EDA KUHN LOEB

MUSIC LIBRARY gift of Mrs. F. Stanton Crowley

HARVARD UNIVERSITY

DATE DUE

a

GAYLORD

Aus dem

Uouncert- Baal.

Aus dem

Concert-Saal.

Kritiken und Schilderungen

aus

20 Dahren des Wiener Muſiklebens

1848— 1868.

VNebſt einem Anhana: Piufikalifche Reifebriefe aus England, Frankreich u. d. Schweiz

von

Eduard Banslirk.

Zweite durchgefehene und verbefferte Auflage.

Wien und Leipzig. Wilbelm Braumüller

k. u. £. Hofs und Univerſitätsbuchhändler. —— 1897.

HARVARD UNIVERSITY NCT %- 106?

EDA KUHN LOEB MUSIC LIBRARY

Alle Rechte vorbehalten.

Trud vor Friedrih Jasper in Wien,

rn. ran r.- Gi Er ca EDA KJ 4. —* —E —*

HARYARD UNIVERS SITY CAMBRIDGE, MASS. 02138

Inhaltsverzeihniß.

x Seite Vorwort zur erſten Auflage » 2: 2 2 2 2 nn XIII 3 Vorrwort zur zweiten Auflageee xV 1848. Haydn’3 »Schöpfung« und dad Dratorium in Wien. . 1 Janſa's Duartettjoirden und die Pflege der Kammermufit 5

Akademie zum Andenken des Componijten C. Ferd. Füchs 8

; 9

Zanzmufit und die Söhne von Strauß und Lanner . . 28 Die Wiener Eoncert:Saifon 1852—1853 . . 2 2 2. . 31

Gade's »Difian QOuverture.. 85

Pſalm von Mendelsſohn. an Zeus« von

Menerbeer : -: 2 2 2 2 2 un

G.Bailati. Hedwig Brzowska. Evers. Doppler 89 Sadfe Frl. Staudach. Liederfänger . . . 92

VI Inbalteverzeichnih.

Seite 1856. Orcefterconcerte: Litolff’ö Dupverture »Chant des

1857. »Les preludes», iymphonifhe Dichtung von Fr. Lift . 124 Orcdeiterconcerte: R. Schumann und feine D-moll-

Virtuojenconcerte: (Nanette Falk. Henritte Fritz. Die

Geiger Bazzini und Fraiinetti,

1858. »Das Paradies und die Veri« von R. Shumann . . 155

Rammermufit: Chopin. Beethoven’s Fuge op. 133, Schumann’ Violinfonate in D-moll, X. Winter:

Inhaltsverzeihniß. vn

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VIII Inhaltsverzeichniß.

Philharmoniſche Concerte: Genovefa-Ouverture von

Einleitung zu »Triſtan und Iſolde« v. R. Wagner 251

Sopran-Arie von Mozart Eoncert für StreichInitrumente von Seb. Bad. . 252

C-dur-Symphonie von Shumann. . . » 2»... 252 Duverture »Medeae von Cherubini. . »..... 253 Ordeiter:Suite in D von Sb. Bad. ...... 253 B-dur-Symphonie von Shumann. . » 2 22... 254

Symphonie von . Emanuel Bad RER 258 »2oreley« von

1862, Die Mathäus-Paſſion von Seb. Bad . . ». 2... 269

Händel’3 »Meſſias« und das Jubiläum der »Gefelichaft

der Muſikfreunde...

Orcheſter- und Brahms’ Serenade Te a a a a a Chor von

Arien von Händel und Bergoleie. . ..... 294 Schubert's C-Sym DEE SDTESTET 295 Birtuojen: Karl Taufig, NMlerander Dreyihod,

Wilhelm Treiber, Ed. Remendyi . .. 2.20. 296

1863. Schumann’s Mufit zu Goethe’ »Fauft« (vollftändige

Aufführum

Die Preis-Symphonien (von 3. Naft u. Alb. Beder) , 310 Singafademie (Cantate von Seb. Bad. Chöre von

Beethoven und S

Anbaltsverzeichnik. IX

Orcdeftercompofitionen von Liſzt und Wagner. Das

Tauſig-Wagner-Concert . . . -

Kammermufif: Quartett von . Sonate von Em. Ba

Mendelsjohn’s Mufil zu »Antigomee . . ... . 342 Männergefangberein: (Herbed’s Repertoire. »Das Glück von Edenhall« von Shumann. Studentenchor bon Berlioz. »Das Liebesmal der Apoftele bon

Rihard Wagner. Chor von Fr. Schubert) . . . 346 DOrcefterconcerte: Fr. Lachner's Suite in E-moll . 351

Berlioz’ Duverture zu »Benvenuto Gellini« . . . 353

- Zrauerfpiel-Ouverture von W. Bargiel .. . . . 34

Chor von Shumann

)

Schumann’ Duverture zu »Julius Cäfar« . . . 358

Beethovben's Tripelconcert in C-dur. . . .. 360 Karl Tauſig, Franz Bendel, Grat Bauer,

Julius Epftein, Sojef Derffel, J. Dubeß . 360

Alois Ander (Nekrologh... 370

1865. Philharmoniſche Concerte: Schubert’3 Muſik zu Rojamunde, DOuverture zu »Alfons und Eitrella«

und C-dur-Symphonie

Beethoven's Feſt-Ouverture op. 124 . ..... 378 « 4, 378

J Inhaltsverzeichniß.

———— und »Trom eten-Onnerture« 469

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Inhalts verzeichniß. XI

für Streichinſtrumente von Händel.

Bei ven er‘ 8 | |

Sean Beder und das

1860 i

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XII Inhaltsverzeichniß.

Seite

III. Muſikaliſches aus London (1862):

Vorwort zur erfien Auflage.

Niemand fann über den ephemeren Werth und Erfolg von Zageskritifen beicheidener denken, als der Verfaſſer der bier vorliegenden. Weder vielfeitige freundliche Aufforderung, noch daS Beifpiel zahlreicher franzöſiſcher, engliicher, neueftens auch deutſcher Publiciſten hätten mich vermocht, meine refpect- volle Scheu vor der Buchform zu überwinden und eine Aus— wahl von Journalauffägen in fo bauerhaftes und ftattliches Gewand zu Heiden. Was mich jet dennoch dazu veranlaßt, iſt vorzüglich die Rückſicht auf ein früheres im felben Verlag er: jchienenes Werk: »Geſchichte des Concertweſens in Wien«. Anlage und Umfang diefer »Conzertgefchichte« geftatteten zwar eine ausführliche Darftellung der älteren und mittleren Muſik— periode, zwangen jedoch den Verfafler, fi in der Schilderung der nenueften Zeit auf die nothiwendigen, allgemeinen Grundzüge zu bejchränfen. Es wurde mir ein Vorwurf gemacht aus der allzu knappen Daritellung der legten zwanzig Jahre, gerade jener Muſik-Epoche (1848 1868), die ih felbit in Wien miterlebt und liebevoll! Schritt für Schritt kritiſch begleitet hatte. Aber um jede bedeutende Kunſterſcheinung diefer reichen Periode eingehend zu würdigen, hätte ich ftatt eine Kapitels meiner »Goncertgefchichte« einen ganzen Band jchreiben müſſen. Da wurde ich aufmerffam, daß diefer »ganze Band« eigentlich ihon gejchrieben und gedruct bei mir verftedt liege, nämlich in einem Berg von alten Zeitungsartifeln, aus dem er blos herauszugraben und von Schladen zu reinigen war. Sp ging

XIV Vorwort.

ich denn muthig an die Durchſicht der 26 Jahrgänge meiner journaliſtiſchen Thätigkeit.

Die rechte Auswahl zu treffen iſt in ſolchem Fall nicht (eiht für den Autor: er fieht fich ſelbſt gleichjam in zwei Hälften geipalten, eine ftrenge und eine nachfichtige, welche fich wie Ankläger und Vertheidiger fortwährend befehden. Gern wäre ih noch häufiger, als es geichehen, dem verneinenden Geift in mir gefolgt, aber der pofitive leitende Gebante, diefe Sammlung zu einer fortlaufenden Sluftration meiner »&oncertgefhichte« zu machen, entwaffnete das Bedenken über die Drucdwürdigfeit manches Einzelnen.

Von meinen vormärzlichen Jugendſünden habe ich nichts aufgenommen; bon 1848 biß 1854 nur wenige Auffäße. Sie ſtanden urfprüngli” in der »Miener Zeitung« und ihrer »Beilage für Kunft und Literature. Die Kritiken von 1855 bis 1864 waren für die (alte) »Preſſe« gejchrieben, alles Folgende für die »Neue Freie Preffee.

Mie Schon der Titel der Sammlung andeutet, find die Kritiken über Opern und Theatervorftellungen hier ausgeschieden. Hingegen mwurden einige feinerzeit beifällig aufgenommene Feuilletons, obwohl fte nicht direct den Koncertfaal angehen (mie die Mufikaliichen Briefe aus Paris und London u. W.), auf den Wunſch von Freunden dem Bude einverleibt. Das Rettungd- Ihiff lag einmal vor Anker, warum follte es nicht auch einige, nicht Strenge zur Zunft gehörende Baffagiere mit an Bord nehmen? Möchte die anipruchslofe Reiſegeſellſchaft auch in diefem neuen Fahrzeug mohlwollende Aufnahme bei ihren alten Freunden finden.

Wien, zur Weihnachtszeit 1869.

Ed. B.

Vorwort zur zweiten Auflage.

Huf eine zweite Auflage diefes Buches habe ih nicht gehofft; ich hielt es für vergriffen und vergefien. Nur Erfteres war richtig, wie die vorliegende Neuauflage beweift. Das fo ſpäte Erſcheinen derjelben ein volles Vierteljahrhundert nach der erften verfchiebt matürlih den Gefihtspunft, aus welchem der Inhalt jet aufgenommen und beurtheilt fein will. Bor 25 Jahren wirkten die hier befprochenen Kinftler noh inmitten lebendiger Strömung; meine Lefer ftanden ihnen noch nahe genug, um den Reiz eine gemwiffen per- fönlihen Antheil® bei der Lectüre nicht zu vermiſſen. Das it heute andere. Die Sänger und Pirtuofen jener Periode find faſt alle in das Reich unbelannter Harmonten hinüber: gegangen; zulegt noch zwei der Beiten und Ruhmreichſten: NRubinftein und Clara Schumann. Was die Compontiten betrifft, jo find bier neben den Glaffifern hauptſächlich jene jüngeren Meifter beiprocdhen, welche (wie Schumann, Wagner, Brahms) in den letzten 30 bis 40 Jahren fich bleibende Macht errungen haben; endlich aber auch gar Manche, deren schnell auffladernder Erfolg feither zu Staub und Aſche ward. Für den Lejer von heute liegen jomit die Geftalten dieſes Buches bereitö in der fühlen Nachmittagsbeleuchtung des Hiſtoriſchen.

Wie find die Werke Schumann's, Brahms’, Liſzt's u. A. bei ihrem erſten Erſcheinen in Wien aufgenommen worden? Wie haben die Concertinſtitute, wie das Publicum,

XVI Vorwort.

wie die Kritik ſich zu denſelben verhalten? Welche von den Tondichtungen jener Periode blühen ſeither unverkümmert fort und welche ſind verwelkt und beſeitigt? Dies ſind die Fragen, auf welche die wiederauferſtandenen Annalen »Aus dem Goncertfaal«e Antwort geben können. Sie ſchließen mit dem Jahre 1868.* Was diefe alten Kritiken an actuellem Inter: effe verloren haben, das muß das Hiftorifche erſetzen. Bon dieſem Gefihtspunft des Hiftorifhen Intereſſes, als ihrem Rechtfertigungsgrund, durfte die neue Auflage nicht abweichen. Jh mußte es mir deshalb verjagen, an Form oder Inhalt der urfprünglichen Kritiken zu beffern; nur Kürzungen jchienen mir erlaubt und geboten. Es iſt nicht bedingungslos wahr, daß gerade das Alter geſchwätzig macht. In der Jugend find wir oft noch graufamer redfelig; nur klingt es da hübfcher.

Wien, den 11. September 1896.

Ev. B.

*) Was nad) diefen 20 Jahren an bedeutenden Künftlern und Tonwerfen im Wiener Concertleben hervorgetreten ift, habe ich, Die vorliegende Sammlung fortfegend, in gleicher Form und Anordnung in folgenden drei Büchern behandelt:

1. »&oncerte, Componiſten und Virtuoſen der legten 15 Jahre. 1870 bis 1885.«

(Verein für deutfche Literatur. Berlin 1886.)

2. »Aus dem Tagebude eines Muſikers« (enthält Con- certberichte von 1885 bis 1891).

(Verein für deutfche Literatur. Berlin 1892,)

3. »Fünf Jahre Muſik« (enthält Concertberihhte von 1891 bis 1895). | (Verein für deutjche Literatur. Berlin 1896.)

1848.

sanon’s „Schöpfung“ und das Ora: forium in Wien.

Kein Bericht, wie diesmal die »Schöpfung«e aufgeführt wurde; nur einige Worte darüber, daß man fie aufgeführt hat.

So weit das Erinnern der gegenwärtigen Generation reicht, verging jelten ein Jahr, in welchem nicht eines der zwei Haydn'ſchen Oratorien oder beide in Wien zur Aufführung gelangt wären, und jo umerichütterlih Gottes Schöpfung und Sahrezzeiten in der Natur, jo gewiß waren Haydn's Schöpfung und Jahreszeiten alljährlih im Burgtheater. Die rühmliche Anhänglichkeit des Wiener Publicums für dieje beiden Werfe it nur zu ſehr im der Herrlichkeit derjelben begründet; fie gehören zu dem Edelſten und zugleich Friicheiten, zu dem Ge: lehrtejten und Lieblichiten, wad wir im Face des weltlichen Dratoriums befißen. Kein Wunder, wenn fich die beiden Meiſter— werfe alsbald jo jehr in der Gunft des Wiener Publicums feftjegten, daß fie die in unferem Muſikleben gar jpärlichen Dratorienpläge faft ausichlieglih und auf Jahre hinaus in Beichlag nahmen. Diele wiederholten Aufführungen jegten auch den minder eingeweihten Theil de3 Auditoriums in Stand, die genannten Werke nach und nach immer Elarer verftehen und vollfommener in fich aufnehmen zu können, fo daß gegenwärtig faum ein Mufifliebhaber in Wien zu finden fein wird, der fie nicht durch mehrere Productionen fennen und lieben gelernt.

Die häufigen Wiederholungen hatten alſo ihren künſt— leriſchen Nugen; denken wir nım auch an ihre fünftlerifche Grenze.

Hanslicd. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 1

2 1848.

Das Wiener Mufil-Publicum Hat, ftatt wachſamen Blickes in dem lebendigen Strom der Zeit fortzufegeln, fih in Einen feften Punkt der Kunſtgeſchichte feitgerannt; ob Diejer eine blühende Inſel oder eine Sandbank iſt, gilt für den fünft- leriſchen Fortichritt ziemlich gleih. Ohne fein Verfhulden it unfer Bublicum zuridgeblieben in der Kenntniß, und wo Diele geboten wurde, in der Würdigung der Erjcheinungen, welde die Vor: und Nach-Haydn'ſche Zeit im Face des Oratorium hervorgebracht. Jede einjeitige Vorliebe, die in falſch verſtandener Pietät bei Einem Autor beharrt, und von diefem aus jede weitere Entwidlung abgejchnitten will, rächt ſich an der eigenen Einfiht und Urtheilöfraft. Ein Publicum, dem die Mannig— faltigfeit einer Runftgattung verfchlofjen, hiermit die Möglichkeit der Vergleihung entzogen ift, wird alsbald einjeitig im Ge— ihmade, und geneigt werden, den Einen Autor als Maßſtab an alle andern anzulegen. Das ausſchließliche Verweilen auf einem und demſelben MWerfe, und wäre ed noch So trefflich, macht bornirt, im etymologijhen und eigentlichen Sinne des Wortes. Es gibt in feinem Gebiet der Kunſt Ein Wert, das die übrigen ſämmtlich unnöthig machte. Und dennoch ſcheint dieſe Anficht bei uns rückſichtlich der Haydn'ſchen Oratorien Raum gewonnen zu haben; wir ignoriren ge— troſt die geſammte Oratorien-Literatur, aus ähnlichen Grün— den, wie der Khalife Omar die Bibliothek zu Alexandria ver— brannte.

Man wird einwenden, dieſe in ganz Deutſchland einzige Monotonie des Wiener Oratorien-Repertoirs habe einen nothwendigen Grund darin, daß gerade dieſes Feld der muſi— kaliſchen Gompofition in unferer Zeit ſehr vernahläffigt erfcheint. In Wahrheit ift die religidfe Begeifterung aus dem Bewußt— fein unſerer Zeit, daher auch unferer Künſtler gewichen, die einſt hochgepriejenen bibliichen Terte dünken uns fchaal und ungenießbar, das Intereffe an größeren Geſangwerken ift faft ausfchlieglih von der Oper abforbirt.

Troß alledem aber find wir ſchwächeres Geſchlecht der Seßtzeit nicht jo arm, als jene Herren der »Schöpfung« und möchten glauben machen.

* Haydn und das Oratorium in Wien. 3

Da Haben wir vor Allem Bach's Sohn im Geifte, deu edlen, geiftvollen Mendelsjohn. Seine beiden Oratorien find allerdings in Wien zur Aufführung gefommen: »aulus«, nahdem er im Triumph die- ganze mufifaltiche Welt durch— gegangen war und bereits in Amerika und in Preßburg wiederholte Aufführungen erlebt hatte, »Eliad« aus fpeciellen Gründen minder verjpätet. Troß des Erfolges, den Mend eld- ſohn's Oratorien beim Bublicum hatten, blieben fie vernach— fäffigt; »Paulus« wurde zweimal, »Elias« jeit feinem Er: jcheinen (1847) nicht wiederholt. Um aber diefe Meisterwerke bei einem, der neueren deutſchen Mufif weniger geneigten Bubli- cum zu jenem Verſtändniß und jener Anerkennung zu heben, welche fie zu fordern beredtigt find, um fie vollends jener Liebe des Publicums zu gewinnen, welche vorhergegangenes Berftändniß und Anerkennung vorausſetzt: ift ein häufiges, veriodifche® Wiederholen derjelben unumgänglich nothwendig. Wie viele Wiederholungen brauchten die »Jahreszeiten« und »Schöpfunge, bis fie ihre heutige Popularität erlangten! Und doc ift der ernſt veligiöje Mendelsjfohn fchwerer zu erfaflen als der lebensfrohe Haydn, und überdies dadurch fehr im Nachtheil, daß er noch nicht fo lange todt ift. Was der edle Spohr im Oratorium geleiftet, jchläft bei uns. »Die legten Dinges und »Des Heilands letzte Stunden«, Werke voll Liebe, Sottesfurht und Adel, warum läßt man fie und gänzlich ver: miffen? Was außer Mendelsjohn und Spohr im neueren deutihen Oratorium von Namen und Bedeutung ericheint, ift in Wien nie zur Aufführung gefommen. Schumann's »Paradies und Peri«, Hiller's »Zerftörung Jeruſalems«, Löwe's Oratorium gleichen Namens, Bernhard Klein's »Dapid« und »Jefta«, Marx' »Moſes« find auf der Wiener Muſik— farte lauter Streden, die wie dad innere Afrifa als »unbe- fanntes Land« verzeichnet ftehen. Von fürzeren oratorienmäßigen Stüden nenne ich beiſpielsweiſe Mendelsſohn's vortreffliche »Pſalmen«, dann feine Sinfonie-Cantate »Lobgefang« und die »Walpurgisnacht«, Spohr’3 »Bater unfer«, Löwe's Vocal: Dratorien »Die eherne Schlanges, »Die Apoftel von Philippi«, Wagner's »LXiebesmal der Apoftel« u. a.

1*

4 1848.

Die genannten Werke find durchaus bedeutendere, höchſt intereffante Leiftungen auf nicht eben reihem Feld, fie find Hauptwerfe der hervorragenditen neuern Componiſten, und haben beinahe die Runde durch alle Städte Deutichlands gemacht, welche bei Eleineren Mitteln größeres Intereſſe für die Kunſt Haben. Sch verwahre mich hier ausdrücklich vor jeder vergleihenden Schägung diefer Werfe mit Hahdn's Oratorien: felbit wenn fie alle zufammen der »Schöpfunge nicht an die Bruft reichten, ändert dies nicht? an der Sache, nicht daß man beſſere, jondern daß man auch andere Dratorien geben joll, Haben wir gewünſcht. Jeder bedeutende Autor ift für ſich eine kennenswerthe Perfönlichkeit, jedes bedeutende Merf ein vollberedhtigtes Individuum, es hat jedes feine eigenthümlichen Vorzüge und Irrthümer, jedes ift in irgend einem Stüde dem andern überlegen, und jedes weist dem Kunſtkenner an irgend einem Punkt einen erweiterten Gefichtöfreis, einen neuen Inhalt, eine feinere Forum. Ob nun diefe berühmten MWerfe der Neuzeit dem Publicum genügen werden oder nicht, gilt gleich, aber fennen muß es fie. Genügen fie ihm nicht, jo hat es noch immer Zeit genug, wieder umd immer wieder zu dem bewährten Haydn zurüdzufehren, es wird dahin zurücdkehren, aber bereichert in der Kenntniß, geläutert in der Auffaffung und vor allem freier im Urtheil.

Ich habe oben die namhafteren Dratorien der neuern Zeit aufgezählt, um das Publicum über deren Griftenz zu beruhigen, feineswegs möge aber eine Einfchränfung Haydn’ blos zu Gunsten feiner Nachfolger verfügt werden. Durd eine würdige, möglichft unverfürzte Aufführung der Bach'ſchen Paſſionsmuſiken und der Händel’jhen Dratorien (namentlich des »Meſſias«) würden berechtigte, jehnliche Wünfche der Muſiker endlich erfüllt und dem fünftlerifchen point d’honneur einer Refidenzitadt Genüge gethan. .

Der Leſer fieht, daß ich diesfalls nicht für das Neue, jondern mit gleiher Wärme für das Alte in die Schranken trete, und nur den ſchädlichſten Feind jeder Entwidlung be— fümpfen will: das Stabilitätöprincip. Selbſt ob es hier Brincip jei, und nicht vielmehr Bequemlichkeit, ift eine große Frage.

Janſa's Quartettſoiréen. 5

Wir find nun einmal gewohnt, zu Oſtern und Weihnachten die »Schöpfung«e und die »Jahreszeiten« zu Hören, gerade wie wir gewohnt find, zu dieſen Zeiten Fiſche zu eſſen.

Aber war dad Publicum nicht stets zufrieden damit? Ganz richtig; für das Publicum ift auch voller Grund zur Zufriedenheit, wenn es ein treffliches Merk in guter Auf: führung hören kann. Aber die mufifalifhen Vormünder ımd Guratoren de3 Publicums haben nicht blos eine äfthetiiche, fondern auch eine culturhiitoriiche Verpflichtung: daß, was fie boten, gut war, kann ihr Gewiſſen nicht über das be— Shwichtigen, was fie verjäumten. Es gibt Unterlaffung®: fünden in der Kunſt. Wer bier die Schuld derjelben trägt, weiß ich nicht und will es nicht willen; es ift mir nicht um die Anklage von PVerjönlichkeiten, fondern um die gute Sache zu thun. Nur den innigften und dringendften Wunſch kann ich aussprechen, daß jene Männer, welche eine enticheidende Stimme in den großen Fragen unjeres Muſiklebens haben, baldigit Sorge tragen möchten, das Publicum der reichitsausgeftatteten Mufitftadt Deutichlands in den lebendigen Strom der Zeit zu verfegen, damit nicht dafelbit der Fortichritt dem Zufall, Die Kunſt der Gewohnheit verfalle.

Sarnfa’s Quartettloirsen und die Pflege der Stammermufik in Wien.

Wenn man fich lediglih an den abjoluten Werth jedes einzelnen Stüdes hält, jo kann man Herrn Janſa's diesjährigen Programm eben fo wenig einen Vorwurf machen, als feinen früheren. Es ift eine durchwegs achtbare Gejellichaft, die fein unwürdiges Mitglied zählt, leider nur jehen wir, um mit jenem Scullehrer zu fprechen, wieder jehr Viele, die nicht da iind. Hören wir zuerit, wie Beethoven vertreten iſt. Bon jeinen Quartetten find nur drei gewählt, und alle drei aus opus 18. Jedermann ſchätzt und liebt die ſechs Quartette des 18. Werks, diefe Gefänge voll Klarheit und Ebenmaß, Geift und Friſche. Können fie aber Stand Halten gegenüber der

6 1848.

unendlichen Tiefe und Erhabenheit, der Leidenjchaft und Seelen- größe in Beethoven’3 jpäteren Quartetien? Kann und will der reizend jugendliche Körper jener ſechs Grazien ſich gleich- itellen dem Heiligen Geift der großen Beethoven’shen Periode? Und doch wird dieſe immer und immer wieder zurüdgeleßt hinter jenen. Wo find in Janſa's Programm die Rajumomwäfy- ihen Trilogie u. ſ. w. bis zu opus 131, den Gipfel der Quartettmuſik?

Jene erſten Quartette haben ſich durch ihre Faßlichkeit und Anmuth bereits zu muſikaliſchem Gemeingut ausgebreitet, und ſind ganz eigentlich in Fleiſch und Blut des Publicums übergegangen. Häufige Gäſte aller öffentlichen, tägliches Brot aller Privat-Quartette, ſind ſie längſt populär geworden, Jeder— mann verſteht ſie, ſpielt ſie, kennt ſie auswendig; ſie ſind ein in ſich ſelbſt erfülltes Bedürfniß. Anders iſt's mit Beethoven's ſpätern Werken. Sie ſind wenig bekannt und noch weniger verſtanden, die Bequemen unter den Künſtlern ſcheuen die Schwierigkeit des Einſtudirens, und die »Gutgeſinnten« im Publicum ſchlagen ein Kreuz, wenn irgendwo davon die Rede. Es iſt hohe Zeit, daß dieſen Werfen Beethoven's, welche bei manchen wunderlichen Auswüchſen den höchſten Aufſchwung ſeines titanenhaften Genius enthalten, öffentliche Gerechtigkeit werde, und wenn ein gebildetes Publicum, wie das der Janſa— ſchen Productionen, ſie oft und öfter, endlich ſo häufig gehört haben wird, wie jene erſten ſechs, ſo iſt mir um das Ver— ſtändniß gar nicht bange. Dies Verſtändniß anzubahnen, wäre für bewährte Künſtler, wie die obgenannten vier Herren, nicht die ſchwierigſte und doch die ehrenvollſte Aufgabe.

Ebenſo wie die Vernachläſſigung der ſpätern Beethoven— ſchen Periode, kann auch in Janſa's Programmen das con— ſequente Ignoriren Franz Schubert's und Robert Schumann's nicht genug bedauert werden.

Die Vorliebe für die älteren Meiſter darf nie ſo weit gehen, daß ſie das Publicum von der Kenntniß deſſen ganz ausſchließt, was ein neueres Kunſtbewußtſein in Kraft und Liebe geſchaffen. Ehret immerhin in Haydn den Vater der Kammermuſik, aber die Söhne ſind auch nicht mißrathen.

Janſa's Quartettſoiréen. 7

Ber aller Verehrung für die »claſſiſche« Schule muß ftand- haft darauf gedrungen werden, daß fie in periodiichen Pro- grammen fo weit eingeichränft werde, als eine wirdige Re- präjentation der »romantiichen« Schule es nothwendig madıt. Wo Schubert nidt Pla fand, hat Ries fein Recht zu eriftiren, eine vierhändige Sonate von Hummel tft uns jchlecht willfommen, wenn ein Schumann’iches Trio dafür hätte gejpielt werden fönnen, und verfennen heißt e3 den großen Beethoven, wenn man ſtets nur den fleineren Beethoven zur Aufführung zuläßt.

Janſa's Quartettabende waren von jeher in dem größten theils frivolen Muſikleben Wiens ein ſicherer Hort wahrer, würdiger Mufil. Die Namen der Internehmer boten dem Bublicum eine Garantie, daß es da nur Gutes, und im guter Weiſe hören werde. So wurden die Quartettabende bald ein Sammelplag, und durch ihre jährliche Wiederkehr ein Bedürfniß aller gebildeten Mufilfreunde Wiens. Nun übt jeder periodifch wiederkehrende Cyclus gediegener Mufifen einen bedeutenden Einfluß auf die mufikalifche Bildung der ganzen Stadt, er bildet eine Affecuranz für die wahren Intereffen der Kunſt und einen Damm gegen Berjeichtung und Verderbniß. Denn in der Kunſt wie im Leben hat das Lebendige gute Beiſpiel eine fäuternde Kraft, welche der Corruption durh das Tchlechte entgegenwirft. Zu diefem wichtigen Einfluß waren nun Die Janſa'ſchen Soiréen vorzugsweiſe berufen, demm indem. fie Die gute Meinung des Publicums für fich Hatten, und von Jahr zu Jahr in der allgemeinen Theilnahme und Achtung wuchlen, waren fie bald nebit den »Philharmoniſchen Goncerten« das accreditirtefte und beliebtejte muſikaliſche Inſtitut in Wien, An ihnen iſt's, nicht nur die befannten Werfe älterer Meifter (in jorgjamer Auswahl) zu wiederholen und vor Vernadhläffigung zu retten, jondern auch das Publicum mit den beijeren Er: zeugniffen der neueften Zeit befannt zu machen, vor Allem aber durch unermüdliche ausgezeichnete Aufführungen jene Werfe zu Verftändniß und Anerkennung zu bringen, welche, wahrhafte Dffenbarungen des Genied, auf den Gipfeln der Kunſt thronen. Sch nenne hier ausdrüdlih wieder Beethoven's

3 1848.

jpätere Kammermuſik, und mahne nebſtbei dringend an Schubert, Shumann und Mendelsjohn. Janſa's Quar— tette jollen nicht blos Gejfellichafter, fie follen Leiter und Läuterer unſeres Publicums fein. Unſere Wege find ja fo leicht zu vereinen. Nichts von dem guten Alten foll ausgerottet werden, nır möge man das gute Neue daneben pflanzen. Das Sprichwort: »Beſſer ift der Feind des Guten«, gilt nicht in Kunft und Wiffenichaft, im Gegentheile wird hier, wenn wir hartnädig bei dem verharren, wa wir als anerkannt über: fommen, das Gute ein Feind des Befjeren.

Akademie zum Andenken des Kom: poniften ©. 3. Züchs*) (F 6. Jänner 1848).

Es war ein liebenswürdiger Fehler der Kritik, aus Füchs' GCompofitionen etwas Großes machen zu wollen. Füchs war einer jener glücdlichen, jeltenen Menſchen, die von aller Welt geliebt und geichägt werden. Auf Jedermann hatte des Ber: jtorbenen edles, beicheidenes Weſen den gemwinnendften Eindruck gemacht. Füchs’ VPerfönlichkeit war eine durchaus liebenswürdige, darum nannten wir auch jene Nachficht der Kritik eine liebens— wiürdige. Man erinnert ſich, welch’ begeifterte, fortgefegte Apo- logien die Tagespreffe über die Oper » Gutenberg« anftimmte, und wie der Beifall des Publicums damit in vollem Einklange ſtand. Es iſt uns eine rührende Grinnerung, wie Jedermann den Menſchen Füchs zu lieb Hatte, um nicht in das Lob des Künftlers einzuſtimmen.

Füchs war ein angenehmes, höchit achtbares, aber ein fleines Talent; eine jener weichen, anjchmiegenden Naturen, die jih zu feiner fräftigen Selbitjtändigfeit aufraffen fönnen, fon: dern zwiichen dem Beſſern der verjchiedenften Vorbilder Hin und her ſchwanken. Diefer Gclecticismus zeigt fich gerade im

*) Carl Ferdinand Füchs, geb. 1811 in Wien, 7 1848, hat fich durch zahlreiche Lieder, insbeſondere aber durch jeine romantische Dper »&utenberge (Tert v. Otto Brechtler) befannt gemadt.

Joſef Neger. u

» Gutenberg«e am bhäufigiten, und wir hören jeden Augenblid die Stimmen Reiſſiger's, Lindpaintner's, Meyerbeer's, Marichners, Spohr's, Weber’. Nicht etwa, dab Füchs fertige Bilder dieſer Meiſter entlehnte, aber er malt mit ihren Farben. Mir kennen kaum eine Melodie, von der man fagen fann, fie ſei Füchſiſch. Diefer Mangel an Berfönlichkeit iſt da erite mejentlihe Bedenken gegen die Oper. Das zweite trifft die Form, die nur in wenigen Nummern Kar und über: fichtlih, in den meiſten hingegen Haltlos und zerbrödelt ift. Das hübjcheite Motiv verdrängt der Componift oft durch ein zweites und drittes, anſtatt es aus dem Bollen auszuführen; die finnigiten Gedanken läßt er unfruchtbar vergehen und dehnt hingegen die meiſten Stüde mit zu redfeliger Gefühls— weichheit über Gebühr aus. Dieſe Gefühlsweichheit iſt auch der Grund des vielen Vorhaltens und Modulirens und des jeltenen Aufkommens eines ftraffen, kecken Rythmus. Erfahrungs: ſache ilt e&, daß die Oper ermüdet, und den Hörer mit feinen flaren Bild entläßt. Mit Freuden haben wir ftet3 den Fleiß anerkannt, mit welchem Füchs fein Pfund benügt und gepflegt, nur daß dies Pfund ein großes geweſen, wagen wir in Frage zu Stellen. Seine Lieder find und dafür noch weit Tprechendere Belege. Bei aller Innigfeit bewegen fie fih ohne alle Kraft und Originalität auf breitgefahrener Straße, oder find etwas ftarfe Nahahmungen Schubert’ichen Muſter.

Symphonie von dJoſef Neber.”)

Die »Concerts spirituelse, durch jenes ſpirituellſte Concert, da3 Wien je aufgeführt (die Märzrevolution), eine Zeit lang unterbrochen, wurden am 30. März 1848 fortgefegt. Zwei Süße eine einer neuen Symphonie von Neger machten den Anfang; gefällige, mwohlklingende, fleißig gearbeitete Mufit,

*) Joſef Netzer, geb. 1808 in Tirol, 7 1864 in Graß, war eine Zeit lang neben Lorging Kapellmeiiter am Leipziger Stadttheater, 1845 am Theater an der Wien, wo feine Oper »Maras bedeutenden Erfolg hatte.

10 1848,

leider nur zu jehr einer früheren Gefühle: und Schreibweije anhängend. Es thut in der That weh, wenn man fieht, wie begabte und ernititrebende Talente, junge Talente obendrein, ih in eine Anſchauungsweiſe einjpinnen, Die bereit3 in ſich befriedigt, aljo fi) ausgelebt hat. Dieje ruhige Behaglichkeit, diefer bequeme Comfort in Freud und Leid, dieje Rojalien und Sequenzen, diefe Mozartiihen. Schlüffe und Gadenzen gehören einem Standpunkte an, welchem unsere Zeit fern ift und immer ferner rüdt. Mit wahrer Freude hören wir Mozart’ihen Styl nur mehr von Mozart jelbit, deifen Genie golden durch die veraltetiten Formen jtrahlt, wie die Sonne durd Ruinen. Wer fih aber Heute in dieje Ruinen längſtverlaſſener geichichtlicher Anſchauungen rettet, der verzichtet im Vorhinein auf nachhaltige Wirkung; er hat ein halbes Jahrhundert verjchlafen. Es wäre ein arger Irrthum, von jedem Componijten eine abjolut neue Richtung zu verlangen; dazu find nur wenige Männer des Genies berufen, fie brechen einen neuen Weg durchs Didicht; den nahfommenden Talenten iſt e8 vorbehalten, dieſen Weg zu erweitern, ihn glatt und fahrbar zu machen. Wer jelbit nicht die Kraft bejigt, bon eigenen Gnaden einen neuen Meilenstein in das Gebiet der Kunftgefhichte zu pflanzen, der gehe immerhin vom letzten großen Meilenjteine aus, aber niht vom vor: legten. Nah Mozart durfte man noch Mozartiſch Tchreiben, nach Beethoven darf man es nicht mehr; der Strom der Zeit wirft jeden Leichnam aus.

1849. Sobann Strauß (F 25. September 1849).

Strauß’ Dahinſcheiden Hat im unſerer Tagespreſſe viele Stimmen der Trauer wachgerufen, welche feine Volksthümlich— feit priejen, Die weiten Grenzen feines Ruhmes maßen und ob der Lücke Elagten, die er in dem gejelligen Leben Wiens zurück— läßt. Möge nun, jo dem Gefühl des Schmerzes jein Recht geihehen, ein Wort der Würdigung Plag finden, das, von jeder andern al3 der künſtleriſchen Seite des Verſtorbenen abſehend, den muſikaliſchen Standpunkt vertritt.

Strauß wirkte für das Wiener Muſikleben in doppelter Eigenſchaft: als Componiſt und als Dirigent fremder Ton— dichtungen. Als Componiſt hat er bekanntlich die Tanzmuſik gepflegt, eine Gattung, auf welche Tonſetzer und Kritiker gewöhnlich mit ſouveräner Verachtung herabſehen. Mit Unrecht. Auch in der kleinen Form bewährt ſich das große Talent, und dieſes, der göttliche Funke, iſt's, vor dem wir uns zuerſt beugen. Der fimpelite Dorfichulfehrer, der einen contra= punktiichen Curſus durchgemacht Hat, bringt es dahin, eine Meſſe zu componiren, in welcher mehr ſogenannte Gelehriamteit itedt, al3 in Strauß’ fümmtlichen Werfen zufammen, aber in alle Ewigkeit wird der jchöne Walzer mehr Werth haben, als die ſchlechte Meſſe. ES kömmt eben hierbei, wie in aller Thätigfeit, auf das Wie an, und wenn die Catalani von der Sonntag äußerte: »Elle est grande dans son genre, mais son genre est petit«, jo tit dies noch immer ein erfreuliches Lob gegen die Umkehrung des Satzes.

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Bom rein fünftleriihen Standpunkt ericheint die Tanzmuſik jedenfall$ untergeordneten Ranges, indem fie, blos unterjtügende und beigejellte Stunt, zunächſt einem fremden Zwecke dient, nämlih den Tanzſchritt mit Takt und Rythmus zu begleiten. Wenn die Tanzmufif nicht höher hinaus will, fo leiſten Caſtag— netten denſelben Dienſt. Der Werth jeder Kunftgattung fteigt oder fällt jedoch mit den Anforderungen, die man ihr ftellt. Unfere Anforderung an die Tanzmufif geht dahin, daß nicht blos das Stampfen der Tänzer im Takt erhalte, fondern deren Seelenleben verjtehe, ihre Stimmung und Leidenjchaft inter: pretire, fteigere, veredle. Der unterfte Grad der Tanzmufif hat nur mit den Füßen zu thun, auf höherer Stufe fpricht fie zur Phantaſie, zum Gefühl, zum Geift. Um diefe höhere Stufe zu be: baupten, wird freilich nöthig fein, daß fich der Componiſt von einer blos gymnaſtiſchen Anfchauung des Tanzes zu deſſen geielliger und idealer Bedeutung erhebe. In unferer gebildeten Gejellichaft iit der Tanz von feiner urfprünglichen Bedeutung längſt zu einer höheren gediehen. Wollte man in demjelben nur körper— lihe Hebung jehen, jo würde man ihn in Turnfchulen pflegen. Unfere heutigen Tanzunterhaltungen, jo oft fie auch zur Gar: ricatur herabfinfen, jind und bleiben die Aſyle zärtliher Be— dürfniſſe und Beftrebungen. Wenn die Herzen unferer Jugend ihon Schwielen tragen von den Feſſeln eilfmonatlicher Civiliſation, jo fommt im 12. Monat der Garneval und nimmt den Ge— fangenen die Eiſen ab und erlaubt ihnen, fich einige Stunden lang im duftigen Garten zu ergehen. Fremd und zagend jtehen fie erit da, nicht wagend, an das Stündchen Freiheit zu glauben; da erklingt der erite Walzer und löſt den Bann, ed iſt die Marjeillaife der Herzen! Die Mufif nun, wie fie die äußere Bewegung der Tanzenden aneifert, begleitet auch ununterbrochen all das innere Leben, das fich ftill und heimlich in ihnen zu— trägt. Gelingt es einer Tanzmelodie, einen Moment: diejes innern Lebens mit jener Göttermadht zu erfalfen, deren die Tonkunſt fähig ift, und fingt fie es laut und raujchend aus, was inmitten des Feſtes Still geblieben, dann hat fie eine Schöne Miffton erfüllt und kann tief, unvergeßlich in das Herz eines Menſchen hineinwachſen. Sp wie ein Mari,

Schann Strauß. 13

ein Gelegenheitslied oder andere aus äußeren Beziehungen herporgetretene Kunſtformen Gewalt erlangen fünnen über ein ganzes Volk, wenn fie das Geiftige diejer außeren Beziehung ftarf und wahr wiedergeben, jo kann in fleinern Streifen ein Tanzſtück mit einer piychiichen Gewalt wirfen, die weit über jeinem blos mufifaliichen Inhalt Tiegt. Es bedeutet eine Muſik nicht lediglicd; das, was fie ift, jondern oft auch das Höhere, wozu fie iſt.

Diefe Abſchweifung war nothwendig, um Strauß’ Leiftungen zu würdigen. Er hatte bewußt oder unbewußt jede Saite der Gefühlsmwelt in jeiner Macht, welche im Tanz Ausdrud oder Unterftügung findet. Welch’ triumphirende Siegesgemißheit im eriten der »SHelenenwalzer«, welche jchwärmerifche Innigfeit in Nr. 2 der »Metherträume«, welch jovialer Frohmuth in den »Sorgenbredern«, in den »Feldblümeln«, und in den »Schwalben«e weldhe Grazie! Dies find nur einige Beifpiele aus Strauß’ legten Productionen; feine früheren Tänze, Die theilweife noch Friſcheres enthalten, liegen mir zu fern im der Erinnerung.

Wir betrachteten bisher noch immer die Strauß'ſche Tanz- mufit nur injofern fie dem Tanze und deſſen Interefjen dient; wäre nichts weiter daran zu loben, jo träfe Straußens Verluft lediglich die Tanzwelt, zu deren Anwalt ich mic faum berufen gefühlt hätte. Für den Muſiker fonnte Strauß nur dann Be: deutung haben, wenn feine Tänze, abgelöft von ihrem Zwecke, alfo außerhalb des Ballfaales, noch Gehalt genug bejaßen, um mufifalifch zu intereffiren. Daß dies in nicht geringem Grade der Fall, wird fein Unbefangener läugnen. Strauß erwies jid) in der Ausarbeitung jeiner Mufikftüde als ein feiner, künſt— feriiher Geilt, dem alles Rohe und Dilettantenhafte fern lag. Obwohl reiner Naturalijt und feinem eigenen Geſtändniß nad außer Stande, jih über frappante Einzelheiten feiner Werke Rechenschaft zu geben, verfehlte er doch nie, im Rythmus, Periodenbau, vorzüglihd in der Harmonifirung und In— itrumentation eine Fülle von Zügen niederzulegen, welche das bedähtige Ohr des Muſikers genoß, während der Tänzer in ſüßem Melodienrauſch ſchwelgte. Es Tießen fich zahlloſe

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Notenbeijpiele anführen, für welche hier freilich nicht der Platz ift.

Nur an eine Eigenschaft der Strauß’schen Themen jet hier erinnert, an deren oft frappante Selbititändigfeit und Ver: wendbarfeit zu mweiterer Durchführung. Schwache, aber meiit glüdlihe Anfänge zu wirklicher Durchführung finden wir hie und da, fo weit fie der drüdend enge Rahmen des Walzer zuläßt. Eine Ahnung jener höheren Ausbildung der Walzerform, wie fie uns vorſchwebt, liegt in dem erften Walzer der » Herz: töne«, welcher die gewöhnliche Taftzahl weit überfchreitend vom Anfange bis zum Ende nur aus der Verarbeitung Eines Motivs befteht. Die gegenwärtige Form der-Walzermufif birgt ein großes Hemmniß für deren fünftleriihe Entwicklung und für jeden Gomponiften, der ihr eine beſſere Mitgift von Talent oder Kenntniß zubringt. Die enge, feitgeichloffene Form des Walzers läßt auch die kleinſte Entwidlung einer Melodie nicht zu; diefe ift, fo wie fie zu Ende gekommen, auch jpurlo ab: gethan, um einer zweiten, dritten u. ſ. f. Plag zu machen, bis alle fünf Walzer wie eine unzujammenhängende Bilderreihe in einem Guckkaſten abgerollt find. Zu Einem Tanz find (außer Introduction und Finale) fünf Walzer, aljo wenigſtens fünf neue Themen, nothwendig, meift jedoh noch einmal fo viel, da gewöhnlich zum zweiten Theil jedes Walzers wieder ein neues Motiv verwendet wird. ES ift dies eine unkünſtleriſche Verichwendung, welche die begabtefte Productionsfraft bald erihöpfen muß.

Dieſer Miplichkeit fucht die Praxis durch eine andere zu entgehen, indem fie in einem Walzerheft höchftens 2 bis 3 wirklich originelle Melodien bringt, das Uebrige hingegen wie zur Ausfüllung »mit wenig Geift und viel Behagen« dazu fertigt. Das Ueberwiegen folder 2 oder 3 Themen, die Wieder: holung der mwichtigiten Motive in der Coda und die Intro— duction, das find Elemente zu einer Vervollkommnung der gegen wärtigen Walzerform, die in dieſer ſelbſt Yiegen, Wir meinen nämlich fo: der Walzertanz (zum Iinterfchiede vom einzelnen Walzer) follte nicht aus fünf jelbititändigen, zufammenhanglos aneinander gereibten Stücken beſtehen, derem jedes ein oder zwei

Johann Strauß. 15

neue Motive verichlingt, ſondern er hätte Ein abgeichlofjenes zuſam— menhängendes Ganzezu bilden. Dazu würden ein oder zwei Haupt: themen hinreichen, denen (innerhalb der Grenzen der Tanzbarfeit) die freiefte mufifaliihe Entwicklung gegönnt und geboten wäre. Die geeignetfte Form würde fich bald herauöftellen, allenfalls die erweiterte Rondoform, oder die zweitheilige mit Mieder- holung beider Theile und Coda, doch dürfte fie nicht aus— Ichließlich gelten, da eine reihe Mannigfaltigkeit von Formen für den Walzer anwendbar ift.

Die üblihe nummernweife Behandlung hat überdies mit der Natur des Walzerd, der in der beliebig langen Fortfegung ein und derielben Bewegung bejteht, gar nichts zu ſchaffen; nur die franzöfiide Duadrille und ihre Abarten erfordern eine beitimmte Zahl genau abgemefjener Tonftüde.

Nur durch dieje einheitliche Form könnte der Componiit dem doppelten Uebel entgehen, ein halb Dutzend neue Motive erfinden, um fie dann nutzlos vergeuden zu müſſen; nur Durch fie könnte der Walzer als Muſikſtück fi zu künſtleriſchem Werth und Inhalt entwickeln und ausgeprägten Charafter er: halten, während die gegenwärtigen Walzerpartien ald Ganzes es faum zu einer Phyfiognomie bringen. Daß nun Strauß eine folhe Erweiterung und Vervollkommnung der Malzerform nicht unternahm, tft zu bedauern, da er gewiß dazu das meilte Talent und Geſchick beſaß.

War der Walzer Strauß' eigenſtes Gebiet, ſo hat er doch auch in anderen leichten Gattungen Hübſches geſchaffen, namentlich in die ſteife Form der Duadrille mehr Farbe und Leben zu bringen gewußt, als fie in ihrem Heimatland Frankreich je erreichte. Seinen Märſchen fehlt der männliche, kriegeriſche Charakter, fie find, bei glänzender Weußerlichkeit, meiſtens hüpfend und leichtfertig; de3 ungemein intereflanten Motivs des »Freiheitsmarſches möge hier ausdrücklich gedacht fein.

Seine legten Walzer, die Strauß ohne eine Ahnung feines Todes bei volllommener Gefundheit fchrieb, hat er ſeltſamer Meile »des Wanderers Lebewohl« betitelt.

Zum Schluß noch einige Worte über Strauß als Muſik— director. Er hat als folder das Verdienſt, gute Muſik unter

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das große Publicum gebracht zu haben. Es gab feine Strauß’iche Production, wo nicht Werfe von Beethoven, Mozart, Mendels— john, Spohr, Weber u. A. auf dem Programm verzeichnet und mit großer Präcifion ausgeführt wurden. Inter den öffentlichen Snitituten, die biß zum Jahre 1849 regelmäßig Inftrumental- muſik zur Aufführung bradten, muß man nad den »Phil— harmoniſchen Eoncerten« gerechterweije das Strauß’sche Orcheſter nennen; in feinen bejcheidenen Gartenproductionen fonnte man viel beifere Aufführungen guter Inftrumentalwerfe hören, als in manchen Fajtenconcerten mit hochtönenden Namen.

Das mufitaliiche Wien hat in legterer Zeit harte Schläge erlitten: binnen Kurzem verlor e8 in Nicolai jeinen talent- volliten Dirigenten, in Dr. Becher jeinen geiftreichiten Kritiker, und num ift ihm auch Sein beiter Componiſt Johann Strauß geſtorben.

Beethoven's „Ebriffus am ©elberg“.

In diefen »Chriftus« hat uns Beethoven fein »Vorbild« gelaifen, er it vielmehr das einzige lange Werk des Meiſters, das nicht zugleich ein großes ift.

Das Kirchliche ftand Beethovens innerjtem Wejen fer, ihm war die Kirche fein Bedürfniß. Er bejaß ein religiöjes Gemüth, aber jeine Anjchauung und Darftellung des Religiöfen war eine durchaus andere, als alle großen Kirch encomponijten hatten und haben mußten. Das Göttliche erwuchs bei Beethoven nur aus dem Boden des Menfchlichen; er erkannte es in der ftolzen Erhebung des Geiftes über die Materie. Er läßt über die menſchliche Perfönlichkeit daS Ungewitter aller äußeren und inneren MWiderwärtigfeiten des Lebens hereinbrechen; heiß iſt der Kampf, doch das Göttliche im Menfchen kämpft fich fiegreich durch und fteigt endlich als ein Phönix empor aus der Aiche der Leidenschaften. Die beiden Symphonien in C-moll und D-moll zeigen uns dieſen Proceß am deutlihften und ſchönſten; da3 triumphirende Finale der eriteren, das verflärte Adagio der letteren find die erhabenjten Denkmale von Beethoven’3

Beethoven’? »Chriftus am Delberge. 17

echter Religiofität, d. h. ſeines Glauben? an einen übermwelt- ihen Urgeift und des Gefühld feines Zufammenhangs mit demjelben. Im Leben glaubte er an Gott und liebte ihn mit der ganzen Kraft feines großen, einjamen Herzens, doch fannte er nur eine unmittelbare Erhebung zn ihm, und feine von all’ den Perſonen der Krijtlichen Miythologie ftand dazwiſchen. Sn der Kunſt kam Beethoven’3 religiöſes Gefühl zur Anſchauung, indem er dad Göttlihe im Menſchen fih entwideln ließ; da wo es außer dem Menichen ftehend gezeigt wird, blieb es ihm fremd und fern. So fommt ed, daß fein zweiter Componift einen ſolchen Schatz fubjectiver Religion in jeinen Werfen niedergelegt, und zugleih jo wenig für deren objective Ber: berrlihung geleiltet hat. Er gleicht auch hierin Shakeſpeare. Ferner iſt Hinlänglich bekannt, daB Beethoven's ſchrankenlos ausgreifende Phantaſie nur im freien Inſtrumentalſpiel einen genügenden Spielraum fand, jeder zu componirende Text ihm aber in Form und Inhalt zur Feſſel ward. Daß ſeine Flügel ſtark genug waren, mit dieſen Feſſeln ſich aufzuſchwingen, be— weiſen ſeine D-Meſſe, ſein Fidelio und der Chor in der Neunten. Wo Beethoven von ſeinem Stoff begeiſtert war, da ließ er ſich von den Textworten und den Forderungen des guten Geſangs nicht mehr zwingen, er zwang ſie, und die Kühnheit ſeines Aufbaues machte dann vergeſſen, was dieſer an Schönheit ein— büßte. Es gab dann bedenkliche Stellen, aber gewiß ein groß— artiges Ganze. Ein Miniatur-Oratorium nun, das in dürftigſter Auffaſſung die Epiſode Chriſti auf dem Oelberg behandelte, konnte Beethoven nicht mit Liebe und Begeiſterung erfaſſen. Es verließ ihn der freudige Muth, den Stoff blos als ebnen Plan für ein gewaltiges Bauwerk zu benützen, und anftatt die ihm kleinlich dünkende Aufgabe über fie ſelbſt hinaus in höhere Regionen zu tragen, ergab er fi ihr in gelafjener Selbit- beichränfung.

Was im Allgemeinen über Beethoven's Abneigung gegen das Kirchliche und feine Stärfe in der Darftellung des Menich- Iihen gejagt wurde, beftätigt ſich auch innerhalb des vor— liegenden Oratorium? jelbit. Da nämlid, wo Beethoven, ab» geihnitten von menſchlichem Thun und Fühlen, nur DE

Hanslick. Aus dem Eoncertfaal. 2. Aufl.

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Geſtalten der Bibel fingen laflen foll, bleibt er ſchwach und madtlos, erit als fein Fuß wieder die Erde berührt, durch— ftrömt ihn, wie jenen Riefen des Alterthums, die Kraft des Lebens. Es fcheiden fich zwei Gruppen in dem Oratorium: die göttliche (Chriftuß und die Engel), und die menfchliche (die Krieger und Jünger). Für eritere fand Beethoven in feinem Innern feine entiprechenden Töne; ihr Gejang ift unoratorijc), weihelos, opernmäßig; nmamentlih hören wir in dem Part Chriſti durchaus feinen Heiland, fondern einen Bühnentenor aus der eriten Mozart’fchen Periode. Man betrachte den Ban der Arien, die Verzierungen, die Sat» und Periodenſchlüſſe und endlih die Schluß-Gadenzen! Nur jchöne Einzelheiten rein muſikaliſchen Intereſſes, namentlih in der Inftrumentirung und Figuration, beſchwichtigen ein wenig die Verehrer Beethovens. Außer Chriftus und dem Engel kommt von Solofängern nur noh Petrus vor, mehr um als Noth— helfer die Gompofition eines Terzetts möglih zu machen, welches in jeinem zweiten Motiv (mit dem Terzengang) das Maß der Unbeiligfeit vol macht. Aber wie wohl wird uns allen, wenn nad) dem blutlofen Gejang der Seraphims ein iharfmarfirter Rythmus der Bälle uns das Nahen einer ent: fernten Menge anfündigt! fie dringt immer näher und näher, ja, e8 find Menſchen! und mit ihnen ift auch wieder der alte Beethoven da. Mit den Hereinftürzen der Krieger, Die mit troßgigem Ungeſtüm Chriftum zum Gefangenen machen, während die Singer nur leije für ihn zu flehen wagen, ftehen wir auf rein dramatiſchen Boden und vor einer der fräftigiten, charakteriftiich wirffamften Compofitionen Beethoven's. Die Chöre der Srieger und die würdevolle Inftrumental-Einleitung find die Theile, an denen der Ehriftus am Delberg nicht fterblich it. Sie follten in Goncertaufführungen jo oft als möglich zu Gehör gebracht werden; das Ganze wird man als Oratorium faum zum Ruhm feines unfterblihen Schöpfer auf dem Re— pertoire erhalten.

Deethoven hat in fpäteren Jahren feine Compofition des »Chriſtus« jelbit für einen Mißgriff erflärt, es ift daher feine Impietät, dad Publicum aufzufordern, e8 möge über ein

Wilhelmine Neruda. 19

Werk nicht weniger im Klaren fein, als defien eigener Schöpfer. Im Gegentheil fann man Verehrung für einen großen Meifter nicht mwahrhafter darthun, ala wenn man im Urtheil feine ſchwächern Werke forgiam von den vollendeten trennt. Es reiht zur Bewunderung nicht hin, daß ein Werk von Beet: hoven ſei, es muß auch Beethoveniſch fein.

Wilhelmine Meruda.

Niemand kann Teugnen, daß die kleine Wilhelmine Neruda im Vortrag, in der Bravour, im mufifalifchen Verftändniß, endlih in der wunderbaren Sicherheit ihres Auftretens eine außerordentliche Erjcheinung ift. »Wenn wir uns als Erwachjene in demfelben Maße fortbilden würden, wie in der Sindheite, ſagt Goethe, »Jo müßten wir lauter Genies werden.« Die tiefe Mahrheit dieſes Satzes verbietet jede allzu fühne Prophezeiung für die künſtleriſche Zukunft der Kleinen; doch wenn wir felbft für unfere geiftige Entwidlung in den veiferen Jahren nur einen arithmetiiden Fortfchritt annehmen, während in der Kindheit diefelbe in geometriicher Progreſſion wächſt, jo würde dies außreihen, um Wilhelmine Neruda einjt unter die be— deutenditen Wirtuofen ihres Inftrumentes zu reihen. Sie ſpielte eine fchaale Virtuoſen-Phantaſie von Mlard, die Primftimme in einem ebenfo jchaalen Trio von Zäch, endli den »Carneval von Venedige. Da mir der Componiſt des legteren Stüdes, Ernſt, vor einigen Jahren verficherte, der »Garneval« ſei ihn felbft Schon unleidlih, fo wird man mir es wohl erlauben, dasſelbe zur befennen. Man follte derlei, ich möchte Jagen höchſt perjönlihe Kunftftüde nicht nachmadhen, die der Geilt des Schöpfers beleben muß. Die fleine Neruda jpielte das Stüd gewiß ſehr löblich, allein nicht die Bravour der einzelnen Variationen ift es, die an dem »Garneval« wahrhaft ergößt, fondern der entfeffelte Strom von Laune, mit dem Ernſt ihn faft jedesmal neun impropifirte. Wenn man die Heine Neruda eine für ihr Alter ungewöhnliche Erſcheinung nennt, jo heißt dies wohl fein feines Lob; fie als eine vollendete Birtuofin

9%

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hinzuftellen, iſt eine ihr ſelbſt nachtheilige Webertreibung. Kraft: loſigkeit des Bogens, zeitweilige Unreinheit der Intonation, Lüdenhaftigfeit der Bravour find Mängel, die aus ihrem zarten Alter rejultiren. Wirklich bedeutungsvoll und wichtiger als ihre Bravour ift jedoch die Innigfeit, mit welcher Wilhelmine lang: jame Gantilenen vorträgt. Aus ihrem Vortrag ſpricht Seele und nicht Dreffur, und hierin liegt die echtefte Garantie für ihren wirklich muſikaliſchen Beruf.

1850. Volkslieder aus ©efterreich.

In zwei Heften, welche wir der Muſik- und Vaterlands— liebe des Baron Edmund Herbert verdanken, begrüßt uns die erſte und einzige Sammlung der deutſchen Volkslieder in Kärnthen.

Längſt iſt erklärt und anerkannt, wie der Charakter jedes Volkes fi in feinen Melodien fpiegelt, und Diefe zu einer tieferen Kenntniß desfelben unentbehrlich find; für uns haben Volkslieder außerdem noch den Hohen äfthetiihen Werth, die legten Refte naiver Kunſt zu fein, die »Kunſt vor der Kunſt«, wie ein neuerer Autor finnreich umjchreibt. Wie bedenklich für den Politiker die große Mannigfalt der Nationen ift, welche Deiterreich vereinigt, fo unſchätzbar erfcheint fie dem Xefthetifer. Welcher Reihthum an Lebensformen, in denen die Phantafie diefer Völker ſich ausgeprägt hat, welche Fülle an Charakteriſtik in ihren Trachten, Gebräuchen, Bauten, Gedichten und vor Allem in ihren Nationalmelodien! Die mufifaliihe Grundmadt, die Oeſterreich allein in feinen Volksliedern befitt, jtempelt es zum eriten Mufikftaat der Welt.

Dbenan ftehen die Italiener. Sie fingen zu jeder Zeit, an jedem Ort, fie leben im Gejang, zu welchem fie von der Natur ſelbſt auserleſen ſcheinen, indem dieje ihnen die beiten Fehlen verlieh. Die welichen Lieder jtrömen lauter Ebenmaß und MWohlklang, fie find im vorzugäweifen Sinn des Wortes muſikaliſch. Weit entfernt, fih auf Cine beſtimmte Takt: gattung, Einen gleihen Rythmus, auf Dur oder Moll zu be— ihränfen, wie die ungarifchen, kärnthiſchen u. A., verwenden fie

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mit merfwürdiger Freiheit die muſikaliſchen Ausdrufsmittel. Der complicirte Sechsachtel- und Neunachtel-Takt, den viele Nationen gar nicht kennen, erjcheint neben den übrigen Taktarten äußerſt häufig, die Taftzahl der Perioden jo wie die Modula- tion iſt mannigfad, ein Wechſel im Rythmus tritt meift am Schluß des Liedes rechtzeitig ein, wo die Bewegung anfinge, monoton zu werden, dad Ganze fließt ohne Eden ar und durhfichtig wie Del, daß der größte Meifter nichts zu ver: ändern hätte. Selbit für fein Trällern wählt\der Staliener die melodiihen Silben »olilali lalö« und ähnlich, während der Deutihe »dideldum drum dum« fingt. Gegen die jlavifchen oder magyariſchen Gefänge ftehen die welichen an charafteri- ftiiher Eigenthümlichfeit zurüd, übertreffen fie aber an rein formaler Schönheit. Es ift als rollte ein Mozart'ſcher Bluts— tropfen in jedem Volkslied Staliend. Der Grundzug der ita= lieniſchen Nationallieder ift Fröhliche Aufregung, ſchwermüthiger Leichtjinn, warme beredte Zärtlichkeit; ihr Temperament ijt das janguinijche.

Wie die Italiener von Natur zum Gejang, jo jcheinen die Böhmen für Inftrumentalmufif berufen zu jein. Es gibt fein Land, wo die liebevolle Ausübung der Muſik jo ſehr in die Maſſe gedrungen wäre, al3 in Böhmen; das ganze Volk ift Ein Mufifer. Auch den Gejang hegt der Böhme, trog dem Staliener; er fingt viel, nur in der ftilleren, gefammelten Weije diefer Nation, ſchon mehr dem Gefang als dem Singen zu fieb. Bei den jchweriten Arbeiten kann man in Böhmen die Mägde, Knechte, Gejellen fingen hören und das richtige Gehör bewundern, mit welchem die tieferen Stimmen ſecundiren. Die Erben’ihe Sammlung gibt einen beiläufigen Begriff von dem Reichthum an böhmifchen Volfsliedern; ſchade, daß man ed ver: ihmähte, fie durch Unterlegen deutfcher Ueberfegung einem größeren Bublicum zugänglich zu machen.

Die Czechen ftehen in mufifalifcher Hinficht den übrigen Slaven Oeſterreichs weit voran, namentlich fingen die Jüdlichen Stämme weniger. Die Mährer theilen die Volkslieder Böhmen, wenigitend deren Charakter, die Polen befigen ein eigenthünt- fiches Element in dem Mazur. Die Südjlapen find ein mehr

Volkslieder aus Oeſterreich. 3

dichtendes als muficirendes Bolk In Krain hört man wenig Geſang, außer einigen monotonen ſlaviſchen Liedern viele be= fannte »Steyrer«, denen jloveniiche Worte unterlegt find. Es mag etwad Richtiges zu Grunde liegen, wenn Jemand be— hauptete, »die Südſlaven haben jchöne Volksdichtungen, aber jie fingen fie nihte. Die Melodien, welche die Serben zur Gusla fingen, dürften mufitaliih von geringer Bedeutung fein, indem fie, vorherrichend recitativifch, beitimmt find, die epiichen Erzählungen, nah Art der altgriehifchen Rhapſoden, zu be: gleiten und rythmiſch zu heben. Eine Aufichreibung der ſüd— ſlaviſchen Melodien wäre jedoch von größtem Intereſſe, namentlich feit durh Vuk Stephanopih und die llebertragungen von Anaftafiı3 Grün, Kapper, Franfl u. U. den poetiſchen Schäten diefer Nation die allgemeine Theilnahme und Be— mwunderung gefolgt ilt.

Der mufifaliihe Charakter der flavifchen Wolflieder ift, troß der bedeutenden Mannigfaltigkeit in den böhmischen, ein typiich ausgeprägter. Die Molltonart, der zweitheilige Takt, das langjamere Tempo walten vor, die höchſt eigenthümlichen rythmiſchen Geftaltungen find befannt. Im Ausdruck find fie ernſt, ſchwermüthig, weich, ſelbſt in der Luftigfeit (wo fich der Slave, den Dreivierteltaft verſchmähend, meist fchnell in den Dreiachteltakt ftürzt) nicht frei von jener Gedrüdtheit, welche auf hiſtoriſchen Schmerz deutet. Die dunkle, nach Innen gefehrte Leidenjchaftlichkeit der ſlaviſchen Melodien vindicirt fie dem melandholifhen Temperament.

Zu den merfwürdigiten Volföliedern gehören die ungaris ihen. So eigen und von allen übrigen Nationen gejondert dies Volk räthjelhaften Urſprungs ift, jo gefennzeichnet find auch jeine Melodien. In ihrer Zweitheiligfeit, ihrem Perioden: bau von immer 4 zu 4 Takten, ihrem ftraff marfirten, meift Viertel mit Sechzehnteln abmwechjelnden Rythmus find fie augenblidlih fennbar. Ihre Seele ift glühend mit Aus— dauer, leidenſchaftlich mit Bewußtheit, ſinnlich, kraftvoll, todesverachtend, in Allem aber feſt und männlich, mögen nun die Sporen klirren oder die Kette. Die Magyharenlieder find choleriſch.

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Wenn wir die Volksgeſänge der öfterreihiihen Monarchie in großen Gruppen einander gegenüberftellen, jo müſſen wir die Alpenländer Oberdfterreih mit Salzburg, Steier: mark, Tirol und Kärnthen unter eine zufammenfaflen. Die Natur kennt nun einmal feine Eintheilung in Sronländer oder Herzogthümer, und was in verwandten Naturgrund wurzelt, das bleibt fich ewiglich verwandt in allen Lebensäußerungen. Sp wie die förperlihe Organijation, die Umgebung, die Sitte, die Gejchichte der dfterreichiichen Alpenbewohner im Großen und Ganzen diejelbe ift, jo muß auch ihr geijtiges Abbild, das Volkslied, gleichen Grundtypus tragen. Gar viele Melodien geriethen von dem einen Alpenland ins andere und wurden da heimisch, weil fie Heimifchen Grund fanden; nicht wenige vielleicht erblühten von ſelbſt, fowohl in dem einen als dem andern Nachbarland, wie die Alpenrofe auf gleichem Boden hier und drüben wächſt, ohne daß Jemand fie eigens ver- pflanzt hätte.

Sp behebt ſich füglich der oft erhobene Streit, ob dieſes oder jenes Volkslied fteiriich ſei oder kärnthiſch. Selbſt der meilt unmögliche hiltoriiche Nachweis, die ftreitige Melodie jei färnthiich, hätte jehr precären Werth, denn fie ift es nicht mit Nothwendigkeit, fie könnte eben fo gut fteiriich fein. Gewiß aber wird fie Niemand für ſlaviſch oder ungarijch halten, und dies iſt die ficherfte, praftiihe Probe unferer Eintheilung. Innerhalb der gemeinfamen Familienähnlichkeit fehlt es freilich nicht an feinen bezeichneten Unterfchieden, welche ein durch längeren Aufenthalt geübtes Ohr den Liedern der verjchiedenen Gaue abgemwinnt. Tirol fondert fih von den öſtlichen Alpen- gruppen nod am Tchärfiten ab. Wie feine Bewohner die fühniten, jeine Berge die höchſten und jchroffiten find, jo charakteriſiren fih jeine Lieder durch das kühne Aufſchwingen nach der Sert und Octave, das plögliche Abbrechen der Periode, daS kurze Sodeln mitten in der Strophe.

Ein Hoher Standpunkt mufifaliiher Begabung läßt ſich den öſterreichiſchen Alpenbewohnern nicht einräumen, ihre Lieder hängen viel zu feit mit dem Naturgrunde zufammen, auf dem fie entitanden, Die weiten Sprünge ihrer Intonation, das Aus—

Volkslieder aus Deiterreich. 25

halten der Töne, der Sodler find Erjcheinungen, welche die Natur der Berge erichaffen Hat. Wie die Sennerinnen oder Gemsjäger von den benachbarten Höhen einander zurufen oder vereinzelt das Echo loden, wir finden es auf der Stufe künſt— leriſcher Geftaltung in ihren Liedern wieder. Dem Alpenländler it im Singen nit die Muſik Hauptfache, wie dem Staliener oder Böhmen, fondern der Hall, der Klang, das Elemen— tarifche des Tones. Deutlich zeigt dies der Jodler, deutlich der übliche Vortrag, welcher mitten im Sat lange Storonen aushält, um den Hal zu loden. Es begreift fih, daß das mufifalifche Feld, auf welchem die Erfindung der Alpenlieder ſich bewegt, ein bejchränftes ift, und fie alle einander ähneln. Am auffallendften ift die ausschließliche Anwendung des Drei- bierteltaftes. In der Herbert’shen Sammlung, welche 50 Lieder enthält eben fo, wenn wir nicht irren, in der Baumann ihen und Spaun’ihen fommt fein anderer ald der Drei: vierteltaft vor; auch ift uns außer dem Furzen Dreiachteltakt, der einigen fteierifchen Liedern als oda angehängt wird, feine Ausnahme bekannt. Ihre rythmiſche Gliederung bindet immer zwei zu zwei Taften, die Tonart fteht in Dur, modulirt wird gar nicht, der Rythmus bleibt durch das ganze Lied unverändert, dad Tempo meift langſam, behäbig, etwa ſich zum Allegretto befchleunigend. In dieſem engen Gebiet aber haben die Alpenbewohner Lieder, die zu dem Frifcheiten und Herzlichiten gehören, was die Volfamufif aller Länder aufzu= weiſen Hat, namentlich find einzelne Naturlaute von einer Urfprünglichkeit darin, daß fie wie Gebirgsfriiche und Waldes- duft auf den Hörer eindringen, und man aufjaudzen möchte vor Bergesluft. So das häufige freie Anfchlagen der None und Undezime. |

Die Dichtungsart der öfterreichifchen Aelpler ift durchaus da3 »Gitanzle, das, vielfach umgestaltet und impropifirt, einen abgefchloffenen, oft wahrhaft poetiichen Gedanken in vier Zeilen ausſpricht. Dieſe gelungenen Vierzeilen find unfern Alpenbewohnern eigenthümlich und der Kern ihrer Volkspoeſie, deßhalb ſchon von ungleich höherer Bedeutung, als die analogen »Dana« der Ungarn und »Vize« der Slovenen. Der Tert tft

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hierbei das MWefentlichere vor der Mufit, welche oft nur die nothwendige Grundlage abgibt, auf welcher Dugende von neuen „Gſtanzeln« impropifirt werden. Mit den Melodien wird ziemlich ungenirt verfahren, bald wird die Muſik von einem Lied zu dem Tert eines andern gefungen, bald der umgekehrte Tauſch vorgenommen. Da den öſterreichiſchen Alpenbewohnern die Poeſie nur zu unmittelbaren Ausfprade ihrer Gemüths- ftimmung dient, fo verändern und erneuern fih ihre Volks— geſänge immerfort, während die Lieder der Slaven fih Jahr: hunderte lang fortpflanzen. Der Slave verfenft fih in die Ver- gangenheit, den Alpenbewohner kümmert nur die Gegenwart, darum hat diefer auch feine Spur von Ballade oder Epos, welche den Reichthum der ſlaviſchen Volkspoeſie ausmachen. Einige »Gftanzin« von Napoleon und Kaiſer Franz, deren ſich hie und da noch ein Alter erinnert, find die einzige und am weiteiten zurücreihende Geſchichtspoeſie in den Alpen.

Die öfterreihiichen Alpenmelodien athmen durchaus den Ausdrud gemüthliher, maßvoller Fröhlichkeit, ruhigen Be— hagens, mehr des Lebens als der Lebendigkeit, mehr der Kräftigkeit al$ der Kraft. Alles Tieffinnige oder Leidenschaft: lihe liegt ihnen weit ab, fie verkünden die zufriedene, nur jelten leicht getrübte Stimmung eines Naturvolfes, welches in reiner Lyrik dem Heute lebt. Wenn wir die Analogie mit den Temperamenten fortjegten, welche fich in den vier Haupt: gruppen der öfterreichiichen Wolfslieder mit überraichender Wahrheit wiederfinden, jo füllt den Alpengefängen das phleg— matiſche zu.

Wenden wir uns nach dieſen allgemeinen Betrachtungen ganz zu unſeren kärnthiſchen Liedern. Das eigentliche Volk ſingt wenig in Kärnthen. Mag nun der geiſtigere Muſik— ſinn oder die phyſiologiſchen Bedingungen des Gehörs und der Stimme hier weniger allgemein ſein, der Kärnthner pflegt den Geſang gewöhnlich nur, wenn er ſich in der aufgeregten Stim— mung einer beſondern Luſtigkeit befindet, wo dann das be— freiende Wohlbehagen, die Luft zu erſchüttern, oft das eigent— lich muſikaliſche Intereſſe zurückdrängt. Die Volkslieder der Herbert'ſchen Sammlung hörten wir mehr in dem Munde

Volkslieder aus Oeſterreich. 27

der gebildeten Claſſen, und es kann nicht genug gelobt werden, daß man ſich in den hübſcheſten Cirkeln von Klagenfurt gerne daran erfreut. Schreiber dieſer Zeilen hat während ſeines anderthalbjährigen Aufenthaltes in Kärnthen bei weitem nicht ſo viel ſingen hören, als in den wenigen Wochen, wo hier italieniſche Soldaten in Garniſon lagen. Kaum konnte des Abends ein welſcher Soldat allein oder in Geſellſchaft über die Straße gehen, ohne ſeine Barcarole mit ſonorer Stimme durch die Luft zu ſchmettern. Es iſt nun einmal Muſik und Sangesluſt eine Naturgabe, die nirgends ganz fehlt, aber höchſt ungleich vertheilt iſt; ſo wie der eine Landſtrich Früchte trägt, der andere nicht. Selbſt in den Alpenländern, welche für vor— züglich muſikaliſch gelten, ſind es meiſt nur bevorzugte Gaue oder Thäler, in welchen ſich der Volksgeſang concentrirt, wie das Zillerthal in Tirol, das Ennsthal mit der Gegend um Auſſee in Steiermark u. N.

Der Charakter der kärnthiſchen Volksmelodien fällt mit den Eigenthümlichkeiten zufammen, welche wir an den öfter: reichiichen Alpenliedern überhaupt fennen gelernt haben, nur fehlt ihnen in der Regel der Jodler. Das behaglih Wiegende, Ruhige, Scheint noch ausgeprägter in ihnen, als in den jteieri- ihen oder öſterreichiſchen. In allen kärnthiſchen Melodien ſpricht jih unverkennbar Gemüthlichfeit aus, welche jich oft zu inniger Herzlichkeit, oft zu nediicher Luft fteigert, und ihren Cindrud nirgends verfehlen wird, wo ihr der Vortrag zu Hilfe kommt, mit welchem einige der jüngern Herren von Klagenfurt dieſe Lieder fingen.

Unter den Texten, welche den kärnthiſchen Volksmelodien unterliegen, wird der Leſer manch’ überraschend Gelungenes, namentlich jene Elare Bündigfeit des Ausdrucks finden, welche wir jo oft in Volfsgedichten mit dem Geſtändniß bewun— dern, das fönne der größte Dichter nicht beſſer machen. Es iſt eben ein Stück vom »größten Dichter«, was aus dem Volke jingt.

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Tanzmufik und die Höhne von Strauß und Lanner.

Wenn von der Mufif in Defterreich die Nede tft, kann ohne arge Lüde die Tanzmufif nicht übergangen werden. Abge— ſehen davon, daß wir nicht zu den Verächtern derjelben gehören denn auch die Walzerform ift ein weißes Blatt, worauf Geiſt- und Schmwungvolle® geichrieben werden kann be: hauptet die ausgezeichnete Pflege der Tanzmufif in Oeſterreich eine höchſt harakteriftifche und hervorragende Stellung in unferem Muſikleben. Der leichtbeſchwingte Sinn der Wiener hat in den Gompofitionen Strauß’ und Lanner's feinen echtejten mufifalifchen Ausdruck gefunden und ift zum Theil in ihnen Hiftoriich ge- worden. Ohne dem Lande, deſſen Himmel »voller Geigen hängt«, ohre Böhmen nahe treten zu wollen und feinen lied- reihen Labitzky, es ift doch allezeit Wien, wo die Tanzmufif mit glänzendfter Begabung cultivirt wurde. Keine europäiſche Hauptitadt kann Hierin mit der öfterreichiichen in die Schranken treten, Iſt diefe Kunftgattung auch zweifellos eine untergeordnete, jo kann fih Wien doch rühmen, gerade fie am vollfommensten repräjentirt zu haben*).

Natürlid Haben wir damit nicht die bloße Technik im Auge, die für Tanzmufit leicht genug erworben wird, fondern gerade deren poetiſche Beſeelung und jelbititändig muſikaliſche Schönheit. Diefer Standpunft wünfcht alfo nicht, den Walzer im Tanzesflug zu erproben, fondern in beſchaulichem Genuß ihn ala Muſik anhören zu können, eine Befriedigung, die und

*) Wie alt und lange verdient der Nuf der Defterreicher im Fach der Tanzmufik fei, lehrt ein Blick auf die Geihichte des Minne— gelanges im 13. Jahrhundert. Die öfterreichiichen Minnefänger (be: fonders Nithart, Burkart von Hohenfels, Tannhäuſer) waren am andgezeichnetiten in dem »Tanzliedern«, welde nad) Benecke's Vermuthung ihren Hauptreiz in den glüdlicd erfundenen Melodien hatten. Der Dichter fang diefelben beim Tanze vor, ein Amt, das jelbit Zeopold VII. und Friedrich II. nicht verichmähtent.

Tanzmufif und die Söhne von Strauß und Sanner. 29

in jeder Production von Alte oder Jung. Strauß geworden ift, welcher wir beimwohnten. Ein fchöner Tanz gehört zu den vielen leihten Dingen, die nicht Jedermann trifft. Der engite Rahmen und die unerbittlicften Bedingungen, die es in der Mufif gibt, heißen im Walzer den Componiften mit dem eriten Taftichlag die volle Erfindung einjegen, fie alsdann ohne fruchtbare Be: nügung friſch gepflüdt wegwerfen, und jo immer wieder neu gewinnen und vergeuden. Wem nichts einfällt, der kann feinen Walzer machen, hingegen find Meffen und Motetten be- fanntlih in diefem Zuftand jchon gejchrieben worden.

Eigenthümlich ift die Erjcheinung, daß, nachdem Lanner und Strauß, die Bannerträger des »alten Wiens«, abgerufen wurden, ihre Söhne an die verwaiiten Plätze traten.

Lanner’3 Sohn, Auguft, ift feit Kurzem dent Beruf feines Vaters gefolgt. Im Snftrumentiren und Dirigiren nicht unge: ihidt, hat er als Componiſt bisher wenig Originalität ge— offenbart. Mit dem Ausſpruch, ein Kiünftler Habe das Talent jeined® Water »geerbt«, meint man wunderlich gemug ein Talent, das der Sohn ganz unabhängig von jenem des Vaters für feine Perſon mitgebracht habe. Unſer jugendlicher Capell: meifter tritt in einigen feiner Compofftionen diejem unjuriftifchen Mikverftand entgegen. Er betrachtet fich ald Erben im geſetz— fihen Sinn und gebahrt mit den Ideen feines verjtorbenen Vater? als nunmehr rechtmäßiger und unbejchränfter Eigen: thümer. Daß die Crinnerung von vielen Taufenden als Hy— pothefarfchuld darauf laſte, fcheint ihn, wie viele andere Erben, nicht weiter zu geniren.

Strauß’ Sohn, Johann, trägt jet rühmlich den micht leiten Schmud jeined® Namens. Die Melodienfülle und Ur— iprünglichkeit des Vaters nicht erreihend, hat er doch ein un— läugbares Talent ſehr geihidt angebaut und an die Tanz: compofition ein Capital von Kenntniß und Geſchmack gewendet, wie es dieſem geringgefhästen Kunftfah vordem meilenfern blieb. Jenen mißlaunigen Alterthümlern, deren Einfeitigfeit jo weit geht, mit Krüger jelbft die Tanzmuſik unferer Zeit tief- gejunfen zu fehen, jollte man mit befhämender Großmuth de3 jüngern Strauß »Liebedlieder« zum Ständchen bringen.

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Und dennoch, mir fehen diefen talentvollen, gefchidten Componiſten auf bedenflihem Weg. In feinen neuen Walzern findet fih häufig ein faliches Pathos eingefhmuggelt, das in der Tanzmuſik befremdend auf den Hörer wirft. Dem reißend angewachlenen Raffinement des mufifaliihen Gejchmades Rechnung tragend, weiſen wir keineswegs auf die »Ländler« und »Deutſchen« von ehedem hin, deren fhüchterne Melodien die Flöte führte und welche mit einem einzigen verminderten Septimaccord Alles zum Stillftehen gebradt hätten. Allein jede Würze muß ihr Maß finden, vor allem im guten Gefhmad, dann überdies in den Bedingungen der beſtimmten Runftgattung. Die von Poſaunen herausgeftoßene klägliche Accordenfolge, welde den zweiten Theil von Nr. 1 der »Schallmellen« bildet, fände allenfall® Anwendung bei Opernfinalen, worin es be- fonderd blutig zugeht; in einem Walzer ift fie abicheulich. Selbft Themen, wie die eriten der »Mellen und Wogen«, »Schneeglödchen«, »Novellen«, mit ihren langgejtredten, acht: taktigen Motiven, ihren ächzenden verminderten Septimen= und Nonenaccorden, ihrem Poſauuen- und Paufendonner find nicht mehr tanzgemäß. Nicht alles, was im Dreivierteltaft fpielt, iſt darım ein Walzer. Wie verblaßt der Beifall, den ſolche No- pitäten durch den Reiz der Neuheit und ihrer Inftrumentirung ernten, neben dem gefunden Jubel, wenn darauf ein Walzer bom alten Strauß oder Lanner erklingt! Diefe herzensfrohe und dabei maßvolle, vornehme Haltung, wie fie und jüngit zufällig in dem erften »Romantifer« von Lanner überrafchte, Ihlägt Dugende diefer neuen heroiichen Walzer. Bon Tadelfucht am weiteſten entfernt gegenüber einem Kunſtgenre, das der Kritif etwas feitab Tiegt, konnten wir hier den Wunſch nicht unterdrüden, der beſte Walzercomponift der Gegenwart möchte eine faljche, wohl nur momentan eingejchlagene Bahn verlaſſen. Diefer Wunsch entiteht weſentlich im Intereife des mufifaliichen Geihmads des großen Publicums, welches hier, im täglichen Verkehr mit Strauß, die überwürztejten Tanzmufifen bald noch zu einfach finden wird. Wenn Strauß den Walzer in der Art der »Schallwellen« fortbildet, was foll Meyerbeer für feine nächſten Opern übrig bleiben? Gine Kunftgattung wird weder

Die Wiener Goncert:Saijon. 31

im Inhalt noch in der Form bereichert, wenn man ihr ein Pathos aufzwingt, dem ihr Weſen widerftrebt. Iſt aber erfünftelte Großartigfeit überall vom Uebel, fo wird fie geradezu Ruin für jene leicht beſchwingten Tonweſen, deren Beftimmung es ift, Schöne Tänzerinnen mit Frohfinn, Scherz und Anmuth zu umflingen. Halte darım Jeder die Grenzen rein und verhüte Verſchleppungen aus fremdem Gebiet: vor dem gebildeten Schönheitsſinn fteht die Verpolfung des Opernityls und Die Heroification der Tanzmufit auf Einer Stufe.

Die Soncert:Sailon 1852—1853.

Wir betrachten die Leiftungen, mit welchen eine Stadt von reihen und geordneten Muſikkräften im Verlauf eines Jahres vor die Deffentlichkeit tritt, als nichts Vereinzeltes, mag ihr Zufammenhang no fo wenig beabfichtigt oder erreicht worden fein. Die jeweilige Anzahl der Orcheiterproductionen und der Virtuofenconcerte, der Inftrumentalitüde und der Gefänge, der älteren Glaffifer und der Zeitgenofien, der einzelnen Schulen und der Kunjtgattungen, gruppirt ſich mit der Zeit zu ftatiftiichen Berhältniffen, welche für die Richtung und Werthichägung eines Mufiklebend maßgebend werden. Unfer letztes Concertjahr wird fih ſolch einer äfthetiichen Sylvefterabendpflicht nicht entziehen fönnen, welche mit freimüthiger Gerechtigkeit das Gejchehene eined Lebensabſchnittes prüfend zurüdruft und Gute gegen Schlechtes abwägend die Bilanz zieht, jo als Ueberſchuß dem nächſten Jahr zu Gute fommt oder als Deftcit zu verdoppelter Anftrengung einladet.

Der Maßitab für die mufifaliihe Macht und Höhe einer Stadt (die Oper bleibt von unferer Betrachtung ausgeſchloſſen) find ihre Aufführungen jener großen Werke reiner Inftrumental: mufit, in melcher die deutjchen Meiſter ihre höchiten Ideen niedergelegt haben. Die großen Orceiterproductionen find der wahre Stamm, welchen alle Eleineren fingenden und Hingenden Erſcheinungen nur mit dem zufälligen Reiz des Laub- gewindes umranken und die für den Concertſaal dasſelbe

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gelten, was die Tragödien der Claffifer für das recitirende Schaufpiel.

Die einzige Körperichait, die una ſolche Inſtrumentalwerke vorführt, ift die Gejellichaft der Mufikfreunde Schon aus diefer Wirkſamkeit allein erhellt die muſikaliſche Suprematie, die fie in Wien ausübt und feineswegs einem langjährigen Beitande, jondern ihrem neuen Aufſchwung verdankt. In Saden der Kunſt ift jede Oberherrfchaft ftet3 eine factiſche. Eine Per— jönlichfeit oder Corporation bemädtigt fih im Gefühl ihrer Ueberlegenheit eines verwaiſten Platzes und leiftet energijch das Nothivendige, bringt das einzig Gute oder relativ Beſte. Die Gejellihafts-Concerte«, welche einjt neben Nikolai's »phil: harmonijchen Koncerten verſchwanden, haben deren Stelle nun: mehr mit entjcheidendem Erfolg eingenommen, und jegen für den Abgang jener glänzenden Perfünlichkeit, ihrerjeit3 die Stabilität einer hochgeachteten Firma. Die Gefellihaft der Muſik— freunde, wie fie aus der tödtlichen Lethargie von 1848 und 1849 ji zu ihrem gegenwärtigen Beitand reorganifirt hat, ift für die Runftzuftände Wiens ein fo außerordentlihes Nefultat, daß Jemand, der die Hinderniffe dieſes Aufſchwungs nicht in ihrem ganzen Kettengehänge kennt, ihm faum vollkommen gerecht zu werden vermag. Alles, was wir in Wien an größerer In— ftrumentalmufif hören, verdanken wir, wie gejagt, der Geſell— Ihaft der Mufiffreunde. In diefem Nuhme liegt aber auch ein berpflichtendes Moment, nämlich wirklich fo viel und joldhes borzuführen, als dem Bebürfniß des Publicums und dem gegenwärtigen Stand der Tonkunſt entipriht. Betrachten wir unter diefem Gefichtspunfte jo raſch ols möglich, was die »Ge— jelihaft« in letzter Saiſon geleijtet.

Sie gab acht Concerte (nämlich vier »Geſellſchafts-« und eben jo viel » Spirituel-Eoncerte«, eine Unterfcheidung, die nur auf Aeußerlichkeiten beruht, daher jchiclicher vermieden märe). Bei der ungewöhnlichen Theilnahme, welche das Publicum dieſen Aufführungen zollte, möchten wir glauben, daß ihre Zahl fih bis auf zwölf vermehren ließe, wodurd nicht nur die Birtuojen-Concerte eine einjchränfendere Concurrenz erführen, jondern auch manche Gompofition im Gefammtprogramm ein

Die Wiener Concert-Saiſon. 33

Bläschen oder Gegengewicht erhielte, welche in fleinerem Cyclus unberechtigt oder vereinzelt daſteht.

Bon den acht Symphonien, weldhe die Gejellichaft diesmal bradte, waren drei von Beethoven (Es-dur, A-dur, B-dur); drei von Mendelsjohn (A-dur, A-moll, Lobgeſang); eine von Mozart (Es-dur) und eine von 9. Eifer. Weniger einverftanden jind wir wir mit der Auswahl der acht Duper: turen, von welchen wir nur zwei unbedingt willfommen heißen fonnten: Mendelsſohn's »Fingalshöhlee, die ſchon durch ihr echt ſymphoniſtiſches Hauptmotiv zu den bedeutenditen nad): beethovenfhen Erfindungen gehört, und die jehr jelten gehörte Duverture in C. op. 124 von Beethoven. Sollte Gluck dur ein Inftrumentalwerf repräfentirt fein, jo war die Ouverture zur Iphigenia jedenfall die beite Wahl. Hingegen Broteft legen wir gegen die Titus-Ouverture, die doch, gelinde geſagt, allzu befannt ijt, um bei den Bejuchern der Spirituel-Eoncerte auf Theilnahme rechnen zu dürfen. Selbit Weber’: glanzvolle »Eurhyanthe« dünkt una nicht fo langentbehrt, daß fie unter acht Duverturen nothwendig wäre. Wenn vollends die franzöfifche Schule Glud’3 unter acht Ouverturen mit drei repräfentirt ift (Catel's »Semiramis«, Cherubini's »Mbencerragen« und »Elifa«), jo iſt dies ein unverhältnigmäßiges Vordrängen dieſer haraktervollen, aber zum Weberdruß abgefpielten Gruppe. In diefem Beijpiel tritt der Unterfchied zwiſchen dem abjoluten und dem relativen Standpunkt der Beurtheilung recht auffällig hervor. Inter zwölf Ouverturen find zwei Cherubiniiche recht wohl am Plage, unter achten nicht mehr. So ließe fih aus den von una recufirten Stüden des diesjährigen Geiellichafts- chelus ein ganz hübſches Koncert zujammenftellen, welches dennoch aus dem Gelichtöpunfte einer zu erfilllenden höheren Aufgabe nicht zu rechtfertigen wäre. Ein Kumftinftitut, das nicht blos »Eoncerte gibt«, jondern in zufammenhängendem Wirken eine Miſſion Hat, fehlt jchon, wenn es Gutes bringt, wo Befferes oder Dringenderes warten mußte.

Die Wahl der concertanten Compofitionen war glücklich. Mährend und S. Bach's Tripelconcert den ganzen Neichthum einer früheren Virtuoſitätsepoche in deren tiefinnigitem Re:

Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl, 3

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präfentanten erichloß, begrüßte uns in Mozart’ »Goncert für Violine und Biola« eine der genialiten Arbeiten dieſes feinsten aller modernen Contrapunftifer, defien weniger befannte In— ftrumentalfachen zu Gunften jeiner Geſänge nur zu oft zurück— gejeßt werden. Was Vieurtempd’ Violinconcert inE (1. Sab) betrifft, jo freut es und, daß die Gefellichaft dieſem geiftreichen, romantifchen Pariſer gaftfreien Empfang gewährte, ohne Furcht, dadurch ihr »weißes Hermelin der alten Schule« zu befleden. Nur gegen das Aufführen einzelner Säge müfjen wir un? erflären. Solch dilettantenhafte® Zerreißen eines Ganzen iſt einer Künſtlergeſellſchaft unziemlich, welche zuſammenhängende Werke vollſtändig oder gar nicht bringen ſollte. Eine principielle Ausſchließung des Virtuoſenthums aus den Geſellſchafts— concerten, wofür ſich manche Stimme erhebt, ſchiene uns eng— herzig, ja nachtheilig. Man ſollte es, nach dem erfolgreichen Vorgang der Leipziger Gewandhausconcerte, nicht unterlaſſen, wirklich bedeutende Virtuoſen zur Mitwirkung einzuladen, ſie jedoch an den Vortrag chaſſiſcher Werke mit vollem Orcheſter zu binden.

