilitätsstörungen. Letztere Zeichen scheinen demnach erst bei genügendem Markröhrenschwund zu Tage zu treten (Westphal). Die- selbe Vorsicht gilt auch manchmal für die Diagnose einer Lateralsklerose, welche trotz der vorhanden gewesenen spastischen Symptome fehlen kann (Zacher).

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Die psychischen Cerebropathieen.

g) Psychische Cerebralleiden durch Encephalitis syphilitica.

Wenn schon die vorstehenden Hirnaffectionen Einsprache erhoben gegen den Versuch ein nur einigermaassen typisches Symptomenbild der zukommenden psychischen Störung zu entwerfen, so ist bei der Hirnlues die Schwierigkeit eine noch erheblich grössere. Seit wir wissen, dass die letztere sowohl diffuse als auch locale Producte setzt und ausserdem noch aus beiden Richtungen gemischte, so müssen wir gefasst sein, allen den vorhin beschriebenen Untergruppen im Detail der syphilitischen En- cephalitis wieder zu begegnen. Ein Blick auf die pathologisch-anatomischen Vorkommnisse im Groben zeigt, dass dies auch nicht anders sein kann. Wir treffen hier Knochenprocesse am Schädel, eigenartige Meningitiden und Encephalitiden, theils rein, theils wiederum in Verbindung mit Herd- erkrankungen, letztere bald ans einfacher Erweichung, bald aus einer Arterienerkrankung hervorgehend, und diese wiederum bald umschrieben, bald diffus; ferner noch die specifisch gummösen Neubildungen und die partiellen Gehirnskierosen. Dabei spielen sich alle diese Vorgänge theils mehr im chronischen, theils im acuten Tempo ab, wodurch noch neue und noch verwickeitere Entstehungs- und Abänderungsbedingungen für die klinische Erscheinungsweise gegeben sind. Es begreift sich daraus das Proteus-ähnliche der Krankheitsbilder, von welchen nicht zwei Fälle einander genau gleichen, und so auch weiter die Abneigung vieler Be- obachter aus diesem Embarras de richesse noch ein „specifisches" heraus- zuschälen, welches einigermaassen Anspruch auf gesonderte Existenz hat.

So wichtig nun diese letzteren Bedenken im Allgemeinen auch sind, und so gegründet der Einwurf gegen den Versuch einen präcisen Schul- typus im Gebiet der syphilitischen Cerebropathieen aufstellen zu wollen, so gingen dieselben doch zu weit, wenn damit jede Berechtigung bestritten werden wollte, einen generellen Rahmen um die grössere Anzahl dieser Symptomenbilder zu ziehen, und innerhalb dieses wenigstens diejenigen Nuancen herauszuheben, welche mit einer gewissen Häuf igkei t wieder- kehren, und tbatsächlich die syphilitische Gruppe von verwandten aus- zeichnen. Dass die hierher gehörigen Fälle sämmtlich unter einer oder der andern Form der sog. modificirten Paralysen verlaufen, dürfte nicht zu bestreiten sein, und wird auch von den Gegnern der „Specifität" zu- gegeben. Damit wird der weitere klinische Rahmen umschrieben. Dafür darf nun gegentheils eingeräumt werden, dass die Hirnlues unter Umständen auch als typische Paralyse verlaufen kann, allerdings (wenig- stens nach meinen Beobachtungen) viel seltener, als man lange Zeit annahm, wo man sogar alle Paralysen schlechthin auf eine speci fische Entstehung zurückleiten wollte. Aber auch innerhalb dieses engern und weitern Rahmens heben sich gewisse klinische Nuancen heraus, theils im somatischen, theils im psychischen Gebiet, theils endlich nach Richtung des Verlaufs. Es gibt, wie ich behaupten möchte, einen specifischen luetischen Blödsinn, welcher höchstens nocli mit gewissen alkoholischen Formen einige Aehnlichkeit hat; es gibt gewisse Eigenheiten im Verhalten der motorischen Störungen , wenn auch nicht regelmässig nachweisbar ; und endlich gewisse Besonderheiten im Verlaufe, gegenüber den typischen und den sonstigen modificirten Paralysen. In diesen Momenten liegt für mich das Specifische der „syphilitischen" Paralyse, wo sie vorkommen,

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Paralysen aus Encephalitis syphilitica.

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was allerdings nicht immer der Fall ist. Selbstverständlich darf die Dia- gnose auch nie von den andern diagnostischen Hilfen absehen, welche von der innern Medicin für dieses Specialgebiet geleistet werden (s. Heubner, d. Handb. XI).

Im allgemeinen Krankheitsbilde können motorische und psychische Symptome theils einzeln, theils vereint, die Scene er- öffnen. Die psychischen selbst scheiden sich wieder in Läh- mungs- und Reizsymptome. Der Lähmungscharakter ist der häufigere. Eröffnet ein primärer Blödsinn die Scene, so besteht dessen Aus- zeichnung und Eigenart 1. in seiner auffallend raschen Entwick- lung (mit den übrigen diffusen d. h. uncomplicirten Hirnatrophieen verglichen), und 2. in seiner ungleichen Ausdehnung resp. Verthei- lung auf die einzelnen intellectuellen Functionen. Neben der allge- meinen und intensiven geistigen Schwäche treten locale Defecte auf, in Form des Verlusts einzelner Fähigkeiten partielle psychi- sche Ausfallserscheinungen als ob der Kranke dieselben nie be- sessen hätte. Gebildete Kranke verlernen das Rechnen mit den 4 Species, vergessen eine ihnen früher geläufige fremde Sprache; wie- der Andere verlieren, fast isolirt, die Anschauung (Beurtheilung) des Maasses und der Entfernungen (Erlenmeyer). Der syphilitische Blödsinn besteht nicht in einer ebenmässigen Abnahme oder Auf- hebung der geistigen Fähigkeiten, sondern als ein eminent partieller, wenngleich sofort sehr tiefgreifender Zerfall dieser oder jener geisti- gen Energie. Dieses Cbarakteristicum überträgt sich auch auf die höhern psychischen Leistungen. Dazu kommt als weitere Eigenart 3. dass eine solche schwache Seite im krankhaften Charakter sich zeitweise wieder verliert, um eine andere herauszukehren (sprung- weiser Defect). So können sich Witz und Bornirtheit, Gemüth- lichkeit und Brutalität, Bescheidenheit und Prahlerei, zarte Sitte und rohes, oft unanständiges Wesen neben einander lagern, resp. ab- wechseln. — Beginnt die Dementia nicht primär, so ist sie nicht selten von hypochondrischer (syphilit) Melancholie (s. d.) eingeleitet, während gleichzeitig körperlicherseits die specifische Kachexie und Chlorose sammt den nie fehlenden Neuralgieen (besonders Kopf- schmerzen) die erweiterte diagnostische Grundlage abgeben. Dieses hypochondrische Vorstadium , welches unter Umständen Monate und selbst Jahre (nach meiner Beobachtung) einnimmt, kann oft zu den furchtbarsten, echt cerebralen, Angstzufällen führen, und den Kranken einem unbezwinglichen Selbstmordtrieb in die Arme führen (s. Melanch.). Damit geht, bei einmal entwickelter Krankheit, derselbe Mangel an Krankheitseinsicht Hand in Hand, wie dieser auch der specifischen

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Die psychischen Cerebropathieen.

Paralyse eigen ist, ebenso dieselbe Hingabe an die Producte einer ungezügelten Phantasie, dieselbe schwachsinnige Beurtheilung der nächsten Verhältnisse und der eigenen Lage, dieselbe Lockerung des Gedankenganges, Unmotivirtheit des Stimmungswechsels mit der Rück- sichtslosigkeit und Leichtfertigkeit und den groben Grenzverletzungen des Geziemenden, dieselbe psychische Zerfallenheit, trotz einem oft noch längere Zeit aufblitzenden (partiellen) geistigen Glänze. Auch der Grössenwahn gibt manchmal dem paralytischen nichts nach, wenn er allerdings auch öfter sich nur auf eine blödsinnige Heiter- keit reducirt, welche zur Täuschung über den Krankheitszustand, und zu kritiklosem Aufgehen in der Minute, ohne Wunsch und Klage, führt.

Mit dem Blödsinn verbinden sich nun bald motorische Sym- ptome, und zwar theils mit dem primären Charakter der Lähmung, theils aber auch in Form der Ataxie und der krampfhaften Hem- mungen ; auch hier wie in den analogen Anfangsstadien der Paralyse. Die Sprachstörung ist demgemäss bald mehr die ataktisch-paralytische, bald mehr die glossoplegisch-bradyphasische. Die Arm- und Fussbe- wegungen werden plump, unsicher. Die Entwicklung der motorischen Störungen gegenüber den psychischen ist übrigens oft eine auffallend mässige. In der Regel haben mittlerweile die verdächtigen Neur- algieen, die Dolores osteocopi (heftiger Kopfschmerz) namentlich Nachts sich festgesetzt, bald die psychische Störung begleitend, bald mit dem brüsken Einsatz der letztern eine Zeitlang zurückweichend. Nicht selten melden sich um diese Zeit auch Sehstörungen an (in einem Falle meiner Beobachtung ging eine centrale Amaurose 1 Jahr der geistigen Krankheit voraus). Treten jetzt keine stürmischen Zeichen auf, so kann der Process in progressiver Verschlimmerung der psychischen und motorischen Zeichen seine weitere Entwicklung nehmen. In der Regel aber schieben sich bald auch motorische Herdsymptome ein. Es treten Ptosis und Strabismus, vorübergehende Aphasie, oder klonische Krämpfe in den Extremitäten auf (sprung- weise, ohne anatomische Continuität!), und verschwinden wieder flüchtig. Sehr häufig wechselt auch die psychische Scenerie: an Stelle der blödsinnigen Indolenz rückt eine heftige Manie mit den einschneidenden Bewusstseinsdefecten , wie sie der Paralyse eigen sind; oder auch ein acutes Delirium, in letzterem Falle mit oft rasch tödtlicher Wendung. Oder aber: es durchzucken apoplektiforme und epileptoide Anfälle das bis dahin monotone Krankheitsbild, und lassen neben gleichzeitig tieferer Verblödung vorübergehende und dauernde Hemiplegien zurück.

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Paralysen aus Encephalitis syphilitica.

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Anderemale können die genannten Krampfattaken auch den Ver- lauf beginnen (wie bei der congestiven Paralyse). In derselben einleitenden Function tritt auch oft eine Manie auf, mit der imma- nenten Dementia, gerade wie bei der typischen Paralyse, und auch mit demselben Grössen wabnscbarakter, so dass das „specifische" Bild im Ganzen und Einzelnen (hier auch in der Entwicklung) mit dem typischen zusammenfällt wenn nicht die begleitenden moto- rischen Symptome Einsprache erheben.

Letztere behalten in gut ausgeprägten Fällen neben dem sprungweisen Auftreten und flüchtigen Verschwinden (Wunderlich) den gemischten Lähmungs- und Reizcharakter (locale Paresen und Contracturen). Mit den grob motorischen Insulten wechseln An- fälle von Sopor mit traumartigem Halbschlummer, Schwindelanfälle, Zitterkrämpfe wie bei multipler Sklerose. Zu den Lähmungen ge- sellen sich auch noch immer ausgedehntere sensible und sensorielle Störungen (Amaurose s. o.). Nicht selten schiebt sich gelegentlich wieder ein syphilitisches Exanthem ein, oder specifische Knochen- processe. Mitaffectionen des Rückenmarks zeigen sich in Aenderung der Sehnenreflexe, Auftreten von Decubitus, Cystitis. Das Heer der damit einrückenden körperlichen Zeichen (neurotischer und trophischer Natur) setzt sich, je nach der individuellen Grundlage, mehr aus den einschlägigen finalen Symptomen aus der typischen, oder aus denen der modificirten Paralysen zusammen.

Auch in die Gestaltung des Verlaufs sind alle Ergebnisse und mög- lichen Zwischenfälle aus derselben polymorphen pathologisch-anatomischen Unterlage einzurechnen. Für einen Theil der syphilitischen Paralysen stimmt der Verlauf ganz mit dem der klassischen Uberein, sowohl der gewöhnlichen, als der acuten Form, und der Varietäten; dabei ist aber der syphilitischen Paralyse in der Regel eine ungleich längere Ver- laufsdauer eigen (sogar bis zu 20 Jahren), wie sie bei der typischen nicht vorkommt. Sodann werden bei der ersten (der specifischen) manchmal plötzliche Wendungen aus schweren Krankheitsstadien zu einem täu- schend guten Befinden beobachtet, wie dies der gewöhnlichen (klassi- schen) gleichfalls nicht eigen ist; ein Verhältniss, welches vielleicht in der bekannten Flüchtigkeit auch anderer luetischer Hirnzustände (Läh- mungen) sein Analogon findet. Dabei sind eigentliche Remissionen nicht so häufig, wie bei der gewöhnlichen Paralyse, obwohl solche auch vor- kommen, sogar bis zur Höhe der Kränkheitseinsicht und bis zur wieder- gewonnenen Festigkeit und Sicherheit in den Muskelbewegungen, auch der feineren. Es gibt sogar solche scheinbare Reconvalescenten, welche durch ihre Haltung, durch das Feuer ihres Geistes und die Innigkeit ihres Gemüths gelegentlich förmlich entzücken. In der Regel aber bleibt der remittirende „specifische" Paralytiker in vermehrtem Grade, als der ge- wöhnliche, in diesen Nachlasszeiten geistig geschädigt; viel mehr als Dieser,

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Die psychischen Cerebropathieen.

welcher ja so oft als gesund imponirt, fährt Jener fort da und dort sich Blössen zu geben; er bleibt, vergleichsweise, viel schwacher in seinen beruflichen Leistungen, periodisch gedrückt, übelgelaunt; kurz: er trägt das Siegel seiner gewissen Krankeit viel prägnanter mit sich fort Die Remissionen haben gewöhnlich eine mehrmonatliche Dauer.

Pathologisch-anatomisch sei hier des makroskopischen Fund- reichthums nur kurz gedacht. Vom Pericranium (Periostitis syphilitica) und Schädelgehäuse beginnend, sind einerseits die hyperplastischen Knochenprocesse mit den Osteomen, andererseits die ostitischen (gum- mösen) auch bei unseren luetischen Psychopathieen nicht selten, manch- mal mit vollständiger Perforation der Schädelkapsel und secundärem Ueber- tritt der Entzündung auf die Hirnhäute. Im Gebiete der Hirnhäute sind es die bekannten diffusen und circumscripten Verwachsungen der- selben unter sich, sowie mit dem Schädeldach und der unterliegenden Corticalis. Ob auch die circumscripte fellartige Verdickung der Arach- noidea als specifisch gelten darf, muss erst noch weiter bestätigt werden. Im Gehirn selbst wie auch in den Hirnhäuten, wo besonders ihre Entwicklung an den Nerven-Foramina bedeutsam ist, sind dann Gumma bildungen in ihren verschiedenen Formen und Consistcnzgraden die Reprä- sentanten der syphilitischen Einwirkung. Ausserdem aber auch die um 8chriebenen Erweichungsprocesse , theils in der Corticalis, theils in der Marksubstanz; dissemenirte Sklerosen in Form von eingesprengten „blau- grauen" Herden an der Hirnbasis (L.Meyer). Die specifische Arterien- Veränderung Heubner's (von Neuern wieder bestritten) soll in einem charakteristisch kleinzelligen Wucherungsprocess zwischen elastischer Mem- bran und Intima (bestimmt unterschieden vom atheromatösen Vorgang) be- stehen, und zur allmählichen Beeinträchtigung und schliesslichen Aufhebung des Gefässlumens fuhren.

Zur Frage einer mikroskopisch nachweisbaren Encephalitis specific* kann ich aus eigenen Beobachtungen den Fund einer hochgradig schwie- ligen Verdickung und förmlich faserigen Einscheidung der klein- sten Gefässe beitragen, wie dies in Fällen der gewöhnlichen Encephalitis nicht vorkommt. Der Befund verglich sich annähernd mit dem in der narbigen Umgrenzung alter apoplektischer Herde, nur dass derselbe hier frei und streckenweise vorkam. In demselben Sinne ist vielleicht auch die enorme Vermehrung der Arachniden in der grauen Substanz bei einem meiner Fälle von Myelitis syphilitica zu deuten. Einmal fand ich weit verbreitete hyaloide Gefässdegeneration in der Corticalis.

Therapie.

Die Behandlung der modificirten Paralysen ist im Wesent- lichen dieselbe wie die der typischen, nur mit den durch die je- weilige Hirnaffection speciell gebotenen Abänderungen. Die letztern richten sich nach den Vorschriften der innern Medicin. Die galop- pirende Paralyse hat die zwei Indicationen a) der Bekämpfung des acuten (entzündlichen) Hirnreizes, und b) der drohenden Kräfte- consumption in erhöhtem Maasse zu berücksichtigen.

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Der Alkoholismus and die alkoholiatischen Psychosen.

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(Eisbehandlnng, Bettlage, verdunkeltes Zimmer, feuchte Einpacknngen mit Eisumschlägen , zeitweilige hirud. Anfangs milde Diät, Milchcuren, bald aber kräftige, leicht verdauliche Kost, Fleisch mit Wein und Bier, Opiate, unter Umständen Ergotin, kräftige Ableitungen auf den Scheitel, den Nacken, die Küsse.) Sie ist nur in einer Anstalt zu vollziehen.

Bei der tabischen Paralyse ist die niitbegleitende Tabes nach den für diese geltenden Indicationen in Angriff zu nehmen (constanter Strom). Die syphilitische Paralyse indicirt Jod- kali, wenngleich leider dessen Wirkungen auch nur selten den ge- hegten Hoffnungen entsprechen. Andere antisyphilitische Curen (Ein- reibungen, subcutane Einspritzungen) dürfen nur unter sorgsamer Be- rücksichtigung des Kräftezustandes unternommen werden. Ist der Kranke nicht störend oder gefährlich, so kann auch eine Badecur (Aachen) unter sachverständiger Beaufsichtigung und Leitung in Er- wägung treten.

Der Alkoholismus und die alkoholistischen

Psychosen.

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Der Alkoholismus und die alkoholistisehen Psychosen.

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Die klinische Betrachtung der Alkoholpsychosen geht mit Vor- theil von der Naturgeschichte der einfachsten Form der Alkoholver- giftung, des Rausches, aus. Man hat aus dem Symptomenbild und Verlauf des letztern eine „kurze und abstracte Chronik der Geschichte des Irreseins" herausgelesen. Richtiger ist wohl dieser Ausspruch auf die Aehnlichkeit des Rausches speciell mit der „Paralyse" zu beschränken. Auch so ist die Parallele noch interessant genug. Sehen wir dabei von den erwägenswerthen Folgerungen ab, welche diese Analogie für die nosologische Auffassung des wirklichen Pa- ralyse-Processes nahe legt der Rausch bringt dessen acute tran- sitorische Wiederholung zu Stande, ohne jeden Entzündungsvorgang, nur functionell durch acute Intoxication ! so ergibt die That- sache der individuellen psychischen Verschiedenheit des Rausches (bald Depression, bald Exaltation), und die weitere der unendlich verschiedenen Grössenmengen des erforderlichen Alkoholgiftes sehr beachtenswerthe Grundlagen für das Verständniss der Alkoholpsy- chosen überhaupt. Beide Erfahrungen zeigen, dass aller Effect in erster Linie auf die individuelle Hirnconstitution ankommt, und in zweiter auf die Stärke der chemischen Schädlichkeit (Schnaps wirkt ungleich verderblicher, als Bier oder Wein, und unter jenem wieder die Amylverbindungen schlimmer als die Aethylpräparate, und diese schlimmer als die Methylderivate). Aber auch die indi- viduelle Hirnconstitution schwankt zu verschiedenen Lebensepochen und unter differenten physiologischen Bedingungen: was zu Zeiten grösserer Rüstigkeit gut ertragen wurde, kann in den Tagen einer stärkern nervösen Ergriffenheit schon zur krankmachenden Schäd- lichkeit werden, und den Rausch zu einer wirklichen transitorischen Seelenstörung umgestalten (s. pathol. Rauschzustände).

Ungleich häufiger treten die Wirkungen fortgesetzter Trink- excesse auf das geistige Nervenleben auf. Dieselben können in zweifacher Weise zu Stande kommen, in der Form: 1. einer plötz- lichen acuten Himaffection, als Ausdruck summirter Giftwirkung des Alkohols, weniger wohl der direct chemischen, als wahrscheinlich

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Allgemeines.

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der vasomotorischen; and 2. als chemische Durchseuchung des ganzen Organismus, als sog. Alkoholkachexie, wiederum in chronischer oder intercurrenter, acuter Form. Jene ist das einfache Ergebniss wieder- holter und sich summirender tiefer Berauschungen, ohne eine bleibende Dyskrasie; diese dagegen stellt den Ausgang einer systemati- schen Schädigung sämmtlicher nervöser und vegetativer Func- tionen dar, mit gewissen deletären Organerkrankungen. Es begreift sich, dass beide Erscheinuugsreihen in dem Sinne zusammengehören, als sie die häufige Stufenleiter im Niedergang des Gewohnheits- trinkers darstellen: die zweite als die Weiterentwicklung der ersten. Aber die Aufeinanderfolge ist keineswegs eine noth wendige und immer zutreffende. Es kann vielmehr die erste Stufe erreicht wer- den, und das geschwächte Nervensystem nach einer oder mehreren nervös- toxischen Krisen wieder zur Norm sich zurückbilden ; andrer- seits kann die chronische Säuferdyskrasie sich primär entfalten, ohne den Umweg durch jene wiederkehrenden acuten Vergiftungen zu nehmen.

That&achlich ist auf der ersten Stufe der Alkoholismus unter ge- wissen Bedingungen noch heilbar, und erst auf der zweiten in seinem Ausgang besiegelt; es kann aber dieses Endschicksal als Stigma dege- nerationis auch schon den ersten Entwicklungsstadien mitgegeben sein. Dürfen deshalb beide Stufen auch theoretisch unter der Bezeichnung des Alcoholismus chronicus zusammengefaßt werden, so ist praktisch doch deren Trennung festzuhalten. Entsprechend sind auch die klinischen Symptomenbilder, wie sie in reinster Form den beiden genannten Stufen zukommen, theilweise verschiedene: so gehört der acute alkoholistische Wahnsinn vorzugsweise der ersten Stufe an, und nur untergeordnet und vorübergehend der zweiten; dagegen beschränkt sich der chronische Säuferwahnsinn, Delirium tremens, und die alkoholistische Paralyse nur auf die zweite d. h. den Alcoholismus chronicus s. str.

Ein Ueberblick über die Seelenstörungen im Gefolge des fort- gesetzten oder gewohnheitsgemässen Abusus spirituosorum hat aber noch von einem weitern Gesichtspunkte auszugehen. Die sämmt- lichen einschlägigen Psychosen sind mit den eben genannten Formen, wenn diese immerhin auch von den frühern oder spätem Stadien des Alkoholismus bevorzugt werden, lange nicht erschöpft. Es kom- men vielmehr alle in der Pathologie des Irreseins gekannte und früher abgehandelte Habitualformen auf der Grundlage dieser Intoxi- cation vor: Manieen, Melancholieen und acute Demenzen, neben und mit den erwähnten acuten und chronischen Wahnsinnsformen. Sym- ptomatologisch tritt nun der wichtige Unterschied hervor, dass ein Theil derselben ein scharf bestimmtes, in seinem Detail immer wiederkehrendes klinisches Bild zeigt, während die andern im All-

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404 Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.

gemeinen und auch vielfach im Speciellen mit den verwandten Formen aus anderer Entstehung zusammenfallen (s. u.). Es lassen sich somit specifisch „alkoholistische" Psychosen unterscheiden von solchen, in welchen der Alkohol bloss mitwirkendes Element ist, während er dort formgebendes ist. Unter die specifischen Formen gehört der acute Trinkerwahnsinn und das Delirium tremens (beide vielleicht im Wesentlichen derselbe Störungsvorgang, jener in einem durch fortgesetzten Abusus spirituosorum vorübergehend tiberreizten, dieses in einem durch eine chronische Intoxication dauernd ge- schwächten Gehirn); sodann der Alcoholismus chronicus s. str. Zu den nicht- specifischen Formen sind die alkoholistischen Melancho- lieen, Manieen, Paralysen und chronischen Wahnsinnszustände zu stellen.

Es muss hier übrigens sofort bemerkt werden, dass die Uebereinstim- mung der Potusmanieen und Potusmelancholieen mit den gewöhnlichen Habitualformen nur für eine gewisse Klasse von Fällen zutrifft. In diesen lässt sich in der That symptomatologisch kein Unterschied finden. Da- gegen trägt ein anderer Theil so bestimmte Differenzen, wenn auch nur in kleineren, aber charakteristischen Zügen, dass die „alkoho- listische Signatur" unwidersprechbar ist. Wahrscheinlich vermag die Wirkung des Giftes, wenn sie tief und lange genug stattfand, ein dau- erndes Gepräge zu geben (s. später). Ganz besonders tritt diese Dif- ferentia specifica auch in gewissen Fällen von alkoholistischem chronischem Wahnsinn, und zum Theil (dafür aber um so wichtiger !) bei der Alkohol- paralyse hervor.

Unsere Schilderung geht zunächst zur ersten Gruppe über.

a) Die specifischen Alkohol-Psychosen. Unter diesen sind in erster Linie die pathologischen Rauschzustände zu erwähnen. Diese können: 1. der somatischen Sphäre angehören, und als ein übermässig frühes Auftreten des paralytischen Endstadiums der Be- trunkenheit sich darstellen. Das betr. Individuum kann schon nach einem unverhältnissmässig geringen Alkoholgenuss zusammenstürzen, und auf Stunden hinaus die hochgradigste Bewusstseinsstörung dar- bieten; dabei sind alle Zeichen der acuten Alkoholintoxication vor- handen (weite und starre Pupillen, starke Kopffluxionen, oft auch krampfhaftes Zucken der Glieder). Nach einem tiefen Schlafe er- wacht der Kranke mit dem üblichen Katzenjammer, in vollständiger Amnesie an die Vorgänge des alkoholistischen Insults.

Diese Form acuter Intoxication betrifft namentlich Reconvalescenten (Typhus), oder temporär nervös Aufgeregte, nach heftigen Gemüthsbewe- gungen und besonders beim Aufenthalt in einer erhitzenden, Fluxionen fördernden Umgebung. Es gibt aber auch eine angeborene Intoleranz gegen Alcoholica, welche zu dieser „Ivresse convulsive" befähigt.

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Patholog. Rauschzustände. Acuter Trinkerwahnsinn

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Wichtiger sind 2. die in der psychischen Sphäre sich abspielen- den krankhaften Rauschzustände. Als disponirend sind wiederum accidentelle oder angeborne Schwächezustände zu nennen, mit erreg- barem Vasomotoriu8 (Neigung zu Kopfhyperämieen). Die hier auf- tretenden acuten Psychopathieen sind: a) transitorische Furorzustände; b) Anfälle von transi torischem alkoholistischem Verfolgungswahn mit heftiger manischer Aufregung, und c) Raptus melancholici, nament- lich in der Form von Selbstmordsattentaten oder Tödtungen Ton nahen Angehörigen (im „besoffenen Elend"). Die transitorischen Manieen können sich in zweifacher Form abspielen: 1. mehr par- tiell: als plötzlich während des Trinkens (oder sofort nachher) aus- brechender impulsiver Drang zu irgend einer Gewalttätigkeit, na- mentlich zur Brandstiftung, nicht selten gegen die eigene, mühsam errungene Habe; und 2. mehr allgemein: als plötzlicher Wuth- anfall mit sinnlosem Toben und Zerstören von Gegenständen, auch vernichtendem Eindringen auf Personen. Der Anfall dauert in beiden Fällen nur ganz kurz (eine bis mehrere Stunden), schliesst manch- mal mit einem kritischen Schlafe, andere Male mit einem Stadium erschöpfter Betäubtheit ab. Charakteristisch ist die stets nur sum- marische, oder auch ganz fehlende Erinnerung an das Vorgefallene. Der peracute transitorische Verfolgungswahn (s. d.) mit schreck- haften Delirien und verzweifelten motorischen (gleichfalls sehr be- drohenden) Reactionen setzt manchmal nicht unmittelbar an den Alkoholgenuss, sondern erst einige Stunden später ein, und entsteht theils spontan, theils nach einer Gelegenheitsursache (Zorn, Angst).

Alle diese pathologischen Rauschzustände haben in praxi eine ausser- ordentlich hohe forense Wichtigkeit. Zur richtigen Beurtheilung muss nochmals betont werden, dass ihre Entstehung sich nicht immer an einen wirklichen Trinkexcess anschliesst, sondern sehr häufig (bei entsprechen- der geschwächter Disposition) an relativ mässigen Alkoholgenuss. In forenser Hinsicht ist auch sehr bemerkenswerth, dass gewisse Personen, oft nach Einverleibung von nur wenig Alkohol, für einen mehr minder langen Zeitraum in einen Zustand kommen können, in welchem sie mit anscheinendem Bewusstsein und Urtheil handeln (Käufe absch Hessen), mit nachfolgender vollständiger Amnesie an diese Vorgänge (Wright u. A.).

Die wichtigste und häufigste Form ist

der acute Trinkerwahnsinn.

Die Entstehung desselben bilden durch Tage oder Wochen voraus- gegangene alkoholische Excesse (gewöhnlich in Wein, oder in Bier und Wein). Der acute Wahnsinn bildet so den einfachen kritischen Abscbluss eines alkoholischen Uebergenusses, dessen Unternehmer aber noch nicht Gewohnheitstrinker sind. Dies ist der gewöhnliche Fall. Wenn die Krank-

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Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.

lieit im Verlauf des ausgesprochenen Alcoholismus chronicus auftritt, was, wenngleich seltener, auch vorkommt, so entfallt sie nur noch auf die Anfangsstadien der genannten Kachexie (Magenerscheinungen, Gemüths- Verstimmung, Tremor massigen Grades). Die vorgeschrittenen Schwäche- Stadien der letztern „kritisiren" sich nicht mehr in der einfachen Form des acuten Trinkerwahnsinns, sondern in der modificirten des Delirium tremens.

Die Erkrankung stellt klinisch einen acuten hallucinatorischen Wahn- sinn dar, welcher allgemein nach Form, Entwicklung und Verlauf ganz mit den analogen aus anderer (hirn-invalider) Entstehung Ubereinstimmt. Speciell für die Alkoholgenese charakteristisch sind: die Plastik und der übereinstimmend schreckhafte und zugleich impera- tive Charakter der Sinnestäuschungen, welche einen oft bis ins De- tail gleichen, und bei Individuen aller Altersstufen und Bildungsgrade wiederkehrenden Inhalt darbieten (Figuren, Rufe, und namentlich auch elementare Hallucinationen als : Schiessen, aufsteigender Rauch, fliessende Blutströme). Fast immer ist den Täuschungen auch ein geschlechtlich obseöner Inhalt beigemengt, aber nicht als cynischer Reiz, sondern als bevorstehende körperliche oder sittliche Schädigung (Drohung mit ehe- licher Untreue, geplante Attentate auf geschlechtliche Verstümmelung). Seltenerzeigt sich Elektricitätswahn, dagegen hin und wieder gegen Schluss der deliranten Phase ein vorübergehender Exaltationawahn. Grundzug der Stimmung ist furchtbare Depression mit Verzweiflungsangst und den ge- fährlichsten reactiven Raptusanfällen. Das Bewusstsein ist stets tief ge- stört, manchmal vorübergehend aufgehoben. Der Verlauf ist acut in ein- maligem Paroxysmus, oder aber remittirend in wiederholten Nachschüben. Der Ausgang ist 1. Genesung (Suicid!); 2. Rücktritt auf die Stufe der chronisch alkoholistischen Constitution, ev. auf den schon zuvor bestan- denen chronischen Verfolgungswahn.

Krankheitsbild. Der Ausbrach erfolgt entweder sofort nach einem schweren Excess (Reihe von solchen), oder nach einem Zwischen- raum von mehreren Tagen. Im letzteren Falle erscheint das Wesen des Kranken verändert: er ist gedrückter, misstrauischer, reizbarer geworden. Mit Vorliebe bricht der Wahnsinn unmittelbar nach Ab- führung des Betrunkenen, im Haftlocal, aus. In der Regel treten die ersten Erscheinungen Nachts auf. Eine zunehmende Masse von leib- und wesenhaften Sinnestäuschungen stürmt auf den Kranken ein. Er sieht Feuerscheine, hört Schiessen; auf der Strasse sammeln sich Leute, deren steigeudes Getümmel ihre feindliche Absicht gegen den Kranken kundgibt. Er hört die Tritte von Gensdarmen, welche ihn holen wollen. Mau verlangt, ihm Ruthenstreiche geben zu dürfen, oder ihn nackt auf die Strasse zu schleppen. Oefters folgt jetzt schon ein Gewaltact (Suicid. Versuch, Flucht aus dem Fenster, Ver- theidigungsschüsse mit Pistolen, Zertrümmerungen von Zimmergegen- ständen). Der Kranke tobt und rast, greift jeden Eindringenden lebensgefährlich an. Kommen Augenblicke von Ruhe, so schrecken

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Acuter Trinkerwahiisinn. Klinische Varietäten. 407

drohende oder strafende Geister das schlummerlose Auge: nehen den Kranken legt sich still und schweigsam eine weisse Person mit einem Schwert; sowie er aufsteht, hebt sich auch diese und „fuchtelt" mit dem Schwerte. In dem Kopfkissen rasBeln lebendige Heuschrecken und Käfer; aus der Luft dringt Schwefelgeruch oder Steinöldampf; am dargereichten Brod zeigen sich schwarze Flecken, am Boden des Wasserglases ein verdächtiges Pulver. Eine All- Angst foltert den Kranken, welcher oft von Beulen bedeckt und blutüberströmt, aber keiner Wunde achtend, sich unter allen Zimmer- Möbeln versteckt, nur um Ruhe zu suchen. Aber er findet sie nicht Er hört auch bald seine Angehörigen um Hilfe nach ihm rufen: man will ihnen Arme und Füsse abhacken, den Bauch aufschlitzen; er sieht Ströme Blut durch das Zimmer wallen. Manchmal erscheint auch der leibhaftige Teufel, äfft ihn in allen Masken, hält ihm Straf- predigten, und entrollt den Ausblick auf die Hölle. Feuergluthen peinigen den Kranken; seinem Fluchtdrange versperrt sich die Thlire; sie ist zu eng, das Schloss geht nicht mehr auf. Und während er so rastlos umhergetrieben wird eine Stunde eine Ewigkeit! muss er hören, wie seine häusliche Ehre verloren geht, wie die Ver- fuhrer seiner Frau schon zum Fenster hereinsteigen, wie sie ihn aus- lachen und ihm mit Amputation seines Penis drohen n. 8. w. Da- zwischen mischen sich oft auch blasphemische Worte, welche der Kranke verzweifelnd nachsprechen muss.

In anderen Fällen hat das Delirium einen religiösen Inhalt: Stimmen und Gesichte lassen das Ende der Welt herannahen, die Hölle und die Gräber öffnen sich; dazwischen tauchen auch obseöne Orgien auf; unter die richtigen Wahrnehmungen mischen sich illusorische; der Kranke lebt in zwei Welten, welche durch die Hallucinationen in Einklang ge- zwungen werden, eine die andere ergänzend; Sündergerichte werden ab- gehalten, schreckliche Strafen verkündigt; der Kranke sieht und fühlt diese an sich vollzogen; heftige manische Reaction. In einem dritten Typus sind die ersten Zeichen hypochondrisch -melancholischen Inhalts: der Kranke verbringt Nächte und Tage in übertriebener Angst wegen seiner körperlichen MissgefUhle, und meint sich auf den Tod vor- bereiten zu müssen, vorerst ohne Hallucinatiouen. Die Angstzustände treten anfallsweise ein. In der Zwischenzeit ist der Kranke ruhig, düster, stumpf vor sich hinbrütend. Plötzlich bricht jetzt der acute Verfolgungswahn mit Sinnestäuschungen in der geschilderten Weise aus. Die Hallucina- tionen können manchmal auf Einen Sinn (Gehör) beschränkt bleiben.

Sind die Schrecken der Nacht vorüber, so folgt meist ein Tag der Abspannung, wo der Kranke zusammengebrochen unter den wir- belnden und jagenden Erinnerungen daliegt, weint, nicht selten Speise und Trank verweigert, aber dabei leidlich klar ist Andere Kranke

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Der AlkoholismuB und die alkoholiatischen Psychogen.

dagegen äussern in der Zwischenzeit einen weinlaunigen Galgen- humor, prahlen mit ihrem siegreichen Nachtabenteuer. Aber schon in der folgenden Nacht ändert sich die Scene; der Geisterspuk be- ginnt von Neuem und mit ihm die Angst, so dass manche Kranke um körperliche Beschränkung bitten. Sie versichern sogar, dass sie das Trughafte ihrer Wahngebilde einsehen. Aber gleichwohl erfolgt der nächtliche Anprall mit gleicher gebieterischer Macht, mit glei- chem Vernichtungsdrang gegen das eigene oder fremde Leben (es gibt kaum einen selbst- oder gemeingefährlicheren Kranken !). So kann es mehrere Tage bis zu 1 oder 2 Wochen fortgehen ; dann werden die Nächte ruhiger, die Hallucinationen treten zurück, und unter allmählichem Nachlass stellt sich Klarheit und summarische, selten genauere, Erinnerung ein. Der Kranke ist genesen.

Anderemale klingen zuerst die geformten Hallucinationen ab, und die elementaren bleiben noch einige Nächte und Tage (Steinrollen, Aechzen u. 8. w.). Endlich verschwinden auch diese.

In wieder anderen Fällen schliesst sich an den ersten Paroxysmus ein ruhiges Nachstadium an, mit Verstimmung, geistiger Verwundbarkeit, grosser Unterwürfigkeit unter die Gewalt zufalliger Vorstellungen, Launen- haftigkeit und Unbeständigkeit. Nachts kehren Träume wieder, welche den Kranken mit der Gewalt der Wirklichkeit erfassen. Manche Kranke gehen deshalb an die Gerichte mit Beschwerden über die erlittenen Be- drohungen. Dann folgt wieder ein mehrtägiger Angstanfall mit denselben Sinnestäuschungen, darauf wieder Ruhe, und dann abermals Paroxysmus, und so weiter durch eine Reihe von Wochen (bis zu einigen Monaten). Nach endloser Wiederholung bleiben endlich die Paroxysmen aus; die „Angst" geht im Verlauf in ein schreckhaftes Wesen über; nach und nach kehrt nachgiebige freundliche Stimmung und Klarheit wieder.

Merkwürdig sind die oft mitten unter den schreckhaftesten Delirien auftauchenden kindischen Zwischenrufe, z. B. : „Rumbidibum" ; „Pantoffel- schuh" ; „die Engel haben rothe Strümpfe an". Die Complementärfarben „roth" und „grün" spielen überhaupt eine auffallend grosse Rolle, auch „weiss" und „schwarz". Einzelnemale schilderten die Kranken einen durchgemachten Kampf zwischen den „Teufeln und guten Geistern", welch letztere ihnen in der ärgsten Schreckenszeit Math zusprachen nnd Rettung verhiessen. Bei den protrahirteren Fällen zeigt sich stets eine periodische Intensität der Sinnestäuschungen. Als eine Modification beobachtete ich wiederholt einen acuten magnetischen Verfolgungswahn, mit heftigen Angstzufällen und Hallucinationen; hier waren locale An- ästhesieen nachweisbar. Hie und da gingen auch Auraempfindungen, vom Epigastrium aus, mit einher, sowie paralytische Sensationen (glühende Eisen in den Beinen u. s. w.); Ausgang nach mehreren Monaten in Heilung.

Das Körpergewicht der Kranken sinkt während der Paroxysmen, um sich nachher wieder zu heben; der Puls ist in der Regel be- schleunigt; oft Fluxionen zum Kopfe; die Temperatur manchmal

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Chronischer alkoholifttischer Verfolgungswahnsinn.

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etwas erhöht. Gastrische Zustände mit Obstipation sind regelmässig vorhanden.

Der ehronische alkoholistisehe Yerfolgungs- (Grössen-) Wahn

hat wesentlich dieselbe Stellung zu dem vorangegangenen Spirituosen- missbrauch, wie der acute; er gehört sowohl der leichteren als der schwereren Stufe des Alkoholismus an, vielleicht der letzteren häu- figer. Viel öfter als beim acuten finden sich deshalb charakteristische motorische und namentlich sensible Störungen, welch letztere auch sehr häufig die Grundlage für die Wahnailegorieen abgeben. So ist speciell der fast typische Wahn der ehelichen Untreue oft auf nachweisbare Ano- malieen der Potenz und Illusionen des Geschlechtssinnes (Frigidität) zu- rückzuführen. Besonders aber ist der die meisten Fälle begleitende ethisch- degenerative Zug und der primäre intellectuelle Schwachsinn auf Rechnung des chronischen Alkoholismus zu setzen. In diesen beiden Zeichen, welche schon die Anfänge der alkoholistischen Gruppe begleiten, liegen wichtige und verwerthbare Kriterien gegenüber den gewöhnlichen chronischen Wahnsinnsformen, in deren sonstige Typen auch die alkoholistisehe ein- schlägt. Eine fernere Besonderheit der letztern ist, dass Sinnestäuschungen, und zwar schreckhaften Charakters, nie fehlen ; darunter sind die des Ge- hörs die vorwiegenden und häufigsten ; in zweiter Linie die des Gesichts, und in dritter die des Getasts. Dem Inhalt scheint stets eine sexuelle Färbung beigemischt zu sein (so namentlich bei den Gehörstäuschungen : Vorwürfe über angedichtete Inceste, Androhungen von Castration, Eier- stocksexstirpation (!) bei der Ehefrau oder den Kindern ; Hilferufe der Frau wegen Nothzuchtsattentaten u. s. w.). Dieselbe inhaltliche Färbung wiederholt sich auch in den häufig wiederkehrenden Gefühlstäuschungen: dass dem Kranken das Glied „ausgepumpt" werde, dass er durch Ma- schinen gelähmt werde u. 8. w. Mit der intellectuellen Schwäche hängt das weitere auszeichnende Moment zusammen, dass die Wahnvorstellungen selten so logisch streng systematisirt sind, wie dies beim gewöhnlichen chronischen Wahnsinn Regel ist. Der Ausgang in Dementia erfolgt ver- gleichsweise rascher (unter häufigen manischen Reactionsperioden), und bis zu den tiefsten Graden des Blödsinns (während beim nicht- alkoholi- stischen der geistige Niedergang in der Regel langsamer und allermeist nicht so ausgiebig sich vollzieht).

Der Beginn hat nichts Specifisches: er kann, wie bei den ge- wöhnlichen Formen, allmählich und in logischer Entwicklung aus den Lebensverhältnissen des Kranken heraus erfolgen; oder aber nach einem kurzen Anfall von acutem Wahnsinn; oder endlich direct und ohne Zwischenglied nach einem heftigen Rausche (bei genügender constitntioneller Vorbereitung). Inhaltlich ist der alkoholistisehe Ver- folgungswahn selten ein ausschliesslich depressiver; sehr oft schlägt er im Verlauf in Grössenideen (Missionswahn, fürstliche Verwandt- schaft) um. Die religiös exaltirten Vorstellungen führen mitunter zu saerüegischen Thaten oder andern Ausbrüchen einer rücksichtslosen Gemüthsrohheit; der „ideale" Zug des gewöhnlichen religiösen Wahn-

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Der AlkoholiBmus und die alkobolistischen Psychosen.

sinns fehlt hier ganz. Die intercurrenten Aufregungszustände tragen häufig raisonnirenden Charakter, in den spätem Phasen die Züge der degenerativen Manie.

Neben dem chronischen depressiven Wahnsinn kommt aber auch der primär exaltirte auf alkoholistischem Boden vor: auf einen heftigen Trinkexcess folgt Aufregung mit Grössenideen (Besitz von Millionen, extravagante Pläne); unter remittirendem Verlauf (Klepto- manie!) bildet sich ein chronischer Exaltationszustand mit fixen Wahnideen und raschem Uebergang in geistige Schwäche aus. Hin und wieder geht dieser Modification auch ein melancholisches Einleitungsstadium mit Tentamen Suicidii in unmittelbarem Anschluss an den Trinkexcess vorher. Im Verlauf der Zeit kann der Wahn zurücktreten, und einen Zustand chronischer Geistesschwäche zurück- lassen, in welchem der Kranke noch für leichtere Arbeiten manch- mal mit überraschend conservirter Intelligenz für lange befähigt bleibt. Treten dagegen weitere alkoholische Schädigungen ein, so wiederholen sich in der Regel manische Anfälle, mit um so be- schleunigterem Verlaufe in apathischen Blödsinn. Genesung wird nicht beobachtet, wohl aber Remissionen.

Der chronische Alkoholismus.

Darunter versteht man den chronischen Vergiftungszustand des Gesammtorganismus in Folge des anhaltenden und langsamen Miss- brauchs der Spirituosen, die systematische Durchseuchung des Körpers, welche sich in einer immer tiefer greifenden Schädigung der psychischen und körperlichen Functionen, und endlich in der Degeneration beider mit palpabeln anatomischen Residuen in den Central- und sämmtlichen vegetativen Organen, und in Anomalieen des Bluts und der Excrete dauernd und progressiv ausprägt.

Die Entwicklung kann langsamer oder rascher erfolgen, manch- mal nach endlosen Rauschanfällen mit ihren warnenden, aber über- hörten, Folgezuständen ; anderemale ganz schleichend, so dass der Kranke neben seinen anhaltenden Excessen noch sein Geschäft zu besorgen vermag, bis plötzlich der unterhöhlte Boden unter ihm zu- sammenbricht.

Schon das Aeussere dieser Gewohnheitstrinker trägt, bei aller individuellen Mannigfaltigkeit, typische Züge. Fettsüchtig und schlaff und gedunsen ernährt, mit weingrltnem aufgetriebenem Gesichte, prall gefüll- ten hervortretenden Augäpfeln, stark injicirter Conjunctiva, wässerigem mattem Blick, unregelmässigem kleinem, meist frequentem Pulse, katar- rhalisch afticirteu, viel zähen Schleim secernirenden Schleimhäuten, be- legter Zunge, trockener (wegen Verstopfung der Überfüllten Schmeerbälge)

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Chronischer Alkoholismus. Somatisches Bild.

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matt glänzender Haut bieten sie be'i anch noch ansehnlicher körper- licher Rüstigkeit das Bild einer tief geschädigten Constitution. In der Folge wird das Aussehen welk, gelbbraun, verfrüht greisenhaft, die Mi- roik grob; die Körperernährung nimmt ab, oft bis zur schlotternden Ma- gerkeit ; die Haut wird trocken, runzeliger, zur Furunkelbildung geneigt, bedeckt sich kleienartig mit Epidermisschüppchen ; jede leichte Contusion lässt Blutextravasate zurück. Nach den einzelnen Functionen vertheilen sich die nach und nach (bald rascher, bald langsamer) auftretenden toxi- schen Folgen: a) auf die Verdauung: als chronischer Magenkatarrh mit Wasserkolk, unvollständiger Digestion ; b) auf den Stoffwechsel: Anomalieen der Ernährung (s. o.i, hydrämisch fettbildende Dyskrasie, Vermehrung des Fibringehalts des Blutes, später „Blutdissolution" (s. o.) ; Herzschwäche, im Verlauf Fettdegeneration des Herzens, der Leber, der Nieren, der Intercostalmuskeln ; c) auf das Nervensystem: als sen- sible Störungen : gesteigerte Reflexerregbarkeit, Hyperästhesieen (schmerz- haftes Brennen in der Haut, bohrende Schmerzen in Muskeln und Kno- chen; Kitzeln und Prickeln, Pruritus, Kopfdruck, Schwindel, allgemeiner uud localer Kopfschmerz); daneben oder auch damit abwechselnd Hyp- algie und Anästhesieen, theils umschrieben (an den Füssen, oft mit dem Gefühl, als ob der Kranke auf Kautschukballen ginge; sodann in den Vorderarmen und Händen, so dass der Kranke einen erfassten Gegen- stand plötzlich nicht mehr fühlt); theils einseitig als Hemianästhesie, zu- gleich mit Temperaturerniedrigung; als sensorielle Störungen: Abnahme der Sehschärfe, Verschwimmen der Objecto, mangelhafte Induction von Farben, Amblyopie und Amaurose, Abnahme der Hörschärfe mit subjec- tiven Geräuschen. In den schwersten Fällen als Epilepsie, und verschie- dene, in der Regel combinirte, Spinalerkrankungen (Myelitis, Sklerose, diffus und strangförmig, graue Degeneration); vasomotorisch: als Con- gestivzustände zum Kopfe (oft stärker im nüchternen Zustand), Frost- anfälle; d) auf das Muskelsystem: als motorische Schwäche verschie- denen Grades, und namentlich Tremor. Letzterer kann entweder localisirt auftreten (Accomodationsmuskel), oder als allgemeines Zittern mit einzel- nen, oft vorübergehenden, spastischen Contracturen : der Kopf wird in zitternden Bewegungen von vorn nach rückwärts geschaukelt; der Thorax und die Beinmuskeln gerathen beim Stehen in convulsive Bewegungen, sowohl automatisch, als namentlich bei leisen äusseren oder psychischen Erregungen; die Zunge zittert im Ganzen und in einzelnen Partieen, weicht oft nach einer Seite aus; wird sie länger vorgestreckt, so erfol- gen leise Mitbewegungen und flüchtige Zuckungen der nächsten Muskeln, und endlich geräth der ganze Kopf bald in ein schwaches Wackeln nach rechts und links, vor- und rückwärts, bald in rotatorische Bewegungen; beim mechanischen Zug an dem Unterkiefer spannen sich die Massateren ; oft ungleiche Innervation der Gesichtshälften und Pupillen. Die Sprache ist erschwert, bradyphasisch, oft ganz undeutlich, jedoch (verschieden vom Paralytiker) in a 1 1 e n Buchstaben, und nicht durch Verschlucken von Sil- ben wie bei jenem, sondern durch allgemeines Tremuliren; merkwürdig ist die oft rüsselförmige Contraction des Mundes beim Sprechen, ohne Lippenataxie; andereraale ist aber gerade die letztere sehr stark. Die sexuellen Functionen sind im Anfang der Krankheit nicht selten

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Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.

maassloa gesteigert, später vermindert (Sterilität beider Geschlechter, Im- potenz).

In geistiger Hinsicht sind die Schädigungen womöglich noch tiefer. Sie zeigen sich intellectuell als Minderung des Gedächtnisses, Schwäche des Urtheils, Dürftigkeit der Phantasie, Interesselosigkeit; in ethisch.er und affectiver als Abnahme der natürlichen und sitt- lichen Gefühle, nicht selten mit Perversität und fortschreitend bis zur vollständigen moralischen Entartung (Verbrechernatur); als krankhafte Reizbarkeit und Zornraüthigkeit, oft bis zur blinden Wuth auf kleinste Anlässe. Auf diesen psycho-pathologischen Elementen baut sich ein eigenartiger alkoh olistische r Ch ar a kter auf, m. m. nachfolgendem Typus :

Der werdende Gewohnheitstrinker beginnt sein Geschäft zu vernach- lässigen, und frequentirt dafür das Wirthshaus. Hier wird er neben dem zunehmenden Zecher der immer frechere Renommist. Zu Hause Miss- handlungen der Frau, gesteigerte sexuelle Zumuthungen. Wachsende Ar- beitsscheu, zunehmende Kälte und Plackereien der Familie; Gleichgiltig- keit gegen sein sinkendes Ansehen ; ständige Unruhe, welche den Kranken im Hause herum- und von da wieder ins Wirthshaus drängt Hier und in der Familie fortgesetzter Streit und Hader ; vermehrtes Bedttrfniss nach der „Flasche". Jetzt oft tagelange Betrunkenheit, alle Getränkesorten untereinander. Der Eingangs gezeichnete Habitus beginnt sich auszu- prägen, namentlich auch bald Tremor in Zunge und Händen. Allerlei Missgefühle im Kopfe, Störungen der Sinnesorgane, Frostgeftihle, Appetit- losigkeit. Die Erscheinungen psychischer Schwäche brechen überall durch, und zwar im nüchternen Zustand noch bestimmter. Jüngst erlebte Tbat- sachen verschwinden, Einnahmen werden vergessen, Bestellungen doppelt und dreifach gemacht, eigene Behauptungen verleugnet und widerspro- chen. Im Geschäft widersinnige Anordnungen. Unfähigkeit, die einfach- sten Combinationen zu Stande zu bringen, unrichtige Buchungen u. 8. w. Der Kranke kann im Gespräche dem einfachsten Gedankengang nicht folgen, hat keine Gründe mehr, kommt bald in sinnloses Gefasel oder renomraistischen Wortschwall. Dabei halt- und grundloses Schwanken in den verschiedensten Tonarten der Stimmung: bald düster bis zum Lebens- Uberdruss, bald ausgelassen heiter, bald kleinlaut und wortkarg; bald hoch zu Boss, heftig bis zur Raserei, redefluthend ; in einer Stunde zer- knirscht und voller Selbstvorwürfe, in der nächsten trotzig und voll Ueber- hebung, jedoch ohne leitenden Tenor und Motivirung. Verhältnissmässig noch bedeutender leidet die Willenskraft Noth. Der Kranke vermag sich nicht aufzuraffen, obwohl er fühlt, daas der Boden überall unter ihra bricht. Bildsam wie Wachs, lässt er sich durch alle Eindrücke bestim- men; aber es haftet nichts und bleibt nichts bestehen als der Hang zum Trinken. Die Energie zur Selbsterhaltung und zur Versorgung der Familie ist längst gebrochen, die Kraft zum sittlichen Aufschwünge ge- lähmt: heute säuft er, misshandelt aufs Schnödeste seine Frau; morgen bittet er auf den Knieen um Verzeihung; trinkt einen Tag wenig oder nichts und geht mit Eifer an die Arbeit aber schon am Nachmittag wird gelungert und wieder getrunken. Jetzt zerfliesst er in Thränen über irgend eine gute Handlung, von welcher er eben gehört, im nach-

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Chronischer Alkoholismus. Psychisches Bild. Klinische Folgezustäode. 413

sten Augenblick prügelt er Weib und Kind; jetzt pocht er auf seine Selbstständigkeit und Bürgerehre, will sich nichts vergeben und kurz darauf beugt er sich wieder dem nächstbesten Worte, unterwirft sich jedem fremden Willen.

Der chronische Alkobolismus, bis zu diesem Höbegrade ent- wickelt, ist schon schwere psychische Krankheit, nicht mehr Rausch und Katzenjammer allein. Dessen weitere klinische Schicksale sind nun ausserordentlich verschieden. Es kann:

a) Auf jeden nachfolgenden Rausch sofort (oft mit der Regel- mässigkeit des Experiments!) ein manischer Ausbruch (s. u.), oder ein Raptus von Furor folgen; namentlich kehrt ein unwiderstehlicher Trieb zur Brandstiftung typisch wieder;

b) es kann eine periodische, besonders auf die Nächte ent- fallende, Aufregung eintreten in Form von Sinnestäuschungen und massenhaften Illusionen (Bulldoggen, Eisbären im Zimmer), manchmal bei voller Besinnlichkeit und ganz ohne Angst; andere Male aber mit lebhaften Schreckträumen (Verfolgungen durch schwarze haarige Hunde), mit deliranten, schlaftrunkenen Handlungen (Zerstörung von Gegenständen, Gewaltthaten, Suicidium) agitirter Alkoholismus;

c) es können manische Zustände von acutem und protrahirtem Verlaufe dazwischen treten;

d) es können melancholische Zwischenstadien intercurriren (8. u.);

e) es bildet sich der chronische alko holistische Ver- folgungswahnsinn (s. o.) heraus;

f) es können transitorische Anfälle von tiefer Bewusstseins- störunginit Sinnestäuschungen sich einstellen Delirium tremens.

Wie Eingangs bemerkt, erkenne ich in diesem letzteren die Wieder- holung des acuten Wahnsinns, nur auf der hier tieferen Cerebrationsstufe, wie sie der chronische Alkoholismus geschaffen hat.

Das Delirium tremens.

Krankheitsbild. Der Eindruck und die Entwicklung dieses in seinem klinischen Bilde, sowie im Verlaufe, specifischen Sympto- niencomplexes erfolgt auf mehrfache Weise. Stets gehen schwere Trinkexcesse , besonders im Schnaps (Absynth) voraus. Gleichwohl schliesst sich das Delirium tremens seltener direct an einen speciellen Rausch an (der Kranke kommt eigentlich aus fortgesetzter Betrunken- heit nicht mehr heraus), sondern an die plötzliche Alkoholentziehung (Haft); oder aber der Ausbruch erfolgt während des fortgesetzten Bacchanals, ganz unerwartet, in einer Nacht; besonders häufig tritt

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Der Alkoholismus und die alkoholistischen Psychosen.

derselbe im Gefolge epileptischer Insulte ein (s. n.), entweder sofort, oder nach kurzem stupurösem Intervall ; im letztern Falle setzt sich die postepileptische Betäubtheit ununterbrochen in den deliranten Zustand fort. Es kann aber auch ein Aufregungszustand mit schreck- haften Sinnestäuschungen, ganz im Bilde des acuten alkoholistischen Wahnsinns, die Scene einleiten und nach einigen Tagen in das cha- rakteristische Delirium Ubergehen.

Der Kranke wird unruhig, wankt herum, sucht zu entrinnen, rückt an den Zimmergegenständen, schreit abrupte Worte hinaus, gewöhnlich abwehrenden oder schimpfenden Inhalts, und Dies Alles in einem mehr oder minder stupiden Bewusstseinszustande. Er dämmert wie im Traume umher, lässt sich kaum zur einfachsten Antwort bringen; er weiss nicht, wo er ist, stiert den Fragenden an. Andere werden im Krankheitsbeginne geschwätzig, mischen sich tölpisch in Alles ein, wissen sich dabei aber nicht Uber die einfach- sten Dinge zu orientiren, oder vergessen sofort wieder, was sie so- eben gehört und bereitwillig zugestanden hatten. Der Ausbruch des eigentlichen Deliriums entfällt in der Regel auf die Nachtzeit. Der Kranke schreckt auf, beginnt ruhelos umherzulaufen, zu rufen, vor sich hin zu sprechen ; oft auch drängt er ungestüm fort, wird heftig beim Entgegentreten. Dabei ist, wenigstens Anfangs, die Angst oft noch grösser als die Blödigkeit. Jetzt bricht eine wachsende Fülle von Sinnestäuschungen aus, welche mit der höchsten Lebendigkeit der Gestaltung einen beständig wechselnden, nur fluchtig dauernden, dabei phantastisch - märchenhaften oder barocken Inhalt vereinen. Systemlos, unzusammenhängend, oft in den curiosesten Sprüngen einer entfesselten Phantasie, Mögliches und Ungeheuerliches, Erlebtes und Erträumtes bunt durcheinander mengend so blitzen die Phan- tasmen auf, wie ein Lichtspiel auf ein gehemmtes Bewusstsein.

Dabei sind aber doch gewisse Richtungen im Inhalt wiederkehrend, wenn sie sich anch in der unlogischsten Weise mischen und stets ver- drängen, so dass eben in dieser Mischung der specifische Charakter des Deliriums sich ausprägt. Dabei ist der Gesichtssinn in erster Linie be- vorzugt; nach diesem kommt der Tastsinn, und dann die Übrigen. Es erscheinen :

a) Thiergestalten, und zwar vorzugsweise kleine (Ratten, Fliegen, schwarze Käfer mit langen Beinen); jedoch fehlen auch grosse nicht (Ochsenherden, Thiere mit langen Hälsen); b) elementare Gebilde, und zwar sämmtlich von „glänzendem Aussehen" : Feuerscheine, Sternenregen, Springbrunnen, Goldspangeu, silberne Ringe, glänzende Ketten, glühende Drähte, Heubundel u. s. w. ; ferner farbenreiche und in zugleich in steter Bewegung befindliche Erscheinungen, wie Maskeraden und Processionen ; sodann c) Gefllhlshallucinationen: Haare und Brosamen im Bett, Draht

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Delirium tremens.

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in der Haut, abgebrochene Zähne im Munde, Quecksilber im Körper, Löcher im Kopfe (mit der Reflexhallucination, dass der Kranke auch an den Anderen solche Löcher sieht) u. s.w. In der Sphäre des Ge- rachs und Geschmacks treten Verunreinigung der Luft (Vitrioldünste aus Wandritzen) und der Speisen auf; in der des Gehörs werden Scheltrufe, oder (namentlich häufig) lascive Aufforderungen, oder gegentheils auch Beschuldigungsrufe wegen gröbster sexueller Vergeben, auch Majestäts- beleidigung, geklagt. Auch hier, und zwar noch mehr als beim acuten Trinkerwahnsinn, schieben sich oft ganz barocke Worte und Zwischen- rufe ein.