Bon den Gejangfoli möchten wir nur die Wahl der Sopranarie von ©. Bach und der Baßarie mit obligaten Contrabaß don Mozart vertheidigen. Die Brapourarien der Königin der Nacht, des Sefto u. dgl. follten in den Spirituel- Concerten nicht porfommen. Der äfthetifche Proteſt, daß dieſe Arien einmal ſchön waren, oder auch daß fie nie Schön waren, gleichviel, ift hier weniger maßgebend, als die Betrachtung, daß Opernftüde nur mit größter Einſchränkung im Goncertjaal zuzulafien find, indem der Wegfall des dramatiihen Zufammen- hangs, des Coſtüms, der Scene, der Decorationen dad Ver— ftändniß verwirrt, den Eindrud verfümmert. Am allerwenigften dürfen aber Stüde aus allbefannten Opern, die man im Theater hören fan, den Eoftbaren Raum eine aus bier Nummern beftehenden Concert? einnehmen. Nur aus claffiichen Opern, die hier nicht oder nicht mehr befannt find, wird man Soli oder Enfembles in der richtigen Erwägung bringen können, daß man das Publicum auch durch eine Photographie zu Dant verpflichte, deren Original zu jehen ihm niemal® vergönnt ift.

Die Wiener Eoncert:Saifon. 35

Slud, Händel, Spontini, Cherubini, Spohr, Mendels— john u. A. bieten hier reiche Fundgruben. Der Eindrud von Mozart’3 »Misericordiase in D-moll erwies die treffliche Wirkung, welde ein geiftliher Chor zwifchen weltlihen Com: pofitionen übt, und dürfte als Fingerzeig gelten, wie man auch auf ältere Kirchenmuſiken deuticher und italienijcher Schule zurüdgehen könnte, ohne in die Tendenz ftreng hiftorijcher oder geiftliher Concerte zu gerathen.

Bon größeren Geſangswerken brachte die »Gefellihaft« Mendelſohn's trefflihen »Lobgejang«, deſſen Erfolg Hoffentlich die »MWalpurgisnadt« und die einzelnen Palmen desſelben Meifters nachziehen wird. Die Wahl von Beethoven's voll- ftändiger »PBrometheusmufif« war ein Mißariff. Durch die liebenswürdige Ouverture ift daß ganze Werk für Genuß und Erinnerung jo hinreichend wie vortheilhaft repräfentirt. Wenn es Schon mit der Aufführung von declamationsverbundenen Zwiſchenactenmuſiken fein Schwieriges hat, fo fteigert fich dieſes bei einer Ballet-Compofition, welde Schritt vor Schritt die Borgänge auf der Bühne commentirt, zum Bedenklichen. Sft aber die Balletmufif unbedeutend, zopfig und einer für unfere Anihauung fait lächerlichen mythologiſch-allegoriſchen Action dienftbar, dann gibts nicht einmal mehr etwas zu bedenken. Daß es auch belehrend fei, das ſchwache Gelegenheitöwerf eines Meifter® zu hören, wer läugnet es? Allein die Aufführung folder Gompofitionen ift ein Verrath an dem Genius des Mannes zu Gunften feines Namens. Alle irdifhen Dinge gedeihen nur in Selbitbejchränfung. Die Concertdirection muß ihr Programm als einen jchmalen, jehr koſtbaren Baugrund anjehen, auf defjen Bertheilung Viele ein gutes Anrecht befigen, und welcher dennoch nur wenig zeritüdelt werden darf. Auf jolhem Grunde muß fein chinefiicher Papillon ftehen, wenn ein Palaſſ Plat ge— habt hätte.

Das Berhältnig der abjolut äfthetiichen Aufgabe einer Goncertdirection zu ihrer Hiftorifchen Verpflichtung ift ein ſehr delicate®. Wie alle geiltigen Beziehungen, welche einer lebendigen Strömung unterliegen, fo läßt auch dieje fich nicht mit gefeglicher Schranke feititellen, fondern muß dem feinen Gefühl einer

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36 1852—1853.

leitenden Perjönlichkeit überlaffen bleiben. Regelnde Geſichts— punkte laffen fich jedoch geben. Wir möchten in Kunſtſachen den hiſtoriſchen Standpunkt (im Gegenjag zum abjolut ülthetifchen) in weiterem Sinne aufgefaßt und auf Alles aus: gedehnt wiſſen, was durch Bedeutiamfeit feines Inhalts An: jpruh auf Kenntnignahme des Publicums hat, wenngleich es deiien Geſchmack niht mehr oder noch nicht jompathiich fein jollte. Wie Janus muß der Goncertdirector vor und hinter fich ihauen. Hinter fih, damit er die großen Thaten unſrer Altvordern nicht durch Vernadhläffigung in unſerm Bewußtſein vertilge. Vor fih, in dem Sinne, daß er nichts ignorire, was über furz und lang doch gekannt und gebradt werden muß, weil es clafiiich ift, ehe noch der Verlauf eine® halben Sahrhunderts ihm den ZTalar der Glajficität umgehängt. Es iſt alfo geradezu die berechtigte Gegenwart, für welche wir Berüdfichtigung verlangen, die aber durch in— dolente® oder durch animoſes Ignoriren zur ungewilfen Zus £unft geftempelt wird. Handelt e& fih um ein Abwägen, io iſt dem Publicum die Bekanntſchaft mit den herporragenden Geiftern, von denen die mufikaliiche Bewegung der Gegen: wart ausgeht, viel wichtiger als die Erinnerung an die hifto- rich gewordenen Größen zweiten und dritten Ranges, die für unjere Großväter jchufen. Nur der Mufikhiftorifer kann auf einjamer Stube allem Bedeutenden verfloffener Zeiten nad): ftöbern, dejien Kenntniß feinen Beruf bildet. Cine Goncert- direction kann unmöglich die ganze muſikaliſche Staatsichuld der Vergangenheit zahlen, fie trachte nur, jelbit feine neuen Schulden zu machen.

Eine Schuld iſt's aber und ein WVerfchulden, daß die »Geſellſchaft der Meufilfreunde« die Werke Tebender Come ponilten gänzlich ignorirt, welche in der kleinſten deutſchen Muſikſtadt Tängit gekannt und gewürdigt find. Beginnen wir mit Robert Schumann. Die »Gefellihaft der Mufikfreunde« hat auch nicht ein einziges ſeiner Orchefter: oder Geſang— ſtücke noch gebracht, von deren Anzahl und Mannigfaltigfeit ein Blick in jeden Mufil-Catalog überzeugen kann. Weit ent— fernt, bier etwa die Vorzüge Schumann’ entwideln zu

Die Wiener Concert:Saifon. 37

wollen, und jediwede Vorliebe bei Seite lafjend, citiren wir einfach die Thatiache, dag Schumann als einer der geiſt— vollften und eigenthümlichiten Tondichter der Gegenwart aner: faunt, und von dem mufifgebildeten Bublicum ganz Deutich- lands als folcher gehegt und verehrt wird. Eine Goncertdirection, welde Schumann verwerfen zu dürfen glaubt, hat Feine Ahnung von der Kunft, oder fie fennt Schumann nicht einmal, - und dann hat fie feine Ahnımg von ihrem Beruf. Dan liebt es bier vieljeitig, die Hochſtellung Schumann’3 als Partei— ſache anzufehen und ihm neue, unerhörte Principe in der In: ftrumentalcompofition zuzufchreiben, ähnlich denen, welche Richard Wagner in der Oper verfolgt. Nur gänzliche Unkenntniß faun jo jprehen. Schumann verfolgt in feiner Orcheiter: und Kammermuſik fein anderes Princip als Mozart: daS der reinen, gegenftandlofen Mufif. Er hat mit Richard Wagner nicht gemein, als eine hervorragende Befähigung und das Unglüd, Herrn Franz Brendel zum enthufiaftiichen Freund zu Haben.

Anderd iſt's mit Richard Wagner Diefen in feiner eigenthümlichen Wirkſamkeit vorzuführen, tft Sache der Opern= directionen, und der »Tannhäufer« ift ein Werk, das es, auch abgejehen von der umleidlich gewordenen Berühmtheit Teines Autor, durch eigenen Werth verdient. Al Inſtrumental— componiiten jtellen wir Richard Wagner feineswegd Hoch. In allen feinen Ouverturen offenbart fi) die Unfähigkeit, ſym— phoniſche Form zu beherrichen, eine Unfähigkeit, die er, wie vieles andere, mit Meyerbeer theilt, jo wenig er e& Wort haben will. Die »Tannhäufere-Duverture glänzt durch interejfante Motive und eine zauberifche Initrumentirung ; ala iymphonifches Werk ift fie Schwach, weil fie nicht entwickelt, jondern zufammenseßt, ihre Themen die Kenntniß der Oper vorausjegen und ihre brillante Schlußfiguration des Pilger: marſches ein ftyliftiiches Unding ift, Virtuofenumfpielung für's Orcheiter übertragen, injtrumentirter Thalberg. Nun ijt aber diefe Duverture, feit den zehn Jahren, daß der Tannhäuſer geichrieben ijt, das Entzüden von bald Deutihland, in Prag hat fie Anlaß zur Einftudirung der ganzen Oper gegeben

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fie ift das intereflante Werk eines hochbegabten, originellen Mannes, der gegenwärtig zu den berühmteften Operncomponiften zählt und jeit fünf Jahren die mufifalifhe Welt jo jehr in Bewegung gebracht hat, daß fein Name Parteizeichen und feine Merfe Tagesgeipräd find. Wagner ift deshalb, in ganzen Opern oder doch in Bruchſtücken bereits überall vorgeführt worden, wo von Mufif die Rede fein kann, nur in Wien nidt. Und doch iſt der Drang, fich mit dem merkfwürdigen Manne befannt zu machen, jo natürlih, daß der Walzercomponift Strauß fich veranlaßt jah, die berühmte Tannhäufer-Duverture und einen Chor aus »Lohengrin« im Volksgarten jpielen zu lajlen. Wir können aber doch nicht annehmen, daß die »Gejellfhaft der Mufikfreunde« e8 den Promenade: Ordeftern überlafjen wolle, für die fünftlerifchen Bedürfniffe des Publicums zu jorgen. Meint die Direction, Schumann, Wagner u. 4. werden dem großen Publicum nicht zufagen, jo fann fie mög— licherweije Recht haben, daran liegt nichts. Gehört muß man fie haben. Die Literatur der Gegenwart befißt ſehr ähnliche Ericheinungen. So gehört Fr. Hebbel zu jenen anerkannten Größen, welhe von Vielen auf das Heftigfte angefochten, von MWenigen ohne Einſchränkung gepriefen werden. Welche Bühne, die ihre Aufgabe begreift, dürfte e8 aber wagen, oder hätte es gewagt, ihr Publicum mit Hebbel nicht be— fannt zu maden ? Nur dadurch kommt Schwung und Bulsihlag in das Mufitleben einer Stadt, wenn ihr neben dem überfommenen Claſſiſchen alles Bedeutende der neueren Zeit, und huldige es jelbit einer befremdenden Richtung, vorgeführt wird. Ob der Mufiter Beethoven's Symphonien (die er ohnedies auswendig fennt) einmal mehr oder weniger hört, ift für feine Bildung von viel geringerem Einfluß, ald daß ihm in bedeutfan neuen Gebilden zum eriten Mal die finnigen Züge jener Tondichter entgegentreten, die ja ohne Beethoven gar nicht möglich ge- wejen wären. Für den Fall aber, daß die Gejellihaftz-Direction und vielleicht der Eile bejchuldigen jollte, bemerken wir einfach, da3 Schumann bereit3 zwanzig Jahre, Berlioz über zwanzig Fahre, Richard Wagner etwa fünfzehn Jahre thätig ift. Eine

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Erfriſchung unſeres Concertweſens nad) diefer Richtung halten wir für nothwendig und die nambafteiten Künstler in der »Ge— jellihaft der Mufikfreunde« theilen unſere Anfiht. Möge es ihnen gelingen, das unberufene Uebergewicht dilettantifcher Ele: nıente, welche fich dem Vernehmen nad oft geichäftseifrig in ragen eindrängen, die nur vom Standpunkt der Kunſt ent- ichieden werden können, in ſchicklicher Weile zu mäßigen.

Als Eintheilungsgrund für die übrige bunte Reihe von Eoncert-Leiftungen wählen mir nicht Deren relativen Werth, fondern das viel bedeutungövollere Moment der Stetigkeit. Es iſt nämlich für die mufifaliihe Bildung einer Stadt von größten Gewicht, daß ihre bejleren Aufführungen fi) durch periodische Wiederkehr zu etwad Bleibendem geitalten. Da: durch werden fie nicht nur genöthigt, für ihre Gefammtthätigfeit im höheren als dem gewohnten Sim ein Programm zu befolgen, jondern auch geeignet, im Geifte des Hörer einen Zulammenhang zu vermitteln, welcher das Gehörte äjthetiich oder kunſtgeſchichtlich an ein Früheres anschließt, in ein Nach— folgendes überleitet. Der Eindrud fann nicht mehr jpurlos verraufchen und mögen diefe Aufführungen nun in dem großen Rahmen alljährliher Mufikfefte oder in der engeren Bewegung yon wöchentlihen Orcheiter- und Duartettproductionen kreiſen, immer ift’5 ihre Stetigfeit, der fie die gute Hälfte ihrer bildenden Kraft verdanfen. Aus jolcher Wiederfehr erwächſt zuvörderſt eine Gewohnheit des Guten und aus diefer das Bedürfniß deöielben. Ueber eine angemefjene Gruppe folcher Eoncertreihen verichiedener Richtung muß eine Stadt verfügen fünnen, welche auf ein jelbiteigenes mufifalifches Leben Anſpruch madt. Sie muß ein Capital gediegener Muſik befigen, auf das fie all: jährlich mit Sicherheit vehnen kann, und welches vom Zufall unabhängig dafteht, möge diejer nım als unterftügend erjehnt, oder als hemmend gefürchtet werden. Die Zufälligfeit ihrer muſikaliſchen Eriftenz ift der traurige Theil der Provinzial: itädte, deren fünftlerifcher Zuftand meiſtens von den jeweiligen Elementen ihrer Societät abhängig ericheint. In Reſidenzen hingegen bildet die Stetigfeit claifiicher Aufführungen ein zwar verflingendes, aber nicht vergängliches, wahrhaftee Meonn-

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ment. Während es ald Kunſtwerk nad) Oben ftrebt, dient es nah Unten als Schutzdamm gegen die angrenzende Virtuoſen— fluth, deren Ueberſchwemmung man fih im Herbit und Früh: jahr gefallen laſſen muß, wie irgend ein anderes nad) Natur: gejegen wirfendes Unheil.

Bon den ftabilen Deufifen in Wien ftehen den » Gefellichafts- Goncerten«e zunächſt die von den Herren Hellmesberger, Durit, Heißler und Schlefinger veranftalteten Quartett: productionen.

Die Pflege des Streid-Duartettes it in einem mufikali- ſchen Organismus von hoher Wichtigkeit. Urſprünglich italieniſche Grfindung, hat diefe Form, gleich der Symphonie, alöbald durch deutsche Kunft eine folche Erweiterung und Bereicherung erfahren, daß fie in Wahrheit geiftige® Eigenthum unferer Nation wurde. Diefe Hat durh hochragende Tonwerfe hierin jedwede Concurrenz anderer Völker vereitelt und iſt fo nicht blos in der Suprematie, jondern geradezu im Alleinbefiß der ausdrufvolliten Formen reiner Inftrumentalmufif geblieben. Das Streich-Quartett ift aber nicht blos durch feinen Reich: thbum an meilterhaften Compofitionen fo bedeutungsvoll. In die Grenzen von bier gleichartigen Inftrumenten gebannt, aus: geichlojien von dem felbftitändigen Reiz der Klangwirkung und de3 Gontraftes, ift das Quartett mehr als irgend eine poly: phone Kunftform berufen, durch Die reine Bedeutung ihres Inhaltes zu wirken. Keuſch, finnvoll, prunflos, läßt fie nur gelingen, was durch die innere Kraft des mufifalifhen Ge— dankens beitehen kann. Sie offenbart diefen in feiner wahr: hafteften, wenn gleich nicht glänzenditen Erſcheinung. Durch ihre unbeitehlihe BDurdhfichtigfeit ift die Duartettmufif eine Klippe für Componiften und ein Prüfftein für das Publicum. Wenn die Theilnahme an den »Geſellſchafts-Concerten« noch fein hinreichender Beweis für die erwachende gediegene Rich— tung in Wien ift, den verweilen wir auf den Bejuch einer Hellmesberger'ſchen Quartettſoirée.

Die Gefahr der Quartettproductionen heißt Monotonie. Sehr zweckmäßig trennt man deshalb hier Zwei Quartette durch ein Glaviertrio, eine naheliegende Auskunft, die dennoch den

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berühmten Pixis'ſchen, Mildner'ſchen u. a. Quartettſoiréen ent: ging. Aus demfelben Grumd rechtfertigt ſich die Beſchränkung des Duartett:CHyclus auf ſechs Abende Ein rajher Blid auf da3 diesjährige Brogramm belehrt uns, daß von achtzehn Nummern vier auf Beethoven fielen, eben jo viel auf Mendelsfohn, drei auf Haydn, zwei auf Mozart und je eine auf Händel, Spohr, Schubert, Schumann, Hummel. Zum erften Mal in Duartettprogrammen Wiens erihien R. Schumann mit feinem wunderbar jchönen F-dur- Quartett. Der außerordentliche Anklang, den es bei dem mit dem Autor noch ganz unbekannten PBublicum fand, wird Die Unternehmer gewiß zur Vorführung der übrigen Quartette, Duintette und Trios von Schumann aufmuntern, deſſen Name in jeder Sailon wenigften® mit einem Stüd vertreten jein möge. Auch Spohr's wohlthuend edle Milde wird hoffentlich niemal ganz vergeflen werden. Mit der Wahl eines unbedeutenden Trios von Haydn, eined dito von Mozart und eined recht unreifen Duartett3 von Schubert waren die Unternehmer nit glücklich.

Von den Duartettabenden übergehen wir zu den Con: certen des Männergefangvereind. Welch merkfwürdiger Gegenſatz zwiichen dem erniten, gedanfenjpinnenden, ariſtokra— tiichen Weſen des Ouartettes und dem frischen, volfsthümlichen Jubel, der aus zweihundert Männerfehlen gegen Himmel fchwingt! Der von G. Barth und F. Stegmaper vortrefflich geleitete Berein erfüllt mit feinen jährlichen zwei Akademien eine Kleine, aber wichtige Stelle im Mufikleben Wiens. Das fräftigende, finnlih frifche Element des Männergefangs iſt unſchätzbar als heilfames Gegengift gegen die überhandnehmende Mtanirirtheit im Geſang, die franfhafte Subjectivität des Vortrags, Die ufurpirte Herrfchaft der Kehlengeläufigfeit. Durch die geringe Literatur werthooller Männerchöre ift der Verein vortheilhaft an die öftere Wiederholung des bewährt Schönen (Schubert, Spohr, Mendelsjohn), andererfeit® an die regite Verbindung mit den Novitäten des Auslandes gebunden.

Das ergänzende Seitenftüd zum weltlichen Chor durch eine Gejellichaft für geiftlihen Gejang fehlt derzeit noch.

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Indeſſen können wir nicht umhin, hier eines Privatvereins zu erwähnen, welcher zwar der öffentlichen Beiprechung weder unter- tworfen, noch ihr ganz gewachlen ift, dennoch aber durch jeine bloße Eriftenz wichtig genannt werden muß. Wir meinen den von Herrn Brof. Joſeph Fiichhof gegründeten Ba ch-Verein, eine geſchloſſene Gejellihaft von Herren und Damen, welche jih allwöchentlich zur Ausführung claffiischer Kirchencompo: ftitionen verfammeln. Die funftgeichichtliche Tendenz, ſich mit ältern berühmten Tonwerfen befannt zu machen, und die dilet- tirende, jih im Chorgejang zu üben, gehen da Hand in Hand einem höchſt Ihäßbaren Ziel entgegen. Für das Mufikleben der Nefidenz iſt die »Bachgejellihaft« freilih nicht mehr als ein bedeutungvoller Fingerzeig nad) etwas, das herzuftellen wäre. Sollte es denn bei den reichen mufifalifchen Mitteln, welche Wien unjtreitig zur erſten Muſikſtadt Deutſchlands machen, nicht möglich fein, einen großen Gejangverein zu bilden, nad dem Mufter der im vorigen Jahrhundert von Faſch gegrün: deten, von Zelter und Rungenhagen jo blühend fortge- führten »Singafademie in Berlin?« Dieje befteht befannt- ih aus Schülern und Dilettanten, und wenn es gilt, ein claffisches Oratorium würdig vorzuführen, da verſchmähen es die angeleheniten Fräulein Berlins nicht, im Chor mitzufingen und ſich ad majorem artis gloriam dem energifchen Commando ded Directors zu fügen. Wer fi der großen Mufikfeite in Wien erinnert (ed bedarf bald eines guten Gedächtnifjes dazu), der weiß, wie hier eine jolche Bereitwilligfeit der Mitwirkung jich zeigte, daß man alsbald die öffentliche Aufforderung hiezu jiltiven und ſich auf ipecielle Einladungen beſchränken mußte. Es handelt ſich alſo lediglih darum, dieſe Kräfte zu einem behandelbaren Ganzen zu concentriren und ihrer Thätigfeit im Großen und Deffentlichen eine Aufgabe zu eröffnen, wie fie der »Bac-Berein« im Kleinen und Privaten verfolgt. Das würde zu Anfang nicht ohne Mühe und Schwierigkeiten abgehen, dod) wäre der Erfolg ein unendlich lohnender*). Die »Sing:

*) Unſerer im erſten Artikel ausgeiprochenen Ueberzeugung con= jequent, müffen wir wünschen, daß die Gejellihaft der Muſik—

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afademie« würde theils in Concerten einzelne geiftlihe Muſiken vorgetragen, und, mit dem mufifaliichen das hiſtoriſche Intereſſe ichieflih vereinigend, die jeit Kiejfewetter ruhende Idee der s»hiftorifhen Concerte- wieder anregen, theild fiele ihr die würdige Aufführung großer Oratorien zu. Hiedurch fümen wir auch aus der jchmählichen Abhängigkeit von dem Programm der Witwen: und Waifen-Societät heraus, welches in jeinen jährlihen zwei Oratorien lieber jede andere als die künſt— leriihe NRüdfiht vorwalten läßt. Bekanntlich hört Wien jeit einem halben Zahrhundert fortwährend Ha ydn's »Schöpfung« und »Sahreözeiten«, hie und da mwohlweislich von einem ein— heimiihen Fabrifsartifel abgelöft, jo jeden Undanfbaren, der etwa gegen die ftete Wiederholung Haydn’3 murrte, in jchred- licher Weife zur Neue und Befinnung bringt. Ueber diefen Bunft haben wir vor Jahren bereit? unjer Herz gründlich und erfolglos ausgeſchüttet.

Der Stabilität dieſer einheimiſchen Muſikaufführungen ſteht die unruhige Gruppe der »Virtuoſenconcerte« gegenüber.

Es iſt über das unberechtigte Vordrängen der Virtuoſität in einer erſtickenden Menge von Concerten ſo ausgiebig ge— jammert worden, daß wir uns hier aller Klage, ſo wie jeder theoretiſchen Deduction enthalten können. Wir faſſen die Vir— tuoſenconcerte lieber als einen Beſtandtheil öffentlichen Muſik— lebens auf, der nun einmal exiſtirt, und unter künſtleriſcher Begrenzung feiner Quantität und Qualität ein Recht dazu hat. In ihrer Quantität würben fi die Virtuofenconcerte zu den einheimijchen, periodifchen Aufführungen am beiten verhalten, wie die Gaftipiele einer guten Schaubühne zu deren eigenem, jelbititändigen Repertoire. Rüdfichtlih der Qualität hätte die Begrenzung dahin zu lauten, daß 1. nur wirkliche Virtuofen jih bewogen finden, »Wirtuofenconcertes zu geben und daß fie

freunde, in der wir gerne eine Art muſikaliſcher Statthalterei ſähen, dieje wichtige Unternehmung, wenngleich Anfangs nur als Nebenzweig, in die Hand nähme Die Schüler des Gonfervatoriums, die neu errichtete »Männergeſangsſchule- und der durh Stegmayer ver: bündete Männergejangverein böten die eriten Anknüpfungspunkte.

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2. überwiegend gediegene Compofitionen vortragen. Die Bir: tuofität it ein relativer Begriff, indem er einen wechielnden Standpunkt zu der Maſſe von Leiltungen einnimmt, welche dem Publicum in einer beitimmten Zeit als außergewöhnlich er: jcheinen. Bei dem gegenwärtigen Stand der muſikaliſchen Technik hat jede Großitadt das Recht, nur die Sommitäten des Virtuoſenthums für »Virtuoſen« hinzunehmen. Cine wirk— lich vollendete frei beherrſchte Technik, durchdrungen von indivi— duellem Geiſt und Gemüth und geläutert durch umfaſſendes künſtleriſches Verſtändniß, iſt nur Der: Erwerb vieljährigen Studiums und eines an der Hand des Talentes langſam ge— reiften Kunſtſinnes. Was ſoll man dann zu den vielen Knaben und Mädcheu ſagen, welche halb frühreif, halb unreif ſich einem kunſtgebildeten, an das Beſte gewöhnten Publicum als »Vir— tuofen«e aufdrängen, und ein Concert nad) dem andern ver: urfahen? Leider fann man das weder hier, noch irgendivo verhindern; ja, wenn mir den Enthuſiasmus betrachten, mit welchem in Paris und London wahre Mittelmäßigfeiten begrüßt werden, jo finden wir unjern Zuftand noch Teidlich gut. Dafür verjegte uns die verflofiene Sailon oft in das peinliche Nachdenken, was ſchlimmer jei, die eigenen Fabrifate ſchul- und talentlojer Concertiſten zu hören, oder Beethoven, Mozart, Mendelsjohn, die Heiligthümer und Lieblinge der Nation, von derlei Jünglingen öffentlich mißhandelt zu jehen? Genug, da aus der großen Summe der diesjährigen Birtuojenconcerte nur Gine Erſcheinung wirklich fünftleriich bedeutend dafteht: U. Dreyfhod. Sein Vortrag des G-moll- Eoncerte® von Mendelsiohn und des Concertitüdes von C. M. Weber find uns unvergeßliche Leiftungen technifch vollendeten Clavierſpiels. Nebit Dreyihod können wir nur die intereffante Erſcheinung der Thereje Millanollo hervorheben, welche durch meiiter: haft techniiche Ausbildung einzelner Vortragsweiſen Bewunde— rung einflößt, ohne jedoch von ihrem Eleinlichen Standpuntt einen bleibenden, fünftleriih mächtigen Eindrud herborbringen zu können. Sie madte die Wichtigkeit unſrer zweiten Forderung anfhaulid: daß man nit blos gut, jondern auh Gutes ipielen müſſe. Die Ichredlichiten Concerte find Diejenigen, wo

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Orcheſter-Inſtrumente beſchränkten Wirkungskreiſes zur Solo— Virtuoſität gezwungen werden. Wenn ein Contrabaß mit Trillern und Paſſagen ſpielt, wie ein Bär mit Veilchen, wenn ein Waldhorn nad Adagio und Recitativ an das unumgängliche Allegro gelangt und daſelbſt ſehr ſtolpert, ſtößt und mekkert, blos um ſich mit Dingen zu plagen, die eine Flöte viel beſſer macht, wenn endlich ein ſo geiſt- und ſeelenloſes Inſtrument, wie die Harfe (welche wie jedes gezwickte Saitenſpiel eines gebundenen Geſangs unfähig tjt), nicht müde wird, unabläjlig dDiejelben Arpeggien und Tonleitern zu prideln: dann find jelig diejenigen, die das freut, oder die es nicht zu Hören brauchen.

Die von einzelnen Goncertgebern veranitalteten Akademien find noch in zwei Nebenpunkten wichtig. Erſtens find fie die einzigen öffentlihen Broductionen, wo das deutſche Lied (als Zwiſchennummer) eine Stelle findet. Es kann nicht dringend genug gewünſcht werden, daß dieje Gelegenheit zur Vorführung guter Lieder verftändig benützt werde, Nur oberflädhliche Un— fenntniß kann über Mangel an gediegenen Lieder-Compoſitionen flagen, mwährend man doch fünf Jahre lang Treffliches zu zu fingen hätte, ehe man genöthigt ift, zu Liedern zu greifen, wie fie in legter Saiſon zum größten Theil die Zwiſchen— nummern füllten.

Die zweite Bemerkung betrifft die Ouverturen, womit die vom großen Orcheiter unterftügten Concerte eröffnet werden, und die jeit vielen Jahren aus einem Halbdutzend der befannteften Compoſitionen beftehen. Wenn die Kunſt— und Chrliebe des Orchefterdirectord fich nicht daran ſtößt, ſolchen Schlendrian jahrelang fortiegen zu laſſen und jede Duverture bei Seite zu legen, die man nicht im Schlafe jpielen kann, dann ift freilich nicht zu helfen. An Sournalen wird's nicht fehlen, die auch zum Hundertiten Mal melden: »Die Duverture zu Titus oder Faniska jei fenrig und präcis erequirt morden.«

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Müller und Ssellmesberger.

Seitdem die Braunfchweiger Gebrüder Müller mit ihren Dnartett-Productionen jo gerechte Bewunderung erregen, iſt das Vergleichen diefer Künftler mit unferem beliebten Hellmes— berger’ichen Quartett außerordentlih im Schwang. Klein Hoch— genuß bei den Gebrüdern Müller, der nicht unerbittlich den verdriehlichen Streit nachichleppte: welches Quartett jteht höher, Müller oder Hellmesberger? Wird die Frage fo geftellt, dann ift fie bei der Beweislofigfeit äfthetiicher Dinge fait genau jo peinlich, wie etwa die andere, ob eine Cypreſſe jchöner fei oder eine Eiche, ob die Erdbeere jchmadhafter oder die Kirſche? Daß nicht alle Phänomene, bejonder3 die geiftigen, in Rang— jtufen über und unter einander ftehen, fondern mehrere neben- geordnet fein können, pflegt man in ſolchem Streit gern zu vergefien. Ein Vergleichen der einzelmen Vorzüge und Eigen: thümlichfeiten jedoch wird in Kunſtſachen immer ftatthaft und anziehend erfcheinen, ja bei ausgezeichneten Ericheinungen oft zum Vortheil beider Theile ausfallen.

Der Charakter des Müller’ihen Oxartett3 iſt Männ— lichkeit, Kraft, Gefundheit. Starker Ton, zum Sanften, aber nie zum Süßlichen herabgemildert, einheitliches Auffaffen im Großen und von Innen heraus, ganzes, treue Hingeben an die Come pofition, nit etwa Schönmaden einer Broducttion, Würde ohne Pedanterie, Bravour ohne Eitelkeit, größte Selbititändigfeit jedes Einzelnen bei größter Beicheidenheit jedes Einzelnen. Der Ton des Primſpielers iſt edel, wenngleich nicht mehr jo weid) und blühend wie in früheren Sahren. Sein Bogen hat mehr Kraft, aber nicht die Feinheit und Mannigfaltigfeit des Hell: meöberger’schen.*) AS Solofvieler kann Herr Müller (er gab vor einigen Jahren allein Concerte) mit Hellmeöberger nit auf Eine Stufe geitellt werden. Hingegen iſt Müller durch fein breites, markvolles Spiel, ſowie durch feinen unbe—

*) Wie faſt alle norddentichen Geiger fennt Müller feinen »ipringenden Bogen«.

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ſtechlich keuſchen Kunitfinn zum QDuartettipieler wie geichaffen, während der virtuofere Hellmesberger Seine Persönlichkeit mandhmal borandrängt und von den andern drei Herren ſich mufitaliih den Hof machen läßt. Wir verlegen den größten technischen Vorzug des Müller'ſchen Quartetts in das gleid) männliche und bewußte Mitiprechen aller vier Stimmen, welche trogdem die Anläffe auf das Feinste beachten, wo ein momentanes BZurüdtreten des Einzelnen fchicklich erfcheint. Durch den fräftigen Ton und Ausdrud find die Müller im Vortheil vor dem Hellmesberger’ihen Kreis, deilen Ton oft an Gefäufel grenzt, deſſen Ausdrud in weicher Gefühlsfeligkeit nicht felten mit Einzelaccenten, Rubatos und ähnlichen Verfeinerungen die reinen Gontouren des mufifaliihen Gedantens verwilht. Wenn man dem Hellmesberger’ihen Quartett ſchlechtweg Kofetterie vor— wirft, geht man vielleicht zu weit. Aber der Anſchein der Koket— terie läßt fich nicht ganz hinwegläugnen. Unjerer Erachtens liegt die Schuld der geringeren Kraft vorzugöweife an dem (im Solo ſchätzenswerthen) Gelliften Hellmeöberger’s, der in jeiner tremulirenden Sentimalität nicht zu begreifen fcheint, was der Grundbaß eined vierftimmigen Sabes für eine Aufgabe hat.

Aus den oben harakterifirten VBorzügen der GebrüderMüller ergibt fih, daß es vorzugsweiſe Haydn, Mozart umd der frühere Beethoven find, welche fie am trefflidhiten vortragen. Den maßvollen, milden Geift der Mozart’schen eriten Säge und Adagios, die big zur Drolligkeit wirkfame Laune der Haydn'ſchen Menuets, endlih Beethoven’3 wie Fener aus dem Felſen brechende Finale, wir haben fie niemals fo echt fünftleriich aufgefaßt fo, vollendet ausgeführt gehört, als durch die Müller. Namentlich erregt die fchlichte und doch wirkſame Natürlichkeit ihres Adagio und Die beilpiellofe Kraft ihrer pfeilichnell dahin fliegenden Preftos jedesmal unfere ganze Bewunderung. Weniger fcheint der Müller’ichen Individualität (und wahrlich in Ein Jindividuum gehen alle Bier mit wunderbarer Afftmilirungdfraft auf!), weniger fcheint ihr der Vortrag neuerer Kammermuſik zuzu: jagen. Mendelsjohn, Schubert, Schumann, kurz alle Muſik, die nicht in dem vollen Tageslicht der Clafficität, Sondern in dem Dämmer der Nomantif webt, verlangt über der correcten

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Durhführung ein Element, welches die Gebrüder Müller nicht in ihrer Gewalt haben: das individuell Empfundene, Sehne jüchtige, Ahnungsvolle.

Hier öffnet fih das Gebiet, wo Hellmesberger ent- ichieden glüdlicher tft. Sein dem Zarten, Elegifchen mit Vorliebe zugewandter Vortrag weiß ſolche Gompofitionen mit einen poettiihen Schmelz wiederzugeben, weldhen die Müller nicht erreihen. Wir erinnern beiſpielsweiſe an das variirte Andante in Schubert’3 D-moll-Quartett und an die drei eriten Süße des Es-dur-Quartett3 von Mendesjohn In jolden Ton dihtungen ift ein ſinniges Nachlafjen der ftrengen, ftraffen Gleichheit oft erlaubt, ja geboten. Müller’ eherne Solidität finft zwar nie biß zu der Philifterhaftigfeit eine® Janſa, ftreift aber dennoch oft den feinen Duft von einer ſeltſamen Wunderblume. Hier ift die Jugend an ihrem Pla und darf, das erfahrene aber fältere Alter überflügelud, wohl mit Her: wegh ausrufen:

»Schmäht mir nicht die goldnen Locken, Nicht die ſtürmiſche Geberde,

Schön find Eure Silberfloden,

Doc) dem Gold gehört die Erdel«

Man ftieht, wie die erfreulichiten Vorzüge auf beiden Seiten vertheilt find. Künftlerifches GlaubenSbefenntnig und perjünliche Borliebe entjcheiden fi denn für hier oder dort.

Einer Aeußerlichkeit wollen wir noch gedenken, welche uns den Genuß der Hellmeöberger’ichen Productionen oft beein- trächtigt hat: das lange Ausfegen zwiichen den einzelnen Süßen eines Quartett? und übermäßige Nachitimmen der Inftrumente in diejen Pauſen. Erfteres ift unmuſikaliſch, Teßteres grauſam. Beides unnöthig, wie die Gebrüder Müller praftiih darthun. Mendelsjohn und Schumann haben, vielleiht durch Er- fahrungen gewißigt, in einigen ihrer jpäteren Werke blos Ge— neralpaufen zwijchen den einzelnen Süßen geitattet, um die jo viel beredete Einheit der vier Säße doch auch zur Wahrheit zu machen. Dieje Einheit ift geopfert, jobald fih im Publicum neue Gonverjationen anipinnen und am Quartetttiſch die Bar: barei eines ımgenirten Quintenprobirens losgeht, al3 hätte man

Oeſterreichiſche Militärmufit. 49

noch bequem eine halbe Stunde bis zum Anfang des Concerts todtzufchlagen.

©efterreichifhe Militärmufiß.

Die öſterreichiſche Militärmufik ift durch einige bewundernde Worte Roſſini's in Baden-Baden, ſowie durch den im gleichen Sinn lobenden Reifebericht eines befannten Schweizer Militärs fürzlich wieder der allgemeinen Aufmerkſamkeit zugewendet worden. Von jeher gehörte diefelbe zu jenen Dingen in Oeſter— reich, deren Trefflichfeit weit größer, ald der Lärm, den man davon madht. Aus der Zeit der Befreiunungsfriege ftammt die noch vielverbreitete Anficht, daß die Preußen die befte Feld: muſik befigen, eine Rangordnung, gegen welche Defterreich jeden: falls Einfpruch erheben darf. Die Superiorität der Öfterreichiichen Militärmuſik dürfte bald allgemein anerfannt fein. In Städten, wo die Regiments-Orcheſter verjchiedener Armeen neben ein: ander concurriren, wie in Mainz u. a., hat die Vorliebe des Publicums fich ſehr bald für die Defterreiher ausgeſprochen. Des beifpiellojen Auffehens, das die öſterreichiſche Militärmufit vor einigen Jahren in Homburg berborrief, wird man ſich and den Zeitungen erinnern. Die »Bande« des Regiments Benedek hat wohl nur Einen Gegner, den Spielpächter Benazet in Baden-Baden, welcher fie jeden Sonntag von Raftatt muß hinüberfommen Laffen, will er nicht einen allgemeinen Aufitand feiner Badegäfte gegen fich heraufbefchwören. Dieje friedlichen Groberungen, welche unfere Armee mit dem Clarinett macht, ftatt mit dem Bajonnet, find fürwahr nicht die legten. Auf Flügeln der Harmoniemufit ift gar oft ſchon öſterreichiſches Militär in die Herzen ganzer Bevölferungen eingezogen.

Zuerft und vorzugsweiſe militärifchen Zwecken dienftbar, übt die Feldmufif doch nebenbei beachtenswerthe Fünitlerifche Wirkungen. Wo aber foldhe vorhanden, da muß es auch erlaubt fein, fie aus fünftleriichen Gefichtöpunften zu betrachten, jomit als Muſiker aufzunehmen, was der Soldat bietet. Indem die Regimentsmuſik vorzugsweiſe angewieſen tft, im Freien zu

Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 4

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jpielen, bat fie ſtets die zahlreichite, dankbarite und empfäng— lihfte Hörerfchaft. E3 gibt feinen Kumftgenuß, der in fo hohem Grade demofratiich heißen kann, als das Spiel der Regiments— banden. Da darf jeder theilnehmen, ohne Eintrittögeld und Salontoilette, haben doch Taufende von Mufifbedürftigen, die weder da3 eine noch das andere befigen, fich oft alüdlich gefühlt, ihr Concert unter freiem Himmel zu finden. Selbit in den mufikreichiten Hauptitädten äußert fich die Liebe der Bevölkerung für die Negimentsmufif jo auffallend, daß ihre Klänge alle Fenfter aufgehen machen und Hunderte mufifalifcher Beripathetifer nach fich ziehen. Wie viel gewaltiger iſt Diejer Zauber erjt in der Provinz! Der Stab eines Negiments fommt häufig in Orte, wo nie ein Orcheiter ertönt hat, wo man nun die eriten Eindrüde einer großartigeren, vollen, reinen Mufif empfängt. Kein Wunder, wenn dieje Eindrüde jo mächtig find, daß in jolden Städtchen fich jahrelang die Erinnerung daran erhält. Die Regimentsbanden find wahre mufifaliiche Miffionäre, welche in ſtumme Gegenden mit Sang und Klang einziehen, das fröhliche Evangelium der Kunſt predigen.

| Für die allgemeine muſikaliſche Eultur kann es darum nicht gleichgiltig fein, was die Menſchen aus jo mächtiger Hand empfangen. Nicht die großen Meifterwerfe deutſcher Kunst, aber Eräftige, charaktervolle, in Trauer wie in Luſt ſtets männlich bleibende Stüde joll ein Orchefter von Kriegern er: tönen laſſen. Beethoven’: Wort, die Tonkunſt jolle nicht rühren, fondern »dem Manne Feuer aus dem Geijt jchlagen«, muß feine Erfüllung vor allem wohl bei Regimentsmuſiken finden. Leider ilt in die gefammte moderne Militärmuſik viel Weichlichkeit eingedrungen, theils duch die Einflüffe der italienifchen, theil® der Oper überhaupt. Man hört bei den Productionen der Militärbanden jo viel ſchmachtende Gantilenen und anderes lauwarme Zeug bon Donizetti und Verdi, daß man oft feinen Augen nicht traut, welche deutlich Säbel und MWaffenröde unterfcheiden. Wir find aber der Meinung, Daß, wenn man aus einer welſchen Oper fommt, man fih an den Klängen der Regimentsmuſik jollte ftärfen und erfrifchen fünnen, und nicht umgefehrt. Ueberdies hHerricht bei Regimentsmuſiken

. Oeſterreichiſche Militärmufif. 51 der fatale Brauch, dieſe Melodien von den markdurchdringenden Tönen des Flügelhorns, Euphonions oder der Piſtontrompete blaſen zu laſſen. Dieſe Blechinſtrumente ſind durch mannigfache Form, großen Tonumfang und unzählige Klappen leider dahin vervollkommnet worden, Alles blaſen zu können: die ſanfteſte Melodie, die flüchtigſte Roulade iſt nicht ſicher vor ihnen. Be— kannt iſt der geheime myſtiſche Zuſammenhang Verdi's mit dem Flügelhorn, eine Wahlverwandtichaft, welche uns faſt nur die Wahl läßt zwifchen dem Glauben an eine Menichwerdung jenes Inftrumentes oder aber an eine Juftrumentverwandlung Verdi's. Bei der bejonderen Pflege de Flügelhorns ijt daher auch das Vorherrſchen Verdi'ſcher Opernſachen in den Pro— gramm der Militärmufifen eine naturgeleglihe Conſequenz. Am unſchicklichſten ericheint und die Verwendung von Dpernthemen fir Militärmärſche. Theatraliiches Raffine— ment und weibiiche Sentimentalität dringen damit in die Marſch— muſik, welche immer die Kraft gefunden männlichen Muthes athmen ſoll; von der mufifalifhen Verrenkung, welche die Driginalmotive dadurch erfahren, gar nicht zu reden. Zehnmal beiler als dieſe opernhafte Empfindelei iſt die etwas leicht: fertige Luftigkeit, die wir häufig in den Märchen öfterreichiicher Regimenter antreffen. Der Uebergang von der ehemaligen graditätiihen Würde zu tanzartiger kecker Beweglichkeit ericheint in unfern Märjchen fait ausnahmslos vollzogen. An und für fih tft gegen den leichteren Charakter, den die deutſche Militär: mufif mit der Zeit angenommen, nicht einzuwenden. Vielmehr iſt diefer fee, fröhlide Schwung, jo lang er nicht aufhört, männlich zu fein, erfriichend und bekanntlich dem National» charafter der Defterreicher entfprechend. Unſere Einſchränkung weiſt aber auf eine Grenzlinie Hin, die nur zu leicht über- ichritten ift. In der That liegt in dem hüpfenden Tanzcharatter, welchen die beiden Strauß und ihre zahlreichen Nachahmer in die Märſche gebracht Haben, die Gefahr, daß dieſe mili: täriihe Mufit ganz aus der Sphäre fräftigen Grnites her— ausgedrängt werde. Bei dem friicheften Mari jollte man nie vergeffen, daß es Krieger find, die fich ihn aufipielen. Wenn der Soldat zum Tanz geht, jchnallt er den Säbel 4*

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ab: der Mari foll unter allen Umftänden bewaffnete Muſik bleiben.

In diefer einen Beziehung ift mir der mehr feierliche und würdevolle Charakter der preußifchen Märfche, namentlich in der Gapallerie, aufgefallen. Da herrſcht noch (im Gegenſatz zu unferen Märjchen) der Biervierteltaft vor Dem Zweiviertel— taft, die längere, gebundene Melodie vor dem hüpfenden Polka— Rythmus, die Baßbegleitung in Viertelnoten vor der in Achteln. Gin faft ftereotyper, an die Polonaifen-Cadenz mahnender Schlußfall hält mit etwas gravitätifcher Würde auf der vor: legten Note inne. Diefer feierliche Ausdrud der preußifchen Parademärfche wird durch einen Beltandtheil ihrer Reitermuſik weſentlich unterftüßt, welchen wir nicht beißen: es find Die Heerpaufen. Diefe Baufen, vor dem Reiter auf beiden Seiten des Pferdes befeftigt, machen fehr ftattliche Figur und reihen an die älteiten Zeiten des deutſchen Heerweſens. Mie die Heine Trommel (Tambour) für den kurzen, friichen Rythmus unentbehrlich ift, fo die Pauke für den Ausdruck des Feierlichen, Gravitätiichen. Eine andere werthvolle hiſtoriſche Reminiscenz in der preußiichen Armee find die jedem Garde-Regiment bei- gegebenen Tronmler und Pfeifer, deren Märſche bei aller Dürftigfeit doch durch ihre eigenthümlich lebhafte Färbung frappiren. Hingegegen iſt das geftimmte Triangel- oder Gloden- ipiel der preußiichen Artillerie eine recht unmilitärifche Kinderei und der öfterreichifchen Armee glüdlicherweife fremd. Cinmal beim DBergleichen angelangt, muß ich nun wohl zu dem ein: gang gemachten Bekenntniß zurücgreifen, daß der Totaleindrud, den die Leiftungen der preußiſchen Milttärmufif mir machten, entichieden zum Wortheil der öfterreichifchen ausfiel. Sene habe ih wiederholt bei großen PBaraden gehört, welche der König jeldit in Berlin und Potsdam »abnahm«, aljo bei Gelegen- heiten, die jedenfall den Ehrgeiz auf's höchſte antreiben mußten. Exact eingefchult waren die Mufifer, und unter offenbar guter Leitung. Die Horniften und Trompeter der Cavallerie— Regimenter entwicelten jogar eine bedeutende Virtuofität. Leider waren diejer Birtuofität fo halsbrecheriſche Gänge und Pafjagen zugemuthet, daß die Neinheit des Tones fortwährend leiden

DOefterreihiiche Militärmufif. 53

mußte. Enticheidend fam mir vor, daß das Spiel der öfter: reihtichen Banden ausdrucksvoller, friiher, lebendiger Klingt. Die Leute fpielen bei und mit größerer Freude an der Mufit, mit feinerem Gehör und Takt, furz mit mehr mufikalifcher Empfindung. Wenn die preußiihen Muſiker durch ihre eracte Schulung fi hervorthun, jo imponiren die üfterreichiichen durch eine mindeften® ebenjo eracte Schulung und dabei durch »- ihr auffallend mufifaliiches Naturell *).

Zwei Momente find e8, welche unjerer Militärmuſik von vornherein die größten Vortheile fichern: das erite liegt in den Nationalitäten, das andere in der Heerverfaflung Deiterreich®. Die Slaven, inäbefondere die Böhmen, find geborene Mufifer und für jedes Orchefter unſchätzbar. Der Slave, der, ſelbſt wenn er ohne alle mufifalifche Vorbildung zum Regimente fommt, lernt Mufit Schnell und gern; in Böhmen wird über: dies faum ein Banernjohn ohne irgend eine mufifalifche Fertig: feit oder Vorkenntniß gefunden werden. Eine Armee, welche in der Lage iſt, den Grundſtock ihrer Mufifbanden aus Böhmen, Polen und Südflaven zu bilden, fteht gegen ein ausfchließlich deutſches Heer in demjelben WVortheil, wie der Bebauer eines vorzügli fetten Ackers gegen den Urbarmacher fteinigeren Bodens. Schon die gleiche Eultivirung wird dort ungleich üppigeren Ertrag hervorbringen. Neben den Slaven find Die Italiener eine Nation von außerordentlihen Mufifanlagen, und die Öfterreihiichen Alpenbewohner dürften mindeftend für ebenfo mufifempfänglih gelten, als irgend eine andere deutiche Be— völferung. So hat die mufifalifche »Grundmacht« Oeſterreichs ihresgleihen nicht in der Welt. Diefe Grundmacht aber allent- halben und unmittelbar verwerthen zu dürfen, ift das Vorrecht und Verdienft der Armee. Troß diefer ungemeinen natürlichen Befähigung könnte dennoch die öfterreichiiche Militärmufif kaum jene Fertigkeit erlangen, die wir an ihr bewundern, wäre ihre allmälige Ausbildung nicht durch eine ausreichende Dienftzeit

*) (Nachträgliche Bemerkung.) Diejes Urtheil fand eine auf: fallende und rühmliche Bejtätigung bei dem Concurs der Militärmufifen zu Bari während der internationalen Induftrieausftellung von 1867.

54 1852— 1858.

garantirt. Die längere Capitulation der Dejterreicher ift jener zweite fünftlerifche Vortheil, den wir oben, als auf der Heerverfafjung beruhend, andeuteten. In der preußijchen Armee macht die furze Capitulationzzeit es unmöglich, jo tüchtige Muſiker heranzubilden. Ihre Negimentsbanden find daher meift gendthigt, fi durch Mitglieder zu verftärfen, die nicht im ftrengen Militärverband ftehen, jondern mehr in einem freien Lohnverhältniß. Der mächtige Sporn der Disciplin fällt bei dieſen hinweg. In der öfterreihiichen Armee reicht die Dienftzeit im Vereine mit der Disciplin aus, tüchtige Mufifer zu bilden; fte auch nach) Ablauf der apitulation zu erhalten, gelingt ſehr Häufig durch die Vereitwilligfeit, mit welcher man aus— gezeichneten Hoboiften den MWiedereintritt ind Regiment wün— ſchenswerth zu machen weiß.

Haben wir die Militärorchefter bisher in ihrer gewöhnt: fihen Webung als Harmoniemufif (bei Märichen, Zapfen: ftreichen 2c.) betrachtet, fo erbliden wir fie in einer ungleich höheren fimftleriihen Bedeutung dort, two fie durh Bogen: inftrumente erweitert, vollftändige Orcheiter bilden. Es wird nicht über zwei Decennien her jein, daß die Betheilung der djterreihiihen Regimentsmuſiken mit Streichinftrumenten (in größeren Garnijonsftädten) fi) Bahn brad. In dieſer Geſtalt tritt die Regimentsmuſik eigentlih aus ihrer rein mili- täriſchen Specialität heraus und erreicht höhere Fünftlerifche Wirkungen. Es find namentlich die » Gartenproductionen« der Militärcapellen, welche den Reſidenzbewohnern eine beliebte Erholung, Eleinen Städten oft den einzigen mufifalifchen Kunft: genuß verihaffen. Welche Ausbildung die öfterreifchen Feld- mufifen auch in dieſer viel fchiwierigeren und weniger geübten Zufammenfegung erreicht haben, ift befannt. Es find uns in verichiedenen Provinzialſtädten mufterhafte Leiftungen diefer Art befannt geworden. Regiments-Capellmeiſter Schubert gab z. B. ein Concert in Prag, mworin feine »Bande« u. a. ſym— phonifhe Kompofitionen von Berlioz, alſo das jchwierigite, was es bis jeßt in diefer Gattung gibt, mit großer Präcifion vortrug. Die zahlreichen anftrengenden Proben zu dieſer Pro— duction ließen erkennen, was militäriihe Subordination jelbit

Defterreihiihe Militärmufit, 55

für reinkünſtleriſche Zwecke werth fein könne; fein Chef irgend eines Givilorchefter würde diefe Aufführung damals zuſammen— gebracht haben. Es mag jehr gegen idealiſtiſche Theorien ver: ftoßen, daß die Kunſt durch etwas von der perfünlichen Freiheit fo ungemein Verſchiedenes, wie die Suborbination tft, gefördert zu werden vermöge, dennoch ift dem fo. Jede Kunſt beſitzt in ihrer Technik eine Seite, welche nur durch anhaltenden Fleiß ausgebildet werden kann, und dieſe technifche Seite ift bei dem Zuſammenwirken Bieler noch ungleich wichtiger, al® beim einzelnen Pirtuofen. Der Taftirftab und der Gorporalftod haben beide den Zweck, viele Köpfe unter Ginen Hut zu bringen; wo fih aljo die Finftleriihe Sub: ordination mit der militärifchen vereinigt, »da gibt es einen guten Klang«.

In den Gartenconcerten oder fonftigen außerdienftlichen Productionen find die Militärorcheiter am meijten im der Lage, rein fünftleriihe Zwede zu verfolgen. Die Stellung de3 Eapell: meifters erjcheint da viel jelbjtändiger, die Wahl der Stüde freier, die Mittel vollzähliger. Aus diejen günftigen Bedingungen entſpringt jedenfall3 eine ftrengere künſtleriſche Verpflichtung. Bor allem jollte darauf gejehen werden, daß folche vollftändige (mit Streidinitrumenten verfehene) Militärcapellen nur Orcheſter— jtüde jpielen. Seltene Ausnahmen abgerechnet, paffen die Solo— productionen, in&bejondere der Variationenkram, Tchlecht zu dent Charakter einer Militärmufil. Gibt man Orchefterwerfe, dann möge man fi) mit umerbittlicher Strenge an die Inſtrumen— tirung des Autors halten. Die Freude, einen Beethoven oder Mendelsfohn im Nepertoir von Regimentscapellen zu erbliden, wird dem Hörer nicht felten dadurch verbittert, daß er feine Lieblinge in einer willfürlihen SInftrumentirung miederfindet. Dpernarien u. dgl. machen freilich ein Arrangement nöthig, wenn auch feinestwegs Schon ein folches, das die Singftimme einfah in das Blech verlegt und die Violinen begleiten läßt. Es iſt die Macht der Gewohnheit, daß Regiments-Capell— meister gleihlam nur in Harmoniemufif zu denken vermögen; und in dieſe ihre mufifalifhe Meutierfprahe alles ‘Fremde ohnemweiterd überfeßen. In den PBroductionen mit vollftändigem

56 1852— 1853,

Orcheſter findet dad, was früher von dem wohlthätigen Einfluß der Militärmufifer auf das Kunftleben kleiner Städte gerühmt wurde, feine reinfte Anwendung. Ein wohlgeübtes Orcheſter ift für Heine Städte ein ungeahnter, nie gehoffter Schatz, aus dem ein reicher Kunftiegen erblühen kann. Durd Regiments: capellen hat manche mufifliebende Bevölkerung zum erjtenmal Weber, Beethoven, Mendelsfohn u. ſ. w. vollftimmig fpielen hören; ja die Aufführung ganzer Opern in mander Kleinen Stadt ift dur die Mitwirkung der Militärmufit möglich ge: worden,

Das Beitreben, die mufifaliiche Kraft und Bildung in der Armee immer mehr zu erhöhen, findet feinen Gipfel in der Ein- beziehung der Vocalmufif. Die Rückſicht auf den Geſang iſt im Militär jo felten, daß unfer Wink leicht befremden fann. Dennoh fcheint er ung mwohlbegründet, lehnt fogar ein wenig an praftiihe Erfahrung. ES find einige Jahre ber, daß in Klagenfurt ein italienifches Regiment ftationirt war, das unter feinen Gemeinen einen jungen Burjchen mit prachtvoller Tenor: ftinnme hatte. Der Regiments-Capellmeiſter hatte fi) die Mühe nicht verdrießen lajjen, den talentvollen »Lateiner« ein wenig zu bilden und ihn bei öffentlichen Productionen vorzuführen. Ich hörte ihn in einem MWohlthätigkeitöconcert und erinnere mich lebhaft des eigenthümlichen Anblids, als der junge Soldat in jeiner Montur bejcheiden vortrat und mit Eangvoller Stimme jeine italienifhe Arie vortrug, Man wußte nicht, ob er mit größerer Luft ſang, oder jeine Gameraden im Orcefter ihm accompagnirten. Eine Arie (aus »Sappho«) hatte ſogar einen furzen begleitenden Männerchor, der zum Theil aus Soldaten desfelben Regiments gebildet war. Diefe Anfhauung und manche Mittheilung des ftrebfamen Capellmeijter überzeugten mid, wie lohnend einige Unterweifung im Gejang bei Sol- daten, insbeſondere folder Nationalitäten fein müßte, welche von Natur aus mit muſikaliſchem Talent auögeitattet find. In der franzöfiihen Armee iſt Gefangsunterriht und Gejangsübung geieglich eingeführt; dieſe »Orpheons militaires« leiften mitunter ſehr Erfreuliche®. Der Geſangsunterricht kann im Soldatenleben nur einen Kleinen Wirkungskreis einnehmen,

Oeſterreichiſche Militärmuſik. 57

aber einen ſehr wohlthätigen. Wenn wir nicht blos die dienſt— liche Beſtimmung der Regiments-Orcheſter im Auge halten, ſondern deren Bedeutung als muſikaliſches Bildungsmittel der Mannſchaft, jo muß der Gedanke an den Geſang nahe liegen. Eine Auswahl kräftiger, beherzter Soldatenlieder, von dieſen friſchen, ſcharf zuſammenklingenden Männerſtimmen geſungen, wäre nicht das letzte Mittel, und eines der ſchönſten gewiß, Soldatenmuth und Soldatenfreude lebendig zu erhalten.

1854. Die Wiener Eoncert:Sailon 1853—1854.

Die Geſellſchaft der Mufikfreunde, die wir uns gern ala eine Art muſikaliſcher Statthalterei vorftellen, hat den oberften Posten in der Wiener Tonmwelt fräftig behauptet. Won großer Wichtigkeit ift der von der Geſellſchaft nunmehr voll: bradte Durhbruh aus den Schranken einer mißverjtandenen (weil einfeitig begrenzten) Glafficität zu höherem und freierem Standpunkt. Diefe Emancipation gefhah mit Maß und Klug: heit, jedoch mit jo bewußter Einficht in ihre Nothmwendigfeit, daß ein Rüdfall in das frühere ruffiiche Syſtem nicht mehr zu fürdten ift. Die Aufführung der »Tannhäufer-Ouverture« von Richard Wagner riß das Publicum endlih aus dem Miß— vergnügen, fortwährend von einer epochemachenden Ericheinung lefen umd hören zu müjfen, mit welcher man es doch in gänz— liher Unbefanntfchaft ließ. In Wien ift MWagner’3 Oper noch unbekannt, und füme wahrlid fehr zu Schaden, wollte man fte nah der Tannhäujer-Ouverture beurtheilen. Sie verträgt im Grunde feine Trennung von der ganzen Oper. Aus lauter Motiven der Oper nach der Ordnung der Tertenttwicdlung zu: fammengejeßt, wird fie in ihrer dramatifchen Bedeutung ſchwer veritändlich. Wenn aber ein Orcheſterwerk Hebel des Verſtänd— niſſes bedarf, welche außer ihm ſelbſt liegen, wenn es, um zu gefallen, die Kenntniß deſſen vorausſetzt, nicht blos was es tit, jondern eines Andern, was es bedeutet, dann fteht es um jeinen mufifalifhen Werth Thon bedenklih. In der That ift die Tannhäufer-Ouverture als Compoſition unerquicklich,

Die Wiener Goncert-Saifon. 59

wenn gleich ihre theils geiftreiche, teils grelle Inftrumentirung Sntereffe erregt. Der einleitende Bilgerhor it unbedeutend, feine (erfte) Figurirung mit herabhüpfenden Biolinfiguren ge= ſchmacklos. Biel charakteriftifcher klingt das fich anichließende Allegro mit dem dämoniſch aufiteigenden Viola-Motiv. Es be— gleitet in der Oper das zauberhafte Bachanale im Hörjelberg und ift auf der Bühne von großer Wirkung. Was aus diejer Venusberg-Muſik in die Ouverture aufgenommen erjcheint, tit auch an fih das Befriedigendite in Erfindung und neuen In— ftrumentaleffecten. Das zweite Allegro-Motiv (Tannhäuſer's Lob: lied auf Frau Venus) ift trivial, gejungen oder geipielt. Der Theil, wo die Ouverture ſterblich oder befjer: künſtleriſch Schon todt ift, wenngleich fie da den höchſten äußeren Glanz prätendirt, ift ihr langer, dur) Monotonie und Lärm ermüdender Schluß: ſatz, eine ſtyliſtiſche Trivialität, welche den Claviereffect der »Umfpielungen« auf das Orchefter überträgt. Die Ouperture wird muſiviſch zufammengefeßt, anftatt organifch entwidelt. Das Ungeihil in Bewältigung ſymphoniſcher Form theilt Wagner mit feinen Grafeind Meyerbeer. Diefe und manche andere Achnlichkeit maht und Wagner’3 Abſcheu vor Meherbeer pſychologiſch erſt recht begreiflih. Wagner hat zu feiner Tann: "häufer-Duverture ein erflärendes Programm felbit verfaßt, das, etwas ftarf finnlichen Inhalts, mit jener läftigen Schwülitigfeit geichrieben ift, welche die Lectüre der Wagner'ſchen Schriften zu einem wahren Mühfal macht. Die Beigabe eines Programm war an und für fi ein Fehlgriff, weil fie die abgetrennte Aufführung der Duverture geradezu autorifirt und fie in das zwetdeutige Genre der Programm-Muſik reiht. Der Hörer wird erjuccht, da3 im Programm geichilderte »Bild fi zuvor genau einprägen zu wollen, weil nur dann die Anhörung felbit das richtige Verſtändniß bewirken kann«. Man fieht, wie dieje Ein- ladung abjihtlih von dem mufifalifchen Gehalt zu Gunsten des dramatiichen ablenkt, aljo einen für ein Orcheiterwerf ganz un— gehörigen Maßſtab und octroyirt. Die Ouverture hat bei der Mehrzahl der Hörer durch ihren maffenhaften, fremdartigen Glanz Beifall gefunden, von Seiten der Kritik einhellige Miß— billigung erfahren. Indem fie aber zu Prüfung und Grörterung

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veizte, zu Antheil und Parteiung aufrief, brachte fie neues Leben in die Erſtarrung unferes mufifaliihen Tagewerkes. Und das iſt's, was ung vor Allem Noth thut. Ja wäre durch die Vor: führung Richard Wagner's auch nicht? anderes erreicht, als die Megräumung einer Schranke mehr, die und von dem geiftigen Großhandel Deutſchlands trennt, jo hätte die Wirkung des Gebrachten deſſen Werth zehnfach aufgewogen.

Dieſes ſtete Benetztwerden von der künſtleriſchen Strömung der Gegenwart iſt für die muſikaliſche Bildung einer Großſtadt zu nothiwendig, um nicht jelbit mit Opfern erftrebt zu werden. Gin ſolches Opfer ift die theilweiſe Beſchränkung der Glaifiker, deren Meifterwerfe dem Mufikfreund nicht nur durd zahllofe Aufführungen, fondern überdies durch fortwährenden häuslichen Verkehr (in allen möglichen Arrangements) jo in Fleiſch und Blut übergegangen find, daß durch die Häufigkeit ihrer Wieder: holung wenigſtens fein dringendes Bedürfniß mehr zu erfüllen iteht. Ob man an entzüdenden Klängen durch alle Ewigfeit jih nicht jatt hören könne, darüber wollen wir hier nicht ftreiten. Doch wollen wir eingeitehen, daß dieſes an drei große Namen feftgenagelte Entziiden und etwas verfümmert wird, wenn wir auf die Frage nad) den beiten Werfen der Gegenwart immer die ftereotype Antwort hören: das fennen wir hier nicht. Nicht die blinde Gier nad) Abwechslung iſt e8, jondern das Geiek einer zujammenhängenden Bildung und die Eigenthümlichkeit unferer Kunſt jelbit, ihre Formen zahlreich und jchnell zu ver: brauchen, was in der Mufif mehr ala anderswo das Verlangen nah friicher Nahrung wachrufen muß. Darım wird es uns nur zum Wortheil gereihen, wenn wir die längitgefannten größten Sterne einmal weniger betrachten, um den Blid auf neue, jei e3 auch minderen Nanges, zum eriten Dal zu Ienfen.

Außer R. Wagner wurde von mufifalifchen Zeitgenoſſen nur nod Ferdinand Hiller und zwar mit feiner Ouverture zu »Phädra« berüdjichtigt. Sie war ein treue Abbild von Hiller’3 Muſe jelbft, die uns auf das Liebenswürdigite anzieht, jo lange ihre feinen, finnigen Gefichtözüge fi) nicht gewaltiam zu tragiicher Leidenschaft anfpannen. Robert Shumann wurde troß der ausdrüdlihen Zufage der Ankündigung nicht vorge:

Die Wiener Concert:Saifon, 61

führt. Man ſollte füglich nichts veripredhen, was man nicht auch zu Halten geſonnen ift. Noh immer hat die Gefellichaft der Mufiffreunde nicht Eine Note diejes bedeutenditen der lebenden Inftrumentalcomponiften gebracht. Diefer mächtige und liebenswürdige Geift ift durch die grauenvolle Nacht, die fich über ihn gejenft, den Leidenfchaften des Tages entrüdt worden. Den Werfen des Sranken, vielleicht geiſtig WVerblichenen, wird eine ruhigere Würdigung zu Theil, und wenn fie nunmehr dem Herzen der Nation näher treten, jo kann man jich über ein- zelne Höchſtſcharfſinnige tröften, welche mit Befriedigung in Schumann's ſchönſten Mufifen die Keime feines jegigen Unglücks nachzuweiſen lieben. Beethoven war durd die 2, 6. umd 9. Symphonie, dann durch daS Klavierconcert in Es. Seitens der »Gejellichaft« vertreten. Zählt man hierzu acht Vorftellungen de3 »Fidelio« im Opernhaus, die Vorführung des Violin— concerte® in D durch Vienxtemps, die zahlreichen Kammer— mufifen in den Quartett-Soiréen, Liedervorträge von Herrn Ander, endlich die unausbleiblichen Sonaten in Cis-moll und F-moll durch Fräulein Staudach und Herrn Goldſchmidt, fo wird man diefe Repräfentation Beethoven's in Einer Saifon rühmend anerkennen müffen. Sie allein wäre ſchon ausreichend, das alte Geſchwätz von der »ausſchließlichen Trivialität« des Wiener Mufiflebens zu entfräften, daS foeben wieder von Herrn Fr. Brendel in feiner »Mufif der Gegenwart« beiläufig gejagt einer Verwäſſerung der Richard Wagner'ſchen Grund— fäße durch die echt Brendel’iche Ignoranz und Geiftlofigfeit neu aufgewärmt wird. Die Trauercantate »Gotted Zeit« von 3. ©. Bad, das Ave verum von Mozart und dejien Sym— phonie in D waren fehr gute Nummern, die Vorführung der » Struenfee-Mufit«e von Medyerbeer rechtfertigt fich durch den blendenden Glanz dieſes Namens. »Struenſee« beiteht fait nur aus Zügen raffinirtefter Effecthafcherei, ohne das Gegengewicht echter Größe und Poeſie. Der krankhafte Zug, der in allen Mehyerbeer'ſchen Werken herricht, ift in der Struenſee-Muſik zum vollkommenen hippofratifchen Geſicht ausgebildet. Hier iſt Alles mit einer Abfichtlichfeit erflügelt und gemacht, daß man feinen Augenblid der Muſik und ihren Gegenftand mit vollem Antheil

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jih hingeben kann, fondern gequält durch den totalen Mangel an Aufrichtigkeit fi) wie von einer glänzenden Lüge abmwendet. Struenjee dünft und das gemachteite, unerquidlichite Werk des geiftreihen Mannes. Die Ouverture ift aus früheren Jahren jattfam befannt. Auch die unjterblichen Kritiken find uns nod) erinnerlih, welche damals dieſe ungefüge, weder bedeutend erdachte, noch ſchön disponirte, mehr grell als pikant inſtru— mentirte Muſik Mendelsſohn's »Fingalshöhle«, Beethoven's »Leonore-Ouverture« und ähnlichen Kleinigkeiten gleichzuſtellen nicht errötheten. Zeigt doch Meyerbeer in dieſer muſiviſch zu— ſammengeſetzten Ouverture nur abermals, daß er mit allem Geiſt und aller Mühſeligkeit nicht im Stande iſt, eine größere Inſtrumentalform zu erfüllen und zu beherrſchen. Er bedarf unentbehrlich des Wortes, aus dem er einen muſikaliſchen Inhalt herauszieht, ein für fich jelbit redendes Inſtrumentalwerk wird er niemals jchaffen.

Aus der Muſik zu Struenjee, welche fich theils zu jelbit- ftändigen Zwijchenactfägen außbreitet, theil3 die Handlung bes gleitet (Mari, Chor, Aufruhr), theils endlich in die Worte ſelbſt melodramatifch eingreift, ift der Chor, »Held Chriſtian ſtand am hohen Maſt« (nad) einem dänifchen Volkslied), bei weitem das friicheite wirkſamſte Stüd. Meyerbeer benükt es im Verlauf des Trauerfpiel® als mufifalifches und dramatifches Motiv jehr häufig, nach Art des Iutherifchen Chorals in den Hugenotten und ähnlicher Stereotypen. Schade, daß auch diejer fräftige Chor durch echt Meyerbeer'ſches Raffinement, 3. B. eine nätelnde Obovebegleitung, entjtellt wird. Won größeren Mufik- jtüclen enthält Struenſee ferner zwei Entre-Actes, den »Hofballe«, muſterhaft geſchmacklos, geſucht, ganz unſchön, dann eine »Dorf- ichenfe«. Lettere hätten wir, wäre und nicht ein Programm zur Hand gewefen, unbedenklich für einen Herenjabbath gehalten. So foll fi Ländliche Fröhlichkeit ausiprehen? Die darauf: folgenden Verſe Seidl's machen zwar eine fürdhterliche Schilderung von der Verfunfenheit des dänischen Volkes, allein nach Meyerbeer muß es aus lauter Teufeln beitanden haben. Auch der Trauermarſch zu Struenfee’s Hinrihtung, mit feinem wigig gebrochenen Dreiflang, hat (für den heroiichen Stoff

Die Wiener Concert:Eaifon. 63

ganz unpaſſend) einen wahren Galgenhumor. An entiprechenditen und einfachiten erichienen und die fleineren melodramatiichen Stücde, namentlih in den legten Acten, wie denn Meperbeer befanntlih folche Kleine Formen trefflih auszufüllen veriteht. Selbit in das große Aufheben, das mit der Inftrumentirung des Struenjee gemacht wird, fünnen wir nicht unbedingt ein— ftimmen. Denn abgejehen davon, daß wir uns mit dem Begriff einer an fih jchönen Inftrumentirung, losgetrennt von dem Werth des injtrumentirten Gedanfens, nicht befreunden können, finden wir das Orcelter im Struenjfee wohl glänzend, über- rafchend, im Einzelnen neu und geiftreich, oft aber, ſehr oft bis zur Verzerrung grell und geſucht. |

Bon einheimiihen Tonfegern hat die Gejellichaft nicht? aufgeführt, diefe zeigten fi blos hie und da mit einigen Stleinigfeiten. Nur von Herrn 3. Aßmayer erſchienen zwei größere Werke, ein Oratorium und ein Streichquartett, zur allgemeinen Bejtürzung.

Heberreich war in diefer Saijon eine Compoſitionsgattung vertreten, welche gewöhnlich nur einen engeren Kreis von Muſik— freunden zu fejjeln pflegt: die Kammermufif. Es gab nicht weniger al ein und zwanzig Quartett-Soiréen, zuſammen mit drei und jehzig Nummern. Das »Hellmesberger’iche Duartett«, das fich einer verdienten, aber bisher durch feine Vergleichung controlirten Beliebtheit erfreut hatte, erhielt plöglid in Müller und Vieurtemps zwei Nebenbuhler von eminenter Bedeutung. Wenn und die Gebrüder Müller daS Quartett von Geite des eracten Zufammenjpiel® in einer Vollendung vorführten, wie fie ein zweites Mal nicht wieder vorfommt, jo war es Bieurtemp3 gegeben, dur) den hinreißenden Vortrag der PBrimftimme altbefannten Quartetten den Geift einer neuen imponirenden Individualität einzuhauchen.

Dem Luxus an Quartettmufit fteht die troitloje Arm— jeligfeit gegenüber, mit der heuer abermald das Oratorium vertreten wurde. Wir hatten im vorigen Jahre gut prophezeien, daß wieder Haydn's »Schöpfung«e und eine eimheimilche Mittelmäßigkeit fich ablöfen würden. Die »Schöpfung» erſchien überdies in jo abfchrecdend fchleuderifcher Aufführung, daß jelbit

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in janfteren Gemüthern die Frage lebhafter aufitieg, ob dieſes Gebahren Tänger fortdauern könne. Das religiöfe und das äfthetiiche Bedürfniß vereinigen fi) würdig in dem Verlangen nad) der Vorführung jener monumentalen Tonmwerfe, in denen die heiligen Geftalten der Bibel aus der weihevollſten Ver— tiefung deutſcher Muſik jo mächtig emporfteigen. Gebt ums endlih Bach und Händel!

Vorzüglih begünftigt war die Saiſon in Betreff der Virtuoſen. Bekanntlich wünſcht man deren fehr gute und fehr wenige. Denn nur jehr wenige find wirklich jehr gut. Das von der Tageöfritif beinahe jedem Virtuoſen geipendete Lob, es fei ihm die Bewältigung techniiher Schwierigfeiten nur Mittel zu höherem Zweck, ift unter ſechs Fällen dreimal erlogen. Es bezeichnet aber ſelbſt im verdienten Fall noch lange nicht jenen legten Höhenpunft der Birtuofität, wo dieſe, ſchöpferiſchen Potenzen ebenbürtig, den vollen Schein der Soupveränetät erreicht. Diefen Gipfel, der einige taufend Fuß über der Vir— tuoſenfläche ragt, erbliden mir erſt da, wo vollendete Technif von einer jo eminenten Individualität getragen wird, daß dieſe jedes Kunſtwerk wie ein jelbitgedichtetes, alfo mit dem ganzen Kraftzuichuß der eigenen Verjönlichkeit, auszuftrahlen vermag. Mie ſchön die möglich fei, war und vergönnt von Jenny Lind zu erfahren.

Um Alles zu vereinigen, fehlte ihr auch nicht die lebte Beglaubigung bedeutender Phänomene: daß fie zu Principien- fragen anregen. Jenny Lind hat wiederholt den Streit ver- anlaßt, ob und immiefern die Virtuofität productiv genannt werden könne. Wenn man das Spreu mäßigen Geſchwätzes entfernt, jo läßt fi) daraus eine für die Kunſtwiſſenſchaft nicht unfruchtbare Anſchauung gewinnen. In der Aeſthetik, vornehmlich der mufifaliichen, find die Morte »Production und Repro— duction« zu feftftehenden techniſchen Ausdrüden geworden, welche den Gegenfat zwifchen der Thätigfeit de8 Componirens und des bloßen Vortrages der Compofition einfach bezeichnen. In diefem Sinne tft an der unfehlbaren Anwendung beider Ausdrücde nichtd zu deuten noch zu mäfeln. Fallen wir jedoch ımd nichts hindert und daran den Begriff des Pro—

Die Wiener Concert:Saijon. 65

ductiven höher, nämlich als etwas mit jchöpferiicher Kraft Thätiged, das große Wirkungen zurüdläßt und zwar nit aus Nichts Etwas, wohl aber ein Nicht? zu Etwas machen kann, dann ift die Virtuofität in ihrer höchſten Bildungsform ungleich productiver zu nennen, als eine mittelmäßige Thätigfeit wirf: fihen Hervorbringen?. Wenn Jenny Lind Bravourarien oder Taubert’fhe Lieder fingt, jo ift es mit die Höhe des mujikaliichen Gedanken: an ſich, was die außerordentliche Kraft folder Schönheitsoffenbarung erzeugt, jondern die Hingebung, mit welcher die Künſtlerin diefe Compofitionen in fi, alfo in einer höher begabten Fünftlerifchen Perſönlichkeit dergeftalt hegte und nährte, daß fie fie volljtändig individualifirt, ſomit bereichert wiedergibt. Für Jenny Lind find die vorzutragenden Stüde nicht blos ein Ziel, daS zu erflimmen, jondern geradezu Stoff, der im Sinn eines ebenbürtigen oder überlegenen Geijtes zu formen ift. Sie verfährt damit, wie der fchaffende Künſtler mit dem Rohſtoff, alſo productiv.

Hatte die Geſangskunſt uns in Jenny Lind ihre erite Größe gejandt, jo that die Virtuofität des Violinjpiel® dasſelbe in der Perſon Vieuxtemps. Wie jene die mufifaliiche Ver- flärung echter Weiblichkeit, jo ift diejer durchaus Mann in jeder jeiner fünftleriichen Menßerungen. Indem er den Ton immer tief an der Wurzel faßt und mit majeftätiiher Bogen- führung weit in die Runde fchiet, hat er die technifche Zauber: formel gefunden, eine Mufif groß, machtvoll, männlich Hinzu- itellen. Auch er holte Beethoven’ und Mendelſohn's Eon- certe, Haydn’3 und Mozart's Quartette, Bach's Giaconna ihöpferifih aus fich heraus wie eigene Gedanken und bot uns damit Kunftgenüffe, deren Eindrud nie verduftende Früchte trägt. Vieurtemps' Programme ließen Claffifhes mit Elegantem wechſeln und blieben wenigitend von Schlechtem frei. Seine eigenen Gompofitionen vereinigen Züge von Geiſt und Poeſie mit großer Kenntniß der muſikaliſchen Mittel, ohne eigentlich itarfes jchöpferifches Vermögen.

Den Abend, al PVieurtemps (im Theater an der Wien) Mendelsſohn's Goncert fpielte, eröffnete Herrn Suppe’ Orcheſter mit Mozart’3 Ouverture »La vilanella rapita«, welche

Hanslick. Mus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 5

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hier noch gar nicht, oder wenigitens nicht innerhalb des Ge— dädhtnißfreifes unferer Generation aufgeführt worden war. Das Programm hatte die Ouverture nicht genannt und fo ging denn das fleine, aber anmuthige, jedenfalls Hiftorifch jehr interejfante Jugendwerk des Meiſters ganz unbeachtet vorüber. Wie klug handelt der Mufil-Enthufiaft bei Beranger, welcher vorjorglich Drdre gibt:

»Et vous, gens de l’art, Pour que j’en jouisse, Quand c'est du Mozart, Que l’on m’avertisse!«

Nach Lind und Vieurtemps ift es vorzugsweiſe Julius Stod- haufen, dem wir Erfreuliches zu danken haben. Ausgeftattet mit einer für unfere fchreiluftige Zeit außerordentlihen Schulung der Stimme, feinem muſikaliſchen Verſtändniß und herzens— warmen Ausdrud hat er und in einer Neihe glänzend auf: genommener Goncerte wieder Gejang gegeben. Voll auöge- bildeter Grazie war fein Vortrag, der (nah Marr »in fi jelbft vertrodnenden«, nad unjerem Geſchmack liebenswürdig ftattlihen) Mufif von Bodgeldieu; und die rein Inrifchen Ge— fünge Schubert's, Schumann’s ımd Meendeldfohn’3 haben mir ihon heller Elingen, aber faum befjer fingen hören. Bathos und Humor heißen die beiden Endpunkte, die Stodhaufen verjagt blieben; was zwiſchen ihnen liegt, hat er meilterhaft cultivirt.

Bon Geſangskünſtlern wäre noh Herr Géraldy zu nennen, der und weniger durch den abjoluten Werth feiner Leiftungen anzog, ald durch die fpecififche Parifer Art, mit der er die nationalſten Mufilformen feiner Heimat vortrug. Er vereinigte in bewinderungswürdigem Grad die drei dazu noth- wendigen Eigenichaften: halbruinirte Stimme, virtuofe Decla: mation und franzöfifhes Blut.

Eine Beiprehung der Sängerin Maria Cruvelli ſcheint uns mehr in das Fach des bildenden Künſtlers zu gehören. Die ſchönen, ſtatuariſchen Züge dieſer verjüngten »Bavaria« wußten Erwartungen zu erregen, welchen ihr ſchwacher Geſang nicht gerecht werden fonnte. Herr ©. Hölzl, der abermals mit

Jenny Lind. 67

der Miſſion betraut war, in fremder Leute Concerten ſeine eigenen Lieder zu ſingen, hat ſeinen großen Verdienſten um die Erheiterung des Publicums diesmal noch ein Meiſterſtück literariſch-kritiſcher Exegeſe beigefügt. Schiller's »Mädchen aus der Fremde« war bekanntlich bisher ein Zankapfel der poetiſchen Auslegefunft, welche bald den Frühling, bald die Liebe, bald die Poefie darunter verftanden mwiffen wollte, bis Herr Hölzl nunmehr durch feine im ftrengen Jodlerſtyl gehaltene Compofition des Gedichte unwiderleglich entichieden hat, daß mit dem Mädchen aus der Fremde« eine fteirtfche Sennerin gemeint ift. Die Virtuofen Königslöw, W. Neruda (Violine), Braga, Schmidt (Cello) und Terfhad (Flöte) find in einer Meberficht nur dem Namen nad, wenn gleich nicht unverdienſtlich zu nennen. Das Clavierſpiel war im der verfloffenen Saiſon quantitativ ſtark vertreten, ohne jedoch eine einzige bedeutende Verjönlichkeit aufzumeifen. Auf Satter's Tajtenftürme folgten Willmer's trillernde Seufzer und die niedlichen Handarbeiten der Fräulein Staudad, Kern und Fri. Herr Leopold v. Meyer liegt außerhalb unferer Beiprehung, da feine auf: fallend Heitere Art zu jpielen und zu componiren offenbar nur ausdrüden will, daß er die Mufif nicht ala Kunft, fondern als eine gejellige Fertigkeit zur Erheiterung guter Freunde betrachte. Zulegt erichien, von dem Lichtglanz feiner Gattin Jenny Lind zugleich erhellt und verdunfelt, Herr Otto Goldfhmidt. Er wandelt matten Schritte® auf edler Bahn.

Dennn Find.

Senn Lind hat nad) fiebenjähriger Abweſenheit wieder in Wien gejungen. Beſtünde die Aufgabe der Kritif wirklich nur darin, jede Sunftäußerung mit anatomischen Meffer zu analyfiren, am liebiten, um dem gewöhnlichen Auge verborgene Störungen und Lücken fcharffichtig hervorzufehren, dann hätten wir Jenny Lind gegenüber kaum etwas anderes zu thun, ala einfach zu fchmweigen. Unferem Gefühle nad, fteht e8 aber dem Kritifer wohl zu, über Erſcheinungen, deren vollendete Schönheit

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den Lichtfranz höchfter Begabung heller als alle8 dem Aehnliche audjtrahlt, über Erſcheinungen aljo, wie jie günstigen Falles in hundert Jahren einmal fommen, nicht? anderes außzufprechen, als die Freude, fie miterlebt zu haben. Dem ordentlichen Ge- ſchäfte der Kunftkritif kann nur das Artiftiiche, ſei es in weiteſter Bedeutung, unterliegen. Phänomene aber, in welchen eine bisher unerhörte Höhe der Kunſtvollendung, ihre jelbititändige Be— deutung verlierend, nur zur nothwendigen, organifchen Aeußerung einer ganzen, wunderhaften Perſönlichkeit zurückweicht, nähern ih den großen Schönheitsoffenbarungen der Natur, vor denen man blos ftille ftehen und dankfreudig jagen kann, daß fie da find. Daß es eine ftarfe Ausnahmzftellung ift, die wir damit der fritiihen Verpflihtung zugeitehen, befennen wir. Sie ent: ihuldigt fih nur durch die nicht minder ftrenge Auslegung der veranlafjenden Ausnahmen: für unfere Grfahrung iſt im Fach der reproducirenden Tonkunſt Jenny Lind die Einzige, auf welche das Gejagte Anwendung leidet. Wir ſprechen damit im Grunde ganz dasſelbe Gefühl aus, welches in der ſchwärmeriſchen Faffung zahllofer Kritifen und Feuilletons dem ruhigen Leſer hie und da bedenklich erjcheint.

Da unjere Anfihten glüdlicherwveife niemals in dem Geruch der lleberfhwenglichkeit, jondern eher in dem der Nichternheit itanden, jo haben wir hoffentlich) mit unjerem heutigen Urtheil nichts gewagt. Daß jeit den fieben Jahren der leichte Schleier über dem Organ der Sängerin fi noch etwas verdichtet, Die Höhe an Leichtigkeit und Kraft ein Geringes eingebüßt Hat, fommt bei ſolchen Wirkungen gar nicht in Betracht. Diefe jieben Jahre, welche und mande bedeutende Künftlerin vorge: führt, haben uns darin nur bejtärkt, daß die Lind nicht nur mehr ift, als jede andere Sängerin, fondern geradezu ander. Wir meinen, daß die Vergleihung nicht einen bloßen Unter: ihied der Größe, fondern beinahe der Gattung herausfühlt. Dieſe Durchgeiſtigung und Durchfühlung jedes einzelnen Toneg, wie der Grundftimmung der ganzen Gompofition find weder nachzuahmen, noch zu bejchreiben.

Jenny Lind (fie verzeihe, wenn wir »Frau Goldihmidt« oder twie das Programm einmal zur Abwechslung jagt Madame

Senny Lind, | 69

Goldſchmidt« nicht über die Lippen bringen) Jenny Lind alfo offenbart uns auf eine faft räthielhafte Art die abſolute Schön: heit de8 Singen: an fih. Wir halten uns nicht mehr an das Gefungene, fondern laufchen nur dem Singen felbit. Wie jener alte König verwandelt Kenny Lind alle8 was fie berührt in Gold. Sie fang eine Arie aus Bellini's »Beatrice di Tenda«. Sit das dieſelbe Mufif, die wir fonft mit Grund matt und jüglih finden? Wie warmer duftiger Athen legt fie ſich uns um Bruft und Wangen. Wenn man dies leife, fichere Einjegen ded Tones Hört, der dann langſam und lange anfchwillt, um eben jo lang und langjam zu verhauchen, hierauf jene Baffage mit den fein ineinander verfchlungenen Serten: und Quarten- fprüngen, jo möchte man fragen, ob das menſchenmöglich ift? Und alles dies fo ſchlicht und befcheiden gebradt, daß man vor lauter Herzensfreude nicht zum Staunen fommt. Wenn andere Sängerinnen, deren SKehlengeläufigfeit zur höchſten inftrumentalen Freiheit gefchult ift, 3.8. die Viardot-Garcia oder 2a Grange derlei fingen, jo bleibt e3 immer ein mehr oder weniger glänzend überwundenes Kunſtſtück. Jenny Lind's Zaubereien erwecken in uns das Gefühl des Staunens nicht anders, als bereits getränkt von der Süßigkeit ruhigen Ge— nießens, ſo daß wir beinahe einen neuen pſychologiſchen Vorgang in uns erleben. Ueber allem war der Vortrag des Taubert'ſchen Liedes: »Ich muß nun einmal ſingen«. Wenn unſer Wort von der abſoluten Schönheit des »Singens an ſich« etwa be— fremdete, der höre die Solfeggien in dieſen drei Strophen. Als beiläufige Nachahmung des Vogelgeſangs hart an der Grenze der Muſik ſtehend, wird dieſes Flöten und Schmettern in Jenny's Mund zur entzückenden Schönheit. Der ganze wald— friſche Naturreiz jubelnden Vogelgeſangs kömmt uns hier auf dem unbegreiflichen Wege der äußerſten techniſchen Bravour entgegen.

In ihren folgenden Concerten hat Jenny Lind wieder ein Füllhorn bunter und duftiger Tonblumen über die ver— gnügten Laufcher im Redoutenſaal ausgeſchüttet. Mehr als Basen zu diefen Blumen, denn ald jolche felbft, erſchienen uns die Arien aus den »Puritanern«, dem »Türfen in Stalien« und

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der »Bielfa«, welde die Künftlerin mit dem Zauber ihrer Bravour ſchmückte und belebte. Die fchlichteren, aber deito innigeren Klänge deutſchen Gemüthes ertönten am herzlichiten aus R. Schumann’ Lied »An den Sonnenſchein«, Schu: bert's »Frühlingsglauben«, C. M. Weber’3 Cavatine in As (Agathe), endlih dem »Hirtenlied« und den »Sternen« von Mendel3john. Das waren fo entzüdende Feſte, daß der Genuß des Hörerd die nachträgliche Verlegenheit des Krilikers vollfommen verihlingt. Da die Sprade, unfähig den Klang einer Stimme und die feinfte Eigenthümlichfeit eine Vortrags zu befchreiben, hier niemals das Was, jondern höchſtens das Wie treffen und mit malenden Beiwörtern um die Sache her: umgehen fann, da jelbit die detaillirtefte Nahjchilderung eines Gejangd weder die Sicherheit, noch die Eriprießlichkeit der Analyje eines Tonwerkes erreiht, wo man, den Finger auf der Note, ein nimmer MWechjelndes und immer Gegenwärtiges erklärt, was könnte eine Kritit von der Lind viel mehr geben, als den äußerjten rohen Contour? Eine durch mehrere deutiche Blätter gemwanderte Beurtheilung der Lind hält fich lange bei der Beichränttheit ihres Genres auf und vergleicht darıım ihren Gefang mit der von Gutzkow fogenannten »XovelysLiterature, nämlich der goldbejchnittenen, ſüßlichen Lyrik von Putlig u. dgl. Daß der Kreis defien, wa Jenny Lind vollendet wiederzugeben vermag, dad Hochtragiſche, Heroiſche, Leidenichaftliche nicht umfaßt, ſondern hauptſächlich durh die Schönheitsform des Anmuthigen, Naiven, Sanft: elegiichen in weitelter und reichiter Bedentung erfüllt wird, das weiß Niemand beifer als fie felbit, die mit größter künſtleriſcher Selbitfenntniß ihr Programm aus dieſem reife wählt. Eine Kritit aber, welche in dem frifchen Lerchenjang Jenny Lind's nicht etwa die Verklärung deſſen wiederfindet, wovon der Wald erihallt, jondern nur »was fich der Walde, erzählte, eine Kritik, für welche die vollendete Künſtlerſchaft und herzenstiefe Innigfeit unferer Sängerin mit jener Buchbinderliteratur in einer Reihe fteht, die mit glatter Technik erlogene Gefühle ladirt, eine ſolche Kritik zeigt nur, wie jehr fie an dem jchlimmen Uebel frantt, da3 Echte vom Falſchen nicht unterfcheiden zu können.