Dazu treten eine Fülle der mannigfaltigsten Illusionen, deren Inhalt ebenfalls in stetem Flusse sich ändert, wenn sie auch mit Vorliebe sich um der Erkrankung unmittelbar vorausgehende Ereignisse drehen.

In diesem Chaos von deliranten Wahrnehmungen bringt der Kranke die ersten Nächte hin, worauf manchmal noch leidliche Tage folgen, in welchen er sogar seinen Geschäften nachgehen kann. Bald aber zieht sich der stupid delirante Zustand auch in die Tage hinein. In der einen Stunde schläfrig, seinen Traumgestalten nach- hängend, kämpft der Kranke in der folgenden in blinder motorischer Reaction dagegen an. Immer aber bleiben die absolut schlaflosen Nächte die Zeit der schwersten Stürme. Nicht selten kann man den Kranken Morgens mit Contusionen über den ganzen Körper, oder mit einem helmähnlichen Hämatom über dem Kopfe und der Stirne antreffen, welches er sich durch Anschlagen an die Wände beigebracht, wenn er den „feurigen Hengsten, die nach ihm mit den Hufen schlugen", ausweichen wollte. Dazwischen schieben sich auch klarere Stunden, wo er harmlos in seiner Umgebung sich umschaut, als ob er nicht erst den Furien seiner Phantasie entronnen wäre; wo er mit kindischer Heiterkeit über Lappalien lacht, an leichten Spielen Theil nimmt, „ganz gut und wohl" sich befindet, obwohl er in der Regel vor Erschöpfung und agitirtem Muskeltremor kaum aufzustehen vermag. Manche Kranke stecken sich plötzlich in einen Galaanzng, weil sie fürstlichen Besuch empfangen sollen. Aber mitten aus diesen lucidern Momenten kann er wieder einem Traumbild an- heimfallen: das Zimmer, die Personen, werden plötzlich andere, und er merkt nicht die ihm mitgespielte Täuschung; er befiehlt und ruft an, wie wenn er zu Hause oder im Kreise seiner Zecher sässe; oder er belustigt sich, wie „plötzlich eine Maus in das dargebotene Trink- glas schlüpft". In gleicher Weise kann er aber auch mitten aus dem Spiel einen ernsten Selbstmordversuch machen, oder auf Stunden wieder in vollständige Stupidität sinken, so dass er auf keinen An- ruf mehr reagirt, oder höchstens ziel- und planlose Entäusserungen, oft monotone Bewegungen macht, beständig wischt und zupft, als

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416 Der Alkoholismuß und die alkoholistischen Psychosen.

ob er „Haare" oder „Garn und Fäden" von sich abwischen wollte. Dieses Minutenbewusstsein mit stetem Wechsel der verschiedensten Helligkeitsgrade, dabei mit fliessenden Uebergängen der halbluciden und träumerischen Phasen (wie die Bilder einer Laterna magica), ist sehr charakteristisch für das Delirium tremens. Dabei bleibt selbst für die klarsten Momente die ungeheure Urtheilsschwäche , welche den Kranken alle ihm zugemutheten Phantastereien kritiklos hin- nehmen lässt. Die Stimmung ist indolent oder ängstlich, oft auch staunend und verwundert, je nach dem Inhalte der Täuschungen; sie ringt sich aber nicht zu dem starken, und noch weniger zu dem dauernden Affect des acut Wahnsinnigen auf, sondern bleibt wandel- bar und stets grenzenlos matt und stumpf, selbst wenn der Kranke, aus seinem Delirium vorübergehend erweckt, von den „Abgründen" erzählt, die sich soeben neben ihm aufgethan, oder von den „vielen Schüssen, die er soeben in seinen Kopf erhalten" („gestern haben Sie mir den Kopf weggemacht, oder war's vorgestern ?"). Auch seioe Gegenhandlungen sind nur unbemessene Raptus, welche in der näch- sten Stunde oft wieder vergessen sind.

Die körperlichen Erscheinungen sind: Pulsfrequenz, manchmal bis 148 und 160, ohne, oder aber mit nur kurzer und massiger, Temperatur- erhöhung (38—39); heftige, klebrige Schweisse, vermehrter Tremor (ein vorgehaltener Bleistift wird mit aller Gewalt angefasst), starker Magen- katarrh mit dick belegter Zunge ; Eiweiss im Urin ist beim einfachen De- lirium tremens selten, relativ am häufigsten nach vorausgegangenen epi- leptischen Insulten. Sehr oft findet sich Bronchialkatarrh, manchmal auch Furunkelbildung Uber die Haut. Die Pupillen sind starr und weit. Häufig zeigt sich ungleiche Innervation des Gesichts (durch einseitige Contractur) ; Ptosis. Sehr gewöhnlich wird in freieren Momenten Uber heftigen Schwin- del geklagt; viele Kranke taumeln, so dass sie ohne Unterstützung hin- stürzen. Die Schmerzempfindung liegt ganz darnieder; selbst über die schwersten Contusionen wird von selbst keine Klage geführt (s. o.).

Die Dauer des Deliriums ist eine verschiedene; sie kann: a) nur einen oder mehrere Tage, manchmal in alternirendem Typus, dauern, und dann in raschem Umschlag in Genesung übergehen. Die Krise geschieht durch einen tiefen Schlaf, wonach der Kranke erst noch benommen aufwacht, bald aber (im Verlauf mehrerer Stunden) ganz zu sich kommt. Er ist jetzt müde und abgeschlagen, wüst im Kopfe. Der Puls sinkt, oft unter die Norm, der Tremor lässt nach. Gewöhnlich erfolgt jetzt die Erholung (unter Abnahme des Magen- katarrhs und Zunahme des Körpergewichts) rasch bis auf die frühere Schwächestufe des habituellen Alkoholismus. Die Erinne- rung ist in der Regel summarisch, mauchmal ganz defect (nament- lich hinsichtlich des Gedächtnisses für die Krankheitszeit), erholt sich

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Delirium tremens febrile. Alkoholistische Pseudoparalyse.

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jedoch nach und nach (wenn auch nicht immer). In sehr wenigen and nur in leichten Fällen ist sie bis in's Detail getreu. Es kann aber b) die Reconvalescenz nicht durch Krisis, sondern durch Lysis erfolgen, und dauernd erst durch ein hallucinatorisches Nachstadium (für eine Reihe der folgenden Nächte) erkämpft werden, während die Tage zunehmend lucider werden; oder der Kranke tritt c) erst auf einige Tage noch in einen halbbetäubten Zustand mit schwach- sinniger Begehrlichkeit und blödem Grössenwahn; oder endlich d) es können mehrere Anfälle von Delirium sich wiederholen, ohne, oder auch mit gleichfalls sich wiederholendem, epileptischem Insult. In der Zwischenzeit ist der Kranke stupid scblafsüchtig und ausser- ordentlich ängstlich, so dass er oft mitten in der Nacht Fluchtver- suche macht.

Die Prognose ist für alle diese Varietäten eine gute, wobei Übri- gens die verschlimmernde Wirkung der Recidiven auf den zurückbleiben- den Alcoholismus chronicus einzurechnen ist.

Ein weiterer schlimmer Ausgang ist der in das fieberhafte Deli- rium tremens. Das letztere stellt die schwerere Form des einfachen dar, zugleich mit lebensbedrobendem Charakter. Die Hauptsyui} * ne sind dieselben; nur ist starkes Fieber (bis 42° mit sprungweisen issionen bis 3S,2°), und eine vergleichsweise noch tiefere Bewusstseinsstörung zu- gegen. Die Muskelstörungen bestehen hier nicht nur in einfachem Tre- mor, sondern zugleich in zeitweiligen convulsiven Stössen und Schlägen durch die gespannte Muskulatur, in heftigen partiellen Zuckungen durch den Facialis, Deviationen des Kopfes, Nystagmus. Sehr häutig intercur- riren epileptische Zufälle. Albuminurie scheint regelmässig vo/handen zu sein. Der Verlauf ist peracut, und sehr oft tödtlich durch Erschöpfung, mit Temperaturabfall oder Convulsionen (Pneumonie). In nicht letalen Fällen Lysis nach S— 14 Tagen. Das Delirium tremens febrile kann auch primär als solches auftreten. Bei der Autopsie: hochgradige Hirn- hyperämie mit ödematöser Durchtränkung, manchmal capilläre Apoplexieen.

gj Es kann der Alcoholismus chronicus in seiner Entwicklung ein paralytiformes Bild annehmen, oder aber -in eine eigenartige Form der progressiven Paralyse übergehen (Alkoholparalyse). Im erstem Falle ist die „Paralyse" nur eine Erscheinungsweise des Alco- holismus chronicus, ist nicht progressiv, wieder besserungsfähig und selbst heilbar; im zweiten ist die Paralyse eine wirkliche (wenn- gleich modificirte), und theilt das Endschicksal mit dieser.

Der paralytiforme Alkoholismus hat eine chronische und eine subacute Entstehung. Der psychische Schwachsinn und die motorischen Störungen in Locomotion und Sprache, wie sie dem gewöhnlichen Alkoholismus Uberhaupt eigen sind, bilden gleichsam die Vorfrucht für diese besondere klinische Entwicklungsrichtung.

8chftU, GeUtdikrankbeitoo. 3. Aufl. 27

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Der Alkobolismus und die alkoholischen Psychosen.

Während darüber bei der chronischen Form oft mehrere Jahre ver- gehen, vollzieht sich in den andern Fällen die Genese innerhalb mehrerer Monate: Trinkexcesse mit manischen Ausbrüchen nach jeder starken Berauschung, hierauf in rascher Folge verkehrtes Reden, allgemeine Aufregung, Selbstüberschätzung, riesige Essgier, unsicherer Gang und Sprache, alkoholische Constitution. Bei der chronischen Entstehung bildet gewöhnlich der Trinkerverfolgungs- wahn (mit Hallucinationen) die Einleitung und das bleibende psy- chische Symptomenbild, woran sich die motorischen Insuffizienzen, neben den theilweise noch fortdauernden alkoholistischen Motilitäts- störungen, angliedern.

Die klinischen Symptome weisen beachtenswerthe Differenzen gegen- über der klassischen Paralyse auf. Das wichtigste Unterscheidungsmerk- mal, welches übrigens auch der Alkoholparalyse (s. u.) zukommt, ist die Combination von paralytischen Symptomen und von alkoholistischen. tfo ist stets, wenn auch oft in geringerem Grade als vorher, Muskeltremor neben den motorischen Lähmungserscheinungen vorhanden; nie fehlt ferner idiopathische Muskelschwäche; stets sind sensuelle und sensible Störungen des Alcoholismus chronicus, und ebenso auch vegetative (Alkoholhabitus) zugegen. Hallucinationen sind vergleichsweise viel häufiger als in der gewöhnlichen Paralyse, und zwar mit nächtlichen Exacerbationen (wie- derum alkoholistische Eigenart); nicht selten sind dieselben specifischen Inhalts (Untreuewahn). Sodann ist das Gesammtbild sowohl des pseudo- paralytischen Alkoholismus, als auch der eigentlichen Alkoholparalyse in der Regel nicht das klassische Paralysebild, sondern das raodificirte des primären Blödsinns mit Lähmung (paralytische Ataxie). Jedoch verschieden von diesem (und zwar sowohl von dessen primär dementem, als vom hypo- chondrischen Bilde) kommt der Paralyse des Alkoholismus das ethisch- degenerative Moment als ein wesentliches, und gleich von Anfang bestehendes Symptom zu. Während dort der Adel des Herzens und der Gesinnung so oft noch rührend den intellectuellen geistigen Zerfall durch- leuchtet, so sind h i e r die sittlichen Bedürfnisse sofort erheblich geschwächt, die sinnlichen entsprechend gesteigert. Das Gedächtniss ist manchmal noch leidlich erhalten, in andern Fällen aber sehr nothleidend , so dass der Kranke von einer Stunde zur andern vergisst. Manchmal sind par- tielle Gedächtuissdefecte vorhanden. Die geistige Kraft im Ganzen ist stets ausserordentlich blöde und abgestumpft, namentlich bezüglich der Beurtheilung der eigenen Lage. Der Kranke schickt Briefe ohne Wohn- ortsangabe zur Post, und ist auf Vorhalt nicht im Mindesten betroffen, „da man ja den Empfänger schon ausfindig machen werde". Nach monate- langem Asylaufenthalt verkennt er noch die Personen, gibt oft allerei träumerische Einfälle zum Besten, lässt sie auf Einwände Dritter fallen, tischt sie aber gleichwohl wieder auf. Die Stimmung ist gleichmässig zu- frieden, apathisch leicht bestimmbar, unvermittelt vom Weinen zum Lachen zu bringen, ganz wie beim Gewohnheitstrinker. Dabei ist der Kranke rücksichtslos nonchalant, vegetirt herum, ohne Sinn fllr das Deeorum, verrichtet öffentlich seine Bedürfnisse, lebt in der Minute. Der Grösscn-

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Alkobolistischc Pseudoparalyse. Alkoholistische Paralysen. 419

wahn ist mässig, bewegt sich mehr nur in bescheidenen Grenzen der blöd- sinnigen Euphorie, und entbehrt der propulsiven Kraft und plastischen Gestaltung, wie in der klassischen Paralyse.

Einmal konnte ich bei einem behäbigen Gewohnheitstrinker mit massig entwickeltem Tremor nach einem tiefen Gemüthsaffect einen acutea Exaltationszustand beobachten, mit allen Charakteren der klassischen Paralyse, namentlich auch mit dem specifischen Grössen wahn. Der Fall verlief acut in Genesung; ein leichter alkoholistischer Tremor blieb erhal- ten, daneben natürliches Dankgeftlhl und Krankheitseinsicht, nur nicht auch subjective „ätiologische" Aufklärung. Diese Fälle bilden die Uebergänge zu den paralytischen Nachstadien nach febrilen Infections- krankheiten (Variola). In einem zweiten Falle waren wohl einige der wesentlichsten psychischen Züge aus dem Paralysetypus in das alko- holistische Krankheitsbild binUbergenommen (echter Grössenwahn, ethischer GemUthsdefect, Urtheilsschwäche) ; aber die motorischen Symptome fehlten, und der psychische Kraftzustand blieb anhaltend Uber dem Niveau der Paralyse. Es folgte wesentliche und dauernde Besserung.

Der Verlauf des paralytischen Alkoholismus ist in der Regel ein subacuter, und gegenüber den nicht- toxischen Formen ein günstiger. Auf der Entwicklungshöhe angekommen, schreitet er unter passen- den Verhältnissen (Anstalt) nicht weiter, sondern bildet sich (nach einigen Monaten bis einem Jahre) zum Status quo ante, selbst mit theil- weiser Krankheitseinsicht, zurück; manchmal allerdings auch mit bleibendem grösserem psychischem Defect. Mitunter kehren nach einiger Zeit mitten in einem sehr befriedigenden Zustande plötzlich psychische Absenzen in Form grober Rücksichtslosigkeiten u. s. w. wieder. Doch auch diese können sich verlieren. Die motorischen Störungen sind gleichfalls bis zu kleinen Resten rückbildungsfähig. Der Ausbruch von Lungentuberkulose scheint manchmal günstig (hirn- entlastend) auf die Reconvalescenz zu wirken. In anderen Fällen kann aber gegentheils der plötzliche Eintritt von Hirnzufällen (Con- vulsionen) dem Krankheitsverlauf eine rasche Wendung zum Schlim- men geben. Recidiven, manchmal unter der Form schwerer, mit- unter auch rasch letaler Maniecn, sind die Wirkungen neuer Trink- excesse. Verschieden von dieser intercurrenten Modification ist:

die alkoholistische Paralyse ein definitiver Ausgangszu- stand des chronischen Alkoholismus, und von entschieden progres- sivem Charakter. Die dahin entfallenden klinischen Bilder gehören sämmtlich den psychischen Cerebropathieen („Blödsinn mit Lähmung") an, und vertheilen sich anatomisch auf die Meningitis-, Pacchyme- niogitis- und Encephalitis-Gruppe, ohne oder mit Tabes spinalis.

Die Entwicklung der hierher gehörigen Formen ist eine ebenso man- nigfaltige als die spätem klinischen Typen selbst, von welchen kaum zwei Fälle exact einander gleichen. Die oben betonte Combinirung des

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Der Alkoholismus und die alkobolistischen Psychosen.

alkoholistischen und des (hier) cerebropatkischen Symptomenbildes in Einem Krankheitsfall, so dass beide Reihen theils neben einander vorkommen (s. o.), theils abwechseln, ist als differentielles Moment gegenüber den Fällen aus nicht - toxischer Entstehung festzuhalten. Eine fernere (nur nicht allgemein zutreffende) Eigenthümlichkeit der alkoholistischen Paralyse ist das häufige Vorkommen von Herdsymptomen (Opticus- Atrophie, ein- seitige Lähmung, Schlaganfälle), merkwürdigerweise oft ohne erklärenden autoptischen Befund. In der stets chronischen Genese gehen manchmal intercurrente Manieen mit religiösem Grössenwahn und Versündigungs- ideen voraus, ebenso Anfälle von Delirium tremens. Die Neigung zu Convulsionen ist bei einem Theil der Fälle eine gesteigerte; manchmal bleibt das Bewusstsein dabei erhalten. Die motorischen Störungen er- weisen sich als ausserordentlich complicirte: aus dem Hirnleiden, aus spinalen Affectionen, aus dem Alcoholismus chronicus, und oft noch aus den Wirkungen psychischer Selbstcompensation. Häufiger, wie es scheint, als sonst gehen bei der alkoholistischen Paralyse die psychisch-paralyti- schen Symptome (namentlich der starke Blödsinn) längere Zeit den mo- torischen voraus. Dabei ist der Grössenwahn in der Ruhe Anfangs noch sehr bescheiden, und wächst erst später, wenn allmählich auch die moto- rischen Zeichen eingerückt sind, zu den verstiegenem Höhen kritikloser Schwäche. Intellectuellerseits überrascht oft, wie ein alberner Grössen- wahn und richtige Schätzungen dicht neben einander liegen. In einem Falle beobachtete ich längere Zeit heftige Gliederzuckungen, wie von elek- trischen Stössen, worüber der schon sehr demente Kranke selbst Klage führte. Eigenartig ist die manchmal vorkommende choreiforme Aufregung solcher alkoholistischer Paralytiker: sie bleiben keinen Moment in Ruhe; bald sitzen sie, bald stehen sie, dann nehmen sie den Hut ab, setzen ihn wieder auf, legen den Kopf links, dann rechts, nehmen alles Ergreifbare in die Hand, lassen es wieder fallen, dann räuspern sie sich, trinken, wischen sich ab, streichen überall an sich herum, blasen das Licht aus u. 8. w. Der Verlauf ist mehr als bei den analogen (nicht-toxi- schen) Formen durch Remissionen gekennzeichnet; dabei haften nicht selten die motorischen Störungen zäher als die psychischen. Im Uebrigen und allgemein ist die Prognose gleich düster, wie bei jenen.

h) Der Weiterverlauf des Alcobolismus chronicus, soweit der- selbe nicht durch die vorgenannten Zwischenfälle oder specielle Ent- wicklungsrichtungen bestimmt wird, ist ein wesentlich stationärer. Als solcher kann er sich selbst aus höhern Graden wieder sachte zurückbilden (Abstinenz des Schnapses vorausgesetzt), und der Kranke wieder ein leidliches Dasein zurückgewinnen. Weitaus die über- wiegende Mehrzahl der Kranken Sklaven ihrer Kehle! geht aber unrettbar dem körperlichen und geistigen Verfall entgegen. Ihr Schicksal ist entweder eine Reihe von periodisch auftretenden acu- ten Psychosen (Delirium tremens- Anfälle, Manieen), mit dem Folge- zustande einer progressiven Verblödung; oder die psychische Ent- artung unter allen dahin gehörigen geistigen Typen. Ein Theil

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Weiterverlauf des Alcoholismus chronicus.

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wandert zu den Dipsomanen; ein anderer bleibt im chronischen Ver- folgungswahne stecken, und entwickelt sich (oft nach wiederholten Remissionen, welche speciell dieser Form nach Jahresfrist noch zu Theil werden) zu allgemeinen hallucinatorischen Wahnsinnigen; wie- der Andere werden Vagabunden und Querulanten, und unverbesser- liche Candidaten für die Criminal- Justiz; oder enden als sittlich blöd- sinnige Verbrecher oder Selbstmörder. Das specifisch „toxische" Element des Alkohol zieht sich für den aufmerksamen Beobachter durch alle diese Secundärstadien; von der körperlichen alkoho- listischen Constitution und deren Folgewirkungen in diesem Stadium (Fettdegeneration der Innenorgane, Atherose) abgesehen, bleibt stets einer oder der andere der wiederholt betonten Charakterzllge nach- weisbar, und fixirt die ätiologische Natur des Krankheitsbildes. Selbst in der bunten Täuschungswelt des chronisch-wahnsinnigen Halluci- nanten erhalten sich sehr häufig noch die „rotben" und „blauen" Folien, auf denen sich die bald flächenhaften, bald körperlichen Bilder mit ihrer packenden Plastik abzeichnen; die enorme Leichtigkeit der hallucinatorischen Erregung und ebenso die polymorphe „märchen- hafte" Eigenart der Sinnesbilder (aus dem Delirium tremens) ver- bleibt auch noch dem Alkoholisten dieser Secundärstadien, welcher zu halluciniren im Stande ist, wann er will, aber doch nicht auch die Phantasmen zu bestimmen vermag (wie sich beispielsweise beim einfachen Lidschluss erst „ein Gesicht" zeigt, dann „ein Hase, dann ein Rosenstock"). So treten, immer mit irgend einer specifischen Schattirung, sämmtliche Zustandsformen der speciellen Psychopatho- logie im Verlauf des chronischen Alkoholismus auf; die tiefern Blöd- sinnszustäude aber, wie es scheint, erst auf dem Umweg d. h. als directe Folgewirkungen intercurrenter acuter Cerebralaflfectionen, be- sonders der schweren Manieen. Neue, und nicht minder mannig- faltige Modifikationen des Verlaufs werden durch acute Hirninsulte (Apoplexieen mit ihren Folgezuständen), oder durch chronische con- stitutionelle Erkrankungen in Folge der Alkoholconstitution (Nieren- affectionen, Diabetes) eingeführt. Glücklicherweise ist an sich die Lebensdauer dieser durch Schuld oder Schicksal (oder auch beides!) rettungslos Verkommenen eine relativ kurze, und hebt dadurch und durch die häufig frühzeitig eintretende Sterilität den möglichen Fluch der Vererbung auf.

Die (s. oben c u. d) im Gefolge alkoholistischer Missbräuche auf- tretenden Manieen und Melancholieen entbehren z.Tb. des mehr minder specifischen Gepräges, welches die seither betrachteten Stö- rungsformen darboten. Gleichwohl fehlen auch hier sehr oft be-

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Der Alkoholismus und die alkoholistiscben Tsychosen.

6timmte Nuancirungen nicht, welche die ätiologische Signatur fest- halten.

Die alkoholistischen Manieen zeichnen sich aus a) durch rasche Entstehung und raschen Verlauf mit tiefer Bewusstseinsstö- rung (Betäubtheit), häufigen Sinnestäuschungen und Illusionen, trieb- artig perversem Gebahren, Mischung von Indolenz und stumpf zor- niger Gereiztheit, mit gelegentlich blind heftigen Reactionen. Für diese, vielleicht zahlreichste, Gruppe sind der Furor und die Mania gravis die generellen Typen.

Typisches Bild. Allgemeinerscheinung eines ziemlich Angetrun- kenen. Grosse geistige und körperliche Trägheit, Schlummersucht, Hin- brüten, Staunen, Geistesabwesenheit. Damit wechseln Aufregungszustände verschiedener Art und Grades, alle mit dem Charakter grosser Schwäche. Kindische zwecklose Spielereien, Tändeln an den Kleidungsstücken, phan- tastische Costumirung (besonders auch mit barocken Albernheiten , wie z. B. Verbinden des Gliedes, abnorm festes Zubinden der Strümpfe und des Ilalstuchs), Drang zum Verstellen der Gegenstände, zum Wühlen im Schmutze, zum Zerstören, läppisches Complimentiren gegen den Arzt, neben brutalem Benehmen gegen andere Kranke, auch oft tagelangem Schreien und excentrischem sinnlosem Gebahren; anderemale zudringliches Wesen mit albernen Fragen und ungereimten Bemerkungen. Absolute Unorientirtheit Uber die Situation; Nachahmen von andern Kranken. Da- zwischen ruhige, halblucide Zeiten, aber ohne Fähigkeit zu einem geord- neten Gespräche. Intercurrente Andeutungen eiues verschwommenen Ver- folgungswahns. Gesichtshallucinationen, Magenkatarrh, Tremor. Nach mehreren Wochen Zurücktreten der Aufregung. Jetzt melancholisches Nachstadium auf der Grundlage grosser psychischer Schwäche mit schreck- samem Wesen und weinerlicher, thränenrühriger Stimmung. Tremor und Magenkatarrh dauern fort. Allmählich zunehmende Ernährung, Erweite- rung des geistigen Gesichtskreises, heiterere und natürlichere Stimmung. Reconvalescenz. Die peracuten Manieen schliessen sich manchmal direct an eine tiefe Berauschung an, und können zu Raptus lebeubedrohender Heftigkeit (Mordattaken auf die Umgebung), sinnlosem Wüthen und Zer- stören führen. Der Anfall hat so manchmal einen vollständig epileptoid- manischen Charakter. Es können auch mehrere Raptusanfälle nach ein- bis mehrtägigen Ruhepausen (düsteres, unheimliches Wesen mit unruhigem Schlafe und grosser Gereiztheit, bei übrigens leidlicher Lucidität) auf einander folgen, und erst darauf dauernde Klärung des Bewusstseins ein- treten. Die Erinnerung ist bald nur eine summarische, bald eine genaue; manchmal corrigirt sie sich erst langsam; anderemale ist sie sofort nach überstandenem Raptus eine prompte, verdunkelt sich aber nachher, und oft dauernd, wieder (forens wichtig !).

Eine andere Gruppe b) ist dagegen charakterisirt durch ein milderes Tempo des Verlaufs und eine geringere Störungstiefe der psychischen Functionen. Bewusstsein und Besinnung bleiben bis zu einem gewissen Grade erhalten; die Handlungen sind wohl krank-

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Alkoholistische Manieen.

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baft überstürzte, aber formell mehr minder correcte; sie tragen das Gepräge eines primären Schwachsinnes (tolle Fastnachtstreiche, muth- willige Störungen der bürgerlichen Ordnung), und sind belebt durch einen massigen Grössenwahn.

Typisches Bild. Eine raisonnirende Disputirsucht, welche alle Vorkommnisse weiss brennen will, gänzliche Einsichtslosigkeit in den eigenen Zustand, oft mit Andeutungen von Verfolgungswahn. Gesteigertes Selbstgefühl („als ob die Andern die Narren wären und er der Gescheidte"), weibische Geschwätzigkeit, welche mit beschränkter Zähigkeit den bereits auf den Wirthsbänken einstudirten Text hundertfach auskramt sind die speeifischen Charakterzüge. Die Stimmung bewahrt die eigentümliche Weichlichkeit und Beweglichkeit des Trinkers, manchmal auch eine bis zur Brutalität explodirende Reizbarkeit; sie geht in raschestem Umschlag vom Lachen zum Weinen über, behält aber bei allem Wechsel den Grundzug von Indifferenz oder Schwäche bei. Der Kranke, eben noch der alberne Schwätzer und Prahlhans, ist im nächsten Augenblicke still und Schlich- tern; eben beherzt und lärmend, kann er gleich darauf die Miene ver- ziehen, allerlei schwachsinnige Klagen vorbringen, in Thränen ausbrechen, „weil er keinen Vater und keine Mutter mehr habe". Glüht erst der Alkohol nicht mehr in den Adern, so benimmt sich der Kranke das Raison nire ii abgerechnet ganz verständig. In der Regel bricht bald die gesunde Anschauung wieder durch, gewöhnlich jetzt mit der Schwäche des reuigen Sünders, welcher mehr preisgibt, als man haben will. Der Kranke bekennt jetzt offen Alles, was man verlangt, wird zunehmend still, ängstlich, kleinlaut, so dass man oft mehr Mühe hat ihn aufzurich- ten, als ihm Besserung an's Herz zu legen.

Sehr häufig haftet auch das äussere Sigillum alcoholicum dem Krank- heitsbilde, dessen Typus hier die Moria ist, an: gedunsene Ernährung, geröthetes Gesicht, injicirte Conjunctiva, ungleich innervirte Gesichts- halften, Tremor linguae et oris, Zittern der Hände, eigenthümlich schie- bender, schlottriger Gang.

Eine dritte Gruppe c) zeigt die Charaktere der degenerativen Manie, und ist im Grunde ein sittlicher und (oft vergleichsweise geringerer) intellectueller Blödsinn mit periodischer oder auch chro- nischer Aufregung, perversen Drängen und Handlungen (sehr oft geschlechtliche Angriffe, Unzucht mit Kindern, Diebstähle, Brand- stiftung, Misshandlungen der Familie.)

Dieser kurz skizzirte Rahmen umfasst ein unendlich reiches Detail von Einzelbildern und Combinationen der einzelnen Formen. So kann der Furor mit Hallucinationen als einfacher Anfall mit Anschluss an einen Trinkexcess verlaufen, und damit abschliessen ; es kann aber auch der Paroxysmus aus einer Reihe von kurz dauernden manischen (ganz glei- chen) Krisen mit zwischenlaufenden Remissionen sich abspielen. Ebenso kann die Mania gravis als anhaltender Paroxysmus auftreten; oder aber gegentheils von so häufigen und langdauernden Verstimmungen und Angst' zufallen begleitet sein, dass der manische Kranke periodisch sich als Me-

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Der Alkobolismu8 und die alkoholistischen PsychoseD.

lancholiker darstellt. Auf die delirante Manie kann ein Stuporzustand mit vasomotorischer Parese folgen, aus welchem der Kranke durch einen transitorischen Blödsinn sich in die Reconvalescenz durchkämpft, oder aber (in sehr interessantem Umschlag der Gefassinnervation) noch durch ein Stadium von mehrtägigen Kopffluxionen mit grosser motorischer Be- weglichkeit und schrittweise abklingendem Stupor hindurchgeht, um jetzt erst, auf diesem physiologischen Umweg, zu genesen. Interessant ist eine meiner ophthalmologischen Beobachtungen, wonach sich in der Stupor- phase die Venen der Papillen sehr breit und platt, die Arterien dagegen verschmälert zeigten; mit Eintritt der Reconvalescenz stellte sich das nor- male Grössen verhältniss wieder her. Die Mania gravis kann sich nicht selten peracut zur lebensgefährdenden Höhe des Delirium acutum stei- gern. Gemeinsam für alle alkoholistischen Manieen ist die leichte, immer zunehmende Fähigkeit zu Recidiven; schliesslich genügt dazu jede leichte Berauschung. Doch gibt es auf der andern Seite auch wieder dauernde Genesungen. Diesen klinisch wohl charakterisirten Formen stehen ver- schwommene Krankheitsbilder gegenüber, welche nur vorübergehende und vereinzelte manische Züge aufweisen , aber kein fertiges typisches Bild zusammenbringen, und als Steigerungen des alkoholistischen psycho- pathischen Charakters aufzufassen sind: so geht der Kranke nicht selten in eine Phase von krankhafter Weichlichkeit und zerknirschter Stimmung über, und aus dieser in einen Zustand von frivoler Exaltion und weinseliger Heiterkeit mit Neigung zu Cynismen und Possen aber mit vollständig erhaltener Lucidität; daraus allmähliche Rückkehr zur Gemessenheit und Besonnenheit.

Die Melancholieen auf alkoholistischer Entstehung verrathen ihre Abkunft durch die eminente Gemüthsschwäche und Panphobie, abwechselnd mit weinerlicher Verzagtheit (erstere motivlos, letztere ohne Mark und Nachdruck), oder gleichfalls durch den torpiden Charakter mit Gemüthsstumpfheit, thränenreichem, weichem Wesen, grosser Willenlosigkeit, enormer Gedächtnissschwäche und Schwer- besinnlichkeit. Beide Varietäten, die acute und die chronischtorpide, sind durch Raptus von Gewaltthätigkeiteu (gegen sich oder Andere) bedroht. Dabei Hyperästhesie der Sinne, häufige Hallucinatiouen (mit Vorliebe schwarze Figuren, nächtliche Feuer- und Brand- Visionen), transitorische Aufregungsphasen, Schwindelgefühle, Muskel- schwäche, Frostempfinduugen, Zittern (manche Kranke bitten, mitten aus ihrer Angst und Verdammungsfurcht heraus, kniefällig um eine alkoholische Herzstärkung!). Der Verlauf in der zweiten Form nimmt leicht einen protrahirten Charakter an, mit bleibender Geistes- schwäche; doch kommen auch nach längerer Dauer noch Genesungen vor. Recidiven siud häufig.

Die Alkoholepilepsie ist eine Folgewirkung des Alcoho- lismus chronicus. Klinisch ist sie besonders bemerkenswerth durch die an die epileptischen Insulte sich häufig anschliessenden Anfälle

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Alkoholistische Melancholieen. Epilepsieen. Therapie.

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von Delirium tremens (schwererer Form). Die Vorläufer sind die- selben wie beim letztern. Der Insult selbst folgt mit Vorliebe auf einen Trinkexcess oder auf eine voraufgegangene Gemüthsaufregung. Relativ oft trifft im Gefolge eines Anfalls (deren nicht selten mehrere im Verlaufe eines Tages sich wiederholen) das letale Ende ein. Auch aus dieser toxischen Epilepsie bilden sich nicht selten Trans- formationen in psychische Aequivalente heraus.

Aber auch ohne vorausgegangene Krampfanfälle können „epileptoide" Dämmerzustände im Gefolge einer tiefen Berauschung auftreten, welche namentlich forens sehr wichtig werden können, da dieselben mitunter mit scheinbar zweckmässigen Handlungen verlaufen (s. o. patholog. Rausch- zustände). Als solche können sie auch die directe Einleitung eines De- lirium tremens bilden, wie die motorischen Krampfanfälle.

Therapie.

Die pathologischen Rauschzustände bilden wegen ihres transi- torischen Charakters seltener den Gegenstand psychiatrischer Behand- lung. Die acuten und chronischen Wabnsinnstormen erfordern Ho- spital- resp. Anstaltsbehandlung nach den für die verwandten Zustände gültigen Indicationen. Der chronische Alkoholismus eignet sich ftir die Trinkerasyle, deren zunehmende Erstellung eine dringende Bedtirfnissfrage unsrer Zeit ist. Für die geringem Grade, welche nicht selten besserungs- und selbst heilungsfähig sind, müssen die socialen Reformen, wie sie eben in verschiedenen Ländern angestrebt werden und zum Theil segensreich schon ins Leben gerufen sind, eintreten. Hier berührt sich die psychiatrische Therapie mit einer der wichtigsten socialen Aufgaben der Gegenwart. Speciell das Delirium tremens bedarf der sorgfältigsten Hospital- oder Anstaltsbehandlung. Hauptindicationen sind: Kräfteerbaltung und cerebrale Beruhigung. Nach beiden Richtungen entspricht die Bett- lage unter ständiger Beaufsichtigung; bei tobenden Kranken ist eine Polsterzelle (nach Bedürfniss verdunkelt) ein dringendes Requisit. Daneben kräftige reizlose Diät mit Wein; milde Laxantien. Sehr wohlthätig wirken Bäder mit Umschlägen. Zur Beruhigung und Erzielung von Schlaf ist Chloral (2—3—4 Gramm) das beste Mittel; doch reiche man es nur, wenn keine Herzschwäche droht; in zweifel- haften Fällen ist Paraldehyd gefahrloser (1 0 Gr.) Daneben, und namentlich auch für die Nachbehandlung, ist Opium sehr empfeh- lenswert!].

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426 Das hereditäre Irresein.

Das hereditäre Irresein.

A. Allgemein pathologischer Excurs.

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Eintbeilung. Corollarien aus der „Erblicheits"lehre.

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Krueg, Brain 1881. - Charcot et Maguan, Arcb. de Neur. 18V2. Kirn, Allg. Ztscbr. f. Ps. 39. v. K rafft -Ebing, Irrentr. 18S4. Rabow, Erlenmeyers Contralbl. 1883. Bluracr, Am. Journ. ot Ins. 1882. Savage, Journ. of m. sc. 1884.— v. Kraf ft-Ebing, Jabrb. f. Psych. 1885. - b) Weibl. Individuen betr. : Westphal, Arcb.f. Psych. 2. Gock, ibid. - v. Krafft-Ebing, Irrenfr. 18S4. Wise, AI. audNcur. 1883. Cantarano, Zeitschr. la Psycbiatria 1S83. Agoraphobie s. d. betr. Art. in Eulenburg's Realcncyclop. (Westphal) mit Lit.

Zur eingehenden Darlegung dieses wichtigen klinischen Capitels ist es unerlässlich die Erörterung einiger allgemein -pathologischer Ergebnisse vorauszuschicken. Diese sind: I. anthropologischer Natur und enthalten die Thatsachen der „Erblichkeit" d. h. erblichen Ueber- tragung, und II. klinischen Inhalts, worunter einige der wichtigsten, für das hereditäre Irresein fast specifischen Elementarstörungen ge- hören: a) Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen (impulsive Acte), und b) eigenartige psychische und sensuelle Anomalieen im Gebiete des Geschlechtslebens (die „conträre Sexual-Empfindung"). An diese nothwendigen Prolegomena schliesst sich die Besprechung der „hereditären Neurose" an, als des gemeinsamen Baumes, dessen Aeste sich im Weitern in das a) einfache, und ti) degenerative erb- liche Irresein spalten.

Der klinischen Schilderung der Gruppe a) ist als Anhang das „transi- torische Irresein" angeschlossen.

% Corollarien aas der „Erhllehkelts"lehre.

Wir sind, was wir sind, nur zum kleinern Theile durch uns; zum grösseren sind wir das Werk unserer Ahnen. In diesen d. h. in deren geistigen uud körperlichen Erlebnissen führten wir Alle unser Vorleben, und Jeder von uns hat in seinem wirklichen Leben wesentlich (Viele aus- schliesslich) die begonnene Geschichte seines Stammbaumes weiterzuführen. Für die krankhaften Seelenzustände zumal steht die Vererbung im Mittel- punkt der vorbedingenden und erzeugenden Ursachen. Von der familien- weisen Vererbung gewisser Charaktcreigeuthümlichkeiten („Tic's und Spleen's"), bis hinauf zur Durchseuchung ganzer Stammbäume mit Gei- stesstörung und Idiotismus, zieht sich eine zusammenhängende Stufenleiter, in welcher die verhängnissvolle Mitgift der Eltern oder Seitenverwandten an die Kinder oder Enkel in allen Spielarten und Stärkegraden auftritt.

1 . Die Erscheinungsweisen der erblichen Uebcrtragung gruppiren sich :

a) hinsichtlich der Form. Diese ist in der Mehrzahl der Erkran- kungsform in der Ascendenz gleich, d.h. auf eine Melancholie der El- tern folgt in der Descendenz wieder eine Melancholie, oft mit den glei-

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Das hereditäre Irresein.

chen Wahnvorstellungen und Neigungen; namentlich kann der Selbst- mord in erschreckendster Weise hereditär sich fortpflanzen. Aber auch Neuralgieen, theils als solche, theils in psychischer Transformation, können durch mehrere Glieder der Descendenz hindurchgehen; ja selbst Hallu- cinationen. Neben der formgleichen hereditären Uebertragung gibt es aber auch eine gleich werthige. So kann eine Neuralgie in der As- cendenz unter einer neuralgischen Krampfform epileptoiden Charakters in der Descendenz wiederkehren, oder habituell hereditäre Kopffluxionen des Vaters in einer Apoplexie des Sohnes (progressiv hereditäre Ueber- tragung; s. 8p.).

b) Hinsichtlich der Zeit des Auftretens. Diese fällt oft in merk- würdigster Weise mit dem Zeitpunkt, in welchem auch die Erkrankung in der Ascendenz debütirte, zusammen (ähnlich wie in vielen Fällen von Phthise). Anderemale ist, je nach der Stärke des hereditären Virus, der Ausbruch post- oder anteponirend.

c) Hinsichtlich des Geschlechts des U eher trag enden und des Ergrif- fenen. Am meisten ist die Descendenz gefährdet bei doppeltem Kinflu68 der Eltern, d. h. wenn beide krank waren ; bei einseitiger Erkrankung Uberwiegt der mütterliche Einfluss; für Uebertragung speciell des Selbst- mordes der väterliche. Erkrankungen eines der beiden Eltern vor der Pubertät (besonders Chorea und Epilepsie) sind für die Descendenz sehr beunruhigend.

2. Nicht nur die ausgesprochenen Geistesstörungen vererben sich, sondern Nerven- und Geistes- und Hirnkrankheiten stehen in der wech- selseitigen Beziehung gegenseitigen Ersatzes, gegenseitiger Uebergangs- fähigkeit in der Descendenzreihe. So kann eine Generation an Seelen- störung leiden, die zweite an Chorea und Epilepsie; in die dritte rücken wieder Melancholiker und Maniaci ein. Nach den neuesten Uetersuchungen von Ball und R6gis hinterlassen Geistesstörungen ein specielles „Krank- heitssiegel" auf die Nachkommenschaft; dasselbe verwahrt in sich: Gei- steskrankheit, Nervenkrankheit, Hirnaffection, Alkoholismus, Lungen- phthise als Mitgift und Erbtheil für die Descendenz. Diese traurigen Lebensgeschenke vertheilen sich im Einzelnen: a) in den paralytischen Familien besteht eine grosse Geneigtheit speciell zu HirnafTectionen ; b) die Familien mit einfacher Seelenstörung bilden d. h. tragen und erzeugen wieder eine „Wahnsinns-Diathese" ; c) die Epileptiker hinterlassen Dis- position zu Hirnleiden, besonders in der Kindheit; eigentliche Epilepsie ist dagegen sehr selten in der Descendenz; d) Hysterismus erzeugt eine nervöse Diathese; der Alkoholismus eine Disposition zu Hirnkrankheiten (wiederum besonders in der Kindheit) und zur Lungenphthise.

3. Das hereditäre Gift hat eine Neigung zur generationsweise ver- stärkten Wirkung d. h. zur fortschreitenden Deteriorirung der Nach- kommenschaft — analog der sich steigernden Giftwirkung des septisch infieiitcn Blutes. Man spricht deshalb von einer einfachen und von einer degenerativen erblichen Uebertragung je nachdem die De- scendenz bloss in (klinisch und prognostisch) gleichen oder gleichwerthi- gen Formen erkrankt; oder aber in progressiv schwereren mit Neigung zur Degenerescenz (s. d.), oder endlich zu psychischen und körperlichen

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Corollarien aus der „Erblichkeits"Iebre".

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Defectzuständen (Idiotismus). Anthropologisch unterscheidet man von dem- selben Standpunkte zwischen einfacher Prädisposition und Uber- tragener erblicher Krankheit. Unter „Prädisposition" ist ein durch Erblichkeit verpflanzter Schwächezustand des Organismus zu ver- stehen, wodurch derselbe zwar noch nicht derb greifbar ausserhalb der physiologischen Grenze gestellt ist, wohl aber eine so geringe Wider- standsfähigkeit (Anpassungsvermögen) besitzt, dass er selbst durch Reize in noch normaler Breite zur wirklichen Krankheit gebracht, weiter- entwickelt wird. Es sind die „psychisch-kränklichen" Naturen, welche ge- sund bleiben, so lange körperlich und geistig nur bescheidene Ansprüche an sie gemacht werden sonst aber auf Schritt und Tritt Gefahr laufen zu straucheln. Für den Laienblick unterscheiden sie sich oft nur durch eine grössere Zartheit von dem mittleren Durchschnittsmenschen; dem Arzte aber entgeht unter der Hülle einer gesteigerten Erregbarkeit mit Schwäche die leise nervöse Kachexie nicht, welche den Gesundheitszustand dieser „organisch Belasteten" zu einem labilen, der strengsten Ueber- wachung bedürftigen, ausprägt. Pubertät, Menstruationsbeginn, Gravidität, Puerperium bilden ebenso zahlreiche als meist unvermeidliche Strandungs- klippen für diese durch Heredität „Invaliden", deren Zahl, wenn erst eine exaete Statistik möglich, den weitaus grössten Theil unseres psy- chiatrischen Gebietes uv spannen dürfte, und deren psychische Charak- teristik theilweise die Sirnatur unserer Jetztzeit ausmacht. Unter „übertragener erblicher Krankheit" verstehen wir eine durch Erblichkeit ab ovo anomale oder defecte psychisch-nervöse Constitution, deren Mangel entweder nur ein physiologischer ist (Disharmonie im Zusammenwirken, krankhafte Reizbarkeit der einen, neben Schwäche der anderen Geistesfunctionen , verzögerte Entwicklung); oder welche noch ausserdem eine anatomische (morphologische) Missbildung (vor Allem in Kopf- resp. Gehirnentwicklung) aufweist. Man denke hier an den nament- lich von Rokitansky, Brehmer, Beneke beschriebenen „phthisischen Habitus", an die angeborenen Hypotrophieen des Herzens und der grossen Gefässe bei diesem und bei constitutionellen Anämieen (Virchow) u.s. w. Verhältnisse, welche gewiss auch bei der Disposition zu anomaler Hirnernäh- rung eine grosse Rolle spielen, und in dieser Bedeutung schon durch die erfahrungsgemässe Abwechslung von Phthisis, Geistesstörung, Epilepsie u. 8. w. in der Descendenz zur Anerkennung gebracht sind. Während somit bei der einfachen Prädisposition nur das functionelle geistige Gleich- gewicht labiler d. h. zu Störungen geneigter ist, wobei aber in der Regel noch eine accidentelle Schädlichkeit dazu treten muss liegt bei der Übertragenen erblichen Krankheit die später manifeste Geistesstörung schon im Wurfe, und vollzieht sich progressiv und in einfach naturgemäßer Ent- faltung aus der ersten Anlage. Während ferner dort die Kindheit und Jugend (leichte Schattirungen abgerechnet) nahezu die des sich entwickeln- den Normalmenschen sind, so sind hier dagegen beide schon durch eine Reihe deutlich anomaler psychischer und nervöser Erscheinungen getrübt. Während endlich dort die späteren Krankheitsbilder im Wesentlichen dieselben sind, wie die aus nicht-erblicher Anlage, so sind hier die kli- nischen Symptomencomplexe je charakteristischer auch desto speeifischer, und zwar sowohl in der psychologischen Gestaltung, als namentlich auch

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Das hereditäre Irresein.

im Verlaufe (s. „hereditäre Neurose")« Damit hängt ganz nahe auch die Thatsache zusammen, dass bei den einfach Prädisponirten das seelische Gesammtgepräge dasselbe ist, wie bei normaler Anlage ; bei den erblich- Kranken dagegen ist die psychische Signatur eine durchaus eigenartige: es sind in ihren Typen ganz eigen begabte, zum Theil neue Menschen- naturen, und können in dieser ihrer abnormen Mischung und Combination nur aus ihrer Individualität verstanden werden, so namentlich die sittlich- defecten Menschen (vgl. Moral Insanity).

4. Jedoch darf die Lehre von der fortschreitenden Entartung keine 8chlechthiuige Allgemeingiltigkeit beanspruchen. Morel noch hatte die verschiedenen Umbildungen des hereditären Irreseins als eine fortschrei- tende Entwicklung zu immer schwereren und schliesslich unheilbaren Zu- ständen gelehrt (von den leichten psychischen Verstimmungen und Tem- peramentsänderungen, welche noch in die Breite der Gesundheit fallen, bis herab zur angeborenen Idiotie, innerhalb vier Generationen). Diese Lehre, so unbestreitbar viel Wahres sie enthält, hat gleichwohl im De- tail der Kritik nicht Stand zu halten vermocht. An der Hand der Sta- tistik ist nachgewiesen (Tigges), dass die erbliche Disposition a) eine ausserordentlich erhöhte Anlage zu Geisteskrankheiten schafft; b) das Er- kranken in einem früheren Lebensalter verschuldet; und c) nach spä- terer Erkrankung auch eine grössere Neigung zu Recidiven bewirkt. Da- gegen lässt sich d) fUr die grosse Mehrzahl der Hereditarier ein besonderes (gleichsam immanentes) Princip der Entartung, entgegen den nicht -erb- lichen Fällen, nicht anerkennen; e) auf hereditärem Boden entstehen Gei- steskrankheiten zwar leichter, sind aber c. p. auch heilbarer; f) die Le- bensgefahr in Folge der Geisteskrankheit ist eine geringere. Es muss übrigens zu diesen Sätzen einschränkend bemerkt werden, dass zur Lö- sung der vorliegenden Frage die Statistik allein nicht maassgebend sein darf; ein entscheidendes Wort spricht namentlich die Erziehung mit Als sicher dürfte nach meinen Erfahrungen anzunehmen sein, dass Con- stitutionen gewordene nervöse oder psychische Anomalieen der Eltern viel wahrscheinlicher in einer progressiv schlimmeren Form bei den Kin- dern wiederkehren, als eine einmalige, wenn auch schwerere, psychische Gehirnaffection bei sonst normalem Geistesleben. So ist es eine wirklich vielfach beglaubigte Thatsache, dass Bizarrerieen des Charakters oder ein leichter, aber eingewurzelter Hysterismus der Mutter viel funester be- züglich der Vererbung wirken, als ein Anfall rüstiger Melancholie oder Manie. Auch die sittliche Artung der Eltern ist als hochwichtig ein- zurechnen — hier greift die sociale Ethik entscheidend in die Erblich- keitslehre herein: immoralische und speciell verbrecherische Gesinnung erschwert in verhängnissvollster Weise eine sonst vielleicht nur zur Prä- disposition reichende Vererbung, und führt progressive Entartung herbei. Daher d. h. aus dieser zweifachen Befruchtung durch ein psychisches und ein moralisches Uebel zieht der Alkohol- und Opiummissbrauch seine verheerende Macht auf die Descendenz. Verbrechen und Wahnsinn, phä- nomenologisch so nahe verwandt, haben auch ätiologisch theilweise eine gemeinsame Wurzel ; viele der schwersten Verbrecher besitzen die durch Geisteskrankheit am meisten belasteten Stammbäume! Ein hochwichtiger, namentlich forenser, Ausblick knüpft sich an diese Th atsache, welche

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Corollarien aus der „Erblicbkeits"lehre. 431

eine grosse Reihe, und zwar gerade der empörendsten, Verbrechen unter anthropologischen resp. psychiatrischen Schutz stellt.

5. Diesem dtisteren Bilde der Vererbung steht glücklicherweise die andere Thatsache gegenüber, dass der erbliche Zusammenbang zwischen der Erkrankung der Kinder und der Eltern kein bedingungslos not- wendiger ist. Nicht alle Krankheitskeime aus der Ascendenz kommen zur Entfaltung; andererseits können neue gesunde Keime eingeführt wer- den, welche die Wirkung der schlimmen abzuschwächen oder auszuglei- chen vermögen. Manchmal ist diese Besserung der Hirnanlage nicht so- fort, sondern erst nach Umzüchtung durch mehrere Generationen zu erreichen. Der Fortpflanzung der tiefsten Entartungen setzt die Natur selbst durch Sterilität ein Ziel. Sehr Vieles kann bei ungünstig veran- lagten Existenzen auch eine verständnissvolle Erziehung (s. o.), welche ohne Schablone und Pedanterie nicht allein auf Kopf-, sondern auch auf Herzensbildung abzielt, bewirken dies ist der Punkt, an welchem die Pädagogik, richtig aufgefasst und gehandhabt, in ihrer hohen Wich- tigkeit mit der Erblichkeitslehre zusammenhängt. Sorge vor Ueberbür- dung im Lernen, richtige Charaktererziehung, rationelle körperliche und geistige Diätetik vermögen hier ein Grosses in der Remedur! Auch die strenge Ueberwachung im Heirathen resp. das Abrathen bei Constitu- tionen neuropathischen, hereditär schwer belasteten, Individuen gehört hierher.

Nach dem Erblichkeitsgesetz müssen wir die Gleichheit des Partus mit dem Parens d. h. der Erzeugten mit beiden Eltern als Regel be- zeichnen. Dieser idealste Ausdruck kommt aber in der Natur nicht vor. Als die empirisch häufigste Form erscheint vielmehr die Artung des Kin- des nach einem der Eltern, und zwar in der Weise der gekreuzten Vererbung; d. h. der Sohn artet mehr auf die Mutter, die Tochter auf den Vater (Necker Stael, Agrippina Nero). Daran schliesst sich die indirecte Vererbung an: die erbliche Uebertragung erfolgt aus einer der Seitenlinien auf die Kinder (Cäsar Octavianus; Gustav Adolph Karl XII.). Als dritte Form erscheint die rückfällige Vererbung von den Gross- eltern auf die Enkel und die Enkelinnen (Atavismus: Philosoph Men- delssohn — Musiker M.: Zoonom Darwin Charles Darwin). Das Ri- eh arz'sche Gesetz der geschlechtlichen Kreuzung der körperlichen und geistigen Attribute des Zeugenden, wodurch das Geschlecht eine dem Geschlechte des prädominirenden Parens entgegengesetzte wird, mit der Folgerung: dass darnach schon die gleichgeschlechtliche Vererbung als eine Anomalie zu betrachten ist ist mittlerweile nicht unwidersprochen geblieben (Roth). Alle unsere äusseren und inneren Eigenschaften sind vererbbar, sogar manchmal ganz individuelle Eigenschaften (Seidigitismus, krustenartige Epidermis; oder erworbene, wie Nägelkauen u. s. w.) Da- bei ist aber festzuhalten, dass nur die Möglichkeit dieser erblichen Uebertragungen für den Einzelfall feststeht, nicht aber die Notwendig- keit. Die sehr verwickelten Bedingungen hiefür sind uns grösstentheils noch unbekannt. Ausser den psychischen spielen auch die terrestrischen der Bodenbescbaffenheit und des Klimas, und ganz besonders die persön- lichen (Lebensweise), eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ganz beson- ders aber kommt

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Das hereditäre Irresein.

6. der Zeugungsact in Betracht. Im Rausch erzengte Kinder sind erfahrungsgemäS8 nicht selten epileptisch. Wie weise und weitsich- tig handelte darin die bekannte Vorschrift Lykurg's! Können nicht ebenso auch gemtithliche Verstimmungen beider Ehegatten, gegenseitige Abneigung u. s. w. nachtheilig auf die Frucht wirken? Das bekannte Sprichwort von der Schönheit und geistigen Begabung der „Kinder der Liebe" hat m. m. eine physiologische Bedeutung. Die Annahme scheint sicher (wenigstens nach Erfahrungen an Thieren), dass der männliche Einflu88 während des Begattungsactes auch Uber den letzteren hinaus auf andere Ovula „impressionirend" wirken kann.

7. Die statistische Häufigkeit der erblichen Uebertragung hat bis jetzt noch sehr ungleiche Ergebnisse geliefert. Dieselben schwanken von Vio 9 io (Moreau). Maudsley hält die Zahl über «/4 und unter »/* für die nach seioen Beobachtungen zutreffende; ähnlich Brierre. Hoff- mann (Schwetz) berechnet 55 pCt., Esquiro 122,5 pCt. in der Salpetriere und 5G,8 in seinem Institut; Hagen 28,9; Tiggos über 40 pCL Bezüg- lich des Geschlechts überwiegen die Frauen.

II. Klinische allgemein-pathologische Grundlagen.

a. Zwangsvorstellungen und Zwanysacte.

Man versteht unter Zwangs Vorstellungen plötzlich und un- willkürlich auftretende, den vorhandenen Ablauf durchkreuzende Vor- stellungen (Worte oder ganze Sätze), welche dem momentanen Bewusst- seinsinhalt fremd gegenüberstehen, aber um so energischer sich in dem Blickpunkt der Aufmerksamkeit festhaften, und unerreichbar bleiben für Kritik und Reflexion, bis sie von selbst wieder untertauchen.

Es lassen sich verschiedene Formen und Genesen dieser Zwangs- vorstellungen unterscheiden, welche auch eine verschiedene psycho- logische und klinische Werthung der letztern bedingen, je nach 1. dem Verhalten des Bewusstseins; 2. der Stimmung; 3. dem psy- chologischen Charakter des Phänomens selbst; 4. dem klinischen Auftreten, ob isolirt, oder mit Reflexen auf das Gemüths- und Hand- lungsgebiet; 5. den begleitenden körperlichen (nervösen) Zeichen. Darnach richtet sich auch das verschiedene Weiter- Schicksal dieser elementaren Störung, namentlich deren Eintreten in andere Sympto- mencomplexe, wodurch erst ein eigentliches „Irresein" entsteht (was die Zwangsvorstellungen an sich noch nicht sind).

Ad 1. Verhalten des Bewusstseins. Man kann für den reinsten und eigentlichsten Typus der Zwangsvorstellungen als Regel aufstellen: dass das Bewusstsei n dabei lucid ist. Der Kranke pereipirt nicht bloss die sein Denken so jäh durchbrechende Störung, sondern er macht diese eigens zum Object seines logisch klaren Nachdenkens; er versucht alle Hilfen und Gegenmittel, um des Ein-

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Zwangsvorstellungen. Verhalten des Bewusstseins. Der Stimmuug. 433

dringlings Herr zu werden. Diese Operation setzt voraus, dass der Kranke den eingedrungenen Gast als einen ihm fremden und lästigen erkennt ganz verschieden von der „Wahnvorstellung", mit welcher gegentheils der Kranke sich identificirt.

Jedoch steht die „Zwangsvorstellung" mit dem „Wahne" nicht noth- wendig in einem dauernden Gegensatze. Das anfangliehe „Stutzen" des Bewusstseins kann nach und nach aufhören und der Kranke sich mit dem Zwangsgedanken versöhnen, ja denselben in seine übrigen Associa- tionen aufnehmen. Damit fällt die Schranke ; die ursprüngliche Zwangs- vorstellung ist zum wirklichen Wahn geworden. Aber auch ohne diese langsam umstimmende und endlich siegreiche Wirkung eines mächtigen Zwangsgedankens kann das Bewusstsein bei genügender geistiger Impres- 8ionabilität (kritischer Schwäche) frühe schon, und gleichsam freiwillig, dem insinuirenden neuen Gedanken sich unterordnen, so namentlich in der hy- sterischen Verrücktheit: liier vermag eine zufällige Wahrnehmung gleich- gestimmte Reproduktionen zu wecken, welche auf Stunden hinaus den Bewusstseinskreis ausfüllen und sogar Reflexillusionen bewirken. So kann z. B. das Bild eines Gestorbenen irradiirend auf alle Todeserlebnisse in der Erinnerung Übergreifen, so dass alle diese Bilder wach werden und linge nicht wieder vorschwinden, ja, dass die Kranke an fremdem Orte und mit voller Kritik stundenlang alle Vorübergehenden auf die Aekn- lichkeit mit jenen Abgeschiedenen prüfen muss.

Ad 2. Verhalten der Stimmung. Diese ist nach zweifacher Seite in Erwägung zu ziehen: a) primär in ihrem Eiufluss auf die Genese des Zwangsgedankens, und b) secundär in ihrer Nach- folge (Reaction) auf die pereipirte Gedankenstörung. Nach der pri- mären Seite lassen sich emotive und nicht-emotive Zwangs- vorstellungen unterscheiden. Die „nicht-emotiven" d. h. diejenigen, welche nicht von einer AfFectgrundlage getragen sind, bilden den eigentlich echten und speeifischen Typus, wie derselbe namentlich für die hereditäre Neurose charakteristisch ist. Hier spielt also primär keine Stimmungsanomalie mit, sondern ganz wie aus heiterm Himmel bricht die fremde Idee in das ahnungslose Bewusstsein herein: das Ich muss plötzlich irgend eine ganz Uberraschende, mit dem übrigen Contexte der Vorstellungen gar nicht zusammenhängende, vielmehr oft aufs Grellste contrastirende Vorstellung denken (ein Schimpfwort, eine Blasphemie u. s. w.), oder auch einen Unsinn, anderemale eine compromittirende Handlung.

Oft sind die Einfälle (wirkliche Gedanken-Tic's) ganz ausserordentlich harmlos, z. B. Zahlen zwang: gesprochene Worte nach ihren Silben oder Buchstaben zu zählen; irgend eine angeschaute Zahl auf gewisse Eigen- schaften (Theilbarkeit) zu prüfen; oder Lese zwang: zufällige Worte, Strassenuamen, Aushängeschilde u. s. w. immer auch rückwärts zu buch- stabiren.

Schttle, Qouteskrankheiten. 3. Aufl. 2$

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Das hereditäre Irresein.