Julius Stodhaufen. 71

Jenny Lind wurde in ihren Goncerten durch Klavier: productionen ihres Gatten Otto Goldihmidt unterftügt. Wenn die »Allg. Ztg.« es ein »unverzeihliches Unrecht« der hiefigen Kritik nennt, »Herrn Goldjchmidt über feine Gemahlin beharrlich zu vergejjen«, jo wollen wir diefen Handſchuh recht gern auf- heben. Sollte es wirflih fo unverzeihlich fein, neben Jenny Lind einen Bianiften zu überfehen, dem der Correipondent der »Allg. Ztg.« auch nur das dürftige Lob ertheilen kann, er jet sein ganz guter« (jo nennt man gern etwas nicht ganz Gutes), »fingerfertiger, nicht geſchmackloſer Clavierſpieler, der nur, wenn er einmal in's Gefühl Hineingeräth, nicht mehr leicht herauskommt, zieht, dehnt und manirirt wird«? Der Technik des Herrn Goldfchmidt fehlt es an Kraft und Bravour (der Trilfer, die Octavengänge find mangelhaft, die Linke Hand ungleich, der Anjchlag marklos), feinem Vortrag mangelt nicht die Nettigkeit und Glätte, aber jede Spur von Auffhtwung und Eigenthühmlichkeit. Nur Kleinigkeiten fpielt er ganz befriedigend, wie er auch einige (»Reverie«, »Etude«) hübſch componirt hat. Herr Goldſch midt ift ein merfwürdiges Gegenstück zu feiner Gattin. Während diefe der unbedeutenditen Compoſition indi— viduelles Leben einzuhauchen verfteht, verfommen die frifcheften Muſiken unter Herrn Goldſchmidt's Händen, wie Vögel unter der Zuftpumpe. Sie erwärmt immer, er läßt allzeit kalt; ſie wird immer begeifterter, er ſtets nüchterner. Man erinnere fich an den gänzlich wirkungslojen Vortrag der Finalläße von Mendelsſohn's G-moll-Eoncert und Meber’3 »Goncertitüde, Compoſitionen, die, gut gejpielt, hier immer einen wahren Jubel hervorrufen. Am Ende fpielte Herr Goldichmidt wirklich) »nicht geſchmacklos«, »fingerfertig«, »ganz gut«, troß alledem glitten diefe Lieblingaftüde an ung herab, wie Bergwaſſer über eine Fels— wand. Ind das hat keineswegs die Loreley mit ihrem Singen gethan!

Julius Stockhauſen.

Die Vorzüge von Stockhauſen's Geſang ſind nach zwei Richtungen hin höchſt bedeutend. Für's erſte hat ſich dieſer

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Künftler eine Schulung der Stimme erworben, die ihn befähigt, italieniihe und franzöftihe Coloratur-Arien mit einer jeltenen Geichmeidigkeit vorzutragen; ſodann befigt er für daS deutiche Lied ein jo inniges Verſtändniß, einen jo gemüthvoll finnigen Ausdrud, wie man ihn gleihfalls nur bei Sängern von vor— züglicher Bildung und poetiiher Begabung antrifft. Diefe Ver— einigung zweier meifthin nur getrennt vorfindlihen Kunftrich- tungen in gleich hoher Eultur: des glänzenden Coloraturgejangs und des einfachen Liedes, reicht wohl bin, Herrn Stodhaufen einen Ehrenrang unter den beiten deutichen Sängern anzumweiien. Einiger Hemmniß unterliegt Herrn Stodhaufen’3 Kunft nur duch die Beichränfung feines Organs, das zwar wohltönend und umfangreich, aber nicht kraftvoll und ausdauernd ift, und das er (der Baritonijt) obendrein durch Bevorzugung entjchie- dener Tenorlieder gern in die Höhe treibt.

Der Eindruf von Stodhaujen’® drei Concerten war ein überaus erfreulider. Man konnte fich des jeltenen Genufjes nicht erjättigen, eine vollkommen gejchulte Stimme, von warmen, poetiſchem Verſtändniß durchgeiſtet, die entzüdenden Lieder Mendelsſohn's und Schubert’3 vortragen zu hören. Es ift ſchwer zu entjcheiden, in welchem Liede der weiche, innige Vortrag des Concertgebers am gewinnenditen war; den meijten Eindruck ſchien Schubert’ »Müller und Bach«, dann defjen zartes »Ich frage feine Blume« zu machen. Nicht minder vor— züglih als im Lied ift Stodhaufen in jenem anmuthig cheva= leresfen, von leiter Empfindung überhaudten Romanzen-Ton, welchen die Franzofen (insbejondere in ihrer Tegtvergangenen Opernperiode) jo anziehend repräfentiren. Die Arie des Ro— dolphe aus Boyeldieu's »chaperon rouge«, jene des Seneſchalls aus »Jean de Paris«, endlich eine Arie auß »Le philtre« von Auber können faum feiner, geläufiger, correcter wiedergegeben werden. Für den italienifhen Bravourgefang fehlt Herrn Stock— haufen nur der Neiz eines fraft- und klangvolleren Organs. Im Fach der Ballade gab Herr Stodhaufen die wunderlich-grauen— hafte Tragif de8 Schubert’ihen »Zwergd« mit maßpoller Em: pfindung, wie fie dies hinreißend ſchöne Muſikſtück wohl verträgt. Eſſer's Ballade, »de3 Sängers Fluch«, hätten wir feuriger

Bieuxtemps. 73

gewünſcht. Es ſcheint, daß das rein Lyriſche in warmem, mäßig bewegtem Ausdruck Stockhauſen's eigentliches Element ſei. Den Preis des Abends trugen zwei Lieder von Robert Schumann davon: »Mondnacht« und »Frühlingsnaht« aus dem Eichen— dorffihen Liederfreis. Stodhaufen fang fie mit befonderer Wärme und Zartheit. Der fo leicht zu verwiichende Schmelz der Eihendorffihen Malerei blieb duftig auf jedem Worte haften.

Vieuxtemps.

Wie im Leben des Einzelnen ein leuchtendes Ereigniß ganze Strecken dürrer Alltäglichkeit zu erhellen und zu erwärmen pflegt, ſo preiſen wir auch im Kunſtleben eine Periode als reich, wenn fie nach viel Mittelmäßigem auch nur Eine impo— ſante Erſcheinung dargebracht. Das flattert dann wie eine Siegesfahne, die man in einen Steinhaufen geſteckt. Wir könnten auf die muſikalichen Productionen der letzten Wochen mit freu— diger Genugthuung zurückblicken, wenn dieſe Zeit auch nichts anderes geboten hätte als das Spiel VBieurtemps und die vollendete Aufführung der C-moll-Symphonie von Beet— hoven.

Was Vieurtemps betrifft, jo ift ihn zu Hören einer der ungetrübtejten Genüfje, die eine mufifaliiche Produktion bieten kann. Seine Technik ift jo unfehlbar und vollendet, wie fein Wortag edel, geiftvoll, ſchwunghaft. Das iſt ein Mann unter den PVirtuofen feines Inftrumentes: Wenn ich ihn für den erſten lebenden Biolinfpieler halte, dürften mir wohl nur wenige Stimmen, etwa zu Guniten $. Joachims, ent: gegentreten, der, jet auf der Höhe feiner Entwidlung ftehend, im Vortag claffifher Violincompofitionen das Unübertreffliche leiften fol. Geichviel, fo lange man feinen größeren gehört ald Vieuxtemps, kann man fih nur fchwer einen vorftellen. Bekanntlih zählt Vieuxtemps auch zu den beften modernen Gomponiften feines Inftrumentes. Seine Concerte find geiftreich, anmuthig, formfhön, mit größter Kenntniß der mufifalifchen

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Technik, namentlih mit feinem Sinn für Inftrumentirung com: ponirt. Zu den wahrhaft großen inftrumentalen Schöpfungen gehören fie trogdem nicht, und wenn ein hieſiger Sritifer Bieurtemp3’ D-moll-Goncert in eine Reihe mit Mendelsſohn's nnd Beethoven’: Biolin-Goncerten ftellt, jo hat er fih wohl zu ſtark ausgedrüdt. Vieurtemps' Gompofitionen find ganz eigentlih intereijant. Das Intereſſante fchließt immer eine ffeine Abweihung vom reinen Schönen in fi, und Diefer begegnen wir bei Vieurtemps faſt durchweg, ja oft gefteigert bis zur Bizarrerie. Seine muſikaliſche Schöpfungskraft iſt echt, aber nicht beſonders reich, dad Combinationsvermögen ungleich bedeutender. So jtoßen wir in der großartigen Anlage und feinen Ausführung des D-moll-Goncerte® auf viele geiftreiche Züge, die Hauptthemen Hingegen zeugen von feiner bejonders eigenthümlichen jtarfen Erfindung. Vieuxtemps' großed Talent hat zu innig mit Beethoven verfehrt, um nicht ein mächtiges Stück deutſcher Gediegenheit in fich ausgebildet zu haben, es wurzelt aber mit feinen feinften Lebensfaſern zu tief in der franzöfifhen Romantik, um deren bedenklichen Charakter lange verleugnen zu können. Dieje unbezwinglide Neigung zum Pikanten, ja Bizarren wird in dem (übrigens trefflid gemachten effectvollen) Rondo, das Vieurtemps hier zum erjtenmal jpielte, wohl niemand verborgen geblieben fein. Was Vieurtemps jo hoch über feine componirenden Gollegen hebt, ift feine aus— gebildete Fähigkeit, orcheitermäßig zu denken, und die künſt— leriſche Conſequenz, mit welcher er dieſe Totalität jelbit auf Koften des Virtuoſen in jeinen größeren Werfen überall borwalten läßt. Und jo dürfte er denn (Spohr ausgenommen) unter den jeßigen Biolin-Virtuofen jo gewiß der erite Come ponilt heißen, als er unter den Gomponijten der erfte Violin- Virtuoſe iſt.

Neftbetifche Rolizei.

Die abgelaufene Muſikſaiſon hat einige äußerliche Neue— rungen im Muſikleben gebracht, deren nicht genug gewürdigte

Aefthetiiche Polizei. 75

Wichtigkeit unſere Aufmerkſamkeit verdient. Es find dies mehrere, vorerit nur das Hofoperntheater angehende Maßregeln auf einem Gebiete, dad wir am liebiten »Aeſthetiſche Polizei« nennen. Das fremde Feenkind Muſik hat jo viel irdiiche Ver— fleidungen anzuthun und jo viel ftoffliche Appretur zu erfahren, wenn e3 mit einer Mehrheit von Menjchen verkehren will, daß jeden Augenblid eine Störung »von diefer Welt« es auß feiner Unbefangenheit und uns aus der Illufion herausreißt. Nur zu jelten jorgen wir dafür, daß die Reinheit des Kunftgenuffes dur) Präventivmaßregeln gegen äußere Störungen gejchügt, d. 1. daß äfthetifche Polizei gehandhabt werde. Die Intendanz des Hofoperntheaterd hat in neuefter Zeit die Wiederholung von Mujifitüden in der Oper verboten und damit das »da capo«, diejen ärgiten Feind ded dramatiichen Zuſammen— hangs, vernichtet. Wenn Arnold (im Wilhelm Tell) den Hen- fern jeines Vaters Rache geihworen hatte und mit den Freunden bereits zum Rütli geeilt war, wurde jo lange applaudirt, bis er mit dem ruhigſten Geftcht fich wieder hinftellen, die Erzäh— fung nochmals hören, darüber jehr erjchreden und neuerdings Rache ſchwören mußte. Don Juan ift mit Zerline Arm in Arm jeinem Schloß glücklich zugeeilt, er wird zurüd zitirt und muß von Neuem anfangen, die melodifhen Sclingen feiner Schmeichelei audzumerfen. Mit gezüdten Schwertern find Raoul und jeine Gegner eben auf einander eingedrungen, halt! fie müffen auseinander, die Schwerter wieder einjteden, und das Duell von Neuem beginnen, weil der Tenorift darin eine ſchöne Kraftftelle hat. Die Abftellung diejer Unfitte kömmt überdies allen Sängern jehr zu Gute, welche da3 verderbliche Glück Hatten, ihre anftrengenditen Stellen wiederholen zu müſſen. Sie hätten, fich mit der Zeit genöthigt geſehen, die hübſche Geihichte nachzuahmen, die und Livius (Hister. VII. 2) er: zählt. Als er nämlih in Rom nad) damaliger Sitte fein eigenes Stüd fpielte, wurde er dur den Applaus des Volkes ge: nöthigt, eine Lieblingaftelle jo lange zu wiederholen bis er heifer war. Da erhielt er die Erlaubniß, einen Sklaven zu nehmen, der dad Gedicht zu der Muſik abjang, indeß Livius jelbft nur die Geberden dazu machte.

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Aus demielben äfthetiihen Grundjag: der Aufrechthaltung der dramatiichen Illuſion fließt daS zweite, ebenjo dankens— werthe Verbot der Theaterintendanz, einen Sänger bei offener Scene heraudzurufen. Wie oft erlebten wir, daß der Held, der eben vor unſeren Augen jich eritochen Hatte, zurückkehren und unter großem Halloh artige Komplimente machen mußte. Da fol man in der Stimmung bleiben! Bei aller Werth: ſchätzung der Pietät, welche fi) zum Dank für den darftellenden Künstler gedrängt fühlt, fönnen wir ſolch ein Einhauen der: jelben in den Zufammenhang des Runftwerfes nur beleidigend finden. Fühlt fi) das Publikum nicht mehr durch die eigene Naivetät, welche den Darfteller über den dargeftellten Charafter vergißt, an ſolchen Demonftrationen verhindert, jo muß man fie ihm einfach verbieten. Das ift ganz eigentlich Polizei im Intereſſe der Kunſt, »äfthetiiche Polizeic. Die Direction des Hofburgtheaters ift noch un Einen Schritt weitergegangen umd hat den Zutritt zu den Sperrfißen während des Aktes ver: boten. Der günftige, wahrhaft funftpädagogiiche Einfluß folcher Mafregeln, welche aus der Einfiht in das Weſen äfthetifcher Erſcheinung hervorgegangen find, wird nicht außbleiben. In wenig Monden hat fi Alles an die anfangs beengende Vor: Ihrift jo trefflich gewöhnt, daß man die frühere tumultuarifche Exiſtenz faum mehr begreift. Wer feinen Lärm machen darf, hört aufmerffam zu; wem der Beifall bejchränft wird, der part ihn für die Würdigſten, und wer biöher blos in der Kunſt veracdhtete, was ihm vielleiht ſonſt als jein Höchſtes gilt, den Anftand, der lernt Achtung hegen vor der Eriheinung eines Kunſtwerkes und vor der Andacht eines Publicums.

Das Capitel von der äſthetiſchen Polizei iſt ſo groß, daß man einen Band damit füllen könnte. Ihre Paragraphe treffen nicht minder das Concert, wie dad Theater, fie er: innern die Künstler wie die Zuhörer. Won Seite der Künſtler dünft und das entjeglihe Probiren der Inftrumente zwischen den Sätzen einer größeren Kompofition ein SHauptvergehen gegen den äfthetifhen Anftand. Das Stimmen tödtet die Stimmung.

Aeſthetiſche Polizei. 17

Gegen die Angriffe geihmwägiger Nachbarn wird wohl immerdar nur das Recht der eigenen Nothwehr beftehen. Hin: gegen ſcheint und das ftörende Fortgehen der Zuhörer während der Mufif eines 8. im äfthetiihen Polizeicoder nicht unwürdig. Erleben wir doc) bei den ausgezeichnetiten Productionen, daß fie zum großen Theil von Leuten bejucht find, welchen das Herz niemal3 warm, die Suppe aber gleich falt wird. In einem Concert von jehs Nummern gibt es fünf anftändige Gelegen: heiten, früher fortzugehen; daß aber fanatiihe Hausfrauen | gerade noch die eriten 16 Tacte der Schluß-Symphonie anhören müjjen, um dann mit möglichitem Geräufch und barbarifcher Störung aller Signahbarn ein Wettrennen nad) dem häuslichen Herd zu beginnen, das entichuldige, wer es begreifen fann.

Schließlich habe ih nod Einiges auf dem Herzen über die hier jo beliebten Demonjtrationen im Theater. Was joll man dazu jagen, wenn in jeder Borftellung des »Fidelio« bei den Morten des Kerkermeiſters: »Er (Floreitan) hat eine jo rührende Stimme, die zum Herzen dringt«, ein Theil des Publicums in artigen Beifall für Herrn Ander auöbricht! Kann man brutaler aus der Stimmung herausgeworfen werden, als durch jo kindiſche Kourtoifie? Was find Dagegen die joge: nannten »politiijhen Demonftrationen«, wie fie früher jo gern im Burgtheater gemacht wurden, ſobald eine Stelle des Dramas jih auf unjere eigenen öffentlichen Zuftände deuten ließ! Als Lebenszeichen einer politifchen Ueberzeugung haben fie doch eine ganz andere, wenigſtens bedingte Berechtigung. Sole Demon: ftrationen dur raſches Auffangen und Beflatihen von An jpielungen finden wir zu allen Zeiten und an allen Orten, wo der Bevölkerung fein anderer legaler Ausweg gelafien ift, ihre politiihen Wünfche fundzugeben. Börne bewunderte die Fran— zojen, daß fie im Theater jede leiſe Anjpielung auf eigene Zuftände augenblidlih auffaffen und beflatihen. Das ilt mehr patriotiih als äfthetifch gefühlt. An fich bleibt jede Unter: bredung eines fünftleriihen Zuſammenhangs ungehörig, jede Tendenz Auffaffung unäfthetiich, welche nothiwendige Theile eines Gedichts aus ihrem Organismus reißt, um ihnen eine fremde, intereffirte Deutung zu geben. Es hat für und jederzeit etwas

18 1354.

Berlegendes, wenn in Dramen von Shakeſpeare oder Goethe politiiche Anspielungen aufgefpürt und beflaticht werden, welche dem hiſtoriſchen Geilt des Stückes miderftreiten. Allein jenes willkürliche »Unterbreden« und »Verwechſeln« geſchieht bier doch durch die lebhafte Anregung großer, allgemeiner Intereſſen; man bdemonftrirt zur Unzeit, aber nicht um einer Qappalie willen. Namenlos kindiſch ift aber die fieberhafte Sucht, einem Sänger, den man ja nad jedem Actſchluß feiern kann, ſchon während und auf Koften des Stüdes zu fchmeicheln. Zuhörer, die im Stande find, während des ergreifendften Vorgangs (wie es jene Kerkerfcene im »Fidelio« ift) in dem Helden des Dramas nur den Sänger N. N. zu fehen, die Bedeutung des Ganzen und die Weihe der eigenen Stimmung einer Heinlihen Schmeichelei zu opfern das find mit Einem Wort äfthetiihe Barbaren.

Nachdem für das Gelüfte diefer Barbaren handgreifliche Anfpielungen viel zu felten vorfommen, haben fie längft ein anderes unterhaltendes Auskunftsmittel gefunden, den Zuſammen— hang eines Stüdes zu zerreißen. Sie werfen während Des Spiels, meift in den herporragendften Scenen, etwas auf die Bühne, mitten unter die Darfteller, Es bleibt für die allgemeine Störung auf der Bühne und im Publicum ziemlich gleidhgiltig, daß da3 Geworfene meiſtens ein Kranz oder Blumenstrauß it. Süngft im »PBrofeten« konnten die Unholde ſchon um 8 Uhr die Blumen nicht halten; Fides niet im zweiten Act vor ihrem Sohn, für ihre Rettung dankt fie ihm, im tiefiten erfchüttert, bums! fehlägt ein centnerſchwerer Kranz zu ihren Füßen nieder. Man klatſcht, die troftlofe Mutter lächelt und fnirt verbindlich, zaudert, ob fie den Franz aufheben fol, der verzweifelnd hHingelagerte Sohn ſchwankt gleihfall® zwiſchen Galanterie und dramatifcher Wahrheit; furz, niemand hat mehr Fides und Johann vor fih, fondern nur Frau Efillag und Herrn Ander, und die dramatische Illuſion ift in muthwilligſter Weile vernichtet.

Durch dieſe Beifpiele aus jünfter Zeit wollten mir die Aufmerkſamkeit des Publicums auf einen Unfug lenken, der immer weitergehend, am Ende jeden äfthetiichen Genuß bedroht. Was die niedere Jagd auf Anfpielungen betrifft, fo kann

Aefthetiiche Polizei. 9

natürlih nur der gute Geſchmack des Publicums fie abitellen. Gegen die äußeren Störungen des jcenifchen Fortgangs hätte aber die Hauspolizei einzufchreiten. Mir zweifeln nicht, daß jemand, dem e3 einfallen würde, dem Floreftan einen Faſan in den Kerker hinabzumwerfen, ohne Aufihub Hinausgeführt würde. Warum darf er denn ungeftraft Kränze fchleudern? Für den dramatiihen Zufammenhang und die Stimmung des Zu: hörers ift die Etdrung ganz diefelbe. Die oberfte Hoftheater- Direction hat mand) wohlthätige Maßregel äfthetifcher Polizei in’? Werk gejegt: fie hat das Wiederholen von Mufikitüden, das Herausrufen der Sänger bei offener Scene verboten u. dgl. Möchten dieſe Hausgeſetze bald durch einen Baragraph vermehrt werden, welcher nad Art des römiſchen »De effusis et ejeetise die Scene vor den Geſchoſſen der Kranzbarbaren Thüßt, und jedermann, der etwas zu werfen hat, einladet, ſich damit gefälligit bi3 zum Zwiſchenacte zu gedulden.

1855. Orchefter:-Eoncerte.

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Durch die röhmiſche Campagna ritten einſt zwei junge Männer in begeiſtertem Geſpräch über Muſik und Poeſie. In der Verehrung für Shakeſpeare hatten ihre liebſten Gedanken fih eben begegnet, als der eine nachdenflih zum andern bemerkte: »Weißt Du, daß in »Romeo und Julie« Sich ein wunderboller Stoff für ein mufifaliiches Scherzo findet?« Der andere quälte jein Gedächtniß vergeblid. »Nun, was fonft, als Mercutios Erzählung von der Fee Mab!«

Sie kommt, nicht größer als der Edelſtein Am Zeigefinger eines Aldermans u. j. w.

Die beiden Jünglinge waren Hector Berlioz und Felir Mendelsjohn-Bartholdy. Ob der Eindrud dieſes Geſprächs eine Anregung mehr zu der reizenden Elfenmufif geweſen, mit welcher Mendelsfohn bald darauf Shakeſpeares »Sommer: nachtstraum« illuftrirte, können wir nicht behaupten. Berlioz hingegen, aus deſſen Munde wir diefe Mittheilung haben, ift jener erſten Inſpiration treu geblieben, und hat feiner »dra— matiihen Symphonie«s Romeo und Julie die Epifode von der Fee Mab ald Scerzo einverleibt.

Wir hörten dieſes Scherzo im erften ⸗ÿPhilharmoniſchen Concert«, das Herr Kapellmeifterr Edert am verflofjenen Sonntag dirigirte, Troß der fichtlichen Befremdung, welche bei

Orcheſter⸗· Concerte. sl

den mwunderlihiten Stellen über die Mienen der Zuhörer alitt, war der endliche Eindrud des Stüdes doch ein jo fiegreicher, dag man es ftürmiich zur Wiederholung begehrte. In der That wäre es ichwer, fich der bezaubernden Wirkung diejes Tonſtückes zu entziehen. Obgleih in einem falſchen Gebiet, mehr neben al3 in ber Muſik ſtehend, bewegt ſich Berlioz' Scherzo mit einer teltenen Fülle von Geiſt und Leben. Nur wenige Partien in der umfangreihen Compofition treten und mit überfichtliher Klarheit entgegen, kryſtalliſiren fich gleichſam zu feiten Gebilden. Das Meiite ſchweift phantaftiich, wie jelig unzuſammenhängendes Geträume, im Wirbel vor uniern ers ftaunten Sinnen. Wenn es eine jichöne Initrumentirung an ji gäbe während doch immer etwas da jein muß, was inftrumentirt wird? fo wäre die »Fee Mab« die hödite Leiltung der Ordeiter-Compofition. Es ilt fajt lauter Klang: wirkung, was uns darin feſſelt, die geheimnißpolliten und ſchaurigſten, die luſtigſten und leichtejten, die prachtvollſten und mächtigſten Klänge find darin aufgeboten; nicht wie von einem fundigen Gapellmeijter, nein, wie von einem Magier, der ver: borgene Kräfte beſchwört. Die feinen Fäden der Sommernadhts: traum=Duverture erjcheinen grob im Vergleich zu dem muſi— faliihen Spinnengewebe der »Fee-Mab«. Wie dies faum ver: nehmbare Flüjtern und Lispeln allmälig ftärfer und lebendiger anjchwillt, bis es fich endlich auf höchiter Höhe zu einem phan— taftifch-tollen Carneval entfefjelt, wie dann zu den gedämpften, gleihjam meit entfernten Schlägen der großen Trommel und Beden die feine, Scharfe Metallftimme zweier Cymbeln erklingt, das iſt von einer Klangwirkung, wie feiner der jpäteren Nach— ahmer Berlioz’ fie wieder erreicht hat.

Das vierte Geſellſchaftsconcert der dfterreichifchen Mufikfreunde brachte Spohrs »Weihe der Töne« zur Auf: führung. Es bat und herzlich gefreut, daß Spohr, welder feider feit einer Reihe von Jahren von unjerer Opernbühne gänzlich verbannt ift, dem Publicum einmal wieder in Erinne— rung gebracht wurde. Die »Weihe der Töne« erichien, wenn es ſchon einer Symphonie galt, ald die beite Wahl; weder die früheren Symphonien des Meifterd Stehen ihr gleih, noch

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biel weniger fönnen feine fpäteren damit verglichen werden. Da hören wir nod dem edlen, liebenswürdigen Sänger, der zwar über feine elegiihe Subjectivität in feiner Note hinaus kann, fie und aber gar warn nnd finnig and Herz legt. Das iſt noch derfelbe Spohr, der in Tönen dichtete. Wie traurig hat er fich in feinen fpätern Werfen verändert! Seine Doppel- iymphonie, welche deu Titel »Irdiſches und Göttlihes im Menjchenleben« führt und in 3 Süßen »Die Finder: welte, »Die Zeit der Leidenjchaften«e und den »Gieg ded Göttlihen«e fchildert, dimfte und daß non plus ultra einer troftlo8 verfiegten Vhantafie. Und doch fam hinterher noch ein plus ultra in Form der neueften Symphonie, einer mufifaliichen Paraphraſe der vier Jahreszeiten. Sie bringt die traurigite Kunde, wie ein ſonſt aus fo vollem Herzen jchaffender Ton: dichter verfümmern und in findifch greifenhafter Geſchwätzigkeit feine eigenen Redensarten unaufhörlih wiederholen kann, nicht merfend, daß ihnen der duftige Sinn von ehedem längſt ent- flogen. Unſerem Brincip zum Trotz, daß das Publicum in Kenntnig der Novitäten aller bedeutenden Tonfeger zu er- halten fei, danken wir der Direction für die Bevorzugung des früheren Spohr auf Koften des fpäteren. Die Reize der Spohr— ihen Symphonie haben auch diesmal freundlih anf uns gewirkt, wie man denn diefem eigenthümlichen ſüßen Duft Spohriiher Muſik ſich kaum jemald ganz entwinden kann. Wird und Doch bei der weichen, halb freud: halb leid» vollen Melodie des erſten Sates falt jo zu Muth, als wern wir nach Sahren zufällig ein Bändchen Matthiſſon— iher Gedichte aufichlagen und die Seligfeit zurückempfin— den, mit der wir einst jehnjuchtichtvelgend damit im Grafe lagen. Leider miſcht fih gar bald das Fritiihe Gewiſſen ftörend in die ufurpirte Jugendlichkeit. Mit Verdruß merken wir, wie dieſer Blumenflor frifcher, duftiger Mufit in der »Meihe der Töne« dur die ftete Beziehung auf ein »poetiiches Programm gehindert wird, innerlich frei emporzuwachſen und nah Außen fih harmonifc zu runden. Durch Töne ein Gedicht zu interpretiren, welches daS Lob der Töne zum Gegenitand bat, iſt ein ſehr unglüdlicher Gedanke, felbft abgeſehen von

Ordefter-Concerte. 33

dem Widerfinne, daß mit einer muſikaliſchen Schilderung des »ſtarren Schweigend« in der Natur begonnen wird. Der Segen der Mufik lobt fih gewiß am beften jelbft, nämlich. durch eine Schöne Mufik, und fcheint uns viel reiner gefeiert in dem wunderbar ſüß quillenden Thema des erften Satzes, ala durch dad lange Bogelgezwiticher darauf, daß und etwas ge: waltjam in's Freie führt. Doch ift der erfte Sat noch der abgerundetſte. Im zweiten unternimmt es der Gomponift, die Muſik abwechſelnd in ihren verichiedenen Beitimmungen als »Miegenlied«, »Tanze und »Ständchen« zu feiern. Durch die muſikaliſch ganz unmotivirte Aufeinanderfolge und fortwährende Abwechslung dreier Themas in verfchiedenen Tact- und Ton- arten wird der im Charakter ohnehin zwiihen Scherzo und Andante ſchwankende Sat obendrein in der Form ganz zer: jprengt und wir erhalten um der Bedeutung willen ein Gemenge von drei Beitandtheilen, deren jeder einzeln für fih (namentlich das MWiegenlied in B, oder dad vom Violoncell über pizzifirtem Streichquartett jo zart gefungene G-moll-Ständchen) den Stoff zu einem treffli auszuführenden Stüd gegeben hätte. Der dritte Sat beginnt mit einem feftlichen, glänzend inftrumen- tirten Marid warum jchließt er nicht als folder? Warum verläuft die Kriegamufif, anstatt Frisch abzufchließen, in ein endloſes »Wehklagen der Zurücdgebliebenen« (hier fommt Spohr aus dem »Arbeiten« gar nicht heraus) und miündet in eine Bearbeitung dad Ambrofianiichen Lobgeſangs? In dem lebten und ſchwächſten Sag wird der Componiſt vollends zum ret= tungölojen Opfer feines poetifchen Programms: er hat den Tod und die Vergänglichkeit alles Irdifhen durd eine Be— gräbnißmuſik auszudrüden. Anftatt der höchften Steigerung, zu welcher fih im Finale einer Symphonie alles Frühere fteigern foll, haben wir hier die vollftändigite Entkräftung. So erhält der Hörer fortwährend für die verlorene mufifalifche Einheit und arg zerrifjene Stimmung als Eriag nur die trocdene Ber: gleihung mit einer Vorftellungsreihe, die für ihn gar feinen Merth hat. Dadurd, daß Spohr in einen Abgrund ftürzte, an deſſen Rand eine ungleih mufifalifchere Natur in der » Baftoral-Symphonie« ſich aufrecht erhielt, wird uns die »Meihe 6*

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der Töne« zum unfhäßbaren Gommentar für eine der wich— tigften Streitfragen der muſikaliſchen Aeſthetik. Die mufifalifche Literatur befigt fein zweites Werk, an welchem ſich fo haar: iharf nachweiſen läßt, wie dad, was daran ſchön ift, es troß des gegenftändlichen Inhaltes, ja durch deſſen Webergehung wurde, während andererfeitö der Glanz des Werkes fich ſtets in dem Augenblick verdunfelt, wo der Componiſt die Forde— rungen des mufifaliih Schönen hintanfegte, um mit feinen Tönen eine außerhalb derjelben liegende Bedeutung zu ver— ſinnlichen.

Das Geſellſchaftsconcert der Muſikfreunde führte uns in Berlioz »Carneval romain« einen wohlbefannten und den noch beinahe entfremdeten Gaſt vor. Es find beinahe neun Fahre, feit diefe Duperture unter der Leitung des Componiſten hier wiederholt aufgeführt und für eine Zeitlang zum allge- meinen Lieblingsitüd wurde. Die Duverture (in welcher Motive aus »Benvenuto Cellini« verwendet find) tft in ihrer effectreichen Illuſtration füdlihen Maskenjubels äußerlich vielleiht das glänzendfte, im innerften Kern aber das fühlfte Werk Berlioz. Wenn er in jeinem »Romeo«, »Harald«, »Lear«, in der »Fantastique« u. a. die tiefften und jchmerzlichiten Regungen des Herzend in Tönen ausblutet, jo erholt er fi gleichjam von dieſen Sturmnäcdten der Seele in dem blendenden Ben galfeuer feines »römijchen Garnevald«. Die Compofition bietet neben mancher bizarren und betäubenden Stelle viel Schönes, namentlich für den Muſiker. Das einleitende Andante ift zwar nicht recht ſymphoniſtiſch, doch von unleugbarem Neiz, wie e3 erit ganz Ichliht von der Oboe vorgetragen, dann ſtets jaftiger colorirt wird, bis es endlich vom ganzen Orcheiter aufgenommen, durch Tamburin und Beden rhythmiſch gehoben, in vollem Prunf dafteht. Das energiiche Allegromotiv, eine jubelnde Windsbraut, wird gleichfall® auf das geiftreichite gefteigert. Mit dem Auf— nehmen der Jnjtrumentaleffecte hat das Ohr vollauf zu thun; ganz einfahe Dinge überraſchen es mitunter mit ungeahnten Wirkungen, fo 3. B. daS terzenweile Hinauf- und Hinabpfeifen der beiden Flöten in chromatiſcher Scala zu Ende des Andante,

Orcheſter⸗Coucerte. 85

hierauf jene wunderſame Terz, in der die Clarinette unter dem Waldhorn ſteht, und vieles andere.

Auch die zweite Ouverture, welche das Geſellſchaftsconcert brachte, iſt bereits in Wien aufgeführt worden, Gade's »Nach— klänge von Oſſian«. Eine intereſſante, anziehende Erſcheinung, obendrein etwas fremdartiger Richtung, durfte dies Werk nach mehrjähriger Ruhe mit Recht zur Wiederholung gebracht werden. Der talentvolle Däne hat ſeit der Oſſian-Ouverture und der 1. Symphonie in C, die damit den gleichen Vorzug naiver Friihe und charakteriftiih nordiicher Färbung theilt, nicht8 Größeres geichrieben, das einen inneren Fortichritt über jene Jugendwerke beurfundete. Seine Symphonien (die fleine in B-dur etwa ausgenommen) wurden immer erfindungälojer und braten auffallend Mendelsſohn'ſchen Inhalt in einer verihwimmenden Breite der Form. Das ftarfe Anichlagen Des Zocaltond, der im »DOffian« volfsthümli ergreifend wirkt, wurde bei Gade alöbald Manier, man wird es mit der Zeit endlih fatt, immer die Walkyren im Nebel herumtraben zu jehen. Die Offian-Ouverture ift zum größten Theil echt poetiſch gedacht, der Gontraft zwiſchen dem trogig friegeriichen Thema und dem zweiten fanften Dur-Motiv fehr glüdlich, viele Einzelheiten der Harmonie, Modulation und Inſtrumentirung äußerjt geiftreih; trogdem wirft das Ganze ermübdend, hauptfählid durch die meitichweifige Ausführung des Seitenſatzes und das fühlbare Vordrängen mufifaliiher Schil— derung.

Zwei Chöre größeren Umfangs bradten Abwechslung in die Inftrumentalnummern: ein Gebet von Mendelsjohn »Verleih’ und Frieden«e und ein »Opferhymnus an den Zeud« von G. Meyerbeer. Die beiden Meifter ftanden fih mit diefen religiöfen Compofitionen auf dem Goncertzettel eben jo nah, als fie in der Wirklichkeit fern von einander ftehen. Mendelsſohn's »Gebet« bringt einen edlen Gelang erft in den Männeritimmen über einer mäßigen Yiguratton von 4 Bioloncellen, dann in den Frauenftimmen mit gleich: zeitigem Hinzutritt der Bläſer, endlich in etwas breiterer Aus— dehnung im vollen Chor. Nicht eben durch Eigenthümlichkeit

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oder Erfindungsfraft unter Mendelsſohn's ähnlichen Saden hervorragend, erfreut doch das »Gebet« durch jenen feufchen Adel, jenes reine, religiöfe Gefühl, welche und die geiftlicdhen Muſiken dieſes Meiſters jo theuer machen. Hingegen Meyer: beer's Hymnus! Wie der Stier von Uri fam er »angeblafen mit Macht«, dröhnte ein gequältes Thema erſt unisono mit 3 Pojaunen und Ophpyecleide, umjpielte es dann mit endlojen Arpeggien der Eaiteninjtrumente, ließ vollen Chorlärm mit Gelispel des SoloquartettS wechjeln, furz bot jedes äußerliche Mittel auf, um eine nicht aus dem Innern des Werkes fließende Wirkung zu erreichen, Mehgerbeer’3 Hynmus fam und manchmal por wie eine Monftre-Tranzfeription jeine® berühmten und berüdjtigten »Mönchs«. Die auffallende Nehnlichkeit mit ge— wilfen Inftrumentalfägen im »Tannhäufer«e und »Lohengrin« wird Freunden Rihard Wagner’: ſchlimm genug aufgefallen fein. Um des Aufjehens willen, den dieſes, wie überhaupt jedes neue Werk von Meyerbeer im Ausland erregt, müjjen wir dad Recht feiner Vorführung einräumen; troßdem be= dauern wir herzlich den Aufwand an Zeit und Mühe, welcher an die Aufführung unerquicklich wüſter Muſik verfchwendet werden mußte.

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Sp haben wir denn auch Wilhelmine Clauß gehört und ung feineswegs enttäufcht gefühlt, wie einige Wunder: fühtige im Publicum, die da neugierig aufjahen nad) einem feuergewaltigen Meteor, und fi nun nicht zurechtfanden, als jtatt deſſen ein ftiller Stern heraufzog, fein blafjes Licht rings— umher mild ausjtrahlend.

Wilhelmine Clauß ift eine Ericheinung bon entjchieden mufifaliihem Beruf und Werth. Sie hat jede vorgetragene Stud nicht blos im gebräudlihen Sinn »ſtudirt«, fondern vollfommen in fich aufgeiogen; als ein warm und eigenthümlich Empfundenes, Selbiterlebtes gibt jie es wieder. Der Unterfchied dieſes Vortrags von dem fühlen, reinlichen Herabipielen der

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meilten »Birtuojene wird auch dem Laien aldbald Har. Nicht zu vermeiden ilt, daß in diefem Proceß jo innigen Aufnehmens das Aufgenommene manchmal allzudeutlih die Färbung der Subjectivität erhält, und diefe Subjectivität jcheint mir eine vorwiegend clegiiche, träumeriihe. Das deutihe Wort jinnig paßt in jeiner ganzen Schönheit auf die Spielweije MWilhelminens; das Träumeriihe und Wunderlihe find Die gefährlihen Grenzen, welche ihr nahe liegen. Sie ftreift die— jelben manchmal, wenn fie Chopin ſpielt, deſſen Feine, aber franfhafte Empfindung ohnehin zu der Willfür des Tempo rubato verleitet. Am jchönften gab Wilhelmine Clauß die edle, ruhige Wehmuth Mendelsſohn's wieder, in zweien jeiner »Lieder ohne Worte. Die befannte »Jagd« von Stephan Heller habe ich nie ſchöner vortragen gehört. Es lag ein leichter Glanz, ein poetiiher Hauch auf all’ dieſen Zurzen Stüden. Die Schattenfeite ihres Spiels läßt fih furz und vollitändig damit bezeichnen, daß es ihm an Kraft fehlt. Die Beethoven'ſche F-moll-Sonate (op. 57) hat theilweiie dieſen Mangel geoffenbart, dem erfteren Saß fehlte die jtreng marfirte Rhythmik, dem Finale die Gewalt deö Dahinftürmend. Die Dimenfionen diejes leidenſchaftlichen Tonwerkes wurden Eleiner, als der Componiſt fie dachte. Allein innerhalb diejer ver: fleinerten Dimenfionen jtanden alle Theile und Theilden in genaueiter Harmonie. Darin erprobt fich der feine, echte muſi— faliide Sinn. Der Anſchlag der jungen Künitlerin ijt weich und elaftiich, aber in jene Grenzen des Kraftaufwandes gebannt, welhe ſchon die phyſiſche Conftitution gebieterifch vorzeichnet. Man braucht das zarte, blonde Mädchen nur zu jehen, um zu willen, daß es das Glavier unmöglid anpaden könne, wie Liſzt oder Dreyichod.

Wenige Tage später ipielte W. Clauß dad Clavier— quintett in Es-dur von Shumann. Wer empfindet nicht das ſtolze Glück in diefem eriten Sag, deſſen Hauptmotiv einher: tönt wie »ein Hammer, der Feljen zerichlägt«, mit jeinen Schlägen aber die duftige Roſenknoſpe in Geſtalt des zweiten Themas hervorlodt. Wen entzüdt nicht das fantaftiich auf: ftürmende Scerzo, deſſen ruhelojes Drängen in den beiden

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Triod noch zauberifh nachzittert; Hierauf die finnige Melodie de3 Andante abmwechjelnd von der Violine und den tieferen Geigen gefungen, nach defjen leiſem Aushallen das Finale enbli reich figurirend und fugirend abſchließt. Sch braude die der Sprade ohnehin unzugänglide Schönheit des Werkes nicht weiter zu rühmen, fondern blos die Trefflichkeit der Ausführung. Wunderbar Schön fpielte Wilhelmine die Cis- moll Sonate von Beethoven und gab diefem uns durch zahlreihe Somnambülen etwas verleideten Mondſchein den alten Silberglanz wieder. Im Adagio nahm fie die Melodie über den getheilten Dreiflängen etwas ftärfer, wodurd der Ichmerzlihe Ausdrud des Stüdes eine jchöne großartige Ruhe gewann. Das Scherzo war ſehr gemäßigt; indem fie es jedem Anflug von Frivolität fernhielt, erzielte fie die richtige ver- bindende Mitte zwijchen der Stille des eriten und dem Sturm des legten Sabed. Von ungemeinem Reiz find zwei »Präludien« (Cis-moll' und A-moll) von Stephan Heller, mit welchen und die Goncertgeberin zuerſt befannt machte. Den »Erlkönig« follte Frl. Clauß nicht Spielen und andere PBianiftinnen follten es gleich- falls nicht. Das iſt Liſz t'ſches Regal. Zum Theil gilt die auch von den »Ungariihen Rhapfodien« desſelben Componiften. W. Clauß milderte in der geiftreichen rhythmiſch höchſt leben— digen Fis-moll-Rhapjodie die Poeſie des Sporenklirrend, brachte aber fonft das ganze Pußtabild fein und leicht, nad) Art einer Federzeihnung zum Borfchein. Daß die Concertgeberin auch diesmal wieder mit Beifall überfchüttet wurde, will nicht jo viel bedeuten, als daß das Publicum je länger defto mehr fich ihrer poetifchen und eigenthümlichen Individualität zu afjimi- liren fcheint. Wilhelminend Spiel kann von dem Eindrud ihrer ganzen Perfönlichkeit gar nicht getrennt werden, man muß fie eben jo wie Liſzt fpielen jehen. Bei Naturen wie Dreyfhod, Willmerd u. a. ift dies nicht nothiwendig. Ohne die mindefte Heftigkeit oder Weberfchwenglichkeit zu zeigen, geht W. Clauß doch ganz in ihrem Spiel auf, ihre Züge beleben fich dabei, ohne eigentlih ſchön zu fein, zu einem ungemein finnigen, leuchtenden Ausdrud. Noch viel mehr joll died der Fall fein, wenn. fie ſpricht. Jch kann darüber aus eigener Erfahrung nicht

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Auskunft geben. Ein Freund aber und College im fritifchen Beruf, der jahrelang mit Stolz das Bemwußtjein einer dra= koniſchen Unparteilichkeit wie einen flatternden Helmbuſch trug, erzählte mir eben, wie er die perfönlide Bekanntſchaft der jungen Dame für unumgänglich nöthig zum vollftommenen Ver: ſtändniß ihres fünftlerifhen Weſens erachtet habe, wie er mit Gritaunen einer das mufifalifche Bereich weit übergreifenden Bildung, einer feltenen Geiftes-Urfprünglichkeit u. ſ. w. begegnet und endlich unvermerkt als Enthufiaft geichieden jei. Zum Glüd bedürfe jo unbeftrittene Kunft feiner freundfchaftlichen Brille. Spielte aber W. Clauß hie und da ihm doch etwas nicht ganz zu Danf, jo verfchweige er’3 gern, da er den Muth verloren, ihr weh zu thun. Alſo ſprach die gefallene Fritiihe Größe. Da lag der Helmbufh. Ich aber gelobte im Innnern niemals die perjönliche Belanntihaft eines Künſtlers zu machen, es fei denn erwiejen, daß er ein vollendeter Grobian.

Herr Giovanni Bailati hat fih zweimal auf der Mandoline hören Iafjen. Diefes zirpende, wiſpernde Inſtru— ment, dejjen bibrirender Stahlton der Maultrommel näher fteht, al der ihm formperwandten Guitarre, ift zur Begleitung des Gefanges, nicht aber zu felbftftändigem Goncertiren berufen. Durch ihren ſchwachen, abjpringenden Ton zum Vortrag ge: bundener Gantilenen beinahe untauglich, bietet die Mandoline auch der Figuration allzuenge Grenzen und wird im beiten Tall, ſtatt mufifalifhen Genuffes, einige Bewunderung un— fruchtbarer technifcher Gemwandtheit vermitteln. Der einzige hübſche Effect des InftrumentS dürfte das bis zum leiſeſten Hauch abfterbende Tremolo fein, das Herr Vailati auch ganz vorzüglich behandelt.

»Brzowska« ift der fchwer ausfprechbare Name einer polniſchen Glavierpirtuofin, welche fih vor wenig Tagen hören ließ. Sie ſpielt ziemlich rein, zart, geläufig. Das wäre, was zu ihrem Lob zu berichten. Uebrigens ift ihre Technik vielfach un: vollendet, namentlih der Anjchlag nicht Fräftig genug. Ihr Vortrag repräfentirt den Typus des SFrauenzimmerlichen. Wir meinen damit daß Zerpflüden des muſikaliſchen Zufammenhangs in kleine Theilchen, in deren jedes ein bejonderes Gefühl ge:

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fegt wird; die Sucht zu retardiren und zu diminuiren; die vielen unndthigen empfindungspollen Accente auf einzelne Noten, die deren nicht bedürfen; endlich das Vorherrichen einer gewiſſen Geziertheit und Verſchwommenheit.

Am Abend desjelben Tages gab Herr Karl Evers ein Concert. Unſeres Erinnern genoß Herr Evers jeinerzeit als Kunftreifender einen nicht unvortheilhaften Auf. Entweder hat Herr Evers jeitdem Nüdjchritte, oder das öffentliche Urtheil hat die entgegengejeßte Bewegung gemacht: furz, die anweſenden Mufikfreunde waren am Sonntag Abend ziemlich einig darüber, fich ftarf gelangweilt zu haben. Das Programm athmete Ab— wechslung und Befcheidenheit, es beitand nämlih aus fünfzehn Nummern, ſämmtlich von der Compofition des Concertgebers. Als Componift gehört Herr Evers zu der unerquidlichen Claſſe der »Vermittelnden«, derjenigen Tonjeßer nämlich, deren »Ge— dDiegened« (Sonaten u. dgl.) zugleich elegant, deren »Elegantes« unter Einem auch gediegen fein möchte. Solche Vermittlung: berjuche, mögen fie auch aus einem reblichen Streben hervor— gehen, mwurzeln doc meiſtens in der doppelten Unfähigkeit, unbedingt leihtfinnig und unbedingt. fünftlerifch zu fein. So verhielt e8 fih auh mit Herrn Evers. Sein wiederholtes Beitreben, fih in größeren Formen, Sonaten, Triod, Quar— tetten, zu verjuchen, gibt zwar Zeugniß von einer erniteren mufifaliihen Beihäftigung, die Früchte dieſer Beichäftigung fönnen wir aber faum anders, ald jaftlos und unfchmadhaft nennen. Die »Sonate für Clavier und Pioline« entbehrt eben- ſoſehr des bedeutenden Inhaltes und der gejchlofjenen Form, als die Salonſtücke (»Le Trille«, »La Coquette« u. f. mw.) des leihten, anmuthigen Schwunges. Eine geübte Hand ift nicht zu verfennen. Von der anjcheinenden Neuheit der Yluftration Lenau'ſcher Gedihte durch charakteriftiiche Clavierftüde wird ih wohl niemand blenden laſſen; ob man eine Aufihrift, ein Motto, oder ob man ein ganzes Gedicht incommodirt, um für dürftige Mufif den Abglanz fremder Poeſie zu borgen, das ift ganz einerlei. Als Clavierjpieler fteht Herr Evers in nicht geringem Rückſtand gegen die Forderungen, welche man heuts zutage an die Virtuoſität ftellt und mit vollem Rechte jtellen

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darf. Bietet man uns Octaven-Etuden, Tillerübungen, Figura— tionen der linken Hand, ſo verlangen wir dazu die hämmernde Kraft eines Dreyſchock, den gleichen Triller eines Thalberg oder Willmers, die rhythmiſche Elaſticität eines Schulhoff. Herrn Evers' Technik mag für den Clavierlehrer, für den Componiſten ausreichen, nimmermehr für den Virtuoſen. Der Mangel an rhythmiſchem Gefühl iſt uns beſonders aufgefallen, wir erinnern an den verſchwommenen Vortrag der »Waſſer— fahrt«, der »Triller-Etude« u. dgl. Wenn man einmal Polka jpielt (was iſt »La Coquette« ander3?) jo fpiele man fie wenigſtens herzhaft und mit fyreude am Rhythmus. Durd einen hypochondriſch verwilchten Vortrag werden derlei Dinge nur noch langweiliger.

Sn einer MWohlthätigfeitsafademie fand den Tebhafteiten und verdienteiten Beifall ein concertantese Duo (über Motive aus »Nigoletto«) für zwei Flöten, vorgetragen von den Herren Franz und Karl Doppler. Das Flötenſpiel der Brüder Doppler gehört zu dem Bedeutenditen, deſſen wir und im Ge— biet inftrumentaler Birtuofität erinnern. Was ſich diefem als Solo-Jnftrumente jehr dürftigen Rohr an befannten oder ver: borgenen Effecten nur immer entloden läßt, alle Kinfte der Doppelzunge, Trillerfetten und Interballenfprünge, bringt diejes flötende Brüderpaar mit einer Reinheit, Ruhe und Sicherheit hervor, welcher der erpichteite Flötenfeind ein Iebhaftes Sn: tereffe nit verjagen fan. Der mwundeite Fled des Inſtru— ments, fein leerer, Fühler Ton im Bortrag gebundener Gans tilenen, fann freilich durch feine Kunſt verdedt werden. Unſere Birtuofen halfen fih einigemal recht gut, indem fie einfache Melodien beide unisono jpielten. UHeberhaupt muß man ihren Compofitionen, jo wenig ſelbſtſtändige Bedeutung fie auch haben, die feine Weberlegung nahrühmen, mit welcher auf das Zufammenfpiel der beiden einander nicht blos ablöjenden, fondern mejentlich unterjtügenden Flöten, ſowie auf die Berück— fihtigung des jpecifiichen Charakters des Inſtruments geachtet wird. So iſt in der einen Variation das Girren und Schmettern der begleitenden Flöte ein überraihender und doc dem In— jtrumente ganz homogener Effect.

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Nicht fo glüklih war mit feiner faum geringeren Bir- tuofität der föniglich hannoverihe Oberftabötrompeter Sachſe. Die Trompete wird ihrer Beitimmung als Orceiterinitrument bei ihrem fpärlichen Umfang und ihrem ftarren, entjchiedenen Klangcharakter jelten mit Erfolg entzogen und zu Goncert- aweden benüßt werden fünnen. Will man das friegeriihe Metall zu eleganten PBaflagen oder ſchmachtenden Melodien herab- würdigen, jo wird fi) das Material verrätherifch genug rächen. Man nehme dann Schon in Gottesnamen lieber den modernen Baftard des Hornd und der Trompete: das Flügelhorn. Durch die Hunftfertigkeit, mit welcher Herr Sachſe fein Inftrument behandelt, läßt fich diejes bald zur MWeichheit des Horns, bald zur Geläufigfeit der Oboe zwingen, ſtets aber nur für jehr furze Zeit, dann blitzt der fchrille Trompetenton doppelt em= pfindlich herein. Keine Mißhandlung eined Inſtruments gegen deffen Charakter und Beruf wird jemald einen echten künſt— leriihen Eindrud hervorbringen. Die von Herrn Sadje vor— getragene Gompofition war, der bezeichneten Richtung ent— prechend, eine geichmadlofe Häufung von Schwierigkeiten: während er fie athemlos befämpfte, bewunderten wir ihn im Schweiße unſeres Angefihts.

Damit auch ein Stückchen »Claſſiſches« nicht fehle, ſpielte Frl. Staudach den erſten Satz des C-moll-Goncerted® von Beethoven, und machte wirklich ein ganz nettes, charmantes Männchen aus dieſem knorrigen Geſellen. Ueberdies war er mit Thalberg geimpft. Bekanntlich iſt's die alte muſi— kaliſche Unſitte der »Cadenz«, welche dem Spieler eines Concertes geſtattet in der Fermate einen eigenen Bravour— betrieb anzulegen, ſich aus den Kronjuwelen Beethoven'ſcher Erfindung Weſtenknöpfe und Manchettenſpangen zu machen und damit ein Viertelſtündchen ungenirt zu hauſiren. Solch äſthetiſche carte blanche wird, wie ſich von ſelbſt verſteht, ſo gründlich benützt, daß man ſich nicht allzuſehr verwun— dern darf, wenn man eines Tages eine Cadenz von Liſzt oder Thalberg mit eingelegtem Concert von Beethoven ange- kündigt lieſt.

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Herr Drarler fang wieder einmal Proch's »Stillen Zecher«, der fih mit Vorliebe in Decimenfprüngen bewegt, wahrjheinlih um außzudrüden, wie er immer zugleich tief im Glaſe und hoch an der Zeche ftehe. Nach fol’ jentimentalem Rührgefang, woran nicht? wahr ift ala defjen mufifaliihe Ge- meinheit, Hang ein Lied des viel- und Leichtichreibenden Küden (»die drei MWorte«) wie ein Ideal von Tonſchönheit und Gemüthstiefe.

1856. Örchefter:Eoncerte.

Das erfte diesjährige Concert der »Geſellſchaft der Mufit- freunde« wurde wunderlih genug eingeleitet duch Litolff's Dupverture »Chant des Belges«. Dieje dem König Leopold I. gewidmete und bei Gelegenheit der legten Jubiläums-Feierlich— feiten in Brüſſel aufgeführte mufifalifche Ungeheuer geht aus C-moll. Andante grandioso beginnt e8 mit einer fchmwerfällig rumpelnden Figur der Bälle fih zu regen. Hierauf fommt (molto presto) eine jener trivial-dämoniſchen Violinthemas herangepfiffen, welche jeit Lindpaintner und Marfchner den offi= ciellen Sty[ der Vampyre bilden. Sollten die Belgier wirklich ſolche Teufel und ihr gepriefenes Land eine Wolfsſchlucht fein? Litolff kümmert das wenig; im offenen MWiderjpruch mit Kuranda md Höffen läßt er chromatiſches Heulen und Zähneklappern durch jein Vaterland auf und nieder fegen, bis plöglih, mie ein ungeheures Nießen, ein einzelner Schlag der Metallbeden erflatiht. Momentane Stille. Cine Clarinette ftimmt, von der fleinen Trommel freundlich unterftüßt, das belgiſche Volkslied an, eine jehr einfache marfchartige Melodie. Die Violinen, durh Sordinen gedämpft und vierfach getheilt, tremoliren in hochliegenden Nccorden geheimnißvoll über diefer etwas hausbadenen Erſcheinung. Dieſes Tremolo der gedämpften Violini divisi, von Berlioz längſt charakteriftiih angewendet, beginnt nachgerade bei den Zukunftsmuſikern als allgemeines Hausmittel der Verblüffung angewendet zu werden. Richard Wagner malt damit den Herenipuf des Venusbergs, Lilzt

DOrchelter-Goncerte. 95

in feiner Graner Meſſe das »Gloria in exeelsis«, Litolff endlich den Patriotismus der Belgier. Indem nım diefe fragmentariichen Andeutungen der Volksmelodie immer deutlicher und ftärfer anſchwellen, wird auf den eigentlichen Kern- und Zielpunkt des Ganzen Iosgegangen: der »Chant des Belges« fommt von Pojaunen, Trompeten, Hörnern und Tuba mit Urgemwalt unisono herangeblajen, während die PViolinen und Holz: inftrumente in Triolengruppen dazu kreiſchen, und alle Lärm— inftrumente einen Speftafel beiftenern, wie wir ihn im Con— certjaal noch nicht erlebt haben. Auf die materielle Wirkung dieſes jehr billigen Schlußeffecte® Hin ift die ganze Ouverture zugejchnitten, fo daß die eriten 54 Seiten der Par— titur nur als ein präludirender Vorwand zu dem auf Seite 55 hereinbrechenden todtichlägeriichen Glanz ericheinen. Litolff ar: beitet da genau wie ein Dramenfabrifant der Borte St. Martin, der zu einer effectvollen Schlußfcene ein ganzes Stüd nad): träglih Hinzudichtet. Das unleugbare Talent der Mache und einige vereinzelt hervorbligende geiftreiche Züge können Litolff’3 Lärm-Ouverture nit vor dem gerechten Verwerfungsſpruch retten, der wohl alle muſikaliſch Gebilderen am 30. November vereinigt hat. Leicht wird es und am allerwenigiten, über Litolff fo abfällig zu urtheilen. Henri Litolff (außer Ver— hulſt vielleicht der einzige heimifche Componift, durch den Die Niederlande an ihre ehemalige mufifalifche Oberherrichaft gegenwärtig erinnern) hat durch feine früheren Werke nicht geringe Hoffnungen erwedt. Seine »Shymphonie-Eoncerte« für Elavier und Orchefter, insbeiondere »Groica« und »Hollan- daife«e worin National-Melodien ganz anderd vertendet waren, al3 in der neuen Ouverture find von fühnem, oft großartigem Wurf der Anlage, reih an geiftvollen Einzeln: heiten, getragen von lebhafter Phantafie und gründlichen, namentlih an Beethoven lehnenden Studien. Deögleichen fand fih in den kleineren Clavier-Compoſitionen Litolff’3 („Etuden«, »Souvenirs de Harzbourg« u. a.) viel Sinniges und Anmuthiges. Wenn Litolff vor zehn Jahren die gefunden Keime feiner Muſik, gereinigt von den vielen bizarren Auswüchlen, pflegte und großzog, dann war Bedeutendered von ihm zu hoffen. Anſtatt

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deſſen fcheint der Kern abgeftorben, und blos die Methode der bizarren Effecte geblieben zu fein. Schon mit der Oper »Die Braut von Kynaſt« begann die Verarmung Litolff’3; feine neueften Sachen ftellen den geiftigen Bankerott vollends außer Zweifel, mögen fie mit äußerer Verfchwendung noch jo fehr zu täuschen ſuchen. Auch Litolff’3 äußere Schidjale haben ſich beinahe gleichzeitig jeltfjam geändert. Der früher unftäte, von Leidenſchaftlichkeit faſt verzehrte Feuerfopf ift nunmehr bes häbiger Philifter geworden, hat in Braunſchweig eine Mufik- verlagshandlung und die dazu gehörige Witwe geheirathet. Unmittelbar nad diefer bombaftiihen Prahlerei mußte ein Werk wie »Erlkönigs Tochter« von Niels Gade doppelt anmuthig wirken. Obwohl keineswegs Großes oder Hochbebeu- tende3 bringend, athmet es doch die Weihe natürlicher Anmuth und eines feinen, gebildeten Geiftes. In engem Rahmen begrenzt, jucht e8 denfelben nirgends anſpruchsvoll zu fprengen, bewahrt vielmehr eine mohlthuende Bejcheidenheit. Solche Werte (die Niemand mit furchtiamer Philifterarbeit verwechjeln wird) er— füllen heutzutage eine wohlthätige Milfion, indem fie jener epidemifch werdenden Großmannsſucht, weldhe in eine Sym— phonie den ganzen »Kosmos« hHineinzwängt, die Liebend- würdigfeit künſtleriſcher Mäßigung und Bildung entgegenhalten. Gadi nennt »Erlkönigs Tochter« eine »Ballade für Soli, Chor und Ordeiter«. Sie gehört jenem beliebten Genre Eleinerer weltliher Gantaten, welde zwar auffallend an einen geſchicht— lihen Zufammenhang mit den »Kammercantaten« de alten Garifjimi (um 1630) mahnen, thatfählih aber durch das praftiihe Bedürfniß nad) längeren Concertnummern in unfern Tagen gleihjam neu erfunden wurden. Der Tert iſt aus däniſchen Balladen zufammengejtellt und behandelt die von Herder bei und eingeführte Sage vom Herrn Dlaf, der am Abend vor feiner Hochzeit durch den geſpenſtiſchen Erlengrund reitet. Von Erlkönigs Tochter, die ihn zum Tanze zwingen will, geichlagen, fehrt er, den Tod im Herzen, heim. Die au fih kurze Begebenheit mußte -in drei Abtheilungen ausgedehnt werden, von denen die erite die Warnung der Mutter und Olaf's Abjchied, die zweite der Elfenjcene, Die dritte endlich

»Erlkönigs Tochter von N. Bade. »Eroica«. 97

Diaf’3 Heimkehr und Tod enthält. Durch dies Auseinander- zerren kommt viel monotone Wiederholung und mander Lücken— büßer in dad Ganze. Auch an unmittelbarem dramatifchen Eindrud büßte die Cantate manches ein, und wer Löwe's Compofition der Herber’ihen Ballade fennt, wird einräumen, daß dajelbft die kurze MWechjelrede

»Sag an, mein Sohn, und fag mir glei, Wovon biſt Du fo blaß und bleich«? »Und ſollt ich nicht fein blaß und bleich, Sch kam in Erlenlönigd Reich««!

ergreifender wirft, al® die daraus geſponnene lange Scene bei Gade. Für den fnappen Fortichritt der Begebenheiten taufchte der Componiſt den Vortheil einer bequemen Auseinanderfaltung der Iyrifhen Momente ein. Im diefen Iyriihen Momenten und der ſpecifiſch nordiihen Färbung, mworein fie der Come ponift zu tauchen weiß, liegt defjen Stärke. Die zweite Ab- theilung bildet natürlih den Gipfelpunft auch in mufifalifcher Hinfiht, und es ift Gade hoch anzurechnen, daß er es verjtand, dem conventionellen muſikaliſchen Elfen-Apparat warmes, eigen: thümliches Leben einzuhauchen. Reizend iſt der Strophengejang von Erlfönigs Tochter in As-dur, der in der That wie filbernes Mondliht aus dem vorhergehenden E-moll-Chor hervorbricht. In den erjten Abtheilungen ftechen die Warnung der Mutter und Dlaf3 Romanze: »So oft mein Auge die Fluren jhaute, ausdrudsvoll hervor. Die Chöre der erjten und dritten Abtheilung find von einer etwa trodenen Beſchau— lichkeit. Sinnig iſt der Gedanke des volksthümlich gehaltenen Strophenlieded, womit der Chor das Ganze, nad Art eines Prologd und Epilogs, eröffnet und jchließt. Der Eindrud des Gräßlihen (Olafs Tod) durfte hier nicht der letzte bleiben. Der Epilog löſt ihn in milde epiſche Ruhe auf und bringt, die Melodie des Prolog wiederholend, das Ganze zu wohlthuender Abrundung.

Zum Schluß Beethoven’ Groicaa »bon der wir nicht wiederholen wollen, was Alle wiſſen« Mit diefem Satz

pflegte Schumann, der wenn irgend Einer im Stande Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 7

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geweſen mwäre, feiner Bewunderung für Beethoven Worte zu leihen, an diefen für ein Goncertreferat allzu gigantiihen Er— fcheinungen vorüberzugehen. In der That wirken Kunſtwerke, wie Beethoven's Symphonien, bei denen jeder Taft von der Kritit längſt abgemweidet ift, etwas athembeflemmend auf uns nachgeborne Berichterftatter, denen das Herz voll ift, der Mund aber nicht überlaufen darf. Namentlich die »Heroiſche« unter den 9 Schweftern hat des verdienten Preiſes jo reichlich und ausführlich erhalten, daß man auf feine ihrer Schönheiten hin— teilen kann, ohne damit zu jpät zu fommen. Kaum, daß man daran erinnern darf, wie dies Werk, das 55. Beethoven's, ganz eigentlich die Brüde zwifchen den früheren Symphonien= ftyl und dem modernen bildet. In feinen beiden erften Sym— phonien bewegte fich Beethoven, wenn gleich mit genialer Sreiheit, in dem Ideenkreiſe Mozart’: in der heroiſchen Sym= phonie entfaltete fi zum erftenmal der ganze, eigentliche Beethoven. Die merkwürdigen 36 Takte im zweiten Theil des eriten Satzes der Eroica (Seite 33, Takt 2 der Simrod- fhen Partitur) bis zum Durchbruch des Streichquartett vor dem Eintritt der neuen Epilode (Seite 36, Takt 18) bilden einen bedeutfamen Wendepunkt in der fünftleriichen Entwidlung des Meifterd, einen Wendepunkt, der ihn fortan ungeahnte prachtvolle Zaubergärten entdeden ließ, auch nädtige Ab- gründe mitunter, die feines Menfchen Freund. Beethopen ſelbſt it der eigentliche Held, den die »Heldeniymphonie« feiert. Auf den andern, den Kriegshelden, den unſer Meifter eigentlich meinte, wollte fie mir nie recht paſſen. Bekanntlich) ichrieb Beethoven feine Sinfonia eroiea urfprünglid 1803 zum Breife Napoleon Bonaparte’. So wird erzählt. Es jheint mir auffallend, daß man diefe allbefannte Thatjache, welche factifch ausführt, was der Titel »Eroica« furz andeutet, nie ernftliher an den Charakter der Symphonie gehalten und den umnleugbaren Zwieſpalt zwiichen beiden bemerkt hat. Nach meinem Gefühle iſt die »heroiihe Symphonie« durchaus nicht heroifh in ihrer Totalftimmung, ſondern nur nebenbei in einzelnen fih aufraffenden Momenten. Sie iſt durchweg pathetiſch, und hätte mit dieſem Beiwort ebenſo füglich

Beethoven’s »Groicas, 99

harafterifirt werden fönnen, al3 jene gefeierte C-moll-Sonate, Heldenhaft, ſchlachtenfroh, fiegreich, dies alles iſt die Eroica niht in dem Sinne, welchen man mit der Vorftellung eines triumpbhirenden Feldherrn verbindet. Von militäriiher Kraft und Herrlichkeit bligen faum Hin und wieder einzelne Strahlen. Am Fräftigften tritt noch der erfte Sat auf: das im reinen Dreiflang feſt einherjchreitende Hauptmotiv durfte in der That einen Helden ankündigen. Allein ſchon nah 4 Taften trübt fih der Ton der Zuverficht, und wehklagende Accorde ſprechen von geheimer Trauer. Dieje gebrochenen Töne, anfangs bald verhallend, ehren im Verlauf länger und bebeutfamer zurüd und verleihen dem Ganzen einen heimlich nagenden, wunden Ausdrud. Durch diefen erften wie gejagt am meiſten »heroifhene Saß zieht unverkennbar ein tief gedrüdter Ton, ein Ton edler, aber darım nicht minder jchmerzlicher Reſigna— tion. Der Held tritt jchon verblutend auf. Noch viel umflorter ift daS eigentlich »heroifche« Element in den folgenden Süßen. Bekanntlich find die fanften, elegiſchen Gejangftellen die ſchönſten darin. Wenn irgend ein Sat berufen war, die ganze Kraft de3 >»heroifhen« Ausdrucks freizulafien, jo war es gewiß das Finale Wie viel aber gerade diefe in ihrem Anfang un— muthigsdüftere, in ihrem Verlauf fanfte und wiegende Muſik den Anforderungen des Heroiſchen fchuldig bleibt, fcheint mir unverfennbar; das ftolze Aufraffen der letzten 40 Takte kommt zu jpät, um den Totaleindrucd zu beftimmen. E83 ift freilich nur ein Beweis mehr von Beethoven’ mwunderbarem Kunit- veritand, daß er, auf grelle Gontrafte verzichtend, lieber den Ausdrufd aller Säte mit Rüdficht auf den Mittelpunkt des Ganzen (den Trauermarfh) abſchwächte und niederhielt, allein ob diefe gebrüdte Skepſis dem Begriff des Heroiſchen entfpricht, bleibt eine andere Frage. Die C-moll-Symphonie iſt in ungleich höherem Grade eine heroifche, ja, die »Egmont— Duverture« findet in ihrer kurzen Schlußftretta einen viel heldenhafteren Abſchluß, als die »Eroica« in ihrem ganzen Finale. Das variirte graziös-fhaufelnde Gejangöthema im 4. Sag entnahm Beethoven Note für Note feiner Ballet: muſik zu »Prometheus«, fie fommt jogar früher (und ſtets Tr

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in derfelben Tonart Es-dur) auch noch in einer Sammlung (»Eontratänze« bon Beethoven) vor! Wem der innere Cha— rafter diefer Melodie nur einen »halben Beweis« für unjere Anficht bildet, der findet ihn mehr als ergänzt durch die That- ſache jener faſt unbegreiflihen Ballet:Herfunft des vermeintlich »heroifchen« Themas. Welche Heldengedanfen haben die Aus— feger hinein interpretirt! Nachdem mir die Schönheit eines Tonwerf3 von deilen Titel oder poetiihem Vorwurf unab- hängig und nur in der Harmonie der mufifalijchen Ver— hältniffe begründet fcheint, ift auch für den unantaftbaren Werth der »heroiſchen Symphonie« die Beziehung zu ihrer Ent- ftehung und Meberfchrift gleichgiltig. Nur zuläffig muß man in ſolchem Falle die Vergleihung nennen. Mehr oder minder fubjectiv, wie jedes jolche Meilen des mufifaliichen Aus— druds an feiner Ueberſchrift, ift auch daS hier angeregte Be— denken gegen den »heroifchen« Geiſt der »Eroicae. ch habe ed ‘auf die Gefahr hin, zu irren, ausgefprochen, damit Andere fih angeregt fühlen, ihre eigenen Wahrnehmungen damit zu vergleichen, oder an dem Gegenitand jelbit zu erneuern. Das Nachbeten bleibt immer das Leite.

Die Gejelichaft der Mufiffreunde gab nad) längerer Unter— bredung ihr drittes Concert. Cine Goncert-Ouverture von Julius Rietz mahte den Anfang. Wie alles, was wir von diefem Componiften bisher fennen lernten, gehört auch die »Concert-⸗Ouverture« unter die Kategorie: geiftreihe Impotenz. Mohlgefhulter und geihmadvoller Mufiker, zugleich vortreff- liher Dirigent, ift Riet im freieiten Befig aller Mittel, mit welchen man componirt; nur was man eben componiren joll, ift ihm von der Natur fehr ſparſam verliehen. An die Stelle der Erfindung tritt bei Nie die Combination, ftatt eigener Ideen bringt er geiftreiche Umfchreibungen fremder. So freund: lih einzelne Züge anſprechen, da® Ganze bleibt unerquidlich, wie jede Grübelei in der Kunſt.

Den Schluß madte R. Schumann’ Symphonie in B-dur (Nr. 1), diejelbe, die im Jahr 1846 unter perjönlicher Leitung des Componiiten hier aufgeführt worden war. Dies reizend erdachte und meilterwürdig außgearbeitete Werk fteht

Schumaun's B-dur- Sompbonie. 10 l

zwar der C-moll-Symphonie (die wir im verflofienen Winter gehört)” an Großartigfeit nah, gewinnt aber durd ihren freundlicheren Ausdruf und entzüdende Anmutd. Wer unfere diesjährige Mufikiaifon aus einem höheren Standpunkt über: ihaut, wird ihre Bedeutung hauptiählich darin finden, daß zum eritenmal Schumann’: Werke eine anftändige, ja vorzugs— weile Vertretung fanden. Diefer reiche und tiefe Geiſt gewinnt endlich auch bei uns allmälig Verftändniß und Verehrung. In den mufikliebenden Privatfreifen der NRefidenz beginnt für Schumann bereit eine Vorliebe, ja ein Eultus fich zu bilden, wie ihn bisher nur Mendelsjohn erfahren. Angeſichts folder Zeihen einer erfreulichen Vertiefung des Mufitgeihmads in Wien fann man gelaffen über die bodenloſe Unverjhämtheit hinmweggehen, mit welder hie und da Schumann "entweder jpöttich verworfen oder vornehm mit den landesüblichen Rath: ihlägen und Aufmunterungen erwähnt wird. Solde Literatur: Commis pflegen ihre Unfähigkeit, Shumann zu veriteben, hinter einem wohlfeilen, allgemein gehaltenen Wit auf die » Zufunftömufifer«e zu verihanzen. Sobald aber Jemand Schu— mann’ Gompofitionen mit der jogenannten » Zufunftämufif« zufammenmwirft, jo hat er auch jchon feine Ignoranz in muſi— - falifhen Dingen an den Tag gelegt. Jene mißveritändliche und abgeihmadte Benennung datirt von dem Ericheinen eines Buches von Rihard Wagner, welches den Titel »Das Kunftwerf der Zufunfte führte. In diefem Buche juchte Wagner die Fünfte der Gegenwart, wie fie als Mufif, Malerei, Poefie, Tanz gejondert bejtehen, als grobe Verirrungen darzuitellen, welchen er das deal eines »Kunftwerfes der Zufunfte, worin alle Künfte fih zu Einem Ganzen vereinigen, entgegenfegt. » Zufunftömufifer« können aljo im beiten Falle diejenigen ge— nannt werden, welche Wagner’3 Theorien verfechten oder zu realifiren juhen. Weber das Eine, noch das Andere ift unſerem Schumann jemal? beigefallen. Schumann’s reifite Werfe waren längſt gefchrieben, feine künſtleriſche Richtung längſt unablenkbar feſtgeſtellt, ehe (vor einem halben Decennium) Richard Wagner ſeine politiſche Mißvergnügtheit auf äſthetiſchen Boden ableitete und mit ſeinen Theorien ein Häuflein Muſikfreunde begeiſterte,

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die das Unglück Haben, geiftreih zu fein, ohne muſikaliſch Ihaffen zu können. Schumann, der jede reblihe Perfönlichkeit gern ſchonte, hat fich niemals öffentlich für oder gegen Wagner geäußert; man braucht aber nur feine Schriften und ſeine Gompofitionen ftudirt zu haben, um zu erkennen, wie jehr die Grundfäge beider Männer fich entgegenitehen.

Nah der Art feines Talentes verhält ih Shumann zu Mendelsjohn ungefähr wie Beethoven zu Mozart. Bon einer MWerthvergleihung, wie fie doch ſtets unfruchtbar und mißdeutfam ausfällt, joll hier feine Rede fein, ebenjomwenig ein Verſuch geichehen, die Eriftenz von Schattenfeiten in Schumann’ Werfen zu läugnen. Jeder große Meifter, nament- li in der jubjectivften Kunft, der Mufif, darf und zumuthen, daß wir, feine Herrlichkeit genießend, auch mit feinen Launen und Eigenheiten und allmälig befreunden. Dieje Eigenheiten fehlen jelbit im ſchlimmen Sinn faft nirgend, nur andere find e3 überall, und wenn wir bei Mozart und Mendelsfohn manch— mal einen fühlen Formalismus, ein tonjeliges® Ausbreiten, ein Abſchwächen und Mildern des Ausdrucks gerne hin— nahmen, jo haben wir bei Beethoven nd Schumann das grelle Nebeneinander der Gegenſätze, das eigenfinnige Feithalten und Hervordrängen bon Ginzelheiten, daß tieffinnige Horchen und Berjenfen in geheimnißvolle Zaute zu lernen und zu ge- wöhnen. Daß Beethoven’3 genialem Eigenfinn gegenüber die Aufgabe des Hörers auch nicht klein war, jollte man doch nicht Schon vergeffen haben. Hat man Doc die dunklen Augen blide Beethoven's nicht blos zu begreifen, jondern im Namen des »Humord« eigens zu verherrlichen gefucht, bis man endlich) an die Parallelifirung Beethovens mit Jean Paul (im Gegenjag zu Mozart, dem der fchmeichelhaftere Vergleich mit Goethe zufiel) gelangte; eine dee, die noch Heutzutage das Entzücken mander ſchönen Seele bildet. Wenn ein Ver: gleich zwiichen Charakteren verjchiedener Kunftfphären über: haupt zuläffig, jo fann Beethoven nur mit Shakeſpeare verglichen werden, der den Geift der modernen Poeſie über: haupt im Gegenſatz zur griechiichen am vollfommeniten und anſchaulichſten verkörpert hat.

R. Wagner's Fauſt-Ouverture. 103

Den tiefen inneren Unterſchied zwiſchen der muſikaliſchen Begabung Schumann's und jener Wagner's konnte man jüngſt an einer Novität des Letzteren klar genug wahrnehmen. Es iſt dies Richard Wagner's Ouverture zu Goethe's »Fauſt«, oder damit wir genau citiren, »Eine Fauſt-Ouverture« von R. Wagner. Wagner’3 jchreibende Ritterſchaft hat die feine und tieffinnige Unterfcheidung, die in diefer Benennung der Dupverture liegt, fo eingehend gewürdigt, daß eigentlich auf die Mufif jelbft kaum mehr viel ankommen kann. Die poetifche Bedeutung ift befanntlic die Hauptjahe. Damit der Hörer fih in dem dichten Nebel diefer Mufit einigermaßen zuredhtfinde, hat der Componiſt folgendes Motto als Leucht⸗ thurm der »Bedeutung« vorangeſtellt:

»Der Gott, der mir im Buſen wohnt,

Kann tief mein Innerſtes erregen;

Der über allen meinen Kräften thront,

Er kann nach außen nichts bewegen;

Und ſo iſt mir das Daſein eine Laſt,

Der Tod erwünſcht, dad Leben mir verhaßt«.

Wenn man nun von einem Muſikſtück nichts weiter ver— fangt, als daß es in feiner Gefammtitimmung, mit was immer für Mitteln, den in den Schlußzeilen geihilderten Seelen: zuftand ausdrüde und das Publicum lebhaft in eine Situation verjeße, wo ihm »das Dafein eine Laft« u. f. f, jo läßt MWagner’3 »Eine Fauft-Duverture« nichts zu wünſchen übrig.

Sollte aber jemand noch fo antedilupianifch denken, von einem großen Snftrumentalwerf auch mufifaliihe Vorzüge zu verlangen: Kraft und Originalität der Erfindung, Reich— thum und Slarheit in Anordnung und Durchführung, dann widerfährt ihm Recht, wenn er in Wagner’3 Ouverture wie in einer endlojen Sandwüſte fih vorkommt. Er tröfte fih dann mit der im Motto verſteckt Tauernden Ironie auf dieſe Ton feger, welche nur mit der poetilchen Intention componiren: die Intention kann tief ihr Innerſtes erregen, allein nad außen fann fie nichts bewegen.

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Quartefffoireen von 3. Sellmesberger.

Den Anfang mahte man wie gewöhnlid mit Haydn, dem Vater des Quartetts, ein löblicher Brauch, jolange man über dem Vater nidt die Söhne vernadläjjigt. Die Vertretung dieſes Altmeifterd mit zwei Nummern in einem Cyclus von ſechs Abenden ift vollfommen ausreihend. Fürs erste find Haydn's Quartette durch eine Hundertjährige beifpiel- loſe Pflege jo tief in das Blut nicht blos der aufnehmenden, fondern auch der nachfolgend producirenden Mufifer gedrungen, daß wir in jedem diefer flaren und vergnügten Tonftüde einem alten Bekannten begegnen. Sodann lag es im funftgejchichtlichen Charakter der Haydn'ſchen Periode, daß feine Quartette viel— mehr das Gleihmäßige der Gattung repräfentiren, als ver— ichiedene, fcharfgefonderte Individualitäten derjelben. »Ein Haydn'ſches Duartett«, jagt man jehr bezeichnend, während man gewiß immer von Ddiefem oder jenem beftimmten Quartett Beethoven’ jpridt. ES fommt dem Hörer gar ehr darauf an, welches aus der Reihe der Beethoven'ſchen Duartette er hören werde, weil es eben lauter Individualitäten find; anders bei Haydn. Abgejehen von der grundverjchiedenen Berjönlichkeit der beiden Meiſter, war auch die Art zu com— poniren zu ihren Zeiten eine ganz andere. Wer wie Haydn mit feinen Symphonien die Zahl 100 überholt, mit feinen Quartetten fie wenigſtens geftreift hat, der fonnte unmöglich in jedes dieſer Werke eine eigene reiche Individualität nieder: legen. Indem Beethoven zehnmal weniger jchrieb, fonnte er zehnmal mehr hineinlegen. Aus Beethoven’ Kammermufifen wünſchen wir nur jene leichteften von öffentlichen Aufführungen ausgeichloffen, welche (wie die am 9. d. M. vorgeführte Biolin-Sonate in Es) überall jo gut wie auswendig gelernt find. Die Salieri und Haydn gewidmeten Sonaten (op. 2, 12) und ähnliches können ſchon füglih den mufikliebenden häus— lihen Kreifen überlaffen bleiben, für öffentlihe Productionen bieten fie im eigentlihen Sinne feine »Aufgabe« mehr.

Schumann Trio, 105

Für Schumann’ zweites Trio (F-dur, op. 80) find wir den Herren Dachs, Hellmedberger und Borzaga um jo dankbarer verpflichtet, ala wir die Öffentliche Vorführung dieſes unvergleichlichen Werkes längſt gewünſcht haben. Die Kammermuſiken Schumann’s find vorzugsweiſe geeignet, das Publicum in die tiefere Kenntniß dieſes Gomponiften einzus führen. Zwiſchen den jugendlich gährenden Glavier-Compofitionen und den Symphonien, deren großartigere Dimenfionen die Auf- merfjamfeit des Hörers mehr anftrengen, bieten Kammermufifen die günftigfte Vermittlung. In der fünftlerifhen Entwidlung Schumann’3 bezeichnen fie überdies einen jehr wichtigen Wende- punft: den Uebergang zu den größeren, mehrjäßigen Formen. Wir finden Schumann vom eriten bis vierundzmwanzigiten Werf ausihlieglih in Claviermuſik Eleineren Umfangs (Togenannten »GCharafterftüden«) beſchäftigt; hierauf folgte eine üppige Periode fait ausjchließlicher Liedercompofition es war die jchöne Zeit jeiner Liebe und Werbung! bis zum vierzigiten Werk. Nun erſt wendet ih Schumann zu größeren Formen und legt, namentlid) in den drei Streichquartetten (op. 41), dann in dem Clavierquartett und Quintett (beide in Es, op. 44 und 47), die eriten koſtbaren Früchte einer vollkommen gereiften und geflärten Kunſt nieder, einer Kunſt, welche fih an dem genialen Sturm und Drang, an den Skizzen und Iluftrationen nicht mehr genügt, jondern in voller Manneskraft, mit der Wärme der Jugend, doch ohne ihre Thorheiten, zu der Arbeit großer Bildungen übergeht. In diejelbe Periode höchiter Reife und Kraft gehört das Glavier-Eoncert in A-moll (op. 54), die beiden eriten Symphonien und vieles andere, bis etwa zum fiebenzigiten oder achtzigſten Werk. In dem Sonntags vorgeführten F-dur- Trio herricht eine jo reiche Erfindung, ein jo lebendiges Knospen und Blühen, daß es und jchwer wird, ihm die Opuszahl 80 zu glauben und es jomit hart an die Grenze zu ſetzen, über welche hinaus Schumann’3 Phantafie zu grüblerifcher Abjtraction zu verdorren begann, und (mehrere glänzende Momente des Erwachens ausgenommen) genöthigt war, durch beinahe mechaniſche Production der äußeren Noth mehr als dem inneren Rufe zu genügen. Sollte nicht vielleicht das F-dur-Trio dem Haupt:

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inhalt nad) früher entjtanden und erſt nadträglih im Ein zelnen reicher auögearbeitet worden fein? Selbit ganz beftimmte Anklänge, wie das ſehnſuchtsvolle Lied »Dein Bildnik wunder— felige im erften Sat und ein Motiv aus den »Sreißleriana« im Finale, ſcheinen auf eine glüdlichere Zeit Hinzudenten und unjere Vermuthung zu beftärfen. Bei aller feiner Wärme und Lebendigkeit iſt das Trio in F von einer größeren Verſammlung niht auf das erſtemal vollitändig zu fallen. Dieſes Schumann eigenthümlihe SImeinanderfingen und Sicher: folgen der Stimmen, dies Einfpinnen in geheimnißvolle Har- monien und Anklingen leifer Beziehungen bewirkt, daß ber volle Genuß feiner Schöpfungen ſich dem Hörer erft allmälig erfchließt, freilih um dann immer ficherer und reicher zu erblühen. Sit es demnad einer Direction bon Orcheiter: oder Kammermufif Ernjt, mit Robert Schumann nicht blos ein Intereſſe der Neugier zu befriedigen, fondern das tiefere künſtleriſche Be— dürfnig wahrhaften Kennens und Genießend, dann wird eine bäufigere Wiederholung feiner Werfe unumgänglich fein.

Die ſchöne Müllerin.

(Liederchelu3 von Franz Schubert, gefungen von Julius Stock— haufen.)

Stodhaufen nahm Abichied vom Publicum, und zwar mit dem einfachiten Programm der Welt. Anftatt des gewöhnlichen Sammelfurium® von Stüden, deren eines nicht zum anderen gehört, laſen wir auf dem Anfchlagzettel blos: Die ſchöne Miüllerin, ein Liederchclus von Franz Schubert. Die Idee ift unſeres Wiſſens eine neue; daß fie zugleich eine glückliche war, zeigte der wahrhaft überrafchende Beſuch des Goncertes. Wie durch ftillfchweigende Verabredung hatten ſich alle echten Anhänger deutfher Mufit zu diefer Production eingefunden, welcher zu einem eigentlihen Schubertfeite nichts als Die ausdrüdlihe Bezeichnung fehlte. Wenig Tondichter genießen in Wien eines jo allgemeinen und warmen Cultus, wie Schubert. Die Erwartung, einen feiner duftigiten Liederfträuße in ganzer

Schubert: Die ihöne Mülerin. 107

Fülle und nicht bloß wie biöher, in einzelnen herausgerifienen Blumen zu empfangen, wirkte wie ein allgemeines Aufgebot auf Schubert!’ gefammte »Freundichafte. Indem GStod: haufen e3 unternahm, den ganzen, aus zwanzig Nummern beitehenden Cyclus der »Miüllerlieder« vorzutragen, gewährte es fürs erite dem Publicum eine unſchätzbare Anſchauung des Zuſammenhangs eines Werkes, das in einigen feiner Theile allbefannt, in anderen hingegen auffallend zurücgejegt ift. So— dann gewann der Sänger durd diefen Zufammenhang den wichtigen Bortheil, daS bisher nur lyriſch Vereinzelte dra= matifch auffaffen zu können. Er mußte ſich nicht mehr ftreng als Eoncertgeber, er durfte ſich als den lebendigen individuellen Mittelpunkt des Ganzen fühlen, der, all die verſchiedenen Em: pfindungen ausftrömend, fie wieder auf fich zurückbezieht.

Die »ſchöne Müllerin« ift ein Eleiner, einfaher Roman in Liedern. Der Müllerburſche folgt auf feiner Wanderſchaft dem Lauf eines Bächleins, das, geheimnißvoll lockend, ihn zu einer Mühle führt. Er erblide die jchöne Müllerstochter und jucht nicht weiter; als Knappe tritt er in ihren Dienft (Nr. 1 bis 4). Bald gibt die Liebe dem guten Jungen arg zu Schaffen; der Morgengruß, den er der Theuren bietet, die Blumen, die er ihr reicht, alles lodt ein ahnungspolles Hoffen in jeinem Herzen; laut in die Melt möcht’ er feine Liebe hinausrufen, fie jedem Baume, jedem Stein vertrauen. Das iſt ein gutes Zeichen, und das dringend befragte Drafel ded Bades wird wohl »Ja«e lauten. (Nr. 5 bis 9). Es erblüht eine wonnevolle Zeit des Beſitzes, jo furz als glüdlih (Nr. 10 bis 12). Die ihöne Müllerin ſcheint etwas flatterfinnig zu fein; einem ſtatt— lihen Jäger wird es nicht jchwer, unſern Müllerburſchen aus ihrem Herzen zu verdrängen. Alle Qualen der Eiferſucht und verijhmähten Neigung bemächtigen fich des treuen hoffnungslos liebenden Jungen. (Nr: 13 bis 17). Tödtliches Leid im Herzen flieht er. die Ungetreue, und ſucht in dem Geflüfter eines Bächleins Troft und Vergeffenheit (Nr. 18 bis 20). Die Ge: jhichte ift, wie man fieht, höchſt einfach. Im ihrer jchlichten, innigen Weife erregt fie aber dennoch unfere ganze Theil- nahme, an Rückert's finnige® Wort erinnernd:

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Liebe ift die älteft neu'ſte, Einz’ge Weltbegebenheit.«

Wir Haben den geichichtlichen Faden, welcher des Müllers bald fröhliche, bald traurige Lieder durchzieht, flüchtig aufges zeigt, um die gümftigere und größere Aufgabe zu erflären, welche der Sänger dadurch gewinnt. Herr Stodhaufen hat dieje Aufgabe jo volllommen begriffen umd durchgeführt, wie man e3 von dem feingebildeten Künftler nur erwarten fonnte. Der Vortrag hob frohmüthig und unbefangen an, ſteigerte ſich alsbald zu jener leichten, glüdlichen Aufregung, welche das An— brechen einer neuen Liebe verfündigt, vertiefte fih allmälig in die Leidenschaft, um nach kurzem frohen Aufjauchzen im Weh— muth janft auszuflingen. Lieder, wie »Stolz und Eiferfudt«, ‚Mein Schat hat’3 Grün jo gern« u. a. gewannen nunmehr ein ungewohntes dramatijches Leben, wußte ja der Hörer, wen Stolz und Eiferfudt galt und warum den Müller dad Grün fo traurig macht. Ueberbliden wir den Liedervortrag Stod- haufen’ im Ganzen, jo müffen wir ihm vor allem das Lob, auch feinerjeit3 ein Ganzes gebracht zu haben, rückhaltslos zollen. Die ftärkiten wie die weichiten Töne Löften fi) nit aus dem organifhen Bau des Liederkreiſes los, weil die Einheit der Empfindung fie erfüllte und band. Bon den einzelnen Liedern jelbft waren die elegiichen, überhaupt die bon einer milden, ruhigen Empfindung getragenen, vortrefflih. Der volle Ausbruch der Leidenfchaft hingegen, wie wir ihn 3. B. in dem Refrain des Liedes: »Ungeduld«, »Dein ift mein Herz!« und Aehnlichem wünichem, blieb von Stodhaujen unerreicht. Die Wahrnehmung, dat Stodhaufen’3 Organ jeit feinem erften Befuh in Wien gelitten habe, ift und nad) dem Anhören der Müllerlieder zur Gemwißheit geworden. Der gejchägte Künftler jang in den höhern Lagen mit Anftrengung und nit ohne Schwanten, obgleih er oft genug zum Faljett feine Zufluht nahm. Auch ſchien die Ermüdung gegen dad Ende des Concertes unleugbar. Welcher unfhäsbare fünftleriihe Erwerb für diefe natürlichen Mängel entichädigt, haben wir wiederholt auf das freudigfte anerkannt, und erinnern diesmal nur noch beſonders an feine treffliche Declamation. Im reichiten Ausftrömen der Melodie articulirte

Schubert: Die ſchöne Mülerin. 109

Stodhaufen bis in die einzelne Silbe verftändlih und dabei flüffig, ohne die mindeite Härte, ein Vorzug, der bei einem zufammenhängenden Lieberchcluß doppelt ſchwer ind Gewicht fällt.

Die »Müllerlieder« fannten vielleiht die Hälfte der Be— jucher bis auf die Note; und dennoh wird kaum Einer geweſen fein, der nicht abermals gejtaunt hätte über die geniale Kraft des Tondichters, der im Stande mar, einen Cyclus von 20 Liedern au Einem Guß zu componiren, alle ſchön, die meilten unübertrefflih, nur wenige geringfügiger. Ein Seiten: ſtück dazu ift befanntlih Schubert's »MWinterreife« (ebenfalls von W. Müller gedichte), aus 24 Nummern bejtehend, wor: unter »Die Poſt«, »Gute Nacht«, »Der Lindenbaum« u. a. wohl unter den Liedern aller Zeiten die erften in erfter Reihe ftehen. Auffallend ift, daß zwiſchen der Muſik zur Winter: reije (Schubert 89. Werf) und der » Schönen Müllerin (feinem 25.) durchaus nicht jener Abftand, fei es an Verfeinerung der Technik oder an Berarmung der Phantaſie, vorliegt, welcher fonft fo weit entlegene Opuszahlen fennzeichnet. In beiden Liederfreifen blüht diefelbe Urfprünglichkeit und Tiefe der Empfindung, der- ſelbe verfchwenderifche mufifaliihe Reichtum, womit Schubert jo beneidenswerth audgeftattet war. Dieje Fülle mufifalifchen Stoffs, verbunden mit einer Leichtigkeit der Production, wie fie vielleiht nur noch Mozart eigen war, bedingten freilich bei Schubert ein jo befreiungsluftiges rückſichtsloſes Ausftrömen, daß von einem ftrengen Feilen und Prüfen des Einzelnen nicht immer die Nede fein konnte. War einmal der Hauptgedanfe erfaßt, fo Schritt Schubert fühn und warm auf die Hauptſache 108, nicht rechts nicht links Shauend. So fommt es, daß jelbit in feinen beiten Werken fi Verleugnungen eines feineren mufifaliihen Gefchmades finden, wie man fie bei den minder reichbegabten aber gebildeteren Liedercomponiften Mendels— fohbn und Schumann vergeblih juhen würde Es iſt nicht hier der Ort, wohl aber wäre er es in jeder höheren Mufif- ſchule, auf die zahlreichen Unfchiclichkeiten des genialen Mannes aufmerfjam zu machen. Auch die Anficht, daß Schubert die eigenthHümlihe Stimmung jedes Gebichtes ſtets auf das ge naueſte traf, fcheint ung nicht in dieſer Allgemeinheit richtig zu

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jein. Oft beherrfchte ihn eine mufifalifhe Idee fo kräftig, daß fie fih ihm mit einer nicht ganz Homogenen poetiſchen ajfimilirte; an ein nachträgliches Aendern war dann nicht zu denken. Man höre, um ein Beifpiel aus den »Müllerliedern« zu wählen, den Anfang des Liedes »Die böſe Farbe.«e Schubert fingt Die Morte: »Ich möchte ziehen in die Welt hinaus« friih und fühn audgreifend, wie ein thatenluftiger Reiterömann, während die Worte nur den gepreßten Drang eine® von Liebesleid Gequälten ausfprehen. Man vergleihe damit die Compofition deöfelben Gedicht3 von Ludwig Berger, deffen ungleich ge— ringered, aber ſorgſamer prüfendes Talent hier in ganz ent- gegengejeßter Weiſe das Richtige und Schöne traf. Will man fih vollends auf einzelne Strophen einlaffen, jo wird man Beijpiele in Menge finden, wie Schubert’ märchenhafter mufifalifcher Reichtum die bejonnene Arbeit feines Kunſtver— ſtandes oft überwucherte.

In einer einzigen Kunjtgattung hat die Muſik jeit Beet- hoven einen unbeftreitbaren Fortfchritt gethan: im Liede. Mir danken die vor allem Franz Schubert. Seit er den ersten Takt jchrieb, ift jene alte geiftlofe Liederfabrication, welche Tert und Mufif über dürftigen Dreiflängen nebenein- ander herlaufen ließ, unmöglich geworden. Weber Niehl’3 ge: harniſchte WVorreden, noch feine zahme »Hausmufif« werden diejelbe zurüdrufen.

Klara Schumann.

Der Eindrud, den Frau Clara Schumann hervorbringt, äußert fi) vorwiegend als jene reine Befriedigung, deren mir una bei der harmonischen und maßvollen Darftellung eines idealen Vorwurf bewußt werden. Clara Schumann gibt mit ihrem Spiel eine vollfommene Neproduction jede Tonwerkes, das fie im Großen und Ganzen aufgenommen, im feinjten Detail duchforiht hat und nun treu im Sinne ded Tondichters wiederbelebt. Das echt künſtleriſche Unterordnen der eigenen Subjectivität unter die Abfiht des Tondichter8 achtet Clara

Clara Schumann. 111

Schumann als unverbrüdhliches Geſetz. In diefe höhere Abficht mit verwandtem Sinne einzudringen, ift ihr dafür gegeben auch wie wenigen. Mit den eriten Tonſpielen ©. Bach's umd Beethoven's aufgewachſen, hat fich unjere Künftlerin in den Gedankenkreis der höchſten Mufikdichter längſt jo eingelebt, daß, fie nur mehr tiefere Schönheiten dort findet, wo wir Andere vor Räthſeln ftehen. Als junge® Mädchen ſchon ftellte ſich Clara Wiek dem flachen Getändel der Virtuoſität abjeit und verfündigte eine der Erjten das Evangelium der jtrengen deutfchen Meiſter. Dennoch eritarrte fie nicht in der Einfeitigfeit einer Schule: die poetiihen Epigonen Schubert, Chopin, Schu— mann und bor allem Henjelt, wurden von der jungen Pianijtin zu einer Zeit dem Publicum zugänglich gemacht, wo das anbrechende Licht diefer Namen noch matt und unficher gänzte.

Diefes ihr eindringendes PVerftändniß in jede Art von Muſik, Fall fie eben noch echte Muſik, verwerthet natürlich den ganzen Umfang der Technik nur als völlig überwundenes, ohne weiter fich fügendes Material. In dieſer oder jener einzelnen Richtung der PBirtuofität mag Clara Schumann von andern Spielern übertroffen werden; allein jo im Mittelpunkt diejer verfchiedenen Richtungen ftehend und deren Vorzüge zum reinen Ebenmaß der Schönheit verbindend, zeigt fi) fein zweiter Pianift. Hoch über die bloße Correctheit erhaben, bildet dieſe doch allezeit das weſentliche Fundament, auf welchem Clara Schumann baut. Jedes Werk in feinem eigenthümlichen mufifalifhen Styl und innerhalb deſſen wieder in feinen muſikaliſchen Proportionen und Unterjchieden deutlich) zur Er— iheinung zu bringen, iſt allzeit die Hauptaufgabe, welche die Künſtlerin fih ftellt. Sie fcheint mehr für Einen Meifter zu ipielen, der befriedigt werden, als für viele Hörer, die ergriffen fein wollen. Falls manchem der letteren eine kleine fühne Ab— weihung von der reinen Geradlinigfeit der griechiihen Profile erwünjcht geweſen wäre, jo ließe fich die darum nicht tadeln. Hinreißend, gewaltig ergreifend wirft Clara Schumann nicht. Ihr Spiel ift getreueftes Abbild der Compofitionen, aber nicht Ent— feffelung einer eigenen gewaltigen Perjönlichkeit. Der wahren Aufgabe der Virtuofität ſteht Freilich jenes nicht blos näher, es

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erfüllt fie geradezu, und Clara Schumann’3 Spiel würde ideal heißen müffen, wenn nicht alles Menſchliche unvolllommen und jeder Vorzug feinen Mangel in fid) trüge.

Clara Schumann würde nit nur die größte Pianiftin, fie müßte der erite Pianist heißen, wäre nicht das Maß ihrer phyſiſchen Kraft durch das Geſchlecht beichränft. Die Hinreißende Macht eines Klavierfpielers liegt vor Allem im Anjchlag. Nur wer den ganzen, vollen Ton aus dem Inſtrumente zieht, der wird den ganzen vollen Eindrud machen; fei e& im Sturm des Allegros oder im langgezogenen Gejang ded Adagio. Jede perſönliche Kunftleiltung wird, als ein Doppelrejultat von Geiſt und Sörper, den Bedingungen des leßteren ebenſo wie des eriteren folgen, und man braudt noch fein Karl Vogt der Mufit, fondern nur ein aufmerkfjamer Beobachter zu fein, um die unmittelbar padende Gewalt eines Pianiſten ebenfo jehr in jeinen Handmusfeln wie in feiner Seelengröße zu ſuchen. Wir erinnern beifpielöweife an Rubinſtein und Dreyſchock, deren gewaltigerer Anjchlag ihnen im Vergleich zu unferer Virtuoſin auch gewaltigere Wirkungen fihert. Streiheln und Drücden kann und das weichſte Händchen, paden nur eine Fauft. Aus diefem Grunde nur vermochte mir die zweite Varation und der Finalfa in Schumann’® »Etudes symphoniques« bei Clara Schumann den gramdiofen Gindruf nit zu machen, der in meiner Vorftellung davon Iebte. Unfere Künftlerin ift übrigens weit entfernt, fi) übermäßige Forceftüde auszumählen; fie be: ſchämt lieber die Kraftvirtuoſen der Neuzeit durch Männlichkeit des Vortrages. Nichts Weibiihes, Zerfloſſenes, Gefühlsüber- ſchwengliches herrfchte in dem Spiel Clara Schumann’s: es ilt alles bejtimmt, klar, jcharf, wie eine Bleiftiftzeihnung. Die häufigen kleinen Accente, die fie liebt, unterfcheiden ſich merf- würdig von dem Nachdrud, mit welchem die meiften Pianiftinnen in jede einzelne Note ein eigenes Gefühl zu legen ſuchen; was hier Affection der fubjectiven Empfindung, iſt dort ftet3 nur jorgfältiged Beleuchten rhythmiſcher oder harmoniſcher Gegen- füge. Wenn mir einer Seite ihrer fo vorzüglich auögebildeten Technik den Vorzug geben jollen, fo iſt e8 die blendende Leichtig- feit, mit welcher fie zierliche Süße Ichneller Bewegung fpielt.

Glara Schumann. 1 13

Alles Zarte, Luftige, Leichtbewegte glüdt ihr ungemein, wie dad am glänzenditen Mendeldjohns Lied ohne Worte, Chopin's Impromptu, Schumann’ Traumedwirren und Aehn— lihes bewährten. Auch in diefem vorzugsweiſe weiblichen Be— reih de3 Ausdruds wollte uns der Vortrag der Künſtlerin mehr tief verftändig, als tief empfunden klingen. Dem nod) immer herrichenden Mißbrauch des tempo rubato ftellt fie eine faſt ausnahmsloſe Strenge des Takte entgegen. Der metro- nomgleiche, jogar im Baſſe jcharf markirte Vortrag des ge: bundenen Mittelfages in den Des-dur-Impromtu von Chopin wird manchen überraicht haben. Niemand kann ihn tadeln. Ob aber auch Chopin's Mufit dadurd gewinne, daß man ihr füßträumendes Helldunfel durch taghelle Beleuchtung zeritreut, möchten wir nicht enticheiden. Wenigſtens dünft uns der weich anjhmiegende, finnende Ausdrud, mit welchem die ſchwächere Wilhelmine Clauß derlei Chopin’sche Stüd fpielte, in dieſem Fall das richtigere getroffen zu haben.

Die edle Auswahl, welhe Frau Schumann für ihre Con— certe trifft, Hat die rühmendfte Anerkennung alljeits gefunden. 63 ift eben ein nothwendiger Ausflug echter Künftlernatur, ih nicht zum Dienfte des Gemeinen herabzumürdigen. So un— erhört die Vorführung von Beethovens A-moll-Sonate (op. 101), von Mendelsſohn's Variations serieuses, von Schumann’ »Spmphonifchen Etuden« u. dgl. in einem modernen Concert it, fo glänzt da8 Programm Clara Schumann’? ebenjojehr durch feine durchwegs unbefledte Reinheit, wie durch jene ein- zelnen Juwelen. Bereit3 drohen die Goncerte, welche mit Beethoven beginnen, um mit Kullak zu enden, Tagesord— nung zu werden. Sn der Sucht, Allen gereht zu werden, tragen fie aber den Keim der Zerftörung in ſich felbit; denn auc die Muſik ift eine moralifhe Macht, mit der fich nicht ſpaßen läßt.

Clara Schumann ſpielt nicht blos gut, ſie ſpielt nur Gutes. Zum größten Danke verpflichtet fie uns durch die juc- ceifive Vorführung der Clavierwerke ihres trefflichen Gatten, Robert Schumann. Diefer tiefe, geiftvolle Componiſt bat eine große Zahl von Slapiercompofitionen von außerordentlicher

Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 8

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Schönheit, zum Theil aber aud von fo ungemeiner Schwierig: feit geihaffen, daß ein Virtuoſe erften Ranges dazu gehört, fie zu bewältigen. Leider hat Franz Liſzt diefe fünftleriiche Schuld nie eingelöft. Defto muthiger und erfolgreicher erfüllt jegt eine Frau die Schöne doppelte Miffion als Künftlerin und Gattin. Außer den großartigen »Etudes symphoniques« (op. 13) hörten wir von Schumann’ Compofitionen in den beiden eriten Goncerten Clara's noch das herrliche Quintett in Es, einen »Canon« aus op. 56, »Des Abends« und »Traumed- wirren« (aus den Phantafieftüden op. 12), »Iagdlied« und »Schlummerlied« (aus op. 124). Zwei ebenfo eigenthümliche als werthvolle Zwifchennummern waren ferner zwei Balladen bon Sr. Hebbel für Declamation mit hiezu componirter Glavierbegleitung von R. Schumann. Obmohl grundjäglich gegen dies melodramariihe Genre eingenommen, in welchem fih die Muſik vom geſprochenen Worte jpröde jondert, wie Del vom Wafjer, und eine Kunft die andere beeinträchtigt, anftatt fie zu mehren, konnten wir und doch diesmal eines verhältnigmäßig reinen Eindruds erfreuen. Hebbel's meiſter— hafte Balladen, deren erftere Schön Hedwig«) ein liebliches Bild von Mädchentreue und Nitterlieb’ entfaltet, während die andere (»Der Haidefnabe«) ein graufiges Nochtſtück mit über: wältigender Kraft Jchildert, werden von Schumann's Muſik in bejcheidener, fein anempfindender Weiſe interpretirt. Die Muſik verzichtet durchaus auf die eigene Körperlichfeit und folgt nur wie ein Schatten bald leichter, bald dunkler den Geſtalten des Dichters. Da mit der Meijterin am Glavier eine ebenbürtige Meifterin in der Declamation fich verbunden hatte (Marie Seebad), und in diefer mit der höchſten Kunft der Rede ein feined mufifaliiches Hören, fo ftrömt das ganze Melodram wie von Einer Kraft erfchaffen und gehalten, er: greifend an den verdoppelten Organen unfrer Phantafie vor— über.

Slavier : &oncerfe.

Der Kritiker jollte wohl feinem Lefepublicum »für gute und ſchlechte Zeiten« angetraut jein, wie das engliihe Ehe—

Clavier⸗Concerte. 115

gelöbniß lautet. Allein wenn die muſikaliſchen »hard times« nicht einmal den Reiz gewaltiger äſthetiſcher Unthaten oder Mißgeſchicke bieten, ſondern blos die Abgeſpanntheit lang— weiligen Alltagslebens, dann wird das Publicum hoffentlich ſeinem Berichterſtatter Perioden eigenſinniger Schweigſamkeit vergeben. Auch der Aeſthetiker hat Zeiten, wo er, von jeder erhebenden Erſcheinung abgetrennt, wenigſtens Schlechtes von einer anderen Art herbeiwünſcht,

»Verbrechen groß und coloſſal, Nur dieſe ſatte Tugend nicht, Und zahlungsfähige Moral«!

Unter ſolchen Umſtänden habe ich nun eine ziemliche An— zahl mittelmäßiger Clavier-Concerte dem Leſer verheimlicht, weniger vielleicht aus Bequemlichkeit, als geleitet von der Ueberzeugung, daß auf einem großen und gemiſchten Muſik— markt, wie der unſere, das gänzlich Bedeutungsloſe den An— ſpruch und die Beſtimmung habe, ignorirt zu werden. Heine, der im Laufe einer Pariſer Saiſon in eine wahrhafte Clavier— Vernichtungswuth gerathen war, fchleuderte damals jeine nied- lihften Bliße gegen dieſe »grellen Klimpertöne ohne natürliches Berhallen, diefe herzlofen Schwirrflänge, dieſes erzprofaiiche Schollern und Pidern, dieſes al’ unjer Denken und Fühlen tödtende Fortepiano, das und dumm macht, abgeftumpft umd blödfinnige. Ganz jo weit find wir nun glüdlicherweile hier noch nicht, wenn auch mancher böswillige Verfuch gelang, ung die Schattenfeiten der Glavierconcerte tief eindringlich zu machen. Aufrichtigen Dank verdienen zwei muthige Pianiften, welche offenbar in der Schönen Abſicht jpielten, andere jugend: lihe Concertlüftlinge vor ähnlihen Wagniffen abzuichreden. Um das Teuer des Mufikvereinsfaals zu fürdten, braucht man fih nicht mehr felbit gebrannt, ſondern blos gejehen zu haben, wie die die Herren Geiger und Hirit thaten. Bejonders der fegere, ein bildhübjcher junger Engländer, war ergöglich, wie er mit namenlofer Gelaffenheit die befammteften Chopin'ſchen Mazurfad aus dem Motenheft Herabipielte, ohne meiteren Uebergang eine Badh’ihe Fuge daran heftete und dergleichen

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mehr. Es iſt ein Außerit angenehmer Gedanke, daß auf dem Felde der Tonkunſt die Goncurrenz der Engländer nicht zu fürdten fei. Das innerjte Weſen des Engländer ift unmuſi— faliid und das der Muſik antiengliih, wir wollen nicht entjcheiden, welcher Theil mehr verliert.

Herr Dionys Pruckner, ein jolider und gefälliger Pianift, gab ein zweites Concert mit rühmlichem Erfolge. Ein ſchöner Anfchlag, tabelloje Gorrectheit, eine eminente Unabhängigkeit beider Hände, ftehen beit Brudner im Dienfte echt mufifalifcher Auffaffung. Was ihm abgeht, iſt der ftarfe Fittig des Genius, der auf: ftürmend uns mit fi) fortreißt. Etwas nüchtern Abgemeſſenes flebt jeinen technifch jehr durchgearbeiteten Leiftungen an, das vielleicht in der weiteren Lebensentwidlung des jugendlichen Künftlers fih noch abſtreifen kann. Herr Brudner Hatte feine beneidenswerthe Technik u. A. auf ein Virtuofenftüd ſehr alltäglicher Art, eine Polonaiſe von Liſzt, verichwendet. Es liegt eine eigenthümliche Ironie darin, daß gerade Herr PBrudner, dies Urbild eines foliden, beinahe bürgerlih bedächtigen Clavier— Virruofen, dieſes Mufter von Klarheit und Genauigkeit, diejes Widerjpiel jeder Ercentricität, ja jeder Kühnheit, daß gerade Pruckner zum Herold der Liſzt'ſchen Clavier-Razzias werden mußte. Wo Liſzt aus eigenen Mitteln componirt, bringt er es nicht über einzelne intereffante Einfälle; nur in der Bearbei— tung fremder Themen wirft feine geijtreihe Combination und feine feine Kenntniß des Glaviereffectes anziehend.

Ueber die ſich häufenden jchlechten Clavierconcerte doch nicht ganz zu ſchweigen, it eine Pflicht der Kritik. Wir erfüllen legtere durch den Wunſch, e8 möchten vorgerüdte Schülerinnen, wie Fräulein Bondy, die fiegreihen Schlachten, die fie im Familienfreije oder Prüfungsſaal auf dem Glavier geichlagen, nicht fogleih auf das gefährlichere Terrain der Deffentlichkeit übertragen. Nicht eine Seite der Technik iſt bei Fräulein Bondy in höherem Maße auögebildet. Vor Allem fehlt es an Ausdauer und Kraft des Anſchlags, namentlich in Octaven— gängen, wo die Hände der Goncertgeberin matt wie ange- ſchoſſene Vögel über die Claviatur flattern. Noch Fühlbarer drückt natürlich der Mangel jeder geiltigen Kraft des Aug:

Dom Mozartfeft in Wien. 1 17

drucks, jei es, daß fie uns elaftiich mit fich emporichnellen oder fih mild und tief in unjere Seele einfenfen joll. Solch emfiges, faft ängftliches Zufammenfädeln der Töne ift geiftiger Tod für Beethoven’: Muſik, und war es jelbit für deſſen G-dur- Sonate (op: 29), jo unverlegt deren äußerer Leib erichien. An Schumann’ »Traumedwirren« reichte die Technif der Eoncertgeberin nicht hinan; das phantaftifche Leben vollends, das darin wie unaudgefegter Funkenregen iprüht, war bis auf die legte Ahnung getüdtet.

Dom Mozartfelt in Wien.

Das Feitconcert zur Hundertjährigen Wiederkehr von Mozart’3 Geburtötag iſt am 27. und 28. Jänner im großen Nedoutenfaale unter ungewöhnlihem äußern Glanze vor fid) gegangen. Bekanntlich war es der Gemeinderath der Stadt Wien, welher das FFeltconcert zum Gedächtniß Mozart’s ver: anftaltete. Er hat fih damit um den Dank jedes vaterländiichen Kumftfreundes verdient gemadt, denn nicht ein Privatmanı oder ein Verein, jondern die Stadt Wien jelbit mußte durch dieſe Huldigung die untilgbare Schuld wenigſtens aner: fennen, in welde fie gegen ihren Bürger Mozart zu defien Lebzeiten verfiel. Die Stellung, die Mozart als Mann und pollendeter Meijter in Wien einnahm, war eine traurige Fort: jegung der Mißachtung, welche der Knabe und Jüngling von jeinem geiftlihen Souverän in Salzburg zu tragen hatte.

In der Anordnung des Feitconcertes ging dad Comité von dem Princip aus, durch Vertretung aller mufifalifchen Hauptgattungen die künſtleriſche Univerſalität Mozart’3 zu illuftriren. Diefer Gedanke, die wunderbare Vielfeitigfeit Mozart’3 in dem fleinen Rahmen eines Goncertes abzufpielen, hat jeden: fall viel Beftehendes, muß aber in der Ausführung unläug- baren Uebelſtänden begegnen. Stücde, wie das erfte Finale aus Don Juan und das Dies irae aus dem Nequiem gehören nım einmal nicht in's Concert. Einer Eleineren Stadt, welche nicht in der Berfafjung it, nebit Mozart’s iymphoniftiichen Com:

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poſitionen noch feine firhlihen und dramatiichen Meiſterwerke in der Kirche und im Theater würdig aufzuführen, mag allen: fall3 ein folches Zufammenrüden aller Style angemefjen ſcheinen. Wien hätte ein Mozartfeft nah allen vier MWeltgegenden des mufifalifhen Reiches feiern fönnen und ſollen: in Der Kirche, im Concertfaal, in der »Kammer« und im Theater. Die vollftändige Aufführung des Requiem in einer der größeren Kirhen hätte dem Feſte vorauögehen, und eine mujfterhafte Borftellung des Don Juan e3 bejchließen jollen. Statt deſſen gab man am 27. im Kärntnerthortheater: »Gute Nadt, Herr Bantalon«e!! Außerdem, daß dad Programm Concert: widriges enthielt, brachte es auch zu Vieles*). Man wurde erdrüdt von Mufit und mußte bei der ungeheuren Hige, die im Saale herrſchte, fih Tange vor dem Ende geiltig und förperlich ermatiet fühlen. Mufitproductionen jollten aber eher die größte Selbitverläugnung üben, ehe fie durch Ueberfülle den Totaleindrud trüben. Die Ausführung der Mufifftüde war, mit Ausnahme des Finales aus Don Juan, eine vorzügliche. Diefes Finale, defjen Webertragung in den Concertjaal, wie erwähnt, Ihon an fih ein Mißgriff, wurde überdied von den erften Sängern und Sängerinnen des Kärntnerthortheaterd mit einer an Impietät grenzenden Läffigfeit abgefungen, ganz wie ein langmweilige® Penſum, dejjen man fih mit Unluft entledigt.

Belanntlih ging das ganze Feltconcert unter der perfön- lihen Leitung von Franz Liſzt vor fid. Seine zu dieſem Zwef vom Wiener Gemeinderath veranlaßte Berufung bat unter den Mufifern und im PBublicum jo lebhafte Discuffion veranlaßt, daß wir diefer Frage, fo delicat fie ift, nicht aus dem Wege gehen wollen. Alles wohl erwogen, was fich gegen die Einladung Liſzt's ernftlich einwenden läßt, fann man doch eigentlih von ihr nur jagen, daß fie niht nothwendig war. Sie war für's erjte nicht nothiwendig, weil wir in Wien an

*) Das Programm enthielt: 1. Ouverture zur Zauberflöte. 2, Prieſterchor »Iſis und Oſiris«. 3. Clavier-Concert. 4. Dies irae, 5. G-moll-Symphonie. 6. Concert:Arie und PViolinfolo. 7, Finale ans Don Juan.

Vom Mozarifeft in Wien, 119

Eifer und Edert jehr tücdhtige und gebildete Gapellmeifter befigen, denen die Leitung eines großen Goncertes, und vollends eines nur aus Mozart beitehenden, mit der höchſten Beruhi— gung amvertraut werden fonnte. Für's zweite ſteht Liſzt's fünjtleriihe Individualität zu Mozart in gar feiner organifchen Beziehung, noch weniger in der factiichen, daß Liſzt zum Ver— ſtändniß umd zur Verbreitung Mozart’3 etwas beigetragen hätte, wie ihm dies in hohem Grade rüdfichtlid Beethoven’3 zu— geitanden werden muß. Ein Beethoven und Schubertfeft von allgemeiner nationaler Bedeutung wäre in der That nicht recht vollftändig ohne die Gegenwart Liſzt's. Zu Mozart verhält fih Liſzt ganz anders; ilt er doch Yahnenträger einer muſi— faliichen Bartei, welche Mozart's Compofitionen zu den ab: gethanen Ammenmärchen wirft, über die der echte Jünger Richard Wagner’: nur noch lächeln kann. »Mozart, c'est le premier des eompositeurs medioeres«, ſagte und einft eine Autorität diefer neuen Propaganda. Lilzt hat übrigens vor wenig Tagen in einem eigenen Aufſatz für feinen gut Mozart: ihen Glauben das Wort erhoben und die Oppofition darauf reducirt, daß man auf dem Standpunkt Mozart’ nicht für alle Zeit ftehen bleiben müſſe, wogegen fich allerdings nichts einwenden läßt. Beethoven war eö, der zuerit und wiljentlich mit dem Mozart’ichen Ideale brach, dennoch aber hat er Itets mit liebevoller Verehrung an Mozart gehangen, aus dem er hervorging.

ALS das Feitcomite Liſzt zur Direction einlud, hatte es vor allem wohl den Wunſch, durch eine hervorragende und be— rühmte Perſönlichkeit dem Concerte nicht blos Tüchtigkeit, ſondern auch Glanz zu verleihen. Daß fih mit dem Ruhme Liſzt's fein anderer lebender Dirigent vergleichen fann, wird man faum be: ftreiten. Es war demnach aud mit Sicherheit vorauszuſehen, daß die Erſcheinung Liſzt's hinreihen würde, ein außerordentliches Zuftrömen des Publicums an beiden Concerttagen zu bewirken. Wir glauben kaum, daß ohne Lilzt der Andrang ein jo außer: ordentlicher gewejen wäre, eine Erwägung, welche bei der wohlthätigen Widmung der Ginnahme dem Gomite wichtig genug jein mußte. Mochte nun im Schooß des Comité's für

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oder gegen Lilzt’3 Berufung noch fo heftig gejtritten werden mit dem Augenblid, als dieje Berufung bejchloffen war und Liſzt feine Bereitwilligfeit erklärt hatte, ihr Folge zu leiſten, mit dieſem Augenblid hätte jede fcheelfüchtige Regung ſchweigen follen. Liſzt, der die Einladung nit angeſucht, ſondern ihr mit einer feltenen Umeigennüßigfeit, ohne jede Vergütung ges folgt war; Liſzt, der die mühevollen Proben mit einem Eifer leitete, deifen Verdienſt nur durch die Beſcheidenheit noch über: boten wurde, mit welcher er beim Feitconcert fich jelbit jo ganz in den Hintergrund ftellte; Liſzt hätte vom Moment feines Eintreffend mit jener ausgezeichneten Rüdficht behandelt werden jollen, die man einem fo bedeutenden und Liebenswürdigen Gaſte jchuldet. Daß dies weder von Seiten der Mufifer, noch ſelbſt des Publicums in dem Maße geichah, welches wahre Urbanität ſo gerne einhält, iſt uns ſehr bedauernswerth er— ſchienen. Gerne hätten wir es unerwähnt gelaſſen, doch durften wir den Anlaß nicht verſäumen, gegen einen Pfahlpatriotismus zu proteftiren, deffen Glaubensbefenntniß offenbar mit dem Artifel beginnt, daß man gegen Fremde unartig fein darf. Wenn diefe Partei unferer Meichbildfanatiker fich entiprechend feitiekt, fo wird fie e8 aus lauter Patriotismus dahin bringen, daß ausgezeichnete Künſtler fih vor einem Beſuch in Wien kinftig ein Weilchen befinnen werden.

Dom Mozartfeft in Salzburg.

Unſer Concertfaal heißt für heute Salzburg. Die Elite der Miener Mufikfreunde hat fich hier eingefunden, das hundert: jährige Jubiläum von Mozart’ Geburt (1756) zu feiern. Der Vorabend des eigentlichen Feſtes jollte durch eine mufi- faliihe Huldigung vor der Mozartitatue bezeichnet werden. Ein langer Zug von Fadelträgern, Sängern und Mufikern bewegte fih von Mirabell über die Brüde zum Mozartpla, ordnete ſich daſelbſt vor dem Standbild und ftimmte die Gantate an. Sowohl dem Gedichte von Friedrih Bed, als

Vom Mozartfeft in Salzburg. 121

der Mufif von Franz Lachner (fünfftinmiger Männerchor mit Blechharmonie) kann man eine ruhig edle Haltung und einen, wenn auch nicht hochfliegenden, doch warmen Ausdrud nad: rühmen. Es hat fih für derlei Feitcantaten kleineren Um— fanges eine Art ftereotypen Styls gebildet, welchen Poet und Componiſt im beiten Fall mit Klarheit und Anftand hand: haben, jelten zu kraftvoller Originalität durchbrechen. Der Dichter vergißt fih doc nicht gern fo weit, einen Genius, wie Mozart, zu loben, und für den Gomponiften hat die Zu— muthung, den größten Tonmeilter mit Tönen zu feiern, gewiß ebenfalls etwas Beengended. Daß die ganze Abendfeier vor dem Denkmal nicht? innerlih Zündendes, nichts wirklich Be— geiiternde3 Hatte, darf wohl eingeräumt werden. Es fchien in der dichtgedrängten Volksmenge jedes theilnehmende Verftändniß des Feſtes zu fehlen. Wir haben vergebend umhergeipäht, um irgend eine Regung, einen Ausruf zu belaufchen, der nicht blos dem rothen Bengalfener gegolten hätte. Die drei von den Sängern ausgebrachten »Hoch!« verpufften ſchwächlich tie feuchte Raketen, daS Volk wartete unbeweglih eine Weile, ob vielleicht nod) etwa® »los« wäre, dann verlief es fih. Wir wollen nicht abitreiten, daß von Seite der Feitgeber vielleicht etwas mehr hätte gejchehen können, nm die Bedeutung der Feier der Maffe einleuchtender zu machen; ſei e8, indem man durch bildlihe Darstellungen oder Maskenzüge die Hauptfiguren Mozart'ſcher Opern vorführte, oder durch eine furze Rede vor den Stufen des Denkmals das Verſtändniß wie einen Licht: blig in die Menge warf, oder am beiten, indem man auf beiden Wegen zugleich Phantafie und Verftand anſprach. Trotz— dem dies aber unterlaffen worden, hätte die Theilnahme febhafter jein können und müfjen, würde das Volk eine Ahnung gehabt haben von der Bedeutung ſeines Mitbürger® Mozart. Es war mir eine neue, gewichtige Beftärfung der Ueberzeu— gung von der ariftofratiichen Natur der Kunſt und des Künſt— lerd. Der populärfte aller großen Componijten, Mozart, ftand unter der großen Menge, die jein Standbild neugierig ums ringte, wie der fteinerne Gaſt hoch zu Roſſe unter den niederen Leichenfteinen.

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Die mächtigen Harmonien im Dom find verflungen, die— jelben Harmonien im jelben Dom, wo Mozart und jein treff- liher Vater zur Ehre Gotted fo oft muficirten. Wir gehen aus der Kirche zu Mozart's Geburtsſtätte. Es iſt ein hohes ſchmales Haus in der Getreidegafle; drei Zimmer im dritten Stodwert bildeten durch viele Jahre die Wohnung Leopold Mozart’3, der auch darin die Augen ſchloß. Im mittleren großen Zimmer ward Wolfgang geboren, in dem Kleinen Stübchen nebenan hat er gearbeitet. Ein fleine® Spinett fteht darin, von dünnem, zitherartigem Tone Mozart bediente fich dejjen in Wien des Nachts, um Frau und Kinder nicht zu weder An diefem armjeligen Kaſten entjtanden feine Zauberwerfe! Mozart's Goncertflügel, feine Kleine Geige, einige Briefe und Gompofitionen feiner Handſchriften find als koſtbare Reliquien aufgeitelt. Das große Familien: bild von La Groce und daß berühmte Kleine Buchsbaum— medaillon, beide durch taufend Wervielfältigungen befannt, bliden hier nebeneinander auf die andächtigen Verehrer Mozart's. Sie blicken in manches feuchte Auge. Die Wohnung Mozart's, auzgeftattet mit all’ dem theuren Andenken, verbleibt leider nicht in dieſem heilig ftillen Zuftand: ein Kaufmann bewohnt die Zimmer und überließ fie nur für die Feittage der Ver— ehrung jo vieler Fremder. Die Zeichen merfantiler Thätigfeit nehmen jet noch Flur und Hofraum ein, und wer mit fcheuer Ehrfurcht ind Hausthor tritt, der part jchnell fein Herzklopfen und fommt fih unter Kiften und Fäſſern vor, wie im erjten Band von Freytag's »Soll und Haben«.

Das erfte, nur au Mozartihen GCompofitionen zus ſammengeſetzte Feitconcert ging am 8. September in wür— digiter Weile vor fih. Das war eine wahre, ja die einzig wahre Feier des Meifters, denn fie geihah durch feine eigenen Werke und vor funftliebenden Menjchen, die gefommen waren, um Mozart zu hören. E83 ift ung eine alte, unerichütterliche Erfahrung, daß ſich jedes Unternehmen, einen großen Geift anders als geiltig zu feiern, durch Mißerfolg rächt. Schon mit den Monumenten fängt meift das Unheil an. Wie hat Mozart's Standbild in Salzburg, unähnlid in den Gefichtö-

Dom Mozartfeit in Salzburg. 123

zügen, unmalerifh in der Stellung, Heinlih im Totaleindrud, wideritimmend dem Charakter der freundlichen, bergumtfreiften Stadt, wie hat e8 jo gar wenig innern Bezug zu dem, mas und »Mozart« bedeutet! Vor der mißlungenen Statue hatten wir borgeitern die mißlungene Straßen:Ovation: ſtockende Feier und ftodende Theilnahme. Geſtern erſt gelangte das Felt, wohin es gehörte: in den Concertjaal, und das Herz jedes Anmwejenden feierte es freudig mit.

1857.

„Les preludes‘.

Symphoniihe Dichtung für großed Orcheſter von Franz Lifzt. (Aufgeführt von ber Gejellichaft ber Muſikfreunde am 8. März 1857.)

Als der genialſte Virtuoſe unſerer Zeit, Franz Liſzt, der Triumphe müde ward, die Europa ſeiner echten Kunſt ſo gerne noch länger bereitet hätte, ſchickte er ſich bekanntlich an, durch eigene große Schöpfungen die Welt zu überraſchen. Wer nicht blos an geiſtige Thätigkeit, ſondern ebenſo ſehr daran gewöhnt iſt, daß ihr der Lorbeer auf dem Fuße folge, der vermag den Schauplatz der Oeffentlichkeit nicht zu verlaſſen; er wechſelt ihn nur. Der Ruhm des Tondichters Liſzt ſollte den Ruhm des Virtuoſen ſofort verdunkeln. Es fanden ſich enthuſiaſtiſche Freunde, und ließen ſich auch gefällige Schrift— ſteller finden, welche dieſe Transfiguration Liſzt's als ein Er— eigniß von unabſehbarem Gewinn für die Entwicklung der Tonkunſt darſtellten. Wir ſind im Gegentheil der Anſicht, daß die muſikaliſche Welt durch die Abdication des Virtuoſen Liſzt einen Verluſt erlitten habe, welcher ihr durch den Componiſten nur entfernt erſetzt wird. Wer die künſtleriſche Individualität Liſzt's während der langen Dauer ſeines Virtuoſenthums auf— merkſam beobachtet hatte, durfte ſich wohl von vornherein einige Schlüffe auf den Charakter feiner neuen Compofitionzthaten erlauben. Die Clavier-Gompofitionen Liſzt's, die befanntlich einen artigen Stoß bilden, waren durdaus von fo mittelmäßiger Erfindung, daß man faum von Einer daraus hätte behaupten wollen, fie werde fich in der mufifaliichen Literatur erhalten.

»Les preludes«e von Liſzt. 125

Eine große Kenntniß des Clavier-Effects und manch interefiantes Aperçu find alles, was ſich von Liſzt's Glavierfahen rühmen läßt, bei einem Pirtuofen von Geift jelbjtverftändliche Dinge. Seiner dürftigen Erfindungsfraft bewußt, pflegte Liizt meiftens fremde Melodien in Transfcriptionen, Phantafien u. dgl. zu verarbeiten. In diefe Claſſe gehört ohne Ausnahme alles, was jemals von Lilzt Beliebtheit errang. Ueberall, wo er hin- gegen aus eigenen Mitteln arbeitete, brachte Liſzt ein wunder: liches Gemiſch von Gemeinplägen und Bizarrerien zumege, man ertrug diefe Compofitionen, wenn er fie fpielte. Noch in jeinen legten Glavier-Gompofitionen, dem » Album de pelerinage« u. dgl., kann man fait ausschließliche Herrichaft diefer beiden Factoren wahrnehmen, zugleich das zunehmende Beſtreben, durch beigefügte Gedichte und ſogar Bilder die Armuth des mufifalifchen Inhalts zu bemänteln. Schrieb Lilzt irgend einen Chor, jo fonnte man nah den erjten Tacten den Componijten an der gequälten Melodie, den unjangbaren Mittelitimmen, der zer: fallenden Form erkennen.

So verhielt es fih an 30 Jahre lang mit Liſzt's Com— pofitionen, die jo gut wie einftinmig abgelehnt wurden. Nun nahm ſich Liſzt plöglich vor, mit großen, bedeutenden Schöpfungen bervorzutreten. Mit der ihm eigenen geiftigen Regſamkeit und beneidenöwerthen Energie ging er an die Aufgabe. Zu einfichtövoll, um nicht Die auffallenditen Lücken feiner Begabung zu kennen, mußte er fih der Mufif von jener Seite nähern, wo fie, an äußere Objecte gelehnt, vorzugsweife den vergleichenden Ver: ftand beichäftigt und die poetiiche oder malerische Phantafie anregt. Er bradte mit Einem Wurf neun Symphonien zur Welt, die er »ſymphoniſche Dichtungen« nannte und mit ipeciellen den Inhalt diefer Muſik erflärenden Programmen verfah. Die Titel diefer Stüde find: »Ce qu’on entend sur la montagne, Tafjo, Les preludes, Orpheus, Mazeppa, Brometheus, Feitflänge, Heroide funebre und Hun— garia. Nimmt man dazu, daß Lilzt gegenwärtig an einer mufifaliichen Webertragung der »Sdeale« von Schiller, der »göttlichen Comödie- von Dante, des Goethe'ſchen Fauſt und ähnlicher Kleinigkeiten arbeitet, ſo wird man zugeben, daß

126 1857.

der Componift die höchſten Anſprüche macht, die überhaupt in der Mufif erhoben werden können. Er achtet jeine Mufik für fähig, die gewaltigiten Erfcheinungen des Mythus und der Ge- ichichte, die tiefiten Gedanken des Menſchengeiſtes nachzugeigen und nachzublajen. Den Mufifer muß diefe Methode von vorn— herein jehr bedenklich ftimmen, indem fie far genug ansſpricht, daß es fich Hier nur nebenbei um Mufif handle. Hauptiache ift der poetiiche Stoff, diefer ſoll durch mufifaliihe Randzeichnungen geijtreich illuftrirt werben. Die Berechtigung der dejcriptiven Mufit überhaupt angenommen, iſt Doch wieder ein großer Unterfhied zwijchen den Stoffen, welche man ihr zumuthet. In der »Meeresitille und glüdlihen Fahrt«, im »Sommernadt2- traume, im Programm der Paſtoralſymphonie u. dgl. wird Niemand die Ungezwungenheit der mufikalifchen Anjpielung ver: fennen, ein Mazeppa aber ift geradezu widermuſikaliſch, ein Prometheus jeder muſikaliſchen Beziehung jo fern, daß ſolche Ueberfghriften von Symphonien nur den Eindrud einer Brahlerei machen fünnen.

Es iſt faum nöthig, hier die Frage über Berechtigung der Programm: Mufit von Anfang aufzunehmen. Niemand denkt mehr fo engherzig, dem Tonſetzer jede poetifche Anregung ber: fagen zu wollen, welche die Beziehung zu einem äußern Stoff ihm bietet. Die Mufif wird zwar nimmermehr im Stande fein, das bejtimmte Object audzudrüden oder deſſen wejentliche Merkmale jo darzuftellen, daß man fie ohne die Ueberſchrift erfenne, allein fie mag immerhin die Grunditimmung davon nehmen und mit der deutlichen Benennung an der Stirne wenigſtens anſpielend, wenn auc nicht darftellend wirken, Die Hauptbedingung wird immer bleiben, daß die Mufif, allem Titel und Programm zu Troß, denen fie ihre Färbung leiht, doh immer auf ihren eigenen Gejeßen ruhe, ſpecifiſch mu— fifaliich bleibe, fo daß fie auh ohne Programm einen in fih flaren felbitftändigeun Eindrud mache. Dies nun ift die erite wichtigſte Einwendung, die man gegen Liſzt erheben muß, daß er dem Sujet feiner Symphonien eine weit größere miß- bräuchliche Miſſion auferlegt: nämlich den fehlenden mufifaliichen Inhalt entweder geradezu zu erjegen oder deffen Atrocitäten zu

»Les pröludese von Liſzt. 127

rechtfertigen. Zeder Menſch mit gefunden Sinnen wird fih von dem diffonirenden Geheul, das einen jo wejentlihen Theil der »Mazeppa-Symphonie« bildet, abwenden. Durch dieje Leber: fhrift nun foll eben dad, was und an fich mufikaliich ab: ſcheulich dünkt, al8 treffend und nothwendig aufdisputirt werden. »Der Componiſt wollte ja die jchmerzlihen Zudungen des geichleiften Mazeppa jchildern« u. ſ. f. man wird zugeben, daß bei folcher Ausdehnung des Programmprincips es mit der Muſik einfah zu Ende ift. Den »ſymphoniſchen Dichtungen« find, wie gejagt, erflärende Vorreden von Liſzt vorgedrudt, die ganz in dem entießlichen, jchmwülftigfentimentalen Ton Richard Wagner’3 abgefaßt find. Ein ebenjo merfwürdiges Licht, wie dieſe jpeciellen Vorreden, die gleich einem Balletprogramım den taubftummen Tanz erklären, wirft die den Partituren vor: gedrudte gemeinfame Erklärung auf die falihe Methode Liizt’s. »Obſchon ich bemüht war«, heißt es darin, »Durch genaue Auf: zeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, jo verhehle ich doh nicht, daß mandes, ja ſogar dad Weſentlichſte, fi nicht zu Papier bringen läßt.« Ich überlaffe es dem mufif- fundigen Leſer, zu enticheiden, inwiefern man es noch mit Ton: werfen zu thun habe, wo daS »Mefentlichite« desfelben ſich nicht in Noten wiedergeben läßt. Dirigenten und Spieler müſſen demnah für Liſzt'ſche Compofitionen mit einem beiondern Ahnungsvermögen audgeitattet jein, von den Zuhörern ver: fteht ſich dieſe Schuldigfeit von ſelbſt.

Es war zu erwarten, daß Lijzt in allen Neußerlichkeiten neu fein werde, So ift die Form feiner ſymphoniſchen Dichtungen ein Mittelding zwiſchen der erweiterten Duverturenform Mendels— john’3 und der mehrfägigen Symphonie. Liſzt läßt die drei bis vier im Charakter ſcharf unterfchiedenen Abtheilungen, aus denen feine Symphonien bejtehen, wie in freier Phantafie, zwanglos ineinander übergehen, jo daß das Ganze äußerlich als ununter- brochene Einheit aufgeführt wird. Das hindert freilich nicht, daß dieje Beitandtheile oft mojaifartig aneinander gereiht, oft chaotiſch durcheinander gemengt erjcheinen. Die Form einfätiger Symphonie kann eine Zufunft haben, wenn fie von echt mufifaliichen Kräften gepflegt wird; man bedarf für Concert:

128 1857.

Aufführungen Orchefterftüde, deren Ausdehnung etwa die Mitte zwifchen der Duverture und der Symphonie hält. Sämmtliche Liſzt'ſche »Dichtungen« find mweislich furz gehalten.

Die »Präludien« erfcheinen charakteriftiich durch die Me— thode, wie die Muſik zu dem fertigen Programm rein auf dem Wege der Reflerion hinzugebracht wird. E3 ift faum mehr als ein mwißiger Gedanke, was den ganzen Stoff der Symphonie bildet: die Vergleichung des Menfchenlebens mit einem »Präludium« zu einemunbelannten jenfeitigen Gejang. Die mufifaliiche Bedeutung vom »Präludium« Liefert nun dem Componiften die nöthigen Guir— landen von Harfenarpegien u. dgl. In der Lamartine'ſchen Deutung werden »Liebesglüd«, »Sturm«, »ländlide Einſamkeit« und sfiegreiher Kampf« als rajch ineinanderfließende Nebelbilder porgeführt. Welche materielle Leberftopfung damit in den engen Rahmen eines Mufikitüdes gebracht wird, ergibt ſich von jelbit, ſowie die Unvermeidlichkeit einer Zerftreuung, welche daS gerade MWiderjpiel jener geiftigen Sammlung ift, die dag echte Kunſt— werf beabfichtigt. Won rein muſikaliſchem Standpunkt find die »Präludien«e die klarſte und gefälligite aus der Reihe der Liſzt'ſchen metaphufiihen Abhandlungen. Wir finden zwar fein Thema darin, das an fich originell oder bedeutend heißen fönnte, vielmehr unterlaufen ſowohl in den pathetiichen als den fentimentalen Theilen Anflänge von bedenklicher Trivialität; nod) weniger entdeden wir in dieſem poetiichen Vagabundiren der Vhantafie jene muſikaliſche Gedanfenentwidlung, die mir als »thematifche Arbeit« in jeder größeren Gompofition finden und finden wollen. Der ehrgeizige Drang, jeden Augenblid mit etwad Neuem, Genialem zu überrafchen, bringt vielmehr eine Unruhe in das Ganze, welcher geradezu etwas Dilettantiiches anflebt. Demungeadhtet vermögen die »Préludes« den Hörer intereffant anzuregen. Es zeigt ſich darin ein jehr lebhafter Sinn für Zufammenftellung der Stlangfarben; wir erinnern nur an die Inftrumentirung des an fich ziemlich gewöhnlichen Themas in E-Dur, das (Seite 21 der Bartitur) von vier Hörnern und getheilten Bratjchen breit vorgetragen, von Violinen, und Harfenaccorden leicht umſpielt, von reizender Wirfung iſt Ebenſo bringen (Seite 32) die aufjteigenden chromatiichen Serten-

»Les preludes« von Liſzt. 129

gänge des Streichquartett, anfangd nur von Fagotts und Glarinetten in der Tiefe, dann durch Oboen und Flöten ver: ftärft, eine wahrhafte Windsbraut hervor. Der lebte Sak iſt nicht viel mehr, ald ein Parademarſch, mit allem Glanze lärmender Saniticharenmufif ausgeitattet. Darauf vergißt Lilzt niemals; er weiß zu gut, wie folch rein finnliher Eindrud beim großen Publicum immer feine Schuldigfeit thut, die »guten Freunde« forgen ſchon dafür, daß auch diefer Janiticharen- lärm als reine Erhabenheit ausgelegt werde. Lilzt bringt ihn aber nicht blos in ben »Preludes« an, etwa um den »Kampf« zu illuftriren; auch im »Taffoe, im »PBrometheud«, in den »Feſtklängen« begegnen wir dieſen Soldatenfreuden; fogar der arme »Mazeppa« wird unter Begleitung von Triangel, großer Trommel und Becken geichleift. Nächit diefem Talent für Inftrumentirung fällt in den Préludes mitunter ein feiner Sinn für Figurirung auf (Seite 24 u. m. a.), ſowie endlich unter häßliche Nccordenfolgen ſich manchmal auch eine glüd- lide Entdedung miſcht.

Die Hauptſache, an der die Kritik feithalten muß, bleibt aber doch immer, daß alles, was an den Liſzt'ſchen Symphonien das Publicum feffelt und den Muſiker intereffirt, nicht aus dem reinen Quell der Muſik fließt, ſondern künſtlich gebramntes Maffer ift. Die mufifalifhe Schöpfung drängt fi) bei Liſzt nicht frei und urfprünglich ana Licht, er jeßt fie auf dem Wege der Reflerion zufammen. Wer je über unjere Kunſt nachgedacht bat, weiß, daß ein geiftreicher und phantafiebegabter Menſch, der fih das Aeußerliche der mufikaliihen Technif vollitändig angeeignet hat, noch fein fchöpferifcher Tondichter ift. Denken wir und einen Dichter wie B. Hugo, oder einen Maler tie Kaulbach im Beſitz aller mufifalifchen Kenntniffe, und gepeinigt bon dem Drang zu componiren, ihre Tonwerke würden ohne Zweifel den »ſymphoniſchen Dichtungen« jehr ähnlich jein. Es wäre Geift, Boefie, Bilderpracht, alles vielleicht beifammen, nur fein mufifalifcher Kern. Liſzt gehört zu jenen genialen, aber unfruchtbaren Naturen, welche, von fünftlerifchem Ehrgeiz ge— trieben, Bedürfniß mit Beruf verwecdieln. Wenn es ihm heute einfiele, als Tragddiendichter aufzutreten, jo würde er

Hanzlid. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 9

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wahrjcheinfih auch in dieſer Eigenschaft Geilt und Bildung verrathen, ohne daß es deßhalb Jemand einfiele, ihn neben Shafeipeare zu ftellen. Oder vielmehr auch dazu würde fich ein oder der andere jener literariihen Zohndiener bereit finden, welhe Macaulay sein Mittelding zwiſchen Menſch und Pavian« nennt, und die leider überall vertreten find. Für einen muſikaliſchen GEntdeder oder Neformator kann Liſzt nur von Leuten gehalten werden, welche mit Berlioz’ und R. Wagner's Werfen nicht befannt find. Diefe beiden Componiſten find für Liſzt geradezu Vorbilder gewefen, und faum dürfte fich bei dieſem irgend ein Effect finden, dem nicht Aehnliches in den Werfen jener bereitö boraudgegangen wäre. Wo die guten wie die fchlechten Seiten fo auffällig vorliegen, wie bei Lilzt’3 Symphonie, dünkt uns auch die fünftleriihe Bilanz nicht ſchwierig. Das Intereſſe, welches geiftreihe Einzelnheiten, brillante Technik und das energiiche Verfolgen eines beftimmten Princip allzeit einflößen werben, fichert den Compofitionen Liſzt's eine höhere Stelle, als zahllojen Schularbeiten, die eine gleiche Ohnmacht regel: recht, aber ohne Geiſt ausarbeiten, namentlich alfo einen Vor: rang vor den Werfen feiner zahlreihen Claviercollegen. Diefe relative Höhe jedoch zur abjoluten zu erheben und Liſzt's Symphonien als mwahre mufifaliihe Kunftihöpfungen, als Meiiterwerfe oder gar als Ausgangspunkt einer neuen Der: jüngung der Tonfunft Hinzuftellen, fann nur gelingen, wenn wir zuvor jeden Begriff von reiner Inftrumentalmufit, und jede Grinnerung an das, was Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann und Mendelsjohn darin geleiftet haben, vollftändig und fir immer abthun. Ueber die Aufnahme der »Preludes« können wir nicht endgiltig berichten, Da dielelbe in einem langen und unent— jchiedenen Kampf zwiihen Ziſchen und Klatſchen fich äußerte.

Orcheftler:Soncerte.

Schumann und feine D-moll-Symphonie.

Neu fir Wien war die D-moll-Symphonie von Robert Schumann. Unter Schumann's Symphonien ift fie an Umfang

Schumann's D-moll-Spmpbhonie. 131

die Keinfte, an Reinheit und Unmittelbarkeit der Wirkung vielleicht die vollfommenste. Geiftvoll und ſprühend in den raschen Sägen, voll zierlicher Armuth in den gemäßigten, hält fich dies blühende Tongemwebe in jener beglüdenden irdiichen Region, wo leicht bewegte Lebensfreude weder zu hoch an den Himmel pocht, noch zu tief in finitere Abgründe drängt. In dieſem liebenswürdigen QTemperament bildet dieſe vierte Symphonie ein Seitenftücd zu Schumann’ erfter in B und nimmt unter feinen Orchefterwerfen etwa die Stellung ein, wie unter Beet- hoven's Symphonien die zweite.

Wer Schumann’3 Entwidlung genauer gefolgt iſt, der hört ohneweiter8 heraus, daß die freundliche Klarheit dieſer Symphonie mit der Opuszahl 120 und ber Symphonie: Nummer IV durdaus nicht jtimmt. In der That tft die D-moll- Symphonie in diefer Reihung nur herausgegeben worden; componirt war fie bereit3 im Jahre 1841, alſo kurz nach der eriten in B. Damals wurde fie fogar, wie Clara Schumann mir mittheilte, in Leipzig einmal aufgeführt; der Componiſt, mit der Inſtrumentirung unzufrieden, 309 jedoh das Wert zurüd, Dem unermüdlichen Zuſpruch Clara's verdanken wir es wohl, daß Schumann dad MWerf im Jahre 1851 wieder vor: nahm, neu inftrumentirte und herausgab.

In der Zeit, wo Schumann's Werke wirklich die ver: hängnißvolle Zahl 100 überfchritten hatten, Tag ein fo durchaus frifches urfprüngliches Tonleben, wie das der D-moll-Symphonie, bereit weit Hinter dem jeltiam und grübleriich gewordenen Meiiter. Dies Werk ftammt aljo aus der glüdlichiten Epoche feines Schaffens und Lebens. Ein Iuftig hinraufchender Strom, von defjen Ufer bunte Blumen grüßen. Das Bild trifft hier ganz beſonders zu: durch die merkwürdige Einheit, mit welcher die Tonfluth ununterbrochen, gleihfam nur die Ufer wechſelnd, an und vorüberfließt. Wir legen weniger Nahdrud auf das äußerliche Mittel, wodurch Schumann diefen Vorzug erzielt, indem er nämlich die einzelnen Säße nur durch Generalpaufen trennt. Die innere Einheit der mufifaliihen Empfindung hingegen erfcheint in diefem Werk auf eine in der neueren Muſik höchſt felten vorfommende Weile getroffen. Iſt doch dieſe geheimniß-

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volle Hebereinftimmung zwiichen vier, wejentlih auf dem Kunſt— geſetz des Contraſtes beruhenden Sägen eines der ſchwierigſten Stylgejege, zumal da es faſt gar nicht durch Regeln präcifirt, vielmehr nur dem richtigen und feinen Gefühl anheimgeftellt werden fanı.

Bon der abftract-poetifhen und doch zugleich materiellen Weile Liſzt's und Berlioz’ jehr verichieden, läßt Shumann Motive des einen Sabed in den andern mehr auflingen al? wiederholen. So erjcheint in dem Andante jchon mit dem 12. Takt das Thema der Introduction innig verwoben wieder, die dem eriten Allegro zu Grunde liegende Sechzehntelfigur bildet zugleich das Hauptmotiv des Finale; Eleinerer Züge gar nicht zu gedenken. Alle drei erften Säbe ftehen in D-moll, das Finale in D-dur. Den fprühenden Allegrothemen gegenüber wiegen fich überall zweite Melodien von reizender Anmuth. Das Andante ift ein romanzenartiger Geſang des PVioloncelld mit der Oboe, von dem fih als Mittelfag ein grazidies figurirtes Violinfolo abhebt. Mehr kraftvoll renommirend als wirklich troßig hHämmert das Scherzo los, um fi) bald in ein eht Schumann’shed Trio von unvergleihliher Grazie aufzu: löfen. Das Ganze macht nirgends den Eindrud des Großartigen, Gewaltigen, athmet aber in jeder Note dad MWohlgefühl einer geiftvollen und anmuthigen Einbildungsfraft, welche in ſchönem Maße bleibt und mit Sicherer Meiiterfhaft überall das Rechte trifft.

Sch bin bereit3 vor Jahren dem groben Mißverſtändniß entgegentreten, R. Schumann mit den jogenannten Zufunft3- mufifern«e, Wagner, Liſzt und deren Schülern, in eine Claſſe zu werfen. Unjer muſikaliſches Publicum, welches nun fat un: mittelbar nacheinander eine Lijzt’she und eine Schumann'ſche Symphonie gehört hat, ift gegenwärtig felbft in der Lage zu beurtheilen, inwiefern Schumann wirklich ein Anhänger jener Kunftinjurrection ſei, welche den Kampf gegen die Muftt bis aufs Meſſer fortjegt, oder ob jein zur Zeit noch etwas unklar gefeierter Name blos als »gute Prife« dazugenommen ward. Schumann hat in feinen Symphonien, Trios, Quartetten u. ſ. w. gezeigt, wie man die biöherigen Formen mit einem NReichthum

Schumann's D-moll-Spmphonie. 133

neuen Inhalts ausfüllen, wie man Ordnung und Gefeglichkeit des Schaffens mit dem freieiten Flug vereinigen könne, wenn man eben wirklich mufikalifches Genie befigt und es im ftrenger Schule ausgebildet hat. Jede Seite feiner Tondichtungen, wie feiner Schriften, fagt es deutlich, wie ihr Autor neue Geftalten, allein immer auf dem einen unverrüdbaren Boden echter, auf fich jelbit ruhender Mufik, zu ſchaffen unternahm, *)

Es ift kürzlich hervorgehoben worden, mie zwiichen der Parteiung des »Uralten und Nagelneuen, zwiſchen dem ver: jteinerten Zopf des Clafficismus und den ungefämmten Haaren einer mufifalifchen Neuromantif«e Schumann die Bedeutung eine Schildes erlangt hat, unter welhem man für das gute Neue kämpft. In der That ſchaart fih um Schumann’ Fahne gern Alles, was neben der Verehrung des Alten auch die Be: rehtigung des Neuen erfennt.

Auh im Leben der Kunſt webt ein fortwährender Ber: brennungs- und Erneuerungsproceß, ein geiftiger » Stoffwechiel«. Kaum hat der Menfchengeift ih eine Kumjterfcheinung voll:

* Cine Heine Tagebuch-Notiz ausgenommen (Gejammelte Schriften IV. 290), hat Schumann fih nirgends öffentlich über Nihard Wagner und feinen Anhang ausgeſprochen. Nun, wo der Verblichene feine Indiscretion mehr zu fürdten hat, wäre es gegen das Intereſſe der Kunst, feine Anſicht länger zu verfchweigen. In einem mir vorliegenden Briefe ddo. Düffeldorf, 8. Mai 1853, jchreibt Schu— mann an den Gompofiteur Debrois van Bruyd in Wien: »Wagner ift, wenn ih mich kurz ausdrüden fol, fein guter Muſiker; e3 fehlt ihm an Sinn für Form und Wohlklang. Aber Sie dürfen ihn nicht nach Clavier-Auszügen beurtheilen. Sie würden ſich an vielen Stellen feiner Opern, hörten Sie fie von der Bühne, gewiß einer tieferen Erregung nicht erwehren können, und ijt auch nicht daS Klare Sonnenlicht, das der Genius ausftrahlt, jo iſt es doch oft ein geheim nißvoller Zauber, der jich unjerer Sinne bemächtigt. Aber wie gejagt, die Mufik, abgezogen von der Darftellung, iſt gering, oft geradezu dilettantiich, gehaltlo8 und widerwärtig, und es ift leider ein Beweis von verdorbener Kunftbildung, wenn man im Angefiht jo vieler dramatifcher Meiſterwerke, wie die Deutichen auf: zuweifen haben, dieje neben jenen herabzuiegen wagt.« In ähnlicher Weife hat Schumann fih auch gegen den Schreiber dieſer Zeilen ausgeiprocen.

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fommen affimilirt, fo verlangt es ihn nach einer neuen. Ins— beſondere ift’3 die Muſik unter den Künften, welche am fchnelliten ihre eigenen Bildungen conjumirt, um fie durch neue und immer wieder neue zu erjeßen. Gewiß kann die Mufif gegenwärtig auch bei Beethoven nicht mehr ftehen bleiben. Keineswegs aber, weil fie Schon ganz anderer Stoffe und Formen bedürfte, un: geahnter Neubauten, die alles Frühere annuliren; jondern weil neben dem umpverlierbaren Genuß der Beethoven’ihen Werke die Vhantafie bereits neue Anregungen, der Geift friihe Auf: gaben verlangt. Man braucht nicht fowohl neue Gattungen in der Mufif, als neue Individuen.

Schumann hat, ohne die bisherigen Formen umzuftoßen, eine Fülle neuer und geiftvoller Ideen produzirt, in einer Form, welhe um jo nachhaltiger wirft, als fie nicht ſogleich und mühelos durchdrungen wird. Weil er nun Haydn, Mozart und Beethoven niht mie unbrauchbare® Gerümpel über den Haufen geworfen hat, muß er fih freilich von den Jacobinern der mujfifaliihen Bewegung einen Reactionär fchelten laſſen; wie denn jüngit Herr %. Brendel (der in Leipzig ftationirte Zufunftsagent) zur größeren Verherrlihung Liſzt's ausſprach, diejer habe glorreich vollbracht, was Schumann in feiner eriten Gährungsepohe ehe er den »NRüdichritt« that blos »geahnt« hat!

Schubert’s C-Symphonie, Beethoven’s Tripelconcert, Gluck's Iphigenia-Ouverture.

Auf dem Programm des philharmonifchen Eoncert3 glänzte Schubert's Symphonie in ©, ein Stern eriter Größe unter den nachbeethoven’shen Orcheſterwerken. Die Entdefung und Würdigung desjelben it eines der zahlreichen Werbienfte R. Schumann’ um die neuere Muſik. Es war bei feinem eriten Bejuh in Wien, da Schumann, nach dem Mähringer Friedhof pilgernd, jenen Todten fait beneidete, deſſen Gruft zwiihen den Gräbern Beethoven’s und Schubert’3 mitten inne Tiegt. Auf dem Heimweg fiel ihm bei, daß nod ein Bruder Schubert’3, Ferdinand, lebe, und bewegten Herzen?

F. Echubert’3 O-dur-Spmphonie. 135

eilte er, diejen aufzufuchen. Ueberraiht von dem Reichthum noch unbefannter Gompofitionen des Verftorbenen, die er hier vorfand, bat fih Schumann vor Allem dad Manufcript der C-Symphonie aus, um e8 an Mendelsjohn zur Aufführung zu jenden. Ferdinand willigte gern ein, und bald darauf ver- breitete fih aus dem Leipziger Gewandhausfaal der Ruhm diefer aus langem Schlummer geretteten Schönheit.

In gewaltig breiter Fluth ergießt fich diefe Mufif, ein wahrer Strom von Kraft und Gejundheit. Wenig größere In— ftruntentalwerfe dürfte es geben, die, unter Beethoven'ſchem Einfluß entitanden, doch jo ganz frei von weltichmerzlicher Zer: riffenheit, von innerem Zwieſpalt und Zerfall fi Bielten. Zwiichen einem eriten Sag, der fed und fampfluftig die jungen Glieder regt, und einem Scerzo, das wirklich jcherzt, wenn auch mie ein Krieger, breitet fich ein veizendes Andante aus. Selbit diejes it fein Denkmal des Schmerzes, vielmehr ein Bild freundlichiter Anmuth, und einer Anmuth, die wohl zu willen jcheint, daß der melandoliihe Schimmer der Molltonart den Reiz ihrer fcharfen, magyartihen Rhythmik nur erhöht. Fanden wir in dem eriten Sat Kampfluft, fo verjegt un der legte mitten in den Kampf ſelbſt; Sporngeflirre dort, bier Sübelgeflirr. Iſt's nicht eine Schlacht dieſes Finale mit jeinen luſtig trabenden Triolen, feinen langaustönenden Feldrufen, feinem Gedränge und Streitlärm; eine Schladt, wo der Soldat fröhlich und der Lorbeer wohlfeil ift? Wer unbefangen genug ift, die ganze Symphonie wie ein frifches Wellenbad im Großen und Ganzen auf fich einftürmen zu laffen, der wird, erfreut, gefräftigt und erhoben, die Werk vielleicht über alle andern jegen, die jeit Beethoven erflungen find. Nicht ganz jo unge— trübt genießt der Kunftfreund, der über dem fräftig auf: Ihäumenden Inhalt die Form nicht zu vergeſſen vermag. Die üppig eingefegten Themen büßen in der Durchführung ihre Kraft ein, friſten fich durch Wiederholungen und Anftüdeln. Ein rafchere® Schließen verſchmäht dennoch der Componift, ja er täuscht (fich jelbit mehr als den Hörer) durch ein unge: wöhnliches Ausdehnen der Form über den für ſolche Dimen- fionen nicht mehr ausreichenden Inhalt. Diefe Art, jich mit

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Verſchmähung fait aller polyphoner Kunft, durch Wiederholung einzelner Phraſen, durch Nahahmung ſehr bedenklicher Beet: hoven’scher Capricen, endlich durch bloße Verſtärkung des Colorits lange überm Waſſer zu Halten, macht an mehr als einer Stelle den Eindrud des Ungeichliffenen, um nicht zu jagen Unedlen. Ueber die auffälligen Formmängel it feine Täufhung möglich. Nur möge man dieſe Mängel mehr Schubert’3 ganzer Fünit- leriſcher Individualität zufchreiben, als einer vermeinten An: fängerichaft. |

Bon Beethonen’s Tripelconcert in.C für Elavier, Violine und Gello jpielten die Herren Brudner, Hellmesberger und Härtinger den erften Sab. So jehr wir gegen jede Los— trennung und Zerſtücklung zufammenhängender Tonwerke find, diesmal war und das MWegbleiben der längeren Hälfte des Concerts willkommen. Es thut zu weh, die Größten ihres— gleihen in ſchwachen Stunden zu ertappen. Bekanntlich iſt das legte und längſte Stück dieſes Concertö eine Polonaiſe zopfigiter Art, die fich durch veraltetes Paſſagenwerk und einen wahren Mißbrauch der Rondoform fortipinnt. Muß man ſchon im eriten Sat für den Mangel eines reichen inneren Lebens die gefällige Würde äußerer Nepräfentation hinnehmen, jo verliert man über das Finale, vor welchem das furze Andante nicht viel mehr als eine überleitende Beſtimmung hat, beinahe die Faflıng. Jedenfalls ift die Stellung dieſes faſt Endlich un— bedeutenden Werkes als op. 65 mitten zwiichen der Eroica (op. 55) und der Razumowskhy'ſchen Trilogie (op. 56) ein eigenthümliches Curioſum.

Von der Geſellſchaft der Muſikfreunde hörten wir Gluck's Ouverture zu »Iphigenia in Aulis«. Nachdem dieſe Ouverture unmittelbar in die erſte Scene einleitet (wo Agamemnon auf die Worte »Diane impitoyable« das Anfangsmotiv der Ouverture wieder aufnimmt), ſo bedarf ſie für Concert-Aufführungen eines ergänzenden Schluſſes. Der bisher überall benützte, angeblich von Mozart's Compoſition, führte das Tonſtück nach längerer glänzender Steigerung in voller Pracht zu Ende. Dieſen Schluß hat in neueſter Zeit Richard Wagner durch einen andern erſetzt, welcher die Ouverture allmälig abnehmen und endlich

»Athaliae von Mendelsfohn. 137

pianissimo verhallen läßt. Der Wagner'ſche Schluß ift nad) meinem Gefühl poetiicher, feiner, eigenthümlicher als der Mozart'ſche. Er entipricht weit mehr unferer heutigen Em— pfindungömweife, melde allenfall® das geheimnißbolle Ent: ſchweben Iphigenia's ſchon durch den Ausgang der Ouver— ture angedeutet willen will. Daß Hingegen Wagner’3 Cr: gänzung dem Charakter Gluck's entiprechender, und wegen der »anti-Gluck'ſchene Faſſung des Mozart'ſchen Schluſſes nothwendig ſei, wolle man nicht behaupten. Alle Ouverturen Gluck's, welche nicht unmittelbar in die Scene übergehen, ſchließen heroiſch und pomphaft mit der ungeſchmälerten Kraft damaliger Inſtrumentirung (»Armida«, »Orfeo« u. ſ. w.). Zu Gluck's Zeiten behandelte man, nad) dem Vorbilde der Sta: liener, die Ouverture weniger als poetiiches Spiegelbild der Handlung jelbit, denn vielmehr als ein abgeſchloſſenes, glän— zendes Einleitungsftiik quand m&me. Das ahnungsvolle Dämmer: licht verhallender Schlüffe war den Orchefter-Compofitionen des porigen Jahrhunderts ein ganz fremdes Clement, und wo es, wie im vorliegenden Falle, una jympathijcher berührt, als das jtereotype jchmetternde Pathos der älteren Dupverturen, muß man ſich wenigften hüten, diefe Wirkung aus einer vermeintlich größeren hiſtoriſchen Nichtigkeit herzuleiten. Das Tempo der Duperture ſchien und zu langjam. Mag man fie immerhin einft jo genommen haben, wir hören heutzutage jchneller.

»Athalia«e von Mendelsſohn.

Das Programm des »Geſellſchafts-Concertes« bejtand einzig und allein aus der Mendelsjohn’ihen Athalia— Muſik. Diefe Compofition (Ouverture, Mari, Zwilchenfpiele und Chöre) war befanntlih in hohem Auftrag (1844) ge— ſchrieben und bejtimmt, einen integrirenden Theil der wirklichen Aufführung der Nacine’fchen Tragödie zu bilden. Nachdem legtere aber von den deutjchen Bühnen längſt verſchwunden ift, beeilte man fi, die Mufit des hochverehrien Meiſters abgelöſt vom Drama zu retten, und für den Concertgebrauch einzu— rihten. Das bereit3 mehrfach erprobte Aushilfgmittel der

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»verbindenden Declamation«e mußte auch bei der »Athalia« für das Verftändniß des Hörers und für den Zufammenhang der Mufikjtüde forgen. Dieſer Nothbehelf vermag aber hier durchaus nicht zu genügen. Wenn wir die Mufif zu »Egmont«, zur »Precioja«, zum »Sommernadtötraum« auf folhe Weife hören, jo ergänzt die lebendige Erinnerung an diefe Bühnen: werke jchnell die Lücken des blos erzählenden Vortrags, welcher jomit mehr die formelle Aufgabe einer äußeren Verbindung erfüllt, ald daß man ihn weſentlich zum Verſtändniß brauchte. Racine's Trauerjpiel hingegen iſt dem deutſchen Publicum viel zu fremd, der altteſtamentariſche Stoff ihm viel zu fern— jtehend, als daß hier ein declamatoriſches Nothgerüft das wirk— fihe dramatiiche Leben auch nur annähernd zu fuppliren vers möchte. Auch die trodene Geſchichtskenntniß reicht nicht Hin, um den Hörer in den Vorgang theilnehmend zu verſenken. Es fehlt durchaus die finnlihe Anfchaulichkeit. Das Eoncert-Arran= gement der »Athalia« bringt es nirgend dazu; man fühlt in feinem Momente, um was es fich handelt, jelbit wenn man e3 weiß. Zu dieſer Frembartigkeit des Inhalts gefellt fich der Hebelitand, daß viele Muſikſtücke der »Athalia« der ſceniſchen Ausführung geradezu bedürfen. Die Klage der Frauen, wäh: rend vor den Thoren die Schlaht tobt; die einander contra= ftirend gegenüber geftellten Doppelhöre; der Marjch der zum Kampf abziehenden Sfraeliten ; ihr Dankgebet, nach dem letzten fernen Herüberkflingen von Athalia's Trompeten, dies alles, feinerer Züge nicht zu gedenken, verliert mit der dramatiſchen Anfchaulichkeit auch die Hälfte feiner mufifaliichen Kraft. Iſt e3 doch nicht zu verfennen, daß letztere gerade in den drama— tiihen Höhenpunkten auf eine Unterftügung und Verſtärkung von Seiten des ſceniſchen Eindrud3 rechnet. Mendelsſohn war e3 überhaupt nicht gegeben, fich ſtark und unmittelbar auszu— iprechen, weshalb wir aud) jeinen Leiftungen in der Oper mit geringer Zuverficht entgegenfahen. In der »Athalia« bewegen fih nun obendrein faſt alle Situationen, welde dem Compo— niften ſich darboten, in jehr ähnlicher, gebrüdter Empfindung? lage. Trauer über den Gößendienit nnd Iſraels Knechtſchaft bildet von der janften Klage bis zur dumpfen Verzweiflung fait

»Athalia« von Mendelsiohn. 139

allein die Unterlage der ganzen Mufif; nur die friegeriichen Anklänge zum Schluß werfen einen gligernden Schein darüber. Er wirft am belebenditen in dem ſchön rhythmifirten Chor: »So geht, ihr Kinder Aarons«! Der Mari jelbit ift minder ge— lungen; er leidet unter der Erinnerung an den Hochzeitsmarſch, wie er bei jeinem Entſtehen wahrjcheinlich unter den verſchieden— artigiten Hiftorifhen und dramatiſchen Rüdfichten gelitten hat. In Goncertform hat Mendelsſohn's »Athalia« nirgends einen fo tiefen, ergreifenden Eindrud auf das Publicum hervorgebradt, wie die anderen größeren Werke dieſes Meifters: fein »Lob— geſang«, ⸗»Walpurgisnacht«, die »Pjalmen«, von den Dratorien »Paulus« und »Eliad» gar nicht zu reden.

Durh die erwähnten Webelftände gehindert, das Ganze warm und unmittelbar in fih aufzunehmen, hält man fih an GEinzelnheiten. Deren enthält dad Werk viele von großer Schönheit. Darunter in erfter Reihe der Chor in F-moll: »Iſt es Glüd, ift es Leid?« Dieje unfäglich fanfte, rührende Klage und ihr tröftender Ausgang: »Ein Herz vol Frieden« fallen fo ganz in jenen Kreis des muſikaliſchen Ausdruds, welchen Mendelsjohn wie fein Zweiter auszufüllen verjtand, In der eriten Abtheilung arbeitet fi) insbefondere der Chorjag: »O Sinai, gedenk' der heil’gen großen Stunde« mit gewaltig ans ſchwellender Kraft heraus. Er iſt in dieſer Art jedenfalls das Hervorragendite in der Athalia, welche einen weit größeren Raum zarten, Hagenden Empfindungen überläßt. Diefe werden in der langen zweiten Nummer mit ihren pfalmodiichen An— fängen und gleihförmigen Rhythmen monoton, umfjomehr, als dem Gomponiften die Verwendung von Tenor und Baß zu den Soli verwehrt war. Für die Concertwirfung jo gut wie verloren ift das große, nur in fcenifcher Aufführung veritänd- lihe Melodram. Die dritte Abtheilung (als ſolche könnte man ohne weiterd die drei lekten Nummern zufammenfallen) it Die muſikaliſch wirkſamſte.

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Wiener Männergeflangverein.

Die Beichränktheit, welcher der lyriſche Männerchor in Mitteln und Ausdehnung unftreitig unterliegt, ruft häufig zwei Grtreme hervor: Gomponiften, denen die fleine Form fehr gelegen fommt, um darin einen allerfleiniten Inhalt anzu— bringen, und folche wieder, welche der Form zu viel zumuthen und mit großen Intentionen den einheitlichen Verband jprengen. Beiipiele der eriteren Art find nur zu häufig; zur leßteren gehört unter anderm Herbeck's »Morgengebete. Nachdem der Componiſt in der erften Strophe »D wunderbares, tiefes Schweigen«, die Grunditimmung des Ganzen ſchön und be= deutend wiedergegeben, läßt er fih durd den Schlußgedanken des Dichters (»Umd buhlt mein Lied, auf Weltgunft lauernd« 2c.) verleiten, fo ungemefien ind Grandiofe und Dramatiſchbewegte vorzufchreiten, daß wir uns plöglih in ein fremdes Gebiet geworfen jehen, von dem aus mir jenen Ausgangspunkt faum mehr erbliden fönnen. Nun jollte aber im Iyrijchen Gedicht die Muſik weit mehr die Stimmung des Ganzen wiederzugeben fuchen, als die einzelnen Worte; ein Princip, welches doppelt gewichtig erjcheint, fobald nicht die ſchmiegſame Einzelftimme, fondern die unbeugſame Maſſe eined ganzen Chor3 dad Organ des mufifaliichen Ausdruds wird.

Intereffante Novitäten waren zwei Vocal-Compoſitionen von Franz Lifzt. Die erſte (doppelt bejegtes Duartett mit zwei Hörnern) hat Goethe's Gedicht: »Ueber allen Gipfeln ift Ruhe zum Terte. Diefer wunderbaren furzen acht Seilen, die jelbft nur wie ein Hauch durch die Sabbathitille der Natur twehen, werden von Liſzt auf den dritten Grad feiner Compo— jitiondfolter gelegt. Ein merkwürdiges Gegenſtück zu dieſem quallvollen Raffinement ift das Wocalquintett »Hütteleine vom jelben Componiften. In einem friedlichen Augenblid jcheint er vergeffen zu Haben, daß er Liſzt fei, und jchrieb ein Lied, dad zwar keineswegs originell oder bedeutend, aber von un— geziwungener Anmuth iſt, überfichtlih geformt, im Ton etwa

Chöre von F. Schubert. 141

an Verwandte von Marfchner erinnernd. Das Publicum unter: Ihied jehr richtig und zeichnete das Quintett aus, während nah dem Quartett alles ftill blieb, al3 würde eine vornehme Leiche vorübergetragen. Von älteren Gompofitionen gab man Mendelsſohn's »Wajjerfahrt«e und Schubert’3 »Geilt der Liebe«, ein Geift, der ſich anfangs verftändnißinnig in der Natur ergeht, endlich aber in eine Kneipe einfehrt, wo er auch bleibt.

Eine Schöpfung von übermwältigender Genialität ift Franz Schubert’3 »Geſang der Geifter über dem Waſſer«, jo gut wie zum erften Mal aufgeführt vom Wiener Männer: gejangverein am 27. December 1857. Jetzt, wo wir dieſe großartige Compofition ſelbſt gehört, vermögen wir die Miß— handlung faum nachzuerzählen, welche ihr 1821 bei der erften Aufführung in Wien zugefügt worden. Jene arge Verfennung, von Seiten der Ausführenden wie der Zuhörer, Hat erjt jekt ihre vollftändige Sühnung erhalten, und die mufifaliiche Welt erit jeßt den vergeudeten Schat zurüderlangt, um ihn nie wieder zu verlieren. Das Werdienft gebührt dem Chormeifter des Männergefangvereind, Herrn Johann Herbed, welcher die Schubert’ihe Original-PBartitur in dem Archib eines hiefigen Muſikverlegers auffand, fogleich die Drudlegung der Stimmen veranlaßte, und endlih das Merk in würdigſter Weiſe zur Aufführung brachte.

Das Goethe’sche Gedicht, jo oft es auch componirt wurde, ift für mufifaliihe Behandlung von großer Schwierigkeit. Es führt eine Reihe mwechjelnder Bilder vor, welche den Com— poniften zu lebenspoller Ausführung reizen, während fie doch hinter der geheimnißpollen Grundftimmung des Ganzen wie in einem Schleier eingehülft bleiben müffen. Schubert’3 genialer Inſtinct hat auch Hier wieder dad Rechte mit unfehlbarer Sicherheit getroffen. Gleih im den einleitenden ſechs Takten, alfo ehe noch der Geſang beginnt, ift die myfteriöfe Stimmung, die geifterhafte Scenerie unverrüdbar fetgeftellt. Den Aus- druck dieſes Myſteriöſen gewinnt Schubert vornehmlih durch die Begleitung von Violen, Violoncells und Contrabaß, welche feife und träumerifch unter dem Gefang fortziehen. Der Geſang

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ſelbſt wirft echt Schubertiſch, nit durch polyphone Kunft, oder durch die Mofaikarbeit feiner Züge, fondern durch jene großen Gontouren und ftarfen, entichiedenen Lichter, welche allfogleih mit Sicherheit auf den Gomponiften der »Nachthelle« rathen laffen. Der Chor gliedert fih, dem Inhalt ent- ſprechend, in ſechs Kleinere, unmittelbar ineinander übergehende Süße Das wunderbare Adagio, aus dem die übrigen Sätze hervorgehen, und zu dem fie jchließlich zurüdfehren, ift Die Meihe des Ganzen; eine

»milde, ernfte, träumerijche, unergründlich tiefe Nacht«.

Die folgenden Theile charakterifiren ihr Bild nur fo weit, als es, ohne den Rahmen des Ganzen zu fprengen, möglich ift, höchſtens daß das an fich reizende Allegretto: »Wind ift der Welle Tiebliher Buhle«, etwa weltlich liedmäßig ab- ftiht. Die Wirkung des Ganzen war eine impofante, unfehlbar ergreifende, und Hat jelbit bei der Wiederholung, wozu dieſe Nummer do wenig eignet, fi) ungeſchwächt bewährt.

Dirtuofenconcerte.

(Die Bianiftinnen Frl. Falk und Frl. Fritz. Die Geiger Bazzini und Frajfinetti.)

Fräulein Nanette Falk, ala Schlülerin Clara Schumann’3 in Deutfchland nicht umvortheilhaft befannt, gab Samſtag Abends ihr erites Concert im Muſikvereinsſaal. Klarheit, Cor: rectheit und eine gewiſſe verftändige Ruhe charakterifirten das Spiel dieſer Kimftlerin. Ihr Anfchlag iſt weich, ermangelt aber der nachhaltigen Kraft, ſowohl im einfach getragenen Gefang, ald im Sturme der Birtuofität. Der Ton bleibt Elein und einfärbig, bringt es daher nie zu einem bedeutenden Eindrud.

Das Chopin’sche Nocturne in Fis-dur haben wir unzählige: mal, aber noch nie gut fpielen hören; hat fich doch in wenigen

Claviervirtuoien. 143

Tonftüden eine falfhe Tradition fo unerträglich feitgejeßt, wie in dieſem zarten Gefang. Da ijt fein Takt, der, innig ver: wachſen mit dem vorhergehenden und dem nachfolgenden, im ruhig Schwebenden Gleihmaß bliebe; alles hinkt jchlendernd und ftolpernd in einem tempo rubato, das felbit dem Liberaliten mufifaliihen Sinn hohnſpricht. Es ift gleichviel, ob dieſe tra= ditionelle Verzerrung direct von Chopin felbft herrühren möge, man muß auch hier auf den Urtert zurüdgehen. Das Stüd fließt jo einfach und klar hin. Chopin's krankhafte Art, weniger Glavier zu jpielen, als Clavier zu träumen, konnte wohl an dem Original felbft bedeutend und anziehend wirken. Aber all die braven Hydropathen, welche nun die füße Betäubung des Opiumrauſches nadfünfteln! Fräulein Falk fpielte ferner Beethoven’ F-moll-Sonate (appassionata), »Traumeöwirren« von Schumann und die A-moll-Fuge (mit Pedal) von S. Bad). Wann endlich werden die Pianiften daran denken, ihren ab» geitorbenen Goncertprogrammen neue Säfte zuzuführen? Daß die gewählten Stüde werthvoll oder gar »claſſiſch« find, veicht nimmermehr Hin: um die Cis-moll- oder F-moll-Sonate bon Beethoven zu hören, eine der herfömmlichen 3 oder 4 Nummern aus Chopin oder aus dem »mwohltemperirten Glavier« bon S. Bad) wird doch gewiß fein Menſch mehr ins Concert gehen. Der legtgenannte alte Herr iſt befanntlih Mode-Artikel ge: worden und wird auf dem muſikaliſchen Curszettel ungefähr zwilhen Chopin und Liſzt notirt. Niemand fällt aber bei, endlih einmal anftatt des »mohltemperirten Clavierd« etwas aus den reizenden und für Goncerte ungleich paflenderen eng— liſchen oder franzöfiihen »Suiten« zu wählen. Seltfam, wie die Glaviervirtuojen, die doch jelbit am beiten das arge Sinfen ihres Sterned kennen, den einzigen Weg unbetreten lafjen, der ihnen das erlahmte Interefje des Publicums wieder zuführen fann. Dieſer Weg ift ein neues und interefjantes Programm. Aus älteren und modernen Glementen iſt es leicht von jedem Bianiften herzustellen, der die Literatur ſeines Inſtrumentes fennt. Welh ein Schat für jeden geiſt- und phantafiebegabten Birtuofen liegt 3. B. in den »Novelletten« und zahlreichen anderen Glavierftüden von Schumann, der num einmal ftereotyp

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blos durch »Traumeswirren«e und »Des Abends« repräfentirt wird, Nur eine jchlechthin außerordentliche Virtuoſen-Perſönlich— feit, wie fie jeit Liſzt nicht wieder gefommen iſt, vermöchte mit den feit Decennien abgefpielten Programmen noch Interefle zu erweden. Die zähe Bequemlichkeit der Virtuofen in dieſem Punkte ift verwunderlich, nicht im mindeften Hingegen, daß ihre Goncerte leer bleiben. Was Fräulein Falk in ihrem zweiten Concert bvortrug, konnte uns in unferer jüngft abge- gebenen Meinung nur beftärfen. Ja wir geftehen, daß die Art, wie Fräulein Falk die (Waldſtein'ſche) C-dur-Sonate von Beethoven nicht nur in allen Zügen mikroſkopiſch verkleinerte, jondern geradezu jeder Lebenswärme beraubte, ung nicht mehr in der phyſiſchen Kraftlofigfeit der Eoncertgeberin ihre größte Schwäche erbliden ließ. Die verftändige Klarheit Clara Schu: mann's erfchien hier in ihrer Schülerin zu gemüthlofer Gleich— giltigfeit potenzivt; wir hörten einen Beleg zu dem berühmten »Sonate, que me veux-tu«?

Die fleißige Pianiftin Fräulein Fritz brachte in ihrem Concert manches Anziehende. So intereifirte LitoLlff’3 Clavier— trio (op. 47) durch das Beſtreben zu claffiihen Muftern zu— rüdzufehren, freilich ohne daß fie erreicht würden. Litolff Iheint mit feiner eigenen Crfindung ziemlich fertig zu fein; auch die geiftreichen Ginfälle und Sonderbarkeiten fehlen in dem Trio, welches dafür feinen Anftand nimmt, aus Beethoven’3 Violoncell-Sonate op. 69 und Mendelsfohn’3 A-moll-Sym- phonie das Nöthige auszuleihen. Alles in Allem ift Litolff’3 Arbeit wie die Seele der Gräfin Hahn:Hahn: »immens, aber leer«.

Beethovens G-moll-Bhantafie (op. 77), welhe Fräulein Frig hierauf vortrug, ift in Concertfälen eine feltene Erfchei: nung. Sie befitt, im Gegenſatz zu den vielen »Phantafien« neueren Datums, nicht blos den Namen, fondern dad ganze Weſen einer wahrhaft »freien Phantafie«, wie fie ein mäd)- tiger Tonbeherricher über die Taften hinftürmt. Geniale Bliße leuchten über dieſe zerriffene Bildung; jchade, daß die fragmen- tarifchen, aber fühnen Anfänge in ein allzu behagliches air varie übergehen. Für die »Mhantafie« war dad Spiel der EConcert=

Anton Rubinftein. 145

geberin nicht geeignet; dem rhapfodiihen Schwung des Come ponijten muß die geiftvolle Kühnheit des Spielers wahlverwandt zur Seite ftehen. Etwas, da einem freien Dahinitrömen ber Phantafie gleicht, darf man aber am Ende nur von wenigen Bianiften erwarten.

Unter den Violinfpielern, die und heuer Freud und Leid zu jehr ungleichen Theilen credenzten, war Bazzini die einzige Berühmtheit. Die Zeit, wo man das Gleihe von feinem Landsmanne Frafinetti jagt, wird hoffentlich nie kommen. Ein Abſchieds-Concert (das mwiepielte?) von Herrn Bazzini beitärfte un in unſerer urfprünglichen Anficht, daß das Außer: ordentlihe feines Spieles fih in dem reis der Kunſtſtücke begrenze. Seine Technik glänzte abermals durch die MWeichheit des Tons und die Gewandtheit in allem, was man im beifern Sinn die »Lazzi« des Biolinfpiels nennen könnte (Flautato u. dgl.). In Beethoven’3 zweiten Quintett (C-dur) ermangelte hingegen fein Vortrag der Kraft, Größe und ftylloollen Schönheit. Eine gewiſſe Fremdheit und Kühle, dann die fpecifiich italienischen Gewohnheiten de3 ftarfen Betonens aller guten Tatttheile u. dgl. ließen trog mancher feinen Einzelheit feinen Totaleindrud auf: fommen. Es fehlte der Geift der deutjchen Mufik.

Anton Wubinftein.

Der Glaviervirtuofe Rubinftein, dem Wiener Publicum bon jeinem eriten Beſuche her in bejter Grinnerung, gab Sonntag fein erſtes Concert im Mufikvereinsfaal. Es war jehr bejucht und hatte den glänzenditen Erfolg Wir ftimmen in den Beifall des Publicums nicht blos vollftändig ein, ſon— dern geitehen gerne, daß Rubinſteins Spiel für und etwas ganz ausnehmend Sympathiiches und Erquickendes hat. »Er— quickung« ift das rechte Wort für das innige Behagen, womit dieſes Durch und durch geſunde, kraftvolle und farbenfrijche Spiel den Hörer erfüllt. Sit das Pianoforte in feiner jeßigen Technik an und für fi ſchon einer bedeutenden Kraftver—

Hanzlid. Aus dem Concertjaal. 2. Aufl. 10 |

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wendung fähig, jo fehnt man fi nach einer ſolchen gegenwärtig umſomehr, wo markloſes Geſäuſel und Getriller fi) vorzugs— weile auf diefem Inſtrumente breitmadhen. Die relativ größere Verbreitung der Thalberg’jchen und Charles Mayer'ſchen Schule, aljo des zierlichen, eleganten Spiels, ſowie der ungemeine Zus wachs an concertirenden Damen, läßt uns in einer vorzüglich auf Kraft bafirten Virtuofität eine Höchit wohlthätige Abwechslung und Ergänzung erbliden. Es verjteht fih, daß eine gewaltige Behandlung des Inſtruments, wie die Aubinftein’sche, rein äſthetiſche Wirkungen nur hervorbringt, wenn fie die rohe Körperlichkeit völlig abgeftreift hat und als die frei heraus: fchlagende Lohe eines inneren Feuer ericheint. Dies ift der Fall bei unferem jungen Titanen, der, wenn er mit über: ihäumendem Lebensdrang fi) in die Taften wirft, uns nicht etwa das non plus ultra möglichen Clavierlärmend, ſondern das Abbild innerer, fiegeöfroher Kraft gibt. Dieſes Element, das unumgänglich zum Begriff wahrer Birtuofität gehört, ericheint uns in Rubinſtein's Spiel daS überwiegende. Seine wahre Vollendung erhält es freilich mur dann, wenn der Spieler das Zarte und Feine gleicherweile in jeiner Macht hat. So ilt bei Rubinitein die Gewalt, mit welcher er in Octavengängen, Sprüngen, vollgriffigen Accorden das Clavier förmlich padt, feine Einfeitigfeit. Die Zartheit feiner leife hingehauchten Ver: zierungen, die edle Breite feines getragenen Gejangs, find nicht minder als jeine eigentlihe Bravour, Blüthen einer auf's Höchſte entfalteten Technik.