Die „emotiven" Zwangsgedanken resultiren dagegen immer aus einem vorbereitenden Status nervosus mit depressiver Grundlage. Oft sind es geradezu beginnende Melancholiker, welche in ihrer peinlichen Rathlosigkeit nach einer Ursache ihrer Stimmungsänderung fahnden: da zuckt die Erinnerung eines grauenvollen Ereignisses auf, oder die zufällige Erzählung eines solchen und der erschütternde Gedanke bleibt, vom depressiven Affect ergriffen, haften. Zwar stimmt das überraschte Ich nicht sofort zu der schrecklichen Zu- muthung; es folgen Anfangs noch innerliche Entrüstungsscenen; aber das Ich muss den aufgezwungenen Gedanken nachdenken, bis dieser immer mehr zum seinigen gemacht (appercipirt) ist, ein Vorgang, welcher sich in der Regel durch die Verknüpfung der betreffenden Schreckvorstellung resp. Erinnerung mit einem neuralgischen Schmerz- gefühle vollzieht (s. Melancholie). In veränderter Weise kann sich die Stimmung an der Genese der Zwangsvorstellung auch so be- theiligen, dass auf der nervösen Grundlage und unter einem mässigen Affecteindruck zunächst eine Zwangsempfindung sich einschiebt gewöhnlich ein neuralgisches Beklemmungs- und Schmerzgefühl, und erst daraus der Zwangsgedanke explodirt (meist in Form eines Befehls: „bring dein Kind um" u. s. w.). Auch hier steht das Bewusstsein dem bestürmenden Schreckgedanken erst fremd und grauend gegenüber; aber dieser kämpft mit der begleitenden Gefühls- waffe (der neuralgischen Sensation), und siegt endlich durch diese mächtige Hilfe, wie sehr auch die abstracte Einsicht und Kritik da- gegen ankämpfen.

Dieses Verhältniss führt weiter zur b) secundären Betheiligung der Stimmung, insoferne der Inhalt der Zwangsvorstellungen, oder allein schon das bedrückende „Muss" des fremden Gedankens auf die Gemüthslage zurückwirkt; worüber unter 4. das Nähere.

Ad 3. Psychologischer Charakter der Zwangsvorstel- lung. Dieser liegt allgemein in der Bewerthung der betr. Vor- stellung, in deren abnorm erleichtertem Aufsteigen Uber die Schwelle, mit jeweiliger brüsker Hemmung des übrigen Vorstellungslaufs. Im Einzelnen besteht aber ein wichtiger und folgenreicher Unterschied unter diesen „agrammatischen" Eindringlingen. Die eine Gruppe repräsentirt fixe Sätze oder Satztheile (Worte), welche sich ungerufen und ungewollt eindrängen und unassimilirt bleiben; dieselben können dabei stereotypen oder wechselnden Inhalt haben. Die andere dagegen umfasst Vorstellungen oder Apperzeptionen, welche zwar aufgesogen, aber sofort nachher in einen Wirbel von dadurch ge- weckten (nähern und fernem Associationen) zerstreut werden.

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Zwangsvorstellungen. Einfache und convulsive (Grübelsucht). 435

Dort besteht das Wesentliche der Störung in dem festen Keil, wel- cher sich in das Denken einschiebt; hier gegentheils in der Unbestän- digkeit der neuen Vorstellung, welche sich nicht fixirt, sondern sofort zerfliesst. Dort ist Hemmung des Vorstellungsflusses durch mechanische Unterbrechung; hier durch chemische Auflösung des Wortes als des Sam- melpunktes condensirten Denkens. Vom Standpunkte des Ich betrachtet, befindet sich dieses bei der ersten Gruppe der Zwangsvorstellungen in einer Situation von stets neuen Hindernissen oder lixen Barrieren, welche beliebig in den Vorstellungsgang sich einschieben; bei der zweiten da- gegen in einem Zustande von Qedankenschwindel durch die sich beständig erweiternden Associationskreise, in welche die ursprüngliche Vorstellung vor dem Blickpunkt der Aufmerksamkeit sich auflöst.

Die erste Gruppe umfasst die einfachen Zwangsvorstellungen, die zweite die Grlibelsucht. Jene stellt eine Anomalie des Vor- stellens dar, wobei Satzeinschiebsel mit vorwiegend barockem, lächer- lichem, manchmal aber auch beängstigendem oder kränkendem In- halt sich eindrängen; es ist eine Art Chorea des Vorstellungslebens. Diese aber findet ihr Analogon mehr in eine Art von Vertigo mit intellectueller Convulsibilität (s. v. v.!). Beide Arten können von emotivem oder nicht- emotivem Charakter resp. Genese sein. Die nicht-emotive Grübelsucht erscheint klinisch unter dem Bilde des sog. krankhaften Fragezwangs. Ohne treibende Angst, ohne jede Affectbewegung wandelt sich für den Kranken eine beliebige Vorstellung in eine „Schraube ohne Ende" um, so dass sie nach allen mit Vorliebe transcendenten Richtungen in endlose Pro- bleme sich zersplittert, welche sich alle in Frageform aufdrängen.

Z. B. das Wort: „schön". Wie viele Arten von „schön" gibt es? Ist naturschön und kunstschön identisch? Gibt es überhaupt objectiv Schönes, oder ist Alles nur subjectiv schön ? Wodurch unterscheidet sich : gedankenschön und farbenschön; bücherschön und kleiderschön u. s.w.? Der betr. Kranke brachte es auf 40 und mehr Arten von „schön". Oder: es müssen alle Speisen und Getränke unter die Kategorieen von „gut" und „schlecht" untergebracht werden, alle Lebensmittel in „ge- fälscht" und „echt", alle Lotterieloose in „gewinnungsfähige" und „un- sichere" eingetheilt werden.

Die emotive Grübelsucht ergeht sich in der Aufstellung von allen möglichen und unmöglichen Consequenzen , welche aus einer zufälligen Beobachtung sich extrahiren lassen, immer mit den pein- lich gefühlten Folgen „wenn es wirklich so oder anders wäre".

Z. B. eine Farbe erregt sofort den Gedanken an deren chemische Zusammensetzung; daraus weiter die Angst, dass Jemand, der jene nicht kenne, unter der möglichen Wirkung der Farbe Schaden nehme, ja, dass Der oder Jeuer bereits diesen Schaden genommen hätte; bald erscheinen wirklich in den Gesichtszügen der Betheiligten deutliche Vergiftungs-

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Das hereditäre Irresein.

Symptome, an den eigenen Händen Spuren des Giftes, ja, da und dort schon Zeichen von weiterer Uebertragung durch fahrlässige Berührung u. s. w.

Manchmal kann das Gefühl einer plötzlichen und primären Hemmung im Vorstellungsablauf und die Reflexion dar- über eine Störung erzeugen, welche alle Merkmale der Zwangs- vorstellung besitzt, wie diese brüsk das Denken unterbricht, unge- wollt und fremd und überaus peinlich dem Bewusstsein sich entgegen- stellt, und dabei in ihrem subjectiven Charakter für das Ich erhalten bewusst bleibt. Diese bei Neuropathikern nicht so seltenen Zustände sind um so interessanter, als sie die Mitte zwischen Zwangs- vorstellung und allegorisirter Empfindung (wie in der Melancholie) einhalten.

Mitten in den geregelten Vorstellungsablauf schieben sich unter dem Gefühl gewaltsamer Hemmung plötzlich Bruchstücke und Gruppen von Gedanken ein, welche die Reflexion über das momentane psychische Ge- schehen, Uber die augenblicklich jetzt thätigen Seelenfunctionen zum In- halt haben. Mit unwiderstehlich hastigem Drange muss der Kranke dem krankhaften Zuge seiner Gedanken folgen, die sich mit unaufhaltsam ge- steigerter Schnelligkeit abwickeln, bis sie in ein verworrenes Chaos ver- dämmern. Die zunehmend sich verwirrenden Vorstellungsbilder ballen sich im geistigen Sehfeld zu „dunkeln Wolken" zusammen, welche sich immer näher rücken, bis die erleuchteten Kreise auf einem immer klei- neren Punkte zusammengedrängt werden, welcher endlich, auch von den „Wolken" erdrückt, die vollständige Hemmung des Denkactes beschüesst. Dieses ganzen Vorganges bleibt der Kranke sich während des Geschehens bewusst, kann denselben aber in keiner Weise hemmen oder modificiren. Leichtere Vorstellungsleistungen, z. B. gewöhnliche Conversation , sind neben und trotz jenes Gebundenseins möglich; nur die höhere intellec- tuelle Thätigkeit ist die gehemmte. Das Ueberspringen des normalen Ideenganges auf die verderblichen Geleise geschieht zufallig und unwill- kürlich, meist auf dem Wege einer flüchtigen Ideenassociation. Oft sind gewisse Tagesstunden besonders begünstigend. Manchmal schleichen sich die Hemmungen sogar in das Traumleben ein. Alle Anstrengungen mit der Energie der Bewusstheit jene lästigen Wolken zu zerstreuen und das geistige Gesichtsfeld aufzuhellen, sind vergeblich, und beschleunigen höchstens den hastigen Ablauf und die darauf folgende hemmende Span- nung und Unruhe. Der Kranke muss warten, bis sich die Hemmungen wieder von selbst lösen, bis der Anfall vorUber ist. Sehr oft sind es Zufälligkeiten (Besuch, Spazierengehen), welche den Anfall rasch been- digen. Die Analogie der Paroxysmen mit Tic's von wirklichen Zwangs- vorstellungen liegt nahe, nicht minder aber auch die Annäherung an die Hallucinationen, obwohl auch gegenüber diesen wesentliche Unterschiede bestehen bleiben. Am besten noch könnte man den Vorgang vielleicht als „sensorische Zwangsempfindung" bezeichnen.

Zu den sensorischen Zwangsempfindungen gehören auch jene Fälle, wo der Kranke sich zeitweise „wie von einem Wirbelwind erfasst durch

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Sensorische Zwangsempfindungen. Emotive u. nicht-emotive Zwangsvorstllg. 437

die Luft tragen fühlt". Diese Anomalieen nahern eich noch entschie- dener, als die vorigen, den Hallucinationen (des Muskelsinnes), während da- gegen jene transformirten Zwangswahrnehmungen, wobei ein Kranker jeden Morgen sein ruhig schlafendes Kind „mit einer klaffenden Halswunde im Blute daliegen sehen muss", die Uebergänge zu den Illusionen in ge- wissen melancholischen oder acuten Wahnsinnszu standen bilden. In mehr harmloser Weise kehrt derselbe Zustand in Zwangstäuscbungen des Per- ceptionsgebietes wieder, wornach einer Kranken jeder in ihre Theater- loge eintretende Herr „als mit unter dem Arme hervorgestrecktem Kopf erschien. So sind alle Uebergänge und Zusammenhänge gegeben.

Speciell an die schon früher (8. Wahnsinn) erwähnten Doppelempfin- dungen des Ich (die Doppelgängerei) reiht sich ein analoger Vorgang im äusseren Wahrnehmungsgebiet an. Derselbe besteht darin, dass bekannte Persönlichkeiten als „zwei" oder „drei" percipirt werden, von denen die eine als die richtige d. h. mit dem früheren Erinnerungsbilde stimmende, die andere aber als eine nur ähnliche Erscheinung erfasst wird. Diese sensorische Illusion führt weiter zur Zwangsvorstellung der „Doppel- gängerei der Umgebung", und kann im beginnenden Wahnsinn zur Grund- lage für eine hypothetische Verwechslung „Vertauschung", „verbreche- rische Unterschiebung" der eigenen und fremder Personen werden.

Ad 4. Klinisches Verhalten der Zwangsvorstellungen bezüglich ihres a) isolirten Auftretens, oder b) ihrer Verbindung mit Reflexen auf die Gemüths- und Handlungs-Sphäre.

Beides kommt vor. Für die nicht- emotiven (theoretischen) Zwangsvorstellungen ist das isolirte Auftreten Regel. Als solche zeigen sie sich bei neurotisch (hereditär) Disponirten, manchmal schon im zarten Kindesaltcr, und zwar sowohl in einfacher als in vertigi- nöser Form. Eine sehr gefährdete spätere Zeit ist die Pubertät; sodann weiter das Puerperium, das Climacterium; ferner nach gehäuften Pollutionen (Onanie). Auch in sehr vielen, auf invalider Nervengrundlage entstehenden Psychosen, namentlich hysterischen oder gewissen melancholischen, können vorübergehend Zwangsvor- stellungen isolirt auftreten; entwickeln sie sich, wie nicht so selten, weiter zu momentaner Ueberherrschuog des Bewusstseins und einem zwangsmässigen reactiven Handeln, so entstehen die acuten Wahn- sinnskrisen, die Anfälle von sog. abortiver Verrücktheit. Manchmal kommen sie episodisch vor (Wochen und Monate), und brechen oft plötzlich ab „wie mit einem Knack"; andere Male dauern sie durch viele Jahre, ja selbst durch das ganze Leben. Oft schliessen sich bei langem Bestand noch weitere psychopathische Symptome an, so dass dann ein wirkliches Irresein nachfolgt, in welchem die Zwangsgedanken, und zwar in vertiginöser Form, die Hauptrolle spielen (s. Maladie du doute).

Noch häufiger als isolirt kommt das in Rede stehende psycbo-

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l>as hereditäre Irresein.

pathiscbe Symptom mit combinirten Reflexen auf die emotive und motorische Seelensphäre vor. Eines der häufigsten Begleitsymptome ist die Angst. Eine krankhafte Aengstlichkeit geht Uberhaupt dem periodischen Eintritt der Anfälle voraus. Die Kranken fühlen sich müde und unschlüssig, schwankend und rathlos oft für die einfach- sten Dinge. Sie kommen aus der Furcht nicht heraus; die Angst lässt keinen festen Gedanken, noch weniger eine Entsch Hessling reifen so verfallen die Kranken in immer complicirtere Selbst- hilfen, aber ohne die gehoffte Beruhigung, weil trotzdem der Ge- danke in seiner unruhigen Oscillation bleibt, immer neue Irradiationen wirft.

So führt beispielsweise die Furcht der Mutter, dass ihre Kinder sich erkälten könnten, zum übermässigen Besetzen der Kleider mit Knöpfen, endlich zum Zustopfen jeder noch übrigen Oeffnung mittelst Sicherheits- nadeln; nun aber kommt der Angstgedanke, ob die so Geschützten nicht zu warm hätten? ob sie sich nicht verweichlichten? Mit jedem neuen Zweifel wird die Unruhe vermehrt, mit jeder neuen Anstrengung die end- lose Schraube weiter getrieben. Besonders verwirrend und beängstigend wirkt der Anblick Manchen schon nur der Gedanke au Glasscher- ben, Nähnadeln, oder gar Zündhölzchen, deren Beseitigung oft bis zu den feinsten Stäubchen des Zimmerbodens eine tägliche Sisyphusarbeit bildet. Die Kranken müssen beständig prüfen und verificiren, um wenigstens auf Augenblicke ihre treibende innere Unruhe zu beschwichtigen. Aber es wiederholt sich nur der Kampf mit dem Kiesen Antäus, welcher durch Berührung mit der Krde immer neue Kraft gewinnt. So ist es auch mit dem Sich-Aussprechen und Klagen, womit der Kranke seinem gepressten Herzen Luft zu machen sucht: spricht er darüber, so verliert er sich ins Endlose; schweigt er, so wächst die Beklemmung; vor dem „Scbweig"zwang, wie vor dem „Sprech"zwang wie er seine Lage selbst bezeichnet schwindelt es ihn.

Diese täglich und stündlich wiederholte Pein führt bald zu einer Angst in zweiter Potenz: der Kranke empfindet, wie er sagt, schon „die Angst vor der Angst", und sucht dem Gespenst bald durch alle Gegenmittel (mechanisch und intellectuell ausgeprobte) aus dem Wege zu gehen. Hat auch nur die leiseste Regung be- gonnen, so zieht es ihn rettungslos in den Abgrund der Krise hinab. Diese besteht in dem vorübergehenden Verschwimmen der Gedanken, in einer Ueberfluthung durch die möglichen und unmöglichen Con- sequenzen der Angst Vorstellung, mit dem unendlichen Wehegefühl eines zur vollen Passivität verdammten Bewusstseins.

Dieser „Krampf'' wird in der Kegel mit einer Steigerung aller seu- sibeln und vasomotorischen Hegleitsymptome der Zwangsvorstellung, na- mentlich mit vermehrter Herzthätigkeit, Kopf- und Präcordialdruck be- gleitet. Derselbe dauert bis zu mehreren Stunden, lässt nach und beginnt

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Zwangsvorstellungen. Die „Krisen". Zwangshandlungen. 439

wieder. Nicht selten löst er sich rascher durch reflexmotorische Ent- äusserung (Hin- und Herrennen, Gesticuliren , Grimassenschneiden , auto- matische Geberden und Acte aller Art). Bei intercurrenten Erregungs- zuständen kann auch ein reactives Wohlgefühl vorübergehend auftreten, so dass der Kranke mit einer Art gehobener Befriedigung auf seine Zwangslcistungen, als auf eine verdienstvolle Arbeit, schaut.

Damit betreten wir das Gebiet der Zwangshandlungen. In der Mehrzahl der Fälle sind diese die psychologische Folge der Zwangsvorstellungen, und bezeichnen deren gesetzmässige Weiter- entwickelung. Dahin gehört das Verrammeln der Fenster mit Stricken bei der Zwangsvorstellung des Hinausstlirzens ; das Verbannen aller Messer und Scheeren bei dem Zwangsgedanken der möglichen Ver- wundung durch dieselben; dahin auch die Vermeidung gewisser Berührungen (namentlich Metall, Thürklinken) aus Furcht vor Grün- span; dahin endlich das endlose Waschen der Hände oder der Essgegenstände bei der Zwangsvorstellung anklebenden Schmutzes, des Berührtseins durch Mäuse etc.; schliesslich die vielfachen Zwangs- bewegungen beim Sitzen, das automatische Schütteln der Kleider hei sexuellen Empfindungen, besonders bei der Angst sich onani- stischen Frictionen auszusetzen.

Etwas modificirt gehört dahin auch die Zwangsentwendung von weib- licher Toilette (Schürze , Schuhe u. 8. w.), um in deren Anblick sich sexuell zu begeistern und onauistisch zu reizen (Jastr o witz).

Aber die Zwangshandlung ist nicht immer und nothwendig nur die Folge einer klar bewussten Zwangsvorstellung, so wenig als jede Zwangsvorstellung zu einem motorischen Handlungsreflex sich umsetzen muss.

So ist es bemerkenswerth, dass manche Zwangsvorstellungen statt des überstürzten Umschlags in eine Zwangshandlung eher eine verstärkte motorische Hemmung, eine Art Krampf, erzeugen. Dahin gehört das linkische und läppische, oft geradezu impotente, Verhalten nervös reiz- barer Menschen in Situationen von Verlegenheit. Bei Andern sind es ge- wisse Idiosynkrasieen, welche ihnen selbst unerklärlich bleiben (z. B. der Anblick gläserner Trinkgefässe auf dem Tische), und sie im Moment der intendirten Action (z. B. beim Einscheuken u. s. w.j förmlich ataktisch machen, oder ganz lähmen.

Stets wird als Mittelglied zwischen Zwangsgedanke und Hand- lung, als physio-psychologische Bedingung des Ueberganges beider, die treibende resp. auslösende Kraft von Sensibilitäts Störungen d. h. ZwangsgefUhleu einzuschalten sein. Für die emotiven Zwangs- gedanken ist diese Bedingung mitgegeben. Aber auch den nicht- emotiven kann sie sich zugesellen, sowie jene reactiv d. h. dem Ich lästig und peinlich werden (s. ad 5). Manchmal stehen bestimmte

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Das hereditäre Irresein

Zwangshandlungen in einer nähern Beziehung zu speciellen Zwangs- empfindungen, als deren befreiende Reflexe. Barocke, ja rätsel- hafte motorische Aeusserungen vieler Kranker erhalten dadurch physiologischen Zusammenhang.

So ist nicht so selten mit dem höchsten intellectuellen Hemmungs- gefühl ein Schmerz im Hinterkopfe vorhanden, welchem der Kranke dnreb Rückwärtsbeugungen des Kopfes, durch Kratzen und Streichen Linderung verschallt. Anderemale gelingt ihm dasselbe Experiment durch eine be- stimmte z. B. forcirt aufrechte Haltung, oder durch rasches pendelartigea Gehen, wahrend andere Rumpf- oder Extremitätenbewegungen, z. B. rasche Wendungen, oder aber Vorwärtsbeugen des Kopfes die Zwangsempfin- dung nicht heben, sondern gegentheils verstärken. Auf vergeistigterem Gebiete versieht oft bei sensuellen Hyperästhesieen (belästigende Sinnes- eindrücke aus der Umgebung) ein Wechsel in der Zimmereinrichtung, na- mentlich in der Stellung der Möbel, oder auch eine alle Mode absichtlich verhöhnende Kleidung denselben Act der Selbsthilfe. Manchmal muss (bei Feingebildeten!) auch ein derbes Schimpfwort oder ein gut gemeinter Rippenstoss an Jemanden aus der Umgebung herhalten, um dem peinli- chen innern Schwanken und Grübeln reflectorisch Entlastung zu bringen. Man beachte aber auch, dass in demselben logischen Zusammenhang ein ernstes Tentamen suicidii, nicht selten mit Erfolg, als Befreier von der übermenschlichen Pein solcher Zwangsgedanken, ungeahnt sich einstellen kannl

Soweit sind die Zwangsacte correcte Folgewirkungen kranker intellectueller Vordersätze, mag die Form derselben auch noch so original, ja bizarr sein. Es gibt nun bei Neuropathikern noch eine Gruppe von Handlungen, welche ganz das Gepräge von gewollten haben, aber, so weit wir es übersehen, vollständig unwillkürlich sind. Der Kranke weiss keinen Grund dafür; er muss sie eben thun, selbst gegen seine eigene Ueberzeugung, und wenn er allen Inconsequenzen sich aussetzte. Dabin gehören zunächst gewisse harmlose Schrullen: allerlei Papierschnitzel, Ohrenschmalz, ab- geschnittene Fingernägel sorgsam aufzubewahren; ja, es werden Fälle erlebt, in welchen Kranke ihre Excremente iu gleicher Weise conservativ behandeln, selbst todte Thiere wochenlang auf ihrem Leibe herumtragen, ganz unempfindlich gegen den Verwesungs- geruch. Aber auch der sog. instinetive Selbstmord gehört hierher, welche nicht selten mehrere Glieder derselben Familie ohne jeden zureichenden Grund hinwegrafft, merkwürdigerweise oft in demselben Lebensjahre (wie ich in einem Fall beobachtete, sogar zu derselben Jahreszeit, bei drei Söhnen). Die erstgenannten, mehr harmlosen oder unästhetischen, Zwangsacte kommen oft nur tempo- rär resp. periodisch vor, und verschwinden wie sie eingetreten waren. Dahin gehört auch die periodisch auftretende „Such-Manie",

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Zwaugshandlungeo. „Impulsive" Acte. Psycholog. Mechanismus. 441

wobei die Kranken zeitweise plötzlich das ganze Haus bis zur letz- ten Schublade durchstöbern, neu ordnen und ebenso oft wieder um- ändern; sodann die „Wasch-Manie", mit dem Drange eines endlösen Waschens und Putzens (merkwürdigerweise oft abwechselnd mit Idiosynkrasie gegen Reinlichkeit). Auch der zeitweilige Aneignungs- trieb einzelner Neuropathiker , welcher namentlich auf Cigarren- Requisiten, Federmesser u. s. w. gerichtet ist, dürfte hier einzureihen sein. Gemeinsam allen diesen „Drängen" ist das gebieterische Mus8, ohne und selbst gegen die bessere Einsicht des luciden Be- wusstseins, oft bei hochentwickelter Geistesbildung.

An diese eben besprochenen Zwangsacte, und speciell. an den „instinctiven Selbstmordtrieb" reihen sich nun noch mehrere gleich- geartete Handlungsäusserungen, welche als impulsive zusammen- gefasst werden.

Die psychologische Analyse derselben hat von dem normalen Mecha- nismus der „Tbat" auszugehen, dessen Grundzüge sind: Kampf der ver- schiedenen Motive (Vorstellungen), je nach ihrer Qualität und Quantität (d. h. ihrem intellectuellen und Gemüthswerthe); schliessliches üeberge- wicht der stärksten Vorstellung durch das endgiltige Ueberwiegen ihres treibenden Gefühlstons; Reflex von diesem aus auf die combinirten Be- wegungsbilder. Je nach Art und Ort des störenden Eingriffs treten ver- schiedene Bedingungen für eine krankhafte Handlung ein: I. es können die in abwägenden Kampf tretenden Vorstellungen eine abnorme Beweg- lichkeit haben, d. b. der intellectuelle Factor des Handlungsvorganges zu schnell oder zu langsam ablaufen; oder aber 2. es ist das treibende Ge- fühl, die Gefühl8betonung (physiologisch: die Function der mitschwingen- den sensibeln Nervenbahn) krankhaft abnorm, wobei wiederum in der Erfahrung zwei Möglichkeiten gegeben sind: es findet a) eine quantitativ Ubermassige Innervirung statt, welche stürmisch zum Handlungsretlex treibt, ohne die vollständige intellectuelle Zwischenkette aufzurufen; oder aber b) eine krankhaft geänderte resp. defecte Gefüblsbetonung, in der Weise, dass die selbstsüchtigen Tendenzen gegenüber den altruistischen Gefühlen abnorm reizbar, und, wenn aufgerufen, überwiegend stark sind; oder aber: dass die letztern mehr weniger fehlen, resp. in ihrer Innervation wirkungs- los bleiben (s. Moral Insanity). Die äussere Form der Handlung kann darnach bald mehr dem Typus der „gewollten" Acte, bald mehr dem Reflextypus der Affectentäusserung entsprechen. Ebenso verschieden ist der Zustand des Bewusstseins, welcher in den weiten Grenzen zwischen Lucidität und plötzlicher, mehr weniger vollständiger, Trübung bis herab zu deliranter Verdunkelung schwanken kann. Nicht minder differirt die Erinnerung an die vollbrachte Tiiat. Bald vollständig vorhanden, ist sie in andern Fällen nur dämmernd; oft fehlt sie sogar ganz (ohne dass aber daraus schlechthin der bestimmte Rückschluss auf Fehlen des Be- wusstseins vor und während der That abgeleitet werden dürfte; letztere kann nachträglich erst vergessen worden sein!). Sehen wir von den Moral-Insanity-Acteu des sittlichen Idioten ab, so handelt es sich bei den

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Das hereditäre Irresein.

sog. impulsiven Thaten des Hereditariers im Wesentlichen um krankhaft überstürzte Handlungen. Diese geschehen a) aus plötzlicher neural- gischer Beklemmung (oft mit hallucinatorischer Begleitung); oder b) als Zwangsacte aus jener unerklärlichen „convulsiven" GemUthsdisposition, welche nach Art des Kitzels die Lust am Schaurigen, Gefürchteten er- regt, und mit der Contrastwirkung der wachsenden Pein, wovon nicht loszukommen ist, sich bis zur Höhe eines unbemessenen Handlungsreflexes steigert; oder aber c) aus einem peinlichen Vorstellungsschwindel mit Angst, welcher, die Reflexion überspringend, zur Entäusserung drängt. Gewisse impulsive Dränge, wie der Stehltrieb, sind wohl auf directe or- ganische Motive aus der psychischen Cerebralaffection zurückzuführen, in deren Natur wir noch nicht eindringen können. Interessant ist für dieses Hereinragen des pathologischen Hirnlebens im Allgemeinen direct ia die Formgestaltung der impulsiven Handlung die Beobachtung Morel' s : dass der Epileptiker anders mordet als der Hypochonder, und dieser anders als der Alkoholist und der Paralytiker (s. u.).

Sofern das Bewusstsein bei der impulsiven Handlung erhalten ge- blieben, verhält sich die letztere wie eine Zwangsvorstellung (nur hier im psychomotorischen Gebiet), mit allen diese charakterisirenden Eigen- schaften. Sie entsteht plötzlich, bricht in der Regel ausser allem logischen resp. „gewollten" Zusammenhang mit ihrem Bewegungsbild in das Bewusstsein ein, welches mit seinem übrigen Inhalt ihr fremd ge- genüber steht; drängt langsamer oder rascher sich empor, bis sie durch die begleitenden, in Folge des ungehemmten Steigens anschwellenden Innervationsgefühie ihre gewaltsame Entäusserung findet über den „Kopf" des Kranken hinweg. Nicht selten empfindet das Bewusstsein dabei nur den dunkeln, unwiderstehlichen Drang „pousse malgrö lui"; anderemale gehen sensorielle Reizungen (Licht- oder Feuersignale, impe- rative Halluciuationen) mit einher.

Die praktisch und namentlich auch forens in Betracht kommenden impulsiven Acte sind: der Stehltrieb, der Brandstiftungstrieb, der Mord- und Selbstmordtrieb und die (periodische) Trunksucht. Sie alle haben das Gemeinsame, dass sie auf neuropathischer Grundlage beruhen, welche eine angeborene (hereditäre Neurose), oder erworbene (constitutionelle Neurosen: Hysterie, Epilepsie, Hypochondrie, Kopfverletzungen, schwere organische Hirnleiden, Paralyse, postapoplekti.sche Atrophie, Alkoholismus) sein kann. Das Auftreten der Zwangshandlung geschieht paroxysmell, wobei dieselbe sich entweder an einen Angstanfall , oder einen Insnlt (Epilepsie) oder an einen Excess (Rausch) anschliessen, oder endlich peri- odisch auftreten kann (Dipsomanie).

Nur in diesem Sinne d. h. unter Miteinbeziehung eines weitern (d. h. allgemeinen) psychischen Hirnleidens, als Grundlage, kann man von einem „impulsiven Irresein" reden. Auch noch in andern Psycho- pathieen, als den oben genannten, kommen impulsive Acte vorübergehend vor (menstruales Irresein); niemals aber als i so Ii rte Symptome auf dem Boden einer sonstigen Geistesgesundheit. Dass man deshalb von einer Mordmonomanie, einer Pyromanie u. 6. w. als einer partiellen und nur auf diese eine impulsive Richtung beschränkten Störung nicht reden kann, darf heute als ausgemacht gelten. Vielmehr wird in jedem „mononia*

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Die „Monomanioen"-Frage. Stebl-, Brandstiftungs-, Mordtrieb. 443

nen" Acte ausser dem krankhaften Triebe auch noch die weitere cere- bropathische Grundlage (in einer der bezeichneten pathologischen Rich- tungen) aufzufinden sein, und sie muss im gegebenen Falle sich finden, wenn anders die krankhafte Natur der incriminirten Handlung erwie- sen werden soll. Wenn aber damit auch praktisch die frühere Mo- nomanielehre als erledigt zu betrachten ist, so ist doch die Frage nach deren theoretischer Berechtigung noch nicht zugleich auch mit ent- schieden, freilich in einem wesentlich andern Sinne. Es bleibt nämlich immer noch das Problem: warum diese Hirnaffection unter den möglichen Zwangsentäusserungen gerade die eine, und immer wiederkehrende, Form wählt; warum z. B. der Stehltrieb so speci fisch mit epileptischen (para- lytischen) Zuständen; der Drang zur Brandstiftung so Uberaus häufig mit alkoholistischen Excessen; der ,, Mordtrieb" mit dem durch Onanie com- plicirten Hirnleiden sich verbindet? Hier scheinen doch gewisse „cere- brale Idiosynkrasieen" im psychologischen Terminus: „specifische Mono- manieen" mit im Spiele zu sein.

a) Der „Stehltrieb" tritt namentlich in verschiedenen Episoden der epileptischen Neurose auf, sehr oft als Vorläufer von epileptischen Erregungszuständen oder eines Krampfinsults. Charakteristisch ist das Triebartige seiner Entäusserung : 1. der Kranke macht die denkbar ver- wegensten Einbruchsversuche, er taucht rastlos in den verschiedensten Localitäten und Ortschaften auf, ohne Rücksicht auf das Entdecktwerden ; und 2. er stiehlt ziel- und planlos, ohne Wahl, das Nächste Beste, nicht selten Zweckloseste, was er gar nicht brauchen kann, ja, was ihn an seinem Entkommen hindert, so dass er nicht selten dadurch sich selbst fängt. Er stiehlt, „weil er stehlen muss". Nicht selten wird auch das Gestohlene sofort wieder weggeworfen, verschenkt, oder zerstört. Der moralische Idiot stiehlt dagegen aus „convulsiver" Ueberwältigung neben Mangel an sittlichen Pflichtbegriffen, so wie er etwas Begehrenswerthes sieht. Noch sehr der Aufklärung harren jene merkwürdigen Kranken (8. o.), welche schon das Interesse B ergmann 's, früher dasjenige Galla aufriefen: wohlhabende, gebildete und gesittete Personen empfinden eine unwiderstehliche Lust, gewisse Gegenstände (Federmesser, Cigarrenspitzen u. 8. w.), wo sie deren nur ansichtig werden können, einzustecken und mitzunehmen. Ist dieses nicht wiederum ein Fall der oben betonten spe- cifi8chen „Idiosynkrasie" gewisser Gehirnorganisationen?

b) Der Brandstiftungstrieb tritt am häufigsten in manischen Erregungsphasen des alkoholistischen Gehirns auf, sodann auch bei jugend- lichen Personen von imbeciller Hirnanlage, vornehmlich in der Pubertät (bei masturbirenden jungen Neurasthenikern , oder bei jungen Mädchen zur Menstruationszeit). Die Form seines Auftretens ist entweder ein Zwangs- gedanke, oder eine imperative Hallucination (elementarer Art: plötzlicher Flammenschein, oder in Stimmenform: „Leg Feuer an!").

c) Der Mord trieb betrifft 1. gewisse schwere, hereditäre Neuropa- thieen, namentlich auf hysterischer Basis; 2. erworbene, auf sexueller bezw. onanistischer Grundlage. Auch diese Form schliesst sich mit Vorliebe an vorausgegangene Zwangsvorstellungen (der Dolch Macbetb's!) an; andere - male ist der Drang vermittelt durch kitzelnde Gefühlsperversitäten. Be- rühmt bleibt nach letzterer Richtung der durch Marc erzählte Fall von

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Das hereditäre Irresein.

dem Dienstmädchen, welches beim jedesmaligen Entkleiden des ihr anver- trauten Kindes den unwiderstehlichen Antrieb fühlte „ein Stück von des- sen weissem Fleisch abzuschneiden1'. Maudsley kannte eine 72jährige, hereditär belastete Dame, welche paroxysmen weise den Drang spürte ihre zärtlich geliebte Tochter zu erwürgen. Die Intervalle waren durch reactive verzweiflungsvolle Depression Uber diesen, von der Kranken tief verabscheuten, zeitweiligen Zwang ausgefüllt. In manchen Fällen von melancholischer Verstimmung auf neurasthenischer (spinalirritativer) Grund- lage gibt eine periodisch sich verschlimmernde Neuralgie die Auslösung zu dem homiciden Impulse ab, unter gleichzeitiger Bewusstseinshemmung, welche bis zur Bewusstlosigkeit sich steigern kann Raptus neuralgi- cus. Allermeist steht übrigens der „Mordtrieb" auf wahnhafter Basis, besonders auf persecutorischem und religiösem Wahnsinn, und auch hier sind die Onanisten am gemeingefährlichsten. Der impulsive Selbst- mordtrieb tritt besonders in der Melancholie und dem Verfolgungswahn- sinn (auf hereditärer oder Constitutionen neuropathischer Grundlage), und im menstrualen Irresein in die Erscheinung. Er bezieht seine Waffen aus dem ganzen „Arsenal des Todes", ohne Wahl, ohne Ueberlegung. Nicht selten behält der Kranke keine oder nur eine summarische Erinnerung an den gemachten Versuch; anderemale ist er vor und nachher anschei- nend ganz harmlos; in wieder andern Fällen bricht die That aus einem stupid unheimlichen Brüten heraus, welches ein kenntliches Memento auf die Stirn des Kranken legt, unerreichbar für allen Zuspruch, für Bitten, für versuchte geistige Ablenkung. Sowie sich der Kranke unbewacht glaubt, wird er sofort unruhig, die Augen sprühen, er sucht mit explo- siver Wildheit zu entspringen, um seinen Drang zu erfüllen. Dies kann sehr oft conspectu omnium geschehen, wobei der Kranke, wenn er noch im Momente der Ausführung ergriffen wird, mit den convulsiven Abwehr- bewegungen eines Rasenden reagirt. Viele beissen sich in die Schlag- adern des Vorderarms (sogar mit Ausreissen des Fleisches}, Andere suchen sich an jedem Nagel aufzuhängen, sich in gefüllte Badwannen zu werfen, aus dem Fenster zu stürzen, den Kopf zu zerschellen, sie beissen Stücke aus Gläsern und Tellern, um sich zu verschlucken, verschlingen Steine, Nadeln, Nägel, Schlüssel, Leinwandfetzen, suchen sich in das Ofeufeuer zu stürzen, werfen sich plötzlich unter vorübergehende Wagen (Eisen- bahnzüge).

d) Die Dipsomanie vertheilt sich auf eine Reihe von hysterischen, hypochondrischen, neurasthenischen und periodischen Psychosen. Prädis- ponirend wirken bei Frauen die Gravidität und das Climacterium. Nach dieser verschiedenen Grundlage ist auch das zeitliche Auftreten und die klinische Form des Paroxysmus verschieden. Während auf der Grund- lage der genannten constitutionellen Neurosen die Anfälle in verschieden langen Zwischenräumen auftreten, erscheinen sie auf periodischer Grund- lage mit der Regelmässigkeit dieser Psychopathie. Sehr oft schliessen sie sich dabei an die Menstrualparoxysmen an (s. o.). Recht häufig bil- den sie die Einleitung einer nachfolgenden (periodischen) manischen Phase. Auf neurasthenischem Boden geben die bis zu einem gewissen Höben- grade summirten UnbehaglichkeitsgefUhle den Ausschlag zur Entstehung des Anfalls. Oft leiten auch heftige Neuralgieen (Zahnschmerz) den letz-

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Zwangshandlungen. Dipsomanie. Erotomanie.

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tern ein. Der Kranke, welcher bis dahin in gewohntem Tageslauf, mit- unter ganz abstinent, ja sogar mit entschlossener Abneigung gegen Spi- rituosen gelebt, fällt plötzlich in einen psychischen oder nervösen Erre- gungszustand. Er spürt eine ängstliche Unruhe oder Palpitationen, Kopf- druck, Appetitlosigkeit ; der Schlaf wird schlechter, die Stimmung ängstlich deprimirt oder ausserordentlich reizbar. Manchmal zeigen sich ausge- sprochene Symptome einer Sympathicusneurose (Pupillenänderung). Dann wird zur Flasche gegriffen, und ohne SättigungsgefUhl (oft noch mit ver- minderter cerebraler Widerstandsfähigkeit gegen die toxische Wirkung) fortgetrunken bis zur tiefsten Berauschung. Darauf kommt ein oft 1 bis 2tägiger Schlaf, mit nachfolgendem betäubt mürrischem Wesen und den gastrischen Folgen des stattgehabten Abusus. Psychisch tritt, wenigstens im Anfang, ein moralischer Katzenjammer ein, mit einschneidender Reue und aufrichtigem Ekel vor der erniedrigenden Debanche. Im Weitern führt die Krankheit in die Folgezustände des Alcoholismus chronicus, namentlich bei Complication mit den acuten Insulten des Delirium tre- mens; oder aber sie theilt die Weiterschicksale der periodischen Manieen, deren Theilerscheinung sie bildete. Die Anfangs geistig freien Intervalle werden oft im Verlauf durch ein eigentümlich scheues, ängstliches Wesen, mit einem Anflug von Gedrücktheit und ^Selbstständigkeit, ausgefüllt. (Interessant war mir in einem Falle das regelmässige Eintreten des An- falls jeweils 4 Wochen bei einem hereditär nicht veranlagten, aber durch schwere Lebensschicksale zum Trinken getriebenen jungen Manne. Gleich- zeitig mit dem Auftreten eines vagen Verfolgungswahnes stellten sich, neben den oben geschilderten nervösen Symptomen, Hämorrhoidalknoten und Abgang eines froschlaichähnlichen Schleims ein, wobei dem Kranken der Schweiss oft tropfenweise von der Stirn floss. Mit dem Eintritt der Aufregung hörte der Schleimfluss auf. Jetzt erfolgte mehrtägiges Saufen mit zunehmender sinnloser Heftigkeit; dann 4 wöchentliche Euphorie. Ge- wöhnlich am Sonntag kehrte dann der Turnus wieder.) Bei gewissen Moral-Insanity-Zu8tänden kommen auch Trinkexcesse vor, welche aber nicht periodisch d. h. in Anfällen sich einstellen, sondern nur, wenn der sittlich haltlose Kranke Gelegenheit zum Trinken bekommt: dann wird sinnlos fortgetrunken, so lange das Geld oder der Stoff reicht. Letztere sind die eigentlichen Potatoren, die Gewohnbeitssäufer: gewordene, oder ab ovo sittliche Schwächlinge, und als solche von den eigent- lichen Dipsomanen, welche aus organischem Zwange excediren, zu unter- scheiden.

e) Die Erotomanie der krankhaft gesteigerte Sexualtrieb kann entweder ein (in natürlicher oder masturbatorischer Form) einfach er- höhter, oder aber ein perverser sein (Violation, Bestialität, Leichenschän- dung, Sodomie und Päderastie, Amor lesbicus, conträre Sexualempfindung). Wie die vorgenannten anomalen psychischen Triebrichtuugen . so kann auch die Erotomanie nur als Theilerscheinung einer bereits bestehenden oder sich entwickelnden Psychopathie auftreten: so in der Manie, in der activen Melancholie (hier als unbezwinglicher Masturbationsdrang, Leichen- schändung), im spinalen Verfolgungswahn , in der Dementia, speciell im Idiotismus, und in der Paralyse. Aber in gleicher Weise kann der krank- haft gesteigerte Sexualtrieb auch eine mehr isolirte psychopathische Er-

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Das hereditäre Irresein.

scheinung bilden, und das Symptom einer angeborenen (oder erworbenen) sittlich defecten Constitution darstellen, entweder als Nymphomanie, Saty- riasis, oder in einer der obigen Perversitätsformen. Als solcher kann derselbe periodisch auftreten (hier sehr häufig prä- oder postmenstraal, auch postconuptial), oder anhaltend (charakterologisch) in Form eines be- ständigen sinnlichen Ritzels, welcher sich bald zu einer cynischen Denk- und Gefühlsrichtung ausgestaltet, bald aber sich in Zwangsgedanken gel- tend macht, so dass selbst die heiligsten Gedanken sich nur auf der Folie eines beständig innerlich angeschauten oder gedachten physischen Sexual- actes abzuzeichnen vermögen. Bei edlern Naturen fuhren diese Zwangs- gedanken, welche manchmal bis in die Pubertät zurückreichen, sehr oft zu schweren reactiven Melancholieen. Bei mehr „convulsiver psychischer Anlage" entstehen daraus gewisse Formen der Maladie du doute. Als ein besonders sich vordrängender psychopathischer Zug erscheint die Eroto- manie im hysterischen Charakter, hier manchmal schon bei jungen Mäd- chen als uncorrigirbare Liebelei, oft mit andringlichem männersUchtigem Wesen, selbst mit direct schamlosem Verlangen oder Sich-Hingeben. Die intellectuelle Sphäre kann dabei die Charaktere einer mehr minder aus- geprägten geistigen Schwäche bieten, welche aber an sich oft wenig markante Auffälligkeiten zeigt; in andern Fällen und deren Kennt- niss ist namentlich social und forens höchst wichtig ist die Intelli- genz in Wirklichkeit qualitativ intact, zeigt jedoch, zugleich mit der Gemüthssphäre, eine charakteristische Steigerung der Erregbar- keit, zugleich mit einer durch jeden Eindruck ungehemmt bestimmbaren Schwäche. Es handelt sich m. a. W. um Hysterische oder Here- ditarier mit reizbarer Moral Insanity. Nicht selten sind locale Genitalveränderungen nachzuweisen (Ovarial- resp- Hodenaffectionen, Vagi* nal- oder Pudendalhyperästhesieen , Uteruserosionen). Erworben wer- den kann die Erotomanie, als Symptom, in spätem neurasthenischen oder psychopathischen Zuständen durch sexuelle Excesse, verbunden mit einer sittlichen Erschlaffung in Folge der Orgien einer corrupten Phantasie. Doch scheinen auch hier angeborene Dispositionen eine Rolle zu spielen. Die conträre Sexualempfindung findet unten ihre getrennte Besprechung.

Unter den vertiginösen Zwangsvorstellungen verdient eine besondere Hervorhebung die bei Neuropathikern immer häufiger aufgefundene „Platz- angst", die Agoraphobie, d. h. die Zwangsvorstellung einen freien Platz nicht, oder nicht allein, Uberschreiten zu können, mit einer daran sich knUpfenden, bis zur „Krise" sich steigernden Angst. Ausser einem „freien Platze" erwecken auch geräumige Kirchen, oder Säle, anderemale mit vielen Menschen angefüllte Räumlichkeiten, dieselbe Schwindelvorstellung. Diese wird in der Regel durch ein im Unterleib beginnendes und nach dem Kopfe aufsteigendes Wärmegefühl eingeleitet, oft mit intensivem Herzklopfen, woran sich unter Ausbruch von kaltem Sch weiss ein Seit- wärtsziehen des Kopfes mit allgemeinem Zittern, ein verwirrendes, endlich lähmendes Furchtgefühl anschüesst. Manchmal genUgt schon ein plötz- licher schriller Sinneseindruck, die optische Wahrnehmung einer weiten Perspective, ja selbst schon der Gedanke an eine solche, zuweileu das lebhafte Gefühl der Einsamkeit oder das deprimirende plötzlicher Ver- legenheit zur Erzeugung des „psychischen Schwindels", welcher körper-

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Agoraphobie. Körperl. Begleituymptoine. Conträre Sexualempfindung. 447

lieh in muskulären Tremor, ja selbst in vollständige Muskelohnmaclit ausläuft. Interessant ist dabei, dass auch enge Strassen das Angstgefühl erwecken, sofern plötzlich eine grössere Menge von Passanten auf den Kranken zukommen. Unter allen Umständen wird der Eintritt desselben durch sonnige Beleuchtung des Terrains begünstigt; bei Nacht bleibt es aus.

Ad 5. Unter die Begleitsymptome der Zwangsvorstellungen gehören sensible und vasomotorische Störungen, gewöhnlich allgemeinen Charakters, wie diese den sog. Status nervosus oder auch das klinisch reiche Bild der Spinalirritation zusammensetzen. Es sind hauptsächlich neuralgische Symptome (darunter besonders Kopf- und Präcordialdruck) , sodann cir- culatorische (unregelmässige Herzthätigkeit und Herzklopfen, Dyspnoe), unangenehme Sensationen in Klicken und Gliedern, vasomotorische Rash's, oder gegentheils Kältegefühle. Die sexuellen Empfindungen sind manch- mal gesteigert, in andern Fällen aber Uber die Zeit der Paroxysmen er- loschen, so dass der Kranke an der Wiederkehr der erstem das Auf- hören der letztern erkennt. In den Zwischenzeiten treten namentlich die Zeichen der anämischen Constitution zu Tage, manchmal auch trophische Störungen (Abmagerung oder gegentheils starker Fettansatz). Grosses Ermüdungsgefühl mit Appetitlosigkeit und Dyspepsia nervosa bildet sehr oft die Einleitung, und begleitet auch den Paroxysmus oft auf Monate hinaus; dazu gesellt sich hartnäckige Schlaflosigkeit. In einem Falle beobachtete ich, dass heftiges Gähnen in den Exacerbationen der Zwangs- vorstellungen Erleichterung brachte. Obstipation ist nicht selten. Bei Frauen wird hin und wieder ein Infarctus uteri mit Geschwürsbildung und Fluor getroffen, dessen erfolgreiche Behandlung sichtlich günstigen Ein- fluss auf den Verlauf des Leidens äussern kann. Die Menses bringen in der Mehrzal der Fälle vorübergehend Verschlimmerung.

Unter conträrer Sexualempfindung (Westphal) versteht man eine Anomalie des Geschlechtssinns, welche in der Liebe des Man- nes zum Manne, resp. des Weibes zum Weibe ihre natürliche und einzige Befriedigung rindet. Dieselbe kann sich als ideale Schwärmerei, oder als physische Perversität (obseöne Berührungen , mutuelle Onanie, seltener Päderastie) entäussern, gewöhnlich als beides. Der geschlecht- liche Drang ist ein gebieterischer, dem normalen Bedürfniss gegenüber gesteigerter; er umfasst Sinnen und Denken der leidenden Persönlich- keit, so dass diese unglücklich ist (oft wirklich melancholisch wird), bis sie den Gegenstand ihrer Sehnsucht gefunden, oder nach einer Trennung wiedergefunden. Manche sind von der Anomalie ihrer Eigenart über- zeugt, können aber dessenungeachtet nicht davon lassen; Andere aber halten ihren Drang für den „natürlichen", und foltern sich in der Gewis- senspein ab, sich einer Rechtsordnung gegenüber zu wissen, welche als sträfliche Unnatur brandmarkt und bestraft, was ihnen unbesiegbarer und eingeborner Trieb ist, dessen Erfüllung sie ebenso beglückt und kräftigt, als die Entbehrung sie verzweifeln macht. Gegenüber dem Umgang mit dem andern Geschlechte sind sie ruhig, eiseskalt; gewöhnlich bringen sie es nicht einmal zu einem physischen Actus, oder die Erection wird nur auf dem Umweg vermittelt, dass sie an einen „schönen Mann" d. h. au den Gegenstand ihrer perversen geschlechtlichen Sehnsucht denken. Die

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Das hereditäre Irresein

Ejaculation in diesem Falle bringt aber keine Befriedigung, oder höchstens eine ungenügende („der Onanie vergleichbare"); während die mannmänn- liche Umarmung geistig die höchste Wonne, und physisch eine erfrischende Stärke verleiht. In einem Falle beobachtete ich sogar fehlende Samen- ergiessung bei Umgang mit Frauen, neben gänzlich fehlender Libido; wäh- rend dem jungen Mann andrerseits der Qedanke an den „Geliebten" schon genügte, um eine vollkommen befriedigende Pollution herbeizuführen.

Manchmal steigert sich der „Gedanke" zur Hallucination eines schö- nen Gesichts, oder auch in cynisch niedriger Form der Genitalien, welche Tage lang sich in den Blickpunkt stellt. Oft weicht der Schlaf, bis dem gebieterischen Drange durch Onanie genügt ist, wobei sich der Kranke bald in die Rolle des Mannes, bald in die des Weibes (aber immer nur in der Phantasie einer gleichgeschlechtlichen Umarmung) ver- setzt. Bei nicht Wenigen geht so das Geschlechtsleben in Pollutionen auf, theils freiwilligen, theils unbewussten im Traume (oft mehrere in der Nacht), wobei regelmässig nur in der wachen Sinnesrichtung geträumt wird. Die Intelligenz ist nicht selten wohl erhalten, oft sogar fein ent- wickelt; die Träger dieses anomalen Dranges leben in Amt und Würde, tüchtig in ihrem Berufe, Manche selbst in (natürlich peinvoller) Vernunft- Ehe und daneben in dem unbeschwichtigten abnormen Drange und der ständigen aufregenden Sorge wegen eines möglichen Conflictes mit dem Strafgesetze, dessen Bestimmungen sie als unvereinbar mit ihrer Indivi- dualnatur, und deshalb als hart und ungerecht empfinden. Dieser als „fürchterlich" geschilderte Kampf zwischen socialer Pflicht, Angst vor Schande, und andererseits ihrem Verhängniss, führt die Unglücklichen nicht selten zu Selbstmord. Der psychische Tenor im Benehmen und Aeussern kann bei dieser Klasse der „Urninge" ein vollständig normaler sein, so dass dem Uneingeweihten keine Ahnung wird über die innere tiefe Kluft: der Habitus ist der eines wohlentwickelten Mannes in Stimme und Haltung, in Kraft des Auftretens, in Haar- und Bartwuchs. Bei An- dern dagegen verräth der psychische Charakter ein entschieden feminines Gepräge: schon von Kindheit aufsind Puppen die Lieblingsbeschäftigung; auch für die Jünglings- und Mannesjahre bleibt eine Vorliebe für weib- liche Handarbeiten (Sticken, Kochen) und eine entsprechende Interessen- neigung (Moden, Toilette). Sie haben ein weichlich sentimentales Wesen, fühlen sich selbst „mehr Weib als Mann", siud fast durchgängig von einer Ruhrseligkeit, welche durch den leisesten Anlass (Schauspiel ) in Thränengüsse versetzt wird. Bei einer weiteren Gruppe endlich zeigt auch der äussere Habitus eine gewisse feminine Signatur: in der For- mung der Brustbüate, in der Stimme, dem geringen Bartwachsthum, der stärkeren Entwicklung des monsVeneris; oft geht auch eine entsprechende Toilette, eine koquette Eitelkeit, eine Vorliebe für Kleiderziererei Hand in Hand ; in den extremsten Fällen sogar ein künstliches Nachahmen der Frauenbüste bis zum Tragen weiblicher Kleidung. In diesen höheren Graden der conträren Sexualempfindung leidet auch die intellectuelle Seite tiefer mit : es finden sich hier alle Stufen des Schwachsinns, zugleich neben ausgesprochener Moral Insanity (cynische Geistesrichtung, welche aller religiösen und sittlichen Ordnung in frivoler Weise den Krieg erklärt, oft mit der verschrobensten „philosophischen" Motivirung). Eine gewisse

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Conträre Sexualempfindung.

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Zahl von originär Verrückten verfällt auf diese Specialität. Haben sie den Gegenstand ihrer „Liebe" gefunden, so leben sie durch freie beider- seitige Entschliessung (wenn der Geliebte auch den „Vernünftigen", wie sie sich oft nennen, zugehört) mit diesem in „glücklicher Ehe"; sie schwär- men und dichten, versinken in Todessehnsucht, wenn das zärtliche Ver- hältniss gelöst wird, oder gerathen in die furchtbarste Leidenschaft, wenn sie Grund zur „Eifersucht" wittern. Andere begnügen sich mit einem käuflichen „Dioning", und fallen, ertappt oder denuncirt, dem Strafgesetze anheim 175 d. Strafgesetzbuchs). Körperlich ist ausnahms- los eine neuro- oder psychopathische Anlage mitbegleitend. Isolirt, bei sonst vollkommen geistig Gesunden, kommt das erwähnte Phänomen nicht vor. In der Uberwiegenden Mehrzahl der bis jetzt bekannten Fälle ist erbliche Belastung verzeichnet, und eine bis auf frühe Lebensjahre nachweisbare Neurasthenie (Spinalirritation), mit Neigung zu Fluxionen, geringer Resistenz gegen Alkohol, periodisch schwankender nervöser Lei stungscurve, oder temporärer Verstimmung mit Reizbarkeit und impulsi- ven Neigungen. Viele zeigen das „neuropathische" Auge, den schwim- menden, languescirenden Blick. Bemerkenswerth ist, dass Einzelno dieser „Urninge" nach mann-weiblichem Geschlcchtsact sich ebenso nervös ge- schwächt und angewidert fühleu, als nach Ausübung des Actus in ihrem Nnne körperlich erfrischt und geistig gekräftigt (s. o.); nach eigenem Ge- ständniss werden Manche erst durch diese Erfahrung auf ihre specifische Be- dürfnissnatur aufmerksam. Bei den originären Fällen wird keine äussere Anomalie der Genitalien beobachtet (ab und zu Kryptorchismus}, mir functionell eine abnorme Reizbarkeit (tagelange Erectionen und präcipirte Pollutionen). Die conträre Sexualempfindung ist allermeist angebo- ren, und stellt als solche ein psychopathisches Symptom neben den andern der hereditären Neurose dar; nicht selten ist sie mit ausge- sprochenen sonstigen Degenerescenzzeichen verbunden. Der abnorme Trieb regt sich dann gewöhnlich mit der Pubertätsentwicklung, nachdem Jahre zuvor schon heftige Masturbation, oder ein Hang nach körperlicher An- drängung au Altersgenossen (Küssen von Schulkameraden, Sehnsucht die- selben nackt, oder auch nur deren Genitalien zu erspähen) vorangegan- gen war. Dieselbe kommt aber auch als erworbenes Symptom im Gefolge von constitutionellen Psychopathieen vor, worunter hysterische und originäre Verrücktheit, und das epileptische Irresein (s. d.) voran- stehen. Hier ist sie theils bleibend, theils temporär (Menses). In einem dieser erworbenen Fälle, wo der Kranke (junger Mann) in vollständige Nachahmung der Frauentracht (Haarscheitelung, künstlicher Busen) ver- fallen war, fand ich p. m. Atrophie der Hoden; jahrelange Onanie war vorausgegangen.

Die Thatsache des Vorkommens der beschriebenen Geschlechtsauo- malie, als des oft markantesten Zeichens einer anomalen resp. defecten nervös-geistigen Anlage, ist namentlich auch in forenser Beziehung von höchster Bedeutung. Ohne damit entfernt die ekeln Verirrungen eines abgelebten Cynismus exculpiren zu wollen, ist es nicht minder Pliicht die wirklichen Träger der conträren Sexualemplindung, dem heutigen Gesetze gegenüber, unter anthropologischen Schutz zu stellen. Die Be- sch ai«, GeisU.kr.mkheiten. 3. Aud. 2<J

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Das hereditäre Irresein.

mühungen v. Krafft-Ebing's in dieser Richtung, speciell nm eine, unserer wissenschaftlichen Erkenntniss gebührend Rechnung tragende, Aenderung des § 175 des deutschen Reichsstrafgesetzes verdienen alle Berücksichtigung (s. Jahrb. f. Psych. 18S5. VI. Bd.).

Therapie.

Die Behandlung hat kein Specificnm aufzuweisen, wodurch wir den Zwangsvorstellungen, diesem partiellen „Krampf" im Seelenleben, entgegenwirken könnten. Dieselbe kann deshalb nur eine sympto- matische und indirecte sein: es gilt vor Allem die neurasthenische Grundlage nach den hierfür geltenden Indicationen zu bekämpfen, unter genauester Individualisirung. Dabei muss Grundsatz der Behandlung bleiben: alle und jede, selbst die kleinste, körperliche und nervöse Anomalie (gastrische Zustände, sexuelle Anomalieen, Pollutionen, Neur- algieen, anämische Constitution, Fluxionszustände) zu beachten; nicht selten gelingt es auf diese Weise doch endlich den Zugang zur Kräfti- gung des Hirnlebens zu finden. Bei Frauen ist namentlich die Beseiti- gung etwaiger Uterinleiden oft von sichtlich bestem Erfolge. Der zweite, nicht minder wichtige, Factor ist der psychische. Hier gilt es vor Allem dem Kranken Muth und Selbstvertrauen zu gewinnen. Eine Beruhigung kann ihm schon durch die Versicherung werden, dass allermeist die Anfälle des peinlichen Leidens, auch der Maladie du doute und du toucher, paroxysmenweise verlaufen, und von der Natur selbst durch oft jahrelange Ruhepausen unterbrochen werden. Mit der directen (logischen) Bekämpfung dieser perversen Gedanken- krämpfe, dieses „Vorstellungsschwindels", sei man vorsichtig, wenn man nicht vor der Dialektik des Kranken erliegen will. Man weiche auch der kitzelnden Neigung des Patienten nach Aussprache und seiner Beweiswutb, so gut es geht, aus, und zwar mit der summa- rischen Versicherung, dass es wieder besser mit ihm werde. Viele Kranke nehmen den Rath, dass sie sich vor den Gedankenkreiseln nicht fürchten, dass sie dieselben über sich ergehen lassen sollten, des sichern endlichen Sieges eingedenk dankbar und mit Nutzeu entgegen. Kann man sie zu einer ablenkenden, sie interessirendeu Arbeit gewinnen, dann ist viel gewonnen. Oft unterstützt Morphium oder Opium, Brom, Chinin, Zincum valerian. das Curregimen we- sentlich; man kann die betr. Mittel je nach Umständen fortgesetzt (methodisch) reichen, oder ad hoc in den Krisen, und dann in ver- stärkter Gabe. Gegen Schlaflosigkeit Paraldehyd. Auch milde hydro- pathische Proceduren wirken nach körperlicher wie nach geistiger

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Die hereditäre Neurose. Klinische Charakteristik.

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Seite tonisirend; ebenso Reisen in verständiger Begleitung (Gebirgs- aufentbalt, Seeluft).

Der Querulantenwahn (s. u.) erfordert immer die Anstaltsbe- handlung, und zwar werde mit der Aufnahme hier am wenigsten gezögerti

B. Die hereditäre Neurose nach Entwicklang und Verlauf.

Anhang: Die transitorischen Seelenstörungen.

Die klinische Charakteristik des hereditären Temperaments ist: cerebral eine gesteigerte psychische Erregbarkeit, mit Vorherrschen der Phantasie und Neigung zu Delirien; spinal eine erhöhte Reiz- fähigkeit unter der Form von vermehrter Empfindlichkeit, abnormer Irradiation cerebraler Impulse und längerer Resonanz der mitge- teilten Erregung; sensoriell eine Disposition zur Hyperästhesie, mit Steigerung bis zur Hallucination; vasomotorisch eine anomal lebhafte Mitbetheiligung bei psychischen Erregungen (Affecten) und bei körperlichen (Intoleranz gegen Spirituosa). Auf dieser Grund- lage baut sich ein psychischer Habitus auf, mit demselben Grundzug einer gesteigerten Erregbarkeit mit Schwäche: emotiv als krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit mit Sympathieen und Antipathieen, und einem zwischen excessiver Sentimentalität und Stumpfheit umspringenden, vorwiegend nervös motivirten Stimmungs- wechsel; intellectuell als Disharmonie der einzelnen Energieen mit grosser Neigung zu Zwangsvorstellungen; psychomotorisch als gesteigerte Energie neben Willensschwäche, als verpuffender En- thusiasmus bei fehlender Ausdauer, oder jäher Umschlag in collaps- ähnliche Ermattung; als Signatur der ganzen Persönlichkeit: eine defecte oder unharmonische, widerspruchsvolle Charakteranlage und Ausbildung.

Alle diese Existenzen sind ab ovo krank d. h. eigens, anomal, ge- artet. Wie ihre geistig- körperliche Entwicklung eine mangelhafte resp. ungleiche ist, so auch der Abschluss, entweder in Form eines frühzeitigen geistigen Todes (Dementia praecox), oder durch Uebergang in dauernde geistige Störung mit eigenartigen Nuancirungen des klinischen Bildes, und einem besondern Verlaufscharakter.

Krankheitsbild und Verlauf. Schon die Kindheit dieser Hereditarier zeigt die soeben voraus- geschickten Charakterzllge. Es sind wehleidige, reizbare und zorn- miithige Kinder, oft bis zu convulsivem Gebahren, grillenhaft, lau- nisch, manche schon mit einem frühen Hang zur Einsamkeit und zu

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Das hereditäre Irresein.

phantastischen Träumereien. Selten sind sie echt heiter, höchstens zeitweilig unbändig ausgelassen; es ist, als ob der Schatten künftiger schwerer Tage schon auf ihnen lastete. Manche beunruhigen durch stete körperliche Kränklichkeit; während der Dentition erschrecken sie durch Convulsioncn, bei der leichtesten fieberhaften Erkrankung durch Neigung zu Delirien. Von dem beseligenden Kinderglück, von dem Frohsinn im Schoossc des Vaters, am Herzen der Mutter, tritt Weniges zu Tage; manche äussern Indifferenz, ja Kälte gegen Eltern und Geschwister. Hin und wieder überrascht, verfrüht, eine intellectuellc Entfaltung, welche den Kinderjahren weit vorauseilt; der fehlende „kindliche" Typus wird durch diese Altklugheit noch viel schärfer fühlbar. Andere aber sind gegentheils tarda ingenia, und bilden die undankbare Mühe des Lehrers. Sie lernen schwer, sind in ihren Aufgaben unendlich pedantisch, und werden rathlos und unfähig, sowie man sie in ihrem einmal angenommenen, pein- lich gewissenhaften Arbeitsgange stört. Immer mehr tritt eine Un- gleichheit in der Anlage zu Tage neben einseitiger Begabung für Sprachen eine auffällige Bornirtheit für andere Fächer, besonders Mathematik, oder auch für Naturgeschichte (defecte Anschauungs- fähigkeit) — im Lernen eine unverbesserliche Zerstreutheit, ein Schwanken zwischen Fleiss und Faulheit, welches seinen tiefem Grund in einer nur periodischen Leistungskraft, abwechselnd mit nervöser Erschlaffung, aufzeigt. Aber selbst die fleissigern Perioden werden selten durch einen wirklichen Gewinn belohnt; der noch so vielseitigen Bildung fehlt allermeist die Harmonie, und seitens des Ich's der Ueberblick. Dem Detail des Wissens mangelt das tiefere geistige Band. Neben leichtem und raschem Lernen steht oft ein promptes Vergessen. Schon in frühen Jahren zeigen sich unver- standene Regungen des Geschlechtstriebs, sehr häufig in Form spon- taner wollüstiger Empfindungen, oder eines angenehmen Kitzels beim Anblick von körperlichen Züchtigungen („Beriechen" der Schulruthe mit nachfolgenden Erectionen, bei Kindern von 9 Jahren). Auch andere Zwangsgedankeu, namentlich schauerlichen Inhalts, oder quä- lende Schuldbeziehungen zu irgend einem ernsten Familienereigniss, selbst Suicidiumgedanken (wirkliche Tentamina!) können Platz grei- fen. Frühzeitige Masturbation. Schon jetzt können Episoden wirk- lichen Irreseins (gewöhnlich in Form von depressiven Zwangsge- danken) sich anmelden. In andern Fällen bleibt Ruhe bis zur Pubertätszeit. Au dieser ersten Klippe stranden nicht Wenige dieser Hereditarier: ein Theil wandert zu den Hebephrenen (s. d.); ein anderer iu Dementia acuta (praecox).

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Die hereditäre Neurose. Weiterentwickig. Dementia acuta praecox. 453

Sie erlahmen in dem Interesse für ihren Beruf, kündigen ohne Motiv ihre Stellung, verlegen sich auf professionelles Nichtsthun, auf tagelanges Herumlungern und Cigarrenrauchen , werden unendlich zerstreut, nach- lassig, eigenwillig, fallen durch ein unbegründetes Lachen unangenehm auf. Privatim treiben sie sich in den heterogensten Studiengebieten herum, lesen kaum den Knabenschuhen entwachsen Bücher über Geburts- hilfe und Seelenstörungen, Uber Strafgesetz und Politik, namentlich aber auch philosophische Schriften. Confus in ihrem Urtheil, sind sie gleich- wohl mit Allem fertig, zuversichtlich bis zur Rücksichtslosigkeit, selbst- gefällig, Alles belächelnd. Ein alberner Selbstcultus, durch einen in- stinctiven Grössenwahn getragen, beginnt sich breit zu machen. In ihrem Auftreten werden sie herrisch, in ihrem Aeussern hoffärtig zugestutzt. Die Pietätsbegriffe schwinden; eine dünkelhafte Rechthaberei mit grosser Heftig- keit bei Widerspruch oft aber auch unmotivirt, in periodischen Stei- gerungen — greift Platz. Scenen von Gewalttätigkeit kommen. Un- vermerkt blitzen barocke Grössen- und Verfolgungsideen auf, anfangs zu- sammengestückelt, allmählich aber in systematischem Ausbau zum vollen Wahnsinn sich abrundend. Die wirkliche geistige Leistungsfähigkeit schrumpft oft in Jahresfrist zum bescheidensten Können zusammen ; einst hoffnungsvolle strebsame Jünglinge vermögen jetzt kaum mehr einem me- chanischen Abschreiber-Dienst zu genügen.

Wieder Andere wandern in Besserungsanstalten oder in Irren- asyle, nachdem irgend ein impulsiver Act (Brandstiftung) sie mit dem Gesetz entzweit, und zugleich zur richtigen Erkenntniss ihres Seelenzustandes geführt hatte. Bei Vielen geht mit der Pubertät das hereditäre Temperament in das ausgesprochen hysterische oder hypochondrisch- melancholische Uber, und bringt in dieser Metamor- phose die originäre Anlage zur Reife. Es gibt derartige sensible Unterleibsvirtuosen, welche, kaum den Knabenjahren entwachsen, alle Aerzte consultiren, jeden Sommer ein neues Bad besuchen und nie gesund sind. Bei der schwersten Form hereditärer Mitgift, der ethisch degenerativen, enthüllt gerade die Pubertätszeit die „instinc- tive Bösewichts"-Natur (s. Moral Insanity).

Nicht Wenige der Disponirten vermögen diese erste Klippe zu umschiffen. Dafür kommen jetzt weitere und nicht minder gefähr- liche. Der Kampf ums Dasein rückt an, und lichtet die Reihen dieser psychischen Schwächlinge. Wo sie es im Leben und im Be- rufe versuchen, straucheln sie. Nirgends dauern sie aus, überall finden sie Mängel, oder werden selbst in ihrer Uubrauchbarkeit er- probt. Unzufrieden und misstrauisch Uber den ewigen Misserfolg, nehmen nicht Wenige das Gefühl der Beeinträchtigung oder des er- littenen Unrechts aus ihren Niederlagen mit, und stellen sich damit selbst auf den Weg in den Verfolgungswahusinn (s. u.). Andere (Masturbanten) gerathen in erotische Verrücktheit. Ein weiterer Theil

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Das hereditäre Irresein.

entwickelt sich, des verunglückten Treibens müde, zu Bummlern und Vagabunden, bis sie nach jahrelangen Kreuz- und Querztlgen und zahllosen Abstrafungen sich endlich dem Irrenhause für dauernd zuwenden. Noch Andere werden Sonderlinge und Misanthropen, darunter Manche in barmloser Art, indem sie in der Stille ihren Uebergang in originäre Verrücktheit mit irgend einer Grössenwahns- schrulle durchmachen, und damit psychisch abschliessen. Nicht We- nige aber fallen dabei einem zunehmend verbitterten Verfolgungs- wahnsinn anheim, ziehen sich menschenscheu zurück, fuhren das unsinnigste Leben der Entbehrung, wechseln jahrelang kein Hemd, drohen in Schmutz und Unrath zu verkommen bis auch sie end- lich in die rettende Hand des Asyls gelangen. Hier leben sie nicht selten wieder auf; die sittliche Verkommenheit, neben welcher manch- mal noch eine Uberraschende Verstandesschärfe haushält, vermag sich unter der Corrective der Hausordnung wieder leidlich zu er- holen; aber selten nachhaltig und meist nur äusserlich. Sie bleiben im Grunde moralische Lumpe, verknöchern dabei zu Egoisten, theils nach dem Typus der Hypochonder, theils als Zwangsvorstellungs- Candidaten mit Berührungsfurcht (s. d.).

Der grössern Zahl aber vermag auch die Anstalt nicht mehr ihre helfende Hand zu bieten: sie sinken unaufhaltsam in immer grössere psychische Schwäche, vor Allem des Willens und des Gemüthslebens, nach und nach aber auch der intellectuellen Functionen herab. Abge- schlossen für sich, jede Gesellschaft meidend, unfähig sich der Umgebung anzupassen, unschlüssig in ihrem Thun, stetig eines Anstosses von aussen bedürfend, nur noch in ihrem Gedächtniss und in den erworbenen Urtheilen leidlich frei , steril für jede Erweiterung ihres Wissens, dabei zeitweilig von Sinnestäuschungen oder Anwandlungen von Grössen- oder Verfolgungs- wahn aufgerüttelt gehen sie sachte in den geistigen und sittlichen Schlaf ein, welcher sich auch äusserlich in ihrer gebrochenen Haltung und ihrem vornübergebückten Gang traurig verkörpert.

Wieder Andere machen im Rahmen ihrer individuellen Erkrankung das ganze Compendium der psychischen Habitnalformen durch ; aber sehr oft in ganz unklarer klinischer Ausprägung und in mannigfach- ster Combinirung, so dass der Krankheitsfall in allen Formen und Farben schillert.

Spielt sich das erbliche Irresein mehr in dem engern Rahmen der melancholischen oder manischen Habitualform ab, so vermisst auch hier eine schärfere Beobachtung gewisse auszeichnende klinische Züge nicht. So ist die gpeeifisch hereditäre Melancholie charakterisirt durch die häu- fige Disproportion zwischen dem melancholischen Affect und melancho- lischen Gebahren: während beim rüstigen Gehirn die beiden genannten Momente in einem adäquaten Reflexverhältniss stehen, ist beim Heredi- tarier das emotive Element oft schwach gegenüber dem triebartigen Selbst-

Die hereditäre Neurose. Klinische Charaktere der „hereditären" Psychosen. 455

morddrang. Die specifische hereditäre Manie trägt in gleicher Weise nicht selten ein primäres Schwachsinns-Element in sich: die geistige Stö- rung spielt sich bis zu einem gewissen Grade losgebunden von der Persönlichkeit des Kranken ab, und zeigt auch bei verhältniss- mässig ruhigem Ablauf einen sehr ungeordneten Mechanismus der psychischen Elemente. Ferner: steigert sie sich auasergewöhnlich rasch zur Mania gravis resp. zum immer mehr reÖectorischen Charakter der manischen Bewegungen (gegenüber den coordinirten), und intellectuell zur Verworrenheit gegenüber der einfachen manischen Ideenflucht. Sehr oft mischen sich auch melancholische und manische Züge, namentlich wenn sie sich vorwiegend im Bereich des Gefühlslebens abwickeln, in einer so bunten, abrupt Uberspringenden Weise, dass nie eine bestimmtere Ab- rundung des Krankheitsbildes zu Stande kommt. Dazu kommt ferner für die hereditäre Melancholie und Manie der sehr leichte Uebergang in delirante Phasen (grosse Neigung zu Hallucinationen ; in der Melan- cholie oft transitorische Episoden von ganz abruptem Grössen Wahnsinn), und die bei einigermaassen protrahirterem Verlauf stets sich ein- schwärzenden Züge von Verrücktheit. Sehr selten sind die klinischen Bilder rein (s.u.). Auszeichnend ist endlich noch: das relativ früh- zeitige Auftreten der genannten psychischen Krankheitszustände und die sehr oft gehäufte Combination (zwei und mehrere manische Paroxys- men innerhalb desselben Anfalls), manchmal in periodischer Wieder- kehr, mit successiver Verflachung der CurvenhÖhe gegen die Genesung hin ohne oder auf nur leiseste äussere Veranlassungen.

Es muss hier, recapitulirend, der allgemeinen klinischen Physiognomik des hereditären Irreseins, gegenüber den Psychosen des rüstigen Gehirns, gedacht werden. Diese Charakteristika sind: Polymorphismus des klini- schen Verlaufs, jäher Anstieg und Abfall des Paroxysmus sowohl im Ganzen (unvermittelt rasche Entstehung und brüskes Aufhören), als auch ebenso jäher Uebergang der einzelnen Zustandsphasen innerhalb des An- falls; speciell für Melancholie und Manie (ausser den oben angeführten klinischen Charakteren) oft unvollständige oder nur fragmentare Ausbil- dung der Einzelphase mit besonderer Entwicklung des „impulsiven" Ele- ments, neben auffälliger, wenn auch nur relativer, Geschontheit des In- tellects; progressiver Uebergang in geistige Schwäche. Grosse Neigung zu Recidiven, oder ausgesprochen periodischer Verlaufscharakter (dauernd oder vorübergehend).

Für männliche Hereditarier dieser Jahre bis zum Beginn des dritten Jahrzehnts ist die Thatsache nachzutragen, dass Manche bis zu diesem Termin wohl ihre physische, nicht aber ihre charaktero- logische Reife erreicht haben. Sie machen die durchgreifende Aende- rung des Gefühlslebens in dieser „Mauserungszeit" nicht durch, und lernen deshalb auch das erwachende Kraft- und Selbstgefühl des Mannes nie kennen. Sie werden nicht Weib, aber auch nicht Mann, und behalten immer eine an das Feminine anstreifende Aengstlich- keit und Skrupulositat bei. Sie haben Sinn und Gefühl für das „Ewig- Weibliche", aber kein geschlechtliches Interesse. Sehr geneigt

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Das hereditäre Irresein.

zu Zwangsgedanken, welche sie nicht selten von Kindheit auf ken- nen, wandeln sie in der Regel von einem melancholischen Anfall mit Lebensüberdruss in den andern; jeder brüske Affect wirft sie nieder; intellectuell können sie ihre Anlagen nicht ausbilden und verwerthen, da auf jede Anstrengung eine neurasthenische Krise folgt.

Die Jahre des Lebenszeniths sind für den Hereditarier nur in soweit mehr gefährlich, als bei seiner geistigen Widerstandsschwäche alle Ansprüche des Daseinskampfes tiefer einschneiden. Bei be- lasteten Frauen ist speciell das Puerperium eine schwere Klippe (Melancholie, acuter Wahnsinn, Delir. acut.); bei disponirten Män- nern droht um diese Zeit der chronische cerebrale Erschöpfungs- zustand der allgemeinen Paralyse: manchmal nach den convulsivi- schen Zuckungen eines exccntrischen Lebens, welches durch unzählige Compromittirungen, durch sociale und politische Charakterlosigkeit sich erst bankerott gemacht hatte; in nicht seltenen Fällen aber ohne brüske Schädlichkeiten, sondern vielmehr als directe Weiter- entwicklung, als das Senium praecox, der originär defecten Anlage. Besonders häufig aber kommt auch auf dieser Altersstufe der chro- nische Wahnsinn zum Ausbruch.

Unpraktisch und ohne Berechnung in ihrem geistigen wie im öko- nomischen Haushalt, unklar in ihrem Willensdrang, welcher ihre oft guten Kräfte und edeln Bestrebungen in ein unerspriessliches Vielerlei zer- splittert, ohne Schwerpunkt in ihren Neigungen, dabei von gesteigertem Selbstgefühl ist der Zusammcnstoss mit der unerbittlichen Wirklich- keit, mit dem Ernste des Lebens, für Viele unvermeidlich. Sie empfin- den, Gefühlsmenschen, wie sie sind, mit sentimentalen und phantastischen Träumereien die harte Anfassung der Wirklichkeit als eine „Verletzung", deren Ursache sie in äusserer Verfolgung suchen und auch finden (s. o.). Dies kann Schritt für Schritt, aber auch in Einem Anfalle sich vollziehen. Die klinische Form kann ein einfacher Vcrfolguugswahnsinu sein, oder auch ein mit Exaltationsideen gemischter (s. orig. Verrücktheit), mit oft raschem Zerfall in verwirrte Dementia.

In andern Fällen meldet sich wiederum die Maladie du doute an; auch der Querulantenwahnsinn. Noch grösser ist die Zahl der periodischen und circulären Psychosen als Weiterbildung der here- ditären Neurose in diesem Lebensjahrzehnt.

Endlich bilden Climacterium und Senium die letzten und mit die günstigsten Etappen für die Entwicklung (resp. Abschluss) der hereditären Neurose. Die Involutionsphasen des Gehirns werden Evolution.sepochen für den anomalen geistigen Keim. Wiederum ist es die Maladie du doute, welche jetzt in den Vordergrund tritt; oder die hereditäre Psychose insceuirt sich als hypochondrischer Maras- mus, oder als impulsive Melancholie; in mächtiger Zahl auch als

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Die hereditäre Neurose. Ausgänge.

Transitorische Psychosen.

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chronisch depressiver oder exaltirter Wahnsinn. In einer letzten Gruppe endlich findet das durch Erblichkeit invalide Gehirnleben seinen Schlusspunkt durch frühzeitige Cerebropathieen (Apoplexieen

U. 8. W.).

An die Betrachtung der Entwicklung und des Verlaufs der heredi- tären Neurose muss eine klinisch wichtige Bemerkung angeschlossen wer- den. Wenn die daraus entstehenden Psychosen theils durch die Eigenart ihrer Symptome , theils durch den Verlauf eine besondere Gruppe dar- stellen, so finden sich thatsächlich dieselben auszeichnenden Charaktere auch bei einer Reihe von sog. constitutionellen Psychosen resp. psychi- schen Hirnleiden, welche nicht angeboren, sondern erworben sind (durch sexuelle Excesse, tief schädigende Blutanomalieen, schwere Anämieen, vorausgegangenen Typhus, Alkoholismus, Kopfverletzungen). Hier kann im Einzelfalle nur die Anamnese, welche bei der hereditären Gruppe die zurückreichenden Belastungszeichen nachweist, die differentielle Diagnose abgeben.

Als Anhang möchte ich hier die transitorischen Seelen- störungen anreihen.

Mania t r ansltoria.

Literatur, v. Krafft-Ebing, Mania transitoria. Monogr. 18G5. Der- selbe, transitorische Störungen des bclbstbcwusstseins 1 SÖS. Derselbe, Irren- freund 1S71. Schwartzcr, transitorische Tobsucht. Monogr. 1S75 Pick, Prager med. Wochenschr. 1S79 Nctolitzki, Ibid. Mendel, 1. c. Tamassia, Riv. sper. 1 SSO. Kicruan, Journ. of meut. sc. 1 SSO. Reich, Berl. klin. Wochenschr. 1 ss I . Transitorische neurasthenische Psychosen: v. Krafft-Ebing, Irreuireuud 18S3. Engclhoru, Erlenmeyer» Centralbl. 1SS1.

Dieselben entstehen zwar nicht immer auf hereditärer Grund- lage, aber doch sehr häufig, und zeigen was für den Anschluss au dieser Stelle entscheidender in ihrer klinischen Gestaltung einige der Wesenseharaktere des erblichen Irreseins, so namentlich das Brüske der Entstehung und des Abschlusses. Diese wichtige Verlaufseigenthümlichkeit hat sich bei der Gruppe der transitorischen Psychosen so prägnant ausgebildet, dass der Ausbruch der Krank- heit nicht nur ein rascher, sondern ein urplötzlicher ist, und ohne eigentliche Vorläufer, auch ohne Entwicklung, direct mit der Acme einsetzt: bei der transitorischen Manie, dem Typus dieser Gruppe, steht der Kranke im Moment des Ausbruchs sofort auch auf der Höhe tobsüchtiger Verwirrung und motorischer Explosion. Ebenso scharf wird für die meisten dieser Fälle der Abschluss durch einen tiefen Schlaf bezeichnet, mit nachfolgender Amnesie, und so- fortigem Uebertritt in Wohlsein oder in einen kurzen Status nervosus mit rascher Erholung.

Bei den Fällen von nicht- hereditärem Ursprung findet sich eine aus8ergewöhnliclie Erschöpf barkeit des Gef ässnerven - Systems, mit Nei-

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458 Das hereditäre Irresein.

gung zu Kopffluxionen, verzeichnet. Diese vasomotorische Schwäche hält sich manchmal lange verborgen, bis relativ geringfügige Gelegenheits- ursachcn (Stubenhitze, mässiger Potus, Affect-Chok) sie zur Wirksamkeit bringen, und mit dem plötzlichen Rash zum Kopfe auch sofort die volle transitorische Psychose in Scene setzen. Gerade die typischen Fälle der sog. transitorischen Manie gehören den nicht-hereditären an, und betrafen bis dahin „gesunde", wenigstens nervös nicht grob auffällige Individuen, mit theilweise (bis dahin) latent gebliebener Congestiv-Anlage. Bemer- kenswerth ist, dass Männer eine ungleich grössere Disposition zu dieser besondern Erkrankungsform haben, als Frauen, und in auffälliger Häufig- keit junge Soldaten.

Klinisch-symptomatologisch lassen sich transitorische Fälle von Manie (Furor), acutem delirantem Wahnsinn, und von hallucinatori- schem Stupor unterscheiden. Auch stupuröse Dämmerzustände mit und ohne exaltirten Wahn sind beobachtet (s. u.). Die wichtigsten Formen sind die beiden ersten, und darunter wiederum die tran- sitorischen Manieen.

Unter diesen versteht man kurz dauernde Anfälle von peracu- tem Furor ; mit wuth- oder zornartigen motorischen Explosionen, von triebartigem, reflectorisch-zwangsmässigem, oft convulsivem Form- charakter in den Bewegungen; mit begleitenden Kopffluxionen und tiefster Bewusstseinsstörung, feindlicher Verkennung der Umgebung oder auch gänzlicher Perceptionslosigkeit; mit einem jähen Abschluss durch einen kritischen Schlaf, und nachfolgender vollständiger Am- nesie an den Anfall selbst.

Der letztere bricht peracut aus, gewöhnlich nach kurz dauern- den Vorzeichen. Als solche erscheinen: vager Kopfschmerz, Wallungs- zuständc zum Kopfe, sensorielle Hyperästhesie; oder ein stilles, schweigsames, benommenes Wesen. Hin und wieder sinkt der Kranke unter Starrwerden der Augen bewusstlos zusammen, und steht, wie- der zu sich gekommen, sofort in der vollen Höhe des Paroxysmus. Andere Male bricht dieser, ohne vorausgegangene Syncope, mitten aus einem bis dahin unauffälligen Verhalten des Kranken (aus einem erst ruhigen, ahnungslosen Schlafe) aus. Mit Einem Schlage steht der Kranke erwacht er in einem Zustande voller U nbes inn- lich keit; er rollt die Augen, vociferirt, schreit, singt, predigt Dabei ist die ganze Muskulatur in drohender Spannung. Entweder von selbst in rapider Entwicklung, oder durch eine harmlose Anrede, oder auch durch ein Wort des Vorwurfs geweckt, bricht der moto- rische Sturm los: bald in ungeordneten, convulsiven Bewegungen, in Heulen, Brüllen und Zähneknirschen, Zerreissen der Kleider, schüttelnden und stossenden Gesticulationen; bald aber in einer

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Mania transitoria. Typisches Bild.

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blinden Zornwuth, welche unter übermässiger Muskelleistang maass- und ziellos sich austobt, Alles vernichtet, was in den Weg kommt, fllr ihren entfesselten Drang keine Schranke findet, und nur durch grosse Uebermacht gebändigt werden kann. Dazwischen kann manch- mal vorübergehend eine leise Pause sich einschieben: der Kranke wird etwas gelassener, fasst unklar einiges Nächstliegende auf ; plötz- lich aber fällt er wieder in das ungestüme Toben zurück, während der Kopf anhaltend stark geröthet, der Puls voll und frequent, die Herzbewegung stürmisch bleibt, und der Körper mit reichlichem Schweisse bedeckt wird. Nach kurzer Dauer (2 Stunden bis 1—2 Tage) stellt sich Erschlaffung ein, unter Zurücktreten der vasomoto- rischen Erscheinungen ; es erfolgt ein mehrstündiger, bald natürlicher, bald aber auch todähnlicher Schlaf, aus welchem der Kranke lucid, und ohne jede, oder höchstens ganz dämmerhafte Erinnerung an das Vorgefallene erwacht. In der Regel verwundert er sich jetzt über seinen veränderten Aufenthalt (Spital), und weiss in seinem Gedächt- uiss nur noch an einige Vorläufersymptome (Kopfweh u. s. w.) an- zuknüpfen. Damit ist der Anfall vorüber, und kehrt in vielen Fällen nicht wieder. Die Genesung bleibt auch für die Folge dauernd erhalten.

Dies das typische Bild des als Mania transitoria zusam- mengefassten Zeichencomplexes.

Dabei kommen eine Reihe von klinischen Varietäten vor: a) bezüg- lich des Krankheitsbeginn 8. Nicht selten knüpft dieser an einen tiefern Gemütbsaflect, an einen verschluckten Gram oder Aerger und eine dadurch bewirkte leise Depression an, welche sich aber nicht in eine schmerzliche Verstimmung reflectirt, sondern nur in ein gemüthlich reiz- bareres, zerstreutes Wesen. Bemerkenswerther Weise bricht auch der Anfall nicht in Folge des fortgesetzten NachgrUbelns, gleichsam als An- sturm der absichtlich gerufenen Geister hervor, sondern gegentheils un- erwartet, selbst vom Kranken ungeahnt; manchmal nach einem heitern, gemüthlichen Wein -Abend, ohne eigentlichen Trinkexcess. Die „ver- schluckten Thränen", der verschwiegen getragene Affect, hatten hier langsam die vasomotorische Aflection vorbereitet, welche, soweit gediehen, eines nur massigen Alkoliolreizes (manchmal selbst nur einer grössern Hitze und Dumpfheit der Stubenluft) bedarf, um die verhängnissvolle acute Kopfcongestion auszuwirken. b) bezüglich des Krankheits- verlaufs. Dieser besteht in der Regel nur aus einer sich überstür- zenden Reihe reflectorisch-triebartiger Acte, bei einer wachen Unbesinn- licbkeit resp. gänzlichen Bewusstlosigkeit; der Anfall hat nach motorischer und sensorieller Richtung einen ausgesprochen epileptoid-convulsiven Cha- rakter. Nun gibt es aber Fälle, in welchen episodisch (namentlich im Beginn der Wuth-Attake) von Seite des Bewusstseins noch ein leiser Schimmer mitgeht, so zwar, dass der Kranke seinen nach aussen gewor-

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Das hereditäre Irresein.

fenen Vernichtungstirang mit den Worten begleitet: „jetzt bring' ich Einen um"; oder: „Du musst hin sein". So furchtbar bedeutsam dieser Ruf für das nun folgende Zerstörungswerk auch sein mag, so ist er doch keineswegs nach seinem Inhalt vom Kranken klar erfasst; denn die Wuth- Handlung bleibt in gleicher Weise, wie bei der rein convulsiven Explosion in den typischen Fällen, eine ziel- und planlose, nur Reflex, ohne jedes Anzeichen ciues wirklichen Vorbedachts. Es ist, wie beim Goltz- schen „Quack"- Versuch, ein unbewusster Reflex auf das Sprach- Centrum, ausgehend von dem KraftgefUhl aus den plötzlich toniscb-innervirten Mus- keln und der blitzähnlichen Perception der durch diese Körperhaltung aufgedrungenen Drohungsgeberde, c) bezüglich des Ausgangs. Aus- nahmslos schliesst dieser mit einem kritischen Schlaf ab. Nicht immer ist aber damit auch die dauernde Genesung gesichert. Es erfolgen häufig Nachschübe der Furor-Anfälle, und zwar bald in kürzeren, bald in län- geren Pausen (remittirender transitorischer Furor). In der Zwischenzeit sind die Kranken amnestisch für die Zeit des Anfalls, aber geistig klar, wenn auch müde und erschöpft, dabei gewöhnlich mürrisch, Übellaunig, etwas scheu und verlegen. Es kann nun ein zweiter und ein dritter, ja wiederholter Paroxysmus folgen, wobei die Anfälle selbst (wenn auch in den Grundcharakteren der Kopffluxionen, der tiefen Bewusstseinsstörung, dem abschliessenden Schlafe und der Amnesie sich gleichbleibend) doch inhaltlich, und auch in der Intensität, bedeutende Unterschiede aufweisen können. So kann auf einen ersten Paroxysmus mit Schreien, Singen und wechselnden aber harmlosen Drohgeberden später ein mässiger Furor- An- fall mit Zerreissen der Kleider, Umsichschlagen, Beissen u. s. w. folgen, und darauf ein vernichtend heftiger mit der schwersten Gefährdung der Umgebung. Mit der Häufung der Anfälle ändert sich aber manchmal der Krankheits - Charakter auch nach Seite des Intervalls und des End- Ausgangs: so kann der Kranke nach mehreren Paroxysmen plötzlich in der Zwischenzeit moralisch perverse Züge auf Grundlage einer massigen psychischen Exaltation (Moria) aufweisen, welche erst mit einem folgen- den Anfalle wieder ausgetilgt werden, und aus dieser heraus ihren Ueber- gang in definitive Genesung finden. Einigcmale beobachtete ich auch eine längere Mania gravis im Anschluss an mehrere vorausgegangene transitorische Furor-Anfälle.

Nahe verwandt, und vielfach mit der Mania transitoria s. str. zusam- mengeworfen, sind die peracuten manischen Wahn sinnszustände. Klinisch stellen dieselben transitorische Dämonomanieen dar, mit zahl- reichen schreckhaften Sinnestäuschungen bei traumartigem Bewusstsein, und heftigsten Angstreactionen im motorischen Gebiete. Der Ausbruch der Krankheit ist ein ebenso jäher wie bei der eigentlichen Manie; ge- wöhnlich erfolgt er Nachts aus einem bis dahin guten Schlafe. Der Kranke fährt auf und befindet sich sofort in einer Traumwelt; alle hallucinatorischen Schrecknisse bedrängen ihn, „Teufel ringsum" und dagegen kämpft er verzweifelnd und bis zur eigenen oder fremden Ver- nichtung. So kommen hier neben den homiciden auch vielfache suicide Raptus vor. Kopffluxionen sind sehr oft zugegen, aber lange nicht so regelmässig, wie bei der manischen Form. Nicht selten ist sogar Ge- sichtsblässe, oder ein Wechsel zwischen dieser und Rash Zuständen vor-

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Mania transitoria. Klin. Variet. Peracuter manischer Wahns, u. Stupor. 461

lianden. Dagegen fehlt nie eine erhebliche Beschleunigung der Herz- tätigkeit, dem Höhepunkt des Angstaffectes entsprechend. Die Pupillen sind nicht selten stärker erweitert, manchmal nur einseitig. In einer sehr grossen Anzahl von Fällen finden sich intercostale Neuralgieen vor, deren Exacerbationen mit dem Ausbruch des transitorischen Wahnsinnsanfalles zusammentreffen , so zwar, dass die Annahme einer wirklichen „Reflex- Psychose", vom Locus dolens aus, sich aufdrängt (Raptus nenralgicus, s. d.). Manchmal ist eine vollständige Spinal-Irritation vorhanden, mit Schmerz- haftigkeit der verschiedensten Nerven-Druckpunkte und allgemeiner Haut- hyperästhesie und gesteigerter Reflexerregbarkeit (Ausbeisscn eines Stücks aus einem in den Mund gereichten Löflei). Die Qualität der stürmischen Abwehr- oder Angriffsbewegungen kann dabei in gewissem Grade eine instinetiv bemessene sein reactive Angst- oder Verzweiflungsgeberden in höchster Steigerung ; oder aber sie erreicht auf der Höhe des Anfalls auch nur wieder die Stufe des reflectorisch Zwangsmässigen, und die „Handlung" stellt, wie in der transitorischen Manie, nur eine ziellose Ent- ladung, richtiger „Entlastung" aus dem dunkeln Gefühl einer unermess- liehen Bedrängtheit dar. Hier schieben sich manchmal Phasen von rein convulsiven Bewegungen (Verdrehungen der Arme und des Kopfes, Gri- massirungen, schnellende Vor- und RUckwärtskrümmungen des Körpers, tetanische Streckungen, abwechselnd mit Flexoren- Krämpfen) dazwischen. Oft treten auch flüchtige Episoden von deliranter Verkennung der Um- gebung auf, mit Spucken, Lachen, neckischem Vcrsteckspielen im Bette, Kecitiren u. s. w. Der Anfall schliesst, wie bei der transitorischen Manie, mit einem kritischen tiefen Schlafe ab; aber nicht so typisch. Manchmal ist der Schlaf unruhig, unterbrochen, und der Kranke dennoch am Morgen lucider; oder aber der Nachlass, zugleich mit Aufhellung des Bewusst- seins, bereitet sich schon vor dem Schlafe vor, und letzterer bildet nur die Vollendung der begonnenen Krise. Auch darin besteht gegenüber den typisch-manischen Fällen eine Nuancirung, dass die Einzelerkrankung hier viel häufiger aus einer Serie von Anfällen zusammengesetzt ist, bis endlich die Genesung folgt. In den Intervallen bewahrt der Kranke, wie dort, vollständige Amnesie, zugleich aber auch, wenigstens einige Tage nach dem Anfall (oft aber auch durch Wochen) bei sonstiger Lucidität noch ein reizbares, eigensinniges, kindlich empfindsames, oder auch finsteres, weinerlich misstranisches Wesen. Wie auf die ge- häuften transitorischen Furor- Anfälle manchmal eine wirkliche Mania gravis folgt, so kann der peracute manische Wahnsinn zu einem nach- folgenden subacuten dämonomanen Verfolgungswahn die Einleitung bilden (jedoch seltener).

Einen peracuten transitorischen Stupor auf hallucinatori- scher Grundlage beobachtete ich einmal bei einem erblich belasteten, mittelmässig begabten, aber bis dahin gesunden jungen Mann in Inter- vallen von ca. S Tagen. Grössere körperliche Aufregung war voraus- gegangen. Nach einleitendem Kopfschmerz, Benommenheit und Präcor- dialdruck stellte sich unter starken Kopfcongestionen ein stupuröser Zu- stand ein, mit Perceptionsabschluss (nur bei heftigem Geräusch reflectorisches Zuck en, mit träumerischen fragmentareu Aeusserungen dämonomanen In- halts); dabei gelegentliche Zuckungen und Herumschleudern der Arme,

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Das hereditäre Irresein.

Schütteln des Kopfes, stierer schwärmerischer Blick, ruhiger Puls, nor- male oder aub normale Temperatur. Der Uebergang in das Intervall er- folgte nach 1 2 tagiger Dauer sehr rasch und vollständig; nachher Amnesie. In der Zwischenzeit war der Kranke lucid, arbeitsfähig; nur zeigte er gegenüber von früher mehrfach ein kindischeres zerstreuteres Benehmen, und redete oft albern. Die Paroxysmen wiederholten sich ca. 10 Wochen lang in immer längern Intervallen und ohne äussere Veran- lassung; dabei nahmen sie an Tiefe der Bewusstseinsstörnng succesive ab, und verliefen endlich von selbst in Genesung. Der Kranke blieb dauernd in jeder Hinsicht gesund. Von Epilepsie oder Hysterie war weder vor- noch nachher das mindeste Zeichen aufzufinden; auch schwä- chende Einflüsse waren nicht vorhergegangen. Dagegen war die Mutter des Kranken epileptisch gewesen und an Epilepsie verstorben.

Soll man die klinische Sonderstellung der besprochenen tran- sitori6chen Psychosen aufrecht erhalten? Ich möchte diese bis heute noch vielfach umstrittene Frage b e j a h e n d beantworten. Für die Exis- tenzberechtigung, speciell der „transitorischen Manie", liegen in den oben besprochenen Charakteren des ganz speciiischen Krankheitsbeginns (so- fortige Acme) und ebenso auch des Krankheitsabschlusses (kritischer Schlaf mit Amnesie und sonstiger Lucidität), neben dem peracuten Ver- lauf und den begleitenden vasomotorischen Kopferscheinungen, triftige Anhaltspunkte; durch diese sondert sich die besprochene Gruppe scharf von allen sonstigen Manieen ab. Nur die Manie der Epileptiker könnte in Concurrenz treten ; aber auch diese ist ja, den übrigen Manieen gegen- über, eine specifische, und ihrerseits wiederum th eil weise, ganz ent- scheidend durch das Intervall, von der transitorischen verschieden. Schwieriger dürfte die zweite der oben besprochenen Formen abzugrenzen sein, welche die fliessendsten Uebergänge einerseits zu den acuten Psy- chosen in fieberhaften Krankheiten (ganz besonders zu den psychischen Aequivalenten der Febris intermittens) und andrerseits zu den Insulten im hystero-epileptischen Irresein aufweist. Aber gerade in dieser grossen Gruppe nimmt sie durch ihre, mit der transitorischen Manie gemeinsamen Grundzüge (Beginn, Schluss) eine strengere Sonderstellung ein. Dies wenigstens vorläufig und aus praktischen Gründen; denn nosologisch das ist auch meine Ueberzeugung wird die jetzige Trennung nur ein Uebergang zur Wiedervereinigung sein, unter dem Gesichtspunkte, dass wir diese transitorischen Formen als bestimmte cerebrale Modifi- cationen der grundliegenden Allgemeinzustände (der hereditären, neur- asthenischen Neurose) werden begreifen lernen. Die nie fehlende vaso- motorische Kopfhyperämie bei der manischen Gruppe, die selir häufige Coincidenz mit Neuralgie en bei der zweiten, der reflexartige Formcharakter in den Bewegungen , die intercurrenten vasomotorischen Gefässkrämpfe neben jeweils prägnant hervortretenden neuralgischen Schmerzpunkten geben beachtenswerthe erste Fingerzeige für dieses spätere Verständniss einer Pathogenese ab. Aber vorerst ist die Tren- nung durchaus noch festzuhalten, weil diese wenigstens die sowohl kli- nisch als forens hochwichtige Thatsache ausdrückt: dass es peracute Seelenstörungen gibt, mit grösster klinischer Symptomenverwandtschaft zu epileptischen und hystero-epileptischen Zuständen, welche aber gleich-

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Acutes Irresein, mit Asthma alternirend. Transit, neurasthenische Psychosen. 463

wohl weder vor- noch nachher den mindesten Anhaltspunkt zur Annahme ei ner vorhandenen wirklichen Epilepsie oderHy- sterie abgeben.

In diese Gruppe der transitorischcn Seelenstörungen gehören, wenn auch den bisher besprochenen etwas ferner stehend, die mit Asthma abwechselnden acuten hallucinatorischen Irreseinszustände, auf welche in neuester Zeit wiederholt aufmerksam gemacht wurde. In einem hier beob- achteten Falle waren (bei einem Soldaten, früher schon engbrüstig und mehrfach bämoptoisch) erst asthmatische Symptome aufgetreten; darauf Wiederherstellung. Nach drei Tagen Beengung mit Schleirarasseln; wieder- um Besserung. Nach 14 Tagen Präcordialdruck, Kopfweh, Engigkeit ohne objectiv nachweisbaren Lungenbefund; dagegen jetzt sehr starker linksseitiger Intercostalschmerz. Iu der Nacht dämonomanischer Anfall mit Teufelsvisionen, Singen und Predigen, Nahrungsverweigerung, gestei- gerte Reflexerregbarkeit, kalte Hände und Füsse, einseitig erweiterte Pupillen, leises Vorsichhinsprechen, Perceptionsabschluss, Puls 64. Nach vier Tagen wieder bei sich: vollständige Amnesie. Jetzt vierwöchent- liche Pause bei geordnetem äusserem Verhalten; Patient ist müde, er- schöpft, wortkarg, weinerlich; ab und zu noch Engigkeit mit Rasselge- räuschen. Als diese vergehen, wiederum Paroxysmus in mässigem Grade. Patient bekommt, nachdem er einige Stunden zuvor stiller und gedrück- ter gewesen, und wieder enger geathmet hatte, plötzlich das Aussehen eines Wechselfieberkranken im Frostanfall: beschleunigte, erschwerte Re- spiration, seltener Puls, verstärkter Herzchok, mässige Cyanose, auffallend kühle Hautdecken, sehr lebhafter Intercostalschmerz. Nach wenigen Stunden Anfall vorüber. Vollständige Amnesie. Nun noch zeitweilige schwache Anfälle von Engigkeit. Genesung.

Krafft-Ebing hat unsere Kenntniss dieser transitorischen Irre- seinszustände noch durch mehrere wichtige Beobachtungen erweitert. Er fand bei Leuten, welche nach geistigen oder körperlichen Ueberanstren- gungen und gewöhnlich unter dem mitwirkenden Einfluss von Affecten cerebral-neurasthenisch geworden waren, plötzliche Ausbrüche von tran- 8itorischer Geistesstörung, und zwar unter dem Bilde von „stuporartigen Dämmerzuständen", theils mit „Angst", theils mit dem Wahne der „Stan- deserhöhung". Bei den letzteren Fällen waren sogar acute motorische Ataxieen vorhanden, welche auf den ersten Blick an beginnende Paralyse mahnen konnten , sich aber gleichfalls aus dem cerebralen Iuanitions- zustande ableiten Hessen. Trübung des Bewusstseins bis zur Bewußt- losigkeit, Erinnerungsdefecte, Ausfallserscheinungen in den sensorischen Functionsgebieten bis zur Aufhebung der Apperception, Verlust der Sprache und Bewegungsanschauungen , Angst, einige delirante Vorstellungen waren die psychischen Zeichen des klinischen Bildes. Theilweise war vorausgehend vasomotorischer Gefässkrampf nachweisbar. Die beobach- teten Fälle endeten nach L'mfluss mehrerer Tage (durch Lysis) in Ge- nesung und bleibende geistige Lucidität. Amnesie war in allen Fällen vorhanden. Ausser den vieldeutigen Anfällen von Äugst mit Schweias- ausbrucb und Syncope war auch hier ein bestimmtes Zeichen, welches auf Epilepsie hätte schliessen lassen, nicht auffindbar. Ich selbst beob- achtete bei einem erblich belasteten Recruten, nach heftiger Anstrengung

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464 Das hereditäre Irresein.

und einem acuten Gastricismus, einen peracut eintretenden Raptus suicidii mit nachfolgendem mehrwöchentlichem stupurösem Dämroerungszustand, ohne Angst und ohne Amnesie; allmähliche Reconvalescenz nach 14 Tagen.

Den Uebergang von den seither betrachteten transitorischen Psy- chosen zu den acut verlaufenden gewöhnlichen Irreseinsformen bilden gewisse acute Wahnsinnszustände, specicll aus der sensuellen Gruppe, welche raenstruale Entstehung und eine nur über die Katamenieu sich erstreckende Verlaufsdauer haben. Dieselben sind am angegebenen Orte besprochen, und linden hier bloss der Vollständigkeit wegen ihre An- fuhrung. Klinisch sind diese peracuten Psychosen vor Allem durch die fehlende resp. gradweise geringere Amnesie von der oben ab- gehandelten Gruppe der „transitorischen" abzutrennen. Zu letzteren dagegeu gehört wohl der interessante Fall von plötzlicher temporärer Amnesie (Aphasia amnestica) bei einem neurasthenischen Hereditarier nach einem heftigen GeroUthseindruck, mit raschem Uebergang in Genesung wovon Danilo (Merzejewsky Wjestnsk ISbl) erzählt.

Therapie.

Die Behandlung der hereditären Psychosen weicht in keinem wesentlichen Punkte von der der erworbenen Psychopath ieen ab; nur ist die ausserordentliche Labilität der psychisch -nervösen Con- stitution ganz besonders zu beachten; daher grosse Vorsicht in den geistigen Zumuthungen an die reconvalescenten Kranken, neben sorgsamster Abhaltung aller Reize, bis die Genesung genügend er- starkt ist.

Die Erziehung nervös belasteter Kinder ist mit besonderer Sorgfalt, namentlich in der Pubertätszeit, zu Uberwachen. Frühe Bekämpfung der nervösen Empfindlichkeit (kalte Waschungen), Be- vorzugung objectiver Wissensgebiete (Anschauungsunterricht), Aus- wahl der Lectüre, Schutz des jugendlichen Gehirns gegen Ueber- bürdung, Vermeidung des Tabaks, der Alcoholica, genügender Schlaf seien leitende Ilaupipunkte für den Pädagogen! Die Frage der Ve r he irathung erblich belasteter Personen ist eine sehr schwierige, und lässt sich nur individuell entscheiden. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass einfache hereditäre Prädisposition keinen Gegengruod abgibt; wohl aber muss eine nachweisliche hereditäre Degeneration (tiefe constitutionelle Neuropathie bis in die Kindheit zurückreichend, Periodicität, Zwangsgedankeu u. s. w.) die ernstesten Bedenken des Arztes rechtfertigen. Es wird Fälle geben, wo er pflichtgemäss ab- rät h, in minder schwer gravireuden wenigstens nicht zurät h.

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Killfaches hereditäres Irresein. Muladie du doute.

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C. Das einfache hereditäre Irreseln.

Irresein aus Zwangsvorstellungen (Maladie du doute et du toucher).

Eine Zwangsvorstellung an sich macht noch keine psychische Störung aus, so wenig als eine Hallucination. Nicht wenige Menschen sind durch solche heimgesucht, vermögen sie aber zu beherrschen, wenn auch nicht zu unterdrücken. Dies gilt namentlich von den ein- fachen Zwangsvorstellungen, auch von manchen harmlosen der verti- giuösen Form. Sowie aber eine depressive Gemtithsreaction (bei den stationären) oder eine ängstlich rathlose (bei der Grübelsuckt) hinzu- tritt, und, was in der Regel nicht ausbleibt, Zwangsacte oder Willens- hemmungen folgen, so ist der Beginn einer wirklichen Seelenstörung gegeben.

Acut und mehr nur transitorisch treten hier und da bei Neur- astbenikern gewisse barocke Zwangsvorstellungen ein, rütteln einen heftigen Schreck- oder Affectsturm auf, führen wohl auch zu einigen metaphysischen Zwangsreflexionen, tauchen aber nach einigen Stun- den oder Tagen wieder unter, um auf Jahre, selbst auf das ganze Leben hinaus sich nicht wieder zu zeigen. Nicht selten liegen diesen Krisen acute gastrische Verstimmungen (cessirende Hämorrhoidalblu- tung) zu Grunde.

In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die „Grübelsucht" von chronischem, wenn auch ausgesprochen remittirendem Charakter. Nach einem hypochondrisch - nervösen Vorstadium, manchmal aber auch ohne nachweisbare Einleitung, tritt plötzlich toto de coelo ein Zwangsgedanke ein, welchen der Kranke nicht mehr losbekommt. Manchmal liegt dieser im „Wurf", d. h. in der Directive der Auf- merksamkeit, welche eifrig nach einer ErgrUndung der (neurasthe- nischen) Unbehaglichkeit gesucht hatte und endlich zufällig irgend ein Wort hört, einen Namen liest, eine Beobachtung macht, welche zu passen scheint. Damit ist der „Zwang" fertig, und die Gemüth8ruhe dahin. Sofort verbindet sich eine wachsende Angst mit der neuen Entdeckung, und, um der Angst zu entfliehen, ein Drang zu neuem Grübelu. Die intellectuelle und gemUthliche Unruhe nimmt zu, dort als Zwang immer neue Fragen zu stellen und verificirende Antwort zu holen, hier als gesteigerte Rathlosigkeit.

Der Kranke weiss nicht mehr sich zu helfen: das ewige Fragen bringt ihm keine befriedigende Autwort; aber das Schweigen be- ruhigt ihn noch weniger; er kann es nicht halten. So fragt er denn wieder, immer besorgter, und endlich in klopfender Angst: dass er

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Das hereditäre Irresein.

am Ende ein Wort hören könnte, welches ihn nicht beruhigte, und, zähe festhaftend, seine Unruhe nur vermehrte. Er lechzt nach Trost; aber er muss fürchten nur neues Gift darin zu finden.

Mittlerweile ist schon Arzt um Arzt berathen worden, Bad um Bad frequentirt; und doch was helfen die Curen? Soll das Wasser kälter, oder nicht vielmehr wärmer angewandt werden? Wann soll gefrühstückt, waun und wie die körperliche Bewegung angewandt werden ? Ueberall nur Fragen und peinliche Skrupel ! Jede Bemer- kung aus dem Munde eines Dritten fordert neue Vergleiche heraus und bringt neues Schwanken; der Kreis der Augstgedanken erwei- tert sich. Wenn er der Kranke diese Erwägungen für sich zieht, und Andere nicht: ist er nicht Schuld, wenn diese sich dann Schädigungen durch ihre Unwissenheit holen? Zu den hypochon- drischen Gedanken treten jetzt auch melancholische, in Form von Vorwürfen und Selbstanklagen über Feigheit oder sträfliche Gleich- gültigkeit. Nun geht die Schraube weiter; an die Selbstquälereien des Tages und der Stunde reiht sich der gleich peinliche Rückblick auf die Vergangenheit: Uberall Unterlassungen und Pflichtwidrigkeit. Der Kranke wird immer verzweifelter; er kann bald auch an seine Geburt, an seine Eltern nicht mehr denken, ohne ihnen und sich zu fluchen. Kalter Schweiss Uberfällt ihn; es kommt zu Herzpal pitatio- nen und Ohnmachtsanwandlungen, nirgends ein Ausweg er muss sich den Tod geben.

So ziehen sich in unermesslichem Weh die Wochen dahin; der Kranke foltert sich in den conträrsten Anschauungen Uber einen Gegenstand; er wird in seinem Urtheil ganz abhängig von den äus- seren Eindrücken, und diese auferzwungene Aenderung seiner Ge- danken, diese peinlich gefühlte Abhängigkeit seines Gehirns von aussen bedrückt ihn, und macht ihn absolut rathlos und schwan- kend. Er kommt aus der Angst nicht mehr heraus. In den un- ruhigen Stunden leidet er Folterqualen, und in den ruhigeren ist er erschöpft und bangt vor den möglichen neuen Schrecken: in sich Verwirrung, ausser sich verwirrende Wahrnehmungen. Die aus deu Mienen und Worten der Umgebung gefühlte Bedrohung seiner müh- sam zusammengehaltenen Selbstdirective macht ihn immer menschen- scheuer und verbitterter. Zur Verzweiflung Uber sich kommt nun auch das vollendete Misstrauen gegen Andere.

Es folgen nun Tage von höchster Gereiztheit, in welchen die Mücke an der Wand ihn ärgert. Und wenn er nur in seinen „be- rechtigten" Klagen festzubleiben vermöchte! Aber kaum hat er seiner Beschwerde Luft gelassen, so beginnt sofort auch wieder das ängst-

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Einfaches hereditäres IrreseiD. Maladie du doute.

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liehe Schwanken, ob nicht seine Ansprüche zu gross und gar für die Anderen zum Nachtheil seien? und das Gefühl der „Berechtigung" ist wieder dahin. Von der Erbitterung Uber die Anderen wendet er sich zur Verachtung Uber sich selbst.

Aber noch ist die volle Höhe des Leidens, dessen innere Qual durch die täuschende Correctheit eines luciden Verstandes Uberdeckt ist, nicht erreicht. Unzählige Krisen sind über den Kranken mittler- weile hinweggegangen; aber sie sollen von nun an nicht bloss als Wirklichkeit, sondern auch als Schreckbilder der Phantasie wirken. Der Gedanke an den möglicherweise kommenden Zwangsgedanken wird zur Zwangsvorstellung zweiter Potenz. Die tausendfach ausge- standene Angst wird im Rück- und Vorausblick zur gedoppelten Zwangsempfindung: zur Angst vor der Angst! Sie Uberschleicht den Kranken in den ruhigsten Stunden, schreckt ihn mitten in der Con- versation, im Theater, beim Spiele auf; umsonst, dass er ihr ent- fliehen will. Die ideelle Angst lässt die wirkliche heraufziehen; der Kranke ermannt sich, will lieber still halten. Aber hat er denn jetzt recht gethan? Neuer Skrupel und Krise.

So ist es auch mit den Zwangsgedanken der verschleuderten Zünd- hölzchen , der offen gelassenen Fenster oder Ofenklappen u. s. w. Da wird nachgesehen und geprüft, und, kaum gethan, ist der Zweifel wieder da; und so wird fortgefahren zu verificiren und zu grübeln. Oft bringt Verrammeln der verpönten Oeffnungen die subjective Gewissheit, dass nichts offen sein könne; aber dann kehrt sich die Angst in's Ge- gentheil um, ob diese Clausur jetzt die richtige? Ob nicht neue und grössere Uebelstande dadurch geschaffen seien? Es hilft auch nicht, dass Andere nachsehen; könnten diese sich nicht getäuscht haben?

Manchmal nützt dagegen Eines über die drohende Angst hin- weg: die ruhige Fassung mit dem Entschluss fester Resignation komme was da wolle; was liegt daran? Gelingt es unter diesem philosophischen Quietiv die Gedanken sachte anderwärts zu concen- triren (Beschäftigung) oder reflexmotorisch abzulenken (Spaziergang u. s. w.) , so wird nicht selten die drohende Krise vermieden oder abgeschwächt.

Immer geht auf dieser Stufe der Krankheit ein mehr minder aus- gesprochener Status nervosus mit einher: Kopfdruck, epigastrische Be- klemmung, vasomotorische Zustände, gastrische Verstimmungen u. 8. w. Peinlich ist namentlich bei vielen Kranken die Schlaflosigkeit, bei An- dern die Obstipation und Appetitlosigkeit.

Allmählich meldet sieb, in günstigen Fällen, Besserung an, bald nach Wochen, bald erst nach Monaten. Der Kranke sagt sich selbst, dass er sich um zu viel bekümmere, was eigentlich Andere anginge,

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Das hereditäre Irresein.

und nicht ihn selbst. Aber er kann seiner Einsicht lange nicht zu einem wirksamen Vorsatz verhelfen: immer wieder kommen Rück- fälle, oft in der alten Schwere.

Die fortschreitende Reconvalescenz zeigt sich daran, dass die Zwangsgedanken, wenn sie wieder sich einstellen, mit abnehmender Aflfectstärke verlaufen. Aber auch diese Regel hat ihre zahlreichen Ausnahmen. Körperlich bessert sich der Schlaf und besonders die Verdauung. Jetzt bleibt auf kürzere oder längere Zeit ein ängst- liches, empfindliches und reizbares Wesen; der Kranke ist durch seine Kritteligkeit und Unleidlichkeit noch ein recht schwieriger Gast. Immer mehr tritt an Stelle der Aengstlichkeit eine einsichtsvolle Vor- sicht, wenn auch oft noch in unnöthiger Ausdehnung. An ihr rankt sich der Kranke wieder allmählich zum Vertrauen zu Sich herauf. Eine „Selbsthilfe" wendet er auch jetzt noch an, indem er Uber ge- wisse Dinge (die er fürchtet) nicht fragt, der Erzählung von Un- glücksfällen u. 8. w. aus dem Wege geht, Zeitnngslectüre meidet. So arbeitet er sich wieder in die Genesung, welche (soweit es die vor- handene nervöse Anlage gestattet) eine vollständige sein kann. Nicht selten ist der Kranke nach einem derartig glücklich bestandenen Par- oxysmus wohler, als Jahre zuvor.

Zwischen diese protrahirteren Fälle und die zuerst angeführten acuten sind jene zu stellen, in welchen die Krankheit in schubweiseu oder periodischen Paroxysmen auftritt, mit oft jahrelangen Intervallen, und in dieser remittirend-exaeerbescirenden Weise durch das ganze Leben hindurch dauert.

Bei dem letztbezeichneten Verlaufe können verschiedene Varie- täten — Weiterentwicklungen der Grundkrankheit stattfinden. Dies geschieht in mehrfacher Weise (s. Allg.), gewöhnlich aber in zwei klinischen Typen: 1. indem die Zwangsvorstellungen zu Zwangs- handlungen und darunter besonders zu einer eigenen Form negativer („Hemmungs"-)Acte führen; und 2. indem der Zwangsgedauke zur fixen Wahnvorstellung wird, mit depressiver Reaction (Zwaugsgedan- ken-Melancholie).

Ad 1. Hier gehören zunächst jene Fälle von Maladie du doute, in welchen die Kranken „zur Selbsthilfe" sich in eine automatische Tages- beschäftigung einbauen, um durcii diese selbstgewählte Zwangsarbeit sich von ihrem Gedankendrang zu entlasten. Frauen strickeu täglich von Morgens bis Abends kleine Beutelchen in allen Farben und Zeichnungen; Männer schneiden sich unverdrossen Dutzende von Spazierstöcken, alle von derselben Form und Grösse; andere malen dieselben monotonen Fi- guren, oder schreiben Hefte voll mit denselben Buchstaben u. s. w.

Sodann aber ist hier jene Reihe von Zwangsacten resp. Zwangs-

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Einfaches hereditäres Irresein. Maladie du toucher.

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Unterlassungen aufzuführen , welche psychologisch auf dem Gedanken einer möglichen Verunreinigung beruhen und aus dieser Angst zur Ver- meidung gewisser Objectberührungen schreiten (Mala die du toucher). Der Kranke ist dabei nicht selten von der Unsinnigkeit und Lächer- lichkeit seines Thuns durchdrungen; aber er kann nicht anders. Be- schmutzte Strassenstellen bannen ihn schon aus der Ferne gebieterisch zum Stillstehen, damit er dieselben ja nicht berühre, oder veranlassen ihn Umwege zu machen; aber auch so vermag er von der Furcht, ob nicht doch etwas Unreines an seine Stiefel oder Kleider gerathen sei, nicht loszukommen. Oft ist es auch der Angstgedanke einer möglichen Schädigung durch gewisse Gegenstände, welche deren Berührung pein- lich meiden lässt. So kann der Anblick einer an ein Haus gelehnten Leiter eine beklemmende „BerUhrungs"furcht erzeugen, und sogar irra- diirend über die eigene Sorge hinaus sich noch zur vervielfachten Angst einer möglichen Verunglückung Dritter durch dieselbe „Berührung" er- weitern. Dabei bleibt es nicht bei der einfachen Handlungshemmung: je stärker die Furcht, desto heftiger die dämonische Kraft der Anziehung durch den gefürchteten Gegenstand. So begegnet es in diesem inneren Kampf und Streit nicht selten, dass der rathlose Kranke geradezu in das gefürchtete „Unglück" hineinzurennen impulsiv sich getrieben fühlt nur um einmal Ruhe zu bekommen.

Unter den besonders gescheuten Berührungsgegenständen figurirt na- mentlich Metall (Thürklinken) und Glas. Der Kranke weiss sich in seiner Noth dagegen oft nicht anders zu retten, als dass er sich von einer zwei- ten Person begleiten und unterstützen lässt nur um nicht der sonst unvermeidlichen Krise zu verfallen.