Indem wir hiemit den ftarfen Eindruck mittheilen, den Rubinſtein's Spiel auch diesmal wieder hervorgebradt, haben wir faum etwas Neues zu bereit3 früher Gefagten hinzugefügt. Neue intereflante Seiten hätte Rubinſtein's PVirtuofität etwa dann geboten, wenn fie in Vorführung bedeutender fremder Werke (Beethoven, Mendelsſohn, Chopin, Schumann) fi) be— thätigt, aljo Gelegenheit gegeben hätte, ihr Berhalten zu den Sntentionen diefer Meifter zu beobachten. Herr Rubinftein hat es jedoch auch diesmal vorgezogen, lauter eigene Compofitonen zu ſpielen. Waren fie num immerhin jämmtli für den Muſiker mehr oder minder intereffant, im Publicum und bei der Kritik

Anton Rubinftein. 147

haben fie geringen Anklang gefunden und eine Abwechslung mwünfchenswerth gemacht.

Weitaus das Bedeutendfte unter den Rubinftein’ihen No- pitäten war das Glapiertrio in B-dur. &8 it fräftig, ernſt, charaftervoll; in der melodiichen Erfindung nicht reich, aber eigenthümlich, harmoniſch und rhythmiſch intereffant, in der Glavierbehandlung ſehr effectvoll. Am gelungenften iſt das Scherzo mit feiner ſcharfmarkirlen Rhythmik und unaufbaltiam fortdrängenden Lebendigkeit; am ſchwächſten das Finale, eine unabläffig ringende Sraftanitrengung, deren Ziel und Frucht man nirgends erblicdt. Aus den wüſten Streden dieſes Finales wehte und wieder die Luft der B-dur-Symphonie an, mit der ih Nubinftein vor drei Jahren hier unglücklich genug einführte, Hingegen boten die drei eriten Süße des Trios die erfreuliche Sicherheit, daß die Stellung de Componiſten NRubinftein zum Publicum heuer eine entichieden vortheilhaftere und für den Berichterftatter angenehmere fein dürfte Rubinſtein, jett noch ein jehr junger Mann, hatte damals die unglücliche Idee, dem Wiener Publicum Die ımreifen Früchte feines noch in voller Gährung begriffenen Talentes und obendrein gleich in dem jchiwierigiten Fach großer Ordelter-Compofitionen vor— zuführen. Wir haben ung gegen jene chaotiichen Verſuche, welche Rubinftein wahricheinlih in nicht allzulanger Zeit jelbft ver: werfen dürfte, ebenfo rückhaltlos ausgeſprochen, als mir das ihöpferifhe Talent Aubinftein’® in feinem G-moll-Trio und der Bioloncell-Sonate (D-dur) ſchon damals anerkannten.

Wie ed zu erwarten war, hat jich das Talent des jungen Gomponiften feither von vielen Schladen gereinigt: mehr als eine feiner neueren Arbeiten gibt Zeugniß davon. Möchte nur Aubinftein zweierlei Verfuhung von fih fernhalten: fürs erfte jene unleidlihe Großmannsfucht, die in jedem Takt genial und ungewöhnlich fein will, und dadurch nothiwendig barod und unmufifalii wird. Sodann die allzurafhe und unerfättliche Production. NRubinftein begann erft vor wenigen Jahren für die Deffentlichkeit zu ſchreiben, und doch hat er bereitö über ein halbes Hundert Werke, worunter ziemlich umfangreiche, publicirt. Da kann es wohl nicht fehlen, daß vieles ganz Un—

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bedeutende zur Veröffentlichung kommt. Dazu gehören auch mehr oder minder die kleineren Stüde, welche Aubinftein in feinem jonntägigen Concert fpielte; jo die Nocturne und die beiden »Melodien«.*) Intereſſant ift die Zuge, worin insbeſondere die Eintritte des Contraſubjects und der Orgelpunfte von guter Wirkung. Die ganze Stelle vor dem Eintritt des Orgelpunftes geht jedoh in undurchdringlichem Tongewühl verloren. Die »Polonaiſe«, mit welcher Rubinſtein ſchloß, iſt als glänzendes Bravourſtück, aber auch nur unter dieſem Geſichtspunkt, zu loben. Dem enormſten Kraftaufwand iſt darin carte blanche gegeben, und Rubinjtein hat fie jedenfall3 bis an die Grenze de3 Grlaubten benußt.

Sein zweite® Concert trennte Nubinftein in zwei Ab: theilungen, deren eine nur Eigenes enthielt, während die andere fremden Compofitionen gewidmet war; ein Compromiß, der gewiß alle Theile befriedigte. Der Vortrag des C-moll- Trivos don Mendelsjohn mar meilterhaft. Nicht blos durh richtige Auffaffung und vollitändige Bewältigung des Tehnifhen, Dinge, die fich bei Rubinftein, wenn auch jonft nicht immer, von jelbit veritehen, fondern durch das

*) Der Merkwürdigfeit wegen erwähnen wir einer neuen Glavier: compofition von Nubinjtein, welche unter dem Titel »Acroſthyche« erſchienen ift.

Unter allen tollen Ginfällen hat nämlich noch feiner unjerer modernen Glavierdichter den tolljten gehabt, die poetiihe Form (oder Spielerei) des Acroſtichon's in die Mufik zu überrragen, ſchwerlich hatte auch jemals ein Mensch die Ahnung, wie das möglicd) fei. Ganz einfach. Herr Rubinſtein jtellt fünf elegante Clavierſtücke, welche nicht weiter mit einander zu jchaffen haben, in ein Heft zufammen, das er einer Gräfin Laura N. NR. widmet. Das erſte Stück nun führt die Ueberſchrift 2., das zweite heißt A., das dritte trägt den häßlichen Namen U. Da nun da3 vierte ebeniowenig ermangelt fih R. als das fünfte fih U. zu nennen, jo machen die fünf Säge nacheinander ge: ipielt, ganz deutlich den Namen Zaura.

Der Weg zu einem folhen Unfinn mag felbit für einen aufge- wecten Kopf wie Aubinftein lang und beichwerlich geweien fein, allein das glückliche Bewußtiein im Entdedungsmoment muß alles je ähnlich Gefühlte, von Berthold Schwarz bis auf Derftedt billigerweile ver— ihwinden gemacht haben.

Bom Wiener Mufifverlag. 149

Geheimniß einer eigenthümlichen Bejeelung, die ſich im ſchönſten Sinn nachdichtend verhielt. »Hinzudichtend« würden wir bei— nahe in Erinnerung an den eriten Sat jagen, welder durch die Impetuofität des Vortrags eine fat Beethoven'ſche Kraft und Leidenfchaftlichkeit erhielt. Von kleineren Stüden folgten ein Ehopin’iches Nocturno und die Gigue in G-dur von Mozart. Kaum gibt es in kleinerem Rahmen einen fchärferen Gegenſatz, als zwijchen diejer traumhaften Dämmerung des Chopin'ſchen Nachtgeſanges und der fcharfen, morgenfriichen Klarheit Mozart’. Nubinftein wußte die Eigenthümlichkeit beider geijtreich und feinfühlend auseinander zu halten. Auch Schumann’ tiefpoetifches Kleines Impromptu »Warum« (aus den »Phantaſieſtücken«) fand den zarteften Ausdruck. Wir können bei diefem Anlaß nicht umhin, unfern bereit® vor drei Jahren geäußerten Wunſch zu wiederholen, Rubinſtein möchte in jeinen Concertprogramms Schumann nicht fo ſelten, gleichjam en passant und nur in Kleinigfeiten bringen, jondern die größeren Werke dieſes Meifters vorführen. Die fchönften, tieffinnigften Claviercompofitionen Shumann’s find dem Publicum noch immer halbverhüllte oder auch ganz verborgene Schäße, Die eben nur der jo feltene Verein höchiter Virtuofität und poetifcher Snnerlichkeit zu heben vermag. Schumann’ Claviertrios, fein Quintett und Quartett, die beiden Sonaten, die Noveletten, Die Barationen, das A-moll-Soncert das wären echte Aufgaben für einen Virtuofen von Rubinſtein's Talent, Aufgaben, in deren Löfung er feinen Stolz und feine beſte Kraft jegen jollte.

Dom Wiener Wulikverlag.

Die Thätigfeit der Wiener Componiſten findet im Vergleich mit den ausübenden Muſikern Sehr geringe Aufmerkſamkeit. Bon einem bejonderen Auffhwung des Wiener Muſikverlags iſt freilih noch nicht® zu melden. Unfere älteren Tonfeger ver: ftummen allmälig, für die jüngeren, die gern Ernſteres und Größeres brädten, iſt e8 äußerſt ſchwer nit etwa durch— zudringen, jondern überhaupt nur anzukommen. Der überwiegend

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größte Theil ded hier Verlegten beiteht in Tänzen, Uebungs— ſtücken und jener unterften Schichte brillanter Claviermufif, die aus ihrer Geiltlofigfeit und Unwiſſenheit fein Hehl macht. Diefer furchtbare Bund raftlofer Nocturnes: und Etuden— Fabrifanten fteht offenbar in innigfter Beziehung zu Heine's »philharmoniichem Katerverein«:

Er huldigt dem Genie, das fi

Nicht von der Natur entfernt hat,

Sich nicht mit Gelehrſamkeit brüfien will,

Und wirklich auch nichtö gelernt hat.

Sih durch die Notenberge durchzuarbeiten, die dieſer iltuftre und weitverzweigte Verein binnen einem Jahr aufmwirft, ift weder leicht noch unterhaltend.

Das Bedeutendfte, was von einheimifchen Kräften im Fach der Claviermufif neueſtens gebracht wurde, dürften Robert Volkmann's »Varationen über ein Thema von Händel« fein. 63 ift das Thema derjelben VBarationen von Händel in E-dur, die ſeit Liſzt auch im den Goncerten Mode geworden find, eine Mahl, die man Vollmann nicht verübeln wird. Auch in der Mufif muß es freiftehen, einen alten Stoff neuerdings zu behandeln, fobald jemand etwas Neues und Erhebliches darüber zu jagen weiß. MUeberdies iſt gerade Die Behandlung der Bariation in neuerer Zeit eine viel reichere und freiere ge- worden. Beethoven's Variationen über den Diabelliihen Walzer haben das hochwuchernde Unkraut des Gelinef’fchen Variationen ſtyls mit der Wurzel auögeriffen und einen munderthätigen, immer voller aufblühenden Keim in die offene Scholle. gejenft.

Werke wie Schumann's Cis-moll-Bariationen (op. 13.) und jeine Variationen für zwei Glaviere, die Beränderungen von Brahms, Volkmann u. a. zeigen, wie jehr diefe Form an Freiheit der Bewegung und charakteriftifcher Vertiefung gewonnen bat. Das Extrem diejer Freiheit jehen wir zwar auch bei Volkmann manchmal geitreift; es befteht in der allzu großen Entfernung der Variationen von ihrem Thema. Während früher jede Variation jo ängftlih an der Taktzahl und dem harmonischen Grundriß des Themas fefthielt, daß der Hörer die Monotonie dieſer Treue bleiſchwer empfand, emancipirt fi

Bom Wiener Mufikverlag. 151

die neue Schule allzufühn vom Thema und läßt e8 oft feiten- lang faum durchklingen. Anftatt wirflih Grund und Thefi der ganzen Ausführung zu fein, wird das Thema zum bloßen Bor: wand für den Nedner, fich über die entlegenften Dinge unge— bunden zu ergehen. Wenn wir dieje Neigung und einige Härten ausnehmen, jo fönnen wir Volkmann's Variationen als ein charaftervolles, ernjtes und geiltreiches Werk unbedingt rühmen, Die Ausführung verlangt übrigens ein tiefere Eindringen und eine bedeutende Virtuofität.

Ungleich geringfügiger find deöjelben Verfaſſers »Lieder einer Großmutter« für Glavier. Offenbar durch Schumann's » inderfcenen« hervorgerufen, find dieſe harakteriftiichen Stüdchen jedod für die Jugend beftimmt, während Schumann’ Heft Bilder der Kindheit in der Erinnerung des Erwacdjenen wider: jpiegelt. Für Kinder find Doch mande diefer » Großmutterlieder« zu großmütterlihd grämlich. Volkmann hat nicht genug naive Heiterfeit, um Sich mit der Jugend zu veritändigen; two er [uftig wird, merkt man oft Zwang oder llebertreibung. Sinnig, im beiten Schumann'ſchen Geilt, find Nr. 9 und 10; Stüde wie Nr. 3 Hingegen mit feinen Elaffenden Diſſonanzen follte man dem jugendlichen Mufifer ebenjo jorgfältig fernhalten, als man die weltjchmerzlichen oder ironiichen Ausbrüche Heine's dem jugendlihen Leſer fernhält. Die Jugend bedarf überall der Reinheit und Harmonie, frei angefchlagene Diffonanzen und mißklingende Vorhälte weiß im Leben wie in der unit nur ein geprüftes Gemiüth ohne Verwirrung aufzunehmen.

Gute Lieder find unter den Lawinen von mittelmäßizen niht blos ſchwerer herauszufinden, fie find in Wirklichkeit jeltener, ald3 man glaubt. So wenig dem Anjchein nach dazu gehört, ein tadellojes Lied zu machen, fo fehlt doch meiſt eine Hauptſache: die Urjprünglichfeit des Empfindens, die Naivetät. Man kann dem Einzelnen nicht zum Vorwurf machen, mas dem ganzen Zeitalter eignet und unbewußt von uns allen ein: gelogen iſt: das Vorſchlagen der Reflexion. Freilich pflegen unfere jungen Zonfeger, gerade wie die Lyriker, es jehr übel aufzunehmen, wenn man ihr Talent ein reflectirte8 nennt; haben fie doch das gute Bewußtſein, fich keineswegs nüchtern

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und gemächlich hinzuſetzen und nun ihre Lieder mit Falten Verſtande auszuflügeln. Das iſt aber auch die allerunterite Stufe reflectirender Production. Das Clement, welches wir meinen, und bon welchem unfere Boeten fi nicht willkürlich losmachen können, weil e8 eben als integrirender Stoff unfere ganze Bildungsatmojphäre durchdringt, äußert ſich vielmehr darin, daß jenes vermeintlih »wumittelbar«e Producirte in der That doc ſchon als ein Neflectirtes herausfommt. Wie viele Lprifer vermeinen die Empfindung felbit zu geben, während fie dieſelbe blos beiprechen und umschreiben!

Mit einigen Gejangseditionen, ſelbſt berühmter Namen, war Spina's Verlag nicht glüdlih; jo kann man nur mit Bedauern die Schwachen Neminiscenzen betradjten, mit denen der hochverehrte Marſchner fich gegenwärtig die Zeit ver: treibt (op. 178, 179).

Wil man aber noch die Altersſchwäche eines Meifters ehren lernen, dann werfe man einen Blid auf das rohe Hand: werk, welches den mufifaliichen Sentimentalität3:Bedarf für unſere Vorſtadt-Fräuleins dutzendweiſe liefert. Wir wollen dem Berleger Herrn Glöggl in feinen jonftigen Verdienſten nicht nahe treten, wenn wir bier jein periodiiche® Unternehmen »Miener Liederfranze nennen. Die Herren Suppe, Titl, Hölzl, Stord u. A. muficiren da umerfchütterlih in den Fuß— tapfen des Alpenhorn-Vaters, des großen Heinrid. Da im »Liederkranz« die Gedichte meilt den Compoſitionen jehr geiſtes— verwandt find, jo gibt es des Ergöglichen genug, oder wie Die Herren Ullmeyer und Titl tieffinnig ausſprechen:

»Muſik und Gelang mit vereinter Sraft, Dad iſt's, was dem Liede den Zauber verjchafft.«

Als ein umübertroffenes Meiſterſtück diefer Gattung ſchätzen wir dad Lied »Bete für mich! welches Anliegen Herrn Suppe’ Mufif mit jener Entjchiedenheit ausfpricht, welche etwa bei dem Ausruf: »la bourse ou la vie!« üblid it. Declamirt ift Dies Lied durchweg: »Mein Genius trauert, es finft mein Glüd, der Wangen Röthe vor Gram erblich« u. f. w. In dem gleihfalls von Herrn Suppe componirten » Morgen:

Vom Wiener Mufilverlag. 153

feniterln« Heißt es im Text wiederholt »Schmatz! Schmatz!« eine zierlihe Anjpielung, die man in der Mufik für Peitſchen— jchnalzer halten würde, ſagte nicht die Anmerkung: »Bei die (sie) bezeichneten Noten muß der Sänger mit den Lippen einen Kuß nahahmen.«e Ob die YZuhörerinnen dabei etwa »in den Brunnen fallen müfjen«, wird nicht ausdrüdlid geſagt. Nächſt Suppe iſt A. Storch natürlid einer der eifrigften Winzer im Weinberg des Herrn Glöggl. Wenn er im Dreivierteltaft und jeufzend unter dem Weh von fünf Be en den gefühlvollen Wunſch äußert, »ein Tropfen Thau« zu fein, dann zerfließt unfehlbar alles, was Ohren hat. Ginige ſehr podagriltiiche Lieder des jeither veritorbenen Beterans Lindpaintner ver: mögen dem »Liederfranz« auch feinen friichen Duft zu ver- leihen, es find gemachte Blumen gewöhnlicher Sorte. Ein einfaches Lied von Guſtav Barth (»Die Fiicherine) fticht durch Anmuth und feinere Bildung aus der Sammlung hervor; es it doch ſchade um dieſes Talent. Ein Seitenftüc zu dieſer Sammlung, gleihjam der Geift des »Liederfranz« auf dad Glavier übertragen, ift das »Wiener Salon-Albume«, worin die mufifaliihen Zwillinge A. Goria und Lefebur-Wehly als Sternbild eriter Größe prangen.

Eine Novität von Meyerbeer »Der Wanderer und die Geiſter an Beethoven's Grabe« iſt jehr unerquidlid; man weiß nicht ob der Wanderer oder die Geilter affectirter fingen. Durd) ein jchauderhaftes Kirchhofsbild auf dem Titelblatt wird die Wirkung der Muſik entiprechend unterftüßt.

Um nun aud den äußern Erfolg nicht zu vergeſſen, be— richten wir die Elägliche Thatſache, daß ſeit Jahren fein Clavier— ſtück in Wien folchen Abjak fand, wie Leopold von Meyer's Grillenpolfa! Als »Grillenpolfa« im Neih des Gejanges florirte da® »Grüberl im Koi«, das obendrein von Local: jängerinnen im Coſtüme fleißig credenzt wurde, Als Componiſt diejer erhabenen »Gſtanzeln« ift auf dem Titel genannt » Gustav Hölzel, E. £. Hofopernfänger und Lieder-&ompojiteur.« Das überholt doch nocd weit die Freiheitsmäriche aus dem Jahre 1848, deren Autoren ſich auf dem Titel als »National- garde und Urwählere aufführten. Wie hätte der Grüberl-Com—

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ponilt eine Verwechslung zu befürchten! Es jcheint überhaupt, daß die Titelblätter allmälig interejlanter werden, als der Inhalt der Mufifalien. Ein Herr Franz Bermwald begleitet jein op. 6, ein Quintett, mit einem Vorwort, worin er »jene Schaar von Pirtuofen, die nur mit den Fingern, aber ohne Kopf und Herz fpielen«, feierlihit erfucht, fein Werk »zu ignoriren«! Völlig allerliebft it aber Folgendes: Auf dem Titelblatt einiger höchft unbedeutender Goncertwalzer von Guſtav Satter (»Les Belles de New-York«) prangt die ftolze Frage: »Wer ift Satter?« und ald Antwort darımter fteht: »Satter ift unzweifelhaft einer der größten lebenden Pianiſten. Satter mwüthet auf dem Piano wie ein braufendes Meer! Da wird man fragen: Iſt das alles? Antwort: Nein. Satter fingt aud) auf dem Biano wie ein Arion.« Er fpielte die ſechſte feiner Piano-Sonaten. Ich fragte: Wo find die anderen? Da befam ich aber ald Antwort tüchtig aufgepadt, indem er ſagte: »Wiſſen fie denn nicht, daß ich auf jedem Gebiet mid verſucht habe? Ih componirte drei Opern, fünf Symphonien, ſechs Sonaten, zwei Quintett, fünf Trios, mehrere Streichquartette und über hundert Soli3 für Piano.« Nun ſuchte ih ihn ald Virtuoſen zu ergründen, und fragte, was er eigentlich alles jpielen könne? Satter antwortete ganz fühl: »Ich fpiele etwa hundert Fugen von Bah und Händel auswendig, ebenfo jede andere gute Gompofition von Bach bis auf die heutige Zeit« Dies iſt Satter liebes Bublicum.

Sp weit wäre aljo die Broftitution im Virtuoſenthum glüdlih angelangt!

1858.

„Das Paradies und die Peri“ von Schumann.

(In Wien zum erften Male aufgeführt am 1. Mai 1858.)

Es ift eine alte Schuld, welche die »Gefellichaft der Mufikfreunde« dur ihre jüngſte Production getilgt hat. Schu: mann’ »Peri«, deren erſte Aufführung in Leipzig 1843 ftatt- fand, ift im Laufe der legten 15 Jahre nicht blos in allen Mufititädten Deutſchlands mit großem Erfolg gegeben worden (wie der Anfchlagzettel etwas überflüffig motivirt), fie hat fogar im Jahre 1848 das Publicum von New-Morf wieder: holt entzüdt. Kein Wunder, wenn man hier dem Erfcheinen des fabelhaften Weſens mit ungemeiner Erwartung entgegenlah.

Der Tert diefer Compofition ift ein Epiiode aus Thomas Moore’3 »Lallah Rookh« nachgebildet. Die Abweichungen von bon dem Original, insbefondere manche Zuthaten, rühren von Schumann jelbit her. *)

Die Dichtung ift das Werk eines poetiichen und zarten Gemüthes, einer weiblihen Natur übrigen®, welche die Em: pfindung gern bi3 zur Empfindjamfeit zufpitt. Bei der großen Beliebtheit dieſes Gedichtes ift es nicht ungefährlih, an dem Grundgedanken zu mäfeln; mir hat er leider ſtets den Ein: druck einer verfünftelt empfindfamen, dabei froftigen Jean Pauliade gemacht. Abgeſehen von dem Nebus, woran Die

*) Chor der Nil-Genien, Chor der Hourid, das Quartett »Peri, iſt's wahr« das Solo »Berftoßen«, endlid der Schlußchor.

156 1858,

Seligfeit der Peri geknüpft wird, bildet daß zweimalige Ab— weiſen der »Heldenblute®«, dann des »Liebesjeufzerd« als »zu gering« gegen das dritte Anbot der »Reuethränen« eine förm— lihe Licitation mit Dingen, deren vergleichende Abichägung etwas Verleßendes hat. Für die Mufif indeffen waren die lyriſchen und fchildernden Ginzelnheiten des Gedichte das MWichtigite, und zweifelsohne beſitzt es deren von unläugbarer poetiiher Schönheit. Die mufifaliihe Foım, welche Schumann diejem Gedicht gegeben, läßt fi genau unter feine der üblichen Compofitiond-Gattungen einreihen. Am richtigften wird man die »Peri« noch immer zu den Santaten zählen, obwohl die Einführung einer erzählenden Stimme (nad) Art ded Evans geliften in den biblifhen Dratorien) ein fremdes Element hin— zubringt. Man vergißt gern den Streit um eine Bezeichnung, wo das bezeichnete jelbit jo unbeftreitbar jchön ijt wie Die Muſik zur »Berie.

Mas diefer Compofition ihren unvergängliden Werth fihert, ilt nicht die Kraft des Totaleindruds, fondern eine Fülle reizender Ginzelheiten. Betrachtet man einzelne Nummern für fi, jo möchte man das Werk, deſſen Theile fie bilden, zu dem Schönften zählen, was die neuere Mufif überhaupt hervorgebradt. Als einheitliches Ganzes hingegen, und nad) dem Totaleffect gefhäßt, den fie dem Hörer zurüdläßt, zählt die »Peri« nicht einmal unter Schumann’ Merken zu den vollfommenften. Sie reiht Perle an Perle, allein je länger, deito gleichförmiger ericheint und die Schnur, bis wir am GSchluße all des Genojjenen etwas ermüdet ge= denfen.

Die wirkſamſte Vertheilung von Licht und Schatten hat der erite Theil. Gleich die Inftrumental:Einleitung und die erften Soli athmen jene träumerifhe Sinnigfeit und Anmuth, an welcher wir Shumann erkennen. Diefe Stimmung finden wir zu einem eigenthümlichen märchenhaften Zauber gefteigert in dem Larghetto »ich fenne die Urnen mit Schäßen gefüllte. Wie Shwungvoll und poetifch ift das poetifche Kleine Quartett, welches Indiens Schönheit preift! Und wie prächtig deifen Gegenſtück, der gewaltige Chor: »Doch jeine Ströme find nun

»Das Paradies und die Peri« von Schumann. 157

roth«!l Der Ordeiterbaß, welcher den Chor canoniſch imitirt, wirft mit unbejchreiblicher Gewalt, am erfchütterndften aber die unisono, recitativartige Frage der Chöre: »O Land der Sonne, weilen Schritt geht über deinen Boden«e? Diefe Erjcheinung des wilden Eroberer3 Gazna im erjten Theil bietet gegen die träumerifch zarte Haltung des Ganzen ein treffliches Gegen— gewicht, deſſen die folgenden Theile entbehren. Im zweiten Theil hebt ſich vor allem der Chor der Nil-Genien durch den Reiz feiner Melodie und der Gellobegleitung heraus, dann der Schlußhor über den Leichen der Liebenden ein unders gleichliher Gejang voll Wehmuth und Erhabenheit. Was da— zwwiihen liegt, verfällt ſchon häufig der Monotonie. Das Peinliche, das in der Ausmalung der Peſtſcene Schon an und für fih liegt! Schumann hat für dad Schwüle, Drücdende der ganzen Athmoſphäre merkwürdige Klänge voll unheimlichen Grauens gefunden; allein derlei verträgt fein au&breitendes Verweilen. Auch der Gejang der Jungfrau Hat nicht den vollen Ton der Schumann’ihen Innigkeit, Tondern nähert fih einer gewiſſen flachen Sentimentalität, wie fie 3. B. in Ihmwächeren Werfen Spohr’3 vorfonmt.

Auh die 3. Abtheilung glänzt durch Einzelnummern, welche den früher genannten an Schönheit nicht nachitehen; wir erinnern an den höchſt anmuthigen Chor der Houriß (in deffen ungezwungenem Mtelodienfluß man den fortlaufenden zweijtimmigen Canon faum gewahrt), an das Quartett »Peri, iſt's mwahr«? Dennod) vermögen Die einzelnen hohen Schönheiten gegen die zunehmende Monotonie des Ganzen nicht mehr recht Stand zu halten. Diefe Hat ihren Grund zunädhft in dem Mangel an Recitativen. Schumann läßt Alles in ftrengem Zeitmaß fingen und bedarf jo für er- zählende Mittelglieder, die fich recitativiich hätten raſch abthun laffen, langwierige ermüdende Süße. Die Recitative haben in großen Werfen die wichtige Aufgabe, die einzelnen Nummern abzugrenzen und deren jchärfere® Hervortreten zu bewirken. Fehlen fie, wie in der »Beri«, jo geht dem Hörer, der uns mittelbar von einer großen Nummer in die andere gezogen wird, bald der Athem aus. Ferner wird in der 3, Abtheilung

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(wie ſchon in der Vefticene der zweiten) die Rhythmik unendlich monoton. Weder auf die wünſchenswerthe Abwechslung zwei— theiliger mit bdreitheiligen Taktarten ift gehörig Rückſicht ge— nommen, noch auf die rhythmiſche und melodifche Belebung längerer, fehr jchleppender Soloſätze. Einiges läßt ſich durch zwedmäßige Kürzungen mildern: immerhin bleibt der in er— mattender MWeichheit fich hindehnende Verlauf des 3. Theil eine unentrinnbare Gefahr für den ZTotaleindrud. Schumann war in allen Meußerlichen jo unpraktiſch, daß er den tiefen Abgrund nicht ſah, den er in feiner »Peri- fo unermüdlich mit den duftigiten Blumen umpflanzte.

Styvanz Schuberf’s Oper „Iierraßras“.

Eines der intereffanteften Concerte diejes Winter hat der Männergefangverein im großen Redoutenjaal veranitaltet. Die ganze erite Abtheilung war Schubert gewidmet und brachte, jo jeltiam das Elingt, lauter Nopvitäten. Herr Chor: meilter Herbed, der jüngit Scubert’8 wunderbar jchönen »Gejang der Geilter über den Waſſern« gleichſam neu entdedt und zu vollendeter Aufführung gebracht hat, that diesmal das— jelbe mit mehreren Nummern aus Schubert’3 ungedrudter Oper »Fierrabrase. Wenn man die fürmlichen »Rettungen« bes denft, welhe früher Shumann, jet Herbed an hochbedeu— tenden und doc bereitö vergeflenen Werfen Schubert’3 vor— nahm, fo möchte man oft zweifeln, ob diefer wirklich erit feit drei Decennien todt if. Scheint e8 doch obendrein, ala ob Schubert's allbeliebte Lieder feinen größeren Werfen mehr Berdränger als Herolde geweſen feien. Auch von Schubert’3 Thätigfeit als Operncomponift hat mancher Mufiffreund erft dur) das letzte Concert des Männergejangvereins erfahren. Schubert hinterließ außer verichiedenen Singfpielen, Melo— drama und einaftigen Operetten, zwei vollitändige große Opern: „Fierrabras« und »Alfons und Eitrella«e. Lebtere (ur: iprünglih für Berlin beftimmt, aber niemald® dort gegeben) wurde vor einigen Jahren durch Lijzt in Weinar aufgeführt.

Franz Schubert’? Oper »Fierrabraße. 159

Der Erfolg wurde gerühmt, allein melden Einfluß auf die muſikaliſche Welt hat ein Erfolg in Weimar? Somit gerieth die Oper wieder in Vergeſſenheit. Auh »Fierrabras« ent: ging nicht dem für alles Geniale offenen und thätigen Enthu— ſiasmus Liſzt's. Er faßte den Plan, die Bartitur zur Um— arbeitung des Textbuchs nad Paris zu nehmen und aufzulegen, ein Unternehmen, von dem er leider wieder abfam. So ift denn, außer der vierhändig arrangirten Ouverture, nicht? pon dieſer Oper veröffentlicht worden, die nebit vielen anderen Manuferipten Schubert’3 nad der Erlöfung harrt.

Wir wollen den »FFierrabrade keineswegs zu den Opern erften Ranges zählen, auch nicht behaupten, daß er ald Ganzes den Müllerliedern, der C-Symphonie oder dem D-moll-Quartett gleihfomme. Schrumpft die Oper fomit etwa3 zufammen, wenn man als Maßſtab Schubert’3 Beſtes daran legt, To wächſt fie hingegen hoch empor im Bergleih mit unzähligen Nopitäten, welche ſeit Schubert's Tod bei und beifällig über die Bretter gingen. Wir wollen die letten Erinnerungen unberührt laſſen, fo oft aber bei der Oper von »einheimiichen Talenten« die Rede war, hätte man auf den Namen Franz Schubert wohl auch verfallen können. Es iſt jo ziemlich der einzige große Komponift, der in Wien dad Licht der Welt erblidt hat; feine Geburtöftadt war und ift ihm fchon deshalb die Feier einer Opernaufführung längit ſchuldig.

Ein ſchwacher Troft, daß die Bejchaffenheit des Libretto bisher das Haupthindernig gegen die Aufführung der Oper bildete. Das Tertbuh zum »Fierrabras« iſt ein traurige Prototyp für die ganze Gattung jener »heroiſch-roman— tiſchen Opern«, welche einft zu Dußenden die deutſche Bühne beglüdten. Es wird dabei ein vollftändiger Kindheitszuftand des Publicums vorauögejegt, und eine ebenfo vollitändige Refignation des Componiften auf alles, was Poeſie, Geihmad und Zufammenhang heißt. Die Oper jpielt am Hofe Karla des Großen, es fehlt alio nicht an Prunk und prahlerifchen Kriegöpirtuofen. Mer nur auftritt, ift ein Held ohnegleichen ; nur der Held der Oper jelbit, Fierrabras, beobachtet die zartefte Paſſivität. Obwohl ein Maure und verliebt, zögert

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er doch feinen Augenblid, fich für einen Fremden einferfern zu laffen, der ihm gerade »zuvorfommend« mit der angebeteten Emma durchgehen will. Kann ein Maurenprinz mit dem zähne— fnirfchenden Namen Fierrabra® blauäugiger handeln? Der erite Akt, der mit diefem rührendem Ereigniß jchließt, jpielt am fräntifhen Hof und führt und außer Emma und Fierrabras noch Karl den Großen vor (jalbungstriefende Baßpartie) und jeinen Geheimfchreiber Eginhard, Emma’3 heimlichen Geliebten, der die Nrretirung des unfchuldigen Nebenbuhlers mit großer Seelenruhe anfieht. Der zweite Alt ſchon bringt eine voll: ftändig neue Handlung. Karl's Genoffen machten ein wenig Jagd auf Mauren. Das Wild ift diesmal klüger und fängt jämmtliche Blüthe der fränkischen Ritterfchaft. Guter Anlaß zu Kampfgetümmel, maurifhen Märfchen u. dgl., jedoch aber: maliges Feftfigen der Handlung. Der Tertdichter hat zum Glück noch eine heimliche Liebe disponibel: Ritter Roland hat irgendwo und irgendwann Florinden, die Tochter des grimmigen Maurenfürften, fennen gelernt. Aus Liebe unter- nimmt Florinde die Rettung jämmtlicher Ritter, Sie ver: barrifadirt fih mit den Franfen in einem Thurm, während Eginhard »auf nah Norden« rennt, Succurs zu holen. Zu Anfang des dritten Aktes geht Karl dem Großen plößlich ein Licht auf: er inquirirt Emma fo ſcharf, daß fie ihr Vergehen und Fierrabras’ Unschuld bekennt. Seine maurifche Hoheit werden nunmehr aus dem Seller heraufgeholt und erklären verbindlichit, das e8 ihr ein Vergnügen war.

Karl: »Das Recht ſei geſprochen, Das Urtheil gefällt, Der Frevel gebrochen, Das Ziel iſt geſtellt.

Emma: Das Herz iſt gebrochen, Das Loos iſt gewählt, Die Schuld wird gerochen, Die Hoffnung zerfällt«.

Nach dieſen koſtbaren Verſen wird an die Befreiung der ge— fangenen Freunde gegedacht. Es iſt höchſte Zeit, denn bereits ſoll

Franz Schubert’3 Oper »Fierrabras«. 161

Roland unter den fchredlichiten Verſen gebraten werden. Die Retter ftürzen herbei, der Chor trifft von Blut, Kaifer Karl von Salbung, und den beiden Liebespaaren wird die gemwünfchte Vereinigung.

Der Gejang wechjelt mit gejprochenem Dialog, welcher durch Lieblingsworte, wie »elender Wütherich«, »Freche Brut« ır. dgl. den Charakter des Kräftigen fefthält. Ein ſolches Libretto muß man lefen, um die jpätere Reaction gegen das ganze Opern: Unmefen zu begreifen, wie fie Rihard Wagner (im Negiren meisten richtig) unternahm. Für Schubert’3 künſtleriſches Naturell ift es bezeichnend, daß er ſolchen Kummer nicht em= pfand. Ihn ftört weder der platte finnlofe Tert, noch weniger drängt er ihn zu Scrupeln über die tiefen Mängel der Kunſt— gattung überhaupt. Frei und ungehemmt durch den Gegendrud der Neflerion, ergießt er die goldenen Fluthen feiner Melodie, Diefes naive Schaffen, und feit Beethoven völlig verloren ge— gangen, gehört zur Charakteriitit Schubert’. Gr macht ſich nicht einmal Bedenken, ob der Stoff des Gedichtes feiner ipeciellen Begabung auch zuſage. Ein ftrengeres Aushorchen ſeines Talents hätte ihn wahricheinlich beitimmt, das Heroiſche und Tragiſche lieber zu Gunften eines lyriſchen oder tdylliichen Stoffes abzulehnen. Allen die ftroßgende Kraft feiner mufi- falifchen Erfindung warf fich fiegreich und ohne viel zu fragen auf jeden Stoff. Kaum eine größere Rolle, als die Reflerion por dem Schaffen, fpielt bei Schubert die Feile nach dem- jelben. Seiner genialen Naturfraft vertrauend, die meiften? das Richtige inftinctiv traf, änderte er ungern nahträglid. Das Manufcript des »Fierrabras« iſt auch in diefer Hinficht und als Beifpiel für Schubert’3 jchnelle Production merkwürdig. Die erite Nummer der Oper iſt datirt vom 25. Mai 1823, die leßte wurde beendigt am 26. September desjelben Jahres; da3 ganze jehr umfangreihe Werk war alſo in 4 Monaten pollftändig componirt.

Die mufifaliiche Behandlung des »Fierrabras« ift duch und durch echt jchubertiih. Das Liedmäßige herricht vor, manchmal ganz unverjftellt, wie in dem Tenor-Duett mit Chor im 2. At, theils in Form oder Charakter den Arien einge- impft. Manche Ddiefer einfach melodiöfen Nummern find von

Hanzlid. Aus dem Concertiaal. 2. Auff. 11

162 1858,

großer Zartheit und Anmuth, wie 3. B. das Frauen-Duett im 2. Aft, As-dur mit obligatem Cello. Manchmal (wie in den Frauenhören am Anfang des 1. und 3. Altes) verleitet den Eomponiften die Liedform zu allaugroßer Bequemlichkeit. Bon fräftigfter Wirkung find die Männerchöre; die mauriſchen Chöre und Märfche tragen einen glücklichen Anflug von LXocalfarbe. Sn allem Formellen hält fih Schubert ftreng an das bishin Gebräuchliche; er rüttelt nicht an der Heinften Gewohnheit der Theaterprariß.

Die „Hraner Mefle“ von Lilzt.

Wien befam am 22. und 23. März die große Feſtmeſſe zu hören, welche Lifzt vor zwei Jahren zur Einweihung der neuen Kirche in Gran componirt hat. Sowohl die Enthufiaften als die wenigen Befonnenen, welche e8 damals verfuchten, fich in dieſem Feuerlärm Gehör zu verichaffen, hatten für oder wider es hauptfählih auf dad Moment der Religiofität abgeſehen.

Ueber die innere Frömmigkeit eines Künſtlers zu urtheilen, iſt ein ſehr ſchweres, bedenkliches Unternehmen. Die äſthetiſche Kritik iſt keine Inquiſition. Sie hält ſich ſtreng an das Werk und bleibt des Grundſatzes eingedenk, daß die Kirchlichkeit eines Kunſtwerks und der ſubjective Glaube des Künſtlers zwei ſehr verſchiedene Dinge find.

Wenn von den modernen Mufifern einem der Ruhm wahrer und ftrengglänbiger Frömmigkeit gebührt, jo iſt es gewiß Sofeph Haydn. Die fromme Kindlichkeit, mit der er fich täglich auf die Knie warf, Gott um erleuchtenden Beiltand anzuflehen, mahnt als letzter ſchöner Abglanz an jene gott- begeijterten Maler und Sänger des Mittelalters, deren Kımft- übung eigentlich nur ein werkthätiges Beten war. Und dennoch it die Unkirchlichkeit feiner Meilen ebenſo zweifellos, wie die Ehtheit feines Glaubens. Haydn's Meffen ftehen in ihrer weichen Anmuth Schon ferne von der Großheit und Würde, die der altsitalienifchen Kirchenmufif innewohnte und von dem höchſten

Die »Graner Meſſe« von Liſzt. 163

Begriff des Gottesdienſtes unzertrennlich bleibt. Eine ſubjectiv unanfechtbare Frömmigkeit konnte alſo dennoch muſikaliſche Formen wählen, welche für die objective Hoheit der Kirche nicht die zuträglichften find.

Wir können jomit Lifzt immerhin für einen zweiten Haydn an Strenggläubigkeit halten, und dabei die Kirchlichkeit feiner Graner Meſſe ſtark im Zweifel ziehen. Dem Bannſpruch der Liſzt'ſchen Adepten find wir damit nmatürlih anheimgefallen, insbefondere dem Verfaſſer der »Mufifaliichen Pflichten«, der jeden Zweifler mit folgenden Beweiſen vernichtet: »Iſt etwa der Geiſt, der in Liſzt's »Fauft«, »Dante«, »Bergſymphonie«, feiner »Hunnenihladt« weht (lauter reine Inſtrumental-Com— pofitionen!) nicht ein rein und ſpecifiſch fatholifcher? Sit er nicht jegt befchäftigt mit einer Legende »die heilige Eli- jabeth«? Haben die Zeitungen nicht davon gefproden, daß er ein Oratorium »Salomo« und eines Chriftus« zu Schaffen gedenft?!«

Menden wir und von dieſen Oratorien in partibus zu der wirklichen Graner Meile. Die Religiofttät, ja felbft die Kirhlichkeit einer Muſik in gewiſſen traditionellen Formen zu juhen, davon find wir jehr weit entfernt, jo beachtenäwerth und auch die Tradition gerade bei Kunſtwerken erfcheint, welche der katholiſchen Kirche dienen. Indeß bleib es richtig, daß der vorzugsweiſe für die Kirche verwendeten contrapunktiſchen und fugirten Schreibart nichts jpecifiich Religiöſes nachweisbar ift, noch weniger den ſüßlich melodiöfen Wendungen, melde durch die ununterbrodhene Nahahmung Mozart's und Haydn’s gegenwärtig in den Kirchen herrichen. Auch wir find mit den Berfehtern der »Graner Meſſe« in dem Punkt vollkommen einverftanden, daß es auf den Geist der Religiofität ankomme, der ein ſolches Werk durchdringen foll, und nicht auf be= ftimmte Ausdrudsformeln.

Angenommen, Beethoven Hätte dad Adagio aus jeiner neunten Symphonie in eine größere Kirchenmuſik aufgenommen, fo würde man fi wohl anfangs überrafht, aber gewiß alsbald von dem jeligen, verflärten Frieden erhoben fühlen, deſſen Geiſt diefe Muſik zum wahren Gebete macht.

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Bon religiöjen Geifte werden wir hingegen in einer Mufit kaum etwas erkennen, die das ganze Wirrſal menſch— liher Leidenfhaften aufitört. Sei Lilzt noch jo andädtig geweſen beim Componiren, welcher Menſch könnte es jein beim Anhören diefer Meffe? Welches Gemüth vermöchte durch Diele Töne fih zu Gott gehoben fühlen, gejtärft und verföhnt?

Man hat die »dramatiſche« Behandlung des Mebtertes dur Liſzt ald neu und bedeutend herborgehoben. Sie ift in der That dramatiih, im Sinne Meyerbeer's und Wagner’3. Wenn in der Maffenmweihe der »Hugenotten«, in den Venus— bergfcenen des »Tannhäufer« u. dgl. die grelliten Farben, die ichreiendften Gontrafte gegen einander geſpannt werden, jo rechtfertigt: man fie eben mit dem »dramatiihen« Zweck. Situationen, die dor unſern Augen die Greuel der Gejchichte und die Qualen der Leidenschaft ausbreiten, erheiichen auch die Thärfften Waffen, mit denen die Muſik zu zerfleiichen vermag. Sn der Kirche wollen wir und nicht zerfleiicht, jondern in Gott verjöhnt fühlen.

Liſzt's Meffe wirkt mit den grellen, faljchen Gontraften Meyerbeer's und Wagner’. Das von Wagner (nach Berlioz’ Vorgang) eingeführte Tremoliren getheilter Violinen in den höchſten Chorden repräfentirt meift das Wunderbare; die rohe Gewalt des Blechs das Erhabene; daß Myſtiſche endlich feiert jeine Räthſel in den peinlidhiten Diffonanzen und Accorden— folgen, welche blafirtes Raffinement erfinnen kann. Liſzt's Meſſe hat Stellen, gegen welche die entjeglichen Necordenreihen in der Domjcene des »Propheten« beihämt zurüdtreten. In— deß, jelbit iiber grelle Einzelheiten, über die zeitweilige Tortur der Gehörsnerven, ja über die vollitändige Meyerbeerifirung der Paſſionsgeſchichte, vermöchte man vielleicht hinwegzu— fommen, fühlte man durch das Ganze den warmen Athemzug religiöjer Empfindung wehen. Allein die grübelnde Reflerion ihaut mit ftechend grauen Augen aus jedem Takt heraus. Sie iſt der heilige Geiſt, der diefe Meſſe ſchuf.

Ueber das vreligiöfe Gefühl de Componiſten, mir wiederholen es ausdrüdlih, hegen wir nicht den mindejten Zweifel; allein fein Werk fpiegelt uns wie eine Fata morgana

Die »Graner Meffes von Liizt. 165

das Bild eines lebhaften und geiftreichen Mannes vor, der fi in den Meßtert vertieft, ungefähr wie Daviion in das Ma— nufcript irgend einer bedeutenden, aber-vor ihm längit abge- ipielten Rolle. Das feine unternehmende Lächeln jcheint zu jagen, »es wäre doch ſeltſam, wenn es für diefe Rolle nicht auch eine Auffaffung gäbe, die von allen bisherigen völlig abweicht, ſehr ſeltſam, wenn ſich nicht eine Unzahl geift- reiher Pointen herausfinden ließe, an die bisher fein Menſch gedadit«,

Wir haben wirklih von derlei Künftlern Rollen gejehen, die, voll geiftreicher Blige, doch das Bild faum mehr erfennen ließen, das der Dichter damit verband. Liſzt's Meſſe iſt eine folhe Leiftung Warum jollte ihn feine Bildung nicht be: fähigen, Neuerungen zu bringen, auf welche da3 bloße muſi— falifche Talent und ſei e8 das reichite, nicht verfällt? Warum jollte ein Mann, der mit literarijchen, philofophifchen, ja theo— logiihen Kenntniſſen an die Compofition einer Meile gebt, darin nicht Ideen niederlegen fönnen, an welche der Verſtand und die Bildung feiner Vorgänger niemals reichte?

In der That, leichtfertig iſt Lijzt nicht an das Werk ge: gangen. Er hat fih in die Bedeutung des Mektertes fo ernftlich vertieft, daß ihm faſt jebes Wort eine eigenthümliche Bedeu: tung, einen verborgenen Zufammenhang enthüllte Das Wort wurde ihm im höchſten Grade wichtig, und in dem Eifer, es genau zu interpretiren, zeigt fi) Liſzt gewiffermaßen begeiftert, am Glauben aljo, wenn auch nicht von demfelben. Mit dem grübelnden Eifer eines Theologen überjegt Lilzt die verborgene Bedeutung jedes einzelnen Wortes in eine entiprechende muſi— falifche »Intentione. Wir entfinnen und faum eines Werkes, in dem dieſe moderne Mufe, die »Intention«, jo unumſchränkt regiert hätte. Auf jede Sylbe legt fie ihre dürre Hand, und wo ſich ſonſt duftige Veilchen wiegten, da entfteigt nun ge— ipenjterbleich der tödtlihe Baum der Erfenntniß *).

* Daß wir nicht eine dem Gomponijten fremde Auffaffung unterlegen, beweijen wohl jchon die äußeren Vorbereitungen, dent Hörer das »Verſtändniß« zugleich mit dem Programm in die Hand

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Liſzt Hatte für die Grundzüge diefer Auffaffung ein hoch— bedeutendes und gefährliches Vorbild in Beethoven's zweiter Melle. In der That haben die beiden Werke mehr miteinander gemein alö die Tonart D-dur. Auch Beethoven’3 D-Mefje riß den Kirchenſtyl aus feinen bisherigen Formen in eine gewaltige aber phantaftiihe Region, für welche die irdifchen Bedingungen des Gottesdienftes feinen Raum boten. Beethoven’: mufi- falijcher Genius konnte indeffen von ben verjengenden Strahlen der »Intention« wohl zeitweije geitreift, niemal3 aber zu Boden gezwungen werden. Welche mufifaliihde Entihädigung aber bietet Liſzt's Meſſe für die getäufchten Hoffnungen der An— dacht? Soll der rein mufifaliiche Genuß der überwiegende und der Hörer mehr Künftler fein, als Chriſt? Faft jcheint dies der Anficht des Componiſten jelbit zu begegnen, da er es vorzog, die Mefje nicht in der Kirche, wohin fie gehört, ſon— dern ganz concertmäßig im großen Reboutenfaal aufzuführen. Vieles von dem ungünftigen Eindrud würden wir anf dieſe concertmäßige Einkleidung jchieben, wären wir nicht fo be— günftigt gemwejen, die Graner Meffe auch in der Domkirche zu Prag zu hören. Während wir aber dort dachten, fie müßte im Concertfaal jedenfall® gewinnen, jo jehnte fih im großen Redoutenjaal unfer wanfelmüthig Ohr wieder nach der Kirche. Die gothiihen Hallen, die gladgemalten Fenfter, der Weihrauch: duft, furz die Heiligdeit des Drtes lieh doch auch der Graner Meſſe etwas von der Stimmung, die wir in der Mufif allein hier nimmermehr entdeden fonnten.

Nicht ala ob fie durch Trivialitäten der Melodie oder des Rhythmus gegen die kirchliche Würde verftieße. Der Ton Höchften Ernites ift durchaus feitgehalten. Allein nirgends kommt eine Stimmung zur wahrhaften Ausprägung. Wir werden durch lauter Anfänge, Fragmente, Anregungen und Contrafte raſtlos weiter getrieben, ohne zur Sammlung irgend Zeit zu gewinnen. Die geiftreihften Pointen fünnen und für die Ruheloſigkeit

zu bdrücden. Die Bertheilung des Meßtertes (mit etwas Gregeie) unter ein rein katholiſches Publieum wird manchem wunderlich vor— gekommen fein.

Die »Graner Meſſe« von Liizt. 167

des Ganzen nicht entichädigen. Hin und wieder tauchen freund- lihere Klare Stellen auf, wie im Agnus Dei und Benedictus, welche uns überhaupt als die einheitlichiten und gejammelteiten Muſikſtücke des Ganzen erſchienen, doc lange bleibt die Freude nicht ungetrübt. Der Hörer wird jeden Augenblid durch einen gefuchten Contraft aus der Stimmung gerifjen. Geht er näher darauf ein, fo findet er wahrſcheinlich eine finnreihe Motivis rung, eine jemer thematiichen Anſpielungen, die Wagner in Schwang gebradt, oder ähnliche Beziehungen; aber der Total- Eindrud, den er mitnimmt, wird deöhalb fein anderer. Won den zwei Begriffen, die das Wort »Kirchenmuſik« bilden, gelangen bei Zifzt weder der eine noch der andere, am wenigſten beide zu ſchöner Wirflichkeit. Faſt möchten wir auf diefe Meſſe ein ſtrenges Wort Schumann’ über eine Oper Meherbeer's anwenden: »fie ſei der Angftichrei eines von den Forderungen der Zeit aufs äußerſte gequälten Talentö«. So fteht uns die »&raner Mefje« fremdartig entgegen: halb Oper, halb theo- logiihe Abhandlung. Wir würden indeß um den Namen nicht ftreiten, unter welchem uns ein Kunſtwerk von reicher muſi— falijher Erfindung geboten würde. Damit ift es jedoch in der Graner Mefje beitellt, wie in Liſzt's größeren Com— pofitionen überhaupt. Das Rühmenswerthe und Anziehende des Werkes ruht in den einzelnen durch Reflexion vermittelten Pointen, ſei es der Tertauffaffung, fei es des mufifalifchen Effectes. Hier ließ fi von Liſzt's Geift und Bildung eine Reihe feiner Apercuß erwarten, und er hat diefe Erwartung auch in jedem Sat reichlich erfüllt.

Zum Schluß nod eine Bemerkung. Faft alle längeren, insbeſondere apologetiichen Beſprechungen der »Graner Meſſe«, die uns zu Geſicht kamen, beginnen mit einer ausführlichen Geſchichte der Kirchenmuſik. Die großartigſten und höchſten Entwicklungen der Musica sacra werden dabei natürlich zu Vorftufen für die Lijzt’sche Meile herabgefegt, welche an die Stelle des »ohnehin abgelebten« Alten einen neuen Kirchenſtyl und zwar den für die Gegenwart allein zufagenden aufgerichtet babe. Daß man auch der Kirchenmuſik gegenüber, deren Blüthenzeit tief in der Vergangenheit Tiegt, dieſe fonft wohl:

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befannte Sprade führt, jcheint uns etwas ſtark. Wenn unjerer Zeit, wie eingeräumt wird, die findliche Frömmigkeit und Gottesfurdt abhanden gefommen find, in welder die alten Meifter fchufen, fo find doch gottlob ihre Werke nicht mit ab— handen gefommen. In ihnen allein iſt noch für lange Zeit da3 Heil der Kirchenmuſik zu fuchen.

Nur zwei gejchichtliche Bildungen der heiligen Muſik ent: ſprechen volltommen der hohen und ernften Bedeutung des Gottesdienites: die Kirchenmufif der alten Italiener (römiſche und venezianiihe Schule) und der älteren Deutfchen (Edart, 9. Schütz, ©. Bad). So lange nicht ein erneutes religiöjes Leben auch die Kunſt wahrhaft befruchtet, und mit urſprüng— liher Kraft (nit mit reflectirendem Wit) ſelbſt fi neue Formen Schafft, wird der moderne Kirchencomponift am beiten thun, jih in jene Ausdrudsweifen zu verjenfen, ans welchen mit nie erreichter Innigkeit Gottesliebe und Gottesfurcht ſpricht. Nicht jedes Zeitalter darf jede Miſſion übernehmen wollen.

Sapvigny Hat befanntlid unferer Zeit den Beruf zur Gejeßgebung abgeſprochen. Der Beruf, eine neue Kirchenmufif zu jchaffen, fehlt ihr noch weit mehr.

Soncert der Singakadenmtie. Mendels⸗

ſohn.

Wir erblicken eine der fruchtbarſten Seiten der Chor— vereine in der Verbreitung muſik-hiſtoriſcher Kenntniſſe. Indem der reine Chorgeſang, der ſeine zahlreichſten und unvergäng— lichſten Muſter in der älteren Kirchenmuſik Deutſchlands und Italiens ſindet, von dieſer gar nicht Umgang nehmen kann, eröffnet er zahlreichen empfänglichen Muſikfreunden eine neue Welt, von der fie wahrjcheinlich ſonſt feine Ahnung erhalten hätten, Das fremdartige der erjten Begegnung wird durch Die Beharrlichkeit liebevollen Einjtudiren® gebroden, und an die Stelle der allgemein herrichenden ſyſtemloſen Eklektik tritt all mälig dad Bemwußtjein eines Zujammenhanges in der Entwids lung unſerer Kunſt.

Goncer: der Singafabemie, Mendelsjohn. 169

Die neuere Zeit war in dem Programmı der Singafademie vertreten dur den »43. Pjalm« von Mendelsjohn (op. 78) und deffen »Hymne- in G-dur für Sopranfolo und Chor, beided® Werke von religiöfem Ausdruck und edler geiftvoller Geitaltung.

Mit Bedauern jahen wir hingegen ein Baßjolo und Terzett aus einem handjchriftlihen deutichen »Stabat mater« von Schubert in das Programm aufgenommen. Das Werk ge: hört zu den vielen Jugendarbeiten des genialen, aber oft wahllos producirenden Tondichters, die nur eine falſche Pietät aus dem Dunfel hervorzieht, welchem der Autor felbit fie an: vertraut wiffen wollte. Dies »Stabat mater«, in dem weichlich jalbungsvollen, Homophonen Styl der Mozart’ichen Nachtreter geichrieben (eine Neminiscenz an Saraftro ift nahezu fomifch), machte fih unmittelbar nah dem Mendelsſohn'ſchen Palm recht intereffant. Es war eine jchlagende Antwort auf die in neuejter Zeit beliebte Werjpottung Mendelsſohn's und jeiner »beim Thee aufzuführenden« Kirchenmuſik, auf deifen Unkoften Schubert jhlehtweg nit nur als der »größte Mufifer, jondern als der einzige echte Meifter nach Beethoven« er— hoben wird.

Die Begeifterung, mit welcher am jelben Tage drei ver: jchiedene Tondihtungen Mendelsſohn's aufgenommen wurden, führte und den mohlthätigen Einfluß dieſes Meifterö in der mufitaliihen Kunftgefchichte wieder recht Iebhaft vor Augen. Daß Mendelsſohn die Kraft und den Aufſchwung Beethoven's nicht befigt, daß feine janfte, feine Natur manchmal dem Weich— lihen verfällt, daS wird ebenjowenig Jemand läugnen, al? damit etwas Neues fagen. Wir glauben ſogar, daß die meijten jeiner Clavier-Compoſitionen noch immer überihäßt find: in ihnen muchert wirklich) jener oft gerügte Formalismus, welcher mit der ftereotypen Ausdrucksweiſe äußerlicher Leiden: ihaft den Mangel an innerer Kraft verdedt. Allein in diefen Glavierftüden Liegt nicht der Schwerpunkt von Mendelsſohn's Bedeutung. Er ruht in feinen Concert-Ouverturen, durch welche der Inftrumentalmufif ein neues Clement zugeführt wurde, und vor allem in feinen geiftlihen Tondidtungen. Mendel2:

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fohn’3 Oratorien und Pialmen find mufifaliihe Erfcheinungen, die nach Art und Größe feit Beethoven ziemlich tjolirt daſtehen.

Mögen immerhin Schubert nd Schumann nad Art ihres Talents Beethoven näher verwandt fein, ald der reflectirtere Mendelsfohn: damit ift die Bedeutung eine Ton- dichters in der Kunftgefhichte noch nicht gemefjen. Keiner von diefen Nachfolgern Beethoven’ hat in geiftlicher Kunft Erheb: liches geleiftet. Die »Pfalmen« und »Oratorien« find eine That, die Mendeldjohn jogar vor Mozart und Beethoven voraus hat, denn jeit Bach und Händel hat er die erfte wahrhaft deutjche DOratorienmufif gebradt. Inden Diendelsfohn, mit Uebergehung der ſpäteren neapolitaniichen Schule, deren Einfluß noch Haydn und Mozart beherricht hat, an das Vorbild Sebaftian Bach's anfnüpfte, hat er jedenfall etwas ganz Anderes und Höheres gefchaffen, al® eine bloße »Abihwähung und Verweichlichung« diefes Originals. In einer Zeit zerfahrenen Epigonenthums war Mendelsfohn die blanke, unangetaftete Säule der deutfchen Tonkunſt.

Nicht in einer Verwandtſchaft mit dem »Dilettantismus«, ſondern geradezu in ſeinem directen Gegenſatz zu dem genial— thuenden Dilettantismus unſerer Tage, erſcheint uns gegenwärtig das Charakteriſtiſche von Mendelsſohn's Kunſtthätigkeit. Die Degradirung Mendelſohn's zu einer »falſchen Zwiſchenbildung« in der Geſchichte der Muſik muß wohl die Anſicht in ſich ſchließen, daß wir ohne dieſen Auswuchs viel weiter wären. Darauf iſt zu erwidern, daß im Gegentheil in Mendelsſohn's Erſcheinen gerade zu dieſer Zeit und in dieſem Zuſammenhange eine ber weijeften Fügungen der Kunitgeichichte Liegt. Ohne feine Form: Ihönheit, jein reines, klares Geftalten wäre, nad der ver: führerifchen Emancipation der fpäteren Beethoven’ihen Muſe, die Verwilderung, die wir gegenwärtig in der »Zukunftsmuſik« erleben, viel früher und ungleich verderblicher eingebrochen. Was an den jchlimmiten Verſuchen diejer Richtung noch ver: nünftig und maßboll ericheint, iſt größtentheild dem Einfluß Mendelfohn’s zu verdanken.

Ole Bull. 171

Ole Bull.

Es war vor 18 Jahren, daß Ole Bull zum erften Dal in Wien und Prag concertirte. Nicht undeutlich erinnern wir und des blaſſen, nordiihen Jünglings, der faum die Geige zur Hand zu nehmen braudte, um die lebhafteiten Sympathien des PBublicums zu erregen. Im Sturm famen fie ihm zugeflogen. Man feierte in Dle Bull einen ind Norwegiiche überjegten PBaganini, und was feine Töne nicht deutlich ſagten, das las man theilnahmsvoll aus feinen ſchwärmeriſch leuchtenden Augen. Die Lebensgeihichte des jungen Künſtlers war, mehr oder minder ausgefhmiücdt, in aller Munde. Man mußte, wie er frühzeitig von feinem ftrengen Vater zum Theologen beitimmt, und zugleich, zu größerer Sicherheit, der Geige beraubt worden war; wie er fpäter in Göttingen Jurisprudenz ftubirte, aber immer wieder zur Muſik fich zurüdgetrieben fühlte. Spohr, dem fi der Jüngling anvertraut, fand ſich von der ercentriichen Weiſe desjelben fo fremdartig berührt, daß er ihn ohne Auf: munterung entließ. Unſer junger Freund eilte nah Paris, der hohen Schule des Ruhmes. Auch da war fein Anfang der un: glüdlichite von der Welt; es wurde ihm Alles, jelbit feine Violine, geftohlen. Obdachlos und dem Selbftmord nahe irrte er mehrere Tage und Nächte in den Straßen von Paris. Eine vornehme ältere Dame, die Witwe des Grafen Fade, deren Entelin er fpäter geheiratet hat, entzog ihn dem Elend. Ein Goncert, das der von jchwerer Krankheit faum geneſene Künftler mit Hilfe einer geborgten Violine gab, hatte jo großen Erfolg, daß der Anfang feiner Virtuoſen-Laufbahn gefichert und Ole Bull in den Stand gejeßt war, für feine weitere Ausbildung und Berühmtheit auf Reifen zu gehen. Seither hat fich die Geſchichte nicht viel weniger romantisch fortgeſetzt: Dle Bull hat Jahre Yang als Farmer in Amerika gelebt und taucht nun plöglih, halb vergefien, wieder in Europa auf. Sei es aber, daß wir im Leben praftifcher, oder in der Kunſt idealiftiicher geworden find, dad Ericheinen Dle Bulls übt wenig mehr von dem alten Zauber.

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Bon jeher hatte fich diefer Künftler einer ſehr einfeitigen Virtuofität ergeben, und jene Vereinigung ſouveräner Bravour mit bizarrem Ausdrud in ſich ausgebildet, die man vorzugs— weiſe »paganiniiche nennen fünnte. Die Begeifterung für eine folhe Richtung, welche Herz und Geiſt ſchmachten lafjend, nur die Verwunderung des Zuhörerd in Anſpruch nimmt, ift im Laufe der legten zwei Decennien eritaunlich gefunfen. Gefättigt von all den Sprung: und Sletterfünften, die einmal vielleicht ergögen, aber ſchon ein zweitesmal und gar nicht? mehr zu jagen haben, ſucht man gegenwärtig mit Recht eine tiefere Be- friedigung auch beim DBirtuofen. Die Häufung technifcher Schwierigkeiten und deren noch jo glänzendes Befiegen vermag nur ald Mittel zu geiltigerem Zwed, nur als Durchgangs— punft zu einer weit höheren Wirkung nachhaltig zu erfreuen. Bon einem Wirtuofen, der als Componiſt jelbit jehr unbe: deutend daſteht, verlangen wir daher, daß er feine techniiche Kraft im Dienst gediegener Mufit bewähre. Ole Bull jpielt heute wie vor zwanzig Jahren nur eigene Compofitionen. Wir müßten jehr irren, wenn es nicht fogar genau diejelben Stüde iind. Sih an diejen form: und gedankenlojen Phantaſien zu erbauen, wird man ader faum im Ernite jemand zumuthen fönnen. Ehemals zwar ſuchte man eine gewiſſe künstliche Dunkelheit in dieſen Sompofitionen für Erhabenheit und Tiefe auözugeben, und bemunderte als »echt nordiihe, wad man als gut mufikaliich zu bewundern doh Anftand nahm. Die Schwärmerei für Ole Bull's Mufit geberdete fih manchmal wie ein Nach: lang jener allgemeinen Verzückung für die hohle Erhabenheit der »Oſſian'ſchen« Nebelpvefte. Wir vermochten für unfern Theil in Dle Bull’ Compofitionen nie etwas anderes zu erkennen, ala mit Schmerzen geborene, unreife Producte einer gährenden, aber ganz hoffnungsloſen PBhantafie. Kaum, daß einzelne Takte Spuren von Originalität zeigen, der Grundcharafter jeiner Com— pofitionen bleibt immer: reminißcenzenreiche Unſelbſtſtändigkeit.

Gonfequent ift Ole Bull's Muſe nur in zwei Dingen: in in der Inconjequenz des muſikaliſchen Baues und in dem lleber: gewicht der Bravour. Wa& die erjtere betrifft, jo nennen wir aus vielen Beiipielen nur die »Polacca guerriere«, Schon die

Ole Bull. 173

Form und der Name laffen auf ein einheitliches Stück von durchaus kraftvoller Lebendigkeit Ichließen. In der That beginnt dad Orchelter mit einer Polonaife, die in Ermanglung jeden innern Feuers wenigſtens die Rhythmik mit Trommeln, Tri: angeln und Beden markirt. Dieſe kriegeriſche Einleitung führt geradenwegd zu einem kläglichen Pecitativ der Violine, an welches fi ein langes Adagio und hierauf wieder ein jenti= mentale® Andantino im */,:Taft reiht. Damit jchließt das Stück, ohne den Einleitungsfag, der ja die ganze Gompofition beherrichen, oder vielmehr in immer glänzenderer Steigerung ausmachen follte, wieder breit aufzunehmen. Der Componift hat im Verlaufe feiner bizarren Recitative und reichverzierten An— dantes völlig vergefien, daß er eine »£riegeriihe PBolacca« Schreiben wollte. Einen joldhen Mangel der nothwendigſten fünft- leriihen Disciplin findet man vielleicht in der muſikaliſchen Literatur nicht wieder. Ebenſo find Ole Bull’3 »Goncerte« formlofe, halb in breitläufigen Adagios, halb im antiquirten Bravourpaffagen fich ergebende Phantafien. In den Ueber— reihthum der leßteren fegten wir die zweite Gonjequenz der Bul’ihen Compoſitionsmethode. Man ift ficher, in jedem Werk diefes Birtuofen denjelben Kunitjtüden zu begegnen. Es find deren insbeſondere zwei, welche er mit auffallender Vorliebe pflegt: die Flageolettöne und das mehrjtimmige Spiel. Beides behandelt Ole Bull mit virtuofer Sicherheit und Reinheit; allein indem er endlos lange und an fich bedeutungslofe Süße aus: ſchließlich für Flageolet oder für mehrftinmiges Spiel fest, ftumpft er den Hörer auch dafür ab. Noch glänzender find jeine Staccatoläufe, die er gleich unübertrefflich im Aufftriche wie im Abftriche hervorbringt. Andere Seiten der Ole Bull'ſchen Bravour find, ehemals angeftaunt, gegenwärtig ſchon mehr Ge— meingut geworden. Sein Ton tft von jchöner Weichheit, nur im Adagio mitunter winfelnd. Den Gefammteindrud von Dle Bull's Spiel kurz zu fummiren, jo wirken die Vorzüge des— felben als rein technifche. Die ganze Richtung feines Spiels ift eine abgeblühte, und es bedarf vollauf der Tiebenswürdigen Perſönlichkeit Ole Bull's, fie wenigſtens ftellenweije wieder zu Iheinbarem Leben zu erweden.

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Die Hchweltern Ferni.

Die beiden geigenden »Wunderjchweitern« aus dem Süden find endlich auch bei uns eingezogen. Man weiß aus den Zeitungen, wie halb Italien für Birginia und Carolina Ferni Ihwärmt; zu dem Ruhme ihrer Kunft gefellt fich der ihrer Schönheit und erhielt durch hochromantiſche Abentener in jüngfter Zeit ein rothes Siegel der Beglaubigung. Durch muſikaliſchen und anekdotifchen Zeitungslärm angeloct, hatte fich ein großes PBublicum im Theater an der Wien eingefunden, wo die Schweſtern Ferni ihr erftes Concert gaben. Erft jeit den Mila nollo’3 hat man fich neuerdings in Deutfchland daran gewöhnt, die Bioline in Frauenhänden zu jehen, und doch fönnte man dies Inftrument, übereinftimmend mit der deutfchen Benennung desjelben, ein echt mweibliches heißen. Der Maler wird una gern beiltimmen, in dankbarer Erinnerung an die vielen allerliebiten Geigenſpielerinnen auf alten Bildern, und ebenſo gern wird der Mufiter dem geiftreichen Berlioz Necht geben, wenn bdiefer in der Geige »die eigentliche Frauenftimme des Orchefterd« feiert. Das MWunderfindliche der beiden Milanollo’3 jehen wir num beit den Schweitern Ferni zur Reife fchöner Sungfräulichkeit entwidelt. MWenn fie beide Hand in Hand mit ihrem faft ftatunarifch ruhigen Anftand vortreten fchlanfe, blühende Ge- ftalten mit jchön geformten Köpfen, tiefdunflem Blick und haraktervollen Zügen, fo geiteht man, das Bild.habe etwas Beftechendes. Sobald die Geigen erklingen, hört man, daß es der Beitehung nicht bedurfte. Beide Schweitern haben eine Sicherheit und Pielfeitigkeit der Technik, die nur der glüdliche Erwerb einer von Kindheit auf jpielend fortgefeßten Uebung und einer durchaus muſikaliſchen Erziehung ſein kann. Was uns an ihrem Spiel vor allem erfreute, ift der entjchiedene, Fräftige Ausdrud; da hat man feinen unficheren Einfag, feine ſchwankende Gantilene, feine verwiſchte Paſſage zu fürchten. Von einem mächtigen, tiefen Eindrud fönnen wir nicht berichten, es war auch das aus den flachſten Salon-Compofitionen gebildete Programm nicht darnach! allein der Vortrag zeugte von einem

Die Schweftern Ferni. 175

männlicheren Geiſt, der jede affectirte Zimperei und Weber: ichmwenglichkeit verfchmäht. Von jenen ſchwer zu definirenden Heinen muſikaliſchen Schwachheiten, auf welche wir bei den Schweftern Ferni auß dem doppelten Grunde ihres Geſchlechts und ihrer Nationalität gefaßt waren, haben wir nur ehr wenige (z. B. in dem nachdrüdlihen Zerpflüden der Mes lodienſchüſſe) gefunden. Der Ton war immer fräftig und rein, der Paſſagenſchmuck zierlih, die Reinheit des Octaven— ſpiels und der Flageoletftellen überrafhend. Auf die Frage, welche von den zwei Schweitern die borzüglichfte jei, müßte man eigentlich antworten: Beide zufammen, denn ihr Zufanmen: ipiel ift die Krome ihrer Productionen. Diefe Gleichheit des Spiels bis in die verborgenften Falten desjelben natürlich nur durch ein jahrelanges Zufammenspiel, oder richtiger muſi— kaliſches Zufammenleben erreihbar verleiht jelbit un: bedentenden Gompofitionen, wie dem Duo von Alard, unter den Händen der Ferni umnleugbaren Reiz. Nach einmaligem Hören fchien es und, al3 wenn innerhalb der großen Yamilien- Aehnlichkeit ihres Spieled Virginia mehr die jchmeichelnde Zärtlichkeit, Carolina hingegen die einfchneidende Kraft reprä- jentirte. So glänzte in dem »Garneval von Venedig« (dieſes enfant terrible der Violin-Virtuoſität wurde uns nicht ge Ihenft) Virginia durh die ſüße MWeichheit im Vortrag der Einleitung, während Carolina fich vorzüglidh in halsbrecheri— Then Regionen wohlzubefinden jchien. So virtuos e3 bewältigt wurde, jo fehlte diefem Stüde doch die Keckheit eines gleichſam impropifirenden Humor; die mandhmal gar zu unfläthigen Scherze dieſes »Garnevald« gefallen und am wenigiten aus Ihönem Franenmund.

Die lange Reihe von fechzehn (!) Concerten, welche die Ferni im Theater an der Wien gaben, vermochte nichts Mefentliches zu dem Eindruck hinzuzufügen, den man aus dem erften mit nach Haufe nahm. Ein fortgefeßtes Intereffe an den Ferni’fhen Productionen hatte bei der Mermlichkeit ihres Pro— gramm’3 nur der Violinfpieler und das große Bublicum; jener aus rein technifhem Gefichtspunft, dieſes aus begreiflichem Behagen an leichter und ſüßer Koft. Der eigentliche Mufiker,

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der Freund gediegener Tondichtung, ging dazwiſchen ziemlich leer au. Das Ferni'ſche Repertoire bewegt fi) (wenn hier noch von Bewegung die Rede fein kann) auf einem gar zu einen und Eleinlichen Terrain der PVirtuofität. Mit Diefen abgeitandenen »Airs« von Beriot und Variationen von Alard, mit diefen >Nachtwandlerinnen« und »Regimentstöchtern«, endlih mit dem »Carneval«, diefer mufifalifhen Pandora— büchje, aus melcher, fobald man nur acht Takte herausläßt, alles erdenkliche Unheil auffteigt, hätten die gefeierten Schweitern vor dem ftrengen Bublicum des Muſikvereins-Saales kaum jo oft ihre fiegreihen Bogen geſchwungen. Das darf und aber nicht ungerecht machen. Der ganz ungewöhnliche und verhält: nigmäßig leicht errungene Erfolg der Ferni, zufammengehalten mit dem bon der Kritik allzu oft hervorgehobenen Reiz ihrer Perfönlichkeit, mag vielleiht manchen muſikaliſchen Cato von Eifen auf die Idee gebracht haben, es handle ſich Hier nur um zwei hübſche Mädchen, die nicht allzuviel können. Weit gefehlt. Die Schweitern Ferni können manden berühmten Violinfpieler verdunfeln, ganz abgejehen von dem Sinn, in welchem dies ohnemweiter8 einleuchtet. Sie theilen mit ihren Land3leuten Sivori, Bazzini u. A. die einfeitige Anfhauung von der Miffion der Birtuofität, allein an der Thatſache diefer Virtuofität läßt fih nicht mäfeln. Der Umfang ihrer Bravour iſt keineswegs ein außerordentliher (mehritimmiges Spiel zum Beifpiel und mande Gombinationen der modernen Technik hörten wir fait gar nicht), es find mehr die Violinfünfte der Tettverfloffenen Beriode, die fie vollfommen beherrichen. Wir hörten aber nichts bon den Ferni's, was fie nicht vollendet geipielt hätten. Wo e3 fich blos um Bravour handelt, ftrömt fie uns mwenigftens in dem reinen Duft mühelojer Anmuth entgegen. So fehen wir in der Spielweiſe der ſchönen Schweftern den Adel ihrer Erjeheinung und Haltung ſich tönend abipiegeln.

Biatti. Alfred Piatti iſt ein noch junger Mann; um ſo ſtaunens— werther erſcheint die faſt abſolute Gewalt, die er über ſein

Piatti. 177

Snftrument, das Bioloncell, erlangt hat. Sein Ton iſt von feltener Schönheit, wei, rund und blühend Wielleicht zum eritenmal vermißten wir an einem Gelliiten jenen jchnurrenden, brummenden Beillang der tieferen Chorden, von dem jelbit dad Spiel der größten Virtuofen jelten ganz frei war. Freilich vermeidet Biatti, fein Inftrument allzuftark anzugreifen; fein Spiel ließe hin und wieder fräftigere Farben, tiefere Schatten zu. Dafür ftreift er nirgends die Grenzen des Uebelklingen— den, ſondern entzüdt immer dur den Zauber des reiniten MWohllauted. Sein Spiel, dad in diefer unvergleichlichen Schönheit des Tones ein jo beneidenswerthed Material befigt, iſt ebenſo entwidelt nad) der Richtung der PVirtuofität, als gediegen in PBortrag und Auffaffung Wir wollen nicht einzeln al die Kunſtſtücke aufzählen, die bei allen Cello: Virtuoſen, alfo auch bei Piatti, die äußerlichen Spigen ihrer Virtuofität bilden; nicht einmal, daß er fie mit Bollendung durchführt, braucht eigend verfichert zu werden. Die leichte Sicherheit Hingegen, mit welcher Piatti die höchſte Bravour beherrſcht, ohne ihr eine läſtige Wichtigkeit zu verleihen, muß als ein eigenthümliher Vorzug hervorgehoben werden. Die pirtuofe Kunſt fteht Piatti nirgends im Wege, wo e3 gilt, eine Bantilene einfach vorzutragen. Innig und tief empfunden, hatte 3. 8. fein Vortrag der Schubert’jhen »Litanei« doch niht8 von jener anmwidernden Süßlichkeit, welche gerade auf dem Bioloncell jo allgemein vertreten wird. Führt auch Piatti feinen Bogen fo fein und leicht, wie ein Violinſpieler, fo verihmäht er es doch, und um den eigentlichen Charakter ſeines Inftrumentes zu betrügen, welches bei aller Innigkeit ernjt und männlich bleiben fol. Ebenfofehr Hat uns erquidt, im Adagio nicht jenem fortwährenden Vibriren zu begegnen, das bei zahllofen Celliften mit »Gefühl« identisch tft.

Bei diefer echt künftlerifchen Richtung Piatti's der mit der finnlihen Friſche feiner Landsleute den tieferen Ernft der Deutfchen verbindet, fühlt man mit Bedauern, wie gerade jein Snftrument mit claffiihen Solo-Compofitionen fpärlic bedacht jei. Die Eoncertftüde von Romberg, Bohrer, Kummer u. a. find veraltet, die Bioloncell-Sonaten von Beethoven und Mendels—

Hanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 12

178 1859.

fohn müßten fi) verzehnfahen, um ein Nepertoire zu bilden. Piatti componirt auch felbft, er muß es geradezu, will er ergänzen, was jene Meifter ihm fchuldig geblieben find: feiner hochgefteigerten Virtuofität nicht blos entiprechende Entfaltung, fondern die höchſten Aufgaben zu ftelen. Nad dem Wenigen, was wir von Piatti gehört, fünnen wir ihm fein intenfives Compofitiond-Talent zufprechen, wohl aber Gejchidlichkeit in der Behandlung der gebräuchlichen kleineren Formen und eine durchweg anftändige, ja geſchmackvolle Haltung.

$Jeopold v. Meyer.

Einen merfwürdigeren Gegenjag zu dem düſter brütenden Aubinftein, der, dad Publicum feines Blickes würdigend, mit leidenfchaftlihder Wuth in den Taften wühlt, kann es kaum geben, als Herrn Leopold dv. Meyer. »Heiter ift die Kunſt« lautet fein Wahlſpruch, und der Wahlſpruch ift gut und jehr einträglih. Herr v. Meyer, liebenswürdiges enfant gäte der Gejellihaft, befindet fih im Concertſaal natürlih auch nicht anders wie unter guten Bekannten, welche ihn bitten, fie um jeden Preis zu unterhalten. Das thut denn Herr vd. Meyer redlih. Bei feinen Walzern und Polka's zucken die zierlichiten Füßchen im Gercle, bärtige Lippen fpigen ſich unwillfürlich zum Mitſummen der Melodie, die Stühle rücden immer hör— barer aus ihrer Ruhe, und wenn die famofen Walzer nicht endlic) zu Ende gingen, e8 wäre für nichts einzuftehen. Herr v. Meyer fennt auch feine Ioreleyernde Zauberfraft, er lächelt und lacht und nicdt während des Spield freundlich nad Links und rechts, und wenn er gar mit den geballten Fäuſten beider Hände einige befonders mißliebige Noten zerjchmettert hat, dann leuchtet die unverhohlenſte Befriedigung über den gelungenen Spaß auf feinem rofigen Antlitz. Manchmal fam der Gefeierte ung vor, wie ein mufifalifher Baron Sternberg, der am Glavier »braune Märchen« erzählt. Weber Meyer’s Spiel zu fprechen, nachdem es ihm ſoviel Ruhm und Geld eingetragen, ilt unnütz; man weiß, das andere Geichleht und

Leopold dv. Meyer. Clara Schumann. 179

die andere Hemifphäre haben ihn zu ihrem Liebling erkoren. Bei Meyer’3 eminenter Technik, insbejondere feinem ſammt— weichen Anſchlag und der perlengleihen Coloratur, hat man hie und da bedauert, daß er nicht ernftere Muſik fpielt. Wie furzfichtig! Jedermann muß feine Specialität pflegen, und Meyer's Spectalität find die Tanzrhythmen. Kein Menſch über: trifft ihn darin, während der Beethovenfpieler gar viele find. Und wie mit feinem Innerſten verwachlen iſt diefe elaltiich wiegende Rhythmik! ch glaube, wenn Herr v. Meyer über Themen aud Don Juan phantafirte, die Kirchhof-Scene würde unter feinen Fingern zur niedlichften Polka. Leider iſt die muſikaliſche Richtung unferer Zeit fo grämlich idealiftifch ge— worden, daß fie Erfcheinungen unterfhäßt, denen »des Ge— danken? Bläffe« nicht angekränkelt iſt. Gejunde, unverdborbene Nationen erfreuen fich hierin ſchon eines richtigeren Gefühls, und deshalb ift Herr v. Meyer in der Moldau, der Waladei und überall, »wo die Bildung im Beginn«, am beiten ver: ſtanden und gewürdigt worden.

Klara Schumann.

Wir Haben in früheren Jahren wiederholt über Clara Schumann berichtet, und als den eigentlich goldenen Boden ihres Spield die Pietät erfannt, welche nicht3 mehr umd nicht8 anderes geben will, als was der Gomponijt vor— ſchrieb. In diefer Eigenfhaft ift Fran Schumann unüber- trefflich; die wahrhafte »Tonfünftlerin« gegenüber den »Bir- tuofinnene, die überall das Herporfehren ihrer Subjectivität und die Geltung ihrer Bravour im Auge behalten. Dieje helle, gegen jedwede faljhe Sentimentalität gepanzerte Verftändigfeit war von jeher ein hervorjtechender Charakterzug der Schumann. Nun wir die treffliche Künftlerin nach einer neuerlichen Pauſe von mehreren Jahren wieder hören, finden wir in ihr diejelben Tugenden. Allein auch Tugenden fönnen in ihrer Strenge übertrieben und zur Einfeitigfeit gefteigert werden. Mag Frau

Schumann in ihrem erften Concert vielleicht nicht ganz dis— 12*

180 1858.

ponirt gewejen fein, genug, es erſchien und jener morgenfrifche Hauch der Verftändigfeit mandmal gar zu froftig, die Schärfe der melodifhen und rhythmiſchen Contouren gar zu ſchneidig. So haben wir Schumann's As-Dur-Canon einſt viel inniger von Clara gehört, während diesmal von dem Dufte dieſes be— zaubernden kleinen Gedichts viel verloren ging. Für derlei innige Cantilenen geht ſelbſt der Anſchlag Frau Schumann's nicht tief genug. Ferner fanden wir ihre Neigung zur Beſchleunigung der Tempi ſehr vorgeſchritten. Ihr ſtets deutlicher und markirter Vortrag vermag es wohl noch, bei ſehr ſchnellem Tempo deutlich zu bleiben, allein die Grenze, welche in der Auf⸗ nahmsfähigkeit muſikaliſch gebildeter Hörer doch jedenfalls vor— liegt, ſchien uns manchmal überſchritten. Mit jeder Note von Schumann's »Novelletten« vertraut, vermochten wir dennoch kaum, dieſem ſturmwindähnlichen Vortrag der zweiten Novellette (D-dur aus dem erſten Heft) zu folgen. Sollen aber ſolche ſchwerer faßlihe Compofitionen obendrein als Fremdlinge erit eingeführt werden, jo erweilt man ihnen durch allzugroße Haft einen Schlechten Gefallen. Der Hörer fühlt ſich durch die An— ftrengung, nachzufolgen, ermüdet, und behält vielleicht ein Vor- urtheil gegen die Compofition.

Für die Wahl der Es-dur-Sonate (op. 27), von Beet: hoven, find wir der Künftlerin herzlich dankbar. Diefe ſeltſame Blume von echt Beethoven’ihem Duft verblüht faſt ungekannt im Schatten ihrer berühmten Schwefter, der Cis-moll-Sonate, Iſt diefe einheitlicher und verftändliher im Bau, tiefer und eingreifender in der Stimmung, fo birgt jene in ihrer genialeren Unordnung die reizendften Detaild. Zwiſchen anderen bereits gehörten Stüden war wohl da3 intereffantefte Shumann’s »Sreißleriana.« So nannte der Componiſt befanntlid eine Reihe von Phantafieftücen für das Clavier, bei welchem ihm die novelliftifche Figur des Kapellmeiſters »Johannes Kreisler«, aus E. Th. Hoffmann, vorfhmwebte Wie hätte er auch ben Süngling Schumann nicht bezaubern jollen, diefer in Jean— Paul'ſcher Ueberichwenglichkeit einherträumende, ganz in Liebe und Muſik aufgehende Kohannes, der, ftet3 in andere Welten hinüberfinnend, vergaß, daß er nebenbei noch mit: diefer irdiichen

Clara Schumann. 181

zu ſchaffen habe? Wie gutmüthig empfindfam blidt er ung vom Titelblatt des Schumann’shen Heftes an, wo er am Clapier phantafirend zu Schauen ift, rechts von einem Holden Fräulein mit Engelöflügeln gehätichelt, links von einem unartigen und ſehr häßlihen Dämon gefrallt! Dies »freudvoll und leidvoll« durchzieht auch die Schumann’ihen Phantafieftüde, in welchen tiefe Innerlichkeit mit erregtefter PWhantafie wunderbar ver: ſchmilzt. Außer der Hauptüberfchrift »Kreisleriana« führen die einzelnen Stüde feine Titel und find von jeder degcriptiven Sinderei entfernt. Frau Schumann fpielte, mit Ausnahme von Nr. 3 und 6, das ganze Heft, und zwar mit einem Erfolg, der wohl alle ferneren Beforgnifje über die »Un— möglichfeit« folcher Vorträge im Concert zerftreuen muß. Die athemlofe Aufmerkjamfeit, mit welcher das Publicum den fremd: artigen und doch fo unwiderſtehlich feffelnden Klängen laufchte, löfte fih nad der ſüßen Innigfeit des zweiten umd Dem phantaftiihen Schwung des legten Stückes in lauteſten Beifall. Noch vertranter fühlte fich die VBerfammlung von dem » Andante mit Variationen für zwei Pianoforte«, einem der freundlichiten und faltenlojeften Stüde Schumann’, angeſprochen. Der zweite Part wurde jehr hübſch von Fräulein Julie v. Aften gefpielt. Die mohlthätige Wirkung, welche eine fo durdhaus edle und unbejtehlih fünftleriihe Perfönlichfeit wie Clara Schumann durh einen längeren Verkehr anf Zuhörer und Kunſtjünger hervorbringt, hat fih auch in dem heurigen Cyklus bewährt. Wenn uns die treffliche Kinftlerin in früheren Jahren vielleicht noch mehr entzücdte, ald diesmal, fo wird ohne Zmeifel ein Theil der Schuld an ums felbft Tiegen. Den anderen Theil dürfen wir aber wohl mit der nervöfen Haft in Verbindung bringen, nit welcher gegenwärtig Frau Schumann die Tempi weit mehr al früher zu befchleunigen pflegt. Da der Einfluß eines folchen Beifpiel3 auf junge Talente ſehr groß ift, wollen wir auch aus dem letzten Goncerte ein Beiſpiel anführen, Wer von den Zuhörern wäre im Stande geweſen, dem erften Stüde der »Sreiöleriana« in diefem Tempo zu folgen? Schumann ſchreibt »forte« vor und bezeichnet überdies den Anfang jeder ZTriole mit einem Accent; ein Preito, wie das der Frau

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Schumann, läßt aber nicht daß geringite Verweilen auf der Tafte zu, und würde ſelbſt einem Dreyihod oder Rubinſtein das Forte und die Accente unmöglih machen. Auch eine zweite Bemerkung nehmen wir nicht Anftand zu wiederholen: daß um: beichadet der fünftleriichen Glätte und Durchſichtigkeit eine größere Wärme und Bejeelung mancher Tondichtungen uns möglich jcheint, als Clara Schumann ihnen gegenwärtig verleiht.

In dem eriten »Gefellichaftsconcert« entzüdte und Frau Schumann durh den Vortrag des A-moll-Eoncert® von Rob. Schumann. Dieſes Concert, auf dem Programm als »neu« verzeichnet, iſt gleichwohl dasſelbe, das mir bereit vor eilf Jahren in Wien gehört; Schumann dirigirte e8 damals, Clara ipielte daS Clavier. Die Thatſache, daß es jeither niemand gejpielt hat, kann höchſtens in der großen Schwierigkeit des— jelben Erklärung finden, oder in der noch größeren Indolenz unferer Pianiften. Das A-moll-Goncert gehört zu den reifiten, audgearbeitetiten Gompofitionen Schumann’3, und man braucht es nicht auß der Opuszahl (54) zu entnehmen, daß es des Meiſters fruchtbarfter und glüdlichiter Periode entftammt. Das Thema des eriten Saßes, das nad einigen fcharf diffonirenden Uccorden des Claviers vom Orchefter gebracht wird, erinnert in feiner edlen, aber etwas weidhlichen Haltung an Men: delsjohn; allein gleich die folgende Sechzehntelfigur mit den abjteigenden Bäſſen iſt eht Schumannifch, wie alle Weitere. Nach einem längeren Tutti in C fällt (noch vor der fogenannten Durhführung) dad Clavier mit einem wunderzarten Andantino in As von nur 30 Taften ein, dad wie ein fleiner, jpiegelheller See zwiichen dunklen Felſen und Bäumen fich außbreitet. Die Solo-Cadenz ift bei Schumann (unmittelbar vor dem Schluß des erſten Sages) vollftändig ausgejchrieben. Die veraltete, nicht mehr zu vechtfertigende Gewohnheit, daß der Gomponift dem Spieler carta bianca fir eine beliebige Gadenz gab, melde oft dem Styl und der Deconomie des ganzen Stüdes grell widerſprach, konnte bei Schumann unmöglich) Gnade finden. Er componirte ſelbſt die Gadenz, die von bejcheidenfter Dimenfion, weit weniger eine Anhäufung von Bravour-Paſſagen, als viel- mehr ein geiftreihes Stück freier Phantaſie ift. Ein kurzes

Kammermufit. Chopin. 183

»Allegro molto« jchließt den eriten Sat, der jomit in feiner Folge von mäßig raſcher, langſamer und fchnellfter Bewegung felbft das verkleinerte Abbild eines ganzen Concertes ilt.

Der zweite Saß, ein Andantino grazioso in F-dur läßt auf eine kurze, zwifchen Glavier und Orcheiter fich nediich ab— löjende Figur einen breiten Geſang der PVioloncelle folgen, deſſen bezaubernde Innigkeit auf feinen anderen Componiften der Welt, ald gerade auf Schumann, würde rathen lafjen. Das Andantino leitet unmittelbar in das Finale, das Allegro vivace °/, mit einem freudig herausfordernden Hornthema ftolz anhebt. Vol regen Lebens, glänzend, Eraftvoll, über und über geſchmückt mit neuen reizenden Paffagen, in einem Guß fortfließend bis zum Ende, ift diefer Finaljag ein Mufter echt concertmäßiger Compojition.

Kammermuſik.

Chopin: Violoncellſonate. Beethoven: Fuge Schumann: Violin— ſonate in D-moll. Alex. Winterberger und die ſpäteren Clavier— werke von Beethoven.