Der Ausgang dieser Varietät, der Maladie du toucher, ist in der Regel ein ungleich ernsterer, als bei der einfachen Maladie du doute. Die Kranken gehen in ihren Grübeleien und ihrer „Schmutz"fnrcht ganz auf, und in gleichem Schritte für die Aussenwelt verloren. Ihre mono- tone Sisyphusarbeit besteht Tag um Tag im Reinigen der Zimmer (wo- bei manchmal sogar der Bodenstaub mit der Zunge abgeleckt wird), im hundertfachen Waschen der Hände, im ewigen Bürsten und Schüt- teln der Kleider, in einer täglich wiederholten, immer pedantischeren und kleinlicheren Regelmässigkeit in Anordnung und Aufstellung der Zim- mergeräthe, mit peinlicher Verbannung aller gläsernen und metallenen Objecte. Manchmal gelingt es dem schwer geprüften, übrigens ganz lucid gebliebenen, Kranken von selbst seinem ermüdenden Sclavendienste einige freie Stunden abzugewinnen. Aber eine einzige, von ihm unbeab- sichtigte, Aenderung in der gewohnten Pedanterie des Wohnzimmers (Ver- schieben eines Buches oder Papiers auf dem Tische) genügt, um den Kranken sofort in Verwirrung und Beklemmung zu bringen. Nur durch immer vollständigeren Abschluss von Aussen und Einbau in die eigene Welt weiss er sich noch vor der Gefahr täglich und stündlich wieder- holter Krisen zu retten. Die Meisten verarmen dabei zu traurigen Egoi- sten ; Andern dagegen gelingt es ausser der geschonten Intelligenz auch noch ein leidliches, wiewohl immer matteres, Geraüthslebeu zu bewahren. Ein eigentlicher Blödsiun tritt nicht ein. Die Fälle mit Zwangsvorstel- lungen, welche sich aus der hereditären Neurose in die hysterische weiter

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entwickelten, theilen in ihrem Vorlaufe das Schicksal dieser (s. hyster. Irresein).

Ad 2. Der Uebergang gewisser Zwangsgedanken in Wahnvorstel- lungen vollzieht sich unter gleichzeitiger Umwandlung der klinischen Zu* standsform in eine wirkliche Melancholie. Die ausschlaggebende depres- sive Stimmung der melancholische Affect ist dabei die naturgemä&se gemtithliche Reaction durch und in Folge der Zwangsvorstellung. Dies findet namentlich in den Fällen statt, in welchen der Inhalt der letzteren den weiteren Schluss auf eine Selbstanklage enthält, so besonders bei bla8phemischen Zwangsgedanken. In anderen Fällen bleibt die Zwangs- vorstellung als solche, d. h. als fremder Eindringling bestehen, und der depressive Affect entwickelt sich aus dem endlichen VerzweiflungsgefUhl, dieses schreckliche Alter Ego nicht mehr los zu werden (so bei den Er- innerungen von Schauererlebnissen, oder bei dem Zwangsgedanken: der Urheber eines vorgekommenen Verbrechens zu sein).

Anhang. Der Querulanten -Wahnsinn das Irresein der

Proeesskrämer.

Die Entwicklung dieser Krankheitsgruppe, zugleich einer der klinisch bestcharakterisirten, geschieht meistens aus der hereditären Neurose, und setzt an dein unvertilgbaren, man möchte sagen: ein- gebornen Misstrauen an, welches viele dieser Existenzen von Haus aus begleitet. Sehr häufig, ja in der Regel, reicht auch ein origi- närer sittlicher Defect in die Genese der Krankheit hinein, ein StUck Moral Insanity, welche den Träger von jeher eine eigenartige Rechtswelt hatte schaffen lassen: einen Cult schrankenlosen Egois- mus mit entsprechend reducirtem Rechtsgefühl für Andere, und da- neben eine durch dünkelhaftes Selbstgefühl getragene geistige Beschränktheit, welche in die Aufstellung von rechtfertigenden Scheingründen für die selbstsüchtigen Rechtsbestrebungen ihre Stärke zu setzen gewöhnt war. Die Vorgeschichte dieser Processer enthüllt meist ränke- uud streitsüchtige Charaktere von Jugend auf, Thu- nichtgute, welche von jeher Alles besser wissen wollten, eine um die andere Erziehungsanstalt oder Lehrstelle quittirten, weil sie Uberall Händel bekamen, jeden Widerspruch als frechen Eingriff in ihre Rechtssphäre brutal zurückwiesen, und rücksichtslos auf ihrem „Schein" beharrten. Andere wieder Hessen früher weniger in ge- müthlicher als in intellectueller Richtung ihre defecte Aulage her- vortreten; sie zeigten sich als flatterhafte Hospitanten in allen Berufsgebieten, nirgends sich gründlich orientirend, in Allem Etwas und doch Nichts im Ganzen, ihr seichtes Wissen durch desto grös-

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Querulanten- Wahnsinn.

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sere Zuversicht und Beredtsamkeit verhüllend. Bei diesen bedarf es in der Folge erst noch eines Anpralls au die harte Wirklichkeit, um ihre Luftschlösser zerstört zu sehen während die erstem in regelmässiger Weiterentwicklung ihrer krankhaft hyperästhetischen, brutal negirenden Charakteranlage zum Schiffbruch gleichsam prä- destinirt sind. Beide stürzen gleichmässig auf den ersten äussern Bankerott in die Illusion einer widerrechtlichen Beeinträchtigung durch Machinationen, Intriguen von aussen; sie werden verfolgungs- wahnsinnig.

In den typischen Fallen wird diese Vorgeschichte nie vermisst wer- den. — Jedoch sind stark belastete hereditäre Stammbäume nicht immer aufzudecken; in diesen (wenigen) Fällen ergeben sich die gleich werthigen erworbeneu Schädlichkeiten für eine degenerative geistige Hirnentwick- lung: Kopfverletzungen , acute Hirnaffectionen, alkoholistische und ganz besonders onanistische Excesse. Bei sehr vielen der angegebenen Fälle sind direct anch die Stigmata hereditatis (namentlich pathologische Schä- delbildung) äusserlich wahrnehmbar.

Nicht alle Fälle debütiren übrigens mit einem ersten erlittenen Misserfolg, in welchem sie passiv die Angegriffenen, Beeinträchtig- ten spielen. Je nach der Richtung und Energie der immanenten Moral Insanity können sie auch - gleich Anfangs die Angreifenden sein; sie gebahren sich hart und widerrechtlich gegen Untergebene, greifen rücksichtslos in deren Rechtssphäre ein, und stehen activ und mit offener Waffe dem Einspruch der Billigkeit und Gerechtig- keit, welche thatsächlich von ihnen gekränkt worden sind, gegenüber.

Ob aber erst passiv oder activ, ob erst unterliegend oder sofort rechtsstörend, treffen Beide in dem Punkte zusammen, wo ihr Selbst- gefühl — richtiger, ihr vermeintliches Rechtsbewusstsein eine äussere Schranke findet. Von jetzt an gehen sie beide gleichmässig zum Angriff über: die passiven in dem Wahne des Verfolgtseins, die activen in dem Gefühl der widerrechtlichen Kränkung; beide in gleicher Weise getrieben durch diesen „Zwangsgedanken", und erhitzt durch ihr krankhaftes Selbst- gefühl. Es liegt ein manisches Element, ein Zug von rücksichtsloser, alle Hindernisse überspringender Gewalttätigkeit in dem nunmehr begin- nenden Vorgehen, uud gleichzeitig ein Grundzug unermesslicher geistiger Schwäche, insofern der Kranke in immer neuen dialektischen Floskeln sich behagt, die docli bei nur einiger Reflexion zerstieben müssten, und (echt wahnsinnig) am Scheine sich unbefriedigt abmatten muss.

Auf die erste Niederlage vor Gericht erfolgt nun die erste que- rulante Reaction. Der Kranke, in seineu Rechtsanspruch verbohrt uud durch dessen Abweisung verbittert, schreitet zum Recurs, und verfolgt diesen auch durch alle zugängigen Instanzen. Dabei wird oft die fein abgewogene Taktik befolgt, in Nebensachen sein „Vor- gehen" anzuklagen; aber der scheinbare Rückzug geschieht nur,

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Das hereditäre Irresein.

um desto schärfer im Hieb auszuholen, und schliesslich den Gegner auch für das eben eingestandene „Unrecht", als ein provocirtes, ver- antwortlich zu machen. Jede neue Niederlage, weit entfernt ihn zur Besinnung zu bringen, schärft nur seinen Widerstand und seine Angriffslust. Tritt er eine Freiheitsstrafe an, so verbringt er diese mit endlosen Beschwerdeschriften, welche alle nur Variationen des- selben Themas sind: er ist im Rechte, alle Andern im Unrechte. Kaum entlassen, setzt er seine Sisyphusarbeit ruhig fort; zum Zwangs- gedanken tritt nun auch sein beeinträchtigtes „Rechtsgefühl" als Zwangsimpuls; er fühlt sich bald nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, die Sache nicht ruhen zu lassen, „um dem Rechte auch der Andern zum Siege zu verhelfen". Das erst unter- drückte Selbstgefühl schlägt jetzt in ein exaltirtes um und erweitert sich: der Kranke weiss sich jetzt als Vorkämpfer für die Sache aller rechtlos Bedrängten; er streitet für die „Menschenrechte".

Mit diesem verstärkten manischen Impulse kommt nun auch der anfänglich erst in der Stille gehegte Verfolgungswahn zur rech- ten Wirksamkeit: der Kranke muss nicht nur für sein und der An- dern Recht kämpfen, er muss auch seine „Feinde" und die gegen ihn geschilderten Intriguen entlarven. Dadurch wird der stille Groll zum offenen Feldzug gegen Beamte, Richter, Zeugen. Nun häufen sich die Eingaben und Recursschriften mit Anklagen und Ehren- beleidigungen; von einer Instanz wird die andere beschritten; jede Niederlage und gerichtliche Busse erhöht die Processwuth und die gereizte Verstimmtheit. Das Sachliche in der anfänglichen Klage tritt immer mehr gegen das persönlich Gehässige zurück; an die Stelle der anfänglichen Gründe rücken Sophismen und rabulistische Düfteleien; die Ehrfurcht vor dem Gerichte artet immer mehr in Zänkerei und rohe Verunglimpfung der („sittlich unempfindlichen") gerichtlichen Personen aus; die Moral Insanity in ihrer reizbaren Form bestimmt Rede und Schriftausdrnck des Kranken.

Sehr oft täuscht den Laien jetzt immer noch die raisonnirende Dia- lektik und der wirklich oft nicht ungewöhnliche Scharfsinn, womit der Kranke seine vermeintlichen Reehtsgründe vorzuführen weiss. Aber was heisst diese erhalten gebliebene formale Logik gegenüber der that- säcliüchen Hornirtheit, womit der Kranke ad absurdum vorgeht, wenn er wirklich Uberlegen könnte? Wie kindisch schwach nimmt sich die Reclits- verfechtung einer Bagatelle aus gegenüber der ungleich grösseren Ein- busse an idealem und materiellem Kesitzthutn, welche ihm jeder neue un- glückliche Instanzenzug vor Augen führt! Wie reimt sich die rohe und oft geradezu gemeine Schreibweise mit seiner sonstigen Bildungsstufe; wie die religiösen Phrasen mit den niedrigsten Schimpfworten; wie seine grobe Angriffsweise mit seiner eigenen Ueberempfindlichkeit zusammen?

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Er handelt eben so, weil er so handeln muss, consequent, aber mit fal- schen Prämissen, nnd unbesonnen, weil er organisch getrieben ist, und zweckwidrig, weil seine Einsicht gestört, sein sittliches Empfinden defect, und Denken und Fühlen dazu noch manisch „getrieben" sind.

Nicht so selten kann das gekränkte angriffsbed Urftige Rechts- gefUhl anch zu einer criminellen That führen, in Form eines Atten- tats auf die vermeintlichen Bedrücker. Es gibt thatsächlich wenige gefährlichere Kranke, als einen verfolgungswahnsinnigen Querulanten. Eine Reihe von Homicidien sind in der forensen Literatur verzeichnet.

Mit dem Fortschritt der Krankheit kommen nun auch die con- creten Illusionen, wie sie dem Verfolgungswahn eigen sind. Der Kranke greift zu „Symbolisirungen" von Thatsachen, die er im Sinne seiner fixen Idee umdeutet. Vorgänge in der Gerichtsver- handlung, gereizte Worte des Richters oder der Zeugen, endlich die barmlosesten Nebendinge gewinnen bei ihm Gewicht und erhalten „Bedeutung". Jetzt wird er immer zäher in seiner Verteidigung, immer berechtigter in seinem Vorgehen; denn Alles redet nur die Eine Sprache seiner widerrechtlichen Verunglimpfung, der allge- meinen Verschwörung gegen ihn. Sehr häufig tritt hinter dieser dunkeln Folie die heitere eines exaltirten Wahnsinns auf: der Kranke fühlt sich als Werkzeug Gottes, welches für das göttliche Recht ein- zutreten und zu kämpfen hat; er proclamirt laut, dass er lieber auf dem Schaffote sterben, und jeden Augenblick dazu bereit wäre, als zu widerrufen- („was Lüge wäre"), oder nachzulassen in seiner gros- sen Mission.

Es kann sich so ganz das Symptomenbild des originär Verrückten aufschliessen im Gewände des Processkramers. Fülle dieser Modification zeigen dann auch den intellectucll erfassten Grössenwahn: sie dünken sich als Prätendenten, als reiche Erbschaftscandidateu. In der Schrift finden sich die charakteristischen Unterstreichungen neben den Stylproben verschrobener, verzwickter Inductionen (der originären „Paralogik'), manch- mal eines widerspruchsvollen bombastischen Unsinns. Intercurrent köunen auch Hallucinationen auftreten, theils als Gesichte, theils als aufmunternde Stimmen.

Der ethische Zerfall wird im Weiterverlauf immer grösser. Jede neue Demüthigung steigert die affective Reizbarkeit, und diese ge- nügt sich bald nicht mehr mit den einfachen Angriffen auf die „in- famen" Urtheilssprüche (welche in den Augen des Kranken „unsitt- lich" und damit rechtlich unverbindlich sind), und deren Verkündiger; sie schreitet nun auch zur boshaften Lüge und Verleumdung, welche keine Grenze mehr kennt, und schliesslich gegen den gesammten Rechtsstaat und dessen höchsten persönlichen Träger den Krieg er-

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Das hereditäre Irresein.

klärt. Von den Schmähungen gegen die Richter („welche die fremde Ehre rauben, um die eigene Blosse zu decken"), oft während der offenen Gerichtsverhandlung, wird zur Majestätsbeleidiguug Uber- gegangen; auf die Worte folgen offen verkündete, gefährliche Droh- ungen. Eine Haftstrafe zieht die andere nach. Das Gefängniss schreckt längst nicht mehr ab, selbst das angedrohte Irrenhaus nicht, weil der klagebedürftige Kranke „dort die Gelegenheit habe, seine Querelen vor Leuten vorzubringen, die ihn anhören inüssten". So übermächtig und blind ist die Streitsucht nur des Streites wegen!

Für die Weitergestaltung der Krankheit selbst bringt der An- staltsaufenthalt zunächst keinerlei Aenderuug; der Kranke fährt wirklich gerade so wie draussen mit seinen endlosen Schreibereien, Recbtsprocessen, Dcnunciationen fort; Anfangs guter Stimmung, weil er fest auf baldigste gesundheitliche Freisprechung und dann vereinten Sturmlauf, zugleich mit seinen ärztlichen Verbündeten, gegen die Rechtsunterdrücker draussen rechnet. So wie aber weder das er- hoffte Gesundheitsattest, noch das Trutzbündniss sich einstellen will» wird die Angriffsfront des Kranken gewendet, und gegen Arzt und Wärter vorgegangen.

Da kommen die Klagen und Eingaben über widerrechtliche Frei- heitsberaubung, über Briefunterschlagung, falsche Berichterstattung nach aussen; alle einst geübten Titulaturen (Lügner, Diebe, Betrüger, Schur- ken) werden jetzt gegen die Anstaltsvorstände hervorgeholt; mit andern Unzufriedenen wird Chorus gemacht, bald in der Stille des rabulistischen Winkeladvocaten, bald als öffentlicher Ankläger, namentlich bei Besuch von Fremden. Briefe werden geschmuggelt, an Wärtern allerlei Corrup- tion versucht, jeder kleinste Mangel im Ordnungsdienst gebucht und dann, verdreht oder maasslos übertrieben, zu ewigen Querelen aufgebauscht Die bei zugangigen Kranken heimlich untergrabene Anstaltsdisciplin wird, wo möglich, zu einer Offensive zu treiben gesucht, auf welche sie in bos- hafter Freude ihre anscheinend nun vollberechtigte BeschwcrdcfUhrung aufbauen; gelegentlich wird bei einem zufälligen Streite Dritter vom Querulanten absichtlich dreingeschlagen „um abzuwehren", wenn er sich rechtfertigen soll, in Wahrheit aber, um hinterlistig ein Delict zd schaffen, aus welchem in perfidester Weise neues Capital geschlagen wird. Kaum treibt eine erregte, verfolgungswahnsinnige „Moral Insa- nity" hässlichere Zeichen zu Tage, als diese überlegte Bosheit alter Que- rulanten. Angriffe auf das Leben der Acrzte und Wärter, auf den Be- stand der Anstalt (Brandstiftung) sind an der Tagesordnung; nicht minder raffinirte Entweichungen. Bei energischem Entgegentreten seitens der Hausordnung wird auch episodisch mit einer Zorntobsucht, mit brutalem Zerstören, unbeugsamem Trotz, Nahrungsverweigerung geantwortet.

Iu anderu Fällen ist der Verlauf innerhalb der Anstalt günstiger. Die Kranken setzen wohl durch Jahre hindurch ihre Proteste fort,

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Querulanten- Wahnsinn. Originäre Verrücktheit. 475

pochen unentwegt auf ihre Rechte; aber der Nerv des einstigen Affects erlahmt allmählich, und sie werden nachgerade harmlose Protestler, welche zwar ihre hochtönenden Phrasen fortan im Munde fuhren, aber durch ein energisches Wort des Arztes, durch eine Cigarre, eine Prise u. 8. w. sich jeweils wieder begütigen lassen. Es ist der Decursus in progressiven Schwachsinn, welcher diesen Husserlich günstigem klinischen Verlauf zeigt. Nicht so selten können solche Kranke im Verlaufe der Jahre noch zu mehr minder nütz- lichen Functionären im Anstaltsdienst erzogen werden. Bei charak- terschwUchern Naturen vollzieht auch der immer härter gewordene innere Kampf ums Dasein, die unerbittliche Noth, in welche sie sich in der Länge selbst gestürzt haben, den Uebcrgang zur Ruhe; die Kranken bleiben unbekehrt, werden aber, in ganz neue Ver- hältnisse versetzt, fügsamer. Bei einer Reihe von Fällen erzwingt endlich die Natur selbst diese milde Wandlung: es gibt solche Processer, welche bis zum Senium sich nur mit ihrem Rechtsphan- tom herumschlugen und jetzt mit der Involution des Gehirns (zumal wenn die überhandnehmende Atherose dessen Energie noch mehr lähmt) als senile abgearbeitete Melancholiker den Rest ihres ab- gehetzten Daseins im Irrenhause beschliessen. Wieder Andere raffen sich, durch den Druck der Wirklichkeit nach und nach eines Bes- sern belehrt, im Leben draussen von selbst wieder zu einer andern Thatsphäre auf im Ganzen sehr seltene Fälle; aber sie kommen vor, namentlich bei jüngern Individuen.

Ich kenne einzelne Fälle, in welchen Jahre lange Querulanten wie- der zur ( stillen) Resignation auf ihren „gekränkten Rechtstitel" gelaugten, und jetzt brauchbare Verwendung in ihrem oder einem anderen Berufe zu finden vermochten.

Secumlär und accidentell tritt der Querulantenwahn nicht selten epi- sodisch in gewissen Phasen des gewöhnlichen depressiven oder exal- tirten Wahnsinns, namentlich der periodischen Manie, auf.

D. Die originäre Verrücktheit.

Damit bezeichnen wir jene Gruppe von typischem Wahnsinn, welcher nicht, wie der erworbene, ein Product einer spätem nervösen Affection darstellt, sondern aus eiuer anormalen Anlage herauswächst, indem die ursprüngliche geistige Excentricität und Disharmonie sich Uber die weitesten zulässigen Grenzen hinaussteigert (Hypertrophie des hereditären oder hysterischen Charakters). So bei übrigens

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Die originäre Verrücktheit.

geistvoll angelegten Naturen. Das klinische Symptomenbild kann aber auch eine Form des Niederganges (ein Senium praecox) karg veranlagter, originär beschränkter Existenzen darstellen, welche ihre „Atrophie" bald als Verfolgungswahn, bald als täuschenden Grössen- wahn erfassen (meist gemischt). Die originäre Verrücktheit kann in einfacher Form verlaufen (so auf Grundlage einer beschränkten gei- stigen Mitgift mit Torpidität); oder aber mit Hallucinationen sich compliciren (so bei geistig lebhafter, phantastischer Anlage oder auch bei erworbener Cerebralasthenie). Die Hallucinationen können, wie beim Wahnsinn, die primären und grundlegenden Elemente des de- pressiven oder expansiven Wahnes abgeben; viel häufiger aber steigt dieser als eine „Eingebung" aus der Tiefe des unbewussten Seelen- lebens auf (Primordialdelirien). Die secundär hinzutretenden Sinnes- täuschungen vollenden dessen Ausgestaltung. Die Störungsform ist chronisch, als Ganzes unheilbar, insofern immer der kranke Rest bleibt, nicht selten aber aus Paroxysmen zusammengesetzt, welche einzeln heilen können, aber in der Regel erschwert wiederkehren.

Symptomatologie.

Das Vorlaufstadium der Krankheit muss bis in die Jugend, nicht selten bis in die Kindheit zurückdatirt werden (s. hereditäre Neurose).

Die Anlage ist sehr oft aus der Ascendenz vererbt, aber durchaus nicht immer. Missgriffe in der Erziehung (Unverstand bornirt bochmüthiger Eltern) spielen manchmal eine ebenso grosse Rolle; auch politische Zeit- Strömungen können für leicht erregbare nrtheilsschwache Köpfe zur Klippe werden.

Es sind eigenartige Kinder und Jünglinge „nicht wie andere Buben und Mädchen", wie die Laien und besorgten Eltern meist richtig beobachtet haben. Ohne die kindliche Heiterkeit und Ge- selligkeit, sind es im Gegentheil stille in sich verschlossene Träumer und Grübler, welche sich früh schon in phantastischen Luftschlössern behagen; sind sie begabt, so ist es in der Regel einseitig (wenn auch hier oft aussergewöhnlich). Andrerseits repräsentireu Viele wahre Ingenia tarda. Gemüthlich fallen sie auf durch ihre Indolenz, oder gegentheils durch hypersentimentales, oft erschreckend reizbares Wesen. Der Schlaf ist frühe schon durch lebhafte Träume gestört, welche nicht selten in das Wachsein hinüberspielen und schwer sich corrigiren. Manchmal werden Nachts somnambule Zustände beob- achtet, oder selbst ekstatisch visionäre Anwandlungen unter Tags, wobei allerlei Ahnungen kommender Grösse vor der heiss erregten

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Originäre Verrücktheit. Beginn. Körperliche Begleitzeichen. 477

Phantasie aufsteigen, eine „heilige" Luft weht, und unter Durch- 8trömung des ganzen Körpers eine unendliche „Klarheit" den jugend- lichen Schwärmer „durchleuchtet".

Sehr häufig trifft man Chorea. Das körperliche Wachsthum ist oft tadellos, das Aussehen blühend. In der grossen Mehrzahl fallen aber frühe schon organische Difformitäten auf: verschobener Schädelbau mit einseitiger Abflachung resp. einseitig hydrocephalischer Wölbung, rhom- bische und kielförraige Kopfform, ungleiche Entwicklung der Jochbogen, der Orbita, Schmal- und Steilheit des Gaumens, Staphylombildung mit Doppelsehen, Schielen u. s. w., ungleiche Gesichts-Innervation, mangelhafte Ohr- Entwicklung, Assymmetrie der beiderseitigen Körper-Entwicklung, ungleicher Stand der Hoden (Weiteres s. bei Idiot.). Die Zähne sind oft sehr hinfällig. Nicht selten zeigt sich Scrophulose; bei Vielen sind in frühen Jahren Hirnaflectionen vorausgegangen ; manchmal findet sich ein- seitige Blindheit von Geburt aus mit diffuser Glaskörpertrübung und Atrophie der Chorioidea. Bei Andern besteht grosse Geneigtheit zu De- lirien (oft mit Convulsionen), welche bei den leichtesten fieberhaften Er- krankungen sich einstellen. Der Geschlechtstrieb, gleichen Schritt hal- tend mit antieipirter psychischer Entwicklung, erwacht auffallend früh, und führt schon vor der Pubertät zu kindischen Liebeleien (oft mit bom- bastisch romanhaftem Schwulst der Diction), oder zu der noch grössern Gefahr der Masturbation.

Vorübergehend tauchen frühe schon Zwangsgedanken auf, nicht selten auch Anwandlungen von „Berührungsfurcht". Auch ein un- motivirtes ängstliches Wesen, häufig mit hypochondrischer Richtung, wirft besorgnisserregenden Schatten, um so mehr, als der jugend- liche Frohsinn daneben nicht zum Durchbruch kommt. Beunruhigen- der noch wirkt die Entdeckung, dass manchmal auch moralische Defecte sich äussern: Lust am Lügen, am Verheimlichen, am Ent- wenden, an Thierquälerei. Nun kommt die schwerste Krise: die Pubertät. In nicht wenigen Fällen unterbricht diese brüsk die in- valide Gehirnentwicklung, und führt eine Dementia praecox (s. erbl. Neurose) herbei; in andern kommt es zur Hebephrenie (s. Idiotismus); in wieder andern bricht wirkliche Seelenstörung aus, und zwar häufig in Form eines acuten manischen Wahnsinns.

Massenhafte Sinnestäuschungen, unklarer Grössenwahn, vermischt mit VersUndigungsgefühlen, mystische Symbolisirung, jäher Stimmungsumschlag von den „Wonnen des Himmels" zu den „Tiefen der Hölle", vom „Hei- ligen zum Teufel", intercurrente kataleptische Zustände, vasomotorische Neurosen, vermehrte Pollutionen u. s. w.

Mit zurückgelegter Pubertät kommen, wenn anders keine Resi- duen aus dieser Zeit verbleiben, oft längere Jahre der Ruhe und einer fortschreitenden geistigen Entwicklung. Die Kranken vollenden Gymnasien und Universitäten, excelliren nicht selten, bleiben aber

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Die originäre Verrücktheit.

stets und immer ausgesprochener Menschen sui generis. Ge- müthlich bleiben sie Uberempfindlich, und oft wie Kinder verletzbar. Dem ganzen Gebabren klebt ein demonstrativer Zug an, namentlich ein leicht bereites Pathos, neben Gemüthsschlaffheit und Energie- losigkeit. Viele, welche die Gelehrten- oder Künstlerlaufbahn er- wählten, bringen es zu keinem Examen und zu keiner Anstellung; sie schwanken von einem Wissensgebiet zum andern, bleiben nie stetig, sei es, weil ihr Interesse rasch verpufft, oder weil sie sich von der Materie nicht befriedigt, oder auch von der Umgebung nicht genug gefördert glauben, und deshalb in überlegenem Schmollen sich behagen.

Die Charaktertypen sind so zahlreich jeder Kranke ist eigentlich ein Typus für sich dass eine erschöpfende Allgemeinschilderuug nicht möglich ist. Hier sind einige der häufigsten: Reiche Bildung und viel Wissen in die Breite (weniger in die Tiefe); geistreiches Wesen und nocli forcirteres Geistreich th un, verblüftende Ideenassociation oft in eigenartigen „Rösselsprüngen"; Vorliebe für Allgemeinplätze und profuse Wortmacherei, original barocke Einfälle ; überschwenglich in Lob und Tadel, bald naiv, bald blasirt, in einer Minute sentimental, in der andern derb und dies Alles in jähen Uebergängen und buntem Geraisch; in Conversatiou und Briefen oft geistreich und daneben wieder beschränkt,' raisonnirend ohne Raison; Vorliebe für hochtrabende gesuchte Redensarten; beim Wider- spruch verlegen zu einer armseligen Dialektik greifend; stolz auf Prin- cipien und darin starr und unbeugsam , und daneben ein Spielball von Launen und Einfällen ; im Leben gutmüthige Sonderlinge , welche sich theils in dieser „überlegenen" Rolle gefallen, und in der Gesellschaft zu glänzen suchen, theils aber gcgentheils den Umgang mit Andern mei- den, ihr ganzes Thun in das möglichste Dunkel hüllen, gern Schleich- wege betreten, und bei der ihnen stets unliebsamen Anrede unter schönen Grüssen und Bücklingen, unter einem übertünchten Wesen, ihre innere Unsicherheit, Hast und Unruhe, die Haltlosigkeit und Zerfahrenheit ihres Denkens zu verbergen suchen.

Ein anderer Typus: Bornirt geistreiches Wesen, selbstgefällig und eitel in geschraubter Diction und affectirter Kleidung; gehobenes Selbst- gefühl, welches mit einem Pessimismus (aus geistiger Uebcrlegenheit) coquettirt; Neigung zu philosophischen Speculationen mit eigenem System; einseitiges Sich-fest-Rennen in Einer Idee mit gewaltsamster dialektischer Verwerthung derselben; Anhänger der unnatürlichen Sexualbefriedigung, ohne jedoch deswegen die Ehe zu meiden; in letzterer, und trotz der- selben, Cultus der sexuellen Perversität.

Ein dritter Typus ist (namentlich bei Mädchen): zurückgezogenes Wesen und krankhaft gesteigerte religiöse Uebungen, Vorliebe für das Mystische, affectirt prüdes Wesen in der Ehe, welche entweder mit phan- tastischer Exaltation oder auch gegentheils mit Resignation eingegangen wird; gleich anfangs oder bald nachher sexuelle Kälte mit überspannten Keuschheitsideen.

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Charaktertypen. Klinische Formen.

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Ein vierter Typus: stürmische Jugendzeit mit tollen Excessen, nach- her Umschlag in Entsagung mit forcirten geistigen Arbeiten durch Tage und Nächte; dann wieder müssiges Schlendern mit entmuthigeuder Selbst- kritik; Schwanken in der Berufswahl ; Gemüthsindolenz; selbstgefälliger Sarkasmus; sociale und politische Unreife mit ebenso entzündbarem als rasch verglimmendem Enthusiasmus; gänzlich fehlende Selbstzucht; Un- erziehbarkeit durch die Erfahrungen des Lebens; endlich zunehmende Misanthropie aus dem Gefühl des Verkanntseins Helden in der Phantasie, Kinder in der Wirklichkeit.

Ein fünfter Typus, und ein sehr häufiger, ist endlich der Hysteris- inus bei Männern und bei Frauen.

Körperlich begleitet alle diese Kranken ein mehr oder weniger aus- gesprochener Status nervo8U8, häufiger Kopfschmerz, Neuralgieen, Spinal- irritation, erhöhte vasomotorische Erregbarkeit mit grosser Geneigtheit zu Nasenbluten; bei» jungen Männern gesteigerte Pollutionen, Anomalieen der Potenz.

Der Beginn der Krankheit kann unbemerkt in der Stille sich vollziehen, oder aber geräuschvoll unter tobsüchtiger Erregung in Scene treten. Im ersten Falle bildet ein träumerisches Grübeln oder ein emsiges Nachschauen in allerlei Büchern die Einleitung; der Kranke fühlt, dass Etwas in ihm vorgehe, und will sich darüber Aufklärung holen. Andere Male hat er direct an den Mienen und Blicken einer vorübergehenden Dame die Gewissheit erhalten, dass sie in Liebe für ihn schwärme, ihn heirathen wolle; oder ein Ma- donnabild hat ihm ein „Zeichen" für eine besondere Mission zuge- winkt. Einwendungen und Gegenvorstellungen werden Anfangs noch entgegengenommen, aber nur halbgläubig; bald wird jede derartige Insinuation abgewiesen, oft mit drohendem Affect So rückt der Kranke rascher oder langsamer, oft mit Einem Schlage, in die fertige Krankheit. Diese kann als einfacher Beeinträchtigungs- oder Grössenwahn verlaufen; oder aber, mit Hallucinationen com- plicirt, als eine dieser beiden Formen. Am häutigsten tritt aber das klinische Bild in einer Mischung beider auf: als depressiver Wahn- sinn mit Grössenideen, resp. exaltirter Wahnsinn mit Verfolgungs- wahn (je nach dem klinischen Vorwiegen des einen oder andern Elements).

Für die klinische Charakteristik der beiden erstgenannten ein- fachen Formen ist das a.a.O. entworfene Symptomenbild inaassgebend. Dasselbe enthält für die originären Fälle nur noch die Züge aus der hereditären Neurose (s. d.) beigemischt. Aus letzterer, welche Eingangs schon für viele Fälle als directe Vorfrucht bezeichnet wurde, lässt sich nicht selten die ev. spätere Erkrankungsform direct ableiten, und in ihrer individuellen, depressiven oder exaltirten, Richtung verstehen. So wandert die ab ovo geistig schwächliche und ängstliche Natur nach

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Die originäre Verrücktheit.

ihren Misserfolgen im Daseinskampfe zu den Misanthropen und Verfol- gunga- Verrückten, während der sentimentale Schwärmer und Phantast schon von Jugend auf seinen Don Quixote mitbringt, welcher ihn ohne Krise in natürlicher Entwicklung zum exaltirt-verrückten Roman tiker ausgestaltet. Eine specielle Betrachtung erfordert hier deshalb nur noch die dritte Form der gemischten Verrücktheit, um so mehr, als sie für die originären Fälle die eigentlich typische ist.

Gemischt depressi v-exaltirte Verrücktheit. Das an- fängliche Entwicklungsverhältniss der beiden genannten Wahnele- mente ist individuell sehr verschieden. Es kann 1. das exaltirte Stadium vorangehen. Dem einsamen GrUbler ist das gesuchte „Licht" aufgegangen: er hat irgend eine Stelle in einem alten Buche, ein Bild oder eine Zeitungsanzeige aufgefunden, welche nur auf ihn passt, eigens für ihn hereingesetzt ist; er ist zu Hohem geboren und bestimmt, hat ein grosses Vermögen zu erwarten, be- deutende Ehrenstellen; ja, er ist, ohne dass er es seither gewusst hat, von hoher Geburt und Abstammung, ein untergeschobenes fürst- liches Kind. Viele legen sich deshalb den Adel bei und verlangen die geziemende Titulatur. Aber die ungetrübte Freude Uber diese berückenden Conceptionen bleiben dem Kranken nicht lange be- schieden. Wie diese ohne bewusste Association und Motiv aus dem Unbewussten aufgetaucht sind toto de coelo dastehen ; andere Male vielleicht noch oberflächlich an wirkliche Erlebnisse resp. frühere Vorstellungen sich anlehnend so steigen jetzt aus der- selben unbewussten Quelle auch Verfolgungsgedauken auf: Verdäch- tigungen seines Namens, oder Befürchtungen, dass man ihm, dem Begnadigten, feindlich gesinnt sei und Übel wolle wegen seiner Be- vorzugung; er ist ein vertauschtes Fürstenkind, aber eine Iutrigue hat die Hand im Spiele; seine Widersacher haben ein Interesse daran, dass die Sache nicht herauskomme. Daran baut sich ein Beachtungswahu auf. Es kann aber 2. der Verfolgungswahn den ersten Act des Dramas bilden, und erst im Verlauf dieses sich das Grössenelement („unter einem Wonnegefühl, als ob der Kranke fliegen könute") hinzufügen; und endlich 3. können beide Richtungen mit einander hervortreten, neben einander einhergehen, zeitweise sich mischen oder verdrängen, abrupt in einander überspringen, jedoch ohne dass die eine dauernd die andere zu Uberwältigen vermöchte; in ihrer einzelnen reactiveu Wirkung bald Seligkeit Uber das Ge- müth legen, bald erbitterte oder resignirte, zu Allem entschlossene Depression.

Viel rascher und einschneidender, auch häufiger, gestaltet sich die Krankheitseutwickluug durch die Anwesenheit von Hallucinatio-

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Gemischt depressiv-exaltirte Form. Krankheitsbild. Klinische Typen. 481

nen. Da hört der bis dabin nichts ahnende, höchstens nervöse und reizbare Kranke plötzlich ein Wort sich nachrufen (es kann ein Schimpfname, oder gegentheils ein Hinweis auf seine Grösse sein; allermeist spielen sofort beide Timbre's in einander): es ergreift ihn mit der Macht einer Offenbarung. Nicht selten kämpft der Kranke Anfangs noch mit der Kraft seiner bessern Ueberzeugung dagegen an; dauern aber die Stimmen fort und kehren die „Gesichte" wie- der, so verwirren sich rasch die Gedanken; er sieht jetzt bald auch bestätigende Symbole, während sein Selbstgefühl im Kampfe der freundlichen und feindlichen Inspirationen und Andeutungen sich höher und höher hebt: die Verfolger müssen zu Boden geworfen werden (nicht selten werden kurzer Hand auch Gewaltacte geplant) ; oder der Kranke will sie in ihrer Ohnmacht gewähren lassen; denn deren Machinationen werden ja bald entlarvt, und ihm dadurch eine nur noch grössere Folie gegeben. Sagt die „schlechte" Stimme zum Kranken, dass sein Untergang verschworen sei, so tröstet die „gute", dass Gott ihn nicht verlassen werde in seiner Noth und ' der Kranke beruhigt sich, dass auch „dieser Kelch an ihm vor- übergehen werde".

Ueber die Detailgestaltang dieser ganz in der concreten Individua- lität wurzelnden Krankheitaform entscheidet der specielle geistige Fonds im Einzelfalle, sowie Uber den grotesken Inhalt der Grössenideen die specielle Wissensstufe; dieser wird aus allen Gebieten, oft aus entlegenen historischen Zeiträumen, bald deductiv, bald inspirirt, hergeholt.

Handelt es sich um Fälle von originärer geistiger Beschränkt- heit (einseitige Begabung mit Verschrobenheit), welche ihren Aus- gang in diese Combination von Grössen* und Verfolgungswahn neh- men, so schaut in der Regel schon bald der manifeste Blödsinn durch alle flitterhaften Wahnconceptionen und durch das noch so mysteriöse Gebahren hindurch. Diese werden in den Asylen die „Fürsten und Kaiser", welche ständig ihre „goldenen Kleider" und Kronen verlangen, jeden Tag einen Sack Geld erhalten, Millionen von Soldaten parat stehen haben u. s. w., und nichts desto weniger nach Absagen ihres Sprüchleins wieder gemüthlich ihren Weg weiter nehmen, von der Zeichnung ihres Wappens und Stammbaumes ver- gnügt zur Feldarbeit gehen.

Dahin gehören auch die „Narren" von altem Schrot und Korn, jene Typen ewiger Heiterkeit und Gutmüthigkeit, voll Ueberschätzung und Selbstgefälligkeit, jene Effecthascher und Possenreisser, Grosshanse und Aufschneider, welche Tag aus Tag ein sich ihrer kindischen Spielerei, einer albernen Ziersucht hingeben, profuse Schwätzer und lebhafte Decla-

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Die originäre Verrücktheit.

mateurs ibrer „blauen" Erlebnisse, beständig zufrieden in ihrer zweck- losen Geschäftigkeit, jedem ernsten Treiben abhold, unverdrossene Sammler, welche stundenlang in ihren Papierschnitzeln mit wichtiger Miene herum- stöbern, überall ihr kindisches Spiel anheben (hämmern, putzen, schmie- ren), zu jeder Inconvenienz Seitens der Andern den Lachchor bilden, eine Stunde mit ihrer Gesundheit und Stärke prahlen, in der andern dem Arzt mit endlosen unbegründeten Klagen über nichtige Beschwerden anliegen, in ihrer Sprache vom ernsten Pathos in frivole Cynismen über- springen — dabei keine eigentliche Wahnvorstellung oder Sinnestäuschung äussern, über ein leidliches Gedächtniss verfügen, aber im engsten Ideen- kreise sich herumtummeln, schwach im Urtheil, noch schwächer in ihrem sittlichen Gefühl; dabei harmlos, nie gewaltthätig oder verletzend, zwar rasch aufbrausend, aber ebenso leicht (durch eine Pfeife, Cigarre u. s. w.) wieder bestimmbar.

Anders bei einer reichern nnd geschultem psychischen Anlage. Da entstehen ausserordentlich mannigfaltige, und namentlich durch ihren langen Verlauf reiche Krankheitsbilder. So vermögen manche Kranke bald schon ihre Wahnideen in sich zu verschliessen , und verrathen dieselben nur an einzelne ausgewählte Personen ; auch die Regungen ihres Grössenwahnes wissen sie normalen Kategorieen unterzuordnen; ihre hohe Protectionsstellung wird nur im Sinne einer allgemeinen Wohlthätigkeit, wenn auch mehr aus „Drang", denn aus „Reflexion" verwerthet. Solche Kranke verrathen oft nach aussen d. h. dem Laien gegenüber kaum etwas Anomales, obwohl sie fortan im Dienste ihres expansiven Wahnes stehen, und alles Mögliche und Unmögliche aus ihrer LectUre, besonders aus der sensationellen Tagespresse, im Sinne ihres Verfolgungswahnes ver- arbeiten. — Bei Andern dagegen bricht gleich im Anfang eine mehr oder weniger starke Aufregung hervor; sie schreiben Hunderte von Briefen, lassen sich Abzeichen ihrer verheissenen Würde machen, nehmen ein überlegenes herrisches Benehmen an, brausen rücksichts- los auf, werden dann wieder plötzlich sentimental weich, machen Proclamationen und Proteste mit mystischen Andeutungen, gefallen sich in schwülstigen Redensarten, dichten und reimen um daneben immer mit der Schärfe einer einseitigen Logik jedem Einwand, na- mentlich jeder Zumuthung einer Krankheit, zu begegnen. Bis zu einem gewissen Grade wissen sie fein zu dissimuliren ; nur wenn sie contrariirt werden (dann aber um so maassloser), bricht der Grössenwahn durch, gewöhnlich mit einer Fluth von symbolischen Beglaubigungen, welche unbemerkt und unter der Hülle des äussern Decorum sich ankrystallisirt hatten. Manchmal fällt aber auch nur eine gewisse Vornehmheit und Steifheit der Haltung auf, eine Nei- gung sich zu putzen und Toilette zu machen, eine oft ernst nach-

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Gemischt depressiv-exaltirte Form. Weiterverlauf. Ideenassociation. HandelD. 483

denkende, mit plötzlichem Lächeln wechselnde Miene. Nicht selten kann nach Umflnss von Monaten ein solcher Paroxysmus, welcher unter Erregungen und Abspannungen ganz regellos verläuft, wieder bis zum Rest d. h. dem bleibenden eigenartigen Charakter und Originalwesen abklingen. Wirkliche Krankheits einsieht wird dabei Dichterreicht; sehr häutig aber besteht doch ein Krankheitsgefühl. Die Wahnvorstellungen tauchen unter, bleiben jedoch uncorrigirt. Wohl darum ist auch Recidive, namentlich bei dem misstrauischen, reizbaren Wesen dieser Kranken, sehr häufig.

Ist der Verlauf sofort zur dauernden Chronicität angelegt, so arbeitet sich der Kranke, unter partieller Schonung oft eines sehr grossen Theils seines Bewusstseinsinhalts und seiner logischen Fähig- keit, immer tiefer in seine „verrückten" Conceptionen hinein. Nach rück- und vorwärts wird jetzt sowohl Erinnerung als auch Zukunfts- perspective nach dem herrschenden Wahne corrigirt, und Alles in ein System gefügt. Neue Stammbäume werden angefertigt, alle Wahr- nehmungen eigenartig umgedeutet, und dies mit Hilfe einer gleich- falls immer individuellern Logik einer wirklichen Paralogik für welche die Causalität immer mehr nach dem äussern Zu- sammentreffen der zufälligen Nachfolge zweier Vorstellungen, als nach der inhaltlichen Verwandtschaft, und sofort fertig, sich vollzieht. Es tritt das post hoc gebieterisch an Stelle des wirk- lichen Motivs.

Die Ideenassociation wird eine so abstruse, dass sie für einen Dritten nicht mehr verfolgbar, endlich unverständlich ist. Hier, in diesem vor- gerückten Krankheitsstadium , finden namentlich jene (s. v. v. !) Orgien des „Worts" als Lautbildes statt, jene Spielereien mit Silben und Asso- nanzen, welche ebensoviele heterogene Begriffe wachrufen und die Kran- ken auf Tage hinaus in einen förmlichen Schwindel von Gedanken, Er- innerungen, Vergleichen u. s. w. gefangen halten. So erklärt ein Kranker: „Calvarienberg" = Cal i. e. Calle (hebr.) Braut; vari = war, i = Ignaz (des Kranken jüngster Bruder), en = „Russland" (Aufenthaltsort seines Bruders). Dazwischen mengen sich selbstgemachte Worte und Bezeich- nungen von eigenartiger Verzwicktheit. So erwachsen literarische Leis- tungen, welche, obwohl in deutschen Ausdrücken geschrieben, keinen einzigen verständlichen Satz mehr enthalten. Reicht auch das selbster- fundene Wort nicht mehr aus, so treten eigens gemachte graphische Zei- chen, Ringel, Punkte, allerlei Schnörkel ein, um den „Gedanken" zu ver- sinnbildlichen.

Für das Handeln des Kranken werden Einfälle, plötzliche Stim- mungen, Sympathieen und Antipathieen zu den immer mehr und zwangs- mässiger leitenden Normen, neben und mit den schrankenlos gebietenden Uallucinationen. Der Kranke darf jetzt nur sprechen und essen, je nach der innern Eingebung, je nach dem erhaltenen „Zeichen", dem Stande

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Die originäre Verrücktheit.

der Sonne, nach einem zufälligen Traume u. s. w.; oder er muss schwei- gen, an den oder jenen Ort hinstehen , diese oder eine andere Stellung einnehmen. Dazwischen kämpfen die „guten" und die „bösen" Mächte um ihn; er bekommt täglich neue Verheissungen, aber auch neue War- nungen. Der ungelöste Zwiespalt erzeugt reactiv schmerzliche Verstim- mungen mit rathloser Unthätigkeit und nicht selten mit ernstem Lebens- überdruss.

Sehr oft schieben 6ich hypochondrische Phasen ein (manche Fälle beginnen gleich zu Anfang mit solchen), in denen der Kranke vom bösen Geiste sich „geschwärzt" fühlt, und in seiner Kürper- form verschoben, mit ungleichen Gliedern, einseitigen Verkürzungen, Verkrümmungen, dislocirtcn Organen ganz wie bei den analogen Fällen in dem erworbenen Wahnsinn.

Körperlicherseits finden sich die mannigfachsten sensibeln, vasomo- torischen und trophidchen Begleiterscheinungen. Alle Arten von Par-, Hyper- und Anästhesieen (vorübergehende Beklemmungen), ungleiche Blut- vertheilung und locale Congestivzustände, un regelmässige Menses, hyste- rische Lähmungen und Coutracturen, Lanugo im Gesichte, frühzeitige (oft partielle) Canities.

So kann sich die Krankheit unter Besserungen und Verschlim- merungen, welche nicht selten eine annähernde Periodicität ein- halten, durch Jahre, oft bis zum Schlüsse des Lebens, hinziehen. Der Grössenwahn, zeitweise stark und anspruchsvoll, kann zu andern Zeiten limitirt, ja periodisch sogar widerrufen werden. Viele Kranke bewahren durch alle Prüfungen hindurch ihr leidlich, ja oft ein- seitig voll geschontes, Bewnsstsein; manche bleiben gute Gesell- schafter, treffliche Spieler, geübte Musiker, gewandte Reimdichter. Manche imponiren als originelle Denker, und erhalten sich durch ihre eigenartige Auffassung, durch gelungene Folgerung, strenge Unterscheidung, genaue Diction, ernste Haltung, einen philosophi- schen Anstrich.

Tiefer betrachtet, bleiben aber Alle ein Mixtum compositum von Verstandesschärfe, und wiederum von Verrücktheit und von blödsinniger Schwäche theils neben einander auf den verschiedenen Urtheilsge- bieten, theils zeitlich nach einander, je nach der Disposition ihrer schwan- kenden geistigen Functionscurve.

Bei nicht Wenigen erhält sich auch ein gemüthlich liebenswür- diges, sociales Wesen. Manche wenden eine tiefgehende Sympathie gewissen Thieren zu, namentlich Vögeln, die sie nicht nur auf- opfernd und hingebend pflegen, sondern in mystischem Cult ver- ehren (eine Patientin aus meiner Beobachtung suicidirte sich nach dem Tode ihres Lieblings-Canarienvogels). Bei Andern dagegen

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Gemischt depressiv« exaltirte Form. Ausgänge.

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schrumpft das Gefühlsleben zu einem immer verknöchertem Egoismus zusammen, verbunden mit zunehmender Menschenscheu, Gemüths- rohheit und einer leidenschaftlichen Reizbarkeit, so dass der ge- ringste Widerspruch oder eine ungelegene Zumuthung einen Affect- sturm entfesselt. Andere werden indolent und apathisch. Daneben trifft man auch wieder Fälle an, wo der einmal durchgemachte Paroxysmus zurücktritt und die Kranken sich erholen (ihr Naturell abgerechnet), und ihrem Berufe, ihrer Familie auf Jahre, selbst dauernd, wiedergeschenkt sind.

Ist mit dem ersten oder einem der folgenden Anfälle die Bahn des Niederganges beschritten (was übrigens in keinem Falle be- stimmt zu prognosticiren ist), so ist der Decursus in der Regel ein allmählicher, etappenweise stationärer.

Die Reste des ehemaligen Verfolgunga- oder Grössenwabnes erhal- ten sich; aber der Kranke verweilt nur noch mit geringem Nachdruck bei denselben, und sucht durch schlechte Witze und fade Bemerkungen den ungünstigen Eindruck bei Andern zu verwischen. Diese Witzeleien werden manchmal zur Sucht, bald als beissende Satire, bald als Ironie, oder herausfordernde Ostentation, und lassen in der muthwilligen Laune doch immer wieder das krankhaft gehobene Selbstgefühl durchfühlen. Dazu gesellt sich ein streitsüchtiges, rechthaberisches Wesen. Diese Klasse der Verrückten wird nach und nach zu den chronischen Winkeladvocaten der Andern, während sie für sich zu maasslosen Schreibhelden werden, welche alle Papierstückchen, Bücher, Zeitungen, Wände mit ihrem immer verschrobenem Gekritzel vollfüllen. Die Stimmung schwankt zwischen den Extremen einer vorwaltenden Gereiztheit und stumpfen Gleichgültig- keit; die höhern Interessen sinken. Daneben spielen allerlei Sinnestäuschun- gen fort mit immer ideenärmererm bizarrerm Inhalt, selten von impera- tivem Charakter, meistens ohne tiefere Nachwirkung. Nicht wenige Kranke fühlen die zunehmende Verwirrung ihres Gedankenganges selbst, aber ohne schmerzlichen Affect. Manchmal treten dagegen ausgesprochene melancholische Phasen in brüskem unvermitteltem Uebergang dazwischen: die Kranken werden plötzlich verstimmt, ziehen sich in die hintersten Winkel zurück, wo sie Tage lang mit ernster, gespannter Miene, nieder- geschlagenem, thränenfeuchtem Blicke dastehen, misstrauisch werden, schlecht schlafen und essen (unter gastrischen Störungen), und ihre Düsterheit mit allerhand Einfällen, selten mit zureichenden Gründen, mo- tiviren.

Schrittweise abwärts bewegt sich das ganze geistige Getriebe immer mehr nur noch in den eingelebten Bahnen täglich die alten Klagen oder Wünsche, aber mit abklingendem Affect. Das in seinem tiefsten Innern schwankende Ich hilft sich Uber seine innere Leere und Unsicherheit immer nothdürftiger hinweg durch den Drang nach steten „Verificationeu", oft mit Fragezwang, und zur Stütze

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Die originäre Verrücktheit.

seiner Orientirung durch eine peinliche Präcision in allen Anord- nungen des Zimmers und des immer mechanischem Tagesganges. Alles wird geprüft, wieder geprüft, durch hunderterlei Kreuz- und Querfragen sicher gestellt. Die geistigen Aeusserungen werden flacher und unbestimmter, der Kranke rathloser und immer kleinlicher; er widerspricht sich und widerruft gemachte Angaben, zweifelt an seinen Aussagen. Durch die innere Unsicherheit und die zunehmenden Ge- dächtnissdefecte laufen in seinen Reden und Behauptungen immer bedenklichere Licenzen unter.

Auch der Sinn für das Decorum beginnt Noth zu leiden. Trotz der äussern Zucht und Ordnung gehen die feinern socialen und ästhetischen Rücksichten immer mehr verloren; die Kranken sinken zum banalen Sinnengeniisa herab, essen ohne Wahl und mit grosser Ueissgier, mastur- biren gelegentlich, verstecken ihren Stuhl in Kleider und Schubladen u. s. w. Das intellectuellc Leben, welches in inhaltlich und formal wohl erhaltenen Resten oft noch lange der ohnmächtige Zeuge des unaufhalt- samen Zerfalls gewesen, geht allmählich in blödsinnige Abstumpfung ein. Der Kranke wird bis zur Unverständlichkeit verwirrt; er beginnt mit läppischen Bildern und Zeichnungen sich zu vergnügen, schreibt viel unsinniges Zeug zusammen, macht Tage lang dieselben sinn- und end- losen Zahlenrechnungen, treibt allerlei verkehrte Handlungen (legt sich oft der Länge nach auf den Boden), gesticulirt viel u. 8. w. Zwischen- hinein wird er nicht selten noch gereizt und plötzlich gewaltthätig. In der Regel aber behagt er sich in seiner Gemüthsruhe, in welcher er auch oft harmlos zerreisst und zerstört. Oft erhellt noch ein blöder Grössen- wahn, mit den barocksten Einfällen, auf einige Zeit die heraufziehende geistige Umnachtung. Im Laufe der Jahre löscht aber auch dieses letzte Irrlicht aus; die Kranken sinken zum Kinde herunter, und noch unter dasselbe. Unbekümmert und auch ohne Verständniss für die Umgebung, selten mehr durch Worte, sondern nur durch Gesten (ein freundliches Nicken, ein herablassendes Lächeln) sich äussernd, messen sie Jahr aus Jahr ein dieselben Abtheilungsräume ab, folgen mechanisch wie ein Uhr- werk demselben eingelebten monotonen Tageslauf, so dass man die Ge- schichte von Lebensjahrzehnten nicht bündiger geben könnte, als durch die lapidaren Worte: „er ass, trank, schlief, schnupfte und starb".

Bei erotischer Wahnrichtung schieben sich nicht selten sexuelle Perversitäten in den ernsten Krankheits verlauf. Die Kranken fühlen sich in das andere Geschlecht metamorphosirt (entsprechende Ge- berden und Kleidung, Nachahmung von Frauenbüsten). Endlich schliesst eine wirklich erlösende körperliche Krankheit das Drama ab (Phthise, Apoplexie).

Mit dem Eintritte der finalen Lungenphthise wird oft noch eine Quelle von hypochondrischen Klagen eröffnet, wogegen die frühem ent- sprechend in den Hintergrund treten. Gleichzeitig greift eine Art schmerz- licher Resignation durch, unter deren Quietiv der Kranke, vom Stand-

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Das degenerative erbliche Irresein

die Moral Insanity.

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punkt des Ueberwundenen aus, weniger lebhaft mehr gegen seinen Wahn reagirt, und als stiller Dulder nur noch um Schonung und Gnade bittet.

Die Behandlung kann nur in einer Anstalt durchgeführt wer- den, und hat bei dem polymorphen Wechsel der Zustandsbilder die- selben Indicationen wie letztere, wenn sie nicht- originär auftreten. Nicht selten werden die Kranken nach einem temporären Asylaufent- halt wieder auf Jahre hinaus „ganz patent".

£. Bas degenerative erbliche Irresein die Moral Insanity.

Unter dieser Bezeichnung sind alle Krank heitszustände zusammen- gefasst, in welchen ein Mangel oder eine Perversion der ethischen Gefühle (mit entsprechenden Handlungen), neben einer mehr oder weniger erhaltenen Intactheit der intellectuellen Sphäre, das vorwal- tende klinische Symptom bildet. Der „sittliche Blödsinn" ist an sich keine selbstständige Krankheitsform; derselbe erhält vielmehr erst kli- nische Grundlage und Boden durch den concreten psychischen Zustand (resp. Cerebralaffection), auf welchem er erwächst. Als solche kennen wir gewisse manische Zustände, namentlich von periodischem oder circulärem Charakter, hysterische, alkoholistische, paralytische, epi- leptische und traumatische Psychosen. Bei allen diesen kann vor- übergehend oder dauernd die in Rede stehende sittliche Schwäche form gebend, nnd bis zu einem gewissen Grade unabhängig von dem gegentheils oft auflallend geschonten Verstände, auftreten, als eine Modificirung des Symptomencomplexes ; man spricht dann von einer mit Moral Insanity complicirten Manie, oder von einer in Moral In- sanity Ubergegangenen hysterischen, manischen u. 8. w. Seelenstörung. Die Nomenclatur verfuhrt dabei wie bei gewissen Entwicklungsweisen des Delirium acutum : wie dieses letztere sich an verschiedene psycho- pathiscbe Zustände anschliessen, aber auch ebenso primär in Scene treten kann in beiden Fällen und Entstehungsweisen aber als so Ich es einen klinisch geschlossenen und im Verlauf übereinstim- menden Symptomencomplex darstellt so ist es auch bei der Moral Insanity der Fall. Ausgehend (nach der einen Form) von einer here- ditären Neurose, welche bereits die wesentlichen Züge des späteren Krankheitsbildes mitbringt, bildet sie die einfach natürliche Weiter- entwicklung jener Anlage. Dieser typischen, reinen, Gruppe steht die erworbene Moral Insanity gegenüber, welche in dieser Gestalt (theil-

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Das degenerative erbliche Irresein

die Moral Insanity.

weise) zugleich die degenerativen Formen der zugehörigen Psycho- neurosen vereinigt: in dieser zweiten Gruppe ist auch die intellectuelle Sphäre, der vorausgegangenen klinischen Entwicklung entsprechend, inhaltlich mehr oder minder gefälscht (s. u.). Aber die Wahngedanken sind auch hier nicht tonangebende Motive für das perverse Handeln, sondern theils nur vage, die Stimmung begleitende und allegori sirende Schemata (gewöhnlich als Verfolgungswahn), theils den anomalen ethischen Empfindungen und Drängen angehängte Erklärungen. Es können übrigens auch die erworbenen Zustände nach dem ersten Typus einer wahnfreien allgemeinen „psychischen Schwäche" (s. d.) verlaufen.

Zum psychologischen Verständniss muss hier vorausgeschickt werden, dass die Wurzel unseres sittlichen Fuhlens die Befähigung zum „Mit- leid" — mit unserem inneren Selbst zusammenhängt, und als eigentlicher Kern unseres Individualcharakters uns angeboren ist. Was wir sittlich sind, bringen wir mit; was wir sittlich werden, ist das Werk der äusseren Umstände: des Lebens und speciell der Erziehung. So unend- lich viel diese vermag, so kann sie doch nie jenen Kern ändern; sie kann wohl hemmen und einschränken, durch die Motive der Belohnung oder Bestrafung eine Richtschnur für das praktische sittliche Auftreten des Einzelnen schaffen ; aber die unbewusste Werthschätzung im sittlichen Gefühle, d. h. jene innere Nöthigung, wornach wir den Gedankeninhalt nicht mehr nach dem Utilitätsprincip , sondern an unserer menschlichen Bestimmung messen vermag Erziehung allein nicht zu schaffen. Ob wir altruistisch oder egoistisch zu fühlen vermögen, ist im Wesentlichen nicht unser Werk, sondern unsere Mitgift. Es gibt aber darin erfabrungs- gemäss in gleicher Weise Stiefkinder der Natur, wie in der intellectuellen Begabung: den Genie's der Humanität stehen die sittlichen Idioten gegen- über. Es ist oben angeführt worden, dass die grundliegenden Defectzustände auch erst erworben werden können, gerade wie eine Farbenblindheit an- geboren oder durch ein Hirnleiden acquirirt sein kann. Bildlich gespro- chen, ist die geistige Netzhaut dieser Menschen anästhetisch, und letztere in Folge davon ethisch blind. Auszeichnend ist dabei die relative Un- abhängigkeit dieses Symptoms von der (in der Regel) ungleich geringeren Schädigung des Vorstellungslebens. Der Verstand schlechthin als lo- gische Function aufgefasst ist, von seinem Inhalt abgesehen, formell intact, und vornehmlich darin gestört, dass der oft nicht geringe Scharf- sinn im Schlepptau der perversen Antriebe oder Neigungen hängt, und trotz seiner Leistungskraft unfähig ist wirksame Gegenmotive zu erzeu- gen. Es ist die sog. raisonnirende Denkstörung, wobei der Intellect zum „Advocatus diaboli" der anomalen Gemüthsrichtungen erniedrigt ist. Von diesem Standpunkte aus erscheint das oft glänzende Rechtfertigungsplai- doyer so recht als ein Zwangspensum, dessen der Verstand sich ent- ledigen muss, und seine scheinbare Schärfe im Grunde als eine geist- reiche Bornirtheit; er muss einfach gutheissen, was der kranke Wille dic- tirt hat. Es gibt nun freilich im Gebiet dieser sittlichen Defectzustände auch eine Menge wirklich Schwachsinniger in allen Graden und

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Allgemeines klinisch und psychologisch.