Chopin's Sonate für Violoncell und Clavier (zum erſtenmal) vermochte den Erwartungen der Freunde dieſes Ton— dichters nicht zu entſprechen. Nicht blos zeigt ſich darin ein auffallendes Ungeſchick, in größeren Formen zu denken, und wahrhaft polyphon zu ſchreiben, auch an der rein melodiöſen Erfindung erfcheint hier Chopin wie gelähmt durch den bloßen Gedanken, eine Sonate fchreiben zu follen. Diefer jo Hoch und eigenthümlich begabte Componift hat es nie vermocht, die duftigen Blüthen, die er mit vollen Händen ausftreute, zu einem ſchönen Kranz zu vereinigen. Sein großed Talent bewährte fich nur in einen lyriſchen Stüden; Henſelt und Stephen Heller find hierin ähnlich organifirtt. Schumann fteht dadurch jo viel höher in der Kunftgefchichte, daß er aus gleichen lyriſchen An— fängen fi zur freien fünftleriichen Geftaltung, zur Beherrſchung der Form emporrang.

184 1858.

In gewiſſem Sinne epohemahend war die legte Duartett- Soirée durch die Vorführung der hier noch nie gehörten »Fugue tantöt libre tantöt recherchee« (op. 133), von Beethoven. Urfprünglich follte diejer fugirte Sat da3 Finale des B-Quartetts (op. 130) bilden; auf die Vorftellungen Artaria’3 entſchloß fich Beethoven, ihn abgefondert herauszugeben. Es ijt kaum möglich, dies Werk, das felbft für Lenz, den verzückteſten aller Beethoven- Adepten, ein »Labyrinth« ift, anders als im engiten Zufammen- hang mit der ganzen legten Periode des Meiſters zu würdigen. Gewiß, daß die Fuge an eigenfinniger Kraft und Genialität einen Höhenpunft der letzten Entwidlungsphajfe Beethonen’3 bezeichnet, jomit al® ein merfwürdige® Document feiner ge— twaltigen, aber bereit3 ſeltſam krankenden PBhantafie erfcheint. Den Mufifer feifelnd durch die Kunft, mit der daß energiiche Fugenthema alle nur erdenfliche Geitaltung und Verwendung erfährt, iſt es zugleich erleuchtet durch einzelne plötzlich auf: zudende und wieder verlöjchende Blige von jener gar nicht zu verwechjelnden Intenfität und Färbung, welde man in der Muſik einfach »beethovenifch« nennt. Für den unvorbereiteten und unbefangenen Hörer wird fi) das Anziehende dieſes Werkes auf den langjamen Zwiſchenſatz im Ces-dur reduciren, deſſen edler Gefang einen twohlthuenden Ruhepunkt nah dem auf: reibenden Eindrud der Fuge bietet. Jeder, der ein gutes Gehör oder einige Kenntniß der Harmonielehre hat, muß geftehen daß in der erften Hälfte der »Fuge« die Stimmen mit einer Unabhängigkeit gegen einander geführt find, welche den Grund- gelegen der Harmonie oder, wenn man will, des » Erträglidj- klingens« oft ſehr empfindlih Hohn ſpricht. Wir Halten jene Zuhörer, welche Sonntag behaupten, die Spieler geigten falſch, während fie doc richtig und ganz ausgezeichnet geigten, jeden- fall für ehrlicher, als die weit zahlreicheren, die auf ben Namen Beethoven Hin in ungemeſſenes Gntzüden geriethen. Wir wiffen freilich, wie flug und rathſam letzteres ift, namentlich feit auh Marr in feinem phrafenreihen Buch über Beethoven jeder Kritik Adieu fagt, und alle jene als »geiſtſcheue Genüß— linge« brandmarft, die glauben fünnen, Beethoven habe irgend etwad »blindlings oder jpielig«e gethan. Nah der neuen

Biolinfonate von Schumann. 185

Marriden Anſchauung müßten gerade die jchlechtklingenden Stellen der B-Fuge das Höchſte der Tonkunft fein, denn Beethoven’3 Größe liegt ihm in der »völligen (!) Ungebunden= heit, in der er jeine Stimmen mit und gegeneinander führt, ganz unbefümmert um augenblidlihen Anftoß und Rei— bung einer gegen die andere, denn ed muß Mergerniß geben«. Wir wollen dem Profeſſor Mare unfer Schärflein an dem von ihm gemwünfchten Aergerniß durchaus nicht vor: enthalten. |

Die intereffantefte Nummer des eben Hellmesberger: jhen Quartett-Abends war Schumann's Sonate für Piano und Bioline in D-moll op. 121. So warm wir uns des Schumann'ſchen Claviertrios in F gegenüber dem lauen Er— folg in einer der diesjährigen Quartett-Soiréen annahmen, fo wenig vermögen wir in den unbedingten Beifall einzuftimmen, welchen die D-moll-Sonate dieſes Componiften erntete. Gie befigt wohl Vorzüge, welche bejtechen können: ein gewiſſes leidenſchaftliches Fortdrängen der beiden äußern Sätze, leicht faßlihe und dabei pifante Themen der mittleren; eine dank— bare und brillante Technik, welche namentlich der für F. David geihriebenen Violinſtimme das glänzendfte Auftreten fichert. Der Mufifer wird außerdem den einheitlichen Charakter des Ganzen, jowie zahlreiche geiftvolle Einzelzüge zu rühmen haben. Was wir jedoh an der Sonate jchiwer vermiffen, ift Die Innigfeit, mit der Schumann fih ſonſt in feine Töne hin— einlebt, die felige Tiefe, aus der feine Muſik hervorquillt. Es fehlt dem Werk das warme, innere Leben; eine äußere, fieberifche Leidenfchaftlichkeit ſoll es erjegen. So herrſcht gleich in dem eriten, in breitejten Verhältniffen angelegten Saß eine Saharaluft drüdender Monotonie. Das erfte Motiv, von dem das zweite fi) gar wenig abhebt, wird durch den ganzen Sat unabläffig feitgehalten und bearbeitet; aus dem düftern D-moll fommt man gar nicht and Tageslicht heraus. Ebenſo— wenig vermag das Echerzo mit feinem Kleinen, geziwängten Thema und einförmigen Rhythmus fi” auß dem H-moll zu befreien. Mehr Anmuth und Licht bringt das ftändchenartige Andantino (G-dur, ?/, Takt), deifen Biolin-Effecte (piziccirte

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Accorde, Gantilenen auf der G-Saite u. dgl.) überdies gute Wirkung maden; die alte Herzlichkeit Schumann’3 fehlt dennoch. Das Finale treibt die leidenſchaftliche Bewegtheit beinahe zum Duslow’ihen oder Lindpaintner’ihen Theaterfturm und bält deffen ab- und niederwogende Sechzehntelfigur krampfhaft feit. Solde Durchführung ift nicht mehr urwüchfig auß dem Haupt- gedanken quellendes Leben, jondern das äußerlihe Fortjegen eines freudlos begonnenen Anfangs. Wer mit Schumann’z früheren Werfen genau und liebevoll vertraut ift, der fühlt in der D-moll-Sonate Schon die allmälige Vertrodnung der Phan— tafie; er erkennt den fahlen Todeszug in dem gemwalt- fam aufgeregten Antlit. Das innere wunderbare Blühen, früher bei Schumann jo ganz einzig, bat bier aufgehört; anftatt frei audtönenden Gejanges herrſcht das eigenfinnige Beripinnen in Eine Figur, melde, einmal Hingeftellt, nah Etudenart unerbittlich fortgeführt wird. Wehnliches im »blos äußerlihen Fortiegen« finden wir in manchen Sammer: mujifen von Mendelsfohn und es mag bei diefem Anlaß bie Bemerkung stehen, daß Schumann, wo ihn die innere Kraft verläßt, faft immer in Mendelsſohn'ſche Phraſen verfällt. Der Uebergang, welden Schumann’3 zweite Veriode zur dritten nahm, ift jehr verſchieden von der analogen Wandlung bei Beethoven. Es ift bei Schumann nicht die alte Kraft, die, blos ihr eigenes Maß und die Grenzen der Kunſt über- Thießend, fi in düſteres Didicht verirrt, fondern eine auf: fallende Abſpannung aller Geiftesfräfte, ein Nachlaffen der früheren Energie und Gedankenfülle. Als faft alleinige große Ausnahme hebt fi die geniale »Manfred-Mufif« auß diejer legten Serie Schumann’iher Compofitionen heraus. Auch die D-moll-Sonate, jo reich fie an einzelnen geiltvollen, namentlich barmonifhen Zügen ift, fteht Schon tief unter den früheren Trios, Quartetten und Sonaten Schumann’3 und nur ein jehr leihtgläubiges Ohr kann durch das künſtliche euer ihres Finale u. dgl. über den Mangel wahrhafter muſikaliſcher Kraft getäufcht werden.

Die Soiréen des Herrn Winterberger verfolgen den trefflihen Zweck, wenig befannte Glavier-Compofitionen mit

Kammermusik. Beethoven. 187

und ohne Begleitung vorzuführen. Die Auswahl befchränkt fich auf das Beite auß der nachbeethoven’schen Zeit (mit felbit- verftändlicher Hervorhebung Shumann’s) und auf die jpäteren GCompofitionen Beethoven's jelbit. In beiden Richtungen ver: dient dad MWinterberger’ihe Unternehmen die dankbarſte Aner- fennung. Was namentlid) Beethoven’3 dritte Periode betrifft, jo enthält fie Schäße, die bißher aus der Studirftube des Kenner noch faum vor's Publicum, geſchweige den in Leben der Nation gedrungen find. Die Werke aus Beethoven’ lekten Lebensjahren find von Enthuſiaſten ebenfo hoch über alle andere Mufif erhoben worden, als gegneriihe Stimmen fie tief unter die früheren Arbeiten des Meiſters herabdrüdten. Für die allgemeinere mufifaliiche Bildung ift die eine wie die andere Meinung vorläufig noch unerheblih; worauf es ankommt, ift, daß das Publicum fi mit diefen Werfen erjt befannt und vertraut made. Es wäre gut, wenn durch einige Jahre lieber gar nicht? über Beethoven's fpätere Werke gejchrieben würde, dafür aber dieje ſelbſt unabläffig zur Aufführung kämen, So ſchwankend das Urtheil über diefe Tondichtungen, fo feit ſteht die Thatfahe ihrer auffallend geringen Verbreitung. Es ift ſeltſam, daß das colofjalfte Werk diefer Periode, die neunte Symphonie, weit befannter it, als die gleichzeitigen Clavier— jonaten; ja gewijlermaßen Mode geworden, wird fie bon Manchem für fein Leib: und Lieblingsſtückchen erklärt, der um die übrigen Werke des jpäteren Beethoven niemals? gefragt hat. Die beiden hemmenden Schwierigkeiten: der Ausführung und des Berftändniffes, müfjen fih von Jahr zu Jahr verringern, und wie weit fie fih jchon zurücgezogen haben, hat die Auf: führung des F-dur-Quartett$ (op. 135) bei Hellmesberger und Vortrag der As-dur-Sonate (op. 110) bei Winterberger auf das Erfreulichite bewieſen. E3 gilt nunmehr, in diefer Rich» tung ohne Beirrung fortzufahren, und vor allem für die Kennt— niß zu forgen, ehe man über die Erfenntniß ftreitet. Selbft diejenigen, welche fich nie dazu verftehen werden, den rhapfodiihen Tiefſinn der dritten Beethoven’schen Periode über die reine Kunſtvollendung der mittleren zu jegen, fünnen dem beitridenden Einfluß ſich nicht entziehen, womit jene den ver—

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trauteren Hörer immer enger an fich drüdt. Sie werden zweierlei ohne meiter® einräumen müffen: fürs erite, daß Beethoven auch in feiner legten Schaffenzzeit (mit jehr geringer Aus— nahme) nur Bedeutendes ſchuf; fodann, daß dieſe letzte Entwidlungsphafe des Meilter® zu dem Gejammtcharafter feiner früheren Werke wefentlih Neues hinzubringt. Was immer gegen die jpäteren Werke des grollend und launenhaft ge= wordenen Unglücdlichen eingewwendet werden mag und jolher Einwendungen gibt es fehr erheblide man mird von jedem derſelben zugeftehen müffen, daß fein anderer als eben Beethoven fie habe machen können. Dieje Ueber: zeugungen werden der erjte fichere Gewinn fein, den das Publicum aus dem näheren Verkehr mit jenen merkwürdigen Tonfhöpfungen alsbald nah Haufe nehmen wird. Und erft anf Grundlage diefer Totalanfhanuung kann ein Kampf für oder wider die Einzelnheiten zuläffig und gewinnbringend er: ſcheinen.

Verfolgt das Unternehmen des Herrn Winterberger ſomit ein ſehr hohes Ziel, ſo muß wohl auch an die Kraft der Ausführung ein ungewöhnliches Maß gelegt werden. Aller— dings offenbarte ſich in jedem Vortrag Winterberger's der geiſtreiche, fein empfindende und gebildete Muſiker. Die Brücke jedoch, welche aus dem geiſtigen Reich des Fühlens und Ver— ſtehens in das ſinnliche des Tönens führt, die Technik, ſchien mir nicht überall zureichend. Manche ſchwierige, namentlich ſehr raſche Stellen, kamen unklar, ſelbſt verwiſcht zum Vorſchein; auch das Ausbleiben einzelner Töne in Paſſagen wiederholte ſich häufig. Ein Beweis, daß die Finger dem Willen des Spielers noch nicht vollkommen unterthan ſind. Der Anſchlag Winterberger's iſt (vielleicht von der Orgel her) etwas hart; beim Herausheben, nicht blos voller Accorde, ſondern auch einzelner Noten, ſticht Herr Winterberger gern aus ziem— liher Höhe in die Taſten und thut dem Tone wehe, ohne dejjen ganze Kraftfülle zu erreichen. In vielen Aeußerlichkeiten erinnert Herr MWinterberger an Lifzt, dem er nebenbei ähnlich Sieht. Die finnige Behandlung von Epifoden und feinen Zügen hat Winterberger von Liſzt, (mir erinnern

Kammermufit. A. Winterberger. 189

an den jchönen Vortrag des Recitativs in der As-dur- Sonate u. dgl.), leider auh den häufigen Wechſel von Blafirtheit und Weberreizung. So jpielte er manche Gejang- jtellen, die ein breites Austönen verlangen, ganz tonlos, beinahe gleichgiltig (Adagio in B-dur-Triv), und übertrieb in anderen Süßen (wie im Scerzo desjelben Trio) das Feuer bis zum Unheimlichen. Blafirtheit de Vortrags und Unterfhägung des rein Technifchen jcheinen mir die beiden Klippen, welche Winterberger zu fürchten hat.

1859.

„Manfred“ von Robert Schumann.

Der »Singverein der Gejellihaft der Muſik— freunde« gab fein erftes Goncert, deffen größte und bedeutendite Nummer Schumann's Mufif zu »Manfred« war. »Noch nie habe ich mich mit der Liebe und dem Aufwand von Sraft einer Compofition hingegeben«, äußerte Schumann felbft von feinem »Manfred«; und in der That lodert aus bereitö trüb erlöfchender Sluth jein Genius hier noch einmal zu klarer Flamme auf. Während Schumann's letzte Periode fih zwar dur große quantitative Fruchtbarkeit, zugleih aber durch zunehmenden Formalismus, Mühjal der Erfindung und peinliche Grübelei charakterifirt, gehört gerade »Manfred«, fein 115. Werk, zu dem Reinſten und Blühenditen, was er gefungen. Gegenüber einem verbreiteten Worurtheil kann es nicht genug betont werden, daß die »Manfred«-Mufif alle Reize der Schumann’fchen Mufe befigt, ohne in deren zeitweilige Abjonderlichkeit und eigenfinnige Zerflüftung zu verfallen. Schumann’3 beite Jugend— fraft erjcheint hier, an der Neige feines Wirkens, noch einmal in merfwürdiger Läuterung. In feinen legten Jahren, ala ſchon der Dämon der Zerrüttung mit leifem Finger anpochte, und in Schumann trübe Furcht vor ſich ſelbſt mit einer an die Erde fih anklammernden Zärtlichkeit tritt, trat Byron’? » Man fred« immer verwandter zu ihm heran. Der Tondichter ver: mochte es, eine Geftalt unferem Herzen näher zu bringen, deren unheimliche Großheit und vordem mehr Bewunderung als Sympathie abzwang.

»Manfred« von Robert Schumann. 191

Byron's »Manfred«, ein frei metamorphofirter Fauſt, irrt, von Lebensüberdruß und geheimnißvoler Schuld gequält, verzweifelnd Durch die Welt, ſaugt aus allen ihren Gaben, auß dem Reiz der Landichaft, aus derTheilnahme der Menfchen aus den Ber: fehr mit Geiftern nur immer neue Dual; troßt den dämoniſchen Mächten, verihmäht die himmlischen und ftirbt fih endlich zu Tode. Ein wahrer Vernichtungd-Fanatismus, eine Virtwofität des Gelbitaufreibend erfüllt dieſen Zweifler, gegen den unfer Lenau ein lächelndes Kind ift. Höchſte Inrifhe Schönheiten, Fülle und Tiefe der Gedanken ergreifen und im »Manfred« mit niederzwingendber Kraft, allein fie hindern nicht die troftlofe Totalempfindung, die aus lauter Negationen fich erzeugen muß. Be: fanntlid) hat Goethe ſelbſt die Verwandtſchaft der Byron'ſchen Tragödie mit feinem »Fauft« betont: » Diefer geiftreiche Dichter«, jagt er, »hat meinen Fauft in fich aufgenommen und hypo— chondriſch die feltfamfte Nahrung daraus gejogen. Er hat die jeinen Zwecken zujagenden Motive auf eigene Weiſe benükt, jo daß feine mehr dasjelbe ift, und gerade deshalb kann ich jeinen Geiſt nicht genug beiwundern«. Und troß dieſer Be: wunderung des jelbit Bewunderungswürdigſten tie hoch fteht »Fauft« über dem »Manfred«! »Fauſt« miderftrahlt und da8 ganze Menfchenleben, in feinen Gipfeln und Ab— gründen, in feinen ſchwärzeſten, aber aud in feinen helliten Bliden, während Manfred’3 einziges Pathos die Verzweiflung ift, fein ganzes Thun eine fortwährende Anftrengung, aus fich jelbft herauszulaufen. Er nennt fein Daſein »nur Krampf, nicht Leben«, und fich felbit

»verfluchter Wurzel hingeborrten Stamm, der nur noch Saft gibt zum Gefühl der Sterbens«.

Unjerer vollen Sympathie für die Dichtung und ihren Helden wehrt no Eins: der breite Raum, welchen Byron einer Geifterwelt anmeift, die in wilder Vermengung aller Miythologien Manfreds Gejellihaft bildet. Manfred leidet wie ein Menſch, zaubert wie ein Dämon, ſchwebt heimatlos zwiſchen finnlihen und überfinnlihen Weſen, beiden verwandt und doch fremd, eine Art ſchwarzer Lohengrin. Durch dieſe Eigenfchaft

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reiht ſich »Manfred« an Schumann’3 bevorzugte Wahl von Märcenftoffen, welche uns fabelhafte »Peris«, »ver— zauberte Roſen«, kurz alles andere lieber vorführen, als wirk— liche Menjchen. In diefer Vorliebe für Zauberipuf (Schumann theilt fie mit Weber und Marfchner) liegt einer feiner ent» icheidendite Verwandtfchaftszüge mit der »romantiſchen Schule«. Im Dienft des Zauberſpuks vergeudete Schumann ein gut Theil feiner Kraft, die, wie feine Lieder und die fchönften Stellen der eben genannten Werke zeigen, in den Tiefen des menschlichen Herzens ruht. Auch im »Manfred« können Die Geiſterchöre feinen Vergleih mit den kleinen Muſikſtücken aus: halten, die in fchlichter Herzlichkeit gleichſam die Sonnen: Strahlen aus Manfred Leben und Empfindung auffangen. Die deutſche Nation kann fih Glück wünſchen, daB Schu— mann, mächtig hingeriſſen zu Byron's Dichtung, das Unpraf- tiihe feines Unternehmens völlig überfah. Eine vollitändige Theatermufit zu dem Drama »Manfred«, mie echt deutich unpraktiſch! Nah Schumann’3 Idee müßte Byron's Stüd voll: ftändig auf der Bühne aufgeführt werden, die Chöre handelnd auf der Scene eingreifen, und dad Orcheſter die fcenifchen Vorgänge begleiten. Nun dürften jchon die decorativen und mechaniſchen Schwierigkeiten (von den inneren ganz abgefehen) jede fcenifche Aufführung des »Manfred« erjchweren. Es bleibt jomit nur der Nothbehelf eines Concert-Arrangements übrig. Man Hat auch damit verfchiedene Auswege verfuht: an einigen Orten läßt man zur Mufit das Drama mit vertheilten Rollen leſen, an anderen fubftituirt man eine »verbindende Declamation«, welche das factifche Verftändniß zu vermitteln hat. In jedem Falle find die Schwierigkeiten unfäglih: das Geheimnißvolle der Motivirung in Byron's Drama wird zum dichten Nebel, und die vielen Scenen, in welchen die finnliche Anſchauung eine große Nolle fpielt (die Erfcheinungen, die Scene mit dem Alpenjäger, der Sonnenuntergang u. f. mw.) bleiben im Goncertjaal matt und undeutlih. Die Inconvenienzen gehen noch tiefer. Wollte der Componift fi nicht mit den wenigen Chören begnügen, jo mußte er die hervorragenbditen lyriſchen Stellen mit felbftftändigen Inftrumentalfäßen melo—

»Manired« von Robert Schumann. 193

dramatifch illuftriren. Diefe Sätze (wie die Ericheinung des Zauberbildes, die Beſchwörung Aftarte’3) find die Perlen des ganzen Werkes, können aber nicht mit ihrer ganzen, eigenften Kraft wirken, weil fortwährend dazu gefprodhen wird. Das gleichzeitige Spreden ftört die Aufnahme der Mufik, und dieſe wieder das Verftändniß des Geiprochenen. Nur wer ſich vorher mit dem Gedicht und der Muſik volllommen vertraut gemacht, vermag bei der Aufführung die Kreuzung beider ungehemmt und mit vollem Genuß zu überbliden. Nachdem dies bei den Allerwenigiten der Fall fein kann, wird das Publicum zunächſt dem Worte (da dem Begriff nah im Melodram immer das Weſentlichere ift), lauſchen, und die Begleitung blos als Colorit, in Baufch und Bogen mitnehmen. Mufifftüde von gefchloffener Form und vollendeter felbititändiger Schönheit werden, fobald ihnen das Ohr nit unverwandt folgen kann oder mag, natürlih nur mehr jtimmungserzeugend, elementarifch wirken. Schumann hielt ſich diefe und ähnliche Bedenken, ala helden- miüthiger Sdealift, vom Leibe. Es war ihm um die Verherr: lihung eines geliebten Gedichtes zu thun, und dieſem breitete er Seine bduftigiten Blumen uneigennüßgig vor die Füße. Die Mufit zum »Manfred« beiteht (außer der Ouverture) aus fünfzehn Nummern; darunter find fünf größere Chöre, ein Entreaft und fünf jelbititändige Orchelterfäge, zu denen ge: ſprochen wird. Alles übrige find fleinere melodramatiiche Aus: füllungen. Die Chöre find, mit Ausnahme. des furzen »Re— quiem«, welches das Ganze würdevoll ernft abſchließt, durch: weg Gefänge der Geiiter. Sie ftehen, troß genialer Einzeln: heiten, den Orcdeiterfägen an Kraft und Uriprünglichkeit nad; jo inöbefondere der einleitende Geſang der EClementargeifter, der ftocend und mit geringer Individualifirung fich fortbewegt, ähnlihen Stüden von Weber, Marjchner und Mendelsfohn nicht vergleichbar. Weit mächtiger erhebt fi der von vier Baß— jftimmen unisono borgetragene »Geifterbannfluh« und feiner unheimlich ruhigen Begleitung. An Compactheit der Form und äußeren Wirkung übertrifft ihn der »Hymnus an Ahrimane«, deſſen grelles Colorit (dur; Lärminftrumente gehoben) an den Chor »Gazna lebe« in der »Peri« erinnert. Dramatiſch Hanslid. Aus dem Goncertfaal. 2. Aufl. 13

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jtreifen diefe Scenen ans Abgeihmadte; Schumann’: Mufif zu derlei wild-dämoniſchen Aufgaben verfehlt zwar nie den rechten Charakter, leidet aber ſtets an einer gewilfen Anftren- gung. Gehen wir auf die Inftrumentalpartie über, fo willen wir faum, wo der Bewunderung Anfang und Ende zu finden. Sollen wir dem furzen, leidenſchaftlich fingenden Sag Nr. 2 den Vorzug geben, oder der reizenden, freien Ilm ftaltung des Kuhreigens für das engliiche Horn? Verſenken wir uns in das felig träumende Genügen der Zwiſchenaktmuſik (F-dur) oder laufchen wir dem Allegro der »Alpenfee«, das wie ein ſonnbeſchienener Maflerfall in taufend diamantene Tropfen zerftäubt? Welch ſüße kurze Ruhe nach langer Dual in diefer Einleitung zum dritten Alt! (Ein Friede fam auf mich« 2c.) Und endlich, die Krone von allem, Manfreds Anz ſprache an Aftarte! Die Stelle, wo das (in E-dur beginnende) Stück bei den Worten »Gerufen Hab’ ih dich in ftiller Nacht« nach G herabjinkt, gehört in ihrer Einfachheit zu dem Gr: greifenditen, das uns in Tönen je begegnete. Die Ouverture, ein in breiteiten Dimenfionen einheitlih ausgeführtes Nacht: gemälde, ift bereit3 durch eine frühere Concertaufführung befannt.

Die Scillerfeier.

(Akademie der »Concordia«. Alademie im Nedoutenfaale.)

In dem Wettftreit, der zum Preiſe Schiller's alle Künfte vereinigt, hat die Mufik, die feſtlichſte von ihnen, vielleicht das ichwierigite Amt überfommen. Nicht ala ob die Tonkunſt es vernadhläjfigt hätte, auf ihren Wegen fih dem Dichter zu nähern; im Gegentheil, fie hat jeit jeinen Sünglingsjahren mit dem Eifer einer umerwiderten Liebe um ihn geworben. Der Karlsſchüler Zumiteg, die Componiften Naumann und NReihhardt ftürzten fi mit Begeijterung über jedes Gedicht ihres großen Freundes, das ihnen nicht zu ſchwer ihien, um auf dem Fittich des Liedes fi) emporzufchtwingen. Die Liederdichter der folgenden Periode, faſt bis zu den

Die Schillerfeier. 195

Dreigigerjahren unjere® Jahrhunderts, jtanden in mufifaliicher Bewerbung um Schiller’ 3 Mufe den Vorgängern nicht zurüd. Die nationale Begeifterung für Schiller Mufiker find fait immer Spdealiiten und Scillerianer pochte jo lebhaft in ihnen, daß fie den Kampf mit den mujfiffeindlichen Fornten immer wieder aufnahmen, um nur die Lieblingögedichte der Nation auch fingen zu können. Balladen, deren prunfvoll erzählende Breite jede Muſik ausftößt, wie »Der Taucher«, »Der Handſchuh«, »Die Kindesmörderin«, »Der Gang nad dem Eijfenhammer«, »Die Bürgſchaft« u. a. befißen wir drei: und vierfältig componirt von Zelter, Zumfteg, U. Rom: berg u. A. Noh Franz Schubert componirte den »Taucher«, »Ritter Toggenburg« und die »Bürgichaft«, Karl Löwe nod den »Gifenhammer« und »Graf Habsburge. In anderer Weiſe unmuſikaliſch als die Balladen find die vielen didaktiichen und allegoriihen Gedichte Sciller’3, von denen nicht blos die »Glocke« vielfach componirt worden ift. Selbſt wenn wir Die rein lyriſchen Gedichte Schiller’3 mit mufifalifhem Ohr prüfen, fo ftoßen wir faft überall auf ein Etwas, das den vollen Strom der Töne hier ftaut, dort untergräbt und verfandet; fei es eine angehängte moralifirende Tendenz, oder die überwiegende Rhetorik des Ausdrucks, oder die fremdartig antikifirende Form und Einfleidung; ſei es endlich und im letzten Grunde der Mangel jener Vereinigung vom rhythmiſchem MWohllaut und einfaher Empfindung, die ein »Lied« auch wirklich lieb: mäßig macht.

Die wenigen Gedichte Schiller’3, aus welchen der reine Silberflang die mufifalifche Melodie wie ein Echo hervorlockt, find unzähligemal componirt. Kaum iſt das zartefte Lied Goethe's häufiger in Muſik gefegt worden, als Sciller’s - Sehnjuhte. Nah diefer am zahlreichiten des ⸗»Mädchens Sllages, »Emma«, der »Jüngling am Bache«, endlich der »Alpenjäger«, »Dde an die Freude« und »Dithyrambe«. (ALS Gurioja erwähnen wir der »Theilung der Erde« von Joſeph Haydn, und des Duette® »L’addio di Ettore« von %. Baer.) Zwei Gefänge unferes Dichters wurden Volkslieder von feltener Macht und Verbreitung: Das Räuberlied (»Ein freies Leben

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führen wir«) und das Heiterlied (»Mohlauf, Kameraden, aufs Pferd«), eritered nach der Melodie des Studentenliedes »Gau- deamus igitur«e, lettere® nah einer urfprünglid von Jakob Zahn herrührenden Volksmelodie. Dieje fraftitrogenden, jugend- friihen Chöre werden an allen Enden des Baterlandes er: fhallen, fo lange es deutihe Studenten, aljo fo lange es ein Deutichland gibt. Außer einigen Schubert’schen Com: pofitionen haben ſich faft alle verloren; die große quantitative Betheiligung der Muſik an Schillerfher Poeſie hat für die Nachwelt einen nur jehr fümmerlien Gewinn gehabt. Die befferen der Compofitionen blieben faft niemals ganz unbe- rührt von dem eigenthümlich Schiller'ſchen mufiffremden Pathos, das im Moment feines Uebergangs in Mufif erfältet. Diejer Beileren waren aber fehr wenige: die nüchternfte Alltäglichkeit, die haußbadenjte Einfalt nehmen in dem mufifaliiden Tempel Schiller’3 weitaus den größten Raum ein.

Schiller felbit war freilich weit weniger mwählerifh in mufitalifhen Dingen als wir, die durch eine tiefere, geijtigere Liederfunft verwöhnt find, wie fie erſt durh Schubert und Löwe fih an den Poeſien Goethe’3, Uhland's und Heine’s herangebildet hat. Der große philojophiihe Dichter der Deut: ſchen führte einen jehr geringen Verkehr mit der Muſik. Ueberall den Blid auf die höchſten fittlichen Aufgaben gerichtet, nur in und für Ideen lebend, ftand Schiller dem heitern Clemente des Simlih-Schönen fern, in welchem die Muſik ihre Zauber ipinnt, Ihm, dem in jeder Kunftbeitrebung das Ethijche zu oberft galt, das durch Ideen Veredelnde, bradte die Mufik nicht genug fubitantiellen Gehalt entgegen. Zwar empfand er die mufifaliihe Schönheit weit Iebhafter als jein Meijter Kant, doch konnte dejjen Unterſcheidung, nad) welcher von Künften die Mufit »die geringfte Summe geiftiger Eultur« vermittelt, der Richtung Sciller’3 nur homogen jein. Der finnlicher organifirte, meiblichere Goethe ftand der Mufik näher, obgleich er fich vorzugsweife an das verftändige Element in ihr hielt und befanntlid das Streichquartett ald ein »har— moniſch anregendes Geipräh zwiichen vier vernünftigen Leuten« bevorzugte. Jede große Energie ift durch angrenzende Ein:

Die Schillerfeier. 197

feitigfeiten bedingt, mit dem mufifaliihen Enthuſiasmus der »romantiihen Schule« könnten wir und Schiller's Weſen gar nicht denken. Ausgeftattet mit diefem Tenlitiven Lauſchen eines Tied, Brentano, Jean Paul, Eichendorff, würde er wohl neue, fremde Zaubertöne angefchlagen, aber er würde auch auf: gehört haben, Schiller zu fein. Wie feine Gebichte wenig Ausbeute für Mufif bieten, jo finden fih auch in feinen Auf: fügen und Briefen nur fehr fpärliche Bemerkungen über dieje Kunſt. Mit liebenswürdiger Genügſamkeit erfreut er ſich an den, unter jeinen Gedichten tief zurückbleibenden Compoſitionen Zelter's, Naumann’ und Zumſteg's. An legteren jendet er jogar Goethe's »Zauberlehrling«, der fih feines Erachtens »vor— trefflih für eine heitere Melodie aualificirt, da er in unauf: hörlicher Bewegung ift«. (Brief an Goethe vom 23. Juli 1797.) In Sena will unfer Dichter einige Scenen aus MWieland’s »Dberon« als Oper bearbeiten, was er jedoch ebenjowenig ausführt, als einen in früherer Zeit (auf Körner's Bitten) für Naumann projectirten Operntert. Das ihm unbefannte Tert: buch zu Mozart's »Don Juan« erbittet er fih 1797 von Goethe, um eine Ballade daraus zu machen. Im Gebiet der Oper war Edillern bei den damaligen Verhältniffen nur eine ſehr jpärlihe Umſchau möglich, doch zeigte ſich auch darin der Dramatifer par excellenee, daß von allen mufifalifchen Dingen ihn die Oper am meiften intereffirte. Einmal leitet er ftatt Goethe die Proben zu Gluck's »taurifcher Iphigenie« und ift faſt zu Thränen gerührt »bei diefer himmlischen Muſik«. Dieſer Eindrud, der unter den muſikaliſchen Erlebniffen des Dichters jehr vereinzelt ſteht, verftärkt feine idealiftiihe An- ſchauung von dem Beruf der Oper*). Das wahrhaft eigen

*) Schiller an Goethe: »Ich hatte immer ein gewiljes Ver: trauen zur Oper, daß aus ihr, wie aus den Chören des alten Bacchus— feftes, das Trauerjpiel in einer edleren Geftalt ſich loswickeln follte. In der Oper erläßt man wirklich jene iervile Naturnahahmung, und obgleich nur unter dem Namen von Indulgenz könnte fi auf dieſem Wege dad Ideal auf das Theater jtehlen. Die Oper ſtimmt durch die Macht der Muſik und durch die freiere harmoniiche Reizung der Sinnlichkeit dad Gemüth zu einer Ächönern Empfängniß; bier ift wirk—

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thümliche und große Befisthum der Oper, den Chor, als das ideale Mittel, ganze Volksmaſſen zugleich ſprechen zu laſſen, erobert er in feiner »Braut von Meſſina« dem Schaufpiel, und wenn man den Chor als daS wejentlichite Element des antifen Dramas gelten läßt, fo hat Schiller feinen bewun— derten Gluck (der gerade den Chor jehr vernachläjjigt) jeden falls in dieſer Erſcheinungsform antifer Kraft und Erhaben- heit übertroffen.

Nach diefer Abichmweifung kehren wir zu unfern Schiller: Concerten zurüd. Die Schillerfeier des Journaliſten-Vereins »Concordia« im Theater an der Wien, und die große, auf Allerhöchſten Befehl veranstaltete Akademie im großen Re: doutenjaale mwetteiferten um den Beifall des Publicums. Hier wie dort waren von Geſangſtücken natürlih nur Bes tonungen Schiller’fher Terte zugelaffen; bei der Schwierig: feit, aus dieſen zwar jehr zahlreichen, aber meiſt ganz unbe: achteten Gompofitionen Geeignete herborzufinden, hielt man ich (mit Ausnahme des Mendelsjohn'ihen Chor? »An die Künſtler«) ausfchlieglih an Franz Schubert.

Schubert's Gompofitionen Schiller’iher Gedichte find jehr ungleid. Bon den im Nachlaß erfchienenen Jugend: Arbeiten (»Taucher«, »Bürgfchafte u. dgl.) gar nicht zu fprechen, gehört nur ihr Eleinfter Theil zu den Koſtbarkeiten diefes über- reihen Genius. ALS wahre Perlen find wohl nur das fanfte pathetiiche Lied Theklas (»Der Eihwald braufet«), und das gewwaltige Fragment »Gruppe aus dem Tartarus« zu nennen. Geringfügiger, allein durch ſchlichte Gemüthlichkeit anfprechend, it das Lied »Die Hoffnunge Die »Gruppe auß dem Tartarus« wurde auch in einen effectvollen Arrangement für Chor und Ordeiter vom Männergefangd-Verein ausgeführt. »Der Kampf« und die »Ermwartung« Hingegen find formlos ausgedehnte Mitteldinge zwiichen Lied und Arie, in einzelnen

lich auch im Pathos ſelbſt ein freieres Spiel, weil die Muſik es be— gleitet und das Wunderbare, welches bier einmal geduldet wird, müßte nothwendig gegen den Stoff gleichgiltiger machen«.

Die Schillerfeier. 199

Lichtbligen Schubert verrathend, meift aber an die philiftröfe Ausdrudsweile der Zelter-Zumſteg'ſchen Epoche erinnernd, von welcher Schubert ausging. Obwohl die beiden Stüde als 116. Werk publicirt find, mögen fie doch (in ihrer urſprüng— fihen Gonception mindeſtens) der Jugendzeit des Gomponiften angehören. Nicht viel erheblicher war die Wirkung nach den von Frau Duſtmann und Herrn Grimminger im Ne doutenfaal gejungenen Liedern »Der Jüngling am Bache« und »Sehnfuchte, welche zivar zwei große Namen vereinigen, aber ebenjowenig der echte Schubert find, als der echte Schiller. Es iſt bemerkenswerth, daß Schubert der Iehte bedeutende Gomponift war, der eine Reihe Schiller’jcher Gedichte (ein: undziwanzig) componirt hat. Unter den Heften der neuern Lieder-Componiſten finden fih Sciller’iche Gedichte jo jelten und verjplittert, daß man beinahe jagen darf, die muſikaliſche Lyrik und Epif habe feit 30 Jahren aufgehört, fich mit dieſem Dichter zu beichäftigen.

Die »Concordiafeiere glänzte durch den Reiz einiger jehr intereffanter Specialitäten. Cine Weberrafhung war die neue Feltcantate- von Medyerbeer, deren Verdienſt und Intereſſe mit diefer Neuheit auch ziemlich erichöpft iſt. Meyerbeer ift in Gelegenheitsfachen fait immer unglüdlich; es fehlt ihm der muthige, leichtgeſchürzte Sinn, der mit wenig Schritten gerade auf fein Ziel losgeht. Die Ein: ſicht räth ihm, den raffinirten Apparat feiner Opern daheim zu laſſen, und doch ift einfach geſunde, anſpruchsloſe Koſt aus diefem Laboratorium nicht zu befommen. So bringt er denn auch in jeiner Feitcantate ein wunderlich Chamäleon zufammen. In den eriten Strophen (Nundgefang mit Chor) verjuccht er e8 mit dem Ton deutſcher Biederfeit. Nachdem ihm dDiefer, wie gewöhnlich, fchlecht gelingt, wirft er plötzlich auf die Worte: »Nie hat der Dichtung Flamme ein edler Haupt geihmüdt«e alle Schwefelflammen feine® »Nobert« mit folcher Vehemenz hernieder, daß man faum dabei ernfthaft bleiben kann. Daß es an einzelnen effectvollen Zügen, an gut ausge: iparten Lichtern und wirkſamen Sclagichatten, namentlich im Orcdeiter, nicht fehlt, will für Meyerbeer nicht viel jagen.

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Läßt ihn doch jogar feine große Kunſt, mafjenhafte Steige: rungen herbeizuführen, diesmal jo jehr im Stich, daß er die Culminations-Worte des Ganzen: »Die liebfte deiner Mujen, dad war die Freiheit doch«! mit einer zaghaften Schüchtern- heit, ordentlih dudend, vorbringt, als ftände die Polizei hinter ihm.

Orcheſter-Concerte.

Das erſte »Geſellſchafts-Concert« eröffnete mit Schu— mann's »Bier Balladen vom Pagen und der Königs— tochter« (Dichtung von Geibel). Dies Werk, aus Shumann’s legter Zeit (op. 140), gehört einer Reihe von dramatifchepifchen Verſuchen an, in denen fi) der Meiſter für feinen Drang zur Dper gleihjam einen Ausweg ſchuf. So eingeboren iſt Diejer Drang den deutichen Gomponiften, daß wiederholte Unglücks— fälle auf der Bühne oft nicht Hinreichen, ihn zu heilen. Schu: mann, deifen tiefe, grübelnde Innerlichfeit allem fo fern ftand, was der Bühneneffect fordert, hatte mit feiner »Genovefa« in Leipzig einen mehr als zweifelhaften Erfolg. Allein er hatte einmal von dem beraufchenden Trank gefoftet, und daß Ver— langen nad) dramatiicher Geltaltung ließ ihn nicht ruhen. Daher die zahlreihen Dramatifirungen bon Balladen und poetifhen Grzählungen, ein etwas zwitterhaftes Genre, das jedoch großen Farbenreichthum in der Ausführung zuließ, und überdie8 den Concert-Repertoires erwünjchte Bereicherung zu— führte. Nach dem Vorgang der früheren »Peri« folgten nach— einander »Page und Königstochter«, »Der Roſe Pilgerfahrt«, » Sänger? Fluhe, »Der Königsſohn« und andere, aus welchen eigentlih nur »Manfred« wahrhaft groß emporragt. Was die »vier Balladen« betrifft, jo ift ihr Eindrud gemifchter Natur. Alles wunderbar, was darin Stimmung, Decoration it, vor allem alſo die Zwiſchenſpiele des Orchefterd und Die einleitenden Chöre. Die Soloparthien hingegen, die zu dieſer elementariſchen Stimmung die concreten Geftalten fügen follten,

Schumann »Balladene. C. M. Weber »Abu Haffan.« 201

ſiud ohne inneres Leben, frank, jchattenhaft. Welch ſtimmungs— volle, tief erregte Landſchaft in den zwei erften Balladen, und welch ſchwache, verwiſchte Staffage darin! So wenig herricht der Geſang als beitimmende Melodie über dem ganzen Ton gewebe, daß man zumeilen glauben fönnte, Schumann habe die Textworte unter irgend eine begleitende Inftrumentalitimme geichrieben. Wir erinnern an den Zwiegefang der Liebenden, an das Geipräh des Königs mit dem Vagen, der Meerkönigin mit der Nire und dem Meermann, an die Worte der Brin- zeſſin im legten Stüd u. |. w. Haben jemals zwei Liebende fih fo peinlich melodielos gefreut? Ward der Jubelruf: »Ich wäre der jeligfte Menſch von der Welt«! jemals unmöglicher gejungen? Dieje eigenfinnige Weiſe, Soloftimmen ſangwidrig und unmelodiſch zu führen, Hatte fih in Schumann’ fpäteren Merken zu deren Nachtheil feitgeiegt. Haben wir dies unver: holen befannt, jo fünnen wir den übrigen Schönheitsreihthum des Werkes dankbar preijen. Wie reizend ift der friiche Jäger: chor, der wie grünes Laub fih um die Strophen der eriten Ballade windet, und der leilemogende Gejang der Meerfrauen! Lebterer mit dem fpäter hinzutretenden Gefang des Meer: manned, den Poſaunen und Harfen fo geifterhaft tragen, tft von unbejchreibliher, unvergeßliher Wirkung: er erhebt die dritte Ballade unter dad Schönfte, was Schumann je geichrieben.

Ein Euriofum darf man e8 nennen, daß €. M. v. Weber's Duverture zu »Abu Haſſan«, ein allwärts befanntes und viel: jeit3 auch wieder vergeſſenes Tonftüd, hier als Nopität vor: geführt wurde. »Abu Haffan« (1810) ift eine der Eleineren komiſchen Opern Weber’, die dem »Freiſchütz« vorangingen, und deren Wiederaufführung der Componift jpäter aus allen Kräften zu hindern ſuchte. Raſch und Iuftig, mit einem ge— wiſſen drolligen Vomp, zieht die Ouverture an und vorüber; ihr Sanitfharenlärm und die übrigen ftereotyp gewordenen Sharakterzeihen orientalifcher Mufit führen und ohne Umweg in dad Land der Turbans und frummen Säbel, zwijchen welchen hie und da ein. fanfter Blid aus verfchleiertem Ge— fihthen aufleuchtet. So unerheblich dad Stüd im Grunde ift,

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man fühlt jih doch von feiner naiven Friihe und Anipruche- Iofigfeit heiter angeregt. Wem möchte deifen größere muſi— faliihe Kraft und Chtfärbigfeit entgangen fein, mit dem darauffolgenden Duett aus Wagner’ »Fliegendem Holländer« ? verglihen Eine unglüllihe Wahl; denn von den eigenthüm— lichen Reizen der ganzen Oper befitt gerade dies Duett Senta’3 mit dem Holländer fehr wenig. Wo dieje Oper des jchildernden Elements fich begibt, wo ſie aufhört »Marine« und anfängt Mufit zu fein, da Stehen Wagner’ Blößen in hellem Licht: die Armuth feiner Erfindung und das Dilettantifche feiner Methode. Das Duett bietet nicht Einen bedeutenden Gedanken; ein hölzernes Pathos kämpft mit den von allen Seiten herein- ichlagenden Wogen der Trivialität. Wäre das Mufitftüd nur etwas melodiöfer, es könnte im jeder Oper von Reiſſiger und Lindpaintner Stehen; ja die bequem fortklopfende Begleitung dürfte der vielgereiftte Holländer ohne weiter® von feinen ittalieniichen Fahrten mitgebracht habeır.

Dreyſchock.

Sechs Jahre find verſtrichen, ſeit Alexander Dreyſchock in einer Reihe von glänzenden Concerten das Wiener Publicum zuletzt um ſich verſammelt hat. Ueber den berühmten Pianiſten etwas Neues zu ſagen, iſt nicht leicht. Dreyſchock bändigte ſein Inſtrument ſchon vor einem Decennium mit einer Bravour, die keinen Rivalen kannte. Ein Fortſchreiten in dieſer Richtung war kaum mehr möglich, Dreyſchock hätte denn anfangen müſſen, mit der Fauſt zu ſpielen, wie wir das ja von einheimiſchen Bajazzos erlebt haben. In techniſcher Ausrüſtung vollendet, war Dreyſchock überdies in ſeiner künſtleriſchen Perſönlichkeit ſchon damals jo abgeſchloſſen, daß man prophezeihen durfte, er werde, darin beharrend, kaum mehr neue Seiten entfalten. So haben wir denn in dem gewaltigen Taſtenbeherrſcher voll— ftändig den Alten wiedergefunden. Die zuverfichtliche Freude an dem Kampf mit Schwierigkeiten, ein wejentliches Element im Virtuoſen, ift in Dreyjchod recht eigentlich verförpert. Sein

Dreyſchock. 203

hervorſtechender Charakterzug iſt ſtrotzend geſunde Kraft. Das Kräftige, Stürmiſche, Glänzende beherrſcht er unumſchränkt; das Weiche, Zarte erreicht er. In ſeinem eigentlichſten Element wirkt Dreyſchock überall, wo eine ungewöhnliche Kraft unter ungewöhnlichen Schwierigkeiten aufzuräumen findet: ſo in ſeinem »Wintermärchen«, einem kräftigen Charakterſtück, ſo in dem »großen Marſch mit Orcheſter«. Letztere Compoſition iſt etwas muſiviſch und nicht bedeutend an Erfindung; in dem, was ſie dem Virtuoſen zu leiſten gibt, iſt ſie einzig. Die merwürdigſten Specialitäten Dreyſchock's, ſein Octavenſpiel, ſeine Terzen- und Sextenſcalen wirken darin verblendend. Man würde ſehr unrecht thun, wollte man Dreyihod als bloßen Bravourſpieler ſchätzen; er iſt ein gründlich durchge— bildeter Künſtler, und ſo Bach- oder Beethovenfeſt wie Einer. Die Verbindung des Virtuoſen mit dem guten Muſiker hat er längſt vollzogen, der weitere Schritt von diejem zum Poeten blieb ihm verſagt. Wir fühlen nicht den warm aud dem Innern quellenden Strom der Empfindung, nicht das Rauſchen des Adlerfittigd, der in eine andere Welt trägt. So jpielt Dreyihod Chopin’ihe Nocturnen zwar mit feinster technifcher Vollendung, allein da® Ganze jpricht nicht mit Chopin’s Stimme zu und, es klingt faſt wie eine lleber- fegung aus fremder Sprade Wir hören die jorglamfte An— wendung aller Ausdrudsmittel und doc nicht den rechten Aus— drud. Trotz aller objectiven Treue affimilirt fih eben das Innere des Spieler nicht mit dem Geifte des Componiſten. Diefer Mangel eines unwägbaren letzten Etwas fühlt ſich mit instinctiver Sicherheit, jo ſchwer er in Worten darzulegen ilt. Meit Homogener als Chopin’s, ift unferem Künftler die Muſik Beethoven’d. Das Es-dur-Eoncert fpielte er mit ficherer Meifter: ihaft, die fräftigen oder glänzenden Stellen auch mit Schwung. Nur im Adagio vermißte man die echte Wärme, vielleicht um: jomehr, als Dreyihod bei gefühlvollen Stellen durch mimifche Aeußerlichkeiten eine Gemüthsbewegung anzudeuten liebt, Die und immer etwad mißtrauifch findet. Die Note behandelt Dreyſchock auch hier mit einer bei feinen Gollegen jeltenen, muſterhaften Treue; nirgends eine Spur virtuoſer Willkür, überall

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Studium und Verftändniß; aber auch hier manchmal jene dünne, innere Scheidewand zwiſchen dem Spieler und dem Tondichter, eine Scheidewand, die jedoch augenblidlih fällt, jobald das Stüd an die Virtuofität appellirt. Größere Pirtuofität iſt faum an dies Werk gewendet worden; ja jo jehr war alles Einzelne zur Vollendung auögearbeitet, daß dadurch der große, gleihmäßig das Ganze durchſtrömende Zug an Gewalt ein- zubüßen ſchien. In feinem legten Concert bradte Dreyſchock Beethoven’3 Cis-moll-Sonate. Das Adagio jpielte er etwas fühl, doh ſchön im Klang; das Allegretto manirirt durch Nuancen, melde in die anmuthige Stüd eine fremdartige Dialektik hineinfünfteln; mit größter Energie bei weifer Mäßigung endlih den Finalfat. Der Anficht, die ih nad Dreyſchock's erstem Concert ausſprach, habe ich nach feinem ſechſten nichts GErhebliches beizufügen oder hinwegzunehmen. Dreyihod it in feinem fünftlerifchen Weſen fo rund abgejchlofjen, daß der Be- fucher feiner Concertchklen feine neuen Phaſen, aber gewiß auch nicht die fleinfte Enttäufhung zu gewärtigen hat.

Vieuxtemps.

Veber Viſeuxtemps' erfted Concert ift zu berichten, daß feine großartige Virtwofität für die Wahl von lauter unerheb- lihen Salonftüden nicht gänzlich entihädigt habe. Dasjelbe gilt von dem zweiten Concert, das lediglid in der »Teufelö- Sonate« von Tartini ein etwas werthvollere® Stüd, und damit zugleih den Höhenpunft von MWieurtemps’ Brapour bradte. Den fait unerſchwinglichen Triller im Finaljag hatte Tartini befanntlih im Traum vom Teufel erlernt, und beim Erwachen wieder zu fpielen fich vergebend gemüht. Vieurtemps jpielte die Stelle jo authentiih, daß gläubige Gemüther, der Herkunft diefer Sonate gedenfend, irre wurden, ob fie Beifall Elatichen oder nicht Lieber ein Kreuz jchlagen jollten. Außerdem bradte er nur fleinere Stüdchen und alles mit Elavierbegleitung. Mer jemald Vieurtemps’ großen, marfigen Ton gehört, der denkt ſich ihn am liebjten an der Spitze eines großen Orcheiters.

Vieuxtemps. 205

Dieſe orcheſterzwingende Kraft, wie noch andere Charakter— zeichen, hat Vieuxtemps mit Dreyſchock gemein. Erwägt man, wie viel mehr noch die Geige der vollen Begleitung bedarf, als das ſelbſt orcheiterartige Piano, jo wird man das Be- dauern des Publicums begreifen, daß Bieurtempd nicht dem Vorbild Dreyihod’3 gefolgt und mit Orchefter gefpielt habe. Wie rührend Schön das Bild auch fei: Vieuxrtemps bon feiner Gattin am Clavier begleitet; wie fittlih erhebend die Be— trahtung einer Frau, die ihrem Manne jo zärtlih gehorſam folgt, nur in echt weiblicher Unterordnung unter feinen fouveränen Willen ihre Miffion erfennend, zur Abwechslung möchten wir doch einmal diefe Sluftration eheliher Harmonie unter: breden und den Mann im Kampfe mit Männern jehen. Seither Hat Vieurtemp3 auch eine »Duartettfoiree« veranftaltet. WVieurtemps’ ausgebildete Bravour und energijche Auffaffung konnten wir auch bier ſattſam bewundern, doch nicht ohne zugleich überzeugt zu werden, daß die Schönheit feines Tones ſeit feiner letzten Anmwejenheit viel eingebüßt habe. Unſer Künftler hat gegenwärtig eine wunderliche Vorliebe für Die allzuhäufige Anwendung des (natürlichen) Flautato, womit er das eigentlihe Mark, die gejunde Schönheit des Gejanges untergräbt. Auf mehrere pracdtvolle Töne pflegt einer jener flötenartigen zu folgen, die durch das fchräge Streihen des Bogen? auf dem Griffbrett erzeugt werden. Auch eine viel Iodere Haltung des Bogens jchien uns bei Vieuxtemps an die Stelle früherer Feltigfeit getreten. Bei diefer Spielweife muß hin umd wieder ein Ton bon feiner haaricharfen Stufe ab— gleiten; wir vernahmen, was früher bei PVieurtemps nie zu hören war: unreine Töne. Wie ungern und zaghaft wir diefer Stimme Gehör gaben, die in uns flüfterte: Vieurtemps fei nicht mehr der Alte, bedarf feiner Betheuerung. Die Stimme ließ fih nicht mehr übertäuben, als der Kiünftler au dem Kreis leichterer Soloftücde heraustrat, und oft gehört Duartette unjerer großen Meifter uns wieder vorführte, Er erfchien uns da wie ein großer Sänger, defjen wunderbare Organ durd) die Zeit zu leiden beginnt. Sogar kleine Virtuoſen-Koketterien, die Vieuxtemps fich im Quartettſpiel früher nie erlaubte, fanden

206 1859,

wir Hin und wieder eingeichlihen. So in dem Schubert’jchen D-moll-Quartett, das überhaupt an Wärme und Innigkeit manchen Wunſch unerfüllt ließ. Nachdem PVieurtemps in voller Manneskraft Steht, vermögen mir die Modificationen feines Spiel3 nur als Spuren einer langen, blendenden Virtuoſen— Laufbahn zu begreifen. In der neuen Welt jcheint einiges vom alten Vieuxtemps fich verflüchtigt zu haben. Es bradte Vieuxtemps' Soirée noch zwei andere Werke, deren Wahl nicht glücklich heißen kann: ein Glaviertrio von Haydn und eine Sonate für Viola und Piano von Rubinftein. Der Bianift Saell ſoll fih äußerſt widerftrebend der Vorführung des Haydn'ſchen Trios gefügt haben, und nur gegen das, wiederum von Vieuxtemps höchſt ungern geleiftete Verſprechen, die Rus binjtein’she Sonate darauf folgen zu laſſen. So reichten Vergangenheit und Zukunft fih Die Hände zu langweiliger Gegenwart. Haydn's Leichtfliegende® Trio gehört zu den Stüden, die man heutzutage nicht Virtuoſen, fondern feinen Kindern zu fpielen gibt. Einen peinlihen Gegenfaß dazır bildete die geichmadlofe Ueberladung der Rubinſtein'ſchen Sonate, die ebenjo arm an Erfindung tit, als trivial in den Ausflüchten, fie zu erſetzen.

Alfred Daell.

Herr Alfred Zaell gehört bekanntlich zu den Virtuoſen, die Europa und Amerika erfolgreich mit Goncerten überzogen haben und ſich eines gejicherten Rufes erfreuen. Diefer Auf hat hier, namentlich was die technifche Seite des Spiels be- trifft, ehrenvolle Beitätigung gefunden.

Eine unglüflide Wahl war die »Tranzfeription aus Zannhäufer und Lohengrin«, die nicht nur des mufifalifchen Intereſſes, ſondern fogar der nöthigen Gegenſätze entbehrt, und zum Schluß das heulende Finale der Tannhäufer-Duverture unbarmherzig herunterpeiticht. Ein Kunſtſtück ohne Zweifel, aber welch’ zweifelhafter Gewinn, daß wirklich Feine der gejchleiften Zweiunddreißigitel ausbleibt, wo man am liebiten hätte, te

Alfred Jaell. Glavierconcerte und fein Ende. 207

blieben alle aus? Und bat das erite Auftreten Jaell's mehr als feine jpäteren Concerte befriedigt. Nichts überfättigt jo ſchnell, ala die kleinen Salonjtüde, Etüden, Transferiptionen u. dgl., welche für ihre Tıiller und Läufe eine längſt nicht mehr vor— handene Theilnahme in Anfpruch nehmen. Und diefe Bravour— ftücklein find ohne Widerrede der eigentlihe Mittelpunkt der Sael’ichen Leiftungen. Sie allein find e3, die er vollfommten und dem Anjchein nach mit ganzer Luſt fpielt. Bon feiner un— gewöhnlichen und vieljeitigen Virtuofität, Reinheit und Cor: rectheit, furz von all den ſchönen techniihen Vorzügen, die wir jüngit an ihm gerühmt, gab Herr Jaell womöglid noch glänzendere Proben; allein er gab auch noch triftigere Beweife, daß fein Spiel nicht eben weit über dieje techniiche Region hinausreihe. Wir erinnern an den Vortrag der B-dur-Sonate (op. 22) von Beethoven. Was blieb unter den weichen Fingern Jaell's zurück von dem ftolzen Aufſchwung des eriten Sated, von dem ergreifend jehnfüchtigen Gejang des Adagio? Ein zierlih hinperlendes Klingen, das von der Eleganz des Pirtuofen, aber nicht von dem männlichen Geift Beethoven's erzählte. Mit fichtlicher Vorliebe und dabei mit übertreibender Bravo im Tempo behandelte Herr Jaell alle Stellen dieſer Sonate, die irgend etwad für den PVirtuofen abwerfen. Das Feurige wurde concertmäßig, das Einfache flach und gleich: giltig. Man wandelt nicht ungeftraft unter Bravour-Polkas.

Elavierconcerte und Rein Ende.

Die Zeit, wo ein fertiger Pianiſt fih wie einen jeltenen Vogel fonnte jehen lafjen, ja eines Raubes an der Vienjchheit fih anflagen durfte, went er es unterließ, Stadt um Stadt mit Glavierjpiel zu überziehen, dieje Zeit hat fich bereits vor einiger Zeit empfohlen. Die Nachfrage nah Clavier-Virtuoſen ift längit im Abnehmen, während das Angebot, trog Rau und Roſcher, im jelben Maße zu wachlen jcheint. Was wollen fie doch, die vielen pianifirenden Jünglinge und Jungfrauen, daß fie von den Straßeneden jo beftiges Annoncenfener auf den

208 1859.

arglofen Spaziergänger geben? Leiſe Angſt überfommt mid) bei all dieſen unjchuldig weißen Namen: zuerft um mid, dann aber weit mächtiger und trüber um fie felbjt! Hoffen fie wirklich, zahlende Sterblihe Herbeizuloden, und mit Clavierfpiel ein Publicum zu begeiltern, das jelbit faſt aus lauter Clavier— jpielern beſteht? Erbliden fie wahrhaftig noch in dem Birtuofen- thum eine glänzende Ausnahmsſtellung, Heutzutage, wo ja die halbe Bevölkerung Europa die galoppirende Virtuoſität hat? Sn bitterem Ernſt gefproden: der Anblid vieler Virtuoſenzettel ſtimmt traurig. Es ftimmt traurig, daß noch immer jo viel junge Leute ihre Zeit, ihre Kraft, ihr Eleined Vermögen, ihre höhere Bildung aufopfern, um die Fertigkeit auf einem Saiten fajten fi) zum Lebenszweck zu machen. Sie wenden ihr Dafein an einen gefunfenen Gejchäftszweig, erzeugen Mittelgut eines Artikels, der nur in Höchiter Vollkommenheit Abnehmer findet. Mit dem Erwerb einer Eleinen, hübſchen Fertigkeit treten fie an die Deffentlichkeit, die nur noch por der äußerften technijchen Vollendung Refpect hat. Und jelbft vor dieſer nicht mehr. Wer nicht neben und vor aller Tehnif den wahren künſtleriſchen Adel mit zur Welt gebradt, eine hochgefteigerte Fähigkeit, muſikaliſch zu denken und zu fühlen, wird er denn, und jei er der gelenfigite der Afrobaten, noch gefucht und gefeiert? Vielleicht acht Zehntheile der jungen Freiwilligen, fo alljährlih auf Cla— vieren gegen das Publicum einjprengen, werden nicht Generale in ihrer Runft, ſondern Kanonenfutter der Sailon. Bald wird der Traum von Gold und Lorbeeren audgeträumt fein, und Die auf den Höhen des Lebens zu fchaufeln Hofften, wir jehen fie als dunkle Ehrenmänner von Haus zu Haus gehen, den Pir- tuojenftoff jüngeren Generationen einzuimpfen. Vor etwa 30 Jahren Elagte Gutzkow, daß die Bildung von Taufenden (namentlich) des jchöneren Geſchlechts) in ihrem bischen Glavier: fpiele beftehe. Seither ift die Zeit noch um ein gutes Stüd erniter geworden. Spielt weniger Clavier, lernt etwas!

Trio von Beethoven. Quintett von Rubinfein. 209

SHammermufik.

Dreyihrd und Beethoven’ C-moll-Triv. NRubinitein: Quartett. Spohr: Doppelquartett. Beethoven: Quartett. Schumann: Spanifches Liederipiel.

Dreyſchock jpielte in Hellmesberger’3 zweiter Soirée das C-moll-Trio op. 1 von Beethoven. Nur jo lange man die Ausführung nicht gehört, mochte man fid) über die Wahl eines Stüdes verwundern, das bekanntlich jelbit von befcheidenen Dilettanten ganz anftändig bewältigt wird. Dreyichoc wollte ung zeigen, wie ein Meiſter »leihte Sachen« fpielt. Mit dem ſchwierigſten Stüd, vielleicht mit der größten Sonate Beethoven's, hätte er und faum eine reinere Herzensfreude machen können. Durh ihre Leichte Ausführbarkeit find Die früheren Werke Beethoven's ausfchließliches Eigenthum der Dilettanten geworden: dieje anfcheinend jo Fleine Auslage einmal mit einem Capital von Technik beitreiten zu jehen, gehört zu den außderlejenften Genüffen. Diefe File von Ton bei jo jcharfer Trennung aller Tonglieder, dieje reizenden Abftufungen der Stlangfarbe, bei fo echt fünftlerifher Auffaffung des Ganzen, fie hätten faum glänzender fich entfalten fünnen, als gerade in jenem befcheidenen Trio. Das eigenthümlih Plaſtiſche von Dreyichod’3 Spiel trat, wie faum früher, hervor: jeder Ton jchien wie in Stein gehauen. Der ausgebildete Anjchlag wird dem echten Klavier: pirtuofen, was dem Sänger die vollendete Stimmbildung. Wenn Jenny Lind eine einfahe Scala fang, war ihr dies im Grunde ebeniowenig nachzumachen, als die jchwerite Bravourarie. Ge: rade jo dürfte Dreyihod im Vortrag des Heinen C-moll-Trios nicht mehr Rivalen finden, als etwa in der Liſzt'ſchen Ahapfodie. Al: Novität wurde am jelben Abend ein handichriftliches Streid- Quintett von Rubinftein vorgeführt. Was wir nad einmaligem Hören darüber jagen können, ilt nicht eben vor— theilhaft. Die Compofition iſt fpröde, troden, von einer gewiſſen impotenten Verftändigfeit, nicht arm an intereflanten Schach— zügen, aber arm am mufifaliihen Ideen. Rubinſtein ſelbſt

Hanslick. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 14

210 1859.

hat und aber durch mehr al3 Eine Compofition zu größeren Anfprüchen berechtigt. Faſt jcheint e8, al3 machte feine unbändige PBroductivität ihn ſchnell altern: in dem neuejten Quintett hat er nichts Eigenes mehr eigenthümlich zu jagen.

Wie jugendfriſch erjcholl neben diefem Jünglingswerk der Anichiedsgefang des ergrauten Beethoven! Sein Quartett in F (op. 135), das kürzeſte, klarſte und frifchefte aus feinen ge— heimnißvollen Spätherbite, wirtte mit wahrhaft unwider— ftehliher Naturfraft. In Spohr’3 drittem Doppelquartett in E-moll fpielte Hellmeöberger mit ungemeiner Grazie und Leichtigkeit die erite Violine, welche, in den Helliten Vor: dergrund geftellt, die anderen fieben Inſtrumente mehr wie einen gefälligen Hofitaat, denn als ebenbürtige Genofjen um fich verfammelt. Die Compofition blidte uns mit freundlichen, aber gealterten Zügen an; noch mehr find Schmud und Zierrath Rococco geworden. Bon allen Violinpielern mit Vorliebe gejpielt und gehört, bietet die8 Doppelquartett einem Publicum, das jeit zehn Jahren fich vorwiegend mit Beethoven, Mendelsjohn und Schumann bejchäftigt hat, nur mäßige Erhebung. Spohr ericheint und darin wie einer jener alten Diplomaten, denen das feinjte Benehmen zur Gewohnheit geblieben ift, während die geiftige Kraft bereits abnimmt. Die Gedanken, die er aus— ipricht, wiederholt er vier- bis achtmal und kann an liebens— würdigen Artigfeiten, die ihm gelungen, fich jelbit nicht jatt- hören. Warum wir ihm trogdem gerne folgen? Weil, was er äußert, jein umbejtreitbar Eigenthum ift, und den Ausdrud einer feinen, gejicherten Bildung trägt. Der Vortrag des Mendels— john’schen F-moll-Quartetts war zart, aber etwas kleinlich; die pathetiiche Klage des Adagio wurde in's Schmadtende gezogen und jo manches in dem fchönen Werke verwinzigt. In jolhen Aufgaben tritt Hellmesberger’3 Zug zum Sentimentalen, und die damit zufammenhängende Gewohnheit, möglichſt viel auf den tieferen Saiten zu fpielen, ftarf in den Vordergrund.

Zum erjtenmal hörten wir (leider nur bruchſtückweiſe) Schumann's »jpanifhes Liederspiel.e Diefer wenig befannte reizende Cyklus bejteht aus zehn Gefängen, theils einjtimmigen, theils Duetten, Terzetten und Quartetten. Die

Schumann’ »Spaniiches Liederfpiel.« »11

Gedihte find der Geibel’ichen lebertragung »ſpaniſcher Volkslieder« entnommen, und mit Rüdficht auf den mufikalifchen Charakter finnig zufammengeftellt. Das innere Band, das dieſe Lieder untereinander feithält, ift der echt fpanijche Romanzenton; denn mit merkwürdig feiner Anempfindung hat Schumann feine Muſik in die eigenthümlichen Localfarben getaucht, welche Poeſie und Mufit der Spanier fennzeichnen. Ein füßer, beraufchender Duft, wie aus Flieder- und Jasminlauben, athmet aus dieſen Gefängen. Kühne, glänzende Geftalten jchreiten an uns vor— über, einander ummerbend in leidenfchaftlicher Galanterie und jeltjam ftolzem Tändeln. Sie fingen Liebeslieder, aber ein eigenthümlich aufrechtes klangvolles Pathos mildert die Gluth der Leidenſchaft. Dabei find die muſikaliſchen Formen fein ge: rundet, anmuthvoll, und drängen bei aller Beweglichkeit nirgends ind Dramatifhe. Zu dem Slarften und Freundlichiten gehörend, was Schumann zu guter Stunde jchuf, bietet das »Liebderipiel« dem Hörer mir Freude ohne Dual. Schumann jelbit hat jeinem »ſpaniſchen Liederfpiel« (op. 74) . eine zweite Reihe »ſpaniſcher Liebeslieder« mit vierhändiger Clavierbegleitung folgen laſſen (op. 138), die weit weniger urjprünglid, Doc gleihfalls reich) an Geift und Empfindung find. Die Aufführung eineö dieſer Liederjpiele wäre eine dankbare Aufgabe für unjere Singpvereine, denen Abwechslung des vollen Chors mit kleineren mehritimmigen Sägen nur erwünfcht fein kann. Was Clara Schumann im vorigen Winter zu erreichen fi) vergebens be— mühte, die Aufführung des fpanifchen Liederfpiels, wäre heuer wenigftens theilweije und vor fleinerem Kreiſe gelungen. Die Beredlung der Eoncertprogramme in ihrem inftrumentalen Theil zieht, langſamer zwar aber unwiderſtehlich, auch eine bejjere Richtung der Gefangsvorträge nah fih. Schon finden ſich Sänger, denen die Kunſt höher fteht als ihre Eitelkeit in ihrer Hand wird es liegen, die oft mißachteten »Ausfüll: nummern« eines Virtuoſen-Concertes zu defien »Hauptnummtern« zu machen.

14*

1860.

Scenen aus Goethe's „Jauſt“, von Ziobert Schumann.

Schum ann's »Fauſt«-Muſik hat uns beim Studium der Partitur, im Verlauf der Proben und endlih in der Auf: führung jelbit Stunden erhebenden Genuffes bereitet, wie wir fie in jüngfter Zeit nur dem »Manfred« desſelben Tondichters verdanften. Beide Werke zählen zu jenen verflärten, ver: flärenden, weldhe dem ritifer die Freude an feinem Beruf wiedergeben fünnen, fall3 fie ihm nicht die Feder aus der Hand mwinden. Wir haben hier allerdings nur den dritten Theil ded ganzen Schumann’schen Werkes im Sinne, alſo den Abſchluß einer Scenenreihe, welche man nur mit äußerft ge— miſchten Empfindungen fennen lernt. Die Entſtehungsgeſchichte der Compofition gibt über deren innere MWiderfprüche die beite Aufklärung. Im Sahre 1844 war es, als Schumann fih von dem zweiten Theile des Goethe’jchen »Fauſt« mächtig angeregt fühlte. Er componirte daraus zuerit den Schlußchor Alles Bergänglihe ift nur ein Gleichniß«), alfo gleichſam das zufammengefaßte Refultat, die geiftige Summe des ganzen und vom Dichter vorgeführten Myſteriums. Sodann Schritt Schumann, ohne jeine erregte Stimmung abfühlen zu laſſen, an die Be- arbeitung des ganzen Myſteriums ſelbſt. So entitand in Schumann's fräftigfter Epoche, in der Zeit der »Peri« und der eriten Symphonie, diefe »Verklärung Fauſt's«, die jekt den dritten Theil eines ⸗»Fauſt«-Cyklus bildet. Ziemlich lange darnach, wahrſcheinlich erſt nachdem die »Verflärung« im Jahre

Scenen aud Goethe's »Faufte, von Robert Schumann. 213

1849 bereit3 in einigen Städten gegeben war, fühlte fich Schumann veranlaßt, auch andere Scenen aus Goethe’ Ge: dicht in den Bereich feiner Slluftration zu ziehen. Er componirte zunähft aus dem zweiten Theil: den »Sonnenaufgang« (Ariel), »Die vier grauen Weiber«, »Fauſt's Erblindung« und »Fauft’3 Tod«. Dieje vier Nummern bilden die 3weite Ab: theilung bei Schumann, welche noch reich an bedeutenden, ja genialen Stellen, doch ſchon an Urfprünglichfeit und Kraft hinter der »Verklärung« entichieden zurüdjteht. Ohne Vergleich ſchwächer, ja in jolder Nachbarſchaft geradezu betrübend, iſt Die (zulegt componirte) »erite Abtheilung«, nämlich die Duverture und drei Stüde aus dem eriten Theil des Goethe’ichen Drama’d: »Scene im Garten«, »Grethen vor dem Madonna: bilde und » Scene im Doms. Wir befigen fomit in Schumann’3 »Fauſt« einen Compofitionen-CHflus aus weit getrennten Ent— jtehungözeiten und von jehr ungleichem Werth. Er reproducirt ganz merkwürdig das Verhältniß der beiden Theile von Goethe's Dihtung, nur in umgefehrter Ordnung. Goethe itellte neben die hHerrlichite Blüthe feiner Jugendkraft »als Fortiegunge Die fühle Neflerion des behäbigen Alters, neben den Quell urfprünglichiter Poeſie den anſpruchsvollen, künstlichen Abzug von Allegorien; er ftellte, mit Einem Wort, neben den »ersten« und einzigen Theil des Fauſt den »zweiten«. Bei Schumann verhält es fi) umgefehrt, jo daß die allegorifchen und myſtiſchen Scenen des zweiten Theils das jpontane Product muſikaliſcher Schöpferfraft find, während jene des eriten Theild die jpäte Nachleje eined zu Tode ermiüdeten Geiſtes bilden. Das vollfommenere Gedicht lockt nicht immer die föltlichere Muſik. Wo der Mufifer noch eine Milton vorfinden joll, da mußte der Dichter immer etwas zu jagen übrig laſſen, ein Unausgeiprodenes, Unausgefühltes. Gebilde, wie die Garten: jcene im »Fauft«, find in fich zu vollkommen, um Muſik zu vertragen. Welcher Componift der Welt könnte die Gejtalt Gretchens noch lieblicher, die Rede Fauſt's noch bedeutjamer machen? Auh Schumann jcheiterte hier. Nur mit Trauer betradten wir in feiner »eriten Abtheilung« dies ruheloje Moduliren, dieſes ausdrucksloſe Auf: umd Niederjteigen der

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Stimmen, welde und Grethen und Fauft vorftellen follen. Deitomehr muſikaliſches Element trägt hingegen der poetiſch fo viel tiefer ftehende zweite Theil des Goethe'ſchen Ge- dihts! Man muß entweder unbedingter Goethe-Anbeter fein, oder Philoſoph oder Mufifer, um fih für diefen zweiten Theil zu begeiftern. Viele Scenen des Gedicht find ohne Muſik kaum denkbar*); der Schluß (Fauft’3 Verklärung) bleibt ohne fie wenigstens unvollftändig, eine Seele ohne fihtbaren Schönen Leib.

Vergegenivärtigen wir und raſch den Zujammenhang**). Fauſt fol im zweiten Theil fi durch größere, bedeutendere Berhältniffe durcharbeiten. Eine Reihe großer Welterfcheinungen, Hof und Staat, Diplomatie und Krieg ziehen an unferem Blid vorüber. Fauft findet auch bier hohle, leere WVerhältniffe, die ihn unausgefüllt laffen. Volle Befriedigung, wenn auch raſch vorübergehende, genießt Fauft erft auf dem claſſiſchen Boden der idealen Schönheit, in dem Anblick der griehiichen Helena. Mit dem Entichwinden dieſes idealen Scheines ift Fauſt Der wirffihen Welt wieder zurücgegeben. Die Zeit des Genießen? und Träumen iſt für ihn vorüber; er ſucht Nügliches, Frucht: bringendes zu Schaffen. Mit Hilfe der ihm dienenden Geifter ringt er ein unbewohntes Land den verheerenden Glementen ab und macht es urbar. Er verfluht den Bund mit dem Böſen, und wünſcht fih in ein einfach menſchliches Dajein zurüd; dazu ift es jedoch zu fpät, Fauft’3 Laufbahn ift abgejchlofien. Die »Sorge« beraubt ihn des Augenlichts, der »Tod« tritt an ihn heran. Mephifto lauert auf Fauſt's Seele, welche ihm, dem Vertrag gemäß, gebührt, In dem Kampf um die Seele des Helden werden die Teufel verjagt durch die »Flammenkraft der himmlischen Rofen«, welche (mittelalterlicher Allegorie gemäß) die Engel von Oben herabbringen, um damit Fauſt's Seele zu reinigen. Fauſt ift gerettet. Sein »Unſterbliches« fann nicht verloren gehen, denn es gibt eine ewige Schönheit und eine

*) Der Elfengelang, der Mastenzug, die Strophen der Gärtnerin, de3 Dlivenzweigs u. ſ. w, die Aufforderung der Vulcinelle, des Knaben Lenker, des Pluto 2c.

*) Vergl. »Goethes Fauite, von Dr. Karl Köſtlin; Tür: bingen 1860.

Scenen aus Goethe’8 »Fauft«, von Nobert Schumann. 215

ewig verzeihende Liebe (beides perfonificirt in der »Mater gloriosa«), welche ald »Ewigweibliches« den Sünder »hinan: zieht«. Um die Madonna gruppiren fi) der »Pater extaticus« und »Doctor Marianus«, in welchen fich der ascetiſche Buß— und Liebesichmerz des Mittelalter verkörpert, die Engel, die Geligen und andere Himmelögeftalten der katholiſchen Theologie.

Der Tondichter, der an den Schluß dieſes Gedichte her: antritt, wird fih wenig um die ſchweren Bedenken fimmern, die fi gegen den ganzen Vorgang erheben laffen.*) Er findet in diefer Schlußfcene geradezu den fertigen Tert zu einem Ipriihen Oratorium. Die Muſik, die überfinnlichite der Künfte, vermag allein dieje lichtumfloffenen Geftalten feiter zu bannen, und den ſeeniſch unmöglihen Vorgang gewiſſermaßen zu ver: förpern. Nur der zitternde Dämmerjchein der Mufif macht uns ein Myſterium lieb und verftändlid, das in der Icharfen Stlarheit des geſprochenen Wortes fih und fremdartig gegenüberftellt. Selbſt ſprachlich Störendes, wie die lateinifirenden, den Kirchen hymnen nachgebildeten Wortverfchränfungen, verfchwindet unter der reinigenden Fluth der Tonwellen. Rihard Wagner ftellt in feinem neueften » Sendichreiben an einen franzöfiichen Freund« die unglaublihe Behauptung auf, es gebe für die Moefie nur zwei möglihe Wege: fie müſſe entweder vollflommen abitracte Philofophie werden, oder aber ſich gänzlich mit der Muſik ver: einigen. Wüßten wir nicht, daß Wagner dabei an feine eigenen Dpernterte gedacht Hat, e8 hätten ihm bei diefem Baradoron Reminiscenzen aus dem zweiten Theil des »Fauſt« vorichweben fönnen. Die abitract reflectirenden und die halb muſikaliſchen Bartien des Gedicht3 wären nah Wagner die eigentlichen Mufter- beijpiele wahrer Poefie. Was die »halbmufifaliichen« betrifft, wie die Verklärungsſcene, jo gehört übrigen® mehr als man denkt dazu, fie ganz mufifaliich zu machen. Es bedurfte eines außerordentlichen und eigenthümlichen Talents, um dem Gedicht jene volle und reine Ergänzung zu Schaffen, welche es von der

*) Am fchlagenditen find Diele Bedenken von Viſcher ausge— führt, der überhaupt an dem ganzen zweiten Theil des Goethe’fchen »Fauſt« die jchärfite Kritik geübt hat.

216 1860.

Tonkunſt erwartete. Wir glauben, e& bedurfte geradezu Robert Schumann’. Nur ein Tondichter, in dem die künftleriichen Elentente gerade jo und nicht anders gemifcht waren, konnte ſich an das Hohe Näthiel diejer »Fauft-Verklärung« wagen. Schu: mann hat e8 in bewunderungswürdiger Weiſe gelöft. Gleich der eritte Chor »MWaldung, du fchwanfit heran« ftellt Die Srundfärbung des Ganzen, dieſe ftille, fremdartige Seligfeit, mit einigen Meifterftrihen feit. Mit ruhigen tiefen Athem— zügen trinken wir die ungewohnte, erquicend reine Luft. Das harakteriftiiche, aber etwas monotone Tenorjolo des »Pater extaticus« blieb bei der Aufführung weg. Etwas be- lebter in Melodie und Rhythmus ift das folgende Baßſolo mit dem auödrudspollen Schluß: »O Gott, befhmwicht’ge die Gedanken!« Von hier an wird die Mufik immer reicher, Elarer, inniger. Ein überaus anmuthiger Geſang der »feligen Knaben« mündet im den jubelnden Chor »Gerettet«, von welchem ſich wieder ein zarte® Sopranjolo (»Diefe Roſen«) reizend abhebt. Die Hymme des »Doctor Marianus« (mit Harfenbegleitung) mehr weich und innig als enthuſiaſtiſch bereitet Die gehobene Stimmung für den Chor »Dir, der Unberührbaren« trefflich vor. Es folgt der Gejang der Büßerinnen. Dieje in jchlichten Biertelnoten abjteigende, tief herzliche Weile, in welche fich Grethens wundervoll verklärte Bitte mijcht, dünkt uns die Berle des Ganzen. In myſtiſchen Schauern verflingen die be— gnadigenden Worte der » Mater gloriosa«. Da jet mit impofanter Wucht unter dröhnendem Poſaunenklang der Schlußchor ein: Alles Bergängliche ift nur ein Gleichniß«, und beflügelt ſich erit bei den Morten »Das Ewigweibliche zieht uns hinan« zu triumphirendem Aufſchwung.

Ein tieferes Eingehen in die muſikaliſchen Einzelheiten iſt hier nicht möglich. Nur auf einen beſonderen, das ganze Werk adelnden Vorzug möchten wir noch hinweiſen. Es iſt dies die merkwürdige Mäßigung und Schlichtheit im Ausdruck. Wenn irgend ein Gedicht geſchaffen iſt, den Componiſten zu unnatür— licher Exaltation zu verleiten, ſo iſt es wohl dieſe Verklärungs— ſcene. Welchen modernen Tondichter hätte hier nicht das Gefühl der Unzulänglichkeit zu den gewagteſten Experimenten in Har—

Liſzt's »Prometheus.« 217

monie und Inſtrumentirung, zu fremdartigſter Verkünſtelung des Geſanges verführt? Stellen wir uns vor, wie etwa Wagner oder die Weimariſchen das »Unbegreifliche« ausmalen würden! Schumann hingegen vermeidet mit ſolchem Zartgefühl alles Unſchöne und Maßloſe, daß er ſelbſt die zerhackten Ausrufe des Pater Extaticus in das Gleichmaß einer ſtillen, gefaßten Gluth auflöſt. In den Engelschören keine Spur äußerlichen Geflimmers oder Gepränges. Alles herzlich, warm und einfach. Die Verſuchung, dem Gedicht von ſeiner glänzenden Außenſeite beizukommen, lag Schumann fern. In ſeinem Herzen ließ er es warm werden, und gab uns ſodann ſtatt einer transcendentalen Triumphſcene ein Stück ſeines tiefſten, eigenſten Fihlens. Wenn es die beſte Aufgabe des Oratoriums iſt, das Göttliche als ein Menſchlichſchönes und Gemüthvolles darzuſtellen, ſo hat Schumaun hier verrathen, in welch ſchönem, hohem Sinn er Oratorien-Componiſt geworden wäre.

Liſgzt's „Rrometheus.“

Die Geſellſchaft der Muſikfreunde brachte in ihrem dritten Concert Liſzt's Ouverture und Chöre zu Herder's »ent— feſſeltem Prometheus« zur Aufführung. Dies Werk ver— ſetzt uns, die wir gern zu den perſönlichen Verehrern dieſes bedeutenden und liebenswürdigen Mannes zählen, leider aber— mals in die Nothwendigkeit, gegen ſeine Compoſitionsluſt zu proteſtiren. Wie alle größeren Werke Liſzt's, iſt auch »Pro— metheus« eine traurige Allianz der Erfindungsloſigkeit mit dem Raffinement. Ein beſtändiges Suchen und Nichtfinden, lauter Effecte und doch kein Effect. Schon die Ouverture iſt nur eine intereſſant orcheſtrirte Folter, auf welcher der Hörer geiſtreich gemartert wird. Die Chöre bieten hin und wieder Lichtpunkte, kommen jedoch, vom Orcheſter fortwährend unterbrochen und überwältigt, nirgends zu einheitlicher Entwicklung. Das An— ziehendſte ſind auch hier einige neue Orcheſter-Effecte, die meiſt ins Gebiet der muſikaliſchen Malerei fallen, die Sicheln und Senſen im Schnitterchor, das Heulen des Orkans u. dal.

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Dem »Brometheus« Liſzt's fehlt einfach der prometheijche Funfe: mag er noch fo verichiedenes und jeltenes Material aufthürmen, es will nirgends brennen.

Wir machen fein Hehl daraus, daß kleine geniale Details und tieffinnige Intentionen, welde den Mythus zu interpretiren trachten, uns die fehlende muſikaliſche Schöpfungsfraft nicht entfernt erſetzen können. Zum größten Theil ift Liſzt's Compofition voll ftändige Unmufif, Ja, wir befennen, daß die außerordentliche Prätenfion, mit welcher diefe unfangbaren, inhalt3los aufges blähten Chöre auftreten, allmälig eine erheiternde Wirkung auf und übte. E3 erging und wie Gutzkow beim Anhören der Liſzt'ſchen »Dante-Symphonie«; ihm erichien die mufifaliiche »Hölle« Liſzt's ftatt grauenhaft immer nur komiſch, jo daß er fie mit jenen Teufeln in genähten Säden verglich, die am Schluß des »Don Juan« regelmäßig Laden erregen. Da und die Partitur des »Prometheus« nicht zugänglic” war, müſſen wir e& bei diefer Schilderung des Total-Eindruds bewenden lafjen. Fragt man und nad der Wirkung der Liſzt'ſchen Mufit auf das Publicum, fo fühlte diefes von den (laut Programmı) darin illuftrirten Zuftänden jedenfall die drei legten jehr lebhaft mit: »Leid«, »Ausharren« und endlich »Erlöſung«. Es glich dabei jelbit einem anftändig duldenden Prometheus, dem ein muſikaliſcher Geier zwar nicht in die Yeber, aber deſto tiefer in’ Ohr hadt. Nach jedem Abſchnitt gab ein Dutzend fpecifiich organifirter Sterblicher eine fühne Applausfalve, und damit das Zeihen zu allgemeinem Ziſchen. Ohne dieſe Eifrigen (die auf Talleyrand’3 Mahnung »Surtout point de zele!« allzufehr vergefjen hatten) wäre die vornehme Leiche ohne Zweifel in feierlihfter Stille zu Grabe getragen worden. Was die Gejell- ichaft der Mufikfreunde bewegen mochte, auf dad umfangreiche Werk, deilen Mißerfolg nad der erjten Probe vorauszuſagen war, Mühe und SKoften zu verwenden, ift ung nicht befamnt. War e3 die allerdings löbliche Abficht, das Bublicum mit einem nenen Werke Lijzt’3 bekannt zu machen, jo würde man fie mit der Mehrzahl der »ſymphoniſchen Dichtungen« weit angenehmer erreicht haben. Dieje find wenigſtens furz und von glänzender Meuperlichkeit. Liſzt's Pegaſusritt auf der Menichenitimme hätte

Händel's »Timotheuse und »Jirael in Egypten.« 219

dem Publicum und noch mehr den fleißigen Mitgliedern des »Singvereined« eripart bleiben können, da doch lekterer, jo viel und befannt, zum Vergnügen zufammen zu treten pflegt.

Auf Liſzt's »Prometheus« ließ die Gejellihaft der Muſik— freunde unmittelbar und ganz allein Mozarts G-moll-Sym: phonie folgen, ein jo impojanter Einfall, daß er und des Dichters Wort »Wär die Idee nicht fo verflucht gefcheit« u. f. m. auf Die Lippen drängte. Wollte die Direction ihre eigene Wahl ironifiren? Oder follte das von der neudeutſchen Partei aufgeftellte oberfte Ariom, daß »Liſzt der Mozart unferer Zeit« fei, praftifch erwielen werden? Gleichviel; es ereignete fich Der ımerhörte Fall, daß nad den erften vier Taften der allbe: fannten Symphonie das ganze Publicum in jubelnden Beifall ausbrach. Wenn die eine Demonftration war, jo ift fie wenigſtens nicht beabfichtigt gemweien. SIeder Anweſende muß bezeugen, daß die Freude über Mozart’3 Töne vollfommen fpontan, friſch und unmillfürlich hervorbrad. Es war Allen, als würden in einem qualmerfüllten Saal plößlid die Feniter weit geöffnet und herein jtröme Duft und Kühle des erquiden- den Frühlings.

Ssändels „Timotheus“ und „STrael in Egypten.“

In kürzeſtem Zeitraum bekamen wir nacheinander zwei Händel'ſche Oratorien zu hören: »Iſrael in Egypten— und »Timotheus«. »Iſrael in Egypten« verfällt einer großen Monotonie ſchon durch den Inhalt, den die complete Schil— derung aller egyptiſchen Plagen bildet. Neben der ſtrotzenden Kraft der Chöre erſcheint die Mehrzahl der Arien ſteif und undarakteriitiih; Hingegen schlägt daS herrliche Soloquartett: »Der Nacht düftere Schleier finfen auf das Land« wieder manden Chor. »Timotheus« oder »Mleranders Feſt« hat einen frifcheren mufifaliihen Zug als »Iſrael«, und findet im Gedichte mwenigitens einzelme Situationen dor, deren Inhalt und Färbung das rein menschliche Intereſſe wärmer berührt

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al3 die »egyptiichen Plagen«. Als Ganzes ift freilich Drydens »Aleranders Feit« (1697 gedichtet) To unglüdlih wie möglich, geichraubt in der Diction, in der Form ein Miſchling von Dratorium und Gantate. MWeberdieß der Zufammenhang je weiter deſto unverltändlicher, bis endlich das Hereinſchneien der heiligen Gäcilia in die Griechenwelt ihn völlig außein- anderiprengt. Händel ift am größten und natürlichften in der Belebung bibliiher Geftalten, deren patriarhalifhe Weihe und religiöje Kraft in jeinem Styl die treueſte Färbung gefunden hat. Händel vor Allem in feinem »Verhältniß zum clafji- ihen Alterthum« zu bewimdern, ihn Hierin Shafejpeare und Goethe zu vergleichen, ımd feine Griechenmwelt der Glud- ſchen entgegenzuhalten, al das Richtige dem Falichen das kann wohl nur der befangene Enthufiagmus eines Chryſander. Eine bejondere Charafteriftif des claſſiſchen Alterthums ver— mögen wir im »Timotheus« allerdings nicht wahrzunehmen, wohl aber eine impojante muſikaliſche Fülle und Macht, welche das Werk theilweile an die vollendetiten des Meifters reiht. Wie erichütternd hallt der Trauergefang: »Seht au, den Perſer,« oder der Donnerhor »Brich die Bande feines Schlummers Auch die Arien können wir zum Theil rückhaltslos oder doch unge— trübter genießen, al3 in anderen Werfen dieſes Meifterd. Der contrapunktiihe Styl von Händeld Arien erfcheint und (wie ihon Nägeli ausſprach) Heutzutage nicht mehr der richtige. Die Stimme herrſcht darin nicht als die fingende Seele des Tongewebes, fie befigt an demfelben nur den ihr contrapunktiich zugemeffenen Antheil. Der Baß trägt fie nicht, jondern führt, gemejlen aufs und abjfteigend, ein felbititändiges Leben; die Streih:Inftrumente herrichen mit, und fo wirft die Compo— fition zum Nachtheil der Stimmwirkung inftrumentaliihy. Händel liebt es, das ſchönſte Gejangmotiv nach zwei oder vier Taften abzubrehen und dem Orchefter die Fortfegung zu überlaffen. Mie reizend beginnt die erjte Arie ein »Timotheus: Selig Baar!« und wie bald wird durch die Zwifchenfpiele der Geigen und die rein inftrumental gedachten langen Solfeggien des Sänger? dieſer Reiz abgeftreift. Noch auffallender ift dieſes Berhältniß in der Arie »Der König horcht mit ftolzem Ohre,

Händel’3 »Timotheus« und »Ifrael in Eghpten.« 221

deren contrapunktiiche iteife Beweglichkeit das gerade Gegen: theil des echten Gelangftyl3 bildet. In der Sopran-Arie Nr. 9 berührt uns die anf gleihem Brincip beruhende endlofe Wieder: holung der Worte »er jeufzt und blickt, und blidt und jeufzte geradezu fomifh. Sie weiſt und zugleih am augenfcheinlichiten da3 zweite Element auf, das uns Händels Arien entfrendet: es ift der Mangel einer jchärferen Charakteriſtik. Wir können in den Teßtgenannten Arien wohl einen meijterhaften harmoniſch— contrapunktiſchen Saß erkennen, aber nimmermehr die Begeiſte— rung eines Königs, der »fich ein Gott dünft«, oder die auflodernde Gluth feiner Sinnlichkeit. Der Tenor:Arie »Krieg, o Held, iſt Sorg’ und Arbeit« fönnte man fajt einen Buffotert unterlegen. Unjere Zeit ift an ein ungleich feineres Anfchiniegen des Ge— ſangs an den Tert gewohnt, wie denn auch die Mufif in der Iharfen Audgeftaltung des Charakteriftifchen feit Händel die erheblichiten Fortichritte gemacht hat. Neben diefer überwiegenden Zahl contrapunftiih gedachter Arien finden wir freilich bei Händel eine zweite davon verjchtedene Gattung Arien, in denen Wort und Ton Eins find, und der Gejang aus dem ftarren Seleife der um das Wort unbefiimmerten Contrapunftif her: austritt. In diefen wahrhaft geſangvollen Arien fehlt auch meift der ftörende NRococco-Zierratd von Goloraturen. Wer denkt nicht an die einfach fchöne erjte Arie Samfon’s, »Nacht ift’8 um mich«, an die Arien aus dem »Meffiad«: »Ich weiß, das mein Grlöjer lebte, »Er ward verachtet«, oder in welt: lihem Fah an das »lydiſche Brautlied« und die Baß-Arie »Ha, welche bleihe Schaar!« aus »Timotheud?« Bon allen großen Tondichtern ift vielleicht Händel am meilten das Kind feiner Zeit; ihrem Geſchmack ordnet er ſich unter in feinen Dpern, ihn verläugnet er auch nicht in feinen Dratorien; Die Arien in legteren find denen feiner Opern ganz ähnlich.