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Nuancen der Imbecillität: intellectuelle Idioten neben den sittlichen. Aber in bemerken 8 werther Weise überragt in der Regel auch bei diesen tiefsten Entartungsgraden der ethische Mangel den intellectuellen. Viele solcher Kranker sind theoretisch in ihrem Katechismus sehr gut zu Hause ; sie wissen viele erbauliche Sprüche herzusagen Uber Das, was man thun und lassen soll aber praktisch stehlen und lügen oder morden sie; sie besitzen wohl die abstract ethischen Vorstellungen, aber diese sind concret nicht erregbar. Mit diesem letzteren Moment ist ein noch näherer Punkt für das psychologische Verständniss vieler Moral Insanity-Fälle be- zeichnet. Der sittliche Defect äussert sich in der Unerregbarkeit, in der mangelnden Gefühlsbetonung der ethischen Vorstellungen. Letztere sind also nicht immer nur fehlend ; sondern sie können gegentheils vorhanden, aber praktisch im gegebenen Momente nicht verwendbar sein. Dieselben sind nicht reactionsfähig, d. h. sie vermögen im Kampf der Motive nicht aufgerufen zu werden. Es ist ein abstractes Wissen, aber kein „Wissen durch Mitleid", wodurch allein wir sittlich zu fühlen und zu handeln vermögen.

Diesem psychologischen Modus des sittlichen Blödsinns steht nun ein zweiter gegenüber, welcher nicht auf einem Mangel oder einer Stumpfheit der ethischen Gefühle sich aufbaut, sondern vielmehr auf einer übergrossen emotiven Reizbarkeit, so dass in der Ueberstürzung die höheren sittlichen Urtheile nicht zu Stande kommen, oder aber gegenüber den lebhaften egoistischen Drängen keine wirksame Geschäftsbetonung zu gewinnen vermögen. Charakterologisch treffen hier grundlegend zusam- men: 1. ein Uberwiegender Drang nach äusserem Schein und Geltung, getragen von eitler Selbstüberschätzung; 2. eine reizbare Verletzlicbkeit bei Versagung eines Wunsches mit leidenschaftlicher und rücksichtsloser Reaction: hyperästhetisch für die eigene Person, anästhetisch für die Andern; 3. ein anscheinend intactes Vorstellungsleben, welches aber nur zu raisonnirender Dialektik sich zu erheben weiss, sonst seicht und ober- flächlich ist, seine inneren Widersprüche nicht corrigirt, in schönen Phra- sen flunkert, in allen Gebieten herum dilettirt aber nach produetiver Richtung steril und zerfahren ist. Es sind die psychologischen Prämissen, wie sie sich in dem 3. und 5. und namentlich 7. Typus des hysterischen Irreseins (s. d.) aus der constitutionellen Neurose heraus entwickelten, und als reizbare Moral Insanity das Wesen der hysterischen Degene- ration ausmachen. Oft treten dieselben nur periodisch (resp. circulär) in die Erscheinung. Als ständige Folie geht ein universelles Misstrauen mit einher, welches sich vorübergehend in einem exstapitirten Verfolgungs- wahn auslassen kann.

Ueber körperliche Symptome, speciell Schädelanoma- lie en 8. Idiotismus u. orig. Verrücktheit.

Krankheitsbild.

Die Entwicklung der angeborenen Form zeigt von früh auf das- selbe Symptomenbild wie die hereditäre Neurose; nur mischen sich hier bald schon die Zeicheu aus der perversen (defecten) ethischen Anlage bej. Es sind nicht bloss eigensinnige, launenhafte, übermässig

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Das degenerative erbliche Irresein

die Moral Insanity.

egoistische, sondern im wahren Sinne „unkindliche" Kinder. Sie zeigen keine Pietät gegen die Eltern, keine Anhänglichkeit an die Geschwister, kein Mitgefühl für Thiere; Belobung oder Bestrafung geht an ihnen vorUber. Zuspruch macht sie verstockter oder lässt sie gleichgültig. Frühe schon zeigt sich ein unheimlicher Zug nach dem Schlimmen und Verbotenen, welcher verschärft wird durch die immer raffinirtere Art der Begehung. Lüge und Verstellung, worin das Kind trotz der besten Erziehungsiii übe sich oft Uberraschend vir- tuos zurecht findet, werden Mittel zum Zweck; für Zufriedenheit oder Trauer der Eltern besteht keine oder nur ganz flüchtige Empfindung, dagegen ein um so entschlossenerer Trotz, wenn energische Besse- rungsversuche gemacht werden. Immer kommen neue Rückfälle. Nicht selten erschrecken frühe schon schwerere Charakterzüge : Nei- gung zum Stehlen, Bosheiten, ja selbst Grausamkeit gegen andere Gespielen. Der Knabe, welcher einen Kameraden wegen eines leich- ten Streites ins Wasser warf und den fast Ertrinkenden nochmals vom rettenden Ufer wegstiess, hatte schon P ine Ts Aufmerksamkeit er- regt. — Die Schule bringt keine oder nur oberflächliche Aenderung. Ist der junge Patient intellectuell schwach begabt, so wird dieser Defect nunmehr an den fruchtlosen Anstrengungen des Lehrers ent- hüllt. Sind geistige Anlagen da, so zeigen sich in diesen auch ent- sprechende Fortschritte. Aber die geistige Entwicklung erweist sich bald als eine verhängnissvoll ungleiche: neben einseitiger Begabang steht eine unverbesserliche Beschränktheit, neben der (oft auffallen- den) Fähigkeit für einzelne Fächer bleibt eine Dummheit für die einfachsten Dinge. Nicht selten zeigt sich jetzt schon ein perio- discher Zug im Entwicklungsbild: Episoden von Interesse und gei- stiger Lebendigkeit wechseln mit Phasen einer plötzlichen Faulheit, ja Stupidität. Mit den erweiterten geistigen Beziehungen verschärft sich der ethische Defect, namentlich bei den reizbaren Naturen. Sind die Kinder bis dahin nur durch periodische Indolenz die schlechten Beispiele gewesen, so werden sie jetzt bei strafendem Entgegentreten zu Feinden der Disciplin, bald in offener Auflehnung, bald in heuch- lerischer Minirarbeit. Was sie einzig noch eine Zeit lang einschränkt, ist die Furcht. Aber auch darüber schreiten sie weg und drohen bald mit Repressalien, namentlich mit Selbstmord, wozu sie nicht selten theatralische Vorbereitungen in Scene setzen, um bange zu machen und sich interessant. Zu demselben Zwecke werden Krank- heiten (Blutspeien) simulirt. In das sterile, durch keine höheren Ziele namentlich durch keine Herzensbeziehungen geleitete, Gemüthsleben tritt immer mehr eine Verbitterung gegen die Umgebung oder eine

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Krankheitsbild. Entwicklung. Irresein der Bummler und Vagabunden. 491

einfältige Eitelkeit ein. Beide befestigen sich zu bleibenden und trei- benden Motiven des zunehmenden Egoismus. Gegen Eltern und Men- toren wird Krieg geführt, gegen die Umgebung der Aufsehen er- regende Bramarbas gespielt.

Manchmal scheint allerdings die Prahlsucht, welche die Kranken zu sinnlosen Geldverschleuderungen und zu einer förmlichen Schenkwuth treibt, mehr aus dem inneren Gefühl der Schwache und dem BedUrfniss, an Andere sich anzulehnen, ihren Ursprung zu nehmen. Bemerkenswerth ist die manchmal isolirte Triebrichtung auf den Besitz gewisser Gegen- stände (Portemonnaie^, Photographieen), welche oft hundertweise, sei's mit eigenem, sei's mit erborgtem Gelde zusammengekauft werden, um un- benutzt dann in einer Ecke zu verstauben.

Im Uebrigen wird gelogen und verleumdet ein ungarischer Sensationsprocess aus den jüngsten Tagen hat einen solchen trau- rigen Helden wieder zu Tage gefördert manchmal auch ein cri- mineller Act begangen, welcher den Irrsinnigen als jugendlichen Ver- brecher vor die Assisen führt. Von jetzt an bleiben bei den Meisten die Conflicte mit dem Strafgesetz auf der Tagesordnung (Diebstähle, Vagabondage, Brandstiftungen).

Das Irresein der Bummler und Vagabunden recrutirt seine Mannschaft aus diesen moralisch defecten Menschen, und zwar gibt es deren eine nicht kleine Zahl, welche ihr ganzes Leben diesem professio- nellen Sport widmen, unbelehrt durch die noch so zahlreichen Gefängniss- strafen und Erduldungen. Meist wird noch allerhand sonstiger Schwindel mit betrieben, namentlich die Annahme falscher Namen, mit allerlei roman- haften Erdichtungen über ihr Vorleben deren Wahrheit für den Psychologen darin besteht, dass dieselben, ihrem Kerne nach, ein Ge- mische von Verfolgungswahn und Grössenideen enthalten, vielleicht halb Einfall, halb Mache darstellen, aber mit der Ueberzeugungskraft des Wahn- sinns für deren Träger ausgerüstet sind. Eher Noth und Entbehrung und gerichtliche Strafen, als ein Jota des erträumten Stammbaumes auf- geben! Allermeist trägt auch das Aeussere dieser unglücklichen Stief- kinder des Schicksals die Merkmale der Degenerescenz in Gesichtsinner- vation und Schädelbau (s. diese). Bei sehr vielen der hieher gehörigen Krankheitsbilder wird das klinische Endschicksal durch Alkoholismus, dem sie verfallen, mitbestimmt.

Auch hier tritt wiederum das periodische Moment bei manchen dieser Kranken zu Tage. Nicht anhaltend kehrt sich die instinetive Bösewicbtsnatur heraus, sondern nur zeitweise, aber dann rücksichts- los und triebartig, ohne jede Erwägung der möglichen Consequenzen, ja sogar der Selbstschädigung. Der manische Drang wird zum ge- bieterischen Impulse, gehäufte Vergehen, sinn- und zwecklos, werden ins Werk gesetzt, und das Krankhafte des perversen Handelns durch dasselbe manisch erregte Vorstellen (in Form der raisonnirenden Dia- lektik) rabulistisch zu vertuschen gesucht

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Daa degenerative erbliche Irresein

die Moral Insanity.

Fast ein jedes Vorleben dieser durch ihre Krankheit unseligen Störenfriede jeder häuslichen und bürgerlichen Ordnung enthält eine Aufzählung der in bester und erwogener Absicht unternommenen Cor- rectionsversuche an diesen Kranken. Sie wandern von einer Lehr- stelle zur andern, von einem Erziehungsinstitut zum zweiten und dritten, von da wieder reumüthig und mit allen Vorsätzen ins Elternhaus. Dann beginnt der alte Turnus wieder, gewöhnlich mit demselben Misserfolg. Immer sind „die Andern" daran schuld; sie selbst, auf der That ob ihrer Apathie und Interesselosigkeit ertappt, rechtfertigen sich durch Ausfluchte wegen erfahrener Übelwollender Behandlung, oder auch wegen hypochondrisch aufgebauschter Körper- beschwerden.

Tritt dann mit den Pubertätsjahren (oder schon früher) auch das sexuelle Moment in Bewusstsein und Streben des Kranken, so wer- den weitere verhängnissvolle Wege erschlossen. Ausser cynischer, oft geradezu bestialischer Befriedigung in natürlicher Weise, brechen sich sehr häufig masturbatorische Excesse oder perverse sexuelle Richtungen Bahn (Päderastie, Sodomie, Nothzuchts vergehen), und er- öffnen neue Conflicte mit dem Strafgesetz.

Das Mannesalter findet den unreifen Charakter des hereditären Neurotikers vor, verschärft durch egoistisch genusssttchtige Tendenzen mit rücksichtslosem Befriedigungsdrang. Dasselbe erschliesst die Ge- wohnheitssäufer, Spieler, Spectakeimacher, Processkrämer.

Intellectuell imponiren viele dieser Defect- oder Entartungsmenschen noch als „ganz correct", manche sogar als raffinirt schlau ; aber die Schärfe des Verstandes bleibt auch jetzt nur eine scheinbare, eminent einseitige, das Urtheil vorgefasst, sehr häufig durch die egoistischen Prä- missen eines vagen Verfolgungs- oder Eitelkeitswahnes dictirt, und nur nach formaler Seite geschont. Bei nicht Wenigen wuchert Hand in Hand mit der geistigen Beschränktheit eine um so schrankenlosere Phantasie und abenteuerliche Plänesncht (Streifzttge im amerikanischen Urwald, Jagden auf Löwen u. s. w.). Nicht selten entdeckt man auch Reproduc- tionsfälschungen (wie bei den Hysterischen), einen unbewusst sich ändern- den Bewusstseinsfocus, von welchem die Wahrnehmungen und Urtheile und damit auch die Stimmung eine beständig wechselnde Beleuchtung erhalten. So erklärt sich manche Gesinnungslosigkeit und Lügenhaftig- keit dieser Menschen als eine durch die Störungen in den Associationen ihnen auferzwungene.

Zahllos sind auch hier wieder die Gesetzesübertretungen, un- zählig die häuslichen Wunden, welche dem ehelichen Zusammen- leben durch den indolent apathischen, oder aber flatterhaft reizbaren, egoistisch leidenschaftlichen Kranken geschlagen werden. Soldaten

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Krankheitsbild. Pubertätsjahre. „Reizbare Form" bei Frauen. 493

machen eich fortgesetzter Insubordinationen schuldig, wogegen die schärfsten Disciplinarstrafen nicht aufkommen.

Speciell für weibliche Kranke bildet der Eintritt in die Ehe die verhängnissvollste Etappe für die Entfaltung des sittlichen Gemüthsdefects, gewöhnlich in seiner reizbaren Form. Leichtsinnig und nur durch Ge- nus8sncht und Eitelkeit verlockt, wird der ewig bindende Schritt voll- zogen; aber schon die Flitterwochen streifen die Maske ab. Man erlebt es, dass bereits auf der Hochzeitreise Fluchtversuche inscenirt werden um die Erfüllung von Bagatellen zu erpressen. Gegen Gravidität be- steht eine sofort dem Manne offen mitgetheilte Abneigung; tritt erstere dennoch ein, so wird die „Mutterliebe" in Form zorniger Aufwallungen und Verwünschungen gegen den Mann und das zu erhoffende Kind ge- äussert. Nach der Niederkunft wird unverhohlene Gleichgültigkeit gegen das Kind geübt; leichten Herzens wird es einer beliebigen Amme Uber- geben, weil „die Mutter" nichts „von ihrer Schönheit einbüssen will". Aber als Mittel für die Erreichung egoistischer Zwecke kommt das Kind wiederum sehr gelegen : wird von jetzt an ein Wunsch von Seiten des Man- nes versagt, so erfolgt als Repressalie offene Misshandlung des Neugebore- nen, oder selbst Androhung von dessen Tödtung. Derselbe Turnus kehrt, nur verschärft, in den folgenden Schwangerschaften wieder. Die Gewiss- heit einer neuen macht die „Mutter" erst wüthend, danu gegen den Mann drohend, wobei lachend die tiefsten Kränkungen, nicht wiederzugebende Cynismen, ausgesprochen werden. Und dabei ist die Kranke stets die Zurückgesetzte, vom Manne so schlecht Behandelte, dass sie ihre Revanche in Verleumdung desselben bei Dienstboten, im Ausplaudern ehelicher Ge- heimnisse zu nehmen sich nicht verwindet! Sie ist immer im Recht; ihre raisonnirende Dialektik bleibt unerschöpflich im Aufstellen erlogener, im Verdrehen wirklicher Thatsachen. Bodenlose Verschwendung, oft mit Hilfe von Entwendungen, unsinniges Anhäufen von kostbaren Kleidern, ein Modeleben nach den barocksten Einfällen, schrankenlose Eitelkeit mit der Sucht sich als „Jugend" hervorzuthun füllt das Tagesbewusst- sein, welches für den Rückgang des Vermögens, für die tausenderlei schmerzlichen Scenen im Hause, für den Ruin alles Familienglücks keinen Raum hat. Die Kranke fühlt es nicht. Auf ernstliche Entgegnungen und Versagungen wird mit Selbstmord gedroht, ein- oder das anderemal auch eine Entweichung in Scene gesetzt, um heimgeholt das alte Lied wieder zu beginnen. Die Kinder werden nicht erzogen, oder durch das leidenschaftliche Wesen verzogen; herzlos wird ihnen die Verbitterung gegen den eigenen Vater eingeflösst. Nicht so selten greift bei der liber- tinen Persönlichkeit, welche für sich jede Freiheit beansprucht, und nicht selten in ihren Zornwallungen androht „in ein Bordell sich aufnehmen zu lassen", gegen den Mann ein Eifersuchtswahn Platz, welcher sich nicht scheut im geeigneten Momente zum Revolver zu greifen, und ernst ge- meinte Angriffe zu machen. Mit den Erregungsperioden lösen sich Phasen von Abspannung ab, in welchen die Kranke sich misstrauisch abschliesst, die Melancholische spielt manchmal diese aber auch wirklich ist.

Denn nicht immer, ja glücklicherweise in den selteneren Fällen, wird die nach dem Leben gezeichnete obige Entwicklung bis zur

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494 Das degenerative erbliche Irresein die Moral Inaanity.

äussersten Grenze abgewartet. Allermeist greift in dieser oder jener Weise die beschränkende Hand ein, entweder als strafende Themis, oder als rettendes Asyl. Aber hier oder dort kommt die perverse Triebrichtung nicht zur Ruhe ; auch unter den hemmenden Schranken der Hausordnung lässt sich der dämonische Drang nicht zügeln, das geftihlsstumpfe Phlegma nicht beleben. Die Kranken bleiben die in- dolenten oder geschworenen Feinde des Zusammenlebens; sie intri- guiren und wühlen, heucheln und trotzen, versuchen pietätlos das äusserste Mittel des Widerstandes, sind erfinderisch in der berech- neten Täuschung, verwegen im offenen Sich-Auf lehnen, und bilden dadurch die schwerste Plage eines Anstaltslebens. Für ihr perverses Gebahren, für gelegentliche Schädigungen Anderer empfinden sie keine Reue sie bleiben stumpf und gleichgültig, oder „im Recht".

Die Krankheit selbst macht im Weiterverlauf, und ganz beson- ders unter dem Zwang der unerlässlich gewordenen Freiheitsberau- bung, nicht selten einen geänderten Decursus. Die häufigste Modi- fication bilden intercurrente Manieen. Diese können sich entweder auf einem höheren psychischen Niveau abspielen, und in rastlosem Drange nach eigenmächtigen Eingriffen in die Anstaltsordnung, in das Privatleben der anderen Kranken, in die Vorschriften des Arztes sich entäussern, dabei getragen von Selbstüberschätzung, von einer durch Launen und Einfälle geleiteten reizbaren Verstimmung, und einem gemüthlosen, oft brutal rohen Egoismus. Oder aber: die krank- hafte Erregtheit spielt sich eine oder einige Stufen tiefer ab als ein cynisches Gebahren, als ein Drang zu zerstören, zu schmieren, Andere zu schädigen, und dies nicht in der triebartigen Weise einer entfesselten Bewegung mit entsprechender Verwirrung und senso- rischer Betäubtheit, sondern gegentheils mit dem Anschein der üeber- legung, der geschäftigen und dabei in immer neuem Raffinement sich behagenden Bosheit. Immer nämlich und Das ist für diese Zu- stände bezeichnend bleibt der Verstand bis zu einem gewissen Grade inmitten dieses perversen Treibens erhalten; aber in der Regel nur, um ex post in verkniffener, oft recht windiger Dialektik das zu rechtfertigen, was er zuvor nicht hemmen konnte (s. oben). Es kann keine herbere Satire auf das „freie" Wollen geben, als diese anschei- nend correcten, zielbewussten und zäh vertheidigten Acte des auf- geregten moralisch-Blödsinnigen: unter der Maske gewollter Bosheit sind sie die aufgedrungenen Reflexe einer gereizten Verstimmung, eines psychomotorisch krankhaft erregten und ethisch geschwächten Gehirnlebens. So bildet auch die nachträglich rechtfertigende Dia- lektik nur die traurige Persiflage auf die „Stärke" eines bloss for-

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Krankheitsbild. Die „degenerativen" Manieen. Ausgange. 495

malen Verstandes, welcher keine wirklichen Motive, geschweige Gegenmotive, aufzubringen vermag, sondern nur fingirte, und mit aller seiner Klügelei und imponirenden „Gescheidtheit" nur den un- geheuren auch intellectuellen Blödsinn verdeckt, welcher die grobe, ihm mitgespielte, Täuschung nicht merkt.

Es ist hierbei zu bemerken, dass diese manischen Zustände ausser der eben geschilderten Entwicklung (auf originär defecter Gemüthsgrund- lage) auch erworben werden können, und zwar als Wirkungen resp. Ausdruck einer cerebralen Degeneration, sei diese aus gehäuften An- fällen einer gewöhnlichen Manie, oder durch eine mehr specifische con- stitutionelle Schwächung (Alkohol-Sexual-Excesse) allmählich erst heraus- gebildet. Auch viele circuläre Manieen verlaufen unter dem beschriebenen Bilde ; ebenso gewisse periodische Typosen (s. d. ). Ich möchte diese ein- schlägigen Zustände sämmtlich als degenerative Manieen zusam- menfassen, wobei die Bezeichnung „Manie" nur den kurzen Ausdruck für das äussere Bild und die innere krankhafte Aufregung abgeben soll, aber das Wesen des Zustandes in dem „degenerativen" Momente gelegen bleibt : in der theilweisen Erhaltung des Intellectes neben dem Delirium der Handlungen, und speciell in dem sittlichen Schwach- oder Blödsinn. Die bezüglichen klinischen Zustände zeichnen sich sämmtlich auch durch ihre polymorphe Gestaltung und ihren gewöhnlich periodischen Verlauf aus (8. „Degenerescenz" unter heredit. Neurose).

Das fernere Krankheitsbild dieser degenerativen Erregungszu- stände umfasst die Weiterentwicklung der betrachteten psycho-patho- logischen Elemente.

Die internirten Kranken verbleiben oft auf Monate und Jahre in der psychomotorischen Aufregung mit allen Entäusserungen eines raffi- nirten Cynismus: sie zerreissen, schmieren, treiben schamlos Obacönitäten ; und dies nicht nur aus dem Heiz der Selbstbefriedigung, sondern auch um damit Andere zu verletzen und zu kränken. FUr sich verschlucken sie unter lachender Renommage Steine, Glas, lebendige Käfer u. 8. w., um den Arzt zu beunruhigen und ihm MUhe zu machen. Die Stimmung ist frivol oder mnthwillig boshaft, und stets mit ihrer Spitze gegen die Umgebung gerichtet; das Benehmen hinterlistig, lügenhaft, heimtückisch heute Intrigue und offene Chicane, Morgen lammfromme Heuchelei. Keine ethische Verirrung liegt zu ferne, um nicht gelegentlich geübt zu werden. Ausser der eigenen Frivolität in Wort und That werden auch andere Kranke zu verleiten gesucht (zur Untergrabung der Hausordnung, aber auch zu sexuellen Excessen); daneben wird gestohlen und frech ge- leugnet oder brutal verhöhnt; hilflose Kranke werden im Vorübergehen gestossen, bis aufs Blut gekniffen, oder an den Haaren gerissen ; Andern die Kleider oder Speisen in hässlichster Weise (hinterrücks) beschmutzt oder zerstört. Mit offenen und verdeckten Waffen wird gegen jede auf- keimende bessere Richtung Krieg geführt, Zuspruch wird mit Lachen, ernsthafte Entgegnung mit Spott, mit Zuschlagen und gefährlichen Be- drohungen erwidert. Der Zustand verläuft exacerbescirend - remittirend ; in den Remissionen tritt gewöhnlich eine gewisse Abspannung mit

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Das degenerative erbliche Irresein

die Moral Insanity.

Indolenz auf manchmal fehlt selbst ein leises Krankheitsgefühl mit serviler (berechneter!) Dank- Aeusserung gegen die Anstalt nicht. Mit jedem Rückfalle schwinden diese letzten Reste natürlicher Gemttths-Re- gungen mehr und mehr, und die Kranken werden zur wahren „Pest" eines Asyllebens. In seltenen Fällen gelingt es noch den perversen mo- torischen Drang in geordnetere Bahnen zu leiten ; aber der geistige Zer- fall wird in der Regel dadurch nicht aufgehalten, sondern nur verzögert (freilich schon ein Gewinn!). Anderemale spielen sich die Einzelan- fälle der manischen Moral Insanity in grösseren, durch Jahre getrennten Pausen (periodisch) ab.

Ein anderer Ausgang der Moral Insanity ist in chronischen Ver- folgungswahnsiDn. Nicht selten treten auch acute hallucinatorische Episoden auf. In wieder anderen Fällen endlich bleibt das Krank- heitsbild für das ganze Leben stationär (resp. langsam fortschreitend zum Blödsinn); durch die äussere Dressur des Anstaltsmechanismus und dessen innere sittliche Disciplin und Leitung werden die schlim- men ethischen Richtungen im Zaume gehalten; so findet, innerlich und äusserlich gestützt, mancher dieser Kranken in dem vielgliedri- gen Organismus des Asyls ein Plätzchen, wo er sein bescheidenes Können einigermaassen nutzbringend noch verwerthen kann. Viele erlangen dabei im Laufe der Zeit eine wirkliche Besserung, so das* sie ein geordnetes Leben auch draussen wieder zu führen vermögen, wenn auch als bleibende geistige Invaliden.

Eine richtige und erfolgreiche Behandlung kann nur in einer Anstalt stattfinden. Dieselbe muss eine ebenso sorgsam psychische (ärztlich -pädagogische), als eingehend somatische sein. Bezüglich der ersteren gelten die früheren, speciell bei der Hysterie aufgestell- ten Gesichtspunkte ; nach Seite der letzteren werde keine körperliche Functionsstörung für zu gering genommen ; die erfolgreiche Cur man- cher tief gehenden Anämie (namentlich mit Menstruationsstörungen und Sexualreizen) hebt nicht nur die intellectuelle, sondern auch die temporäre sittliche Schwäche! Angeborene und bleibende sittliche Idioten werden am besten dauernd in die Welt eines ländlichen Asyls (Irreucolonie) verpflanzt; dort können sie auf der Höhe der Menschen- würde gehalten werden, finden als die bedauernswerthesteu aller Sterblinge ihr Recht, und andrerseits die sociale Gesellschaft den ihr gebührenden Schutz (Verhütung von Delicten und namentlich auch von Descendenz!).

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Der Idiotismus. 497

Der Idiotismus.

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Darunter versteht man summarisch sämmtliche Zustände der angeborenen oder in früher Jugend erworbenen psychischen Defecte.

Die Versuche einer Eiutheilung idiotischer Zustände können ausgehen 1. vom rein psychologisch-klinischen Standpunkt; 2. von dem Bestreben durch Zusammenfassen der psychischen und phy- sischen, namentlich kraniologischen, Merkmale „natürliche Familien" zu bilden.

Die Versuche, vom ätiologischen Standpunkt aus eine schärfere Ein- theilung zu gewinnen, siud hier, wie auch in den übrigen psychischen Hirn-

Schule, Geisteskrankheiten. 3. Aufl. 32

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Der Idiotismus.

affectioneu, noch als verfrühte und gekünstelte zu betrachten; wohl aber kann der ätiologische Gesichtspunkt (wie dort) zur Nuancirung einzel- ner Unterabtheilungen benutzt werden. Eine Eintheilung ausschliess- lich von der Sprache aus lässt sich nicht durchführen, weil wir es bei den Idioten durchaus nicht bloss mit intellectuellen Störungen zu thon haben.

Psychologisch klinische Eintheilung.

Da es sich bei sämmtlicben Zuständen der Idiotie um Hemmung der psychischen Entwicklung handelt, so liegt es nahe eine Ein- theilung in der Art zu versuchen, dass man, entsprechend den ein- zelnen Formen normaler Entwicklung, einzelne Stufen geistiger Hem- mungsbildung unterscheidet. Für einen grossen Theil der IdioteD, die „Schwachsinnigen" in dem unten zu definirenden Sinne, ist dies bis zu einem gewissen Grade auch möglich.

Für die tiefststehende Form der Idiotie, den „idiotischen Blöd- sinn", Hesse sich aus den empirischen Krankheitsbildern eine Ana- logie mit der kindlichen Entwicklung nur in gezwungener Weise beiziehen.

Der fundamentale Unterschied zwischen anergetischer und ere- thischer Schwäche lässt sich durch sämmtliche Stufen der Idiotie hindurch verfolgen, wenn auch oft nur spurweise. Am schärfsten ist er ausgeprägt in der hochgradigen Form des idiotischen Schwach- sinns, weniger in den mittlem und leichtern Formen und im Blöd- sinn. Aber auch bei jenem gibt es Fälle, welche nicht ganz leicht zu rubriciren sind. So findet oft ein fortgesetzter Wechsel der Vor- stellungen, eine beständige Ablenkung durch äussere Eindrücke statt; der Kreis der Vorstellungen, in welchem, wenn auch in fortwähren- dem Wechsel, der Kranke sich bewegt, ist so klein, dass derselbe trotz (vielmehr in Folge) der erethischen Unruhe ein „anergetisehes" Gepräge erhält.

1. Der idiotische Blödsinn.

Dunkles Triebleben. Fehlendes Bewusstsein; Sprachlosigkeit. Nur unarticulirte Aeusserungen von Lust- und UnlustgefUhlen, welche lediglich von grobsinnlichen Eindrücken abhängig sind. Keine Apper- ception. Automatische Bewegungen. Das ganze motorische Ver- halten hat den Charakter einfacher Reflexaction. Gedächtnis*, Vor- stellung von Raum und Zeit nur spurweise. Unfähigkeit zu weiterer Entwicklung. Zwischen dem blödsinnigen Kranken und dem psy- chischen Normalmenschen fehlt die Brücke intelligenten Verkehrs auch von einfachster Form.

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Psycbolog. klinische Eintheilung. Der idiotische Blödsino. 499

Klinische Symptome.

a) Das Selbslbewusstsein fehlt ; die Perceptionsfähigkeit ist ent- weder gleichfalls fehlend, oder auf die primitivste Stufe eingestellt (höchstens Wahrnehmung fllr grelle SinneseindrUcke). Das Gedächt- niss ist, wenn Uberhaupt vorbanden, in derselben Weise rudimentär (manchmal primitives Wiedererkennen von Personen, oder Erinnerung an Aufbewahrungsorte für Näschereien). Manchmal zeigt sich etwas Sinn für musikalische Töne. Das intellectuelle Leben fehlt vollständig; die Kranken können nicht lesen und schreiben, vielleicht bis auf 10 zählen. Bezüglich des Sprach de fects ist bemerkens- werth, dass einzelne Kranke in den ersten Jahren Sprechversuche machten, aber das Errungene in der Folge wieder einbüssten. Sie gebrauchen dann noch einzelne Worte in sinnlosem unverstandenen Geplapper (manchmal mit dem Tonfall eines rasch redenden Men- schen). Die vicariirenden sprachlichen Aeusserungen bestehen, wo sie vorhanden, in unarticulirten Lauten (Schreien oder kläglichem Aechzen), welche zur Unlustbezeichnung mitunter verstärkt vor- gestossen werden. Geruch und Geschmack ist sehr oft vollständig fehlend, so dass die Kranken alles Hässliche anstandslos verschlingen oder benagen.

b) Haltung und motorische Functionen. Der Gesichtsausdruck bietet die verschiedensten physiognomischen Typen, mit oft propor- tional wohlgestalteten Zügen, aber einer desto grellern geistigen Leerheit. Manchmal ist eine primitive mimische Begleitbewegung für Lust- und Unlustgefllble zu bemerken. Interessant ist, dass der Gesichtsausdruck des Schlafenden oft ein überraschend ange- nehmer und freundlicher ist, während die wache Miene nur eine schlaffe Maske zu Stande bringt. Manche zeigen choreatische Stö- rungen im Gesicht oder in der Körperhaltung, Andere eine allgemeine Unruhe in allen Gliedmaassen; wieder Andere athetotische lebhafte Gesticulationen in den Händen, wiegende Bewegungen mit dem Ober- körper, Krämpfe im Kopfnicker etc. Die coordinirten Körperbewe- gungen fehlen oft ganz, so dass der Kranke zu hilflosem Daliegen verurtheilt ist; anderemale sind dieselben für die einfachen Greif- und Essbewegungen vorhanden. Einzelne Kranke lassen sich beim Gehen nachziehen, wie gewisse Betrunkene. Nicht selten ist die motorische Kraft vermindert bei Spannung der Körpermuskulatur. Hin und wieder findet sich partielle Muskelatrophie mit Lähmung, oder Tremor, oder Intentionszittern. Viele zeigen partielle Contrac- turen oder Klauenstellung der Hände. Sie müssen zu allen Bedürf- nissen angehalten, gefüttert, an- und ausgezogen werden. Sehr oft

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Der Idiotismus.

versagen die Sphincteren den Dienst; manchmal ist auch der Schling« apparat defect (s. u. körperliche Begleiterscheinungen).

c) Affective Seile. Auf der tiefsten Stufe werden Lust- und Un- lustgefühle nicht unterschieden; es besteht völlige Indolenz; die Miss- stimmung äussert sich nur durch heftigeres Schreien (s. o.), die Euphorie durch Ausstossen von unarticalirten andern Tönen (Schnur- ren), zugleich mit automatischen Bewegungen (Hin- und Herwiegen). Auf höherer Stufe findet auch der Zorn einen reflectorisch-mimischen Ausdruck (Umherwälzen auf dem Boden); bei heftigem Schmerz quellen Thränen hervor. Gemüthliche Anhänglichkeit besteht nicht, oder nur in rudimentärster Form.

Der Verlauf ist entweder continuirlicb, oder durch periodische Exacerbationen von Erregung unterbrochen. Die letztern bestehen in Zunahme der motorischen Unruhe, oft mit indifferentem Geplapper, anderemale mit zornmüthig klingenden Schreien und Vermehrung der automatischen Bewegungen. Da und dort zeigt sich dabei auch Erbrechen mit ruminirenden Mund- und Schlundbewegungen.

2. Der idiotische Schwachsinn.

Ueber der vorhin skizzirten tiefsten Stufe einer nahezu völligen Negation intellectueller Vorgänge und geistiger Entwicklung steht die unendlich variable Gruppe des Schwachsinns, mit jener durch manche Abstufungen verknüpft, und nach oben allmählich Ubergehend in die gleichsam noch physiologische Dummheit und Beschränktheit.

Das Charakteristische für sämmtliche Formen des idiotischen Schwachsinns ist gegeben in der Thatsache des pathologischen Abschlusses der psychischen Entwicklung, des Stehen- bleibens derselben vor Erreichung der psychischen Vollkraft. Damit ist nach unten und oben die Grenze gegeben. Der Blödsinnige ent- wickelt sich Überhaupt nicht, da bei ihm ein bildungsfähiges Ich nicht zur Anlage kommt. Letzteres geschieht beim Schwachsinnigen; es bildet sich eine Persönlichkeit, welche bewusst mit der Aussen- welt in Beziehung tritt und eine Verständigung mit dieser, wenn auch auf einfachste Art (durch Worte oder Geberdeu) ermöglicht. Die Hemmung der Entwicklung kann nun auf verschiedenen Stadien erfolgen, und daraus ergeben sich die weiteren Unterabtheilungen des Schwachsinns.

Wir unterscheiden a) den Schwachsinn höheren Grades (nicht bil- dungsfähig); und b) den Schwachsinn mittleren und leichteren Grades (bildungsfähig'. In die erste Gruppe gehören die Entwicklungs- hemmungen auf einer Stufe, welche dem frtlhen Kindesalter bis zum

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Der idiotische Schwachsinn, a) hochgradige, nicht bildungsfähige, Form. 501

3—4. Lebensjahr entspricht. Die zweite Gruppe umfasst alle zwischen dieser Grenze und den allmählichen Uebergängen bis zum Normalen liegenden Fälle.

Diese Unterscheidung ist weniger willkürlich, als es anf den ersten Anblick erscheinen dürfte. Die Grenze zwischen dein frühen und dem reiferen Kindesalter stellt eine der wichtigsten und am schärfsten mar- kirten Schwellen dar, welche die geistige Persönlichkeit in ihrem Wer- den zu überschreiten hat. Als Markstein zwischen beiden Epochen steht die Entwicklung des höchsten psycho-physischen Vorgangs, der Sprache, welche gerade in dieser Zeit aus dem kindlich naiven Stadium in die volle grammatikalisch-syntaktische Ausbildung einzutreten beginnt. Auch praktisch ist diese Unterscheidung insofern begründet, als in jener ersten Periode der Kindheit wohl von Erziehung, Disciplinirung, nicht aber von Unterricht im engeren Sinne die Rede sein kann. Dementsprechend sind die Schwachsinnigen, deren Entwicklung vor Ueberschreitung der ersten Kindheit Halt macht, auch als nicht-bildungsfähig im Sinne der gewöhn- lichen Unterrichtsziele zu bezeichnen. Bei dieser Vergleichung einzelner Stadien der normalen Entwicklung njit den verschiedenen Abstufungen des Schwachsinns darf natürlich nie vergessen werden, dass wir es für gewöhnlich hier nicht nur mit gleichmässigen Hemmungsbildungen zu thun haben, sondern meist auch noch mit theilweisen Entwicklungsexcessen (neben der Hemmung im Ganzen), und ferner mit psycho-pathologischen und neuropathischen Complicationen verschiedenster Art, wodurch uns nicht ein reines harmonisches, sondern fratzenhaft entstelltes Abbild ge- sunder kindlicher Entwicklung vorgeführt wird.

a) Der hochgradige, nicht bildungsfähige (idiotische) Scb wach sinn. Geistige Entwicklung bleibt auf der Stufe des frühen Kindesalters zwischen 1. und 5. Lebensjahr gehemmt. Sprache mangelhaft, namentlich in grammatikalisch - syntaktischer Hinsicht unentwickelt; häufige Mogilalieen. Unterschied zwischen der ere- thischen und anergetischen Form des Schwachsinns deutlich aus- geprägt: erstere überwiegend, und nicht selten verbunden mit pe- riodischen Erregungszuständen. Anklänge an das Phantasieleben normaler Kinder. Gewisse Disciplinirung ist wohl möglich; der eigentliche Unterricht scheitert aber an der mangelhaften Concen- tration bei den Erethischen, an dem oft mit einer gewissen drolligen . Bonhommie gepaarten Phlegma der Anergetischen. Höchstens An- schauungsunterricht möglich. Ethische oder religiöse Vorstellungen fehlen.

Klinische Symptome, a) Intel/ectuclie und affective Functionen. Die Kranken kennen einfache Gegenstände der Umgebung und wissen sie mit Namen zu benennen; sie erkennen dieselben auch wieder auf Abbildungen. Die anergetischen Kranken äussern dabei weder Interesse noch

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Der Idiotismus.

irgend einen Trieb nach Thätigkeit, während die erethischen eine oft lebhafte Wahrnehmung bekunden, welche aber momentan immer wieder abgelenkt wird, und so durch fehlende Concentration resultat- los verpufft. Viele wissen ihren Namen nicht, während Andere diesen und auch noch die weitern von ihren Angehörigen kennen; Leistungsfähigere vermögen auch bis zu bescheidenen Zahlen zu zählen, verwirren sich aber, sowie nur die kleinste Abweichung in der mechanisch eingelernten Reihenfolge ihnen zugemuthet wird. Bemerkenswerth ist der Drang zu Imitationen Anderer und zeitweise zu täppischer Simulation, interessant auch das eigenartige Phan- tasieleben einzelner Kranken, welche bis zu märchenhafter Alle- gorisirung der Umgebung (zeitweilige Hallucinationen) und zur ernst gemeinten Anthropomorphose von Puppen führt. Viele wissen auch sich niedlich zu verspielen. Gemtithlich erheben sie sich nicht über entschiedene, und dann mit aller Grellheit ausbrechende, Lust- und UnlustgefUhle, welche oft unmotivirt und in raschem Wechsel sich aufdrängen. Für die Umgebung bewahren sie eine gewisse Anhäng- lichkeit, welche aber nie tiefer gebt. Vereinzelte, weiter entwickelte Kranke zeigen einen Zug von Freundlichkeit und Anfänge socialer Regungen; sie sind gutraüthig und gesellig. Im Allgemeinen sind sie unterrichtsunfäbig; doch lassen sie sich in richtiger Pflege in eine gewisse Ordnung eingewöhnen.

Die Sprache ist mangelhaft, höchstens auf wenige Sätze be- schränkt, welche in ungrammatikalischer Form vorgebracht werden. Beliebt ist die Infinitivform beim Sprechen. Der Wortschatz ist sehr spärlich, und besteht oft nur in Substantiven und Interjectionen. Viele Kranke sprechen als Antwort die vorgesprochenen Sätze nach, aber ohne Verständniss; Andere schieben stehende Flicksätze ein; wieder Andere wiederholen echolalisch das zuletzt gesprochene Wort einer Frage. Interessant sind die sehr häufigen articulatorischen Störungen und die ausgleichenden Nothbehelfe.

Manchmal werden Buchstaben verwechselt, anderemale die vorderen Silben von Wörtern abgeworfen (und zwar merkwürdiger Weise nur, wenn die Kranken spontan sprechen, wahrend sie beim Kachsprechen so- wohl Buchstaben als Silbeu richtig artikuliren). Oft werden Worte mit mehreren Consonanten durch Umgestaltung mundgerecht gemacht: z. B. „Grangruft" statt „Frankfurt". N wird oft ausgesprochen gn, z = I, t = d, sch = gg u. s. w.

b) llaltumj und motorische Functionen. Hier begegnen wiederum alle Typen : mikrocephale, kretinoide, bis herauf zu normaler Kopf- bildung, mit stumpf- blöden oder choreatisch unruhigen, immer wech- selnden Gesichtszügen. Währende Einige ein beständiges euphorische«

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Der idiotische Schwachsinn, b) mittlere und leichtere Grade.

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Lächeln in der Miene tragen, schauen Andere stets mürrisch , un- heimlich lauernd aus. Da und dort begegnet man auch einer „Nussknacker"-Phy8iognomie, oder einem „Igel"-Typus mit vorwärts gestrecktem Kopf und rüsselartiger Mundbildung. Die Haltung ist schlaff, oder gegentheils zappelig und in steter Unruhe, mit hastigen Mitbewegungen bei einer unerwarteten Frage. Der Gang ist in der Regel unsicher, holperig, schleifend oder „quaddelnd", trippelig, das Stehen bei geschlossenen Augen unsicher; die Coordinations- bewegungen der obern Gliedmaassen mangelhaft und ungeschickt (s. u. körperliche Begleiterscheinungen).

c) Sensorische und sensible Functionen häufig intact oder nicht gröber gestört (s. u.).

Der Verlauf ist ein stationärer, sachte abwärts zielender, oder durch unregelmässige Erregungsphasen theils spontan, theils auf äussere Anlässe unterbrochen (Raptus von Heftigkeit mit Zerstörungs- drang, Zerkratzen). Je nach der Entwicklung der Idiotie im Einzel- falle bleiben die Kranken, wenn sie vorher eine normale geistige Entwicklung begonnen, auf der kindlichen Stufe, in welcher ihnen durch die Hirnkrankheit Halt geboten wurde, stehen; oder sie schla- gen jetzt langsam einen retrograden Gang ein, verlernen auch allmäh- lich das wenige Erworbene wieder. Andere dagegen lassen sich in bescheidenem Umfange bessern, so dass sie wenigstens zu einfachster mechanischer Thätigkeit verwendbar werden, bleiben aber gleichfalls dann stille stehen. (Ueber Complicationen mit Epilepsie s. u.).

b) Der idiotische Schwachsinn mittlem und leich- tern Grades. Lässt sich bei der vorigen Gruppe (des hochgradigen Schwachsinns) die Stufe, auf welcher die psychische Entwicklung zum Stillstand kam, in ein verhältnissmässig genaues Analogon mit der normalen kindlichen Entfaltung setzen und dadurch zeitlich ziemlich scharf präcisiren, so ist dies bei den mittlem und leichtern Graden des Schwachsinns nicht in derselben Weise möglich; die Menge der Uebergänge zum normalen Verhalten ist hier zu gross. Trotzdem bleibt die Thatsache der Entwicklungshemmung bestehen. Der Kranke überschreitet die Schwelle der frühen Kindheit, um dann oft in relativ kurzer Zeit den Höhepunkt seiner Entwicklung, welche im Ganzen sich auf der Stufe G— 12 jähriger Normalmenschen bewegt, zu erreichen. Einzelne Züge mögen sich ändern, sexuelle Reguugen, normale oder perverse sich einschieben im Grossen und Ganzen bleibt der Kranke sich gleich, s. z. s. „photographisch" gleich. In gewissem Sinne altern diese Kranken nicht, sie bleiben

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Dtr Idiotismus.

kleine Jungen mit bärtigen Gesichtern, im Ganzen zufrieden, im Einzelnen neubeglückt durch jede kleinste Abwechselung im All- tagsleben. Ihr Ehrgeiz ist befriedigt, sie glauben die Höhe der Erwachsenen erreicht zu haben, wenn ihnen eine Cigarre gestattet wird, oder wenn sie per „Sie" angeredet werden.

In psychologischer Hinsicht ist zu bemerken, dass, während bei der vorigen Gruppe die erethische Form des Schwachsinns über- wiegt, bei der jetzigen der anergetische Typus die Scene beherrscht. Die Apperception, die Anknüpfung associativer Verbindungen ist ungemein verlangsamt, vollzieht sich aber im Ganzen in logischer Weise, so dass es wenigstens für den grössern Theil der hierher- gehörigen Fälle ermöglicht wird gewisse, für die einfachsten Lebens- verhältnisse ausreichende, Vorstellungsreihen zu gewinnen und aus- zubauen. Nie aber reicht diese Befähigung auch weiter bis zu einem selbstständigen Auftreten über solche einfache und regelmässig vorgeschriebene Geleise hinaus. Die treibende Macht des mensch- lichen Ringens und Strebens der Kampf ums Dasein wird den Geistesinvaliden dieser Signatur stets unberührt lassen. Damit hängt die, wenn psychologisch auch erklärliche, aber immer wieder Uberraschende Thatsache des vollständigen Mangels des Krankheits- resp. Defectgefühls zusammen, welchem wir gerade bei diesen leichtern Schwachsinnsformen begegnen. Wir wundern uns, weshalb diese Idioten, welche in der Anstalt recht gut zur Arbeit zu verwenden sind, welche Jugendfreunde, Geschwister in selbstständigen Stellungen sehen, beinahe nie das Bedürfniss äussern sich ebenfalls selbstständig und von der fortwährenden Lei- tung unabhängig zu machen. Gelegentlich wohl, mehr raptusartig, taucht einmal auch dieses Verlangen auf ; aber sehr rasch findet sich der Kranke wieder in den regelmässigen Gang des Anstaltslebens, in welchem jeder Schritt vorgezeichnet ist.

Nach gemüthlich-ethischer Seite zeigt sich der Defect mindestens ebenso stark als nach intellectueller (ein noch ver- schärftes Pendant zu den im spätem Alter schwachsinnig gewor- denen Epileptischen!). Es gibt keinen grössern, keinen beschränktem Egoisten, als den Idioten. An dieser Thatsache ändern, wie Wil- dermut h versichert, auch die üblichen sentimentalen Anstaltsbe- richte nichts. Gegenüber der so oft als Dogma vertretenen Ansicht von der „gemütblichen Tiefe", ja sogar dem „wahrhaft religiösen Sinn" der Schwachsinnigen dürfte zu bemerken sein, dass ein Theil der mittlem Formen des Schwachsinns allerdings ein gewisses lie- benswürdig anschmiegendes Wesen zeigt, welches aber nicht tiefer

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Idiotischer Schwachsinn. Allgemeinsymptome. Klinische Typen. 505

wurzelt, und „ganz an das artige Wesen eines Hündchens erinnert, welchem

So freut sich die Mehrzahl dieser Idioten, wenn z. B. ein Mitkranker stirbt, in der Hoffnung auf den nicht alltäglichen Aspect eines Leichen- begängnisses. — Analog verhält es sich auch mit dem „religiösen Sinn", von welchem in den Idiotenanstalten der Inneren Mission so viel die Rede ist. Nach den Erfahrungen der trefflichen Anstalt in Stetten eignen sich übrigens die schlichten Erzählungen der Bibel überhaupt aus päda- gogischen Gründen schon sehr gut als Ausgangspunkt für den Unter- richt dieser Kranken, sowohl in intellectueller als ethischer Hinsicht.

Anhänglichkeit an die Familie ist im Allgemeinen sehr massig ausgeprägt. Vollständig aber fehlt jener Geist trotzigen kamerad- schaftlichen Bewusstseins, welches bei gesnnden Jungen ein Haupt- capitel im Ehrencodex bildet. Es gibt hier keine mit der Persön- lichkeit verwachsene ethisch-religiöse Vorstellungen, es gibt keinen kategorischen Imperativ; sondern häufig nur eine ethische Indolenz, nicht selten periodisch belebt durch einen triebartigen Hang zum Verbrechen, wogegen nur anzukämpfen ist, so lange der Kranke in dem strengen Geleise und in der Ueberwachung einer Anstalt sich bewegt. Die Lehren der Ethik und Religion bedeuten für ihn nicht mehr als die Vorschriften der Hausordnung.

Aus diesem mangelnden Gefühl der socialen Verpflichtung erklärt sich auch der beschränkte Thätigkeitstrieb und zum grossen Theil die fehlende Langeweile dieser Kranken. Gesteigerter normaler Geschlechtstrieb gehört, nach Wildermuth's Versicherungen, zu den seltenen Ausnahmen bei den Idioteu; dagegen ist Onanie ziemlich verbreitet, und wahrscheinlich auch perverser Sexualtrieb.

Von Sprachstörungen ist für diese Gruppe geradezu charakte- ristisch : das „verwaschene Sprechen", das Abwerfen einzelner Silben ; daneben kommen Mogilalieen vor, sowie Unrichtigkeit im Gebrauch adverbialer Bestimmungen. Hier finden sich auch die Fälle, in wel- chen die sprachliche Störung in einem auffallenden Gegensatz zum sonstigen psychischen Verhalten steht ein Zustand, welcher an die erworbene Aphasie der intelligenten Erwachseneu erinnert.

Von der so oft gepriesenen einseitigen Kunstfertigkeit der Idioten kann nur in ganz ausnahmsweise seltenen Fällen die Rede sein. Viele solcher Leistungen entpuppen sich bei näherer Prüfung doch nur als sehr massige, fast kindische Operate.

Klinisch lassen sich folgende Typen absondern: 1. Anergetheher einfacher Schwachsinns -Typus. Intellectuelle Verkümmerung, gewöhnlich verbunden mit schlechter physischer Entwicklung und anämischen Zuständen. Mit dem kümmerlichen

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Der Idiotismus.

Vorstell angsieben gebt eine völlige Farblosigkeit der affectiven Spbäre Hand in Hand. Die Kranken sind ganz indolent, zeigen weder aus- gesprochene Sympathieen noch Antipathieen. Es sind die enfants arrieres, welche meist erst nach vielen Unterrichts versuchen in die Anstalten kommen, und hier ein nicht undankbares Material für sachgemässen geduldigen Unterricht bilden.

Sie kennen die Umgebung, haben ein gutes Namen- und Personen- gedächtniss, lernen lesen und schreiben, einfache Zahlenverhältnisse ver- stehen. Dabei äussern sie aber keinen Thätigkeitstrieb, keine Lange- weile, kein Verlangen ihre Lage zu ändern. Zu leichteren Arbeiten lassen sie sich gut verwenden. Sie sind meist gesellig und gutmtithig.

2. Schwachsinns -Typus mit Grdssenwahn. Die Kranken dieser Gruppe bilden den Uebergang zwischen der vorigen anergetischen Form und der folgenden erethischen. In ihren intellectuellen Lei- stungen stehen sie kaum höher als die vorigen, zeigen aber eine grössere Lebhaftigkeit der Apperception. Mit einer gewissen Sucht sich vorzudrängen verbinden sie eine Art läppischen Grössenwahns: der Eine macht Gedichte, der Andere Predigten u. s. w. Oft sind es reine Aeusserlichkeiten, z. B. der Besitz einer Uniform, welche ihrem albern geschraubten Selbstgefühl die genügende Folie abgeben, um ihr ganzes Bewusstsein zu erfüllen. Nach aussen machen diese Kranken einen kläglich komischen Eindruck. Vor denen der vorigen Gruppe haben sie immerhin den Besitz eines gewissen Phantasie- lebens voraus.

Sie lernen lesen, schreiben, rechnen, zeigeu selbst Vorliebe für ge- wisse Beschäftigungen. In ihrem Wesen sind sie theils moros und zän- kisch, theils gemüthlich und zufrieden; bei Widerspruch oft heftig und zornig.

3. Erethischer Schwachsinns -Typus. Diese Gruppe enthält die bei den mittlem Schwachsinnsgraden selten prägnant vorkommenden erethischen Formen. Sie bilden nach unten den Uebergang zu den entsprechenden Formen des hochgradigen Schwachsinns; an Stelle papageiartigen Wiederholens tritt hier ein albernes Geplapper und ein beständiges Durchkreuzen der Rede durch incohärente, oft ganz heterogene Gegenfragen.

In ihrem Wesen täppisch und unruhig, erzählen sie beständig, und oft die unbedeutendsten Dinge, mit Geschrei und Lebhaftigkeit. Da ihre Aufmerksamkeit beständig von einem Punkte zum andern abspringt, ist der Unterricht sehr schwierig. Sie lernen wohl lesen und schreiben; auch einfache Zahlenbegriffe und einige religiöse Kenntnisse sind ihnen beizubringen. Aber schon die Erlernung eines einfachen Handwerks ist in Folge ihrer ruhelos fliehenden Aufmerksamkeit in der Regel nicht

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Idiotischer Schwachsinn. Klinische Typen.

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möglich. In Benehmen und Haltung sind sie sehr zu possenhaften Ücber- treibungen geneigt; Manchen fehlt auch ein gewisser Zug von Ver- schmitztheit nicht. Viele vermögen gar keinen Zeitbegriff zu gewinnen. Bei unerwarteten Fragen gerathen sie in verwirrte Verlegenheit, aus welcher sie sich aber nicht selten in drolliger Weise durch Ueberspringen auf ein anderes Thema zu helfen wissen. Für eine neue Situation, als die eingewöhnte, haben sie keine Orientirung. Die Sprache ist verwaschen, vielfach pleonastisch, durch falschen Gebrauch adverbialer Bestimmungen verdorben („grad' hab' ich die Milch geholt wirklich als"). Trotz völliger Harmlosigkeit und einer gewissen freundlichen „Zuthunlichkeit" fehlt ihnen jede tiefere gemüthliche Erregung; trotz jahrelang regelmässigem Kirchenbesuch gewinnen Viele nicht einmal den einfachsten Gottesbegriff; sie wollen nicht sterben, und glauben es auch nicht. Manche zeigen periodisch auftretende Verstimmung mit zerstörenden Raptus, und nach- folgenden Anklängen an primitive Reue mit Weinen.

4. Aphatischer Schwachsinns-Typus. Diese Gruppe umfasst eine Anzahl von Fällen, in welchen eine auffallende, oft bis zur Apbasie gehende, Sprachstörung vorhanden ist, und zwar in scharfem Con- trast gegen das übrige, nicht schlecht entwickelte, geistige Leben. Hierher gehört ein Theil der von Griesinger als „kleine drollige Käuze" aufgeführten Kranken, mit theilweise inakro-, theilweise ini- krocephaler Kopfbildung.

In ihrem Wesen nicht unintelligent, gelehrig, pünktlich, gesellig, aufmerksam auf die Vorgänge der Umgebung, zum Theil recht leidlich geschickt in Handarbeiten, in Lesen und Schreiben (Rechnen oft mangel- haft), in ihrer geistigen Signatur bald mehr zum apathischen, bald zum eretbischen Typus sich hinneigend zeigen sie sämmtlich erhebliche Sprachstörungen. Gewöhnlich werden beim Vorsprechen sämmtliche (oder fast sämmtliche) Buchstaben richtig von ihnen «nachgesprochen; dagegen beim Wortesprechen erfolgt ein mehr oder minder starkes Stammeln, wobei die Consonanten mit Vorliebe durch einen zwischen n und gl lie- genden Laut ausgedrückt werden. Manche Kranke empfinden ihre lin- guale Unbehilflichkeit mit einem gewissen drolligen Missbehagen, und suchen die defecte Aussprache durch eine lebhafte Mimik und Physio- gnomik auszugleichen.

5. Moral Insunüy -Typus. Hier ist der ethische Defect dem in- tellectuellen nicht nur gleich werth ig, sondern tritt vor letzterem prägnant in den Vordergrund. Die Symptome der Moral Insanity beherrschen die Scene, und zwar sehr oft mit periodischem Cha- rakter des Auftretens,

Die Kranken dieser Gruppe kennen die einfachsten Lebensbeziehun- gen, haben auch Schulunterricht im Erfolg durchgemacht. Sie verfügen über einen gewissen Fonds von mechanischem Wisserf, welchem aber jeder tiefere und namentlich idealere Zug fehlt. Sie sagen ohne Be- fremden eingelernte ethische Sprüche her, gegen welche sie sich kurz

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Der Idiotismus.

vorher durch die That in plumpster Weise verfehlt, und fühlen den Widerspruch nicht. Sittlichkeitsvergehen und namentlich Diebstähle bil- den die Kategorieen der hier am häufigsten vorkommenden Delicte. Oft zwecklos, werden die letztern nichtsdestoweniger sehr oft mit vielem Raffinement ausgeführt. Onanie ist sehr häufiger Begleiter.

6. Hebephrener Schwachsinns-Typus. In dieser Gruppe sind ge- wisse Fälle von jugendlichem Irresein vereinigt, welche Schwachsinn zur Folge hatten oder mit demselben complicirt sind.

Hierher gehören erblich in der Regel stark belastete Kinder, welche, nach erst normaler Entwicklung in den ersten Jahren, schon frühe und ohne nachweisbare Ursache Anwandlungen von Depression und Exaltation zeigen, manchmal selbst als monatelange Aufregung mit Verworrenheit und Hallucinationen. Darauf folgt meist noch Genesung. Aber die kleinen Patienten sind geistesträger und auffallend gemüthsstumpfer geworden, oder gegentheils unstät in ihrem Wesen, abspringend in ihrer Aufmerk- samkeit, ohne Ausdauer und Fassungskraft. Ein primärer anergetischer oder erethischer Schwachsinn hat Platz gegriffen und lässt sie intellec- tucll auf kindlicher Stufe stehen, ohne Fähigkeit zu einer wenn auch noch so bescheidenen Ausbildung. Auf leise körperliche (gastrische) Störungen erfolgen sofort hallucinatorische Erregungszustände; bei jungen Mädchen erschliesst sich mit Eintritt der Periode eine menstruale Psy- chose mit oft typischer Wiederkehr. Aber auch bei den so disponirten Jünglingen, welche mit IG Jahren oft noch einem 12jährigen gleichen, stellen sich periodische oder cyklische Aufregungszustände ein, meist mit kurzer Dauer (8—14 Tage) und mehrwöchentlichera Intervall. Die manischen Phasen zeigen Annäherung an gewisse Typen der Erwachsenen (s. d.): albernes, verwirrtes Faseln mit marionettenartigen Bewegungen und fratzenhaftem Gesichterschneiden , spasshaftes muthwilliges, begehr- liches Wesen, voll sinnloser Pläne und bramarbassirendem Pathos. Damit wechseln hypochondrisch-ftngstliche Episoden ab. Ein anderer Typus zeigt periodische Zornmüthigkeit mit verbaler und thätlicher Bedrohung der Umgebung und allen Zeichen einer manischen Moral Insanity. In der Regel tritt nach und nach der Cyklus zurück, und es bleibt das immanente schwachsinnige excentrische Wesen, oder aber eine finstere zornmüthige Reizbarkeit; in beiden Fällen mit starkem Gemüthsdefcct. Sehr häufig gehen sexuelle Perversitäten (starke Onanie) mit einher.

Auch Anfälle von Maladia du doute finden sich bei Schwachsinnigen dieser Kategorie vor; in einem Falle traten sie im Anschluss an eine allgemeine Ratlosigkeit auf, als der Kranke fühlte, dass er seinem Be- rufe nicht gewachsen sei.

Die eigentliche Hebephrenie, das pubische Irresein, wie es von Kahl bäum und Heck er gezeichnet wurde, mag hier seine Stelle finden, obwohl es nicht immer auf idiotischer Basis erwächst, dafür aber in der weitaus grössten Mehrzahl der Fülle zu einem bleibenden Schwachsinn führt. Erblichkeit spielt ätiologisch die hervorragende Rolle; nach ihr: Onanie und Kopfverletzungen; wesentlich mitwirkend ist extremer For- malismus und Pedanterie in der Erziehung. Allgemein lässt sich der Krankheitsvorgang, welcher diese eigenartige Zustandsform der Hebe-

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Hebepbrenie. Körperliche Complicationen der Idiotie. 509

phrenie herbeiführt, als ein störender Eingriff in die eben erst (durch die Pubertät) in Bildung begriffene neue geistige Entwicklungsstufe auf- fassen, wodurch „ein Zerfahren des noch leicht zerfliesslichen geistigen Inhalts bewirkt wird , und dessen edelster Theil verloren geht. Der Krankheitsprocess setzt der geistigen Weiterentwicklung eine Grenze, und bringt eine eigenthümliche Art des Schwachsinns hervor, welcher als Inhalt nur die todten Elemente jener eben erlebten Entwicklungsphase birgt. Dabei erstarren gewissermaassen die kämpfenden Elemente in der Stellung, als ob sie noch stritten". Im Speciellen ist der Krankheits- beginn durch ein melancholisches Prodromalstadium eingeleitet. Die traurige Verstimmung ist aber keine tiefe und wechselt unmotivirt; es scheint, als ob der Kranke damit spielte oder kokettirte. Zwischen die düstern Stunden schieben sich ganz abrupt auch heitere, voll Lachens und albernen Scherzen. Die schärfsten Gegensätze berühren sich un- mittelbar neben einander. Dabei greift ein bizarres Gebahren Platz, mit Neigung zu allerlei ziel- und planlosen (oft anscheinend boshaften) al- bernen Handlungen. Andere Kranke vagabundiren. Eigenartiger noch sind die formalen Störungen im Vorstellen, speciell in Schrift und Sprache. Jene enthält eine Menge von Anakoltithieen, und eine Weitschweifigkeit der Diction (Styl des „Carlchen Miessnik"), wobei gewisse Wendungen und Phrasen förmlich „zu Tode gehetzt werden". So auch beim Spre- chen, welchem ausserdem der beliebte Gebrauch von Provinzialismen und Lauten aus dem jüdischen und Officiers-Jargon neben einer poetisch ge- zwungenen phrasenreichen Diction eine ganz specifische Eigenart gibt. Bemerkenswerth ist auch das Gefallen der Kranken an allerlei bizarren Einfällen und phantastischen Aufschneidereien. Grundton und Wesen des skizzirten Krankheitsbildes bildet ein unverkennbarer Schwachsinn ere- thischer Form, welcher in der Folge immer mehr dem anergetischen zu- steuert. Dazwischen kann nochmals eine Pause von längerer oder kür- zerer „Genesung" sich einschieben; in der Regel brechen aber neue Aufregnngszustände (mit dämmerhaftem Bewusstseinszustand, triebartigen Raptus und Hallucinationen) früher oder später wieder aus, und führen den allmählichen geistigen Niedergang herbei. Ich sah auch eine tiefe hypochondrische Phase intercurriren (Onanie), in welcher der jugendliche Patient einem Tent. suicidii erlag.

Die körperlichen Complicationen der Idiotie.

a) Epilepsie in 30% aller Fälle (nach den Erfahrungen in S t e tt e n). Bemerkenswerth ist, dass die Epilepsie, wo sie nur als Complication der Idiotie auftritt, verhältnissmässig leicht psychisch ertragen wird. Wesent- lich verschieden ist dagegen die Bedeutung der Epilepsie, wo sie als Ursache der Idiotie fungirt. Hier ist deren Einfluss ein perniciöser und zwar um so mehr, je früher dieselbe auftritt (von den im 1. 2. Lebens- jahr Befallenen wurden 50% blödsinnig idiotisch und nur 10% bildungs- fähig); s. S. 271.

b) Spinale Störungen (spastische Paralyse).

c) Hemipurese aus partieller Hirnatrophie mit Muskelatrophie und Contracturen Motorische Coordinationsstörungen, ohne aus-

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Der Idiotismus.

gesprochen locale oder überhaupt diagnosticirbare HirnafFection, finden sich überaus häufig in allen idiotischen Schwachsinnsformen; schon einfache Bewegungen (wie zum Essen) müssen mit vieler Mühe und Geduld ein- gelernt werden. Ganz besonders zahlreich vertreten ist aber die Un- sicherheit im Gehen und Stehen, mit theils schlürfendem, theils „quad- delndera" Gang, und ausgiebig plumpen Balance-Bewegungen. Romberg- sches Symptom ist sehr häufig; ebenso laterale motorische Ungleichheit (gewöhnlich mit Differenzen in den Sehnenreflexen), auch ohne sonstige halbseitige Störung. Chorea- Bewegungen, in Form von Mitbewegungen im Gesichte und leichter Unruhe in den Händen, sind gleichfalls verbreitet ( t mal auch halbseitig, ohne deutliche Hemiparese).

d) Monoparesen. Tremor. Bulbäre Erscheinungen. Die Monoparesen finden sich in Form isolirter Lähmungen einzelner Muskelgruppen (in 1 Fall ungleiche Gesichtsinnervation bei mangelhafter mimischer Action beiderseits; unvollkommene Function des Buccinatorius, Herabhängen des Unterkiefers, Unfähigkeit die überaus schwer bewegliche Zunge heraus- zustrecken; Schlingdefecte, hochgradige Anarthrie beim Sprechen mit Aus- werfen von Gonsonanten in Nasal-Timbre, t = tn, 1 und m = ng, k un- gefähr wie ong, r = ch). Nicht selten findet sich die Monoparese auch in Form einer beiderseitigen Ptosis, neben Ungleichheit der Facial- Innervation. Der Tremor zeigt sich als fortwährendes Schütteln des Kopfes, als Zittern der Arme und Beine; manchmal Intentionszittern bis zur Stärke athetotischer Bewegungen. Leichte Bulbärsymptome fin- den sich auch bei vielen höherstehenden Idioten.

e) Weit seltener als die Störungen auf dem motorischen Coordina- tionsgebiet sind die der sensibeln und sensoriellen Sphäre. Der Tastsinn ist bei der überwiegenden Zahl der Idioten erhalten, ebenso das Muskelgefühl und der Temperatursinn. Am häufigsten noch ist die Ver- minderung der Schmerzempfindung. Selten fehlt der Geruchssinn ganz; dagegen kommen Parästhesieen desselben öfters vor. Auch das Gehör zeigt selten erhebliche Störungen (das schlechte Hören der Idioten ist meist psychisch bedingt). Grobe Veränderungen im Augenhintergruud sind gleichfalls nicht sehr häufig.

f ) Von allgemeinen Ernährungsstörungen kommt am häufigsten Scro- phulose und Anämie vor, und damit zusammenhängend die Tuberculose. Acute gastroentritische Störungen intercurriren nicht selten. Inter- essant ist das relativ geringere Schlafbedürfniss der meisten Idioten, und die geringere Disposition zu Delirien bei fieberhaften Erkrankungen.

g) Degenerationszeichen, a) Missbildungeu am Ohre: auffallend plumpe Modelliruog; abgeflachte, henkelartig abstehende Ohren; auf- fallende Asymmetrie in der Modellirung der Ohrmuschel ; das „abge- stutzte" Ohr bei Aztekenköpfen; ,1) am harten Gaumen und Unterkiefer: Spaltbildungen; sehr starke Wölbung (kielförmig) mit convergirenden Zähnen; sehr flacher Gaumen mit prominirendem Zwischenkiefer; auf- fallender llochstand der Mittelpartie des Unterkiefers gegenüber den seit- lichen; y) an den Zähneu: Schmelzdefecte (Caries) ; Schiefstand mit seitlichem Uebereinandergreifen ; 6) der Haut: ausserordentlich starke Faltenbildung; derbe Verdickung namentlich über der Stirn und Supra-

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Die Sch&delformen und die „natürlichen Familien". 511

Orbitalgegend; Hemiatropbia facialis; c) an den Genitalien : Kryptorchis- mus. Die Häufigkeit der Degenerationszeichen bei Idioten belauft sich auf 75<Vo (Wildermuth).

Die Schädel formen der Idioten und die natürlichen

Familien".

Die Bestimmung der Schädelformen der Idioten d. b. die Be- urtheilung, ob ein Schädel pathologisch sei oder nicht, ist, von den extremen Fällen abgesehen, desshalb nicht leicht, weil es an einer genügend grossen Untersucbungsreihe von Schädeln zweifellos nor- maler Kinder auf den verschiedensten Entwicklungsstufen fehlt.

1. Mikroccphale Schädelformen. Diese unterscheiden sich

a) als typische Mikrocephalie. Aztekenköpfe. Charak- teristisch: Abflachung des Hinterhaupts, fliehende Stirne, zwischen Stirn und Nase keine Einsenkung; kiel förmige Verschmälerung nach vorn (jedoch nicht immer deutlich); Längenwachsthum des Körpers zurückgeblieben.

Anatomisch scharf umschrieben, lässt sich klinisch kein in seinem Habitus entsprechend abgeschlossener Typus zu dieser Grnppe auf- finden. Bemerkenswerth ist, dass unter den zugehörigen 9 Kranken der Anstalt zu Stetten Keiner blödsinnig ist; 3 gehören dem hochgradigen Schwachsinn an, 6 den mittleren und leichtern Formen.

b) als proportionale Mikrocephalie. Charakteristisch: alle Schädeldurchmesser sind ziemlich gleichmässig reducirt.

Klinisch lassen sich mit dieser anatomischen Gruppe zwei in ihrem Habitus etwas scharfer markirte Typen in Beziehung setzen: a) kleine eiförmige Köpfe, hübsch gerundet, sämmtliche Durchmesser verkleinert, Stirnprofil gegen Nasenrücken abgesetzt. Deren Träger sind: erethisch Blödsinnige und Schwachsinnige aller Grade; aber selbst in den leich- tern Formen stets mit schweren Cerebralstörungen complicirt (hochgra- dige Sprachstörung, ßulbärsymptome) ; ß) stark brachycephaler Schädel, hoch, hauptsächlich im Längsdurchraesser reducirt. Deren Träger sind: hochgradige Schwachsinnige, mit raschem Stimmungswechsel von täppischer Zärtlichkeit zu störrischem Eigensinn, disciplinirbare, aber nicht bildungs- fähige, hereditär schwer belastete, mit Sprachlosigkeit oder höchstens ru- dimentärer Sprache behaftete, zu kindischem Nachahmungstrieb befähigte Fälle; dabei sehr starke Coordiuationsstörung der untern Extremitäten, unsicherer Gang ohne ausgesprochene Paresen, plumpe breite Zunge, rohes Mienenspiel, derbe Gesichtshaut.

2. Makrocephule Schädel formen. Hierher gehören die hydro- cepbalen und cretinösen Typen.

Klinisch: Alle Formen des Blödsinns und Schwachsinns vertreten. Anergetischer Charakter; meist complicirt mit erheblicher und mit dem übrigen psychischen (bildungsfähigen) Verhalten contrastirender Sprach-

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Der Idiotismus.

Störung. Sonst fehlen Coordinations- und motorische Anomalieen. Da- gegen kühle Haut und Zwergwuchs vorhanden. Die Gruppe der äusserst gemUthlichen komischen „Dollpatsche" gehört hierher.

3. Normale Schädelformen. Hierher gehören die „progenaeen" Schädel L. Meyer's, und die individuellen Wachsthums- Anomalieen durch vorzeitige Synostosen. Dabei ist nicht selten der Gesichts« ausdruck mehr oder minder intelligent. Die anatomischen Spielarten sind, ausserordentlich zahlreich.

Viereckige, im Längsdurchmesser verkürzte Schädel; Hinterhaupt wie ein Wulst hervorgedrängt, so dass man es mit der hohlen Hand so einschliessen kann, als ob man das blossgelegte kleine Gehirn nmfasste (Synostose der Lambdanaht); starke Orthognathie. Ferner die Schädel- Skoliosen, die Verschiebungen und Verbiegungen, einseitigen Abflachun- gen u. s. w. An den letztern Anomalieen nehmen auch viele Originär- Verrückte Theil. Von den Idioten zeigt übrigens ein sehr grosser Theil (namentlich die mittlem und leichtern Schwachsinnsformen) keine erheb- lichen Abweichungen im Schädelbau.

Tabellarische Znsammenstellung der Insassen von Stetten nach

den Schädelformen:

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In der pathologischen Anatomie beschränke ich mich auf einige neue, bis jetzt nicht publicirte Heiträge, welche ich der Freundlichkeit Wildermuth's in Stetten verdanke.

1) Multiple tuberöse Sklerose der Hirnrinde (cf. Brück- ner, Bourneville). M. A. IG Jahre, rechtzeitig geboren, körperlich normal sich entwickelnd; im Beginn der psych. Entwicklung durch ein unruhig aufgeregtes Wesen neben intellect. Schwäche auffallend. Schul- besuch nicht ganz ohne Erfolg. Vom 3. Lebensjahre epileptoide Zufälle,

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Patholog. Anatomie. Multiple tuberöse Sklerose der Hirnrinde. 513

zunächst in Form von Zuckungen in den Extremitäten mit leichter Be- wusstaeinsstörung ; nach und nach ausgesprochene Insulte, welche in Gruppen von 2—3 Attacken sich alle paar Wochen wiederholen. 1 SS t gute Ernährung, rechtsseitige Gesichtsatrophie, plumpe weit abstehende Ohrmuscheln, flacher Gaumen, kein Strabismus, keine Parese, keine Sensibilitätsstörung. Gehör linkerseits vermindert. Sprache langsam, häsi- tirend, nicht stotternd. Gehen normal; Stehen bei geschlossenen Augen unsicher. Psychisch: massiger Schwachsinn mit langsamer Appercep- tion. Vor den epileptischen Anfällen hochgradige zornmUthige Reiz- barkeit mit Neigung die Umgebung zu insultiren (auf Grund illusorischer Umdeutungen). Nach den Anfällen grosse Euphorie, „Heiterkeit ohne inneres Behagen". Anfälle kommen nur Nachts, ohne Aura, beginnen mit Schrei; allgemeine, rechts stärkere Convulsionen ; auf der Höhe der- selben starke Gesichtsinjection. Nachher Schlafsucht. Amnesie. Im Jahre 1880: 59 Anfälle; 1881: 65; 1882: 72. Vom 26. Jan. 1883 gehäufte Anfälle mit starker Temperatursteigerung, Schlinglähmung, Sopor, Tod. Autopsie: Schädel blutreich, Nähte erhalten. Starke Injection der Häute, letztere schwer abziehbar. Ueber dem linken Hinterhauptslappen und dem rechten oberen Scheitellappen ein flächenhafter Bluterguss. G e - hirn: Gewicht 1390. Bei vorsichtiger Betastung der Hemisphären stösst man an verschiedenen Stellen auf knorpelharte Indurationen, ohne dass die Form der Windungen verändert wäre. Nur am Fuss der rechten

1. Frontalwindung findet sich eine prominirende Partie; hier auch Adhä- sion der Pia. Windungsconfiguration normal, nur vielfache secundäre Furchung. Auch die indurirten Stellen sind von dem übrigen Con- tinuum durch secundäre Furchung abgetrennt; auf ihrer Höhe zeigen die- selben eine seichte s. z. s. nabeiförmige Einziehung. Ausserdem ist die Oberfläche meist glatt, glasurartig. Die Leptomeningen, mit Ausnahme der erwähnten Stelle, leicht abziehbar. Linke Hemisphäre: hin- tere Cent.-W. verschmälert; fiss. centr. geradlinig, einmal scharf recht- winklig sich biegend. Windungen normal. Frontallappen: im vordem und hintern Drittel der 1. Front.-Wdg. je 1 sklerosirte Stelle. Die

2. Front.-Wdg. in eine Reihe hinter einanderliegender, harter, durch Ein- schnürungen getrennter Knoten verwandelt; Fuss der 3. Front- Wdg. nicht hart, aber derb elastisch. Ausserdem Sklerosirung an einem mittlem Windungszug der medialen Partie des Stirnhirns, am untern Scheitel- läppchen und im Lob. praecentr. Rechte Hemisphäre: Central Win- dungen breiter als links; Fiss. interpariet. mündet direct in die Foss. Sylv.

Sklerosirte Stellen finden sich: 1. in der Mitte und dem medialen Ende der hintern Central-Wdg. ; 2. im mittlem Drittel der l. Front.-Wdg.;

3. am basalen Ende der 3. Front. -Wdg. ; 4. in der medianen Partie des oberen Scheitelläppchens; 5. am vordem Ende der 3. Temp.-Wdg.; 6. am Anfang der 1. und 2. Occip.-Wdg.

Consistenz des Gehirns, namentlich im Stabkranz, fester als normal. In der Umgebung der sklerosirten Stellen leichte gelbliche Verfärbung.

Die Sklerosirung entspricht wesentlich der grauen Substanz, ist auf dem Durchschnitt glänzend weiss, derb , zeigt an einzelnen Stellen deutliche Faserung, und ist gegen die Markmasse durch eine schmale gelbbräunliche Leiste abgegrenzt. An einzelnen Stellen erstreckt sich die

Schal«, Geisteskrukhoiten. 3. Aufl. 33

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514

Der Idiotismus.

Sklerosirung nur auf die tiefem Rindenpartieen , während peripher ein grauer Saum erhalten bleibt. Im Marklager der rechten Hemisphäre zerstreute punktförmige Suggillationen. Mittelhirn, Zwischenbirn, Klein- hirn, Medulla ohne Sklerosirungen; das Gewebe erscheint hier normal.

2. M i k r oce p hali e. Asymmetrie der H emisphären. Ano- malie der Windungen, schwache Entwicklung des Balkens

Fig. I.

(vgl. Fig. 1 und 2i. A. I). 4 Jahre alt, 8 Monat-Kind, Anfangs mit Eselsmilch und Cognak ernährt , später mit Ammenmilch. Anscheinend

Fig. 2.

normale psychische Entfaltung; im Lebensmouat eclampt. Convulsionen (Erblassen, tunische Krämpfe in Armen und Beinen), welche später als

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Pathol. Anatomie. Asymmetrie der Hemisph. Anomalie der Windungen. 515

eigenthtimliche Streckbewegungen (auf Berührungen) wiederkehren. Dürf- tiges elendes Aussehen. Völlig hilflos; kann nicht stehen und sitzen; keine Spur eines psychischen Lebens. Klägliches Aechzen ohne deutliche Unterschiede für Lust oder Unlust. Bei jeder Berührung eines Körper- theils opisthotonische Streckkrämpfe, links mehr als rechts; mit Sistirung der Respiration und Cyanose. Tod an katarrh. Pneumonie. Autopsie; Schädelumfang horiz. 40 cm.; Längsumfang 27; Ohrscheitellinie 27 cm.; linke Hälfte schwächer gewölbt; Nähte mit Ausnahme der Stirnnaht er- halten; dünne Knochen, theilweise transparent. Dura mater nicht verwachsen. Leptomeningen stellenweise ödematös, getrübt und da und dort mit Rinde verwachsen. Gehirn: Gewicht 625. Rechte Hemisphäre (Fig. 2): Centraiwindung weit nach rückwärts liegend (6,9 cm. von Spitze des Stirnlappens, resp. 5,7 von der Spitze des Hin- terhauptlappens); geht gabiig getheilt direct in die Foss. Sylv. über.

I. Fiss. temp. reicht nur bis an die Grenze vom hintern und mittlem Drittel des Schläfelappens; I. Temp.-Wdg. kammförmig verschmälert. Im Uebrigen zeigt die Windungsanlage keine erheblichen Abweichungen.

Linke Hemisphäre (Fig. 1): Centraifurche tief eingeschnitten, ziemlich senkrecht, oben gabiig sich theilend, mündet direct in die Foss. Sylv. Stirnlappen: Anordnung der Windungen ziemlich genau wie rechts, nur zeigt sich der Fuss der III. Windung kammartig verschmälert, tief- liegend, d. h. von benachbarten Windungszügen Uberragt; der vordere Theil stellt eine plumpe, vorn durch einen Querschnitt scharf abgesonderte Masse dar ('s. Abbildg.). Schläfelappen ganz atypisch : die Parallel- spalte mündet in die Fosaa Sylv. aus; die Basis des Lappens nach hinten ist durch eine tiefe, von der Einmündung der Rolando'schen Furche aus nach hinten und unten verlaufende Spalte vom Hinterlappen getrennt.

Die GrössendifTerenz beider Hemisphären ist auch in den grossen Ganglien, namentlich im Thalamus, sichtbar (1. kleiner als r.J; ebenso in der Pyramide.

Der Balken stellt eine Uberaus dünne, hautartige, auf dem sagittalen Durchschnitt nur schwach inarkirte Masse dar. Commiss. med. auf- fallend breit und dünn. Ammonshorn verkümmert. Ventrikel mässig erweitert; Ependym verdickt. Tract. opt. dext. und n. opt. sin. plat- ter und schmäler als der der andern Seite. Corticalis leicht bläu- lich transparent. In der Markmasse der Windungen strangartig weisse Par- tieen neben der gelblich gefärbten, etwas transparenten, Umgebung.

3. Schwachsinn leichteren Grades. Epilepsie. Hydro- ceph. cong. Atypie der Windungen, speciell der Centrai- furche (vgl. Fig. 3). W., 10 Jahr alt, Zangengeburt, von jeher grosser Kopf; Gehen erst später erlernt, langsame psychische Entwicklung; vom 5. Jahr epileptisch. Sehr erregbar; Schulbesuch nicht ohne Erfolg. Keine schwereren motorischen oder sensiblen Störungen. Keine coordin. Sprach- störung. Stirbt nach der Aufnahme an Scarlatina.

Autopsie: Exquisit hydrocephalischcr Typus (horiz. Umfg. 57; Längsumfang 37; grösste Breite 16; Längsdurchmesser 19; Are. supra- orb. Protub. oeeip. r. IS; 1. 18,5; Distanz der Stirnhöcker 4,0; der

33*

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516

Der Idiotismus.

Proc. zygom. lü; des Meat. aud. ext. 12,5; Breite des Sept. orb. 2,5; Gesichtslänge 1 1,2; Gesichtshöhe S; Gesichtsbreite 6; Schädeldach gleich- massig verdünnt; Nähte, ausgenommen Stirnnaht, erhalten; Dura mater normal, nicht verwachsen. Leptomcningen verdickt, getrübt, theilweise adhärent, sehr injicirt. Im Arachnoid.-Raum, namentlich der Basis, viel Serum. Ueber der 1. Kleinhirnhemispbäre findet sich eine von den weichen Häuten umschlossene cystenartige Bildung, welche mit dem Subarach.-Raum nicht commnunicirt, und zu einer Compression der 1. Kleinhirnhemisphäre geführt hat.

Fig. 3.

Gehirn: Gewicht 1550; Windungen abgeplattet, breit und plump. Rechte Hemisphäre: Centraifurche nicht sehr tief. Dieselbe mündet oben nicht in die Me dianapalte, sondern kerbt nur den untern Rand der I. Front. -Windung ein, so dass diese mit dem Scheitel- läppchen continuirlich zusammenhängt. Die Centraifurche scheint direct in die Foss. Sylv. überzugehen, jedoch zeigt sich in der Tiefe noch einen

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Patholog. Anatomie. Atypie der Windungen (Centralspalte). 517

Abschluss durch einen schmalen Windnngsbogen. Interparietalspalte ist tiefer als die Rolando'sche Furche.

Linke Hemisphäre: etwas kleiner als rechte. Centraifurche reicht hier nur bis in die Mitte der II. Front.- Windung, so dass diese und die erste sich in den Scheitellappen fortsetzen (Rückkehr zum hori- zont. Furchungstypus?). Nach unten geht sie in die Foss. Sylv. Uber. Fiss. interpar. sehr tief und gut entwickelt. L. Ammonshorn abgeplattet. Ventrikel sehr erweitert, enthalten circa 1 50 grm. helles Serum. Ependym stark verdickt. Commiss. med. bildet einen weissen, runden Strang, un- gefähr von der Dicke des Oculomotorius. Grosshirnganglien, beson- ders der Thalamus, links breiter als rechts ; ebenso Pyramide. Link, hint. Vierhügel kleiner als rechts. In Medulla und Kleinhirn ausser der oben beschriebenen Compression nichts Abnormes.

Betreffs der Veränderungen am Schädel ist die Beobachtung von Interesse, dass bei Idioten sehr selten Fälle vorkommen, in welchen die pathologische Hirnveränderung als Folge prämaturer Nahtsynostosen anzusehen wäre (Wildermuth). Complete Obliteration der Nähte fand sich nur bei einem 9jährigen epileptischen Knaben mit erethischem Schwach- sinn höheren Grades. Bei einem makrocephalen Schädel (49 cm. Um- fang) waren sämmtliche Nähte, auch die Stirnnaht, erhalten (Cystenbil- dung im rechten Hinterhaupt-Scheitellappen).

Der Schwund des Gehirns (aus irgend welcher Ursache) wird aus- geglichen 1. durch gleichmässige Verdickung der Schädelknochen, meist verbunden mit Sklerosirung ; 2. durch Ausdehnung (oft bis zu einem enormen Grad) der lufthaltigen Nebenräume der Nase und des Mittel- ohrs. Diese beiden erwähnten Compensationen allgemeiner oder partieller Hirnatrophieen scheinen häufiger vorzukommen, als die durch entsprechen- den Ausgleich mit Liquor.

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REGISTER.

Abdomen beim Delirium acutum me- lancholicum 333.

Ableitungen beim Delirium acutum 340. bei Epileptischen 26S. 269.

Abmagerung beim Delirium acutum paralyticum 336. bei Dementia se- nilis (schwerer Form) 392. bei pacchymeniogitischen Zufällen 385.

bei der psychischen Meningo- Periencepbalitis chron. 380.

Abscesse bei Delirium acutum melan- chol. 334.

Absenzen im epileptischen Irresein 263.

Abstumpfung, allgemein gei- stige, als Form d. torpiden Schwach- sinns 116.

Abulie beim circularen Irresein 309.

bei Dementia (attonischer Form) 214. bei Melancholie (periodischer Form) 298. , seelische, bei Melan- cholikern 29. bei Stupor (halluci- natorischer Form) 225. 226. bei Verfolgungswahn 155. bei Wahn- sinn (chronisch-degencrativem hysteri- schen) 249, (dumonomanisch-halluci- natorischem) 179, (hypochondrischem) 160, (der hystcrisch-katatoneu Form) 247.

Abwehr-Reactionen gegen innere Traumvorgänge beim Delirium acutum melancholicum 332.

Aderlass, Unterlassung dess. in der Manie SS.

Aetherinjectionen beim Delirium acutum paralyticum 340.

Aetzungen der Clitoris zur Behand- lung der Hysterie 253. Affe et starre bei Melanchia attonita

74.

Agoraphobie 446. Agraphie bei Dementia senilis 392. Agrypnie bei Verfolgungswahn 149. Albuminurie bei Delirium tremens 417. Alexie bei schwerer Dementia senilis 392.

Alkoholepilepsie 424.

Alkoholgenuss, Verbot dess. bei Paralyse 376.

Alkoholismus 401. agitirter 413. , chronischer 15. 410. , paralyti- iormer 417. , Therapie dess. 425. , Veranlass, z. Eifersuchtswahu 163, z. Wahnsinn (cerebrospinalem) IS6.

Alkoholparalyse 417.

Alkoholpsychosen 401. , speci- tische 404.

Allegorisirungcn, damonomane, bei Grössen wann 165. bei Gehirnatro- phie 391. in der Melancholie 36. 55. , sensible, bei acutem hypochon- drischem Wahnsinn 186.

Alternirende Psychosen 316. , al- ternirender Typus ders. 317. , Ver- lauf ders. 317.

Amaurose bei primärer Hirnatrophie 389.

Amnesie beim epileptischen Irresein 263. , hereditäre 463. im hystero- epileptischen Anfall 241. bei patho- logischen Rauschzuständen 404. bei d. tran8itorischen Seelcnstörungen

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519

457. beim Wahnsinn (peracutem manischen) 461. [390.

Analgesie bei primärer Hirnatophie

Anämie, angeborne 429. in Bez. z. attoniscben Dementia 215.—, Behand- lung ders. bei Hysterie 251; bei Me- lancholie 46. beim Delirium acutum paralyticum 336. in Bez. z. hyste- rischen Katatonie 247. bei Idioten 502. bei Mania (typica) 112. bei Melancholie 54. 298. bei primärer Gehirnatrophie 390. , Ursache des Delirium acutum paralyticum 334. t Veranlassung zu intellectueller u. mo- ralischer Schwäche 496. bei Ver- folgungswahn 149. bei Wahnsinn 174. 188. 191. 196.

Anaesthesia psychica dolorosa>5.

Anästhesie bei attonischer Demen- tia 214. 215. in der Ekstase der HyBterie 242. bei Gehirnatrophie (primärer) 386. 390. in der Manie Mi. bei Melancholie 37.

Anarthrie bei Paralyse 348. bei der psychischen Pacchyraeningitis 381.

bei psychischen Rückenmarkser- krankungen 395.

Angst zustände bei den alternirenden Psychosen 319. beim Blödsinn (apathischen) 129. beim Delirium acutum melancholicum 331. 332.

bei der Dementia senilis 392. beim epileptischen Irresein 263. bei Gehimatrophie (primärer) 388. bei Grössenwahn 166. bei Hypo- chondrie 285. , Localisirung ders. bei der Melancholie 36. bei Me- lancholie 26. 36. 55. 298. als Par- ergon des Reflexactes 26. bei den periodischen Mauieparoxysmen 290.

bei der psychischen Encephalitis syphilitica 397. bei der psychischen Meningo-Periencephalitis chron. 379.

bei Stupor 309. bei Trinker- wahnsinn (acutem) 407. beim Ver- folgungswahn 155. bei Wahnsinn (acutem dämonomanen) 17 8, (acutem melancholischem) 1S8. 189, (halluciua- torischem) 176. , wichtiges psychi-

sches Symptom der Melancholie 26.

als Zwangsvorstellung 437. Anomalieen der Constitution als Ur- sache psychischer Schwäche 115. in der Sphäre der Vorstellungen 29.

Anstaltsbehandlung bei Blödsinn 129. bei epileptischem Irresein 286.

bei Hypochondrie mit Neigung zu Selbstmord 286. jugendlicher Epi- leptiker 276. bei Manie 91. bei Melancholie 47. bei Paralyse 378.

bei psychisch. Schwächezuständen 129. bei Wahnsinn 145. 193. 195.

Antiphlogosc beim Delirium acutum 340.

Apathie bei Blödsinn 123. bei geistiger Schwäche 119. bei Me- lancholie 25. bei Paralyse 359. 362. bei der psychischen Pacchy- mengitis 3S4.

Aphasie bei Hirnatrophie 389. bei Paralyse 319. 354. 366. bei der psychischen Pacchymeningitis 384. 385.

Apoplektiforme Anfälle bei Para- lyse 355. 362. 366. bei der schwe- ren Dementia senilis 391.

ApopTexieeu mit nachfolgenden Blöd- sinn- LähmuDgszuständen 393.

Ap pe reeption, allegorisireude , bei Wahnsinn 131. der Paralytiker 356.

bei Schwachsinn 116. 117, (idioti- schem) 504. Wahnsinn 131, (acutem) 180, (acutem melancholischem) 187, (hallucinatorischem) 175, (secundärem) 120.

Appetit bei circulärer Manie 87. bei epileptischem Irresein 258. bei Melancholie 39

Arbeitsscheu jugendlicher Epilep- tiker 273.

Arzneimittel, Einfluss ders. auf die alternirenden Psychosen 318.

Association beim Blödsinn 122. in der Manie S4.

Asylpflege bei Blödsinn 283. bei Epilepsie 26S. bei hypochondrisch. Irresein 286. bei Hysterie 254. bei Melancholie 47. bei Paralyse 376.

Asymbolie bei Paralitikern 356.

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520

Register.

Ataxie beim Delirium acutum melan- cholicum 331. 332. bei Paralyse 342. 350. 351. bei der psychischen Meningo-Periencephalitis chronica 379.

Athetotische Bewegungen bei Idiotie 499. bei Melancholie (chronischer) 62. bei Paralyse 351.

Atrophie der Hoden bei contrarer Sexualempfindung 449. der Pupil- len bei primärer Hirnatrophie 390.

A tropin bei epileptischem Irresein 271.

Attonitätsphase bei Melancholie 75.

A tt onitäts zu st ände bei chronischem Wahnsinn 145.

Augen bei Delirium acutum manicale 329. 330. - bei Wahnsinn 179.

Augenspiegelbefund bei Paralyti- kern 356.

Aztekenköpfe Idiotischer 510.

Bäder bei Delirium acutum 340, tre- mens 425. bei Dementia acuta (8tupid-hallucinatorischer) 232. beim epileptischen Irresein 269. bei Pa- ralyse 376. 377. 401. in der Ma- nie 88. bei Melancholie 40.— bei Stupor 231. 232. bei Wahnsinn (acutem manischen) 194.

Beeinträcbtigungswahn bei der masturbator. Melancholie 70.

Beklemmungen in der Magengegend und im Schlünde bei der Melancholie 33. 56.

BerOhrungsfurcht bei originärem Verrucktsein 477.

Beschäftigung bei epileptischem Irre- sein 269. bei hysterischem Irresein sein 254. der Melancholiker 47. bei Paralyse 376. 378. bei Stupor 232. 233. bei Wahnsinn (acutem manischen) 194. [387.

Betäubtheit bei primärer Hirnatrophie

Bettruhe bei Delirium acutem 340. bei Melancholie 41.

Bettsucht bei Melancholie 298. 306.

Bewegungsdrang in der Mania gra- tis 81.

Bewusstheit, Beziehung ders. zur Seelenstörung 3.

Bewusstsein, Ausflösung der Einheit dess. 6. bei Blödsinn 122, (idiotisch.)

498. beim circulären Irresein 308.

bei Delirium acutum 325. 326, maniacale 328, melancholicum 332, paralyticum 334. 335, tremens 414. 417. im epileptischen Irresein 25S. 260. 262. 263. , Gradmesser für die Tiefe einer Cerebralaffection 9. bei Gehirnatrophie (primärer) 387. bei Hysterie 234. 240. 242. bei Idiotie

499. bei Katatonie 195. 198. 202. 208. 210. bei Manie 76, (hysteri- scher) 244, (periodischer) 290. 293. 296, (schwerer) 107. 110. bei Me- lancholie 137, (attonischer) 73, (hy- pochondrischer) 65, (hysterischer) 243, (periodischer) 298. bei Moria 106.

bei Paralyse 343. 360. 366. bei der psychischen Meningo-Periencepha- litis chronic. 379. bei Schwachsinn (reizbarem) 117. 118. bei Stupor (circulärem) 309. 310, (hallucinatori- schem) 225, (postmanischem) 219. bei Trinkerwahnsinn (acutem) 406. bei Wahnsinn 120. 132. 133. 134. 135. 137. 176. 182. 183. 188. 192. 197.249. 305. bei der Zorn-Manie 102.

Bier bei Behandlung der Paralyse 378.

Blödsinn 122. -, apathischer 108. 127. 180. 190. 224. 230. 250. nach Apoplexieen 393. nach Delirium acutum 330, (maniacale) 326. , epi- leptischer 262. 264. 267. bei Ge- hirnatrophie 389. , hypochondri- scher 283. , idiotischer 498. , in- tellectueller, bei Moral Insanity 495. ,katatoner207. —.klinisches Krank- heitsbild dess. 122. 126. bei Me- lancholie (masturbatorischer) 72. in Bez. z. Moria 105. bei Para- lyse 342. 347. nach Paralyse 362. 365. , primärer 95. 212. bei psy- chischen Cerebralleiden 15. 394. durch psychische Meningo-Perience- phalitis ebron. 380. als psychischer Schwächezustand 7. , Therapie dess. 129. transitorischer 228. , Verlauf dess. 129. - , versatiler 122.126.

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521

Blutbeschaffenheit, Verbesserung ders. beim hallucinatorischen Stupor 227. bei der Hysterie 251.

Blutentziehungen beim Delirium acutum 340. beim epileptischen Irresein 269. bei Paralyse 376. bei der stupid-hallucinatorlschen De- mentia acuta 232.

Blutextravasate bei der chronischen Melancholie 63. in die Muskeln bei Paralyse 358.

Brandstiftungstrieb bei chroni- schem Alkoholismus 413. , heredi- tärer 443.

Brech weinsteinsalbe bei stupid- hallncinatorischer Dementia acuta 232.

Bromkali zur Behandig. des hysteri- schen Irreseins 253. 254, der Manie 89, der Melancholie 42. 44.

Brom praparate zur Bebandlg. des epileptischen Irreseins 270.

Bronchialkatarrh beim Delirium acutum paralyticum 336. beim De- lirium tremens 416.

Brustkrankheiten bei attonischer Melancholie 75.

Bulbäre Erscheinungen bei Idiotie 510.

Calabarinlösungen zur örtlichen Behandlung der Hysterie 253.

Carbolwasser zur örtlichen Behand- lung der Hysterie 253.

Caries der Knochen bei Paralyse 358.

Carotidencompression zur Coupi- rung eines epileptischen Anfalls 269.

Castration zur Behandlung der Hys- terie 253.

Centrainervensystem, Beziehung dess. zur Seelenstörung im Allge- meinen 2. 4.

Cerebralinnervation, Bez. ders. z. den Leistungen der Sinnesfunctionen in der Melancholie 33.

Cerebraileiden, psychische 19. durch Encephalitis syphilitica 396. unter der klinischen Form des pro- gressiven Blödsinns mit Lähmungen,

bedingt durch Neubildungen im Ge- hirn 394. der Hereditarier 457.

Cerebropsychosen 17. 378.

Charakter, alkoholischer 412. , epi- leptischer 264.

Charakteranlage, Bez. ders. zur periodischen Manie 288.

Charaktero lo gis che Reife bei männlichen Hereditariern 455.

Chinin bei Melancholie 46. bei Para- lyse 377.

Chi oral im Delirium tremens 425. beim epileptischen Irresein 269. bei Melancholie 41. bei Paralyse 376.

Chlorose, Behandig. ders. bei Hyste- rischen 251.

Chorea, Beziehung ders. z. periodi- schen Manie 292. Coraplicat. der Epilepsie in der Jugend 272. bei originärem Verrücktsem 477.

Choreaartige Bewegungen beider circulären Form des Stupor 310. bei Idiotie 499. 510.

Circuläre Geistesstörungen 299. Entwicklung ders. 300. , zeit- liche Gruppirung der Intervalle und Paroxysmen ders. 314.

Circuläres Irresein 301. , De- pressionsphase dess. 301. , Exalta- tionsphase dess. 301. , freies Inter- vall dess. 301. , Symptome dess. 302. , Verlauf dess. 308.

CirculationsBtörungen in der Ka- tatonie 197. im Wahnsinn (chro- nischen) 146.

Collaps im Delirium acutum mania- cale 329. 330. bei psychischer Meningo-Periencephalitis chron. 380.

Conjunctiva im Delirium acutum 328. 332.

Constitution, geschwächte nervöse, bei cerebralen Schädlichkeiten 10. , neuropathische , Bez. ders. zur hypochondrischen Melancholie 63. , Störungen ders. bei Manie 112.

Contracturen bei Idiotie 499. bei Paralyse 351.

Contusionen im Delirium acutum maniacale 328.

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522

Register.

Convulsioneu im Delirium acutum 325. 326. 330. , epileptische, bei der schweren Dementia senilis 391.

in den ersten Lebensjahren, Bez. ders. zum epileptischen Irresein 256.

in der Hysterie 234. in der Manie 79. bei Melancholie 56. bei Para- lyse 353. 354. 363. 366. bei der psychischen Meningo- Periencephalitis chronic. 380.

Coordinationsß töruugen bei Idio- tie 499. 503. 509. bei Paralyse 350.

Cretinismus, Complic. der Idiotie 511.

Cyanose beim Blödsinn 126. im Delirium acutum maniacale 329. der Extremitäten bei Melancholia attonita 75.

Dämmerzustand, geistiger, im Delirium acutum 327. 332. 334. bei Dementia acuta 22o. 222. bei er- schöpfenden Geburten 229. bei epi- leptischem Irresein 262. beim hy- sterischen Irresein 242. 247. 248. 250.

jugendlicher Epileptiker 275. in der Manie 104. 108. 111. bei men- strualen Psychosen 322. bei psy- chischer Pacchymeningitis 384. bei Stupor 226. 257. 309. 310. im Wahnsinn (attonischen) 200. 202. 209, (secundärcu) 120.

Dämonomanie 102. , Bez. ders. z. Delirium acutum auergeticum 334.

Dämono raelanchol ie 32.

Decubitus bei Paralyse 35S. 363. im Delirium acutum (maniacale) 329, (melancholic.) 33-1, (paralytic.) 336.

Defecte, psychische 497. bei Encephalitis syphilitica 397. bei Wahnsinn 131.

Degeneration, Complic. der Idiotie 510. der Hintcrsträngc bei psychi- schen Hückenmarkserkrankungen 394.

bei Verfolgungswahn 159. Delirien bei Furor 100. 102. bei

Gehirnatrophie (primärer) 390. , halluciuatorische, jugendlicher Epi- leptiker 275. bei Mania gravis 93.

1 10. bei Paralyse 366. bei psy- chischen Rauschzuständen 41)5. bei Trinkerwahnsinn (acutem) 456. bei Verfolgungswahn 149. bei Wahn- sinn (acutem) 178. Delirium acutum 16. 325. , Äti- ologie dess. 325. anergeticum 8. paralyticum 334, (Symptome dess.) 334, (Verlauf dess.) 335. , Behand- lung dess. 340. bei Encephalitis syphilitica 398. , hallucinatorisches, beim epilepischeu Irresein 262. , hysterisches 210. , Inanitionsformen dess. 334. , irritative Formen dess. 326. maniacale 84. 110. 326, (Sym- ptome dess.) 326. 330, (Verlauf dess.)

329. melancholicum s. stupurosum

330, (Symptome dess.) 331, (Unter- scheidung dieses vom D. ac. mania- cale) 331, (Verlauf dess.) 333. , mi- kroskopischer Befund des Gehirns bei dems. 338. bei Paralyse 363. , pathologischer Gehirnbefund bei dems. 336. , postepileptisches ängst- liches 258. bei der psychischen Meningo -Periencephalitis chron. 380.

tremens 413. bei Alkohol- epilepsie 424. 425. , Dauer dess. 410.

fieberhaftes 417. , Krankheits- bild dess. 413. , Prognose dess. 417. , Therapie dess. 425.

Dementia, acute primäre 211. , atto- nische 214. , Behandlung ders. 231. 232. nach circulärem Irresein 308. , chronische (Verlauf ders.) 218. , degenerativ-hysterische 250. , epi- leptische 267. beim hypochondri- schen Wahnsinn 161. , katatone 211. , Krankheitsbild ders. 212. als Psychose des invaliden Gehirns 12. , senile, schwere 391. , stupid- hallucinatorische 220. , ohne Stupor 228. , stuporöse 177. 214. , tabi- sche 395. bei Trinkerwahnsinn (acutem) 409. , Verlauf ders. 216. 223.

Dcnkthätigkeit des Blödsinnigen 122. Depressionszustände im circulären Irresein 307. bei Delirium acutum

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331, (anergeticum) 334. bei Me- lancholie (circulärer) 306, (periodischer 298. bei den menstrualen Psychosen 322. bei Paralyse 364. als Typen geistiger Schwäche 119.

Derivantien bei Paralyse 376.

Deviation des Kopfes bei pacehyme- ningitischen Zufällen 365.

Diät bei Blödsinn (apathischem secun- därem) 130. bei Delirium acutum 340. bei epileptischen Irresein. 209.

bei hysterischen Irresein 251. bei Manie 68. 90. bei Melancho- lie 41. 45. 47. bei der neurasthe- nischen Form der Hypochondrie 286.

bei Paralyse 376. 377. 37S. , roborirende, bei der hallucinatorisch- stupiden Form der primären Dementia 232. beim Wahnsinn (manischen) 194.

Diarrhöen im Delirium acutum (ma- niacale) 329, (melancholicum) 334, (paralyticum) 336. bei Mania gra- vis 67. bei der psychischen Meningo- Periencephalitis chron. 3S0.

Dipsomanie, Heredität ders. 444. menstrualis periodica 322.

Dissimulation bei Eifersuchtswahn 162. bei Verfolgungswahn 153.

Dolores osteocopi bei Encephali- tis syphilitica 398.

Dura mater, Veränderungen ders. bei Paralyse 369.

Durstgefühl nach einem postepilep- tischen Delirium 259.

Dysästhesieen bei Melancholie 31.

Echolalie bei Blödsinn 123. bei Katatonie (hysterischer) 209.

Egoismus der Epileptiker 264. der Hypochondrischen 279. derllysteri- schen 235. 246. der Idioten 504.

bei reizbarem Schwachsinn 117. Eifersuchtswahn bei Frauen 162.

bei Männern 163. , temporärer 162.

Einbildung des Wahns 173. Einfallswahnsinn 152.

Eis bei Congestionen Epileptischer 268.

im Delirium acutum 340. in der Manie 8S. 89. bei Paralyse 376.

bei den Raptusanfällen Hysterischer 254. bei vasomotorisch. Störungen im Wahnsinn 194.

Eisenpräparate bei Hysterie 251 .

bei Melancholie 46. Ekelempfindung der Melancholiker

34.

Ekstasen bei hallucinatorischem

Wahnsinn 176. der Hysterie 242.

Elektricität bei Hysterie 251. 253. bei katatonem Blödsinn 195. bei Melancholie 44. 48. 254. bei Para- lyse 377. 401.

Encephalitis mit Geistesstörung 379. , atheromatöse bei Gehirnatro- phie 391. , mit Capillarektasieen 394. , complic. mit Rtickenmarkser- krankungen 394. - , Diagnose ders. 394. , diffuse 15. durch Neubildungen 15. 394. , sklerosirende 15. 393. , specitische 400. , suhacute 379. , syphilitische 15. 396. s. auch Meningo-Periencephalitis chronic.

Ependyraitis, chronische, bei pri- märer Hirnatrophie 3hb.

Epilepsie 12. , alkoholistische 424. , Bez. ders. z. Paralyse (hallucina- torischer) 360. 361. , Complic. der Idiotie 509. 515.

Epileptiforme Anfälle in der Jugend 275. 276. bei Paralyse 362. Zuckungen bei psychisch. Meningo- Periencephalitis chronic. 380.

Epileptischer Charakter 204.

Epileptisches Irresein Erwachse- ner 255. , alternirender Typus dess. 317. , Auftreten (zeitliches) dess.

256. 257. , Behandlung dess. 26s. , Beziehung dess. zu den epilepti- schen Krampfanfällen 255. 201. , Entstehung und weitere Entwicklung dess. 256. , Erscheinungsformen dess. 262. , forense Beziehung dess. 266. , pathologische Anatomie bei dems. 207. , postepileptisches 255.

257. , Symptomatologie dess. 257.

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, Varietäten des postepileptischen 259. in der Jugend 271. , acute psychische Störungen bei dems. 274. , Beziehung des jugendlichen zu den epileptischen Insulten 274. , Charakteränderung beiden». 272. 273.

Häufigkeit der Anfälle dess. 272, , prä- und postepileptisches 275. , Therapie dess. 276. , Unterscheidung dess. von der typischen Epilepsie 373.

Erblichkeit, s. Heredität.

Erbrechen bei attonischer Dementia acuta 215. bei Idiotie 500.

Ergotineinspritzungen im Deli- rium acutum 340.

Erinnerung im circulären Irresein 307 . 308. nach Delirium acutum melan. chol. 333. nach Dementia (mit Hal- lucinationen) 223, (mit Stupor) 218. im epileptischen Irresein 258. 259. 260. 262. 267. bei Furor 101. des Hypochonders 285. nach einem hystero- epileptischen Anfall 241. in der Manie 90. 94. 95. bei Stupor (circulärem) 310, (hallucinatorischem) 227 . bei Wahnsinn (acutem) 179.181.

Ermüdung bei Hirnatrophie (primärer) 386. nach einem postepileptischen Delirium 259.

Ermüdungagef Ohl, motorisches, in der Manie 86.

Ernährung bei Blödsinn 126. im Delirium acut, paralyt. 335. bei Dementia (hallucinatorisch - stupider Form) 232. bei Furor 105. bei Hysterie 251. bei Idiotie 510. bei Manie 95. 109. 113. bei Me- lancholie 38. bei Paralyse 361. 372.

bei Stupor (attonischem) 231, (hal- lucinatorischem) 226. 227. bei Wahn- sinn 194. 199. 203.

Ernährungsschwäche, Veranlas- sung zum Delirium acut, paralytic. 334.

Erotomanie, Heridität ders. 445.

Erotische Verrücktheit 174. bei Masturbanten 453.

Erregbarkeit, Steigerung der moto- rischen bei Furor 100.

Erschlaffung, geistige, im circu-

lären Irresein 307. bei primärer Gehirnatrophie 386.

Erschöpfung, cerebro- spinale, Ur- sache der Paralyse 342. durch Fie- berprocesse als Ursache der primären Dementia 228. nervöse, Veranlas- sung zu Delirium acutum paralyt. 334. perniciöse des Gehirns, Ursache von Seelenstörung 19. stuporartige nach einem hystero-epileptischen An- fall 241. bei Wahnsinn (acutem manischen) 193.

Erweichungsherde, locale bei Hirn- atrophie 390.

Erytheme an Hals und Gesicht bei Paralyse 357.

Erziehung, Bez. ders. z. periodischen Manie 288. , Einfluss ders. auf he- reditäre Psychosen 430. nervös be- lasteter Kinder 464.

Essgier Blödsinniger 124.

Ethischer Defect, Bez. dess. zu epi- leptischen Irresein 272; zur Moral In- 8anity467. 489. 495 ; zum Querulanten- wahnsinn 470. 473; zur Seelenstörung im Allg. 20.

Exaltation im Wahnsinn 113, (sub- acute erotische) 174.

Excesse, Bez. ders. zur Melancholie (neurasthenisch-torpiden Form) 68 ; z. Verfolgungswahn 148. Hangz. dens. bei Manie 78.

Extremitäten beim Delirium acutum (maniacale) 326, (melancholic.) 332, (paralytic.) 335. , bei pacchymenin- gitischen Zufällen 385.

Farbensinnstörungen bei primärer Hirnatrophie 390.

Fettzunahme im chronischen Stadium der alternirenden Psychosen 321. im Verlaufe der Hysterie 246.

Fieber beim Delirium acutum 325. 326. 328. , Irresein durch dass. 228. bei Manie 92.

Flimmern vor den Augen bei Ver- folgungswahnsinn 146.

Fluxionen, vasomotorische bei Me-

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lancholie 37. nach dem Kopf, s. Kopfcongestionen.

Foetor ex ore beim Delirium acutum (melaochol.) 333, (paralytic.) 336.

Folie circulaire 87.

Forense Untersuchung Geistes- kranker 3.

Formgestaltung der impulsiven Acte Hereditarier 442.

Fragezwang krankhafter, Hereditarier 442.

Freiheitsberaubung, Einfluss ders. bei Moral Insanity 494.

Furor 92. 98. bei Dementia acuta (mit Hallucinationen) 224. , epilep- tischer bei Stupor (circulärem) 309. , Krankheitsbild dess. 99. , ma- nischer 184. , melancholischer 5S. 101. Paroxysmen de68. 100. 101. 103. , Reconvalescenzstadium dess. 105. , Verlauf dess. 104. bei Wahnsinn 165. 189.

Furu neulose, Complic. des Delirium acutum 333; der Manie 87; pacchy- meningitischer Zufälle 385.

Oaloppirende Paralyse mit Geistes- störung 381. Behandlung ders. 400.

Gangran der Haut bei Paralyse 363.

Ganglien, Veranderg. d. corticalen d. Gehirns bei Paralyse 371. 373.

Gastricismus beim Delirium acutum 333. bei Melancholie (masturbato- risch.) 70. beim Verfolgungswahn 158.

Gaumenparese beim Delirium acu- tum melanchol. 334.

Gaumenspalten, Complicat. mit Idio- tie 510.

Geburten, Ursache von primärer De- mentia 229.

Gedächtniss 6. bei Alkoholismus chronicus 418. 424. beim Blödsinn 123. im Delirium tremens 416. bei Furor 101. bei Manie 90. 94. bei primärer Hirnatrophie 386. 389. bei schwerer Dementia senilis 392. bei Verfolgungswahn 148; s. auch In- tellect.

Gedanken drang der Melancholiker 25. 30.

GefäsBveränderungen des Gehirns bei Paralyse 370. 371. 372. 373. 374.

bei der psychischen Meningo-Pe- riencephalitis chron. 380.

Gefangenenwahnsinn, acuter 183. Gefühlsphäre bei Manie (periodischer) 294. Melancholie 23. 25. 32. 50.

bei Schwachsinn (torpidem) 116.

bei Wahnsinn (chronisch depres- sivem) 159.

Gehirn, psychische Leistungskraf t dess. bei Melancholikern 31. , Psychosen des defect veranlagten 15. 19; des in- validen 12. 17; des rüstigen 12. 14. 17.

Gehirnaffectionen, Bez. ders. z. See- lenstörung im Allg. 4. bei Delirium acutum 325. , Heridität ders. bei Cerebralpsychosen 428. durch Hypo- chondrie 284. bei Manie 78. 107. 110. 112. bei Verfolgungswahn 168.

Gehirnauämie bei der Inanitionsform des Delirium acutum 337.

Gehirnatrophie, primäre mit Geistes- störung 386. mit Hallucinationen 387. bei Hypochondrie 264. mit localen Erweichungsherden oder Apo- plexieen oder multiplen Sklerosen 390.

bei Melancholie 63. 386. bei Paralyse 369. 372. 373. mit Reiz- erscheinungen (entzündlichen) 389. ohne Reizerscheinungen 366. mit Wahn 388.

Gehirndruck bei acuter primärer De- mentia 212. im Delirium acutum melanchol. 334. im postmanischen Stupor 220.

Gehirnentwicklung, Bez. ders. zur Seelenstörung 2.

Gehirnerschöpfung, anämische als Ursache des acuten Delirium 16. 325. 326. 331. bei Manie (periodischer) 294. nach Wahnsinn (acutem me- lanchol.) 189, (dämonomanisch-hallu- cinatorisch.) 179.

Gehirngebiete, höhere, Bez. der relativen Functionsbeziehung ders. zur Seelenstörung 2.

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Kegister.

Gehirnhäute, Veränderungen ders. bei epileptischem Irresein 267, bei Pa- ralyse 372. 373.

Gehirn hyperämie im Delirium acu- tum durch üirnreizung 336, tremens febrile 417. bei Paralyse 16. 372. 373.

Gehirnlähmung im Delirium acutum 329. 330. bei Paralyse 363. 366.

Gehirnödem bei Delirium acutum (Inanitionsform) 337.

Gehirnreizung in der Manie 81. 93.

bei schwerer Dementia senilis 39 1 . , Ursache des acuten Deliriums 325. 326.

Gehirn - Rückeumarkssklerose, psychische Störungen bei ders. 393.

Gehirnstase bei Delirium acutum me- lanchol. 331.

Gehirntorpor bei acutem Wahnsinn 179.

Gehirnveränderungen beim epilep- tischen Irresein 267. bei Idiotismus 512. 514. 515. bei der psychisch. Mcningo-Periencephal. 361.

Gehörsstörungen Melancholiker 34.

Paralytiker 356.

Geis tess ch wache durch schwere De- meutia senilis 392.

Geistesstörungen, acute als Beginn der schweren Dementia senilis 391. , altemirende 316. , circuläre 299. , periodische 288. , Wesen ders. 3.

Geistiger Zwang bei Seelcnstörung 2.

Gemüthsaffecte beim Delirium acu- tum (paralytic.) 334. , heftige als Ursache circulärcr Psychoseu 300, von Delirium acutum (mauiacale) 326. bei Hypochondrie 277. 279. 2S2. bei Hysterie 234. 246. 247. beim idio- tischen Schwachsinn 506. beim Idio- tismus 500. 502. 504. bei Manie SO. 292. 293. 304. bei Melan- cholie 23. 34. 305. 306. 307. bei Paralyse 345. 360. bei reizbarem Schwachsinn 117. , Ursache hallu- cinatorischen Stupors 225.

G e n i t a 1 n e r v e n bei hypochondrischem Irresein 27 S.

Gereiztheit, zornige des Melancho- likers 49.

Geruchssinn der Idioten 510. der Melancholiker 34.

Geschlecht in Bez. z. Heredität psy- chischer Leiden 428; Katatonie 197. 200; Manie (circulärer) 303; Melan- cholie 50; Paralyse 342.

Geschlechtsorgane, Behandlung der Störungen ders. bei der Hysterie 252. , Betasten ders. in der Melancholie 69. -, Bez. ders. zur Hysterie 233.

der Idioten 510. bei Verfol- gungswahn 156.

Geschlechtstrieb, Ausartung dess. in Masturbation bei Ulödsinn 124. Epileptischer 266. bei Hypochon- dern 282. der Idioten 505. bei Manie (periodisch.) 294. bei Melan- cholikern 39. 70. bei Paralytikern 357. s. auch Sexualdrang.

Geschmacksstörungen bei ballucin. Stupor 226. in der Melancholie 33. 34.

Gesichtsfarbe bei alternirenden Psy- chosen 320. bei Delirium acutum 329. 332. Hypochondrischer 285.

Hysterischer 242. bei Katatouie 196. 209. bei Paralyse 357. 363.

bei Stupor (hallucinatoriscb.) 226.

im Verfolgungswahn 155. Ge8ichtsfeldciuengu ng, concen-

trische beim epileptischen Irresein 259. 263. 264.

Gesichtsinnervationbei Idiotie 5 1 o.

bei Paralyse 359. 365.

Giftwahn im Verfolgungswahn 148.

Glia, Veränderungen ders. bei Para- lyse 371. 372. 373. 374.

Globussensationell bei hysterischer Manie 244. bei hysterischer Me- lancholie 243.

Glottiskrampf bei alternirenden Psy- chosen 319.

Grand mal intellectuel 258.

Gravidität, Abneigung gegen dies, bei Moral Insanity 493. , Bez. dere. z. Dipsomanie der Frauen 444; z. Here- ditat des Irreseins 429.

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527

Graviditätspsychosen 229.

Grössenwahnl65. bei Blödsinn 122. , disseminirter im chron. Wahnsinn 141. , erotischer 169. bei Gehirn- atrophie (primärer) 389. der Hypo- chondriker 284. , der Hysterischen 248. 249. in der Manie 85. 109. 112. 290. in der Melancholia agitata 59. , monotoner bei schwerer Dementia senilis 392. , originärer 169. «para- lytischer 342. 344. 360. 364. 365. 368. 382. 384. , philanthropischer 169.

bei der psychisch. Meningo-Perien- cephaliÜ8 chron. 379. , religiöser 169. , subacuter manischer 182. im "Wahnsinn (chronisch.) 140, (hypo- chondrisch.) 160.

Grabelsucht 465. , emotive 435.

Haarkrankheiten bei Paralyse 358.

Haarseil bei Paralyse 376.

Hämatombildung im degenerativen Wahnsinn 161.

Hände beim Delirium acutum 329.