Bei Händels Mufik, in der wir, neben Größtem und Ergreifendſtem, Veraltetes und Manierirtes begegnen, fällt uns hin und wieder das fo verbreitete Ariom ein, es fünne das »wahrhaft Schöne« niemals nach noch fo langem Zeitverlauf feine Wirkung einbüßen. Für die Mufit ift dies wenig mehr als eine jchöne Nedensart. Es können fleinere Kunſtwerke, oder

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Theile eines größeren, erhabene Ideen in möglichiter Reinheit jo darftellen, daß die menschliche Fafjung daran verjchwindet. Bon jolden Stüden fann man jagen, fie währen jehr lange: von feinem fann man behaupten, es werde ſich ewig erhalten.

Der Mufifer Schafft frei aus fich heraus. Das Subjective und alle Factoren der Zeit, die eine bejtimmte Subjectivität zufammenfegen helfen, werden demnach ungefefjelt in der Muſik hervortreten, und mit dem durch gleiche hiftorifche und conven- tionelle Momente beitimmten Gefhmad der Zeitgenoffen corre= Ipondiren. Die nächite Generation bringt dem Tonftüd eine andere Bildung, eine andere Stimmung entgegen; was vordem als neu reizte, ift nun ein gelöftes Räthſel; die Mufif aber befigt in der Neuheit der Erfindung die Hälfte ihrer Macht. Sreilih ift die Verfchiedenheit der Lebensdauer auch in der Muſik eine außerordentliche. Nach der Subjectivität der Com— poniften betrachtet, haben die Tiefen, Ernften, Gewaltigen eine ungleich längere Jugend, als die genialften unter den An— muthigen und Zierlichen (Händel, Bach, Beethoven gegen Halle, Piccini, Roffini), Won den Kunftgattungen bewahren die Ge- fäße des Erhabenen und Religiöjen ihre allgemeine Giltigfeit am längiten, weil diefe Ideen am reinjten fich darjtellen Laffen, am wenigſten menschliches Gewand anhaben. Die Kirchenmuſiken der älteren Jtaliener find noch heute von ergreifender Wirkung, während die gleichzeitige weltlihe Muſik, ja ganze Perioden jpäterer Opernmuſik unwiederbringlich abgeblüht find.

ÖOrchefter:Eoncerte.

Die größte und anziehendite Nummer des eriten »Phil— harmonifhen Goncerte« war Schumann’ Es-dur- Symphonie, die einzige diejes Meiſters, welche Wien noch fremd war. Troß ihrer Bezeihnung als »Nr. iſt fie in Wahrheit doch Schumann’s legte ſymphoniſche Arbeit; Die D-moll-Symphonie Nr. 4 war, wie ihre jugendliche Friſche auf den erften Blick zeigt, weit früher erfunden, und hat nur durch nachträgliche Neu-Inftrumentirung und Herausgabe ihre

Schumann’s Es-dur-Symphonie, 233

jpätere Reihung erhalten. Die Es-dur-Symphonie, oder die »Rheiniſche«, wie fie nach ihrem Geburtslande oft genannt wird, fteht Hart am Eingang zu Schumann’3 dritter Periode. Wenn auch ihre Lichtjeiten glänzend vorherrichen, fo vericheuchen fie doch nicht gänzli” manchen vorüberhufhenden Schatten, der auf de Meiſters letzte Zeit hindeutet. ES find dies Augen blide müder Abſpannung, oder eigenfinnigen Imfichbrüteng, oder endlich eine mwunderlihen Spielend mit harmoniichen Meſſern und Dolchen. Die Stimmung und Wirkung des Ganzen ift davon wenig beirrt. Kräftig, entichieden tritt der erfte Sat mit feinem majfiven Thema auf, das jedoch bald in dem janft flagenden G-moll-Motiv einen reizenden Gegenſatz erhält. Der Sat geht, ohne Wiederholung des eriten Theils, in Einem frifhen Fluß zum Ende. Das reizende Scherzo jtellt ſich durch die etwas grapitätiiche Anmuth feines Themas beinahe an die Stelle des alten Menuetts. Als Trio dieſes ſonnen— hellen Scherzos fungirt ein feltfam verjchleierter Mittelfag ; an 30 Takte lang hält er in der Tiefe den Grundton C feft, der orgelpunftartig ein künſtlich verjchlungenes Gewebe von A-moll- und F-dur-Harmonien trägt. Der am wenigſten eigen: thiimliche Theil des Werkes tft das Andante. In fanfter ein: heitliher Stimmung fließt e8 ohne innere Gegenfäge ſacht vorüber. Es erinnert direct an Mendelsfohn, ein Symptom, da3 bei Schumann faft unfehlbar ein Ermatten der jchöpfert- Ihen Kraft andeutet. Zwiſchen diefem dritten Sag und dem Finale fteht ſeltſamerweiſe als vierter Sab ein jelbititändiges Adagio in Es-moll. Gebundenen Styls, in feierlich düſterer Pracht einherwogend, erinnert e8 an den mächtigen Tonſchwall einer aus allen Regiſtern erbraufenden Orgel. Im Verlauf wirft eine abgeriſſene Achtelfigur der Bäffe fich wiederholt dem majeftätiichen Fluß des langſamen Themas entgegen, das je: doch in unbeirrter Ruhe darüber hinwegſtrömt. Die Bedeutung des ganzen Satzes an dieſer Stelle iſt ſchwer zu verftehen. Mir wiſſen zwar aus Schumann’: Biographie, daß er Anz regungen zu diefer Symphonie aus dem Anblid des Kölner Doms und eines fatholiihen SKirchenfeftes gewonnen haben jolf. Er Hatte fogar den vierten Sat ursprünglich überjchrieben:

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»Im Charakter der Begleitung einer feierlichen Geremonie«, diefe Aufichrift jedoch ſpäter mit der treffenden Bemerkung wieder geftrihen: »Man müfje den Leuten nicht das Herz zeigen; ein allgemeiner Eindrud des Kunſtwerkes thue ihnen beffer; fie ftellen dann wenigſtens feine verfehrten Vergleiche an« Allein auch mit jener factifhen Mittheilung iſt wenig gewonnen, denn wir verlangen, vollfommen übereinftimmend mit Schumann’3 eigenen Grundfägen, daß Sinn und Bedeu— tung jedes Satzes mufifalifch einleuchten müffe. Daß Es-moll- Adagio ſcheint uns aber für eine Symphonie, die, wie Die vorliegende, eine kräftige Weltlichkeit athmet, zu fremdartig, ftarr und ſchwerflüſſig. An ſich charaktervoll und geiftreich, muß dag Stüd in diefem Zufammenhang mehr befremden al3 befriedigen. Der fünfte und Iekte Satz der Symphonie ift ein jchneller Viervierteltakt, deſſen rüftige Heiterkeit ung beinahe vergefien macht, dab ein jo groß angelegte® Werk einen be- deutenderen Abſchluß verdient und verlangt hätte, Im Cha: rafter correipondirt das Finale auffallend mit dem eriten Sat, während jedoch diefer durch die häufigen Synkopen eine ſcharfe und herbe Rhythmik erhält, läßt jenes in feinem eigenfinnigen Selthalten der Zweier-Rhythmen den Mangel an reicher Be: wegung fühlen. Hier wie dort liebt es Schumann, mehr ein Motiv als ein Thema durchzuführen, und zwar mit einer Con— jequenz, die biß zum Herben geht. Nirgends aber Hört er auf, markig und originell zu fein.

Die »Maurerifhe Trauermufif« von Mozart, in Styl und Ausdrud an die langjamen Sätze im »Requiem« er: innernd, iſt eine wenig gefannte, aber nicht weniger foftbare Neliquie des großen Meiſters. Neben dem tiefen Eindrud, den dieſe Muſik durch ihre reife, edle Schönheit unmittelbar her: vorbringen muß, bietet fie ung noch ein ſpecielles biographiiches Intereſſe. Sie führt und in dem großen Componiſten zugleich den Freimaurer vor. Mozart mußte fich mit ganzem Herzen einer Verbrüderung anfchließen, welche die Förderung allge meiner Menfchenliebe, Duldung und Aufklärung fih als Ziel vorgefegt hatte. Die Freimaurerloge, der Mozart angehörte, bieß »zur gefrönten Hoffnunge. Für fie hat Mozart mehrere

Schubert Bearbeitungen von Lifzt. 295

Gelegenheits-Muſiken gejchrieben, von denen die bedeutendfte eben die aus dem Sahre 1785 ftammende »Trauermufit bei dem Todesfalle der Brüder Medlenburg und Eszterhazy« ilt. Gerne ſahen wir und durch die Aufführung diejer feierlich erniten Todesweiſe daran erinnert, daß Mozart, jo ausſchließlich er feiner Kunſt Iebte, und nur für fie leben wollte, doch den Gulturbeftrebungen eng verbündet war, welche jeine Zeit, freilich in wunderlichiter Form, als die echteſten und höchſten pflegte.

Liſzt's Inftrumentirung des »Reitermarſches« von Schu: bert (Nr. 1 aus op. 121) ift ein fleines Meiſterſtück. Ge— hört diefer March durch feine lebendige Rhythmik und durch die Melodie des Trio ſchon in feiner bejcheidenen Urgeftalt zu Schubert’3 liebenswürdigften Kleinigkeiten, jo ift er jeßt zu neuer Pracht erblüht. Liſzt hat hier jeine glänzende Orcheiter: technik, feinen feinen ausgebildeten Sinn fir Klangfarben und Klang-Effecte jo glücklich verwendet, daß er daS befannte Lieblingsſtückchen uns fait als ein neues Geſchenk dargebracht hat. So wenig Lifzt die Schubert’iche Melodie zu erfinden vermöchte, jo wenig hätte Schubert’3 injtrumentale Technif es mit diejer Leiftung Liſzt's aufnehmen fünnen. In glänzender Behandlung des Orcheſters, wie in geiftvoller Gombination von Clavier— Effecten wirkt Liſzt's Talent beinahe ſchöpferiſch. Hier liegt, nach unferer Meinung, das eigenfte, fruchtbarite Feld feines Wirkens. Wie jehr Liſzt durch diefen Zweig feiner Thätigfeit namentlich zur Verbreitung Schubert’3 beigetragen, iſt be— fannt. Das »Gefellichaftsconcert« brachte dafür noch einen zweiten werthvollen Beleg: die ſymphoniſche Bearbeitung von Schubert’ Clavier-Phantaſie, op. 15 in C-dur. Hier fand Liſzt eine ungleich jchwierigere und Doc weniger danfbare Aufgabe vor. Reich an melodiichen Reizen und genialen Einzel: zügen, leidet diefe Phantaſie ald Ganzes doch empfindlich durch die außeinanderfallende mufiviiche Form, die mehr oder min der allen größeren Inſtrumentalwerken Schubert’3 eigen iſt. Sn feiner Urgeftalt gibt fih dies Stüd mehr als das freie Ausitrömen einer während des Spieles jelbit immer erneut producirenden Phantaſie, verwahrt fich demnach gegen die For:

Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl. 15

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derungen einer geſchloſſenen Form. Durch die ſymphoniſche Be— handlung in diefen Ansprüchen gefteigert, legt man Hingegen unmilltürlih den Maßſtab eines Concertes an, dem wohl der prächtige Anfang und das fugirte Schlußallegro, nicht aber die breite Mitte mit ihren Liederchen fi fügen mag. Dennoch liegt in der Anlage der Schubert’ihen Nhantafte Vieles, mas gerade zur Orcdeitrirung herauöfordert. Sehen die Paſſagen des Cis-moll-Saßes nicht aus wie ein Schmud, der erft von dem feiten Körper einer Orchelter-Melodie getragen werden joll? Deutet nit das Prefto in As-dur den Wechjel zwiſchen Piano und Orcefter förmlih von zwei zu zwei Taften an? Die Be- arbeitung bat fih (bis auf die Hinzufügung einer Kleinen bejheidenen Gadenz) ftrenge an den Inhalt des Driginald gehalten, natürlich bei reicherer, vollgriffiger Behandlung des Glavierd, das ſonſt dem Gegengewicht ded ganzen Orcheſters unterliegen müßte. Nichts anziehender als die Vergleichung des ſchlichten Original® mit der (bei Spina geitochenen) Orcefter-Bartitur; Lifzt hat fi) darin abermals als geiftvoller Bearbeiter und großer Colorift erwiesen.

Wir hörten bald nachher noch einen zweiten von Liſzt orheitrirten Marſch Schubert's. Kühn und dabei leichtbe- flügelt, im Trio zärtlih fingend, glanzvoll und ſtürmiſch im Abſchluß! Das Original (Nr. 5 aus den vierhändigen »Sechs Märichen«, op. 40) kann allerdings dem »Reitermarſch« nicht gleihgeftellt werden. Aber mie Elingt das in Liſzt's In— jtrumentirung! Wir müßten volljtändig wiederholen, was wir vorher bewundernd über die Lilzt’sche Orcheitrirung berichteten. Genug, Schubert jelbit hätte geftaunt. Scheint e& doch kaum möglich, in Eleinftem Rahmen jolchen Glanz des Colorits zu entfalten, fo viel Zartheit neben jo ftürmijcher Kraft, fo geiſt— reihe Details bei folcher Einheit der Totalwirkfung. Dabei will der glänzende Schmud, welchen Liſzt dem einfachen Clavierſtück umgethan, nirgends für fich, nirgends mehr gelten, al das Geſchmückte jelbit; es it ein Werk aus Einem Guß. Eigentlich ein Kleines Ideal von Compagnie-Arbeit, eine ſolche nämlich, die feiner der beiden Künſtler allein hätte hervor: bringen können.

Symphonie von Schubert. Eoncertftüd von Volkmann. 297

Ungleich geringer war der Erfolg von vier »Fragmenten«, welhe man aus Schubert's nachgelafienen, noch ungedrudten Symphonien gewählt und gleihlam zu Giner Symphonie zu— jammengeftellt hatte. Die beiden erften Säge find einer Sym— phonie entnommen, weldhe Schubert als 19Yjähriger Jüngling componirt und die »Tragiiche« genannt hatte. Sie hiege wohl bejier die »Pathetiſche«; pathetiich in dem felbitbewußten, Leiden: Ihaftlihen Tone der Cherubini'ſchen Ouverturen ift nament— lich der erite Satz. Nicht eben selbititändig oder glänzend in der Erfindung, weiſt er doch ein reifes mufifalifches Gefühl, Dabei ein präcifere® Zuſammenfaſſen der Form auf, als die jpäteren Inftrumentaljachen des Meiſters. Das Andante bringt in Mozart'ſcher Ausdrudsweile manchen eigenthümlich Schus bert'ſchen Gedanken; fchade, daß die janfte einheitliche Em— pfindung des Stückes (überdies durch Rofalienfetten und Aehn- liches) über Gebühr breitgezogen wird. Das Scherzo, neun Jahre fpäter componirt, äußert bereit3 den vollen, gegen Schubert faft übermädtig einftürmenden Einfluß Beethoven’. Die anregende Wirkung dieſes lebensfriſch pulfirenden Sakes, wird nur durch feine allzu jtarfe Neminiscenz an das Scerzo in Beethoven’3 A-dur-Symphonie, dann durd ein Trio geftört, deſſen langjam rucdmweifer, an Automaten mahnender Rhythmus und in einige WVerwunderung fette. Das Finale iſt wieder ein Werk der Jugend (1815) und ihres vergnügt lärmenden Thaten- dranges, der fich regt und bewegt, ohne fih noch um Biel und Erfolg Großes zu kümmern. Niemand wird ohne Rührung, ohne Staunen dieſe Blüthen eines jo früh und üppig produ— cirenden Talentes betrachtet haben. Ob fie ohne dies perſön— liche und Hiftorifche Intereffe blos durch ihren abjoluten Werth nachhaltig zu wirken vermöcdten, wollen wir nicht enticheiden.

Auf das Angenehmite überrafht uns Volkmann's neues ‚Goncertftüd für Piano und Orcheſter«. Endlich doch wieder ein neues Werk, mit dejjen Verdienjt wir und nicht durch die Worte »geiftreich« und »interejlant« abfinden müfjen! Geiitreih it Volksmann's GCompofition allerdingd, und ins terefiant in hohem Grade; aber fie iſt weit mehr als dies. Sie iſt durch und durch mufifalifch, der freie Ausfluß eines

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feingebildeten, echten Talents. Sie bietet und feinen falten Raritätenfaal von Combinations-Wundern, jondern in plajtiich gegliedertent Leib eine fingende Seele. Die melodiihe Er: findung ift, wenn auch nicht üppig, doch ſpontan und eigen: thümlih; der Bau, das Detail, die Inftrumentirung verrathen die erfahrene mählerifhe Hand des Meiſters. Eine köſtlich inftrumentirte, langfame Ginleitung, deren jchmerzliche Klage an ungariihe Weiſen anklingt, führt zu einem äußerft finnigen Thema mit Variationen; Schumann könnte es gejchrieben haben. Gleihfalld3 in unmittelbarem Anſchluß, und ohne den alterthiimlihen Formalismus der »Cadenz«, folgt ein raid) dahinperlendes Allegro. Gegen das Frühere fällt diefer Schluß: fat dadurch ab, daß der Poet hier allzu höflich fich hinter den Pirtuofen geftellt hat. Das Paſſagenwerk übermwuchert den ſelbſtſtändigen Gedanken und erinnert damit an eine ältere Epoche der Eoncert:Gompofition. Doch bewahrt der Sag auch unter dem Dichteften Brapourflitter feine vornehme, cha— raftervolle Haltung. An die Virtuofität des Pianiſten ftellt das »Concertſtück- jo hohe Anforderungen, daß Herr Dachs ihnen nicht durchweg genügte.

Das zweite »philharmoniſche Concert« eröffnete die Duverture zu Cherubini's Oper: »Die Abencerragene, ein Tonſtück, das troß einiger veralteter, echt Cherubini’jcher Eigenheiten, durch feinen leichten ritterlihen Schwung erfreut. Daß tragiihe Schickſal des edlen mauriichen Fürftengeichlechts, wie ed die Sage und Chateaubriand’3 Novelle »Le dernier des Abencerrages« jchildert, findet zwar in der Duverture feine entiprechende Größe. Allein ſeit Cherubini's Opern leider zu einer bloßen Berforgungsanftalt für Goncerte herabgedrüdt find, ift uns auch die Beziehung ihrer Duverturen zu den dramatiihen Stoffen fo gut wie entichtwunden, und fo fünnen wir im vorliegenden Fall uns ihrer rein muſikaliſchen Friiche und Abrundung ungetheilt erfreuen.

W. Gade’3 vierte Symphonie in B-dur machte den an- genehmiten Eindrud. Wir ziehen fie ihrer berühmteren Schweiter in C (Nr. 1) vor, im welcher der Ueberſchuß des poetiichen Elements über die techniiche Gewalt den Kunſtwerth beein:

Symphonie von Bade. Elegiiher Geiang von Beethoven. 229

trächtigte. In der B-Symphonie bringt ung Gade alle Vor— züge feiner poetiihen Natur, während frühere künſtleriſche Mängel (die formloſe Ueberſchwänglichkeit, die mufiviichen Durhführungen, die Neminiscenzen an Mendelsjohn) ungemein gemildert erſcheinen. Weder groß, noch hinreißend, aber recht eigentlich »Tiebenswürdige muß man ein Werk nennen, aus welchem ein feiner Geift, ein warmes Gemüth in maßvollem, gewähltem Ausdruck zu uns fpriht. Die Beſchränkung, welche der Componift in den Themen und dem Umfang der Süße fich auferlegte, ift dem Werke zugute gekommen. Es erreicht in feiner harmonischen Abrundung alle® was es erreichen wollte. Gade ift eine echt mufifaliihe Natur, wie ihon Schumann iherzend aus deſſen Namen deducirte, der gleichſam quinten- weije geftimmt, die vier Saiten der Bioline (g, a, d, e) repräjentirt. Was ihm in der Folge geichadet hat, waren die übermäßigen Hoffnungen, die man an jein erites Werk, Die Oſſian-Ouverture, fnüpfte. Die Welt Tieß e8 dem jchuldlos leberfhäßten entgelten, daß fie ein liebenswürdiges, aber be: grenztes Talent für ein epochemachendes Genie angejehen hatte. Werke von dem echten, beicheidenen Duft der B-Symphonie [oben wir lieber zu viel als zu wenig, in einer Zeit, wo faum mehr Jemand ein Orcheiterftück fchreibt, ohne den feiten Vorſatz, Beethoven unbedingt zu überbieten.

Die einzige Gejangönummer im zweiten philharmonijchen Concert war Beethoven’ »Elegiiher Gejang« (vier: ftimmig, mit Streihinitrumenten). Wir zählen nicht zu den Ver: ehrern diefer zwar £laren, würdigen, aber keineswegs ideenreichen, nicht Beethoven’schen Compofition Beethoven’d. Trotz der hohen Opuszahl 118 möchten wir diefelbe für ein früheres Gelegenheitsſtück des Meiſters halten, wie denn gerade unter den Bublicationen jeiner legten Jahre ſich viele finden, die auf Sugendarbeiten hinweiſen und mit den wirklichen Schöpfungen der »dritten Periode« feine Aehnlichkeit haben *).

*) Dahin gehören 3. B. die Geſänge op. 108, 112 (oder 119), 118, 121, 122, 128; die Variationen op. 105 und 107, das Rondo op. 129 u. a.

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Eborvereine.

Die Aufführungen der Sing: Afademie haben den be— ionderen Reiz, in ihrer eriten Abtheilung recht eigentlich »hiltoriiche Concerte« zu fein. Zu den jchönften Aufgaben folder Chorvereine gehört es ja, aus früheren Jahrhunderten die ehrwürdigen Meifter heraufzubeichwören, die im Glauben. und in der Kunſt gleich aroß daftanden. Die alten fatholiichen Meilter: Paleſtrina, Orlando di Laſſo, Gabrieli; die jpäteren Italiener Leo, Durante, Lotti; die tönenden Säulen des Pro: teitantismus, Eccard, Schüß, Sebaftian Bad, fie alle find und jeit dem Wirken des »Singvereind« und der »Sing— Akademie« feine bloßen Namen mehr. Sie haben lebendig individuelle Phyſiognomien bekommen, die bereit anfangen, auch dem größeren Publicum fich einzuprägen, in beitimmter Weile zu wirken und immer zahlreichere Verehrer zu gewinnen. Vor schn Sahren noch wäre ein Programm, wie das lebte der Sing-Atademie, eine Unmöglichkeit geweſen. Set, wo durch eine conjequente ernite Richtung jo viel gefichert ift, müflen die Ge— jangvereine allerding® noch auf der Huth fein, die freudige Empfänglichfeitt des Publicums nicht durch allzuviel Fremd- artige3 abzuſchwächen. Man darf es weder ignoriren noch tadeln, wenn eine größere Verfammlung, nad) aufmerkffamen Anhören alter Kirhenchöre, mit einiger Begier nad) den welt- lihen und modernen Nummern am Ende des Goncertzettel? hinüberblicdt. Wir find nun einmal, jo entjeglicd) dies Elingt, moderne und weltliche Menſchen. In der Kunſt ſympathiſiren wir wärmer mit dem poetiichen als mit dem kirchlichen Intereſſe, und erbauen wir uns auch gerne durch künſtleriſche Wallfahrten nah den verlaflenen Stätten früherer Jahrhunderte und dort umgetheilten Herzens anzufiedeln, vermögen wir nicht mehr. Auch weit größeren Zeiten gegenüber erfcheint unsere Zeit und doch immer als die beite, und ganz vermag und nur Die Kunſt auszufüllen, welche durch den gemeinfamen Strom unferer Ideen und Empfindungen hindurchging. Warum wir unverſehens für das Moderne plaidiren, nachdem wir eben die Errungen:

5. Bad. 49. Bialm. 231

schaft des Alten geprieien? Weil ein Verſchieben des bisherigen Gleichgewichts in den Chorconcerten und gegenwärtig noch ge: fährlich dünkt.

Das Concert begann mit Seb. Bach's 49. Pſalm für zwei Chöre. Die Wirkung dieſer Motette ſtand in keinem Ver— hältniß zu der außerordentlichen Mühe, welche die Sing— Akademie darauf verwenden mußte. Der Chor ſetzte feſt ein, gerieth aber bald in merkliches Schwanken. Todesmuthig kämpfte er ſich durch die erſten Abſätze bis zu dem Choral, dem von Sängern und Hörern gleich erſehnten Ruhepunkt, um von da wieder erſchöpft die Laſt der athemverſetzenden langen Solfeggien des Schlußſatzes aufzunehmen. Man mache nicht die Sänger verant— wortlich für den faſt beängſtigenden Eindruck, den die Motette in ihrem erſten und letzten Dritttheil hervorbrachte; die beſten Sänger der Welt werden hinter dieſer Aufgabe zurückbleiben. Muſikaliſche Maſchinen von ſo und ſo viel Sängerkraft müßte man haben, um ſolchen ſtimm- und noch mehr chorwidrigen Satz präcis durchzuführen. Beim Studium der Partitur werden wir bewundernd in diejen großartig gedachten, kunſtreich ge: thürmten Bau uns verjenfen, wir fönnen uns allenfall® au einer Ausführung desfelben durch Orgel und Streid-Inftrumtente erbauen; allein es flieht uns jeder Genuß, wenn wir eine große Zahl Menfchenftimmen in athemlojer Halt an Dielen contrapunftiichen Rieſenleitern auf» und niederflettern jeher. Das Biel diefer Anftrengungen wird dem Hörer weder muſikaliſch noch poetifch ar, weil das inftrumentale Figuriren der Choritimmen es unmöglich macht, dem mufifaliichen Grunde gedanfen zu folgen oder auch mur eine Eilbe vom Tert zu veritehen. Wir fennen die Gefahr, jahrhundert alter Größe gegenüber etwas anderes als jtaunendes Entzüden zu äußern, ım den Preis unſerer Aufrichtigfeit wollen wir jedoch diefer Gefahr niemals entgangen fein. Aus der tiefjinnigen, aber verwirrend ımruhigen Gothif der Bach’ichen »Motette« traten wir in Baleftrina's »Stabat« und Lotti's »Crueifixus« wie in einen weiten romanijchen Tempel ein, auf deſſen flaren, ruhig gegliederten Mailen das volle Sonnenlicht jpielt. Zwei anmuthige und äußerſt chavakteriftiiche Frauenhöre von Schu—

232 1860.

mann, »Die Tamburinihlägerin«e und »Der Waſſer— mann«, mußten unter lebhaften Beifall wiederholt werden. Ein groß angelegter, etwas jchwerfällig motettenhaft gehaltener achtitimmiger Chor von Schumann, »Talismane«, vermochte und nicht zu erwärmen. Der Componiſt hat den Schönen Sprud) Goethe’, den hier die breite Behandlung faſt erdrüdt, in früheren Jahren (op. 25) weit ergreifender als ein einfaches Lied componirt.

Singverein.

Die größte Nummer war Schumann’ Ballade: »Der Königsjohne, eine nicht blos jchwächere, jondern unſeres Erachtens geradezu troftlofe Compofition. Sie entftand im Sahre 1851, faſt gleichzeitig mit der jo viel friiheren und bedeutenderen »Bilgerfahrt der Nojee. Von den zahlreichen Verſuchen Schumann’s, der Balladen-Compofition eine neue, großartige Form zu Schaffen, ſcheint uns dieſer »Königsſohn« der unglüdlichfte. Es iſt die Uhland'ſche Ballade, welche hier unverändert, nur mit Hinzufügung einiger breit abjchließender Strophen (Lied des blinden Sängerd und Schlußchor) in Mufif geſetzt iſt. Schon die Aufbietung aller Chor: und Orcheiter: mittel erjcheint für den Stoff etwas unverhältnigmäßig; noch befremdender wirft die mufifaliihe Ausdrucksweiſe, für welche dieje Mittel hier Verwendung finden. In tpröder declamatorifcher Abhängigkeit folgt die Mufif den Morten ded Gedicht durch) lange Streden, ohne zu einer ausgeführten Melodie, einer ge= ihloffenen mufitaliihen Form fih zufammenzufaffen. Derlei rhethoriſche Halbmufit ift natinlih im ganzen Chor weit be— fremdender und unzuläffiger, denn als Recitation Einer Stimme, wie bei R. Wagner. Der erite und fait einzige Lichtpunft der umfangreichen Gompofition ift der Chor: »Heil uns!«, wo der muſikaliſche Gedanfe fich endlich in einer feiten, einheitlichen Form ausführt, nachdem er bisher wie heimatlos über dem Dcean flatterte. Das Grundübel der ganzen Conception liegt in der fortwährenden Vermengung des Epiichen und des Dra—

Chöre von Schumann, Schubert unb Mendelsſohn. 233

matiſchen. Wenn ſchon die »Peri« ftellenweife unter dem Uebelſtand leidet, diefe Elemente nicht Scharf auseinanderzuhalten, wie viel empfindlicher berührt er uns bier, wo den Meilter be— reitö Die reihe Schöpfungsfraft jener Zeit verlaffen hat und Die mufifaliihe Ausführung nicht mehr Reiz genug befigt, über das Bedenkliche der ganzen Anlage zu täufchen oder zu tröften. In der Aufführung durch den Singverein (bei Clavierbegleitung) ging überdies die reihe Mannigfaltigfeit der Orceiterfarben verloren, welche im Original manche dürre Stelle friſcher und duftiger ericheinen laſſen.

Bon Franz Schubert hörten wir einen ganz unbedeutenden, furzen »Soldatenhor« aus dem Singipiel »Der vierjährige Poſten« (1815) und ein angeblihes »Lied« mit Clarinett- Begleitung »Der Hirt am Felien«e. Der erite Theil dieſer lyriſch-dramatiſchen Monodie iſt noch ganz liedmäßig und erfreut durch einige ſehr hübſche Motive. Allein je weiter, deito raft- loſer vernichtet der Componiſt diejen Eindrud, indem er die freundlide Hütte allmälig zum Palaſt auszubauen verſucht. Auf einen pathetiichen, dabei etwas ärmlichen Mitteljug folgt ein ganz opernmäßiger Schluß mit ermüdenden Wiederholungen, Paſſagen und Cadenzen, alles jo wenig vornehm als möglich. Beinahe möchte man am Ende fragen, ob dies wirklich Schubert jei? Wir müjjen uns gewöhnen, unter den Werfen dieſes überreichlich fruchtbaren Tondichters »Pietätsſtücke« und »ſchöne Gompofitionen« zu unterjcheiden. Für einige Zeit hinaus hätten wir in der »Pietät« Ausreichendes geleiftet. Mit den gedachten zwei Stüden hat der »Singverein« weder für Die Erbauung des Hörer noch für die Verehrung Schubert’s geforgt. Gottlob, daß wenigſtens mit der Gompojition des Grillparzer’ihen »Ständchen's« auh der echte Schubert vertreten war.

Als Novitäten erfchienen zwei Chöre von Mendelsjohn: »Die Nachtigall«, ein furzer, aber ftimmungsvoller Sa, dann ein ſtrophiſch behandeltes, friſches und äußerit zierlich ausge— arbeitetes Tonſtück, betitelt: »Die Waldvöglein.«

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KHammermufiß.

Hellmesberger’3 fünfte Quintett-Soirée eröffnete mit Schumann’3 zweiten Streichquartett (F-dur). Dieje wunderbar ihöne Tondihtung, in welcher üppige Erfindung und tiefiter Kunitverftand ſich das Gleichgewicht halten, fand eine bes geilterte Aufnahme. Je häufiger dem Publicum der duftende Kranz Schumann’iher Kammermuſik gereicht wird, deſto lieber muß ihm jede einzelne Blüthe desjelben werden.

Schubert’ bekanntes Streihquintett madte den Schluß. Es vereinigt alle Vorzüge und Mängel Schub ert’jcher Initrumental-Compofition in einem vollftändigen Mikrokosmus: die üppigfte Fluth melodiſcher Erfindung, und fein Verfiegen gegen dad Ende; himmlische Anfänge, Mittelfäße, in welchen die genialften Aufflüge mit Momenten peinlichiten Sitenbleibens wechſeln, und ſich in der Unmöglichkeit, zu rechter Zeit zu Ichließen, vereinigen; ein eriter Sat voll Geiſt und Leben, ein entziikendes Andante, hierauf ein ſchwaches Scherzo, ımd ein Finale, das halb jo trivial, noch immer »volksthümlich« genug wäre. Zwiſchen diefen befannten, jtets neu willfommenen Werfen ftand ein Elavier:Trio in B-moll von Robert Volkmann. Mir vermögen diefem Werke leider nicht das gleiche Lob zu zollen, wie dem neuen Slavierconcert des geehrten Componiſten. Er drängt uns diesmal in der That zu den Ausdrüden »geiſt— reich und intereſſant« Das Trio iſt geiltreih mit einem Beigeſchmack mifanthropifhen igenfinns, intereffant mit ſtellenweiſer Weberbietung ins Gegentheil. Wir unterfchäßen niht die große pathetiihe Anlage und fräftige Steigerung im eriten Sab, nicht das zart erfundene und finnig ver: Ihlungene As-dur-Thema des »Mllegretto«r, auch nicht Die bedeutenden Lichtblidde, welche die wirre Flucht des »Finales« unterbrechen. Allein die Freude daran wird uns durch jenes Gebahren verfümmert, welches die modernite Schule als das »Sprengen der muſikaliſchen Feileln und VBordringen an die Grenzen ſprachlicher Beſtimmtheit« feiert. Bald wird der muſikaliſche Fluß plöglich recitativartig unterbrochen, bald durch

Trios von Volkmann und Bargiel. 235

ganz unerwartete Gadenzen, Uebergänge, Pauſen die Eurpthmie der Theile geitört, bald einem fleinen, geringfügigen Motiv durch zahlreihe Wiederholungen und Steigerungen eine dem Hörer umbegreiflihe Bedeutung zugelproden u. f. w. Gegen Eigenthümlichkeiten der Form (tie der Ausgang des raschen Finales in ein Largo) würden wir nicht? einwenden, wenn fie ung mufifaliich Elar und wirkſam erjchienen. Solche Muſik macht und manchmal den Gindrud, als wollte der Componift uns eigentlich eine interefiante Novelle erzählen; wir horchen mit Spannung, können aber nicht enträthieln, was er meint. Dazu dieſe maß- und gnadenloje Verzweiflung, welche das ganze Werk beherricht! Man würde fih faum wundern, wenn nad diejem Trio anſtatt der üblichen Erfriichungen geladene Revolver und Cyankali-Gläschen ſervirt würden.

Das Trio ift fein neues Werk Volkmann's. Es trägt die Bezeihnung op. 5 und iſt obendrein Franz Lijzt gewidmet. Wir haben es alſo mit einer Arbeit zu thun, deren Vor— führung durch künſtleriſchen Ernſt und durch große Einzel: ihönheiten gerechtfertigt wird, die aber demmmgeachtet nicht mehr geeignet ift, den gegenwärtigen Standpunkt des Come poniſten zu bezeichnen. Wer Volkmann's neueſte Tondichtungen fennt, wird uns mit Freuden beiftimmen.

Neu war ein Glaviertrio von MWoldemar Bargiel. Der Componiſt (ein Stiefbruder Clara Wieck's) hat jich bereits durh einige, Arbeiten ernfterer Richtung vortheilhaft bekannt gemadht. Das Trio felbit konnte uns feinen günstigen Eindrud hinterlaffen. Die große Anlage des eriten Satzes, die ftellenweije glüdlihe Behandlung der Technik, manche veriprengte Züge von Geift und Empfindung vermochten uns für die Unerquid: lichkeit des Ganzen nicht ſchadlos zu halten. Bei fehr fpärlicher Erfindung erfchien und die Sucht, überall bedeutend und originell zu fein, doppelt läſtig. Natürlichen Verbindungen und Ab— Ichlüffen wird faft abfichtlich ausgewichen, ſei es durch rhapſodiſche Unterbredungen oder (wie im Finale) durch einen unmotivirten Wechſel fchneller und langſamer Bewegung. Auffallenden Nach— ahmungen Beethoven's und Schumann's begegnen wir häufig, fonnten aber nicht finden, daß ſchwächliche oder geradezu triviale

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Gedanken (wie das Hauptmotiv des Finale) dadurch wejentlich gehoben wurden.

Mir möchten über ein Werk, das offenbar mit nicht ge- wöhnlihem Ernft und Fleiß gearbeitet ift, keineswegs nad ein— maligem Hören aburtheilen; wir geben nur den fubjectiven Sindrud, den wir davon empfingen. In dieſem Totaleindrud waren aber die Factoren des Gejpreizten, gefünftelt Genialen zu vorherrſchend, als daß eine genauere Befanntihaft uns wejentlich befehren dürfte.

Stockbaufen.

Stockhauſen vollbradte vor feiner Abreife noch das Wunder, an einem warmen Maiabend das Innere des Mufik- vereinsfaales einem wohlbefradhteten Sklavenſchiff ähnlich zu machen. Seine Kunſt in Ehren, aber allein hätte er dies Unerhörte doch nicht bewerfitellig. Dazu bedurfte er eines Alliirten, der die Herzen der Wiener wehrlos findet, wie fein Zweiter: Franz Schubert’s. Die Verehrung des Wiener Publicums für dieſen Tondichter hat eine eigenthümliche, faft verwandtichaftlihe Zärtlichkeit. Mag fie Hin und wieder (namentlid in Sreijen, deren Erinnerungen mit Schubert jelbit verflochten find) etwas zu weit gehen, und ohne ftrenge Unter— icheidung auch die ſchwächeren MWerfe des Lieblings vergdttern, als künſtleriſche Gricheinung im Großen und Banzen kann Schubert faum überfchägt werden. Das Programm von Stod: hauſen's Abjchiedsconcert hatte Schubert allein beftellt: der Eoncertgeber jang nämlich den ganzen, aus zwanzig Liedern beitehenden Cyklus »Die ſchöne Müllerin.« Es ift dies ein Experiment, das unferes Wiſſens zum eritenmal von Stod:- haufen vor drei Jahren gewagt wurde, und zwar mit voll: ftändigem Erfolg. Wir haben damals das Beitechende, Glänzende diejes Einfalls lebhaft anerkannt. Fürs erfte wurde dadurch dem Bublicum eine unfchäßbare Anfhauung von dem Zufammenhang eines Werkes gegeben, das in vielen Theilen allbefannt, in anderen auffallend zurüdgefegt iſt. Sodann erzielte Der

Stodhauien. 237

Sänger durh dieſen Zujammenhang den wichtigen Bortheil, das bisher nur lyriſch Vereinzelte auch einmal dramatiſch auffaſſen zu fönnen. Demungeachtet erſcheint eine öftere Wieder: holung de3 Erperiment® kaum rathjam: die Nachtheile eines ſolchen lyriſchen Monftreconcertes treten empfindlich herbor, fobald der Reiz der Neuheit fie nicht mehr dedt. Der enge Kreis, in dem Dichter und Mufiker ihre idylliſchen Bildchen ausführen, muß eine vollitändige Abrollung derjelben allmälig monoton werden laſſen. Die »Müllerlieder« gehören zu dem Schönften, was Schubert gefungen, alfo was die deutſche Muſik überhaupt befigt. Müßte man einen Theil diejer Lieder bevor: zugend herausfuchen, die Wahl wäre überſchwierig; jollte man Ihmwächere ausſcheiden, würde fie es im entgegenjegten Sinne gleichfalls. Allein die Liebe des guten Müllerburichen in all ihren zwanzig Stadien ununterbrochen mitzumachen, das hat fein Ermüdendes. Wer müßte dies Schwelgen in lauter zarten, rührenden Empfindungen nicht am Ende mit Ermattung bezahlen? Dazır kommt, daß die frifch und mohlgemuth anhebende Ge— ſchichte alsbald einem unglüdlihen Ausgang zufteuert, und die Miühlräder nachgerade von einer Thränenfluth getrieben werden. Die Dichtung geräth aus warmer, ungejchminfter Empfindung häufig in faliche Sentimentalität. Wenn es gegen das Ende jo weit fommt, daß »der Mond fich hinter die Wolfen verftedt, damit die Welt feine Thränen nicht ſehe«, und daß die »Englein fih alle Morgen die Flügel abichneiden, um zur Erde zu gehen«, dann darf wohl jelbft der »gemüthliche« Biedermanı ungeduldig werden. Kurz: je mehr der Hörer im Verlauf des Cyklus nad) kräftigen Gegenfägen ſich jehnt, defto tiefer tauchen Dichter und Componift an derjelben Stelle in den grundlojen See janft Shmerzliher Empfindung.

Stodhaufen’3 edler, feingebildeter Vortrag der Schu: bert’jchen Lieder ift bekannt. Mochte man auch hier mehr Kraft und Feuer, dort eine etwas realiftifhere Färbung wünschen, das Ganze blieb echt fünftlerifch; einzelnes, das eine nuancirtere Auffaffung zuläßt, wie »Eiferfucht und Stolz« u. a., geradezu vollendet. Herr Dachs machte fich durch die correcte Durch: führung des Nccompagnements verdient; jchade nur, daß er

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dieien bei Schubert jo bedeutungsvollen Theil nicht Eräftiger vortreten ließ. Den verichiedenften, zum Theil jehr tüchtigen Pianiften, die wir in jüngfter Zeit accompagniren gehört, war diefe weiblihe Zaghaftigkeit ded Anſchlags gemeinfam. Aus Furcht, den Sänger zu deden, dedten fie die Idee des Come ponijten. Ein muſikaliſches Ohr empfindet es geradezu peinlich, wenn die Grumdbäffe nicht mit Entſchiedenheit einherfchreiten und die Singftimme gleichſam haltlos in Lüften fchwebt. Hätte Schubert folche übertriebene Delicatefje gewünfcht, jo würde er feine SLiederbegleitungen für die Guitarre gefchrieben haben. Frau Rettich bewies ihre Pietät für Schubert, indem fie einen, ihrer künſtleriſchen Richtung durchaus fernliegenden »Prolog«e und »Epiloge ſprach: angeblih »naivde« Gedichte, in Wahrheit unausftehlich gezierte Anfprahen an ein vom Dichter ſehr unmündig gedachtes Publicum. Man kann dem freundliden Bildchen unferer »Mühle« nicht beſſer jchaden, als indem man vor und hinter fie dieje poetiſchen Vogelſcheuchen aufpflanzt.

Sans v. Bülow.

Was an Bülow zumeift fejlelt, ift, außer der vollendeten Technik jeines Spiels, die ftet3 geiftreihe und eigenthümliche Auffaffung jeder Compofition. Bülow fpielt Componiften weit auseinanderliegender Epochen und verjchiedenften Gepräges mit einer Durchdringung ihres Charakters, die man zugleich getreu und frei nennen muß. Jedes Motiv, jede Melodie gewinnt unter Bülow's Händen eine charaftervolle, bewußte Haltung, ohne deßhalb aus der Harmonie de Ganzen herauszutreten. Selbit da, wo wir mit Bülow's Auffaffung nicht übereinftimmen, folgen wir ihm mit dem Intereſſe, das ein feines Zieles ſich vollfommen bewußter, fein und vielfeitig gebildeter Geiſt jofort erregt. Die Schatten, die einer fo modernen, reflectirten Indi— vidualität nachziehen, fieht man ohne unsere ausdrüdliche Hin— weilung. Im legten Concert fchienen fie uns ftark vorzudrängen. Zwar fehlte wiederum nirgends Bülow's Geift; allein diejer Geiſt verrieth eine gebrochene, blafirte Sinnlichkeit. Die friiche,

9. d. Bülow. 239

Itraffe Lebenskraft hatte durchweg einem grämlichen »esprit« Pla gemacht. Die Vorliebe für den haut-goüt (die franzöfiichen Ausdrüde drängen fih mit der Sade jelbit auf) erichien auf: fallend jtarf in Bülow's Spiel, wie fie auch in feinen Pro— grammen ſich zu fteigern jcheint. Liſzt's grazidie Paraphrafe des Schubert’fchen A-dur-Walzer® haben wir von Bülow vor zehn Jahren weit jchöner gehört, nämlich anfpruchölojer und gefünder. Diesmal durdzog ein jo giftige tempo rubato das ganze Stüd, daß dieſes förmlich in unterfchiedlofe Trümmer zerbrödelte. Wie reizend müßten diefe unvergleichlichen Triller und Ballagenblüthen wirken, jähen wir den Stamm, der fie fefthalten fol, nicht fortwährend jchaufeln und ſchwanken! Liſzt's Ballade in Des-dur rechtfertigt ihre Vorführung fehr nothdürftig durd) die dem Spieler ſich darbietende Bravour— entfaltung. Bülow bewältigte fie glänzend, war jedoch hier wie überall weit glüdlicher im arten und Zierlichen, als in den eigentlichen Kraft: und Turnfünften der Virtuofität. Mit Maß und Feinheit, aber durchaus fühl, fait gleichgiltig, entledigte ſich Bülow der Beethoven’shen Sonate op. 96 in G-dur.

1861.

Beethovens große Feſtmeſſe.

(Ausgeführt von der »Seiellihaft der Mufiffreunde« unter Herbed’3 Leitung.)

>Mehreren meiner Arbeiten gelang augenblidliche Wir: fung ; andere nicht ebenso faßlich und eindringend, beduriten, um anerkannt zu werden, mehrere Jahre. Indeſſen gingen auch dieſe vorüber, und ein ziveites, drittes, nachwachſendes Geſchlecht entichädigt mich doppelt und dreifach für die Un— bilden, die id) von meinen früheren Zeitgenoffen zu erdulden hatte«.

Diefe Worte Goethe’3 aus der Einleitung zum »Weſt— dftlihen Divan« fand man in Beethoven’: Cremplar an der Seite angezeichnet, und überdies in jeinem Tagebuch eigenhändig abgejchrieben. Beethoven war überzeugt und refignirt, feine jpäteren, jchtwierigeren Werfe von den Zeitgenoſſen unverftanden zu ſehen. Jene Hoffnung aber, an der er mit Goethe's Worten ſich aufrichtete, Hat ihn nicht getäuscht.

Der Eindrud der »Meſſe« war ein mächtiger. Darüber it fein Zweifel möglih; wie unflar, jchwer und erbrüdend auch Manches daraus der VBerfammlung erjcheinen mochte. Gibt es doch fein zweites Merk Beethoven's, daß den unvorbereiteten Hörer mit folcher Rieſenkraft niederzwänge; erhebend, ihn zu— gleich betäubt, entzückend, ihn verwirrt. Die »D-Mefle« und ihr Seitenjtüd, die neunte Symphonie, find Schöpfungen, bei denen man den Ausſpruch Zelter’3 begreift: »Ich bewundere Beethoven mit Schreden.« Dieſer Schreden weicht nur einem ausdauernd hingebenden Studium, Ein Werf, das Beethoven mit der ganzen Machtfülle, aber auch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit feiner

Deethoven’3 große Feſtmeſſe. 241

Phantaſie geihaffen, genießt fih nicht jo leicht, jo ungeftraft wie eine Haydn'ſche Symphonie. In diefer »Meſſe« hat Beethoven Allee, wad an höchſten Ideen und religiöfen Ge: fühlen in ihm ruhte, niedergelegt; er hat drei Jahre eines Leben? daran gewendet, das eben im Abendroth feiner doppelten Majeftät, des Genius und des Unglücks, am leuchtendften er: glühte. |

Se näher und vertrauender man an die »Meſſe« tritt, defto reiner werden ihre Umriſſe, deito feiter ihr Zuſammen— hang, deito tiefer ihr Sinn. Im Verlaufe weniger Proben denn das trodene Partitur-Studium reicht nicht au8 mar uns die »DMeſſe« klarer und jympathiicher geworben, als jemald das Finale der neunten Symphonie Gewiß, daß fie überfichtlicder, harmonijcher, und bei aller Gewaltjamfeit doc ichonender in den Singftimmen ift, als jene »Freudenhymne«. Zu Bergleihen mit der neunten Symphonie wird man nicht blos durh den eng verwandten Geift diejer Werke, jondern überdies durch zahlreihe Anklänge fortwährend gedrängt. An fünftleriihem Reichthum, an troßiger Größe, an freiefter Ent: feffelung einer unermeßlichen Phantafie ftehen dieſe beiden Ton fhöpfungen einzig da. Als coloffale Herkulesjäulen wachen fie am Ausgange der modernen Mufik, ein deutliches »Nicht weiter!« hier der Kirhenmufif, dort der Symphonie zurufend. Man wird ebenfo wenig auf ihnen »mweiterbauen« fönnen, als der Genius Beethoven’3 vereint mit all feinen perjönlichen Heberzeugungen, Kämpfen und Schiejalen, mit all feinen pſycho— logiſchen und pathologiihen Vorausſetzungen jemal3 in einem Menfchen fi wiederholen wird. Es it feine Frage, daß die »Feſtmeſſe« durch ihre ganze Anlage und zahlreihe Einzeln— heiten an der äußerften Grenze der »Kirchenmuſik« fteht. Dennoch muß man mit dem oft wiederholten Vorwurf ihrer »Unkirch— lichkeit· ſehr vorfichtig fein. Ob eine Kirchen-Compoſition den Anforderungen eine bejtimmten Gottesdienftes entipreche? und ob fie von religiöfem Geift erfüllt ſei? find zwei verjchiedene Tragen. Beide, obwohl vollftändig berechtigt, können dennoch aus einem höheren Standpunft nicht auf gleicher Stufe ftehend erjcheinen. Beethoven's Verhältniß zur katholiſchen Kirche war

Hanslid. Aus dem Goncerifaal. 2. Aufl. 16

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ein jehr lockeres und mochte fih auf den freundlichen Nachhall einiger Jugendeindrüde befchränfen. Seit feinem, von ihm jelbit ipäter verworfenen Dratorium »Chriftus am Delberg« und der ersten Meffe, die bereits vielfah das »Kirchliche« überjchritt, hatte Beethoven viele Jahre vergehen lafjen, ohne wieder an die Kirche zu denken. Da gab ihm die Injtallation feines er: lauten Schüler und Freundes Erzherzog Rudolph zum Erz: biſchoff von Olmütz die äußere Anregung zu einem großen mufilaliihen Hochamt. Begonnen hat Beethoven dad Werk offenbar nod mit dem Vorhaben, es, bei aller Großartigfeit der Auffaffung, doch den Bedürfniſſen der Kirhe anzupajjen. Das Kyrie mit jeinen ruhig gelagerten, harmoniſch ausklingen den Maſſen, mit feiner jo ganz in Frömmigkeit gefättigten Stimmung, muthet weder dur den mufifaliihen Gedanken noch durch die ausführenden Mittel der Tirchlichen Gepflogen- heit Widerftrebendes zu. Allein jchon im Gloria riß die ge— waltige Größe feiner Anſchauung den Meifter über dies Gebiet hinaus. Es mwiderftrebte feiner ganzen Natur, ein fo groß und begeijtert begonnenes Werk in dem befangenen Sinn einer gottes- dienftlichen Illuſtration durchzuführen. Mit einer unerhörten Selbititändigfeit baut er jeden Theilfat des Tertes aus, ber- folgt mit tieffinniger Myſtik das einzelne Wort bis in den Kern jeiner Bedeutung und vollendet jo daS »Gloria« zu einem Ganzen, dad an Größe der Eonception, an Reihthum innerer Gegenjäße für fich felbit ein kleines Hochamt heißen könnte.

Die eindringende Schärfe, die malende Kraft feiner Muſik fteigert fih noch im Credo, das die einzelnen Thefen des Be— fenntniffe® mit genialer, dabei noch vor der Erhabenheit de3 Glaubens fi) beugender Subjectivität ausſpricht.

Se weiter, defto mehr jcheinen für den Tondichter die Wände des Domes zurüdzumweichen, alles wird höher und breiter, Nicht mehr an die Kirche und an ihre Gemeinde wenden ſich dieſe Tonmwogen: fie fcheinen gegen die Urquelle alles Sein: zurüd zu ftrömen. Nach dem Credo beruhigt fi all: mälig die Stimmung. Zur »Wandlung«e erklingt ein wunderbar ſeliges »Präludium« in orgelähnliden Gängen von Flöten und Violen. E3 führt zum »Benedictus«, worin eine einzelne Violine

Beethoven's große Feitmeife. 243

in theil3 innigen, theil3 geheimnißvoll phantaftiichen Zügen das Gebet der Sänger umtfreift. Ernſt, tiefgefammelt hebt das »Agnus Dei« an, belebt fich bei der »Bitte um Frieden« zu einem paftoralartig hingleitenden Sechsachteltakt und fcheint in hellem A-dur außflingen zu wollen, als plöglich die Scene fi) verändert. Mehrere leiſe, heftig pulfirende Paukenſchläge dumpfe Sertengänge eilen wie Gewitterwwolfen darüber Hin: weg; wie fahle, langanhaltende Blige Leuchten die Klänge ferner Trompeten. »Agnus Dei!« betet recitativartig, mie in namen: loſer Angst, zuerit die Altſtimme, dann noch dringender der Tenor, bi3 der Chor mit einem erichütternden Aufjchrei: »Miserere nobis« einfällt. Es ift dies die am meiſten verfegerte Stelle der »Feſtmeſſe- nad) unſerer Empfindung ihr ergreifenditer, genialjter Moment. Wer die Macht desfelben an fich erfahren, wird nimmer begreifen, wie ſelbſt Beethoven-Verehrer von der Unterwürfigfeit Schindler’3 das MWegftreichen dieſer »anftößigen dramatiihen Epifode« beantragen konnten! Kirchlich iſt fie allerdingd ebenfowenig wie das jpäter Teidenfchaftlich herein jtürzende Preſto des Orcheiterd, das dem Finaljag einer Sym— phonie freilich einer Beethoven’ihen entnommen fein fönnte. Died Alles hindert und nicht, den Geilt, der die D-Meije von Anfang bis zu Ende durchweht, als einen zwar über firhlide Formen fi frei hinausſchwingenden, dabei aber großartig religiöjen zu bezeichnen, Wir erinnerten daran, daß Beethoven zu den Sabungen des Katholicismus niemals ein inneres Verhältniß gewonnen hatte, daß jein Glaube vielmehr den Charakter eines freien, nur dem Gebot der Sittlichfeit ge: horchenden Theismus trug. Allein jein im Unglück erprobter Glaube an eine unmwandelbare moraliſche Weltordnung, an ein gerechtes höchſtes Weſen, Hat ihn nie verlaffen. Bettina läßt in dem begeijterten Brief, den fie über Beethoven an Goethe jchreibt, den großen Tondichter jagen: »Seinen Freund Hab’ ih; ich weiß aber, daß Gott mir näher ift, wie den andern in meiner unit, ich gehe ohne Furt mit Ihm um, ich hab’ Ihn jedesmal erfannt und verjtanden mir it auch gar nicht bange um meine Muſik, die kann fein böſes Scidjal haben; went fie jich gleich veritändlich macht, der muß frei werden von 16*

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al dem Clende, womit fi andere fchleppen!« Hat fih nun auch Beethoven ſchwerlich jo ausgedrückt, fo liegt doch Bettina’s Mittheilung unzweifelhaft echt Beethoven’scher Geift zu Grunde, wie er aus einzelnen Aeußerungen des Meifterd fich ihr klar offenbarte. Die Weihe einer hohen, freien Religiöfität, der Ernit unbeugſamer Sittenfirenge gehen als Grundzug durch Beethoven's ganzes Leben und Schaffen. Und er ſollte, gerade wo er ſeine beſte Kraft an eine kirchliche Muſik ſetzte, dieſen Grundzug ver— leugnet haben? Im Gegentheil; er gibt uns in der »Feldmeſſe« die höchſte Steigerung jener Frömmigkeit, die wir in allen ſeinen größeren Werfen finden. Seine ganze Muſik war ihm Religion, in der Kunft fühlte er fich jederzeit wie im einer Kirche deshalb fam es ihm nicht bei, für diefen bejonderen Fall ein eigenes firchliche® Gewand anlegen zu ſollen. »Mit Andacht-, ſchrieb Beethoven ausdrücklich vor das »Kyrie« und »Sanctus« und wahrlih, welde Mufit wäre andächtig, wenn diefe nit? Die Größe und herbe Geiftigfeit dieſes »Hoch— amted« dünkt und entjchieden religiöjfer, als die heitere Anmuth der Haydn'ſchen Mefjen, mögen dieje auch der Kirche jelbit ungleich werther und müßlicher fein. Die VBergleihung der Beethoven’schen und Haydn'ſchen Auffaffung des Meßtertes er: innert und an ein analoges Gegenbild wie Klopſtock und mie Goethe die Bibel lad. Während der fromme Sänger der »Mejfiade« nur die Bibel ſelbſt gläubig vor ſich aufgefchlagen hatte, jehen wir den jungen Goethe, von einem Wuſt gelehrter Gommentare umgeben, mit ehrfurchtvoller Skepfis in das »Buch der Bücher« eindringen. Die unreflectirte, kindliche Gläubigkeit Klopſtock's war ihm, war feiner Zeit abhanden gefommen. Wir fehen denjelben Gegenfag auf dem Felde kirchlicher Tonkunft fih in Beethoven und feinen Vorgängern wiederholen. Heinje rühmte einmal mit Recht an einer trefflichen Kirhencompofition, »daß fie das Gemith des Hörer erfülle, ohne daß man jie jelbit merft«. In diefem Sinne haben wir in Balejtrina’3 Meſſen das deal wahrer Kirhenmufif, fie find die in Mufit erhobene Gemeinde In ruhigem Gleihmaß be— wegt fih der Erpitallhelle Harmonienftrom, feine Melodie reizt, fein Rhythmus beftiht und, den Chor unterbricht fein Solo,

Beethoven's große Feſtmeſſe. 245

färbt kein Ton der Inſtrumentalwelt. Paleſtrina bezeichnet jenen Punkt in der Kunſtgeſchichte, wo die Muſik ſo weit aus— gebildet war, daß man ſie als ſchöne Kunſt achten muß, und doch wieder nicht ſo weit ausgebildet, daß ihr Reichthum den kirchlichen Zweck überwuchert hätte. Paleſtrina's Muſik iſt, wie die Kirche ſie will: nämlich nur Mittel, ein Mittel aus mehreren, zur Erhöhung der kirchlichen Andacht. Sie gehört vollſtändig der Kirche, ſowie die heiligen Bilder, die gemalten Fenſter, die koſtbaren Gewänder und anderen verſtärkenden Kunſtproducte, deren die Kirche ſich bedient, nicht um den Kunſt— ſinn, ſondern um die Andacht zu wecken. Die höchſte Aus— bildung der Kunſt iſt der Kirche nicht gewinnbringend. Wir behaupten zwar auch, andächtig zu ſein, wenn wir in der Kirche einer Mozart'ſchen oder Beethoven'ſchen Meſſe lauſchen, allein wir verwechſeln dabei äſthetiſche Andacht mit religiöſer. Beethoven ſelbſt ſchrieb nach Vollendung ſeiner DMeſſe an Zelter in Berlin, er halte den »Styl a capella« (Singſtimmen, blos von der Orgel unterftügt) »vorzugsweiſe für den einzigen wahren Kirchenſtyl.« Er hatte jomit, troß der gewaltigen, ſymphoniſchen Behandlung feiner Meſſe, im Grund feines Herzens die richtige Empfindung, daß das kirchliche Intereffe eine einfachere Muſik erheifche. Er ftellte fich aber in dem Conflict, ob in feiner Kirchen: muſik die »Slirche« oder aber die »Muſik« herrfchen jolle (im Begriff jeder Kirchenmuſik Liegt ein innerer Bruch), muthig und bewußt auf Seite der Kunft. Und auf diefem Boden müſſen wir der Macht feines Genies ganz und ungetheilt folgen, un— befümmert darım, ob dieſe Stelle zu dramatiich, jene zu ſym— phonijch Elinge. Beethoven hat auch als Meſſencomponiſt eine große Fünftleriiche Persönlichkeit nicht verleugnen können noch wollen; er begeifterte ji) an der Idee de3 Glaubens, und gab und in jeinen Tönen die Religion, wie er fie anſchaute. Nah dem Eindrud, den wir an und erfuhren und an Anderen beobadteten, zweifeln wir nicht, daß für die D-Meffe, wie ſchon früher für die neunte Symphonie, die Zeit heranrüde, wo nad) Schreden und Staunen allmälig Berftändniß, Bewunderung Liebe ihr entgegenkfommt.

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Orcheftlerconcert von Karl Taufig.

Geit Jängerer Zeit lud ein colofjales rothes Plakat zu einem »Orcheiterconcert des Karl Taufige ein. Das nur aus Liſzt'ſchen Compofitionen bejtehende Programm verkündete die mwohlmollende Abfiht eines weimariſchen Reiſeapoſtels, uns gleih en gros mweife und glücklich zu machen. Herr Taufig ift einer der jüngften von den blaffen, haarumflatterten Jünglingen, welche für die Zufunftsmufif wirken und in Mußeftunden auch derlei jelbft verfertigen. Als Componift hat ſich Herr Taufig dur eine haarjträubende Tondichtung, »Das Geifterfchiffe, befannt gemacht, mehr noch durch den niedlichen Einfall, ge— nannten »Geifterfchiffe eine Iobhudelnde Anpreifung aus der Feder jeined Freundes Dräfede vordruden zu laſſen. In feinem Concerte brachte er jedoch feine eigene Gompofition; nah dem Programm zu jchließen, reift er lediglich für das Haus Lilzt. Dies Programm hatte in der That etwas Gewalt: fames. Schien e3 doch, ala follte dad Wiener Publicum, das vereinzelten Aufführungen Liſzt'ſcher Werke bisher fühl be— gegniete, durch einen Maffenangriff beitegt werden. Wir glauben nicht, daß dem Intereſſe des Componiften damit gedient war. Neben Werken anderer Tondichter wird eine Liſzt'ſche Symphonie jtet3 ein willigeres Auditorium finden. ALS Nachbarin tief: gedachter, formſchöner Tonihöpfungen wird fie durd ihren blendenden Glanz unfer finnliches Intereſſe weden, durch ihre feſſelloſe Subjectivität reizen, und ihren Gegnern wenigſtens nicht allzuviel zumuthen. Einem Lamwinenfturz Liſzt'ſcher Com: pofitionen, wie ihn Herr Taufig in Bewegung feßte, vermögen aber jelbit Freunde des Autor kaum Stand zu halten. Wir fahen ziemlich viel Leute, die ſich zuvor durch entzücktes Applaudiren ausgezeichnet, vor der Aufführung der Schluß: ſymphonie (»Die Ideale«) ftill nach der Thür jchleihen. Möge man daher auch und verzeihen, daß wir nad) der vorlekten Nummer nicht mehr die Kraft befaßen, nod eine Symphonie mit Aufmerfjamfeit zu verfolgen. Große Eoncerte, lediglih aus Suftrumentalwerfen Eines Gomponijten zufammengejegt, haben ihr Bedenkliches, ſelbſt wenn diejer Eine ein Meifter tft und

Orcefterconcert von Karl Taufig. 247

durch reichſte Erfindung und Vielgeftalt in Formen und Stim- mungen jede Monotonie abwehrt. Nun vollends eine lange Reihe von Lilzt’schen Werken! Da haben wir überall dasielbe peinliche Ringen und Zwingen, dasſelbe Anknüpfen und wieder Abreißen, dieſelben Mißklänge und Unmelodien, denjelben Janitſcharenlärm. Geiſtreich combinirende und colorirende Im— potenz bleibt doch überall der Kern Liſzt'ſcher Compoſitionen. Hört man deren viele nacheinander, ſo merkt man obendrein, daß auch die Methode dieſer Impotenz eine ziemlich ſtereotype iſt. In den Beſprechungen der »Graner Meſſe«, des »Pro— metheus«, der »Préludes« ꝛc. haben wir uns bemüht, dieſe Methode eingehend zu analyſiren. Die Lichtpunkte, welche wir bei jenen Anläſſen gern hervorhoben, haben wir auch in den von Tauſig vorgeführten »Feſtklängene und in dem »3Wweiten Glavierconcert« nicht vermißt: Liſzt's feinen Sinn für lang: effecte, da3 Geiftreihe mander harmonischen und rhythmiſchen Combination, den ungeftümen Drang einer bedeutenden, feinem Vorbild dienftbaren Subjectivität. Weberall fehlt jedoch die muſikaliſch-ſchöpferiſche Kraft und die fünftleriiche Gefeglichkeit der Ausführung. ine einzelne Melodie ſteckt hin und wieder furdtiam ihr ſchönes Köpfchen heraus, um jofort in wüſtem Sedränge unterzugehen; jeder edlen Negung tritt eine dreifte Fanfare, jeder reinen Harmonie ein fchneidender Mißklang auf den Naden. Wer wollte es Lijzt verdenfen, daß er gegen feine claſſiſchen Vorgänger eine buntere DMannigfaltigfeit, einen ſchärferen Widerftreit von Gegenſätzen verfucht? Allein Diejer Garneval von Mannigfaltigkeiten kennt feine Einheit, dieſe Hunnenſchlacht von Gegenfägen feine Verföhnung. Anſtatt erfreut, erichüttert, erhoben zu fein, fühlt fi) der Hörer nad der Liſzt'ſchen Mufit betäubt und veritimmt. Die »Feſtklänge« haben vor ihren übrigen ſymphoniſchen Schweitern den einen Vorzug, daß fie feine Geſchichte erzählen. Der Hörer muß nicht immerfort jehen, wie dad »Programme« den geängitigten Tondichter von Takt zu Takt verfolgt.

Ein Herr 8. konnte fich die Geichichte nicht entgehen laſſen, und weihte das Publicum durch ein im Concertiaal vertheiltes Programm in die poetifchen Geheimnifie der »Feſtklänge« ein.

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‚Ein großes, allgemeines, volfsthümliches Feſt«, verfichert er, ruft eine bewegte Menge, die Freude auf der Stirne, den Himmel in der Bruft, in feine YZauberfreife.« Könnten wir an diefem Ort Notenbeifpiele bringen, der Leſer würde ftaunen, wie »die Freude auf der Stirne« und »der Himmel in der Bruſt« fih in Liſzt'ſchen Accorden ausnimmt. Auch hätten wir ohne Herrn 8.3 Wegweiſer nicht ſowohl an die »olympijchen Spiele der Griehen« als an die blutrünftigen Luftbarfeiten der ungarischen Landtagswahlen denfen müſſen. Wagner umd Liſzt erheben ganz ernftli den Anspruch, daß man Kunftmittel und Ausdrucksweiſen, welche anderwärts als trivial verpönt ſind, in ihren Compoſitionen für höchſt ideal anzuſehen habe. Sp ergehen ſich auch die »Feſtklänge« (wie faſt alle Liſzt'ſchen Orcheſterſtücke) ſehr reichlich in »türfifcher Muſik«. Die große Menge hört das immer gerne und ſo läßt ſie ſich vielleicht auch einreden, dieſelbe Stelle ſei bei Donizetti Roheit des Effects, bei Liſzt's Ausdruck ſublimſter Geiſtigkeit. Der »Feſt— marſch zum Goethe-Jubiläum« erinnert ſtark an Wagner, den er jedoch durch die neue Errungenſchaft des Schrittwechſels (das Trio geht im Dreivierteltakt) überholt. Reizend ſind einige Orcheſter-Effecte, z. B. die Gegenbewegung der abwärts in Terzen gehenden Flöten gegen die aufwärts geführte Melodie. Als muſikaliſche Verherrlichung Goethe's durch einen fo feinen und enthufiaftiihen Goethefenner ift der »Feſtmarſch« ein neuer Beleg, wie alles Aufgebot von Bildung und Begeifterung fein gutes Tonſtück hervorzubringen vermag, wenn die jpecifiich muſikaliſche Erfindung fehlt.

Gegenüber den Orcheſter- und Chor:-Compofitionen von Liſzt fühlen wir uns als Berichterftatter über deſſen Glavierwerfe ſtets in einer angenehmeren Lage; Liſzt's umübertroffene Kenntniß und geiltreihe Verwendung des Clavier-Effects pußt hier die ſickernde Erfindung nicht blos glänzend auf, fie führt dem Gomponiften, der mit dem Piano jo eng verwadhlen it, thatlächlich neue Ideen zu. Leider konnten die von Herrn Taufig vorgetragenen Clavier: jtüde unfere Erwartungen nicht erfüllen. Auf ein »Concert« (A-dur) daS jede auftauchende Schönheit in einem Wirbel

Orchefterconcert von Karl Taufig. 249

empdrter Muſik-Elemente verichlingt, folgte eine »ungarijche Nhapiodie«, welche die nationale Charakteriftif bis zur voll: ftändigen Cymbaliſirung des Claviers treibt. Liſzt's -Valse- Impromptu « ijt reiner Zeopold v. Meyer, mit etwas harmonischen Strychnin verjegt. Aber vollends das »Scherzo« mit ange: fügtem »Marſch«! Vereinigt e3 nicht die ſchönſten Symptome eines verrückt gewordenen Clavierſtyls? Dieſe Taſtenſchlächterei mit ihren gräulichen Diſſonanzen ein »Scherzo«? Ebenſo ſcherzhaft würde es uns vorkommen, wenn uns Jemand un— verſehens eine handvoll Erbſen an den Kopf würfe oder mit naſſen Bürſten ins Geſicht führe. Scherzhaft fanden wir dies »Scherzo« nicht, auch nicht muſikaliſch, aber komiſch in hohem Grade. Aufrichtig wehrten wir und gegen dieſe Stimmung einem Manne wie Lilzt gegenüber; aber bei jeinem »Scherzo« wurde und der Ausjpruh von Chlert klar: Die Zukunfts— mufit jei eigentlich »nur unbeichreiblih fomiih«. Das Klang wirklih, »als ſpiele der Sonnenftih Glavier«. Als Pianiſt überrafchte Herr Taufig durch ungewöhnliche Kraft und Bra: bour, Nur ging er in der Energie des Anſchlags häufig zu weit, und ftach oder hieb in die Taften, daß das Inſtrument ächzte. In jeinem Vortrag ftritten ji) Geilt und Manier. Ein Urtheil über die abjolute künſtleriſche Höhe des Concertgebers fönnen wir uns Diesmal nod nicht bilden; als Lilzt-Spieler iſt er jedenfalls eine glänzende Erſcheinung. Das Publicum allerdingd ein anderes als das der »philharmonifchen« und » Sejelihaftsconcertee benahm fi recht enthufiaitiich; faſt als hätte es zuvor Herrn Brendel’3 berühmte Bertheidigung der Thefis gelefen: »Liſzt's Werke find das Ideal unjerer Zeit.e Fern jei es von mir, mit den VBerfechtern der Zukunfts— mufit über Lijzt ftreiten zu wollen; das iſt für alle Zeit un— möglich, feit deren Eritifcher Adoocat, Herr Brendel, den denk— würdigen Ausſpruch gethan: »Es hat ſich die Meinung im Publicum gebildet, als ftänden überhaupt zwei berechtigte Par— teien einander gegenüber, dem iſt jedoch nicht jo, im Gegen: theil: wir haben allein Recht und die Gegner abiolut Un— recht.« Seit wir jo bejtimmt wiſſen, daß wir nun einmal zeitlih und ewig verdammt find, hüten wir uns jehr, noch

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weiteres Mergerniß zu geben. Vom Herzen wünfchen wir Herrn Taufig, der noch drei bis vier ähnliche Lilzt-Batterien aufzuführen gedenft, den beiten Erfolg jeines Unternehmens. Es gehört viel Heroismus und mehr ald blos Fünftlerifches Vermögen dazır, To foftipielige Miffiong-Concerte »für eine Idee« zu veranitalten. Wenn das Sprihmwort » Zeit ift Geld« Recht hat, fo kann man nicht ohne Bewunderung von »Taufig und feiner Zeit« Sprechen.

RBhilharmoniſche Eoncerte.

Schumann’ »Genovefa«-Duperture in ihrer büfteren Leidenjchaftlichkeit Fönnte geradezu »Golo« überfchrieben fein. Ohne an Tiefe und Urfprünglichkeit die »Manfred«-Duverture zu erreichen, wirft dies Stüd doc fortreißend durch feinen echt dramatifhen Zug. Den Bilgermarf aus der »Harold— Symphonie« von Berlioz hörten wir nad langen Jahren mit großer Befriedigung wieder. Echt poetiih in Stimmung und Ausführung, iſt der Pilgermarſch zugleich formell eines der abgerundetiten Tonftüde von Berlioz. Wie Anfangs .Teife aus weiter Ferne dad Marjchthema ertönt, näher und näher heranrüdt, anfchwillt, fih immer reicher entfaltet; Hierauf die Bläſer einen Hymmenartigen Mittelfag anftimmen, den Die Arpeggien einer einzelnen Bratſche umgleiten; wie dann der Mari) wieder allmählig verhallt, diesmal geiftvoll verflodhten mit leifen Nachklängen des Mitteljages, dies alles gibt ein ungemein glüdlih gedachtes, ſtimmungsvolles Bild. Einige melodiihe Härten, einige Sonderbarfeiten in der Harmonie vermögen uns den Eindruck nicht zu ftören. Die Combination der Klangfarben iſt von zauberhafter Wirkung; bei aller Fremd— artigfeit erjcheint fie doch niemals kalt außgeklügelt, fie wächſt mit innerer Nothwendigfeit aus der mufifaliihen und poetijchen Grundidee der Compofition.

Die erregte Stimmung, in welcher die Verſammlung durch Schumann und Berlioz verjegt war, wurde fchließlich mit Hilfe einer Nieg’ihen Symphonie abgekühlt. Julius Rietz tft einer der gebildetiten Muſiker und trefflichften Dirigenten Deutichlands, aber nimmermehr ein origineller Gomponift. In der wohl»

Gompofitionen von Rietz, Wagner, Mozart. 951

bekannten, gebildeten Ausdrudsweile Mendels ſohn's werden uns hier ziemlich unerhebliche Mittheilungen gemadt. Dabei vermag der Componijt niemal® zum Schluß zu kommen, wo— durch er ſelbſt feinen beiten und friſcheſten Satz, den Menuett, um den Effect bringt. Diefe Nedjeligkeit ift von Ideen-Ueberfluß ebenſoweit entfernt, al3 das oft qualmend auflodernde Feuer diejer Muſik von wirklicher Leidenfchaft. Den Mufiter wird die Rietz'ſche Symphonie von ihrer technifchen Seite intereffirt haben; ihr Eindrud auf dad Bublicum war: achtungsvolle Langweile. Ueber die in einer Wohlthätigkeits-Akademie aufgeführte In— Itrumental-Einleitung zu R. Wagner’ »Triltan und Iſolde« wollen wir nad einmaligem Anhören und ohne Kenntniß des Ganzen nicht urtheilen. Günftig war der Eindrud durchaus nicht, welchen Ddiejfe ruhelos wogende, unterfchiedloje Tonmafje mit ihrer unaufhörlichen Wiederholung desſelben Motivchens machte. Dad Ohr findet nirgends einen Ruhepunkt oder Ab- Ihluß, was ungefähr diejelbe peinlihe Empfindung erregt, ala müßten wir eine lange Reihe von Vorderſätzen vorlefen hören, deren Nachſätze mwegbleiben. Unwillfürlich fielen uns jene frans zöfifchen Gerichtöurtheile ein, die einem kurzen Schlußſatz feiten: fange »considerE que« vorausſchicken. Das Bublicum blieb mehrere Secunden nah dem Schlußaccord vollkommen ſtill, dann wurde (vielleiht in Folge einer rafchen Abftimmung) applaudirt. Mozart’ Sopran-Arie »non temer« gehört zu jenen Stüden des Meilterd, die und weniger Mozart’3 Geift, als die Neußerlichfeiten feines Ausdrucdes, feiner Redensarten entgegenbringen. Die Arie iſt 1786 zu der Oper »Idomeneo« hinzucomponirt, als dieje von einer Geiellichaft vornehmer Dilet: tanten in Wien aufgeführt und zu diefem Behuf mancher Ber: änderungen bedürftig wurde. Die obligate Solovioline war für den Grafen Auguſt v. Haßfeld geichrieben, es hat alſo die beitimmte Gelegenheit ein erhebliches Wort mitgeiprochen. Die concertirende Begleitung eines Solo-Inftrumentes neben der Singitimme, hat, wenn fie eine gewiſſe Grenze überjchreitet, jederzeit ettwad Bedenkliches. In der genannten Arie wird man diejen, an die Singitimme fich läftig vordrängenden, jelbitgefällig tänzelnden Schatten gar nicht los; es ift zu wenig für ein

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Duett und zu viel für eine Arie, Wir finden ſeltſamerweiſe nicht einmal bei Jahn, den jonit jede Kleinigkeit von Mozart außerit beredt macht, ein warmes Wort darüber.

Höchſt anziehend war ein Concert für Streich-Inſtrumente von Seb. Bad. Es iit das dritte aus den im Sahre 1850 von Dehn herausgegebenen jech® Concerten, oder eigentlich die beiden äußeren Süße desielben; denn offenbar ging der mittlere Sat (wahriheinlih ein langſames Minore) verloren. Ein un— gemein kräftiges, gejundes, wenn auch etwas eigenfinniges Leben regt fich in dieſen ftraffen Themen, die ohne einen inneren Gegenjag, ja ohne die mindeite Unterbrechung und dennoch reich durchgeführt, jich vor und abrollen. Der Hauptreiz liegt natür- ih in der lebenövollen, vielgeltaltigen Stimmführung. Durch den fehlenden Gontraft der Blasinftrumente fallen eigentliche DOrceiter-Gffecte jo gut wie hinweg, doch wirft das Zumerfen des Themas von den Geigen an die Bratichen und Bäſſe im eriten Sat ganz reizend.

Schumann’ C-dur-Symphonie (Nr. 2), nach) deren Wieder: bolung wir uns lange jehnten, machte den Bejchluß. Eines der jinnigiten und bedeutendſten Werte Schumann's, iſt Diefe Symphonie doch im ihren einzelnen Theilen ungleih in der Arbeit, ungleih an Werth. Schon in eriten Sat gibt es Stodungen, welde jedoch der pathetifche, ruckweiſe vordringende Gang des Themas jedesmal bald befiegt. Das geiftvolle, wie ein munterer MWafferfall herabplätichernde Scherzo finft jchon in dem erften, noch mehr in dem zweiten feltiam fteifen Trio, erhebt fich aber nach dieſem wieder zu dem glänzenditen Schluß. Das wahre Herz de3 Ganzen iſt das Adagio, vielleiht das jeelenvollite, das feit Beethoven gejchrieben wurde Wie er tief aufathmet, diefer Geſang, immer breiter und höher anwächſt, bis er endlich in einer colofjalen Steigerung auf den höchſten Gipfeln der Violintöne anlangt und in einem wahren Goldregen von feinen Trillerfetten wieder herniederriefelt! Auch in diefen jo bewunderungswürdigen Stüd finden wir eine Stelle (den staceato contrapunftirenden Mittelfag), die, ganz abgejehen von ihrem harmoniſchen Härten, ein plößliches Grichlaffen der Phantaſie bekundet. Der letzte Sa erreicht feinen von den

» Mebea« von Gherubini. Suite von Bad. 253

drei früheren, jo ſehr er fie zu überflügeln jucht. Hier wechielt ein gewaltſames Aufraffen und Anfpannen mit unverhohlenem Sinken der Erfindungskraft. Das Hauptübel ftedt in der rhythmiſchen Einförmigfeit de Themas, worauf nad Dürftiger Erpofition eine tändelnde Violinfigur folgt, die bei Schumann geradezu befremdet. Erft mit dem energiich jchmerzlichen Ge— jang der Bläfer im Mittelfat (S. 183 der Part.) haben mir den ganzen Schumann wieder, doch nicht für lange. Der Schluß it ein ftürmifches Webertäuben innerer Ermüdung.

Cherubini’3 »Medea«-Duverture wirkte wie immer durd) ihre vornehm ftraffe Haltung, ihr kräftiges, dabei echt franzöfiiches Pathos, ihre are, feine Orcdeitration. Den vollen Ausdrud jener furchtbaren Tragif, welche die Eriheinung Medea’s erfüllt, können wir in dem Tonſtück allerdings nicht mehr finden. Dad Maß ſolcher Anſprüche wechſelt mit dem fortbraufenden Strom der Kunftentwiclung. Neben muſikaliſchen Tragödien, wie fie Shumann’3 »Manfred«-Duverture oder Berlioz' »König Lear« jeither aufgerollt haben, würden wir heute Cherubini's Einleitung zur »Medea« vielleiht »Concert: Duverture« nennen,

Die beiden bedeutendften Nummern waren eine Orcheiter: Suite in D-dur von Seb. Bad und Schumann’ B-dur- Symphonie Gewiß die interefjantefte Zufammenftellung zweier jo grundverfchiedener Kunſt-Epochen! Die Orceiter-Gompofition des achtzehnten und jene des neunzehnten Jahrhunderts, die Symphonie im Keim denn was ijt die »Ordeiter-Suite« ander8? und die Symphonie in ihrer reichjten Blüthenfülle. Bach's charakteriftiihe und liebenswürdige »Suiten« gehören zu jenen Werfen des Altmeilter, denen ein modernes Publicum fih mit unbefangenem Behagen affimiliren kann. In den ver: Tchollenen, fnappen Formen treibt ein jugendfriicher Geiſt; die contrapunftifche Kunft reizt das fundige Ohr, ohne es zu ver: wirren oder zu ermüden; farbenreiche Gegenfäße endlich, wie die weiche Zärtlichkeit der »Airs« und die drollige Beweglich— feit der Tanzftüde, heben wechielfeitig ihre Wirkung. Kein Wunder, daß auch im »philharmonifchen Concert« der Erfolg der D-Suite ein vollftändiger war. Die urfprüngliche Inſtrumen—

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tirung blieb unverändert, bis auf zwei Clarinetien, welche Herr Deſſoff Hinzufügte, weil der hodjliegende Sog der Trompeten im Original heutzutage ſchwer ausführbar ift.

Schumann’s B-dur-Symphonie (Nr. 2) kennen wir aus wiederholten Aufführungen. Die jüngfte, unter Deſſoff, war davon weitaus die befte, jene erjte nicht ausgenommen, mit welder Schumann im Sänner 1847 ſelbſt Hier Ddebutirte. Warum war ed dem früh und troftlos dahingegangenen Meifter nicht bejchieden, die rafche und umverlierbare Popularität zu erleben, die ſeine Muſik feit jener Aufführung hier gewonnen hat! Entzüdt lauſchte man Sonntagd diefem duftenden Strom von Geiſt und Empfindung, der, immer flar und immer neı, ein leibhaftig Stück Mai in unfern Winter hineinzauberte. Nach einer mündlichen Mittheilung des Componiften hat er das Werk urfprünglid »Frühlingd- Symphonie«e nennen wollen. Die Mufif Hätte den Titel nicht Lügen geſtraft. Schumann aber war zu Stolz, um von einer Aufjchrift zu erbetteln, was nicht ohnehin in der Mufik Tag.

Gerne hörten wir das Larghetto aus Spohr’s dritter Symphonie. Die Regel, daß man den Zufammenhang einer Symphonie nicht zeritören darf, kann man ded angeborenen Rechtes auf Ausnahmsfälle wohl nicht berauben. Spohr wird eine ſolche Ausnahme Hin und wieder rechtfertigen, denn feine Symphonien enthalten jehr jchöne erſte Säge und Adagio’, während die Scherzo'3 meiſtens recht unglüdlich, die Finales größtentheild unbedeutend find. Nicht jeder Componift läßt die vier Zweige feiner Symphonien aus fo fraftvoll einheit- lihem Stamm emporwachſen, wie Beethoven.

Rihard Wagner's »Fauft«-Oupverture wurde vor mehreren Jahren in einem Wohlthätigkeitö-Concert gefpielt.*) ALS uns das Werk damald mißfiel, fannten wir freilich noch nicht die ganze Größe unſeres Verbrechens. Herr v. Bülow hatte noch nicht jeine Broſchüre über die »Fauſt«-Ouverture geichrieben, worin er Wagner als »legitimen Erben Beethoven's« proclamirt und, unter reichlichen Grobheiten gegen Anders:

*) Nergleihe S. 97.

R. Wagner » Fauft-Dupderture.« 255

denfende, Beethoven’3 neunte Symphonie zum -Ausgangs— punkt« der Wagner’ihen »Fauſt«-Ouverture herabgejegt. Nad) Bülow hält Schumann’ Duperture zu »Manfred« mit dem MWagnerihen Opus nicht den entfernteften Vergleich aus, ein Satz, deſſen vollftändige Umkehrung wir gern unterfchreiben. Ja, wüßten wir nicht, daß Wagner die »Fauft«-Duverture be— reit3 während feines erften Pariſer Aufenthalts (1840) jfizzirt hat, wir fönnten fie für eine farrifirte Nahahmung der »Man— fred«-Duverture halten. Die »Fauſt«Ouverture imponirt durch ihren ſehr confequenten Charakter nnd einen für Wagner merf- würdig einheitlihen Bau. Was aber diefen Bau ausfüllt, ift eine Impotenz, die troß ihres prahleriihen Gebahrens Mitleid erwed. Wenn gleih zu Anfang die Baßtuba mit einem fomijcheerhabenen Thema »mit Macht angeblajen« fommt, wie der Stier von Uri, jo müſſen wir eher an eine gelungene Traveltie des »Fauft« denfen, al® an Goethe's Gedicht. Im Allegro geftaltet fich dies Motiv viel beſſer, und wird, wie gejagt, mit einer eifernen Conſequenz behandelt. Wenn nur dieſe Einheit der Stimmung nit in jo roh materiellem Sinne dadurch erhalten würde, daß eine begleitende Biolafigur, (ähnlich dem erjten Coriolan-Motiv) unabläffig in allen Lagen und Inftrumenten, in allen Halbtönen Wagner’icher Chromatik und verfolgt. Gegen Ende der Ouverture erjchien und bereit jeder Zuftand glüdlih und ehrenvol, in welchem man diefe Violafigur. nicht zu hören braudt. Wir begreifen es nöthigenfalld, wenn felbit die ſchwächſte Oper MWagner’3 ein enthuſiaſtiſches Publicum und einige vergötternde Fritifer findet; allein wie man es fertig bringt, Wagner als ſympho— niihen Gomponiften zu bewundern, und über die »Fauſt«— Dupverture eine ganze interpretirende Abhandlung zu jchreiben, das verftehen wir nimmermehr. Der reichlihe Anlaß zu derlei Interpretationen iſt allerdings das Klügfte an der Ouverture, denn jo lange es muſikaliſche Naturen gibt, die an jolchen Hineinz und Herauögeheimniffen ihr vornehmites Vergnügen finden, wird es der »Faufte-Duverture fowenig an PBublicum fehlen, wie den Liſzt'ſchen Symphonien. Die Yauftfage Hat in der Mufif, vom alten Eberwein bis auf Liizt und

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Wagner herab, anfehnliches Unheil angeftiftet. Sie hat zur Verbreitung der Thorheit beigetragen, daß die höchſten und ichwierigften Probleme des menschlichen Geiſtes auch für die natürlichhte Aufgabe der Mufit angejehen werden. Der Erfolg der »FFaufte-Duverture ſchwankte in einem 1unentichiedenen Kampf zwiichen Applaus und Ziichen.

Sefellfchaftsconcerte.

Haydn’s »Schöpfung« und »Tahreszeiten«.

In einem Alter, welchem fonft im beften Fall nur eine Nachleje vergönnt ist, ſchuf Haydn feine zwei größten Werfe, diejenigen, welche ihn in Deutichland am populärften gemacht haben. Die Aehnlichfeit mit dem Lebensgange Händel’s drängt fih auf: auch diefer gab fein Beltes, feine Oratorien, ala ein Siebenzigjähriger. Der Einfluß Englands, jo maßgebend für Händel’3 Oratorien, blieb auch hier nicht ganz unthätig. Bon England bradte Haydn den (urfprünglid für Händel beftimmten) Tert zur »Schöpfung« mit; nad) Thomfon’s be= rühmtem Gedicht: »The seasons«e entftanden feine »Jahres— zeiten«. Rührend ift die naive Vejcheidenheit, mit welcher der hochberühmte Meifter von feinen Oratorien fprah. An Breit: fopf ſchrieb er bei MUeberiendung der »Schöpfunge am 12. Juni 1799: »O Gott, wie viel tft noch zu thun in dieſer herrlichen Kunft! Die Welt madt mir zwar täglich viele Com— plimente auch über das Feuer meiner legten Arbeiten; aber niemand will mir glauben, mit welcher Mühe und Anftrengung ih dasſelbe hervorſuchen muß. Nur wäünſche ich und hoffe auch, id alter Mann, daß die Herren Necenfenten meine »Schöpfung« nicht allzuftreng anfaffen und ihr dabei zu wehe thun mögen.«e Die »Herren Necenfenten« werben fich mohl hüten. Man müßte fih mit Leib und Seele der MWeimar’ichen Mufil-Inquifition verfchrieben haben, um den unverwüſtlich friihen Kern dieſer Oratorien leugnen zu wollen. Trogdem darf man fich geitehen, daß manches daraus im Lauf der Jahre abgeblaßt hat. In den »Jahreszeiten« ift es auffallend, wie

Haydn's »Jahreszeiten«. 257

die in der Natur wärmeren (Frühling und Sommer) in Haydn's Muſik die kühleren und unbelebteren ſind. Es iſt, als ſei die Empfindung von Lenz und Sommer dem Gemüth des greiſen Tondichters fremder geworden, gleichſam in die Ferne gerückt, als habe er ſie mehr aus der Erinnnerung, als lebendig anſchauend geſchildert. Der Text trägt daran große Schuld. Haydn ſelbſt hat die Hemmung, die in dieſer moraliſirenden Tendenz, in dieſer Häufung erbaulicher Reflexionen liegt, mit Verdruß empfunden. So äußerte er über den Chor: »O Fleiß, o edler Fleiß!« »er ſei nun ſein Lebelang fleißig geweſen, aber noch ſei es ihm nicht eingefallen, den Fleiß in Noten zu ſetzen« In der That wird bei Haydn über den Frühling und Sommer mehr geiprocdhen, moralifirt, Gott dafür gedankt u. dgl., als daß das volle, jugendichöne Leben der Natur fih Selbit ergieße. Der Charakter der Mufit wird dadurd nothiwendig oft nüchtern und philiftrös. Die langfamen Tempi herrfchen ungebührlich vor und machen im Verein mit der lange feftgehaltenen etwas weichlichen Empfindung und Moderne hin und wieder etwas ungeduldig. In den zwei Iegten Abtheilungen hingegen bricht ein fräftiger Realismus herein. Wie werden im »Herbſt« die Auen und Wälder, von welchen früher fo viel erzählt wurde, nun wirklich voller Leben! Aus den fingenden Abftractionen »Hannhen« und »Lucad« werden nun wirkliche Menſchen mit Fleifh und Blut, mit Laune und Liebe. Von ihrem reizenden Duette an wird der Ton des Ganzen wärmer und individueller, ja die Erfindung reicher und bedeutender. Dann die prächtige Jagd, das jubelnde Winzerfeft! Welche Lebendigkeit, Steigerung, Gipfelung! Wie köſtlich ift (im Winzer: feft) der Muth des alten Herrn, friſch zu Triangeln und großer Trommel zu greifen, ohne zu fragen, ob dieſe Lärm-Inſtru— mente im Oratorium hoffähig jeien oder nicht. Diejes Winzer: feſt lingt ung immer wie ein impojantes, großes Opernfinale. Es ift vieleicht das Wirkſamſte, dabei ohne Frage das Modernfte, was Haydn geſchrieben. Mozart's Einwirkung ift hier nicht zu berfennen.