Hallucinationen, Bez. ders. zur Seelenstörung im Allg. 12. bei De- lirium acutum 327. 330. 331. 334. bei Dementia (acuta) 217. 231, (seni- lis) 391. bei Eifersuchtswahn 163.

bei Encephalitis 393. im epi- leptischen Irresein 258. 262. bei Furor 100. des Gehörs bei Melan- cholie 63. bei Grössen Wahnsinn 166.

bei Ilebephrenie 50i>. , hereditäre 455. bei Hirnatropbie (primärer) 387. bei Hysterie 234. 238. in der Katatonie 198. 202. 203. in der Manie 77. 86. 93. 97. 99. 110. 244. 290. bei Melancholie 34. 35. 55. 58. 67. 75. 243, (auf alkoholischer Grundlage) 424. bei Moral Insa- nity 496. bei Moria 106. in der Paralyse 364. im Stupor (circulä- ren) 309. im Trinkerwahnsinn 407.

im Verfolgungswahn 146. 149. 154. 163. 245. in der Verrücktheit (ori- ginären) 476. 4SI. im Wahnsinn 120. 134. 136. 141. 161.170.176.177.179. 181. 183. 187. 191. 247. 249. 460.

der Zorn-Manie 102; s. auch Sinnes- täuschungen. Harn bei Blödsinn 126. im Delirium acutum maniacale 328. in der Kata- tonie 199. in der Manie 87. nach einem paralytischen Anfall 353. 354.

bei Paralyse im Demenzstadium 357.

Harnblasenkatarrh im Delirium acutum paralytic. 336. bei Para- lyse 358. 363.

Harnblasenlähmung bei Paralyse

363.

Hautblutungen bei Paralyse 358.

Hautentzündung, Complic. der Me- lancholie 63. bei Paralyse 358.

Hautexantheme, Complic. der Me- laucholie 63. bei Paralyse 358.

Hautpflege bei Behandlung der Melan- cholie 45.

Hautreize bei Behandlung des atto- nischen Stupor 23 1 . in der Ekstase der Hysterie 242.

Hebephrenie 508. bei originärer Verrücktheit 479.

Hemianästhesie bei Melancholia se- nilis 68.

Hemianopsie bei primärer Hiruatro- phie 3U0.

Hemiatrophia facialis, Complicat.

der Idiotie 510. Hemiparese, Complicat. d. Idiotie 509. Hemiplegieen bei Hirnatrophie 3»)().

bei pacehymeningitischen Zufällen 385.

Hereditäre Neurose, Behandlung ders. 464. , Entwicklung u. Verlauf ders. 451.

Hereditäres Irresein 426. , de- generatives 487. , einfaches 465.

Hereditäres Temperament 451.

Hereditüre Uebertragung 427. , degenerative u. einfache 428. , ge- kreuzte 431. , indirecte 431. , rückfällige 431. , wechselseitige Be- ziehung ders. zwischen Gehirn-, Gei- stes- u. Nervenkrankheiten 42$.

Heredität, Bezug ders. z. Amnesie 463; z. circulären Irresein 330; z.

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Register.

Gröasenwahn 169; z. Hebephrenie 508; z. hereditären Uebertragung 428. 429 ; z. Hypochondrie 2S0 ; z. Hysterie 233. 249; z. Manie 112.288; z. Melancho- lie 27. 298; z. Paralyse 342. 374; z. Seelenstörung im AUg. 4; z. Wahn- sinn 174. 182; z. Zeugung 431. , forense Bedeutung den. 430.

Hereditätslehre 427.

Herz als Locus dolens bei Melancho- likern 27.

Herzgeräusche bei acutem mani- schem Wahnsinn 192.

Herzhypertrophie, erbliche Ueber- tragung ders. 429.

Herzklopfen bei Melancholikern 33.

im Verfolgungswahn 155. Herzl&hmung beim Delirium acutum

329. 330.

Homicidium, Motive dess. in der Me- lancholie 27. Hydr ocephalus bei Idioten 511.515.

internus, Complicat. der primären Hirnatrophie u. Ursache von Demen- tia paralytica 388.

Hydrotherapie bei anergetischem Stu- por 233. beim epileptischen Irre- sein 269. beim hysterischen Irre- sein 251. 253. 254. bei Paralyse 376. bei Wahnsinn (acutem mani- schen) 194.

Hyoscyaminals Beruhigungsmittel in der Mania gravis 89. 109.

Hyperämieen, centrale vasoparaly- tische als Ursache der Paralyse 342.

Hyperästhesie, cerebrale bei Manie 112. im Delirium acutum mania - cale 327. der Hypochondrischen 278. 280. der Hysterischen 234.

in der Manie 86. bei Melan- cholie (hypochondrisch.) 64. bei Paralyse 363. , sexuelle in der Ma- nie 81. 82. der Sinnesnerven bei Hirnatrophie (primärer) 386. 388, bei Manie (transitorischer) 458, bei Me- lancholie 34. 424, bei Verfolgungswahn- sinn 183, bei Wahnsinn 139. spi- nale bei Mania gravis 111. bei Wahnsinn (chronisch.) 139.

Hypnoti8mus, Bez. dess. zur Hyste- rie 242.

Hypochondrie 277. , acute 282.

bei attoni8chem Stupor 214. , chronische 282. , Complicat der originären Verrücktheit 484. beim epileptischen Irresein in der Jugend 275. bei Katatonie (depressiver) 200. , neurastheniscbe Form ders. 2S4.

bei schwerer Dementia senilis 391. Hypochondrisches Irresein 277.

, alternirender Typus dess. 317. . Entwicklung u. Symptome dess. 278. , Therapie dess. 285, (psychische) 286. , Uebergang dess. in Wahnsinn 283. , Verlauf u. Ausgänge dess. 282.

Hysterie, Complication des Eifer- suchtswahn der Frauen 162. -, Bez. ders. z. Hypochondrie 277.

Hysterische Degeneration 247.

Hysterisches Irresein 233. 239. , acutes 239. , chronisches 248. , chronisch-degeneratives 249. , The- rapie dess. (gynäkologische) 252, (psy- chische) 253, (somatische) 251.

Hysterisches Temperament 233. , Steigerung dess. 240.

Hystero-epileptisches Irresein 240. , Behandig. dess. 254.

Iactationen beim Delirium acutum (maniacale) 326. 328. 330.

Ich-Bewusstsein der Idioten 505. in der Manie 85. bei psychischer Schwäche 1 19. bei Seelenstörung 6.

im Wahnsinn 120. 131. 132. 135. 160. 181. 185. 189.

Ideenassociation in der depressiv- exaltirten Verrücktheit 483.

Ideenflucht im Delirium acutum ma- niacale 326. 330. im Furor 104.

in der Manie 83. 92. 96. 112, (hy- sterischen) 244. in der Melancho- lie 58. in den Sexualmanieen 103.

im torpiden Schwachsinn 116. im Verfolgungswahn 156. im Wahn- sinn 182. 1S7. 191.

Idiotismus 15.497. als angeborene

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529

psychische Schwäche 115. , Com- plicat. dess. 509. , klinische Sym- ptome de 88. 499. , pathologischer Befund bei dems. 512. , psycholog.- klinisch. Eintheilg. dess. 49 8. ju- gendlicher Epileptiker 271. , Scha- delformen bei dems. 511. , Verlauf dess. 500. 503. Illusionen im Delirium acutum 327, tremens 415. im Eifersuchtswahn 163. beim epileptischen Irresein 260. der Hysterischen 238. 249. in der Manie 77. 83. 96. Melan- choliker 27. 34. 55. 60. Paralytiker 364. bei Stupor (circularer Form) 309. bei Syphiüdophobie 73. im Wahnsinn 136. 18*, (chronischer Form) 120.

Imitationen der Idioten 502. Impotenz bei der masturbatorischen

Melancholie 70. Impulsives Irresein 442. Inanition beim Delirium acutum (pa-

ralyt.) 336. Indolenz bei Eifersuchtswahn 163.

bei idiotischem Schwachsinn 499. 506.

im Intervall der circularen Form des Stupors 310. nach Mania gra- vis 1U8.

Inf ectionskrankhe iteu, Bez. ders. z. primärer Dementia 228, z. Ausbruch epileptischer Anfalle in der Jugend 272.

Innervationsstörungen bei attoni- schem Stupor 216. bei primärer Hirnatrophie 3*7 bei Verfolgungs- wahnsinn 155. 164.

In tellectuelle Störungen im Alko- holismus chronic. 409. 412. im Blödsinn 122. 123, (idiotischen) 498.

bei conträrer Sexualempnndung 448. in Dementia acuta 212. 221. 224, senilis (schwerer) 392. bei Hypochondrie 280. Hysterischer 238. bei Idioteu 498. 499. ju- gendlicher Epileptiker 271. 272. in der Manie (periodisch.) 294. in der Melancholie (circular.) 3(»6. 309. bei Moral Insanity (erworbener) 488.

Soh ttle, Geuteaknuikheiton. 3. Aufl.

in der progressiven Paralyse 342. 343. 359. 364. bei psychischer Meningo- Periencephalitis chron. 379. 380. im Schwachsinn (idiotischen) 501.

Intentionszittern der Idioten 499.

Intercostalneuralgieen in der Me- lancholie (Behandlung) 44. im Wahn- sinn (chron. expansiven) 170.

Intervalle der alternirenden Psycho- sen 318. des circularen Irreseins 305. des hereditären Irreseins 462. der Manie (period.) 293. 294. 296. 297. der Melaucholie (periodisch.) 299. der meostrualen Psychosen 322. des Stupor (circulare Form) 310. , zeitliche Gruppirung ders. in den circularen u. periodischen Psy- chosen 312.

Intoxication, acute bei Rauschzu- standen 404.

Invalides Gehirn, Bez. dess. z. See- lenstörung 12. 19. Veranlassung z. Delirium acutum 326; Melaucholie (hypochondrisch.) 57. 65; Sexualma- nieen 104; Stupor 225.

Jodkali bei syphilitischer Paralyse 376. 401.

Irradiation der Sinne bei Verf olgungs - wann 157.

Irresein, alternirendes 287. 316. der Bummler u. Vagabunden 491. , circulares 2«>7. 301. 314. , degene- ratives erbliches 487. , einfaches hereditäres 405. , epileptisches 255, (in der Jugend) 271. , hereditäres 426. , hypochondrisches 277. , hy- sterisches 233. 239. , hystero-epilep- tisches 240. , impulsives 442. , men6truales 322. , periodisches 287. 312 der Processkrämer 470. aus Zwangsvorstellungen 465.

Irrthum, Unterscheidung von Seelen- störung 3.

Ischurie bei der hysterischen Melan- cholie 243.

Isolirung zur Behandlung des epi- leptischen Irreseins 268, der Manie 87, des Wahnsinns (acuten mani- schen) 193.

34

530

Register.

Kamp her, Injectionen dess. im Deli- lirium acutum (paralytic.) 340. bei Melancholie 41. 48.

Kataleptische Anfälle in der Ek- stase der Hysterie 242. beim men- Btrualen Irresein 322.

Katatonie 195. , depressive 196. , hysterische 196. 247. nach ma- sturbatorischer Melancholie 71. , Unterscheidung ders. von Dementia (stupid-hallucinatorisch.) 214.

Katheterismus bei Paralyse 37S.

Klanenstellung der Hände der Idio- ten 499.

Kleinhirn, Veränderungen dess. nach Paralyse 372.

Kleptomania menstrualis periodica 322. im primär exaltirten Wahn- sinn durch Alkoholismus 410.

Kly stiere zur Behandlung der Hyste- rie 253.

Knochenbrüchigkeit bei Paraly- tikern 35S.

Körpergewicht im Furor 105. in der Manie 87. 95. in der Melan- cholie 22. 298. im Trinkerwahn- sinn (acuten) 408.

Körperhaut, Beschaffenheit im Deli- rium acutum 329. 336. , Falten- bildung ders. bei Idioten 510.

Körpertemperatur im Delirium ar- cutum 327. 330. 336. bei Demen- tia attonita 215. im epileptischen Irresein 259. 263. im Furor 101. 102. bei Hirnatrophie (primärer) 386. bei Hysterie (katatonischer) 247. in der Katatonie 109. 201. bei Manie 86. 92. 108. bei Melancholia attonita 74. bei pacehymeningitischen Zu- fällen 385. bei Paralysis progressiv. 357. 363. 366. in der psychisch. Mcningo-Periencephaliti8 379. 380. , subnormale im Delirium acutum me- lanchol. 332. 333. im Wahnsinn 192.

Kohlenoxydvergiftung, Ursache

von primärer Dementia 228. Kopfbildung der Idioten 502. Kopfcongestionen bei Alkoholpsy-

chosen 405. im Delirium acutum 326. im epileptischen Irresein 263.

bei Furor 100. in der Manie 88. 93. 298. in der Melancholie 38. 73. 298. bei menstrualen Psychosen 322. bei Paralysis progresa. 357. 359. 366. bei psychischer Meningo- Periencephalitis chron. 379. 380. bei Stupor (circulärer Form) 309. bei Verfolgungswahn 164.

Kopfschmerz im Beginn des Deli- rium acutum 326. beim epilepti- schen Irresein 264. bei Manie (pe- riodischer) 290. nach einem post- epileptischen Delirium 259. nach einem postepileptischen Stupor 258.

bei Paralyse 356. 359. 366. im Verfolgungswahn 155.

Kopfsensationen beim acuten Wahn- sinn 179.

Kopfverletzungen, Bez. ders. zur primären Dementia 228. , Veran- lassung zu Manie (periodischer) 288.

Krämpfe im Delirium acutum (mania- cal.) 328. in der Dementia senilis 392. , epileptische 256. 258. 268.

der Idioten 499. bei Melancholie 63. bei primärer Hirnatrophie 390.

im Stupor (cirulären) 309. , toni- sche und klonische in der Paralyse 353.

Krankheitsentwicklung der Psy- chosen 10.

Kryptorchismus, Complicat. der Idio- tie 510.

Künstliche Ernährung im Delirium acutum 340. bei Katatonie 198. der Idioten 499. bei Melancholie 45. 63. bei Stupor (anergetischem) 233, (attonischem) 216. 231.

Lachkrämpfe bei der hysterischen Melancholie 243.

Lähmungsorscheinungen nach Apoplexieen 393. im Delirium acu- tum melancholic. 331. bei Demen- tia senilis 391. bei Encephalitis syphilitica mit Geistesstörung 397. bei Idiotie 499. 510. bei Paralyse

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53 L

(progress.) 364. 365. bei psychi- schen Cerebralleiden 15. 394. bei der psychischen Meni ogo- Periencepba- litis chron. 380. , spinale als Ur- sache von GeistesstöruDg 342.

Laryngismus stridulus beim acuten melancholischen Wahnsinn 188.

Lateralsklerose des Rückenmarks mit Geistesstörung 394.

Launenhaftigkeit bei Hysterie 234. bei hysterischem Wahnsinn 245.

Lebensalter, Bez. dess. z. alterniren- den Psychosen 318; z. circulären Psy- chosen 300; z. Delirium acut. 331; z. epileptischem Irresein 256. 271; z. hereditären Neurose 451; z. idioti- schen Schwachsinn 500. 501. 508; z. Manie (circulären) 303; z. Melancho- lia hypochondrica 64; z. Seelen Störung 4; z. Wahnsinn 181; z. Zwangsvor- stellung bei neurotisch-hereditär Be- lasteten 437.

Lebensweise für den Hypochonder 286. , Regulirung ders. bei epilep- tischem Irresein 269.

Leetüre, anregende zur Behandlung der Hysterie 254.

Lesen eines Hypochonders 285.

Lesezwang 433.

L epto -M e n i n g en, Veränderungen ders. durch Paralyse 368. 369, durch psychische Meningo- Periencephalitis chronic. 381.

Lippen, Beschaffenheit ders. im Deli- rium acutum 330. 333.

Lobuläre Pneumonie beim Delirium acutum 330. 336. bei Paralyse 358. 363.

Logorrhoe, manische 83. Lucida In tervalla in der Paralyse

368.

Luftcurorte für Paralytiker 377.

Lungenphthisis, Bez. ders. z. Alko- holiBmus 419. als Folge der origi- nären Verrücktheit 486. hereditäre Folge u. Ursache von Geistesstörung 428.

Lustgefühl, manisches 81. Lymphräume des Gehirns bei Para-

lytikern 370. 371. 372. 373. 374. nach psychischer Meningo - Perience- phalitis chron. 362.

Magendarmaffectionen beim De- lirium acutum 333, tremens 416. , Eintiuss ders. auf den hypochondri- schen Melancholiker 57, auf den Wahn- sinn 144. 159. 168. in der Melan- cholie 44. 298.

Makrocephalie der Idioten 511.

Maladie du doute 456. 465. 468. du toucher 465. 469.

Manie 76. -, acute 77. bei Alko- holismus chronic. 413. 421. , Aus- gänge ders. 98. 105. 111. 114. , cir- culäre 77. 82. 91. 302. 314. 320. 321. , chronische 77. 112. , Definition ders. 76. , degenerative 105. 112. 495.

im Delirium acut. 326. in der Dementia senilis 391. , Einteilung ders. 92. bei Encephalitis syphi- litica 398. im epileptischen Irre- sein 262. 263. 275. , furiöse 99. 112. , gravis 79. 81. 89. 91. 106. , hallu- cinatorische 97. , hereditäre 457. , hysterische 244. , idiopathische 87. , katatone 207. , Kraukheitsbild ders. 93. 95. 106. 109. 112. 244. 459.

bei Meningo-Periencephalitis chro- nic. 379. , menstruale 322. mitis 91. 93. in der Paralyse 358. 367. , periodische 77. 288. 312. durch psychische Schwächezustände 105. 115. , remittirende 98. 119. , Stupor nach ders. 219. 309. , subacute 77. , Symptome ders. 77. , Therapie ders. (psychische) 90, (somatische) 87. , transitorische 459. typica 9t. 95. bei Verfolgungswahn 149. 160. 163. -, Verlauf ders. 94. 97. 104. 108. 110. 113. 245. 459.

Marasmus bei Hereditariern 456.

Hysterischer 240. 246. bei Melan- cholie 63. 75. nach pacehymenin- gitischen Zufällen 385. bei Paralyse 363. 368. - bei Wahnsinn (chronisch.) 174.

Massage bei anergetischem Stupor 233.

34*

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532

Register.

bei Hysterie 25t. bei hysterischer Melancholie 254.

Masturbation bei conträrer Sexual- empfindung 449. bei Melancholie 69. bei Moral Insanity 492. bei originärer Verrücktheit 477. bei Verfolgungswahn 155. 183. 190.

Melancholie 21. activa 24. 51. , acute 49. agitata 48. 5b. bei Al- koholismus chron. 420. 424. , alter- nirender Typus ders. 317. 318. atto- nita 51. 73. circuläre 35. 305. 314. , chronische 49. 01. , dämonomane 51. , Definition ders. 22. —, degene- rative 307. 309. im Delirium acu- tum 330. beim epileptischen Irre- sein 263. 275. errabuuda 24. bei Hebephrenie 509. , hereditäre 427. 454. 456. , hyperchondrische 48. 56. 63. 277. , hysterische 242. bei Katatonie 200. , klimakterische 60. , Krankheitsbild ders. 23. 48. 64. , masturbatorische 69. , men- struale 322. , neurasthenisch-torpide 68. , organische 65. bei Paralyse 345. 362. 367. passiva 24. 48. 51. 54. , periodische 63. 298. perse- cutoria 51. religiosa 51. , senile 48. 57. 60. 66. , sexuelle 48. Sim- plex 47. stupida 24. , Symptome ders. 23. , syphilitische 72. -, The- rapie ders. (psychische) 46, (somati- sche) 40. torpida 51. , Unter- scheidung der attonischen von attoui- schem Stupor 214. , Verlauf ders. 53. 55. 57. mit Wahnsinn coinpli- cirt 119.

Meningealaf f cetionen bei Mania gravis 107.

Meningitis in den ersten Lebensjahren, Bez. ders. z. epileptischem Irresein 256.

Meningo- Pcricncephalitis chro- nica u. subacuta (psychische) 379. -, Krankheitsbild ders. 379. , pathologischer Befund bei ders. 381, (mikroskopischer) 382. - .Verlauf ders. 380.

Mcnorrhagieen, Gefährlichkeit ders. in der Melancholie 39.

Menstruale Psychosen 322. , Symptome ders. 322. , Verlauf ders. 323.

Menstruation, Bez. ders. z. Dementia acut, attonit. 2 1 8 ; z. epileptischen Irre- sein 264; z. d. Furorparoxysmen 103; z. Heredität 429; z. hysterischen Irre- sein 239. 240. 250. 252; z. Manie 1 12; z. Melancholie 39. 74; z. Schwanger- schaftswahn 163; z. d. Sexualmanieen 103 ; z. Stupor (hallucinat.) 225; z. Ver- folgungswahn 158; z. Wahnsinn 144. 174. 179. 181. 188. 190. 191. 194. 199.

Meteorismus bei Delirium acutum 330.

bei Melancholie 36. Migräne, Bez. ders. z. Paralyse 359.

der Hysterischen 239. bei der psychischen Meningo-Periencephalitis chron. 379.

Mikrocephalic der Idioten 511.

Mimischer Ausdruck im Blödsinn 125. im Delirium acutum 328. 329. 330. 332. 334. in der Dementia acuta attonit. 215. 216. Hypochondrischer 281. Hysterischer 240. 242. - der Idioten 499. 502. in der Katatonie 196. 198. 201. 203. in der Manie 291. bei Melancholikern 33. 39. bei Paralytikern 351. 352. 368. im postepileptischen Delirium 258. im Wahnsinn 14:*.

Mitbewegungen bei Idiotie 503.

Mond, Einfluss dess. auf die circulären und periodischen Formen des Irreseins 311.

Monomanicen 442. Monoparesen, Complicatioo d. Idiotie

510.

Moral Insanity 487. , manische 82. , reizbare 489.

Moralische Störungen im Alkoho- lismus chronic. 412. 419. bei Blöd- sinn 124. in der Dementia (degene- rativ-hysterisch.) 250, (senilis) 392. , hereditäre Uebertragung ders. 430. 454.

Hysterischer 236. 237. , Irresein durch diese 487. bei Manie 291. 296. 303. bei Melancholie 68. 71. 307. bei Paralytikern 359. 365.

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533

im Trinkerwahnsinn (acuten) 409. , Unterscheidung ders. von Seelenstö- rung 3. bei Verfolgungswahn (hy- sterisch.) 245. im Wahnsinn 168. 189.

Moralität, Bez. ders. z. hereditären Uebertragung 430.

Mord trieb hallucinirender Paralytiker 361. Heredität dess. 443.

Moria 82. 105. bei Dementia acuta 224. nach hallucinatoriscbem Stu- por 225. 227. bei Wahnsinn (acutem manisch.) 192.

Morphium zur Behandlung des epi- leptischen Irreseins 269; des hyste- rischen Irreseius 255. bei Melan- cholie 41. 43. 48.

Morphinismus 43. , Entwöhnung dess. 43.

Moschus bei beginnender Schwäche im Delirium acutum 340.

Motorische Kraft bei Idiotismus 499.

Motorische Störungen bei Alkoho- lismus 4 IS. bei Blödsinn 125. im Delirium acutum 325. 328. 332. 335.

bei Epileptikern in der Jugend 274.

bei Hypochondrie 282. bei Hy- sterie 239. - bei Idioten 499. 503. in der Manie 77. 79. 86. 96. 110. 112.

in der manischen Phase der Hy- sterie 244, der subacuten Paralyse 3S2.

in der Melancholie 68. 74. bei Paralytikern 350. 361. 362. 363. 365. 368. im postepileptischen Irresein 260. bei Meningo-Periencephalitis chron. 379. 380. bei Rückenmarks- erkrankungen 395. im Stupor 310.

Mundausspülungen bei attonischem Stupor 231.

Mundbeweguugen im Delirium acu- tum 328.

Muskelatrophie bei Hirnatrophie (primärer) 390. bei Idiotie 499. bei Paralyse 351.

Muskeldegeneration, colloide bei Delirium acutum 3:t$. , parenchyma- töse durch progressive Paralyse 35S.

Muskel starre im Delirium acutum maniacale 325. bei Katatonie 195.

197. 198. 200. 204. 20«. - in der Manie 292. in der Melancholia atton. 73.

im Wahnsinn 143. 173. Muskelzuckungen im Delirium acu- tum 330. in der Manie 80. bei pacehymeningitischen Zufällen 385. bei Paralyse 351. bei der psych. Me- ningo-Periencephalitis chronic. 380.

Mussitirende Delirien 330. Myelitis bei Paralyse 369. bei Rückenmarkserkrankungen 394.

Nährkly stiere im Delirium acutum 340.

Nahrungsverweicherung im Deli- rium acutum 327. 328. 329. 332. 333. 335, postepileptischen 259. in der Katatonie 201. bei Melancholie 27. 33. 74. bei Meningo-Periencepha- litis 379. - bei Paralyse 347. 361. im Stupor 220. 247.

Narbe, schmerzhafte, Veranlassung zu hysterischem Krampfanfall 240.

Narcotica bei epileptischem Irresein 269. bei Melancholie 41.

Natürliche Krankheitsgruppen 497.

Nervenaction, Bez. ders. zur psychi- schen Leistung 1.

Nervenfasern, Veränderungen ders. durch Paralyse (progressiv.) 371. 373; bei der psychischen Meningo-Perien- cephalitis 382.

Nervenkrankheiten, wechselweise Vererbung ders. mit Geisteskrankhei- ten 428.

Nervensystem, Bez. des Ernährungs- zustandes dess. z. Seelenstörung 2.

Neu-Erziehung nach Delirium acu- tum 336. nach Dementia acuta 217. 233. Hysterischer 241. nach Stu- por (attonischem) 232.

Neuralgieen bei alternirenden Psy- chosen 319. , Bez. ders. z. Katotonie (dämouomanen) 204 ; z. Wahnsinn (ce- rebroBpinalen) 186. , hereditäre 428.

bei Hiruatropbie (primärer) 390. der Hysterischen 234. bei Manie 112.

des Melancholikers 36. 37. 44. 56.

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534

Register.

69. 29S. 306. bei Wahnsinn (acatem) 146.

Neuralgische Punkte anämischer Personen im Stupor 216.

Neurasthenie bei alternirenden Psy- chosen 319. , Beseitigung ders. bei Hysterie 253. der Hereditarier 456.

der Hypochondrischen 278. 280. der Melancholiker 306. im Stupor (attonischen) 214. , Veranlassung zu chron. Wahnsinn 144. bei Ver- folgungswahn 16S. bei Wahnsinn (acutem) 176.

Neuro pathische Prä dis position 14. bei defect veranlagtem Gehirn 20. zu Delirium acut. 326. zu hallucinatorischem Stupor 225. , he- reditäre durch Hysterie 428.

Neuropsychosen, Bez. ders. z. acu- tem Wahnsinn 136.

Neuro se, erworbene 14. 457. , here- ditäre 15. 18. 427. 451. , vasomoto- rische, bei acutem Wahnsinn 178. ISO.

Nosologie des Hirnprocesses 4.

Nymphomanie 292.

Nystagmus bei der neurasthenisch- torpiden Form der organischen Melan- cholie 68.

Oblongata-L ah m u n g im Delirium acutum 326. 334.

Obstipation bei acutem Trinkerwahn- sinn 409. bei Dementia acuta 223.

im Wahnsinn (attonischen) 199. Oedeme bei Blödsinn 126. der Füsse

bei Paralyse 363. des Gehirns nach Mania gravis 110. in der Katatonie 198. der Knöchel und Füsse in der Melancholie 37.

Ohnmacht in der Paralyse 367.

Ohraffcctionen, illusorische des Me- lancholikers 35. in der Paralyse 366.

bei Verfolgungswahn 148.

Ohrmissbildungen bei Idioten 510.

Onanie bei Epileptikern 266. , Ver- anlassung ders. z. Manie 288; z. ma- sturbatorischen Melancholie 69; z. Me- lancholie mit alternirendem Typus 318; z.Wahnsinn (attonischen) 190.

Opisthotonus bei der katatonen Hy- sterie 247.

Opium im Delirium tremens 425. bei Dementia acuta 223. 232. bei kata- tonem Blödsinn 194. bei Manie 89.

bei Melancholie 41. 42. 48. bei Paralyse 377. bei Wahnsinn 146. 194.

Originäre Verrücktheit 475. , Be- handlung ders. 487. , Formen ders. 478. , gemischt depressiv - exaltirte 480. , Symptomatologie ders. 476. , Verlauf ders. 483.

Osmiumsaures Kali bei hysterischem Irresein 271.

Othämatom, Entstehung dess. bei Be- handlung des attonischen Stnpor 231.

bei Melancholie (chronisch.) 63. bei progressiver Paralyse 358. im Wahnsinn (chronisch, depressiv.) 161.

Ovarialschmerz im Beginn von Furoranfallen 103. im hysterischen Krampfanfall 240. 241.

Pacchymeningitis mit Geistesstö- rung 15. 383. , Anfälle ders. 384. , Complicat. der primären Hirnatro- phie 387. , paralytisches Symptomen- bild ders. 384.

Panphobiebei Hirnatrophie (primärer) 390. bei Melancholie 424. bei Stupor (attonischem) 215. bei Wahn- sinn 176. 188.

Parästhesieen der Hypochondrischen 278. der Idioten 510. der Melan- choliker 28. 63. vor dem Raptus melancholicus 56. , sexuelle bei ma- sturbatorischer Melancholie 69; im Wahnsinn 156. 163. , spinale im Ver- folgungswahnsinn 162. im Wahnsinn 155. 158. 1S7.

Paragraphie bei progressiver Paralyse 350. im Wahnsinn 143.

Paraldehydim Delirium tremens 425.

bei Manie 89. - bei Melancholie 41. Paralexie bei Dementia senilis 392.

bei progressiver Paralyse 350. Paralgicen bei Verfolgungswahn 158 Paralogie im Wahnsinn 143.

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535

Paralyse, modificirte 17. 378. , alkoholis tische 419. durch Apo- plexieen 393. 394. , Behandlung ders. 400. nach Delirium acutum 330. bei Dementia senilis 391. bei disse- minirter Sklerose 393. durch En- cephalitis syphilitica 396. , galop- pirende III. 381. aus Hirnatrophie (primärer) 386. 389. durch Hirn- tumoren 394. durch Mania 95. 382.

durch Pacchymeningitis 383. , spastische 3i>4. , subacute 382. , tabische 394. «-, typische 341. Behandlung ders. 376. , Bez. ders. 16; z. Meningo - Periencephalitis chro- nic. 379. 381; z. den Geisteskrankhei- ten — , Dauer ders. 368. der Frauen 375. , hypochondrische 362. 363. 364. , klassische 342. , klinisches Krankheitsbild ders. 358. , klinisch- symptomatologische Varietäten b. ders. 363. , manische Form ders 358. , Nosologie ders. 372. , paralytischer Anfall 354. , pathologischer Befund bei ders. (makroskop.) 369. 372, (mi- kroskop.) 370. 372. , Remissionen ders. 361. 364. 368. , Symptome ders. 343. , Verlauf ders. 366.

Paralytischer Anfall 354. Paralytisches Irresein, alterniren-

der Typus dess. 317. Paranoia 130.

Paraphrasie im Wahnsinn 143.

Paresen bei Hirnatrophie 390. bei Paralyse 363. 365. 366.

Paroxysmen der alternirenden Psy- chosen 317.318. des Blödsinns (apa- thischen secundaren) 138. des cir- cularen Irreseins 301. im Eifer- suchtswahn 162. des Furor 100.

im Grössen wahn 166. 182. der Manie 63. 99. 111. 113. 289. 290. 295. 296. 298. 458. der Melancholie 298. 307. des menstrualen Irreseins 322.

des periodischen Irreseins 101. 468. , remittirende, in der Manie 96. des Verfolgungswahnsinns 151. 164.

in der Verrücktheit (originären) 476. 482. 485. - des Wahnsinns 120.

172. 173. 174. 179. 181. 183. -, zeit- liche Gruppirung ders. in den circu- lären u. periodischen Psychosen 310.

Partus, Verhältnis8 dess. z. Parens 431.

Patellarsehnenref lex im Delirium acutum 328.

Periencephalitis chronica diffusa bei progressiver Paralyse 372.

Periodische Psychosen 288. , zeitliche Gruppirung der Intervalle u. Paroxysmen ders. 312.

Perverse Handlungen nach Demen- tia acuta 224. in der progressiven Paralyse 347. 348. 360. im Wahn- sinn (chronisch depressiven) 161.

Petechien der Haut in der Manie 87.

P h antasie im hysterischen Irresein 238.

Phlegmone beim Delirium acut, para- lytic. 336.

Phthisischer Habitus, Erblichkeit dess. 429.

PhthiBis pulmonum, Complic. der masturbatorischen Melancholie 72.

Pleuritis, Complicationen der Para- lyse 363.

Pneumonie, Complicat. des Delirium acutum 334 ; der Hirnatrophie (primä- ren) 367; der Paralyse 363.

P olyurie bei progressiver Paralyse 354.

Postfebrile Psychosen 228.

Pr&cordiale Sensationen des Me- lancholikers 36. 54. 69.

Pseudohallucinationen iu der Me- lancholie 35. bei Verfolgungswahn 152.

PseudoStupor 177. 213. hallucinat.

mit Status attonitus 228. Psychiatrie, Aufgabe ders. 4. Psychischer Habitus, Erblichkeit

dess. 451.

Psychische Schw achezustände 114. , Behandlung ders. 129. in der Dementia acuta 229. 230. - Hyste- rischer 250. in der Katatonie 195. 210. , klinische Typen ders. 116. 126. bei Moral Insanity 488. des Paralytikers 362. 365. bei Verfol- gungswahn 159. 165. im Wahnsinn 179. 164.

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Ö3G

Register.

Psychische Störungen bei jugend- lichen Epileptikern 274.

Psychologische Analyse der gei- stigen Schwäche 115.

Psychomotorische Störungen bei progressiver Paralyse 348. in der Manie 77. fm Wahnsinn 178.

Psychoneurosen, Classification ders. 17.

Psychosen im Allgemeinen 4. , alko- holistische 401. , alternirende 14. 287. 316. durch Cerebropathieen 17. 19. 378. circuläre 14. 287. 299.

bei defecter organo - psychischer Constitution 15. 18. 19. , degenera- tive erbliche 15. 487. , Entwicklung ders. 10. 13. , erworbene 300. , febrile u. postfebrile 17. 228. , func- tionelle 15. , hereditäre 14. 426. 451.

des invaliden Gehirns 12. 17. 19.

bei organo - psychischer Vollent- wicklung 14. 17. , periodische 14. 287. 288. durch perniciöse Erschö- pfungszustände des Gehirns 17. 19. des rostigen Gehirns 12. 14. 17. 18. , Symptomenqualität ders. 9. , transi- torische 457. , traumatische 393. , Veranlassung z. Delirium acutum ma- niac. 326. , Verlauf ders. 10. 13.

Pubertät, Einfluss ders. auf das epi- leptische Irresein 271. 276; auf die ethischdegenerative Hcreditätsneurose 453; auf die Hereditätspsychosen 429; auf Zwangsvorstellungen 437.

Puerperium, iiez. dess. z. Heredi- tätspsychosen 429. 456; z. manischen Wahnsinn 191; z. Zwangsvorstellun- gen 437.

Puls, Bez. dess. zu den alternirenden Psychosen 317. bei Blödsinn 126. 129. im Delirium acutum 327. 329. 330. 333. 334. 336, tremens 416. beim Eintritt der Paroxysmen alter- nirender Psychosen 319. in der Ekstase der Hysterie 242. im epi- leptischen Irresein 259. 263. bei ' Furor IUI. in der Katatonie 201. 208. 209. 247. in der Manie S7. 109. bei Melancholie 37. 60. 72. 74.

bei pacchymeningiti8chen Zufallen 385. bei. Pacchymeningitis 384. des Paralytikers 353. 358. 363. bei psychischer Meningo- Periencephalitis chronic. 379. bei Stupor (attoniseb.) 215.216. - im Trinkerwahnsinn (acut.) 408. im Wahnsinn 188.

Pupillen im Delirium acutum 328.334, tremens 416. beim epileptischen Irresein 263. bei Hirnatropbie (pri- märer) 390. in der Mauia gravis 110. bei Paralyse 352. 357. 359. 363. 365. 367. 368. - bei psychischer Meningo -Periencephalitis chron. 379.

im Wahnsinn 192.1

Purpura bei pacehymeningitischen Zu- fällen 385. Pyelitis bei Paralyse 363.

Querulantenwahnsinn 470. , Be- handlung dess. 451. , Bez. dess. z. chronisch - depressiven Wahnsinn 154. , erworbener 471. , manischer 471. Verlauf dess. 473.

Raptus, convulsiver, bei Dementia acuta 212. zu Gewaltakten in der masturbator. Melancholie 69, im Ver- folgungswahn 158. , manisch-hallu- cinatorischer im Verfolgungswahn 149.

melancholicus 55. 56. 243. 405. , motorischer bei epileptischem Irresein 262; in der Hysterie 241. 246 ; bei psy- chischen Cerebropathieen 392. bei Stupor (circulär.) 309. 310. Buicidü 56. 464. des Trinkerwahnsinns (acu- ten) 406. im Wahnsinn 178.

Rauchen, Einschränkung dess. bei Melancholie 45.

Reactions formen eines invaliden Ge- hirns 8, eines rüstigen 11.

Recidive alkoholischer Manieen 424.

des Blödsinns (apathischen) 129. des circulären Irreseins 308. des epileptischen Irreseins 261. der Hy- sterie 24 1 . der invaliden Psychosen 19. der Manie 93. 99. 245. der Melancholia agitata 59. der Moria 106. , Neigung zu dens. bei erblicher

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537

Disposition 430. des Verfolgungs- wahnes 165. des Wahnsinns 180. 182. 186. 188. 190. 191. 194. 200. Reflexerregbarkeit im Blödsinn 126.

bei Delirium acutum 327. bei Hysterie 234. bei Pacchymeningitis (psychisch.) 384. in der Paralyse 363. im postepileptischen Irresein 260. im Wahnsinn 175.

Reflexhandel n der Hysterischen 235. Reflexkrämpfe, psychische, im

Wahnsinn 154. 188. Religiöse Grübeleien, Veranlass^.

z. Wahnsinn 175. Remissionen der Paralyse 361. 364.

368.

Respiration cephalische bei Dementia senilis 393. bei Delirium acutum

329. 333. 334. bei Melancholie 38. Retentio urinaeim Delirium acutum

330. 335. bei Paralyse 358. et alvi bei Melancholie 74.

Rheumatoide Empfindungen, Veranlassg. z. Melancholie 49.

Rückenmarkserkrankungen mit Geistesstörung 394.

Ruckenmarksveränderun gen durch Paralyse 372.

Rüstiges Gehirn, Bez. dess. zur See- lenstörung 12. , Psychosen dess. 12. 14. 17.

Salz zur Coupirung eines epileptischen

Anfalls 269. Sauf erdyskrasie, chronische 403. Satyriasis im Wahnsinn 173. Schadelformen der Idioten 511. Schädelverdickung durch Paralyse

369.

Schlaf im Delirium acutum 329. bei Hirnatrophie (primärer) 386. bei Manie . 93. bei Wahnsinn (acutem hypochondrischen) 186.

Schlaflosigkeitbei Hypochondrie 282.

bei Melancholie 39, Behandlung ders. 41.

Schlingfun ction bei Delirium acut. 329. 330. 333. 334. 335. bei Idiotie 500. bei Mania gravis 110. bei

Melancholie 39. bei Paralyse 353. 363.

Schmerzen, heftige, Ursache von Deli- rium acutum maniacale 326.

Schnupfen, Einschränkg. dess. bei Melancholikern 45.

Schreck, Veranlassung von Hysterie 240, von Melancholie 34.

Schrift nach Dementia acuta 224. Paralytiker 349. 361. jugendlicher Epileptiker 274.

Schuldbewusstsein, wirkliches, Ver- anlassg. von Furor 10 1.

Schwachsinn anergetischer einfacher 505. , angeborener, Bez. dess. z. epileptischen Irresein 256. , apha- tischer507. , eretischer 118. 506. mit Grössen wahn 506. , hebephrener 508. , idiotischer 500. 501. 503. 515.

jugendlicher Epileptiker 272. 274. , moralischer 507. , phlegmatischer 118. reizbarer 117. torpider 116.—, versatiler nach erschöpfenden Geburten 229.

Schwäche, psychische 115. , anergetische u. erethische 1 1 5, (in der Idiotie) 498. 504. nach Delirium acutum 330. 334. 336, postepilepticum 259. , erworbene 115. nach Manie 98. in der Melancholie 54, (Folge ders.) 22. bei Paralyse 342. 359. 364. 367. , reizbare im Wahnsinn 132.

bei Stupor (circulärer Form) 310. Schwangerschaftswahn 163. ,

bei peracut. u. acut, exaltirt. Wahn- sinn 181.

Schweisse, abundante, im Delirium acutum 328. 329. 330. 333, tremens 416. bei Paralytikern 357.

Schwindel bei Encephalitis syphili- tica 399. im epileptischen Irresein 264. bei Hirnatrophie (primärer) 387. nach einem postepileptischen Stupor 258. bei der psych. Me- ningo-Periencephalitis chron. 379.

8crophulose, Complic. der Idiotie 51 0.

Seeale cornutum bei Paralyse 376.

Sedativa bei Melancholie 41.

Seelenstörungen, Begriffsbestim-

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538

Register.

mang ders. 1. , Eintheilung ders. 6.

als Gesammtaffection der Indivi- dual-Seele 3. , Heilung ders. im Allg. 4. als Mit-Effect organischer Gehirnleiden 4. , Nosologie ders. im AlJg. 3. , transitorische 457.

Seeluft bei Paralyse 377.

Sehnenreflexe bei attonischem Stu- por 215. bei Pacchymeningitis (psy- chisch.) 384. bei Paralyse 351.

Sehstörungen Paralytiker 356.

Selb8tbewusstsein der Idioten 505.

bei Seelenstörung 6. Selbstgefühl des Melancholikers 28.

29. im Wahnsinn 136. 182. Selbstmordtrieb 440. 444. bei conträrer Sexualempfiudung 448. im Delirium tremens 415. beim Ein- tritt der Paroxysmen alternirender Psychosen 319. bei Encephalitis syphilitica 397. bei epileptischem Irresein 261. 263. 268. , hereditärer 428. bei Hirnatrophie (primärer) 387. bei Hypochondrie 284. bei Melancholie 27. 52. 57. 68. 69. 75.

bei Moral Insanity 490. 493. , neurotisch Belasteter 452. bei Pa- ralyse 345. 361. im Trinkerwahn- sinn 406. 410. im Verfolgungswahn melancholischen 167. im Wahn- sinn 145.

Selbstverstümmlung im epilepti- schen Irresein 261. 268. im hysie- rischen Irresein 246.251. im men- strualen Irresein 322. in der Para- lyse 363. im Verfolgungswahn 167

im Wahnsinn 173. Senil-atrophiBche Zust&nde bei

Paralyse 373.

Senium, Entfaltung hereditärer Neu- rosen in dems. 456.

Senium praecox, Bez. dess. z. ori- ginären Verrücktheit 476; z. Paralyse 373. hereditär Belasteter 456.

Sensibilitätsstörungen bei Alko- holismus chronic. 409.416. bei alter- nireuden Psychosen 319. bei Blöd- sinn 1 26. im Delirium acutum 332.

in der Dementia senilis 392. im

epileptischen Irresein 261. bei Hira- atrophie (primärer) 388. bei Hypo- chondrie 278. 281. bei Hysterie 239.

der Idioten 510. in der Katatonie 197. 209. bei Manie 86. bei Me- lancholie 22. 31. 33. 35. 55. 72. 243 306.

der Paralytiker 356. bei Rücken- markserkrankungen 395. im Wahn- sinn 140. 144. bei Zwangsvorstel- lungen und Zwangsacten 439.

Sensorielle Störungen im Alko- holismus, chron. 41 8. im Delirium tremens 415. der Idioten 510. bei Manie 86. bei Melancholie 33. 36. 37. 56. 306. bei Paralyse 355. im Wahnsinn 157. s. auch Sinnes- täuschungen.

Sexual drang nach abgeheilter De- mentia acuta 225. , angeborener 445.

im chronischen Alkoholismus 41 1.

bei Eifersuchtswahn der Frauen 162. bei Hysterie 237. 249. bei Paralytikern 347.

Sexualempfindung, conträre 447. , angeborene und erworbene 449. , forense Bedeutung ders. 449. , Here- dität ders. 427.

Sexualmanieen 103. , Compiicat. ders. mit Wahnsinn 175.

Sexuelle Einflüsse bei Grössenwahn 169. bei Moral Insanity 492. bei originärer Verrücktheit 477. 486. - bei Trinkerwahnsinn (acutem) 406. 409. bei Verfolgungswahn 155. 168.

Sexuelle Reize bei Hysterie 236. bei Melancholie 39. , Veranlassg. zu hallucinat. Stupor 225.

Simulation bei Hysterie 237.

Sinnenwahn 137. 138. 139.

Sinnestäuschungen im Alkoholis- mus chronic. 409. 413. im Delirium tremens 4 1 4. bei Dementia acuta 22 1 . 250. im epileptischen Irresein 259. 262. —bei Hirnatrophie (primärer) 386.

bei Hypochondrie 283. in der Katatonie 200. 202. 206. —in der Manie 77. 85. 113. - bei Melancholie 33. 37.

bei Paralyse 344. 345. 355. 356. 360. 361. 364. 382. bei Stupor 226.

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539

im Trinkerwahnsinn 406. 408.

im Verfolgungswahnsinn 152. 153. 157. im Wahnsinn 131. 140. 147. 172. 175. 189.

Sklerose der Hirnrinde bei Idioten 512.

Somatischer Zustand bei alterniren- den Psychosen 319. bei Blödsinn 125. im Delirium tremens 416. 417.

bei Hypochondrie 281. jugend- licher Epileptiker 274. bei Manie 86. 88. 113. bei Melancholie 38. 75.

bei menstrualen Psychosen 323. bei originärer Verrücktheit 477. bei Stupor (circulärer Form) 309 bei Wahnsinn 144. 168. 179. bei Zwangs- vorstellungen. 447.

Somnambule Zustande bei originä- rer Verrücktheit 476. Sopor bei Delirium acutum 328. 334.

bei Dementia acuta 212. im In- tervallstadium circularer Psychosen 307. 310. bei Pacchymeningitis 384.

Spannungsneurose, motorische bei Dementia acuta 212. bei Kata- tonie 195.

Spastische Paralyse, Complic. der Idiotie 509.

Speichelfluss im Delirium acutum 336, postepilepticum 259. in der Katatonie 199. 201. 211.

Sphinkterenlähmung bei Idiotis- mus 500.

Spinale Störungen, Complic. der

Idiotie 509. Spinalirritation bei Hypochondrie

282. bei Melancholie 64. 69. im

Wahnsinn (chronisch.-depressiven) 1 55.

157. 162.

Spinalneurose, Ursache von Wahnsinn 144. Spinalreflexe bei attonischem Stu- por 214.

Sprachfertigkeit in der Manie 82.

Sprachstörungen bei Alkoholismus chronic. 411. Blödsinniger 122. im Delirium acut. 327. 328. 335. bei Idioten 498. 499. 501. 502. 505.

jugendlicher Epileptiker 274. bei

Manie 84. 96. 108. - Paralytiker 348. 36t. 362. 363. 367. 368. nach postepileptischem Irresein 259. bei psych. Meningo - Periencephalitis chronic. 379. 380. im Verfolgungs- wahn 153. im Wahnsinn 191.

Stehltrieb Blödsinniger 125. Here- dität dess. 443.

Sterilität durch AlkoholiBmus chronic. 412. bei Fortpflanzung erblicher Entartung 431.

Stimme eines Paralytikers 352.353. 362.

Stirnkopfschmerz im Beginn des hystero-epilepti8chen Insultes 240.

Strabismus bei primärer Hirnatrophic 390.

Strangulationen, Veranlassung zu primärer Dementia 228.

Stupidität bei Hirnatrophie (primärer) 388. bei Wahnsinn 174. 190.

Stupor, apathischer 225. 310. , atto- nischer 214. , Behandlung dess. 227. 231. 233. , circulärer 309. , Com- plicat. der primären Hirnatrophie 390. bei Delirium acut. 332. , Diagnose dess. 213. 214. epileptischer 262. , hallucinatorischer 225. , hyste- rischer 247. 250. -in der Katatonie 195. 201. 202. 205. , menstrualer 322. , organischer 214. , postepileptischer 257. , postmanischer (anergetischer) 219. bei psych. Meningo -Perience- phalitis chron. 384. , recidivirender in der Reconvalescenz der Dementia acuta 218. , transi torischer 463. , Verlauf dess. 216. 220. 226. 258. im Wahnsinn 119. 136. 160.

Submaxillardrü8e, Anschwellung ders. bei Delirium acutum 329.

Subsultus tendinum bei Delirium acutum 329.

Such-Manie 440. der Wahnsinnigen 134.

Suppos itorien zur Behandlung der

Hysterie 253. Sympathicus, anormale Thätigkeit

dess. bei Paralyse 374. 375. Syphilidophobie 72. [394. Syringomyelie mit Geistesstörung

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Register.

Tabes spinalis mit Geistesstörung 394. , Veranlassung z. Verfolgungs- wahnsinn 162.

Tabische Paralyse 294. , Behand- lung ders. 401.

Tartarus stibiatus- Salbebei Para- lyse 376.

Tetanus im Delirium acutum 328. in der Manie gravis 110. Paraly- tiker 354.

Thrombose, marantische, bei Para- lyse 363.

Tobsucht melancholische bei Furor 100. bei ParalyBe 382.

Torpor bei psychischen Schwächezu- standen 119. nach Wahnsinn 185.

Tracheairasseln im Delirium acu- tum 329.

Träume im epileptischen Irresein 262.

im hysterischen Irresein 238. des Melancholikers 25. im Wahn- sinn 172.

Transitorische Seelenstörungen 457. 462.

Traumzustände, hallucinatorische im Wahnsinn 131. der primären Hirnatrophie 387.

Tremor im Alkoholismus chronic. 411. 415. 416. 419. bei psychischer Hirn- erkrankung 8.

Trinkerverf olgungs wah u 418.

Trinkerwahnsinn, acuter 183. 405. -, Krankheitsbild dess. 406.

Trismus 8. Tetanus.

Trophische Störungen bei alterui- renden Psychosen 320. bei Blödsinn 126. im Delirium acutum 325. 334.

bei Dementia acuta 214. 225. des Gehirns in der Manie 107, in der Melancholie 31. bei Hirnatrophie (primärer) 387. bei Hysterie 239.

bei Manie 86. 87. 95. 112. bei Melancholie 33. 37. 51. 55. 63. 67.

bei Paralyse 35". bei psychisch. Meniugo-Periencephalitis chronic. 380.

bei Verfolgungswahn 155. bei Wahnsinn 140. 161. 178. 186. l^J.

Tuberculose, Complicat. der Idiotie 518.

Typhus, Bez. dess. zur primären De- mentia 228. , Paralyse nach dems. 366. , Wahnsinn nach dems. 186.

Ue beranstrengung, geistige als Ur- sache des Delirium acutum maniacal.

326.

Umherirren bei epileptischem Irresein

263.

Umschläge im Delirium acut. 340. bei epileptischem Irresein 269. bei Melancholie 48. bei Paralyse 376. U nbesinnlicbkcit in derMania tran-

sitoria 458. Unterkiefer - Missbildungen bei

Idioten 510. U n t er 1 ei b s Sensationen, hyper- ästhetiBche, Veranlassg. zu hypochon- drischem Irresein 278; zu Wahnsinn 16S.

Urate, Ausscheidg. ders. bei den Par- oxysmeu des periodischen Irreseins 29?.

Urtheilsschwäche im Delirium tre- mens 416.

Uterinaffectionen, Veranlassung z. alteruirenden Psychosen 318; z. hypo- chondrischer Melancholie 04; z. Se- xualmanieen 103; z. Wahnsinn 144.

Variola, Bez. ders. zur primären De- mentia 228. , Blödsinn mit Ataxie nach ders. 366.

Vasomotorische Störungen bei al- ternireuden Psychosen 319. bei Blödsinn 126. im Delirium acutum 325. 333, tremens 416. bei Demen- tia acuta 214. 225. bei Grössenwahn 167. bei Hirnatrophie (primärer) 389.

bei Hypochondrie 282. bei Hy- sterie 239. bei Manie 86. 244. 459.

bei Melancholie 22. 33. 37. 56. 69. 243. 2US. bei Paralyse 357. 361. 363. 366. 367. bei Stupor (circu- lärer Form) 309. 310. , Ursache func- tioneller Psychosen 4. bei Verfol- gungswahn 155. 157. 162. bei Wahn- sinn 160. 161. 170. 179. 184. 195. 201. 203. 20i>.

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5-41

Verbigeration bei Katatonie (hyste- rischer) 209.

Verblödung, progressive bei Alkoho- li8mus chronic. 420.

Verbrechen, Bez. dess. z. Wahnsinn 430.

Verbrechenstrieb der Idioten 505. 508.

Verdauungsstörungen in der Manie 87. bei Melancholie 38. bei Hy- pochondrie 278. 282.

Vererbungsgesetze 427.

Verfolgungswahn 146. , acuter 149. , alkoholischer 405. 40*. 409. , cerebraler 146. , cerebro-spinaler 155. , Complicat. dess. mit Grössen- wahn 165. bei Dementia senilis 391.

der Epileptiker 265. , hallucina- torischer 141. 182. hereditär Dis- ponirter 453. bei Hirnatrophie (pri- märer) 388. , hypochondrischer 284.

bei hysterischem Irresein 245. 249. , klinisches Krankheitsbild dess. 146. 155. 166. , manischer III. 163. , melancholischer (35. 164. , menstrualer 322. nach Moral Insanity 469. , negativer 154. Paralytiker 364. 367. , periodischer 165. , physi- kalischer 155. 161. bei psychisch. Meningo-Periencephalitis chron. 379. 380. , remittirender Typus dess. 146. , spinaler 155. 161. , tabischer 162. , transitorischcr alkoholistischer 405. 407. -, Verlauf desB. 152. 159. 168.

Verificationszwang 134. 485.

Verletzungen, Anlass zu epilep- tischen Anfällen in der Jugend 272.

Verrücktheit, abortive 437. , Bez. ders. z. chronisch. Wahnsinn 15. 136. , gemischt depressiv-exaltirte 480. , hysterische 245. katatone 202. originäre 245. 475.

Verwirrtheit im Delirium acutum 327. , hallucinatorische 120. , manische 85. bei Paralyse (subacut.) 382.

bei psychisch. Meningo-Perience- phalitis 379. bei Wahnsinn 180.

Vociferiruüg bei Manie 83.

Vorderhirn-Functionen, Bez. ders. zu den Psychosen u.Neuropsychosen 1 1 .

Vorstellungsanomal ieen bei Furor 100. hereditär Belasteter 436. bei Hypochondrie 280. in der Ma- nie 82. 85. 93. in der Melancholie 29. 30. 31. 58. bei Paralyse 343. 360. 262. 263. im Verfolgungswahn 157. im Wahnsinn 131. 139.

Vorsteliungswahn 137.

ärmegefühl, erhöhtes in der Manie 86.

Wahn, expansiver (fixer) bei Moria 106.

, fertiger 132. , melancholischer 51. Wahnideen 1 37. —, Combinirung der

einzelnen Formen im Wahnsinn 141.

bei Dementia senilis 391. , Ein- tlus8 ders. auf den Willen 141. , Genese ders. 137. 138. des Grössen- wahns 140. , hypochondrische 140. 141. , Inhalt ders. beim Wahnsinn 140. bei der Melancholie 31. 32.

der organischen Melancholieen 66. , remittirend-exaccrbescirendcr Cha- rakter ders. im Wahnsinn 141. des Verfolgtwerdens 140.

Wahnsinn 130. , acuter 131. 134. 175. , acuter cerebrospinaler 186. , acuter depressiver u. dann expansiver 183. , acuter gemischt depressiv- exaltirter 1 85. , acuter exaltirter 181. , acuter halluciuatorischer 182. , acuter hysterischer 1S6. , acuter manischer 191. , acuter melancho- lischer 187. , acuter sensueller 180. , Aetiologio dess. 131. 134. durch Alkoholismus 405. 410. 420. , atto- nischer 195. -, Behandlung dess. 145. 193. , Benehmen u. Handeln des Wahnsinnigen 141. , Bez. dess. z. physiologischen Traumleben 6. , cerebraler 146. , cerebrospinaler 1 55. 1 86. , cerebrospinal - neural- gischer 205. chronischer 131. 137. 388. , chronischer depressiver 146. , chronischer expansiver 169. , cir- culärer 304. 307. , degenerativer 161. , depressiver (dämonomanischer)

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542

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97. 183 200. 322. bei epileptischem Irresein 263. , erworbener 137. , expansiver 106. 183. , hallucinato- rischer 97. 148. 180. 182. 225. he- reditär Disponirter 456. 457. , hypo- chondrischer 159. 186. 283. , hypo- chondrisch - hysterischer 245. , hy- sterischer 196. 207. 245. 247. 249. , klinisches Krankheitsbild dess. 146. 155. 165. 169. 175. , manischer 97. 113. 160. 163. 191. -, masturbatori- scher 155. , melancholischer 31. 51. 59. 164. 187. , menstrualer 1SI. , negativer 154. 173. , negativer ex- pansiver 173. , onanistischer 161. , peracuter 181. , peracuter ma- nischer 460. -, religiös -expansiver 196. , remittirender 149. , secun- därer 120. , spinaler 204. , Stim- mung in demB. 143. , stupuröser 177. , Symptomatologie dess. (all- gemeine) 137, (specielle) 180. , Un- terscheid^ dess. von der Melancholie 132. 136. , Ursachen dess. 144. , Vererbung der Prädisposition zu dems. 428. , Verlauf dess. 136. 144. 152. 159. 168. 172. 175. , Zwangshand- lungen in dems. 142.

Wahnvorstellung 137. 138.— s. auch Wahnideen.

Wasch-Manie 441.

Wein zur Behandig. des attonischen Stupors 232, der Melancholie 45, der Paralyse 378. zur Coupirung eines epi- leptischen Anfalls 269. bei Schwäche- zustanden im Delirium acutum 340.

Weinkrämpfe bei hysterischer Me- lancholie 243.

Willensstörungen bei Blödsinn 125. in der Dementia senilis 392. bei Hypochondrie 280. in der Manie 79. in der Melancholie 29. 70. bei Paralyse 347. 364. - bei Stupor 177.

Wortzwang im Wahnsinn 142.

Zahlenzwang 433. Zahnaffe ctionen im Delirium acu- tum 328.

Zahnmissbildungen bei Idioten 510.

Zeit sinn, Schwinden dess. in Mania gravis. im Wahnsinn (hypochondri- schen) 160.

Zeugungsact, Bez. dess. zur Heredi- tät 432.

Zerstörungsdrang im Delirium acu- tum 334, postepilepticum 258. bei Dementia acuta 225. Hysterischer 241. 246. 249. 251. jugendlicher Epileptiker 276. in der Katatonie 199. 201. in der Manie 304. , Paralytiker 360. 366. 382. 383. im Wahnsinn 168.

Zittern bei Encephalitis syphilitica 399. bei Hirnatrophie (primärer) 386. 388. der Idioten 499.510. der Paralytiker 354. 363. bei psychisch. Meningo- Periencephalitis 380. bei psych. Pacchymeningitis 384.

Zorn-Manieen 93. 102. , Complic. der Paralyse 360.

Zornparoxysmen bei Furor 100. beim Verfolgungswahnsinn 156.

Zunge, Beschaffenheit ders. im Deli- rium acutum 329. 330. 333. 336. bei Paralyse 351. 354. 359.

Zwang, geistiger 2. 133. 205. bei Hypochondrie 279.

Zwangsacte 432. 439. , impulsive 441. bei Melancholie 35. 56. 58. , physiologischer Mechanismus ders. 441. , scheinbar gewollte 440. bei Verf olgungswahnsinn 152.— bei Wahn- sinn 132. 142. 161. 175.

Zwangsbewegungen bei alterniren- den Psychosen 319. bei Blödsinn (idiotischem) 498. -- im Delirium acutum 328. 329. 335. in der Manie 111. bei Melancholie 243. bei paccby meningitischen Zufällen 358. bei Paralyse 347. 354. 362. bei post- epileptischem Irresein 260. 262. bei psych. Meningo -Periencephalitis chron. 379. im Wahnsinn 143. 247. 249.

Zwangsempfindung 434. , senso- rische 436.

Zwangsgedanken beim hereditären Irresein 465. - bei Melancholie 32

4

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49. , Uebergang ders. in Wahnvor- vorstellungen 470. bei Verfolgungs- wahn 155. im Wahnsinn 142.

Zwangshandlungen s. Zwangsacte.

Zwangsvorstellungen 432. bei Dementia senilis 392. , emotive u. nicht-emotive 433. bei Hirnatrophie (primÄrer) 386. bei Hypochondrie

543

280. der Hysterischen 238. 246. 249. —.klinisches Verhalten ders. 437. bei Melancholie 55. 243. 299. bei menstrualem Irresein 322. psycho- logischer Charakter ders. 434. , verti- ginöse 446. bei Wahnsinn 143. 183. 247.

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Dniok von J. B. Hirsch fftld iu Leipzig.

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HC 2b

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