Im dritten Gejellihaftsconcerte machte den friſcheſten Ein- drud Haydn’ Symphonie in C. Die ftürmijch begehrte

Hanslick. Aus dem Goncertiaal, 2. Aufl. 17

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Wiederholung von zwei Sägen zählt wohl unter den nachge— borenen Triumphen des alten Herrn obenan. a, der rührige, nette, zum Küſſen liebenswürdige Großpapa wird bei uns völlig Mode. Ein großes Verdienft an dem mwiedergewonnenen Sinn für Haydn hat die Zufunftsmufif, Wir fagen das ohne bos— haften Hinterhalt. Hat man dur längere Zeit das blos »Intereſſante« einfeitig auf die höchſte Spite treiben ſehen, fo beginnt man wieder an der einfahen Anmuth, die man früher faft »unintereffante gefunden, fich herzlich zu erfreuen. Nach langen aufreibenden Scheingefehten glänzender Sophiſtik thut jelbft die einfach gefunde Logik wohl. Jene faule Genügjam- feit, die über Haydn und Mozart noch) zu einer Zeit nicht hinaus wollte, wo aus neuen Richtungen längſt das dringendfte »Hört hört«! eriholl —, fie ift weit verſchieden von dem geflärten und bereicherten Bewußtjein, mit dem wir heute zum Genuffe- Haydn's rüdkehren. Daß unjere Verehrung für Haydn noch völlig in der abergläubiihen Pietät aufgehe, welche in jedem Pralltriller und jeden Uebergang von C nad G unerreihbare Bollendung fand, daS wollte man und freilich nicht zumuthen. Die wärmfte Verehrung verträgt fih vollflommen mit jenem höheren ironifhen Blid, der die Schwächen des Genius erkennt, ohne ihn darım weniger zu lieben. Nach den neueften Er- fahrungen hat es Haydn offenbar nicht geichadet, daß unfere Zeit mit etwas freierem Sinn ihm gegenüber fteht.

Philipp Emanuel Bad, der zweitgeborne Sohn Sebaftian’s, war bisher dem heutigen Concertpublicum fo gut wie unbe: fannt geblieben. Die erfolgreihe Bemühung der letzten De: cennien, uns dem großen Vater näher zu befreunden, ja den beinahe Berlorengegangenen als ein unverlierbare® Clement in unſer modernes Mufikleben einzufügen fie mußte endlich auch feinen Söhnen zugute fommen. Die Leipziger Gewand: haus-Concerte haben Emanuel Bach zuerſt aus dem hiftorischen Staube hervorgezogen, indem fie vor einem Jahr deffen D-dur- Symphonie zu Gehör braten, diefelbe, die wir am verfloffenen Sonntag im großen Redoutenfaal hörten. In der That, Emanuel Bad verdient ed im hohen Grade, daß man ſich mit ihm felbit befannt made, denn fein Geift wie fein Verdienft ftehen auf

Ph. Em. Bad. 259

eigenen Füßen, find weit mehr als ein Abglanz des väter: lihen Namend. Gmanuel war von den mufifaliichen Söhnen Sebaltian’3 der gebildetfte und folideite. Zwar jein Talent beiaß nicht die intenfive, geniale Cigenthümlichfeit feines un— glüdlihen Bruder? Friedemann, noch konnten ſich Emanuel's äußere Erfolge mit den ephemeren Operntriumphen feines jüngeren, galanten Bruders Chriſtian meſſen. Allein für die Entwicklung der Kunſt ift von allen Brüdern Emanuel weitaus der wichtigfte geworden. Denn er war's, der, im Gegenjag zu dem wejent: ih polyphonen und contrapunktifhen Styl feiner Vorgänger, den »freien Styl« in der Inftrumentalmufit begründete, inden er, Statt mehrere jelbitftändige, jomit wechjeljeitig abhängige Tonreihen übereinander zu bauen, es vorzog, eine Tonreihe ſo jpielvoll, jo gefangvoll als möglich zu machen und die übrigen ihr unterzuordnen. Haydn’ befanntes Wort, »daß er fein Beites den Werken Emanuel Bach's verdanfe«, trat und aus den Klängen diefer D-Symphonie als Iebendige Wahrheit vor Augen. Das find weit weniger Nachblüthen von Sebaſtian's Styl, als Keime, und jehr ausgeprägte Keime der jpäteren Haydn’ihen Symphonie. Wer nur einiges hiftorifche Intereffe hinzubringt, wird dieſer (im Jahre 1776 componirten) Muſik mit großer Befriedigung laufchen. Unſerer Zeit, die bei dem Namen Symphonie gleich an Beethoven denkt, mag dies kurze, dreifägige Ding allerdings dürftig und etwas troden vorkommen, fie verlangt Bedeutenderes, Wichtigered, und überall Mehr! Allein wer es vermag, einige 80 Jahre rajch zn vergeflen, der wird fih an diefem Product eines gefunden und geiftreichen mufifalifhen Denker herzlich erbauen. Cine fräftige, herbe Frifche durchweht namentlich den eriten Sat, den auögeführ- tejten von Allen. Das kurze Largo (es jchien uns gar zu langſam genommen) ergeht fi in empfindfamer, ceremoniöfer Gelaffenheit jo recht, wie wir heutzutage »zopfig« nennen. Mit einer mufifaliihen lUngenirtheit ohnegleichen übergeht der Com— ponilt aus dieſem Es-dur-Largo in dag D-dur des Iuftigen Finalfages, ungefähr wie jemand mit einem tüchtigen Sat über einen Bad) Hinüberipringt, um ſich den Brücdenjteig zu eriparen. 17*

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Es folgte Ferdinand Hiller’3 »Loreley«, eine jener dramatifirten Concertballaden für Soloſtimmen, Chor und Or: heiter, welde Shumann in Schwang gebradt. Das Gedicht (von W. Müller von Königswinter) gehört in die Claſſe der eleganten Goldichnitt-Lyrif, melde die Romantik für den Salon zurehtmadt. Dinge wie die piychologiihe Motivirung der Loreley, die reflectirten Empfindungen der Niren, die Perſonifi— cation von »Rebengeiftern« u. dgl., erreichen nimmermehr die tiefe Wirkung der einfahen Sage oder des Heine'ſchen Gedichte. Der mufifaliihen Phantafie bietet das Gedicht allerdings günftige Situationen, welche denn auch Hiller wohl zu ver: werthen verftand. In einem weſentlichen Punkt trifft feine Compofition leider mit Müller’3 Gedicht zufammen: aus beiden fpricht nicht die Stimme echter Poefie, nicht der Ton ureigener, tiefquellender Empfindung. Die Bildung hat mehr dazu gethan, als die Schöpferfraft. Als geiftvoller hochgebildeter Componift, als Meifter der Technik hat fih Hiller immerhin auch in der »Loreley« bewährt; das Werk, weder großartig ald Ganzes, noch unmittelbar hinreißend im Einzelnen, wirft doch über: twiegend intereffant und anziehend. Den unmiderftehlichen Ge— fang der »Loreley« leibhaftig zu componiren, iſt ein bedenk— liches Unternehmen, faft jo bedenklich wie die Gompofition eines Orpheus oder Arion. Die einfachiten Mittel find hier meift die beiten. Aber damit ſchafft man feine Concertballade mit Chören, Soli und Ordefter. Hiller durfte für feinen Zweck die mannigfachften Mittel der Klangfärbung, des Rhythmus und der Tonmalerei nicht verſchmähen, welche die poetifche Stimmung fefthalten und fteigern fonnten. Das Refultat diefer Bemühung wurde ein geiftreiches modernes Gebilde, das in der Muſik ungefähr eine Stelle einnimmt, wie in der Poefie die Gedichte von Dingelftedt.

Rubinſtein's Vocalhor »Gondelfahrt«e jcheint und ein arger Mißgriff. Dad Gedicht (von Anaftafius Grün) iſt To reflectirt, daß es Mufif beinahe abftößt. Für das malende Beimwerf, dad allenfalls zu einer charafteriftiihen Inftrumental- Begleitung loden könnte, hat der reine Vocalja jo gut wie feine Mitte. Rubinſtein's Mufit bleibt Hinter dem hier

»Preciofa« von C. M. Weber. 261

Grreihbaren zurüd, ja entfernt fich eher nad entgegengejegter Richtung. Wenn eine »Mondnaht in Venedige jo außfieht, wie fie Aubinftein uns vormuficirt, dann wollen wir ruhig zu Haufe bleiben. Man könnte feine Compofition ebenio gut »Novembertag in Smolensk« überfchreiben. Mendelsſohn's Chor »O, Thäler weit« (von Eichendorff) wirkt nad dem Ru— binftein’schen noch einmal jo wohlthätig.

Den Schluß des Goncertes bildet die vollitändige Mufif zur »Precioſa« von C. M. v. Weber Eine Concert:Auf- führung dieſer reizenden Muſik erfhien ſchon deshalb jehr wünſchenswerth, weil das Schaufpiel ſelbſt von den Bühnen verſchwunden ift. Dies Schidjal war fein unverdientes. Wolff's »Precioja« beweiſt, wie mißlich es ſei, ausgezeichnete Er: zählungen dramatiſch zu behandeln. Die »Gitana« von Cer— pantes, welche der »Preciofa« zu Grunde liegt, ift eine der herrlichiten Novellen, und Precioſa ift ein lahmes Drama, in dem nicht? anzuerkennen it, als der gut getroffene Localton und die an das ſpaniſche Auftipiel erinnernde Führung des Dialogs. Allein für Weber Muſik ift dad Stück eine ums ihätbare Staffage und durch fein Auskunftsmittel zu erjeßgen. Wir wüßten faum eine ziweite ſceniſche Muſik, welche, losge— rifien von dem theatralifchen Boden, jo viel einbüßen wiirde, als Meber’3 »Precioja«. An und für fich ift fchon jedes »ver— bindende Gedichte ein Unglück für dramatiihe Muſik. ES erzählt und, der leidigen VBollitändigfeit halber, jtet3 eine Menge Dinge, die und im Goncertfaal nicht im mindejten kümmern. lleber: flüffiges enthält jo ein »Gediht« immer, dad Nothiwendige niemal3. Denn dies Nothwendige ift eben jene Geſammt— ftimmung, die nur das lebendig angefhaute Drama jelbit erzeugt. Wir wollen die Perfonen, das ſceniſche Bild jehen; ftatt deffen geht jedes »verbindende Gedichte von der Täufchung aus, es fei und um die Kenntniß des Factiichen zu thun. Sp erhalten wir für das PVerftändniß der Muſik immer zu viel und zu wenig, von der Beeinträchtigung des Genuſſes gar nicht zu reden.

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Hammermufiß.

Das neue Streihquartett von Robert Volkmann (Nr. 4, E-moll) ift Fein blendendes Werk, aber ein gehalt: volles, jinniges, daS namentlich in den beiden äußeren Süßen die Hand eined Meiſters verräth. Scherzo und Adagio jchienen und ärmer an eigenthümlicher Erfindung, fie wirken zum Theil durch Aeußerlichkeiten, wozu wir dort das rapide Tempo, hier die umunterbrochene Anwendung der Sordinen zählen. Im Finale hätten wir nur die Fuge Hinzugewünfcht, die das Bor: hergegangene nicht mehr zu fteigern vermag, und deshalb ein troden pflidtmäßiges Gefiht madt. Die ſchlichte Einfachheit in Stimmung und Ausführung dieſes Quartetts hat uns bei Volkmann faſt überrafcht und in der Ueberzeugung beftärkt, daß die mufifalifchen Anſchauungen des geſchätzten Componiſten fih zu einer enticheidenden Wandlung durdhgefämpft haben. Offenbar it in Volkmann’: Styl eine Klärung eingetreten, ein Abjchütteln der capriciöfen Wunderlichfeiten und Genies fchladen, die und manches jeiner früheren Werke trübten. Wer 3. 8. da3 B-moll-Trio mit Volkmann's neueren Compofitionen, 3. B. mit dem vortrefflihden Glapierconcert vergleicht, wird unferer Anficht beipflichten, daB Volkmann aus Sturm und Drang eine Phaſe der Klärung angetreten habe, etwa mie fie mit reiheren Mitteln Shumann nach feiner zweiten Sonate vollzog. Die zweite Nummer war NRubinftein’® befanntes Clavier-Trio in B-dur. Wie die fchönen, charafteriftiichen Anfänge fi immer jobald in wüſtes Toben verlieren oder ermüdend verfiegen! Oft (3. B. im Adagio) ift ARubinftein der pollendeten Schönheit nahe, ganz nahe, aber wie er fie faſſen und feithalten will, entflieht fie feiner unfanften Fauft.

Joachim.

Das wichtigſte Greigniß der abgelaufenen Woche war das Auftreten Joſeph Joachim's. Vor fo und fo viel Jahren hatten ihn zwar die Wiener ald Wunderkind gehört, der Wundermann

Joachim. 263

war uns jedoch fremd geblieben. Wien, die Vaterſtadt, wenn auch nicht Joachim's ſelbſt, doch ſeiner Bildung und ſeines Ruhms, Hatte bereits einigen Grund, ſich ob der anhaltenden Burüdjegung von Seiten des vielgereijten Künſtlers zu beflagen. Soahim, fo jung er ift, gilt feit beinahe zehn Jahren für den erſten lebenden Violinfpieler, und wenn ihm bie und da VBieurtemp3 an die Seite geitellt wurde, fo beweiſt jchon diefer Maßſtab, welch ungewöhnlicher Größe man fich gegen- über fühlte. Es war dem Künſtler nicht leicht gemacht, jo hoch» geipannten und langgenährten Erwartungen bei einem erfahrenen Bublicum, wie das unfere, zu entiprehen. Soahim hat es jedoch in glänzenditer Weile vollbradt. Er begann mit Beet: hoven's Concert. Nah dem eriten Sate ſchon mußte es jedermann flar fein, daß man e3 hier nicht blos mit einem großen PVirtuofen, jondern mit einer bedeutenden und eigen thümlichen Perfünlichkeit zu thun habe. Joachim ift mit all jeiner Bravour jo ganz in dem mufifaliichen Ideal aufgelöft, daß man ihn eigentlich bezeichnen möchte als einen durch die glänzendite Virtuofität hHindurchgegangenen vollendeten Muſiker. Sein Spiel iſt groß, edel, frei. Nicht der Eleinfte Mordent klingt nah Virtuoſenthum; was irgend im Soloipiel an Eitelkeit oder Gefalljucht mahnen kann, ift hier ſpurlos getilgt. Dieſer Adel künftleriiher Heberzeugung tritt bei Joachim mit jolcher Macht auf, daß man erjt hinterher au die Würdigung jeiner großartigen Technik denkt. Welche Kraftfülle in dem Ton, dei Joachim's großer, ficherer Bogen dem Inſtrumente abzwingt! Es ſchien uns das erſtemal, daß ſelbſt bei nahdrüdlichiter Behandlung der tieferer Violinlagen feine Spur jenes eigen— thümlich materiellen Scharren3 und Schlürfens der Saite mit: flang, welches wir auch bei den berühmteften Geigern ftellen- weiſe vernahmen. Unvergleihlih an Reinheit und Egalität iſt Joachim's Triller; fein mehrjtimmiges Spiel jo verbunden zugleih und ſcharf gefondert, daß man oft zwei Spieler zu vernehmen glaubt. Im Verlauf feiner Goncerte wird und Joachim mit den Eigenthümlichfeiten feiner Technik noch näher vertraut machen. Nach dem erften Eoncerte Joahim’s möchten wir aller: dings annehmen, daß der Ausdruf des Großen, Edlen,

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Pathetiihen der feiner Natur homogenfte jei. Ob das leichte Spiel der Anmuth, der flüchtige Wiß, der friihe Humor ihm ebenfo überzeugend zu Gebote ftehen, wird er in anderen Com— pofitionen zeigen müſſen. Das Beethoven'ſche Concert, namentlid der faſt improvijatoriich freie, tiefbeiwegte Vortrag des Adagio, bewies die entſchiedenſte Selbitftändigfeit der Auf- faffung. Unter Vieuxtemps' Bogen Hang dies Concert glänzender, lebendiger, Joachim holte es mehr aus der Tiefe, und übertraf durch eine wahrhaft ethiiche Kraft die Wirkung, die Vieuxtemps' Spiel dur) hinreißendes Temperament erzielt hat.

Die zweite Nummer war ein Spohr'ſches Adagio, deſſen Einförmigfeit in der markigen, dabei mannigfaltigen Spielweife Joachim's ale Schwere verlor. Am überrafhenditen erichien un? Joachim in dem Vortrag der »Teufeldfonate« von Tar— tini. Wir glauben der Zuftimmung der Violinfpieler gewiß zu jein, wenn wir diefe Aufgebot einer coloffalen und zugleich clafftiih geläuterten Technik bisher unerreiht nennen. Die ſchwierigſten Bravouren dieſes Stücdes, mit deren anſtandsloſer Bewältigung man fich ſonſt zufrieden zu geben pflegt, producirte Joachim nicht blos mit ficherer Leichtigkeit, e& gelang ihm überdies, in dies braufende Tongewirr zahlreiche bedeutfame Accente zu vertheilen, »Lichter aufzufegen«, welche dem Ganzen einen neuen, ausdrucksvollen Charakter geben. Im Ganzen ift uns faum ein zweiter Virtuoſe vorgefommen, deifen Leiftungen jo vollftändig aus Einem Guffe, dadurd fo rein und harmoniſch in ihrer Wirkung geweſen wären.

Aus Joachim's »Goncert in ungarifher Weije« dürfen wir wohl nur mit Vorfiht einen Schluß auf den Um— fang und die Art feiner ſchöpferiſchen Begabung ziehen. Nicht nur ift e8 die erite Compofition Joachim's, die uns bekannt wurde, ſie ift überdies zu umfangreich, dabei durd ihr ftarf hervortretendes virtuofes Clement zu blendend, um im ein— maligem Hören vollflommen erfaßt zu werden. Sebenfalls intereifirt und beichäftigt fie den Hörer auf das Iebhaftefte. Ihre Bedeutung liegt mehr in der Energie, womit der Com: ponijt die Stimmung unerbittlich feithält, und nur deren Um—

Joachim. 265

gebung geiſtreich wechſelt und combinirt, als in eigentlich reicher melodiſcher Erfindung. Auf den erſten Blick erſcheint zwar die freiſtehende Benützung von Volksweiſen eine ungemeine Er— leichterung für den Componiſten zu ſein. Durch die ungariſchen Nationallieder mag ſich aber ein Tondichter ebenſoſehr ein— geengt fühlen, denn ſie ſind unter einander ebenſo monoton, als fie ausdrucksvoll und leidenſchaftlich ſind. In ihrem zwei: theiligen Bau (langſame und ſchnelle Bewegung), ihrem ?/ «Takt mit vorwiegend dreitaftiger Beriodenftellung, ihren eigenthümlich hinfenden Rhythmus bleiben die magyarifchen Volksweiſen bei- nahe ftereotyp. Schubert Hat troß feinem lebhaften Zug zur ungariihen Nationalmufif in größeren Gompofitionen, wie die C-Symphonie u. a., nur einzelne Anklänge daran gewagt. Ein ganzes Concert »in ungariicher Weiſe« zu fchreiben, iſt jelbit für einen erfindungsreichen Tondichter feine Kleinigkeit. Joachim hat die nationale Treue, das muſikaliſche Intereſſe und das Vorrecht des Virtuoſen hier in geiftreicher Weije zu vereinigen getradhtet. Der erſte Sag de3 Concertes, der am breiteften und reichiten ausgeführte, imponirt durch den feitgehaltenen Ton einer ftolzen und faſt verbiffenen Leidenjchaftlichkeit; in zügel- Iojer Freiheit der Bewegung nimmt er bisweilen den Charafter der Nhapfodie oder des Präludiums an. Weniger reich in der Combination, hat uns der zweite Sag mit feiner tiefmelandholiichen Klage noh harmoniſcher angeſprochen und befriedigt. Auf die Elegie diefes Adagios gleihjam der -Laſſaͤ« dieſes Stüdes ftürzt im dritten Saß die tolle Luftigfeit der »Friska« herbei. Hier jehen wir ung in den wilden, alle® mit fich fort: reißenden Tumult einer Zigeunermuftf gezogen. Bei aller Be: weglichkeit diefer bizarren Tonfiguren, die auf fortwährender Flucht begriffen jcheinen, Liegt doch ein drüdender Bann auf dem Ganzen. Wer Hat nicht an heißen Sommerabenden dem Müdentanz zugeifhaut? Gerade wie diefe Myriaden von Thierchen, jo wirbeln hier die Töne in grenzenlojer Schnelligkeit auf und nieder, ohne daß die ganze tanzende Säule vom Fled füme. In technischer Hinficht ift das ungariihe »Concert« eine eritaunliche Leiftung! Alle erdenklihen Schwierigkeiten des Violinipiels find in blendender und charafteriftiiher Weije ver:

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wendet, ja im eriten Sag ſchienen ſogar halbe Unmöglichkeiten aufzutauchen, deren reine Durchführung felbft Joachim ſchwer fiel.

Die weiteren Vorträge Joachim’, wahre Niefenleiftungen einer virtuoſen und doc ſtets ſich unterordnenden Technik, waren einige Süße aus Seb. Bach's »Piolinfonaten« und eine »Phantafie mit Orcefter«e von Schumann (op. 131). Da Joahim feine PBirtuofen:Eitelfeit befitt, fo mochte es zumeift Pietät fein, was ihn dies ebenjo jchwierige als un— erfreuliche Stüd fpielen ließ. Shumann hat e8 an der Neige jeiner lichten Tage geichrieben und Joachim gewidmet. Es ift ein dunkler Abgrund, über dem zwei große Künftler fich die Hände reihen. Martervoll, düfter und eigenfinnig ringt fich die »Phantafie« mit fehr geringem melodifhen Gehalt in fort: währendem Figuriren weiter. Nur höchſt jelten wird das Er— müdende dieſer Erfindung durch eine geiftreihe Harmonie oder Ordeftration unterbrohen. Beethoven's Romanze in F-Dur (op. 50), erinnern wir md nicht, früher öffentlih gehört zu haben. Beethoven hat befanntlich zwei Romanzen für Violine (mit Octettbegleitung) gejchrieben; die erite in G-dur fpielte Bazzini in feinen Wiener Goncerten. Beide Stüde tragen zwar den unverfennbaren Stempel Beethoven'ſcher Erfindung, ftammen aber offenbar nicht allein au8 dem inneren Schaffensdrang des Meiiterd. Sie haben einen Gelegenheitöbeigefhmad. Beethoven's eigenthümlichiter fraftvolliter Zeit angehörend, mahnen fie doch durh manchen conventionellen, veralteten Zug an die »erite Periode.«e Joachim fpielte die Romanze wunderbar groß und ruhig. Die Melodie geigte er einfach auf der hellen E-Saite, während wohl fein anderer Violin-Virtuoſe ſich verjagt hätte, fie fünftli in ein tieferes Helldunfel zu ziehen. Dieſe ſchlichte, ihmudloje Größe fcheint und der hervorragendfte Zug in Soahim’3 Spiel. Daß er fih damit mancher feineren, uns mittelbar rührenderen Wirfung begibt, verhehlen wir und nicht. Der große, pathetiihe Styl wird das Publicum immer früher zur Bewunderung als zur Liebe bewegen, er beugt ung den Nacken und kann darum nicht ſo ſchnell in unſer Herz ſich ſtehlen. Wie in dem perſönlichen Charakter der Menſchen, ſehen wir in den künſtleriſchen Individualitäten gewiſſe Anlagen faſt

Die Harfenipielerin Mösner. 267

regelmäßig ſich ausfchließen und fo gejondert große Claſſen von Vorzügen und Mängeln begründen. Mehr als eine Stelle von Beethoven hätte Hellmeöberger’3 feines, reizbares Naturelf und unmittelbarer ing Herz geipielt, als Joachim's unbeug— famer, römiſcher Ernft. Die Vortragsweiſe der Beiden verhält ſich beinahe wie Weibliches und Männliches, oder um ein muſikaliſches Bild zu gebrauchen, wie chromatijches und diatonijches Klang: geſchlecht.

Virtuoſenconcerte.

Die Harfenſpielerin Fräulein Mösner gab ein Concert mit beitem Erfolg. Die Thatſache, daß der Beifall des Pu— blicum3 falt ausichließlih ihrer Wirtuofität gilt, ericheint ihmeichelhafter für die Künftlerin, ala Iodend für den Mufiker. Dem es iſt in der That ein recht undankfbares Inftrument, worauf Fräulein Mösner jo viel Kunſt verwendet. Der gloden- reine, aber furze, gerifjene Ton der Harfe hat etwas Saltes, ſeelenlos Elementariſches. Man kann dieſe rafch abflingenden Töne nicht ſchwellen, nicht ſchwächen, nicht zu breiter, ſchöner Cantilene verbinden. In ihrer charakteriſtiſchen Wirkſamkeit auf Arpeggien und ſchnelle Läufe geſtellt, hat die Harfe als ſelbſt— ſtändiges Inſtrument ein ſehr kleines Gebiet. Dazu kommt, daß der romantiſche Nimbus, womit die Geſchichte und Poeſie dies ehrwürdige Organ verklären, von unſerer modernen Tracht und der proſaiſchen Concert-Umgebung die Flucht ergreift. Bon ihöner Klangwirkung als Begleiterin des Gejanges oder im Verein mit anderen Snftrumenten behält die Harfe in Solo: jtüden allzeit etwas Steifes, Dürftiges. Ueberdies iſt ihre Literatur ſehr arm; die Gompofitionen ihres beiten neueren Bertreterd, Pariſh-Alvars, können wir faum mehr goutiren, feiner Vorgänger Bochſa u. ſ. mw. nicht zu gedenken. Es beweift Fräulein Mösnerd Einfiht und Gefchidlichfeit, daß ſie Durd) eigene Transferiptionen das Repertoire der Harfe zu bereichern ſucht, nur würden wir ihr zu andern als Lilzt:Thalberg’ichen Dpern-Phantafien und jedenfall3 zu der Beiziehung eines be— gleitenden Inſtrumentes rathen.

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Ein volljtändiger Bericht darf des Herrn Nagy Jakab und feines Concert? im Theater an der Wien nicht vergeffen. Ein . herfuliicher Mann in ungariſcher Tracht mit gefchligten bligenden Augen, Starken Backenknochen und gemwaltigem Schwarzen Boll: bart. In der Hand hält er fein Goncert-Inftrument (»Tilinkö«), die ungariiche Hirtenflöte, die man bei den Pusztaähirten noch häufig im Gebrauch findet. Dies Kleine Pfeifchen wird, wie die Flöten im 16. Jahrhundert oder die uralte »Schwegel«, beim Andblajen gerade in den Mund gehalten. Es ift ein armielig rohe Naturproduct; der Ton, wechjelnd zwifchen jchrillem Gepfeife und unreinem Gezwiticher, entbehrt auch des geringften finnlichen Reizes und bleibt jeder Spur von Ausdrud unzugänglid. Die Be: hendigfeit, mit der unſer Goncerthirte auf diefem Qamentirholz ji herumtummelt, erregt mehr Heiterkeit ald Bewunderung. Man glaubt einen toll gewordenen Zeifig zu hören. Wie aber die Neigungen des Publicums unberehenbar find, es erſcholl anſtatt des erwarteten Gelächter großer Beifall und lebhafter, mit einigen »Eljen« gemifchter Herborruf. Der muſikaliſche Geſchmack Steht wirklich oft ganz jenſeits des Gemwohnten und der Leitha. Für einen Hirten, der volle ſechs Tage in der Woche allein mit jeinen Schafen auf der Puszta Hinträumt, mag jo ein Tilinkö die Eöftlichite mufifalifche Unterhaltung ab: geben; aber weiter ind Land würden wir und damit nicht wagen, höchſtens noch bis ins Wirthöhaus zum »Komlo— Kertben« in Veit, wo dergleihen Beiträge zu der Czardasmuſik der Zigeuner auf ungetheilte Berherrlihung zählen dürfen. Wir aber, die wir fogar den Meiftern der modernen, veredelten Flöte nicht ohne WVerlegenheit begegnen, fönnen dem würdigen Miſſionär des »Tilinkö« nur zurufen: »Meide deine Lämmer, weide deine Schafe!«

1862. Die Matthäus: YPalfion von Heb. Bad).

Die »Sing-Akademie« gab Bach's Paſſionsmuſik nah dem Evangelium Matthäi. ES war für Wien die erste Aufführung diefes Werkes, das an religidjer Er: habenheit, wie am fünftlerifcher Vollendung in der gejammten Mufit kaum jeinesgleihen hat. Marx durfte es wagen, die Bach'ſche Matthäus-Paſſion dag »fünfte Evangelium« zu nennen. Der Eindrud, welchen wir durd die unmittelbare Kraft diejer Mufit erfahren, läutert und befeftigt fich vollends, wenn wir die uralt ehrwiürdigen Wurzeln derjelben in's Auge faſſen. Bach's Muſik ift die letzte reichite Blüthe eines durch Jahr: hunderte fich dDurchziehenden religiöfen Kunſtzweiges. Die Paſſions— mufifen, gegenwärtig als unbeftrittener Beſitz des proteftantijchen Cultus angejehen, verdanken ihren Urfprung und erite Aus— bildung der fatholifhen Kirche. Bis in's 12. Kahrhundert läßt fich der Gebrauch der katholiſchen Kirche verfolgen, Die Leiden Chriſti in epiich-dramatifcher Form während der Charwoche in der Kirche mufikalifch aufzuführen. Längſt vor Baleftrina’3 Zeiten wurde in der Sitxtiniſchen Capelle die Paſſionsgeſchichte ſo aufgeführt, daß ein Sänger die Worte des Cvangeliften, ein zweiter die Reden Ehrifti fang, ein dritter endlich alle übrigen redend eingeführten Perſonen repräjentirte. Dazwiſchen trat jtellenweife da® Wolf (turba) in mehritimmigem Chor auf. Die lateiniichen Bibelworte wurden nad) von der Kirche normirten, pſalmodiſchen Weiſen abgefungen, welche »Mecente« hießen. Die evangeliihe Kirche übertrug die Sitte diefer Paſſions-Auffüh—

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rungen in ihre Liturgie. Auf Luther’3 Anordnung wurde an jedem Charfreitag Vormittags die Leidensgeihichte des Herrn, jährlih abwechjelnd aus einem der Evangeliften von dem Geiftlihen am Altare, und zwar deutfch abgejungen, in ein— töniger, von feinem Chor unterbrocddener Pſalmodie. Allmälig gegen das Ende des 16. Jahrhundert® begann fi) der muſi— faliihe Theil diefer kirchlichen Feier zu erweitern und auszu— bilden. Es kann hier nicht ausgeführt werden, wie durch immer reicheren Chorjag, durh Einfügung von Arien und Duetten, durch genauere Charakteriftit der bibliichen PBerfönlichkeiten fich diefe Gattung in Deutichland zu ihrem erften Höhepunkt, den »Vier Paſſionsmuſiken- von Heinrich Schüt (1665) erhob, dur den Königsberger Sebaftiani eine noch fünftlichere Aus: bildung (3. B. durchgängige Inftrumental:Begleitung) erfuhr. Eine neue Wendung nahm Form und Charakter der Paſſions— mufifen zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Hamburg. Den (meift nicht mehr bibelgetreuen) Worten des Epangeliften wurden nebit den Sirchenliedern der Gemeinde freigedichtete, Fromme Betrahtungen und Nutanmendungen gegenüber gejtellt. Der berühmtefte Verſuch in der Reihe diejer poetifch fläglichen, von pietiftiicher Anfchauung bejtimmten Paffionsgedihte war »Der für die Sinde der Welt gemarterte und fterbende Jeſus« von dem Hamburger Rathöherru Brodes. R. Kaijer, Matthes jon, TZelemann, Händel u. U. haben ihn componirt. Die poetifchen und religiöfen Anſchauungen dieſer Kreife find der Boden, aus welchem die wunderbare Paſſionsblume Sebaftian Bach's erblühte.

Bach's Paſſionsmuſiken find natürlich für die Kirche be— rechnet, indem die ganze Gattung einen liturgifchen Beitandtheil des proteftantiichen Gottesdienjtes bildet. Doch murzeln Die Paſſionsmuſiken durhaus nicht jo feit in dem kirchlichen Boden, wie die fatholiihe Mefje; mehr von dem allgemeinen Charafter eined Oratorium, find fie viel leichter aus dem liturgischen Vorgang loszulöſen. In Bach's »Paſſion« erzählt der Evan gelift (Tenor) mit den Worten der Bibel die Leidensgeſchichte; Chriſtus (Baß), Petrus, Judas, Pilatus, das jüdijche Volk zc., treten im Verlauf der Erzählung redend auf und verleihen ihr

Die Matthäus⸗Paſſion von Seb. Bad. 271

dramatijches Leben. An alle die Empfindung oder Betrahtung beſonders erregenden Momente fnüpfen fi Arien, Chöre und Kirchenlieder, theils der wirklichen, theilß einer idealen Gemeinde. Große Chöre, in welchen fi) die Gemeinde frommen Betrad)- tungen hingibt, eröffnen und bejchließen das Werk. Man fieht, daß zu dem lyriſchen Elemente, das in diefem Oratorium den Grundton bildet, und auch äußerlich vorherricht, noch das epifche und dramatiiche ſehr wefentlich Hinzutreten. Won jeder diejer drei Ausdrudsformen gibt die »Matthäus-PBaffion« unvergleichliche Muſter. Wenn hier die Erzählung fich zur tiefempfundenen Arie ausbreitet, dort gewaltig dramatiihe Chöre wie Blige ein: ichlagen, um ſich bald wieder in lang aushallendem Choral zu beruhigen und zu vertiefen, jo fällt es ſchwer, dem einen oder dem anderen den Vorzug zu geben. Dennoch gehört wohl das Bedeutendfte den Iyrifchen Bartien an, welche dem innerlich arbeiten: den Empfindungsleben Bach's gewiß aud) am nächiten ftanden. Gleich die erfte Nummer, vielleicht die vollendetite des Ganzen, ift ein polyphones® Wunderwerk, deffen durchgeiftigte Kunit wir bewundern, ohne davon erdrücdt zu werden. Es ift ein Doppel- chor der »Töchter Ziond« und der Gläubigen, auf welchen weit: hin die Silberflänge eines dritten, höher poftirten Chors (Knabenftimmen) ſich niederjenken. Kein majeftätiicheres Portal läßt fi zu dem gothiichen Dom denfen, mit dem man jo oft mit Recht die »Matthäus-Paffion« verglihen Hat. Unter den Arien find die bedeutenditen jene, welche der Soloſtimme die gewaltigen feitgefügten Schichten des Chores unterbreiten, wie die Tenor: Arie in C-moll (Nr. 26), die Alt:Arie »Ach nun ift mein Jeſus hin«, u. a. Diejen ftehen die Kleinen Arien, zwar minder impojant und funfireih, doch nicht weniger tief und finnig zur Seite. Es würde bei der großen Anzahl derjelben fat ebenjo ſchwer fallen, wie bei den Chören, die bejten nam— haft zu machen. Allerdings ift gerade der Genuß der Arien für ein größeres Publicum durch ihre veraltete Form und Die ungewohnt dürftige Inftrumentirung erfchwert. Häufig begleiten nur Oboe und PVioloncell, oder Flöten und Bäße die Sing: ftimme, zu welcher dieſe zwei oder brei Inſtrumente, jedes fich unabhängig fortbewegend, meift in ftreng gemeſſene contra=

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punktiſche Beziehung treten. Die dünne Begleitung (namentlich wo, wie bei der Wiener Aufführung, die füllende Orgel weg— bleibt), das Fehlen aller Blechinftrumente, verleiht diefen Arien einen ungemein feufchen, ernten, aber auch fremdartigen Aus: drud. Nah dem langen, und ungewohnten Vorherrſchen figu— rirender Oboen und Flöten Eingt es ſchon wahrhaft erfriichend, wenn eine Violine die ſchöne Alt:Arie im zweiten Theil be— gleitet. Kleinere Arienfäge von köſtlicher Einfalt und Reinheit, wie: »Du lieber Heiland, Du«, »Golgatha« mit den zwei tiefen Oboen (hier Clarinetten) 2c. befitt die »Matthäus-Paflion« in ftattliher Zahl. Untergeordneter, doch von hohem Intereſſe find die epiſchen Partien des Werkes. Die Recitative des Evangeliften haben eine Lebendigkeit und Schärfe der Decla— mation, die mitunter auch das Gewaltfame, Edige nicht ſcheut. Der erzählende Fluß der claffiichen italienifhen Recitative fteht unferm Meifter fern, deſſen Eigenart es mit fich bringt, Die harakteriftiihe Bedentiamkeit überall, auch auf often der Schönheit, voranzuftellen. Bedenklich für unjere Zeit ericheint die hohe Tenorlage, in welcher Bad den Evangeliſten reci- tiren läßt; die tiefere Orchefterftimmung feiner Zeit reicht hier zur Erklärung nit aus. Bach muß für den Evangeliften einen Sänger zur Verfügung gehabt haben, der mit ganz ungewöhn— licher Leichtigkeit in der höchſten Tenorlage deutlich recitirte; eine Art Haut-contre, wie die Franzoſen jene, jeßt ausgeſtorbene Gattung hoher, fih dem Alt nähernder Tenore nannten. Wen wäre der fhöne Zug nicht aufgefallen, daß alle Reden Chrifti von langaußhaltenden Geigentönen, wie von verflärendem Licht umfloffen find, während die Recitative des Evangeliften, Der Apoftel u. ſ. w. nur von kurzen Baßnoten geftügt werden. Das dramatiſche Element macht fi ſchon in den Reden und Gegen: reden der handelnden Perfonen geltend; mit entjcheidender, be— wußter Kraft tritt e8 jedoch in den kurzen Chorfägen der Juden im zweiten Theil auf. Welch’ mächtige, dabei ungefuchte Wir: fung! Sie ift um fo bemerfenswerther, ald die Kraft und Ver: feinerung des dramatiihen Ausdruds unbeftritten dasjenige Element in der Muſik ift, welches eine fpätere Kunftepoche am glüdlichiten weitergeführt hat. Wie tief Mendelsſohn's

Die Matthäus-Pafſion von Seb. Bach. 273

wirkſamſte Chöre dieſen Vorbildern Bach's verpflichtet ſind, wird niemand entgangen ſein.

Als Ganzes macht die »Matthäus-Paſſion« einen tiefen, ganz und gar eigenthümlichen Eindruck, einen mächtigeren Ein— druck, als wir nach dem Studium der Partitur ſelbſt prophezeit hätten. In der Gewalt und Eigenart dieſes Total-Eindruckes verſchwindet alles Einzelne, was den Hörer im Verlauf etwa fremdartig, ungenügend, ſelbſt widerwillig berühren mochte. In ihrer höchſten Offenbarung ſehen wir eine Kunſtrichtung vor uns auferſtehen, die wir als erhaben verehren, obgleich ſie nicht mehr die unſrige iſt. Hier verſteht man Zelter's Wort: »Bach ſei eine Welt für ſich«; man fühlt, dies Werk iſt einzig, wie fein Schöpfer einzig war. Eben deshalb bleibt dem Hörer auch die Verjuchung ferne, Vergleiche anzuftellen. Ohne viel Nuten würde er Damit nur fich und das Werk beeinträchtigen. In Parallelen zwifchen der »Matthäus-Paſſion« und der im Ohr des Bublicums noch nachklingenden D-Mefje von Beethoven mag die jubjective Vorliebe, das individuelle Verhalten des Hörers fein Recht wahren; ein objectiver Maßitab der Werthihägung wird ſich nicht finden laffen. Die religiöjen Anſchauungen Bach’s find von jenen Beethoven's jo weit verjchieden, wie die Richtungen ihrer mufifaliihen PBhantafie außeinandergehen. Daß Beet: hoven’3 MWerf eine größere Zahl von Hörern unmittelbar erfaßt und mit fich fortreißt, können wir weder bezweifeln noch bedauern, iſt es doch muſikaliſch und kirchlich aus modernem Geiſt geboren. Man kann auf Beethoven übertragen, was von Shakeſpeare geſagt wurde, daß er nämlich überall und doch nirgends religiös iſt. Von Bach darf die erſte Hälfte des Sabes gelten. Niemand wird ihn mit Shakeſpeare ver— gleichen, aber an den ihm an Genie allerdingd untergeordneten Milton erinnert uns der fromme Thomad-Cantor häufig. Wie Milton’3 Poeſie direct aus dem engliichen Buritanerthum, jo mündet Bach's Kirchenmuſik aus der großen pietiftiichen Bewegung des 17. Jahrhunderts. Das Wort nicht im tadelnden Sinn genommen, fondern im hiſtoriſch charakterifirenden. Den Zufammenhang Bach's mit dem deutichen Pietismus zu über: jehen, bedarf es wirffich eines verichleierten Auge. Man be—

Hanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 18

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tradhte die Terte feiner Cantaten Motetten Paſſionen und Die liebevolle Verjenfung, den allerdingS verflärenden, aber doc innerlihft damit zufammenftimmenden Ausdrud feiner Mufik. Das den Pietismus dharakterifirende Hereinziehen alle Gegebenen in die Sinnerlichkeit, und zugleih das fortwährende emfige Herausholen und Anschauen des Empfundenen finden wir analog in Bach's Mufit wieder. Das ift jedenfalls etwas bon der bloßen Frömmigkeit ſich Unterfcheidendes. Tiefe Religiofität ſpricht doch auch aus Beethoven's D-Meffe; allein fie ift modificirt, bereichert durch tauſend Bildungs-Elemente, die Beethoven in ſich aufgenommen, und die er auch im kirch— lichen Schaffen weit entfernt iſt, von ſich abzuwehren. Wir brauchen übrigens, um dieſes Unterſchiedes inne zu werden, gar nicht den entfernten Beethoven, wir dürfen nur Bach's großen Zeitgenoſſen Händel herbeiziehen, deſſen »Meſſias« denſelben Inhalt wie die Paſſionsmuſik behandelt. Im »Meſſias athmet auch jeder Ton echte Frömmigkeit, dabei iſt aber alles freier, heller, muthiger. Die tröſtenden, ſich aufſchwingenden, das Gemüth befreienden Momente finden ſich bei Händel ungleich zahlreicher, und er verweilt viel länger und nach— drücklicher bei ihnen, während über der ganzen »Matthäus-— Paſſion« eine ergreifend tiefe, aber faſt ununterbrochen düſtere, unfreie, von der Betrachtung der eigenen Sündhaftigkeit nicht losfommende Frömmigkeit wie ſchwerer Trauerflor laſtet. Daß es Bach ohne ängſtliche Bemühung gelang, alle ſinnlich-welt— lichen Elemente fernzuhalten, und dennoch auf einem ſo rigoros begrenzten Gebiet menſchlichen Empfindens den Hörer unaus— gelegt zu beihäftigen und zu erheben, ift das höchſte Zeugniß für die Kraft feines Genies und feiner Empfindung.

Es freute uns zu beobachten, daß das überaus zahlreiche Publicum Bach's ernitem und anftrengendem Meifterwerf mit ungefhmwächter Theilnahme folgte. Der Bollgenuß eines ſolchen Werkes kann freili nur demjenigen werben, der wohl vor: bereitet herantritt, und auch in die faft umergründliche Tiefe der künſtleriſchen Technik zu tauchen verfteht. Diefe Freiheit und Kunſt der Behandlung des polyphonen Satzes ift für das arbeitende Studium eine Goldgrube muſikaliſcher Erkenntniß.

Händel’3 »Meffiad« u. das Aubifäunt der »Bejellich. d. Mufitfreunde«. 275

Außer einiger techniiher Einfiht verlangt die Würdigung dieſes Werkes auch Hiftorifhen Sinn. Nur dur feine Vermittlung vermag man die Bedeutung ded Ganzen völlig zu erfaflen und unbeirrt von fremdartigen. Einzelheiten es zu genießen. Diejen biftorifhen Sinn, den fchönften Erwerb unferer Zeit, fcheint dad Bublicum in der That auch in mufifaliichen Dingen fich mit jedem Jahr ficherer anzueignen; es veriteht moderne An: fhauungen, individuelle Neigung und Gewohnheit von den Denkmälern einer großen Vergangenheit fernzuhalten, und ſtößt es ſich auch hie und da mit den Fühlhörnern, jo zieht es fie doch nie zurück.

Händel's „Melfias“ und das Jubiläum der „&efellfchaft der Mufikfreunde“.

Fünfzig Jahre find es, daß die »Gejellihaft der öſter— reihifhen Muſikfreunde« fih in Wien conftituirt und ihre Gründung mit der Aufführung eines Händel’jchen Oratorium gefeiert hat. Ein Halb Jahrhundert treuen Zufammenhaltens, Streben und Wirkens, fann es einen erfreulicheren, jolideren Anlaß zu feitlihem Grinnern geben? Die mufifaliihe Feier diejer goldenen Hochzeit mit Apollo bejtand in der Aufführung von Händel’ »Meſſias«. Es fah dabei recht feitlih aus. Der große gedrängt volle Redoutenſaal, von zahlreichen Luftern beleuchtet, die fingenden Damen im weißen Kleid, und die Herren wenigſtens jo feftlich al3 überhaupt ein Herr heutzutage aus— ſehen fann, und vor ihnen, gleihjam als Schußheilige, die Büften von Glud, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und dem unvergeßlichen Erzherzog Rudolph, der » Gejellichaft« erſtem und werkthätigitem Schirmherrn. Ein jchmetternder Tuſch von Trompeten und Pauken der Kaiſer und die Kaiſerin, umgeben von zahlreichen Gliedern des Herrſcherhauſes, erſcheinen unter jubelndem Zuruf in der großen Loge. Da tritt Anſchütz vor und ſpricht einen Prolog von Joſeph Weilen. Noch immer derſelbe Wohllaut, dieſelbe Wärme und Ueberzeugungskraft, die dieſem ehrwürdigen Künſtler ſo wunderbar treu bleibt. Herbeck klopft and Pult, die weißen und die ſchwarzen Heerſchaaren

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raufhen auf, und die feierlihen Harmonien der »Meifiade« ertönen. Die Wahl des Oratoriums fonnte feine befjere fein. Gerade der »Meſſias«, Händel’3 berühmteftes und wohl auch pollendetites Werk, tft in Wien jeit einer langen Reihe von Jahren nicht aufgeführt morden.

Händel hat fih in feinem »Meſſias« ein Denkmal, nicht blos als Tondichter, jondern zugleich als frommer, bibelfeiter Chrift gejeßt. Denn der Tert ift von ihm felbft aus den Stellen der Heiligen Schrift zufammengeftellt. »Glauben denn Eure Lordihafte, fagte Händel in feiner derben Biederfeit einem hochgeftellten Mann, der ihm antrug, er wolle zum »Meſſias« den Tert Schreiben, »ich Fenne nicht Gottes Wort, oder daß Eure Lordichaft Beſſeres fchreiben werden, als die Apostel und Propheten?« Händel wollte feine eigentliche »Paſſionsmuſik« geben; er faßte jeine Aufgabe in freier, großer Weiſe, dergeftalt, daß er einen Blid über die ganze Geidhichte wirft von den VBerheißungen durch die Propheten an bis zum Erſcheinen und Leiden des Heiland und die noch fortwirfen- den Folgen jeines Opfertodeg. Er befingt im erften Theile die Verheißung des Meſſias, die Sehnſucht nad ihm, fein Erjcheinen al Lehrer und Helfer; im zweiten Theil das Erlöfungswert, Leiden und Tod, Veibreitung der neuen Lehre, trotziges Auf— Sehnen gegen fie, endliher Triumph »des Herrn und feines Chrift, der da herriht von nun an auf ewige; im dritten Theil gläubige Zuverfiht und Erwartungen der Segnungen, welhe das Chriftenthum für die Zukunft verheißt. Die mufi- faliihe Darſtellungsweiſe ift vorwiegend lyriſch; das epifche, erzählende Element tritt dagegen zurüd; das dramatijche bleibt, mit der einzigen Ausnahme des Chors: »Er trauete Gott«, vollftändig aus dem Spiele. Dadurch gewinnt das Werk eine Größe und Einheit, eine gleichjan feitgewurzelte Ruhe und SInnigfeit, wie fein zweites, denfelben Stoff behandelndes Werf. Alle Keinen, genrehaften Züge find vermieden, jelbit die Perſon Chrifti ift nicht fingend eingeführt, eine Klippe, an der fogar Beethoven ſcheiterte. Die überwiegend Iprifche, reflectirte Stimmung des »Meffiad« konnte übrigen? in folder Einheit nicht ohne jeden Nachtheil feitgehalten werden. Es fehlen dieſem

Händel's »Meifias« u. das Jubiläum ber »Geielich. d. Mufitfreunde. 277

Dratorium die gewaltigen dramatiihen Schlagichatten, nnd da— mit die Kraft harakteriftiicher Gegeniäße, weldhe und im » Judas Maccabäus«, »Simfon«, »Beljazar«e hinreißen. Die Phantafie des Hörer3 findet geringere Anregung im »Meffiad«, der eben die fubjective Andacht, die Stetigfeit der Empfindung nicht durd Schilderungen äußeren Gejchehen® unterbrechen will. Die Mehrzahl der Händel’ihen Oratorien find eigentlich biblifche Dramen, nur ohne fcenifhe Daritellung; fie wirfen mit der vollen Anfhaulichkeit dramatiſchen Lebens. Indem der »Meſſias« auf diefe Wirkung verzichtet, muß er, gegen den Ausgang Hin, in eine Monotonie des Ausdruds verfallen, der ungeſchwächt Stand zu halten feine geringe Aufgabe ift. Abgefehen von diejer Einförmigfeit, welche in einem jo engbegrenzten Kreis von Empfindungen nicht ganz ausbleiben fan, ift der Eindrud des »Meſſias« auf jeden Hörer ein gewaltiger, tiefgreifender. Die Frömmigkeit erfcheint Hier in folcher Kraft und geiftiger Geſundheit, e8 ift alles fo echt, groß und ganz, daß man be: wundernd fühlt, einem unvergänglihen Werfe der Kunit und der Andacht gegenüber zu ftehen. Das Hauptgewicht der Wir: fung liegt natürlic in jener Form, deren großartige Behandlung Händel als unerreicht in der Geichichte der Tonkunſt hinſtellt, in den Chören. »Da jchlägt er ein, wie der Donner«, jagt Mozart. Mer kennt nicht die gewaltigite aller Hymnen, das Alleluja, mit feiner padenden Rhythmik, feiner bei aller Kunſt jo durchſichtigen Volhphonie, feiner impofant anwachſenden Steigerung! Dies Alleluja fteht an Volfsthümlichkeit und blen- dender Pracht einzig da; an großartigen Seitenjtüden fehlt es übrigen? im »Meſſias« nit. Wie erfchütternd fällt nach der lagenden Arie des Altes der erhabene Trauergefang ein: » Wahr: lid, er trug unjere Sünden!« Welche Charafteriftif in dem Chor »Wie Schafe gehen«, welche Feierlichkeit in dem » Wunder: bare! des eriten Theild. Nach diejer Richtung würden wir mit Beifpielen de3 Großen und Kraftvollen kaum fertig werden. In den Arien diefes Oratoriums erhebt fih Händel vielfach über fich ſelbſt. Die Mehrzahl derjelben fteht nämlih an Wärme und Innigkeit der Empfindung, an Freiheit der con ventionellen Feſſeln, über dem Durcfchnitt defien, was Händel

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in der Arienform zu bieten pflegt. Wer nicht auf einen großen Namen Hin in Bausch und Bogen bewundern will (wodurd) doch eigentlih immer dad wahrhaft Bewunderungsmwiürdige des: ſelben zu kurz fommt), der muß allerdings auch zwiſchen den Arien im ⸗Meſſias« unterfcheiden. Ein, Theil derjelben gehört zu jenen reinen formaliſtiſch erdacdhten, bei welchen der Tert dem Meifter nur als die Gelegenheit gilt, Muſik anzubringen. Meiſt mit einem fräftigen Motto beginnend (wie 3. B. die Arie: »Alle Thale«), jegen fie fich in jener typifchen, coloraturbehängten Steifheit fort, welche um die einzelnen Worte jih nicht viel fümmert. Wir möchten in diejfe Claſſe fo ziemlich alle Arien des eriten Theile reihen, mit Ausnahme der legten: »Er weidet jeine Heerde«. Wir find durch die großen Nachfolger Händel’3 an eine viel individualifirtere, anjchmiegendere Bes handlung des Sologejanged, an eine freiere und wärmere Melodie gewöhnt, um uns für dieſe Ausdrucksweiſe aufrichtig zu begeiftern. Selbſt Autoritäten wie Chryjander und Ger: pinus*) werden ung nicht dahin bringen. Im Gegenjage zu diefer Claſſe von Arien weiſt aber gerade der »Meſſias« eine Reihe von Sologeſängen auf, in denen Wort und Ton völlig Ein getworden, jede Note von Bedeutung, jede Wendung tief empfunden iſt. Goloratur fehlt darin entweder ganz, oder jie iſt doch höchſt charaktervoll, wie die rauhen Gorgeggi des Baſſes in der gewaltigen Arie: »Warum toben die Heiden«. Die Arie: »Ich weiß, daß mein Erlöfer lebet«; »Er weidet jeine Heerde«; » Das Volk, das im Dunkeln wandelt«; die Alt-Arie:

*) Profeſſor Gervinus, der neuerer Zeit als Vehmrichter gegen jede vermeintliche Händel-Verletzung umhergeht, findet als unbedingter Bewunderer der Händel'ſchen Arien auch, »daß Händel die feinſten, zarteſten, leiſeſten, dem gemeinen Gehör unvernehmbaren Aeußerungen der geheimſten, verborgenſten Seelenregungen abzuhören verſtand«. Wir möchten ihn beſcheidentlich erinnern, daß Händel ſelbſt den individuellen Ausdruck ſeiner Geſänge mitunter ſehr gering anſchlug, indem er z. B. für manche der ſchönſten Nummern aus dem »Meſſias« Melodien aus seinen italieniſchen Liebesliedern (Madrigale von Mauro DO rtenito) unverändert, mitunter in derjelben Tonart, verwendete. Das Nähere fiche in Winterfeld'3 »Gpangeliihem Kirchengejange«, III. Band.)

Richard Wagner's Concert. 279

»Er ward verachtet« (beſonders von dem Zwiſchenſatz in C-moll an) gehören hieher, bemunderungswerthe Gejänge, wie fie fein zweites Oratorium. des Meifterd aufzuweiſen hat. Director Herbed hatte im mwohlveritandenen Intereffe des Werkes (das jelbft in England nicht vollftändig gegeben wird), mehrere Nummern weggelafien. Leider war unter diejen Nummern. aud) der Chor: »Er trauete Gott«, deſſen unvergleihlihe drama: tiihe Energie wir um feinen Preis vermiffen wollten. Für das Recht eines Dirigenten (der das Publicum zu Händel heran- ziehen, und nicht etwa von ihm abjchreden will), Kürzungen vorzunehmen, brauchen wir wohl nicht erit aufzutreten.

Gegen Profeſſor Gervinus, der in der Weglaffung jeder Arie mufikalifhe Tempelihändung fieht, führen wir ein Wort des alten Thibaut in Heidelberg an. Einer der größten Händel- Verehrer und ftrengiten Buriften (Haydn und Mozart waren ihm ſchon unbequem), plaidirt Thibaut in feiner »Reinheit der Tonkunſt« für die Kürzungen, indem er Händel’: Oratorien mit »einer Schadtel, worin Edelfteine in Baumwolle einge- widelt liegen«, vergleicht, und »diejenigen bedauert, welche ſich zur unbedingten Pfliht machen, ein Händel'ſches Oratorium ganz zu geben, als ob fie damit recht etwas Wunderſames zu Stande gebradt hätten«.

Wichard Wagner’s Concert.

Im Theater an der Wien gab Richard Wagner eine große »Muſikaufführung«, welche aus Bruchſtücken feiner un— vollendeten Werke: »Die Meifterfinger«e und »der Ring der Nibelungen« beitand. Es dünkt und auffallend, wie gerade Wagner ein ſolches Potpourri außer Zufammenhang und ohne fcenifche Zurüftung aus Werfen veranftalten konnte, deren Inhalt dem PBublicum faum oberflächlich bekannt ift. Hat doch Wagner unzähligemal ausgeſprochen, daß in der Oper die Muſik für fich nichts ift, nichts fein darf, fondern ihre Bedeutung lediglich aus dem Zufammenhang der ganzen Hands lung, der Worte, der Mimik, der Scenerie erhält. Auch die

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einzelne Scene darf nad feiner Theorie aus dem mufifalifch- dramatiichen Organismus, deſſen Iebendigen Theil fie bildet, nicht losgetrennt werden fünnen. Der Verfaffer von »Oper und Drama« hat mit feiner Concertaufführung unftreitig eine Inconſequenz gegen fi jelbit begangen. Sie ihm verdenten zu wollen, fällt ung nit ein. Gin Künftlergemüth hat noch andere Bebürfniffe, als das, confequent zu fein.

MWagner, der in Wien eine große Zahl enthuftaftiicher Anhänger zählt, mochte das Bedürfniß empfinden, fih ihnen noch vor dem bedenklich zögernden Erjcheinen feines »Triftan« ins Gedähtnig zu rufen, feinen Wiener WVerehrern gleichiam ein glänzendes muſikaliſches Lever zu geben. Auch wir ver: danten Wagner »Mufifaufführung« die reichhaltigfte Anz regung und Anſpannung, zwar feinen reinen, aber doch einen größeren Genuß, ald die GCompofition irgend einer foliden ſchulgerechten Mittelmäßigfeit uns zu gewähren vermöchte. Die eigenthümlihe Zufammenfegung des Programms legt der Kritik eine große Neferve auf. Sie muß fich jehr bedenken, über complicirte, zum Theil ſchwer faßlihe Fragmente zu urtheilen, die aus dem Zufammenhang noch unverdffentlichter Werke herausgerifjen find. Der Goncertgeber Wagner hat, wie wir Eingangs conftatiren mußten, gegen jeine eigenen Geſetze ver— ftoßen; für und beſtehen diefe Geſetze noch, und wir möchten nieht gegen fie veritoßen. Wagner’: Muſik wurzelt wirklich vollſtändig in feinen dramatiichen Intentionen, fie ift wirklich untrennbar verwachfen mit der Action, mit dem fcenijchen Bilde mit allem WVorhergehenden und Nachfolgenden. Die jchildernde, malende Tendenz, die dramatiiche Abhängigkeit der Mufif er: Scheint überdies in Wagner’3 neueften Opern noch ungleich größer, ald im »Tannhäufere oder »LXohengrin«e. Aus diefen Opern haben unfere, unter dem Namen Leierfaften bekannten muſikaliſchen Straßenräuber wenigitens den Pilgerchor, den Einzugsmarſch, das Brautlied herausgefriegt; »Siegfried« und die »Walküren« können vor ihren Angriffen ruhig fein. Die von Wagner aufgeführten Fragmente fünnen als ſolche nad ihrem Werth und Bedeuten unmöglich abgeſchätzt werden. Selbſt nad ihrer rein muſikaliſchen Wirkung müflen fie im Zufammen:

Niharb Wagner's Goncert. 281

bang des Ganzen ſich anders darftellen; fie find gewiß beſſer oder ſchlechter, als fie im Concert einzeln uns vorkommen. Beiler: wenn alles Vorhergehende in der Oper weile darauf borbereitet, wenn es Höhenpunkte find, vor welden und nad) welhen die Nerven des Hörers Ruhe finden. Scledter: wenn ihr Styl der der ganzen Oper iſt, und zum täglichen Brode machen will, was nur als jeltenes Neizmittel dient. Was und im Concert dur fünf biß zehn Minuten als geilt- reiches blendendes Experiment« intereſſirte, müßte, auf einen Theaterabend ausgedehnt, zur unaushaltbaren Nerveufolter werden. Wer fönnte den glänzenden theatraliichen Effect des »Malfürenrittes«, des »Feuerzaubers« 2c. leugnen? Wer aber, fragen wir weiter, vermöchte diefen Sturm des Außerſichſeins auch nur eine Viertelftunde länger zu ertragen? Wagner’ Verehrern kann es nicht entgangen jein, wie müde und abge- ipannt ſelbſt das enthufiaftiiche Bublicum »an der Wien« nad der ledten Nummer war. Als weſentliche Theile eines großen, dramatifhen Organismus entziehen ſich die vorgeführten Frag: mente jeder nicht ganz oberflächlichen Beurtheilung. Sie auf ihren mufifalifhen Werth allein anzufehen, würde der Com: poniſt gewiß noch umftatthafter finden. Als fpecifiihen Muſiker vermochten wir Wagner niemals hoch zu ftellen. Die neueften Proben haben hierin unſere Meinung nicht geändert. Der eigentliche Kern ihrer mufifalifchen Erfindung erſchien ung dürftig, ja dürftiger als in MWagner’3 früheren Opern. In den »Nibelungen« ift das rein muſikaliſche Erfinden und Entwideln fo gut wie aufgegeben, was fie ung bieten, iſt potenzirte Declamation oder muſikaliſche Decorationd-Dtalerei. Im der Technik diefer ſtets meifterhaft gehandhabten Decorations-Malerei hat Wagner noch entfchiedene Fortichritte gemacht. Die effect: vollen Orchefterbilder im »Tannhäufer«e und »Lohengrin« er— blafien gegen die Farbengluth der vorgeführten Nibelungen: Scenen. Der »MWalfürenritt« mit feinen Peitichenhieben, Pferde: gepolter und Sturmesfaufen überjchreitet die Grenzen des Charatteriftiih-Schönen, aber er ift mit einer genialen Sed- heit gemacht, die den Zuhörer förmlich niederwirft. In dem »Feuerzauber Wodan's« überfluthet uns ein. Meer von fremd:

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artigen Klängen. In das fieberhafte Tremoliren der Geigen tönt das Rauschen und PBizzifiren dreier Harfen, brüllen Po— faunen und Ophhykleiden, klirren die hellen Rufe geftimmter Glöckchen. |

Sn jedem der Wagner’ichen Fragmente jchlagen eigen- thümliche, mitunter blendende Ordeiter-Effecte an daS betroffen laujchende Ohr des Hörers. Freilich führt Wagner zu dieſem Zweck fortwährend einen unermeßlichen Haushalt: dag ganze (namhaft verftärkte) Orcheſter in fortwährender, fluthender Be: wegung, Streicher und Bläſer in den fremdartigiten Combina— tionen, Poſaunen und Bombardond, Baufenwirbel, große Trommel, Beden, Triangel, Glöckchen. In dem Raffinement ungewöhnlicher Klangmiſchungen, wie in der Wucht des mate- riellen Lärm jcheint und Wagner an dem Punkt angelangt, wo .er nicht mehr weiter kann. Wenn wir aus Ddiejen Frag: menten und Wagner’3 gegenwärtigen Standpunft abftrahiren dürfen, fo fteht die betrübende Wahrheit feit, daß diejer Com— ponift nicht mehr auders als mit den coloffaljten Mitteln zu wirfen vermag. Am auffallenditen zeigt dies das »Vorſpiel« zu den »Meifterfingern«. & ſchließt mit einem Inſtrumenten— lärm, der jedenfall! mehr VBerwandtihaft mit dem Untergang von Pompeji hat, als mit der ehrſamen Nürnberger Sänger: zunft. Die Vereinigung der drei Themen. der Ouverture mag auf dem Papier recht ſtattlich ausfehen, in Wirklichkeit ilt fie ein betäubende® Durcheinander: Das gleihe Kunftitüd in Meyerbeer's »Norditern« fteht wie ein Meiſterwerk dagegen. Den reinften Eindrud hat und Pogner’3 Anrede aus den »Meifterfingern« gemadt. Das Declamatorifhe fügt fih darin jehr hübfch dem Melodiſchen, der Gefang athmet Innigkeit, die Begleitung hält fi, bei großer Wirkjamkeit doch mäßig. So weit wie in den Geſang Bogner’ wagt fi in den übrigen Stüden die Melodie felten hervor. Wagner legt fie bekannt: ih als eine »unendliche⸗ ins Orchefter, wo fie als jehr end- liche, vorübergehende, allerdings von reizendem Effect fein kann. Mit dem Vorwurf der Melodien-Armuth darf man Wagner wohl nicht mehr kommen, feit er in den »Meifterfingern« fo beißenden Spott darüber ausgegoſſen. Es fommt eben nur

NRihard Wagner's Concert. 283

auf den Begriff von Melodie an. Nach unferer einfältigen Meinung ift die Melodie verihieden von Eifenfeilipänen und unjer Ohr fein Magnet.

Ueber den Inhalt von Wagner’3 für vier Theaterabende berechneten »Nibelungen-Ring« gibt und eine eben erichienene »Studie« von Franz Müller in Weimar erwinjchte Auf: ihlüffe. Das raſche Erſcheinen dieſer apologetiihen Schrift hat und nicht erftaunt. Die Compofitionen Liſzt's und Wagner's wirken wie Armeebefehle. Es braucht ein Werk eines dieſer beiden Herren nur zu erfcheinen, und eine Kleine Literatur von erflärenden Artikeln, Brojchüren, Ueberſetzungen ꝛc. folgt auf dem Fuß. Herrn Franz Müller’ Frühgeburt hat nicht einmal fo lange warten können: die Mufif zu Wagner’ »Nibelungens ift noch nicht fertig, das Tertbuch noch nicht veröffentliht, und jchon Halten wir diefe 118 Seiten jtarfe »Einführung in die Dichtung Rihard Wagner’3« in Händen. Sie beijchäftigt fih Iediglih mit dem Texte; die Muſik wird, der Vorrede zu Folge, ein zweiter Band von »fundigerer Hand« beleuchten. Das Buch ſelbſt ift geiftlos und bombaftiih. Das iſt ſchlimm; aber noch jchlimmer, daß dad Bud nothwendig iſt. Wer nit die ganze nordiihe Mythologie mit allen Helden= und Götterfagen wohlgeordnet im Kopfe hat, verjtcht von Wagner’3 viertägiger Rieſen-Oper jo gut wie nicht. Und doch ſoll dies »Bühnenjpiel« ein Felt für das deutihe Volk fein. Welch' fchwerer Irrthum, es jeien jene Götterfagen fort: lebend im deutihen Wolf, weil defjen Urahnen fie erdadt! Wagner kann in den gebildeten reifen Wiend leicht die Probe machen, wie viel von den Erzählungen der »Edda« jeinen Verehrern und Verehrerinnen bekannt jei. Und vollends das »Volk«! Angenommen nun, dieſes hole jich die vollſtändige Kennt: niß diefer Sagen (aus Büchern, woher denn jonft?), jo fehlt doch der innere lebendige Zufammenhang der Nation mit jenen alten Göttergeftalten. Wir halten diefe Gebilde einer mächtigen naiven Volkspoeſie Hoch: im Epos. Auf der Bühne aber wollen wir Menfchen vor uns jehen, lebendiges Fühlen, Denken und Handeln, dad wir verftehen, und das uns im Innerften bewegt. In Wagner’3 »Lohengrine ift das Mythiſche des Helden jchon

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bebenflih; feine Zwitternatur vermiſcht und verfälicht in den entjeheidenden Augenbliden jedesmal die Motive feines Handelns. Sm »Nibelungenring« find die wenigen handelnden Menſchen lauter Zohengrine, nicht Gott, niht Menih. Im »Rheingold« treten nur Götter und Halbgötter auf. Die Handlung fpielt abwechjelnd in den Fluthen des Nheins und in ber Götterburg Walhalla; alfo unter dem Waſſer und über den Wolfen. Auch in den folgenden Theilen iſt das unmittelbare Eingreifen der Götter in die Handlung und ihre directe Verbindung mit den Hauptperfonen jo vorherrfhend, daß Siegfried, Brunnhild, Hagen fi) weit mehr als überirdifche, denn als menfchliche Weſen geben.

Die modernen Dramatiker, welche den Muth hatten, die Siegfried-Sage auf die Bühne zu bringen, waren vor allem bedacht, fie und durch rein menſchliche Motivirung näher zu rüden; fie hielten jich deshalb an das Nibelungenlied, welches im Vergleich zu den älteren Sagen und SHeldenliedern die Charaktere und Begebenheiten Schon überwiegend in dramatiſche Bewegung jeßt. Wenn Wagner im Gegenfaß dazu aus der »Edda« ſchöpft, jo heißt dies, das Rad zurüddrehen. Mit Vorliebe auf rein epiihen Motiven vermweilend, geht Wagner den Nibelungenhelden bis in das tiefite Dunkel ihres Urſprungs nad. Siegfried’3 Thaten füllen das dritte und vierte Stüd; im zweiten handeln Siegfried’3 Eltern, im erjten die Götter, von denen fie abitammen. Dan muß froh fein, daß Wagner den göttlihen Stammbaum nicht noch weiter biß zu der Kuh Andhumbla verfolgt hat, welche durch Beleden falziger Eis: blöde den Ahnherrn des Götterffeeblattes Odin, Wilt und We hervorrief.

Wir würden hier mit dem Bedauern fchließen müſſen, daß eine jo glänzende dramatifche Kraft fi durch das Streben nah dem Ingeheuerften und Außerordentlichiten in jo unfrucht— baren Streifen feithalten läßt. Zum Glüd eröffnet und Wagner jelbjt gleichzeitig eine neue Ausficht, die und nad) der qualmenden Gluth der »Nibelungen« wie eine freundliche Landichaft ent- gegenlächelt. Wir meinen die »Meifterjinger«, eine dreiaftige Oper, deren Tert wir in dem Haufe eined der liebensmwürdigiten

oh. Brahms. 285

Kunitfreunde Wien! von Wagner ſelbſt vorlejen hörten. Was man auch im Cinzelnen dagegen einwenden muß (— die Diction iſt ſchauderhaft —), das Ganze bleibt doch ein an iprechendes, bald heiteres, bald rührendes Sittenbild aus dem deutihen Städteleben, auf einfahen Werhältniffen ruhend, bewegt von Leid und Freud jchlichter Menjchen. Mit den leicht faßlihen und leicht zu fcenirenden »Meifterfingern« wird Wagner dem deutichen Theater zuverfichtlih einen größeren Dienit leiften, ald mit den »Nibelungen«; während diefe einer geträumten Zukunft Harren, wartet auf jene die danfbare, opernlofe Gegenwart. Wagner hat fich gleichzeitig Zwei ent: gegengelegte Wege geöffnet. Der deutichen Kunſt kann es nicht glei gelten, welchen von beiden Wagner in Zukunft erwählen, und ob er es vorziehen wird, feiner Nation ein Meeifterfänger zu jein, oder ein Nibelung.

Job. Braknıs.

Sohannes Brahms Hat fih nunmehr in einem eigenen Goncerte dem Publicum als Tondichter und PVirtuofe vorge: führt. Die Compofitionen Brahms’ gehören nicht zu jenen unmittelbar einleuchtenden und ergreifenden, die im Fluge mit fih fortreißen. Ihre eroterifche, jeder populären Wirkung por: nehm ausweichende Haltung Hat, vereint mit ihren großen, tehnifchen Schwierigkeiten, diefe Tondihtungen weit langjamer durchdringen laſſen, als nach der entzüdten Prophezeiung, die Schumann feinem Liebling als Wanderſegen mitgab, zu ver: muthen war. Bon Brahms' größeren Compofitionen war in Wien bisher feine einzige, von feinen fleineren Sachen nur eine Reihe (ungedrudter) »ungarifher Tänze durd Clara Schumann aufgeführt. So trat denn in der blonden, feinen SFohanneögeftalt des Gomponiften dem Wiener Bublicum in der That eine fremde Ericheinung entgegen.

Es gehört derzeit noch zu den bedenklihen Unternehmen, Brahms’ Talent und Wirkſamkeit abzuihägen. Auch Solden, die feine Werke vollftändiger fich eigen gemacht, als und möglich

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war, fällt es keineswegs leicht, fih in Brahms zweifellos zu orientiren. Nicht als ob dieſer Componift noch in Brauſen der erften Gährung triebe. Auf feine beiten Jugendwerke, deren wilde Genialität jo unwiderſtehlich abſchreckend anzog, find Yängft reifere Schöpfungen gefolgt. Won den überfhäumenden zwei Clavierfonaten zu den Fis-moll-Bariationen, und feither wieder zu den beiden Glavier-Quartetten, den Händel-Variationen u. a, welcher Fortichritt in der freieren ficheren Be— herrſchung der Technik, welcher Gewinn an Mäßigung und formeller Marheit! Bon einer Anfängerfchaft kann da Feine Rede fein. Allein gerade in Brahms' jüngiten Werfen tauchen ung Fragezeichen und NRäthielbilder auf, die eine Löſung erit in der nächſten Periode feines Schaffens finden werden. Dieje Löſung wird entjcheidend fein. Werden Urjprünglichfeit der Erfindung und melodijche Kraft in Brahms gleihen Schritt halten mit der hohen Ausbildung feiner harmoniſchen und contrapumktiichen Kunſt? Wird die natürliche Friſche und Jugend— fraft feiner erften Werke in dem foftbaren Gefäß, dad Brahms ihr jeßt geichaffen, unbefümmert fortblühen, ja nod) ſchöner und freier fich entfalten? Sit jener Nebelflor grübelnder Reflexion, der feine neueſten Schöpfungen jo häufig trübt, der Vorbote durhichlagenden Sonnenlichts oder noch dichterer, unmirthlicher Dämmerung? Die Zukunft, die nächte Zukunft muß es lehren. Eine bedeutende Erſcheinung, ja der intereffanteiten eine, ift Brahms gegenwärtig ſchon. In Form und Charakter feiner Mufit mahnt er zunädft an Schumann. Allerdings mehr im Sinne einer inneren Verwandtichaft, als formeller Nachbildung. Eine Individualität wie Brahms fonnte fih dem Einfluß des Schumann'ſchen Geiftes, wie er umleugbar gegenwärtig Die mufifaliihe Atmofphäre beftimmend durchdringt, am jchweriten entziehen*. Mit Schumann theilt Brahms’ Mufif vor allem

*) Ein prophetifhes Wort Shumann’d möge hier feine Stelle finden. Er fchrieb im Jahre 1840 an einen Freund, er finde es kleinlich von Fink, daß defien Mufilzeitung alle feine Compofitionen ſeit Jahren conjequent ignorire. »Nicht meines Namend Willen ärgert es mich,« fügte er bei, »ſondern der Richtung halber, von der ich weiß, daß fie die der fpätern Mufif überhaupt fein wird.«

oh. Brahms. 287

die Keufchheit, den inneren Adel. Nichts von Gefallfucht oder beipiegeluder Affection, alles redlih und wahr. Mit Schumann theilt fie aber auch die bis zum Gigenfinn jouveräne Sub: jectivität, das Grübeln, die Abkehr von der Außenwelt, das Snfihhineinhordhen. An Fülle und Schönheit der melodijchen Erfindung von Shumann Hoc überragt, erreicht ihn Brahms häufig im Reichtum rein figuraler Geftaltung. Hier Liegt Brahms’ größte Stärke; die geiltvolle Modernifirung des Canons, der Fuge, hat er von Schumann. Die gemeinjchaft: liche Quelle, an der beide fchöpften, ift Sebaftian Bad. Schon in den erften Variationen von Brahms (über ein Shumann’iches Thenta) arbeitet eine ungewöhnliche formenbildende Kraft; Die folgenden über ein Original-Thema und die über eine ungariiche Melodie blieben ungefähr auf gleiher Höhe. Sie hat Brahms gegenwärtig mit den »25 Variationen über ein Thema von Händel« übertroffen. In der Variationen-Form hat fi Brahms’ Talent bisher am glüdlichiten geltend gemacht: fie erheifcht vor allem Reichthum figuraler Geftaltung und Einheit der Stimmung, alio gerade Brahms’ entichiedenfte Vorzüge. Die Händel-VBarationen (ih kann mir nicht verfagen, an die zweite und zwanzigſte, zwei Mufterftücde geiftvoller Harmonik, zu erinnern) erregten in Brahms’ Concert den Iebhafteiten Beifall. Nicht jo günstig wirkte das Clavierguartett in A-dur. Fürs erfte find die Themen nicht fehr bedeutend. Brahms liebt es bei der Wahl feiner Themen, deren contrapunktiſche Berwendbarfeit höher als ihren jelbititändigen, inneren Gehalt zu jchägen. Die Themen des Quartetts Elingen troden und nüchtern. Es werden ihnen im Verlaufe allerdings eine Fülle geijtvoller Beziehungen abgewonnen; allein eine Wirkung im Großen ift ohne bedeutende Themen unmöglich. Sodann ver: miffen wir den großen fortftrömenden Zug der Entwidlung. Mir betrachten ein fortwährendes Anknüpfen und Abreißen, ein Vorbereiten ohne Endziel, ein Verheißen ohne Erfüllung. In jedem Sat finden wir feine Epifoden-Motive, aber feines, das im Stande wäre, ein ganzes Stüd zu tragen. Mit dem Quartett, nur von einmaligem Hören befannt, vermögen mir natürlich nur den eriten Eindrud, nicht das Werk felbft zu jchildden.

288 1862.

Ohne Zweifel würde ein genauere® Studium Hier wie bei Brahms überhaupt viele Vorzüge des Werkes and Licht bringen. Für die lebendige Wirkung wäre damit faum viel gewonnen. Dieje verlangt plaftifches Hervortreten der Melodien, große, nad) einem Ziel treibende Steigerung und Entwidlung. Das Glavierguartett und andere neuere Saden von Brahms mahnen uns ein wenig an Schumann’3 legte Periode, gerade wie und Brahms' Anfänge an Schumann's erſte Periode erinnern. Nur zu der goldflaren, reifen Mittelzeit des echten Schu- mann bietet uns jein Lieblingsſchüler bisher noch fein Seitenftüd.

Brahms’ Glavierjpiel jteht in engem Zufammenhang und ſchönſtem Verhältniß zu feiner künſtleriſchen Individualität überhaupt. Er will nur dem Geilt der Gompofition dienen und vermeidet beinahe jhüchtern jeden Schein jelbititändigen Prunkes. Brahms verfügt über eine hoch ausgebildete Technik, welcher nur der letzte glänzende Schliff, das letzte energifche Selbitgefühl mangelt, um Virtuofität zu heißen. Mit einer Art Nadläffigkeit behandelt Brahms den eigentlih glänzenden Theil des Spieles, wenn er 3. B. Octavengänge gern aus freiem Handgelent fo abjchüttelt, daß die Taften ſeitwärts ge— ftreift, anftatt von oben getroffen werden. Es mag Brahms immerhin als ein Lob erjcheinen, daß er mehr wie ein Com— ponijt als wie ein Virtuoſe fpielt, aber ganz unbedenklich ift die Lob denn doch nicht. Geleitet von dem Beſtreben, nur die Compoſition für fich ſelbſt Sprechen zu Iaffen, verabjäumt Brahms namentlich beim Vortrag feiner eigenen Stüde mandes, was der Spieler für den Componiften zu thun verpflichtet tft. Sein Spiel ’gleicht der herben Cordelia, die ihr beites Gefühl lieber verfchweigt, ald den Leuten preisgibt. Gewaltſames, Ver- zerrtes ift deshalb auch rein unmöglich in Brahms’ Spiel, deſſen finnige Weichheit fich vielmehr nicht einmal gern ent- Ichließt, den ganzen vollen Ton aus dem Clavier zu ziehen. Ebenjowenig wie diefe Heine Schwächen an Eoncertjpieler wollen wir verſchweigen, wie machtlos fie und gegen die unwider— ftehlihen feelifchen Neize feines Spiels erſchienen. Am tiefiten befriedigte uns diejelbe in Shumann’s C-dur-Bhantafie op. 17. Der phantaftiihe Zauber diefes Tonbildes, eine der merk—

Joh. Brahms. 289

würdigften aus Schumann's Sturm: und Drangperiode, wurde in Wien noch von Niemand beichworen. Lifzt, dem es ge widmet, hat e3 nie öffentlich vorgetragen; ein Theil jener großen Schuld an Schumann, von der man Lilzt nicht los— fprechen kann und die er mit würdiger Offenheit fpäter aner- fannt und bereut hat. Schumann hatte mit der »Phantafie« - uriprünglich einen Beitrag zu dem Beethoven-Denkmal in Bonn im Sinne, und beabfichtigte die drei Säße derjelben »Ruinen«, »Triumphbogen« und »Sternenkranz« zu überichreiben. Indem er dieſen Gedanken wieder aufgab, hat er feinen Adepten ein wahres Kirchweihfeit der Auslegefunft verdorben. Wie unfehlbar hätten die Gedanfenmufifer Beethoven’3 ganze Biographie aus demfelben Stück herausgehört, das gegenwärtig ohne Titel vor derlei Experimenten fo ziemlih Ruhe hat. Höchſt charak— teriftiich ift hingegen dad Motto (von Fr. Schlegel), welches Schumann feiner »MPhantafie« beigefügt hat, denn es weilt unabſichtlich auf einen mufifaliihen Grundzug des Stüdes hin: /

»Durh alle Töne tönet im bunten Erdentraum Ein leifer Ton gezogen, für den, der heimlich Laufchet.«

Dieſer »Tone ift eim leidenfhaftlihes Motiv, das über ſeltſamem Schwirren und Saufen des Bafjes den eriten Eat durdftürmt, im zweiten bis auf wenige Anklänge verjtummt, um im dritten, langfam von Harfenflängen getragen, in fanfter Verklärung wieder aufzutauchen.

Wir können und feine echtere, tiefere Wirkung dieſes merk— würdigen Stüdes denken, als die e8 unter Brahms’ Händen hervorbrachte. Wie gerne laufhen wir Brahms’ Spiel! Sobald er die Taften berührt, durditrömt ung die Empfindung: da fpielt ein wahrer, aufrichtiger Künftler, ein Mann von Geiſt und Gemüth und anſpruchsloſem Selbftgefühl. Brahms ſchien ganz befonder3 gut disponirt. Damit will keineswegs auch gelagt fein, daß jede Paſſage jpiegelhell blinkte, und jeder Sprung haariharf traf. Seine Technik iſt wie ein fräftiger, hoch— gewachſener Mann, der aber etwas fehlendernd und nachläflig gekleidet einhergeht. Er hat eben wichtigere Dinge im Kopf

Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 19

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und Herzen, als daß er unabläſſig auf fein Aeußeres achten fönnte. Brahms’ Spiel ift immer herzgewinnend und über: zeugend. Wie fräftig und fein zugleih gab er Bach's »chro— matiihe Phantafie« und Beethoven's Variationen Op. 35, über jenes Es-dur-Thema aus » PBrometheus«, das der Componift ipäter in die »Groica«e aufnahm! Etwas ftiefmütterlich be: handelte Brahms auch diesmal fich felbit. Seine F-moll- Sonate, als Gompofition Schon jo wunderlih »in fich hinein- geiungen«, wurde von ihm auch mehr »in fich hinein« gejpielt, als flar und jcharf herausgearbeitet. Die beiden äußeren Säge find mit all ihren jchönen Einzelnheiten doch zu formlos, um entichieden zu wirken; im Scherzo beirrt dem Hörer die auf: fallende Reminiscenz aus Mendelsſohn's C-moll-Trio; das Andante Hingegen gehört zu dem Innigſten, was mir Der neueren Glaviermufif verdanten. Bon höchitem Intereffe war Brahms’ Vortrag der F-moll-Sonate (Op. 14) von Schumann. Es dürfte die erite öffentliche Aufführung dieſes Werkes fein, das zu den leidenichaftlichiten, eigenthümlichiten, mitunter wohl auch eigenfinnigiten Phantaſien aus Schumann’ erjter Periode gehört. E3 ift uriprünglich, einer Laune des Verlegers zufolge, unter dem Titel »Concert sans orchestre« erjchienen, welcher weder das Weſen, noch die Form des Stückes richtig bezeichnet. Uriprünglih als Sonate gedacht, hat dasſelbe in zweiter Auf: lage auch wieder den Titel »Sonate« und damit zugleih das frühere verdrängte »Scherzo« aufgenommen.

Orchefter: und Ehborconcerfe.

In Brahms’ »Serenade für großes Orcheſter« (D-dur) lernten wir eined der anmuthigiten Orcheſterwerke der neueften Zeit kennen, Das Zurüdgreifen nach alten, halbver— Ihollenen Formen der Mufif wiederholt fih in jüngfter Zeit. Lachner und Raff ichreiben » Suitene, Brahms »Serenaden«. Die Serenaden (aud) »Gaffationen«, »Notturnod«, »Diverti- mentic) gehören zur mufifaliichen Charafteriftif des vorigen

D-dur-Serenabe von Brahms. 291

Sahrhunderts. Da Hatte jeder Fürft und jeder reichere Edel: mann jeine kleine Diufifcapelle, die danı an Sommerabenden Muſik im Park machen mußte. Auch in den Städten ward noch gemüthlicher; zu Haydn’ und Mozart’s Zeit erflangen Nachts die Straßen und Plätze in Wien von janften Huldigungs— Mufifen, welche dad morgige Namensfeit der Hochverehrten oder, wenn der Liebhaber Raifon veritand, ihrer gejtrengen Frau Mama feierten. Mozart hat viele ſolcher Serenaden geichrieben, theild für Harmoniemuſik, theils für ganzes Orcheſter. Es waren dies wirkliche Gelegenheit3:Mufifen, und die beiondere Beranlaffung wirkte beitimmend auf Form und Charakter des Stüdes, Zufammenfegung des Orcheiters u. |. w. Die » Serenade« zählte ſechs bis acht Sätze, worunter zwei bis drei Menuetts. Spohr's Notturnos für Harmoniemuſik dürften der letzte Aus— klang einer Kunſtgattung geweſen ſein, welche ſo menſchlich ſchön den Herzens-Angelegenheiten unſerer Großväter zur Seite ſtand. Was Brahms zur »Serenade« zurückgeführt, war gewiß nicht ſowohl der archäologiſche Kitzel, eine alte Form zu reſtauriren, als die wahlverwandte Hinneigung zu deren poetiſchem Inhalt. Weht doch aus dieſen vergilbten Serenaden ein Duft wie von getrockneten Blumen, und zaubert uns in längſtver— floſſene ſchöne Zeit. Brahms' Serenaden ich laſſe mir nicht nehmen, daß er ſie in poetiſcher Umgebung, in weicher, glücklicher Stimmung gedichtet hat retten die ſüße Be— deutung der alten Nachtmuſiken in die tiefere Geſtaltung der modernen Muſik. Die »Serenade« enthält ſechs Sätze, ihre äußeren Dimenſionen gehen ſomit über die der Symphonie hinaus. Dieſe Erweiterung beruht aber nicht etwa auf einem zu großartigen Inhalt, der die übliche Symphonienform ſprengen und den Componiſten nöthigen würde, noch über die fünfſfätzige Symphonie eines Berlioz hinauszugreifen. Die Serenade reiht mehr Sätze aneinander, als die Symphonie; allein fie find nicht blos fürzer, jondern von Haus aus anipruchslofer, ein= färbiger, bürgerliher möchten wir jagen. In diefer Eigenſchaft liegt vorzug&weife die Berechtigung der »Serenade« für Gegen: wart und Zukunft. Wir find durch Beethoven gewöhnt worden, an den Inhalt der Symphonie den höchſten Mapitab zu legen. 19*

292 1882.

Das Leidenihaftlihite Kämpfen, das erhabenite Pathos joll fie erfüllen. Als ein Rahmen für beicheidenere Bilder, ald ein Aſyl freundlicher, von den Kämpfen der Leidenfchaft nur ge: ftreifter, nicht aufgewühlter Zuftände, ift uns die Symphonie jeit Beethoven verloren gegangen. Wer fich heutzutage nicht als Fauft und Hamlet in Einer Berfon fühlt, und muſikaliſch ange— faßt von »der Menfchheit ganzem Jammer«, der läßt ſich auf eine Symphonie lieber gar nit ein. Saum dag Schumann mit feiner vierten Symphonie und der beabfichtigten »Sinfonetta« auf die Nothwendigfeit hinwies, neben der großen, pathetifchen doc auch wieder ihres freundlichen Seitenftüds, der »kleinen Symphonie«, zu gedenken: Die »Serenade« num, deren Bau die mannigfachſten Veränderungen erfahren mag, dünft uns To recht der Spielplatz idylliicher Träume, verliebter Plane, leicht: bewegten Frohfinns. Sie ift die Symphonie des Friedens. So hat Brahms fie aufgefaßt und auf das liebenswürdigite Durch: geführt. Eine befriedigte, abendliche Ruhe liegt janft über dem Ganzen, nur leicht bewegt zu freudigen Hoffen oder ſüßer Sehnſucht. Die Empfindung ift nicht einfam grübelnd, fondern gleihlam ſchon in Verſe gebracht, und mit einer gewiſſen Seltlichfeit dargereiht der Dame des Herzend.

Die ſechs Süße in Brahms’ Serenade find nit von gleihen Werth. Von den Themen des eriten Satzes ilt das erste mehr verwendbar, als originell oder bedeutend; eigen: thümlicher wirft das zweite. Das Ganze hat Frifche, leider auch (im Durchführungsſatz) viel Gekünfteltes, Abfichtlihes, das exit der poetifch ausklingende Schluß wieder gutmadt. Durchweg portrefflich ift das folgende Scherzo jammt Trio; in janftem ununterbrochenem Fluß ftrömt die Muſik, zauberifch beleuchtet von den farbigen Lichtern der Inftrumentirung. Weiche träu: merifhe Empfindung bewegt das Adagio, das allerdings lang ausgeſponnen, doch das jchöne Maß nicht einbüßt. Der erite Menuett (der zweite vertritt eigentlih das Trio, nach welchem Nr. 1 wiederholt wird) gilt uns als die Perle des Ganzen und vielleicht al8 das Hübfchefte, was Brahms gejchrieben bat. Das warme Colorit (blos Flöte, Clarinett, Yagotte und pizzifivende Violoncelle) und die naive Anmuth der Melodie

Lachner's »Sturmesmpiher, F. David's »Wüſte«. 293

verleihen dieſem Sag vor allen übrigen das charakteriſtiſche Gepräge der Nachtmuſik. Eine wahre Garten-Serenade, voll Mondlicht und Fliederduft. Das zweite Scherzo iſt minder bedeutend und hat mehr als die nöthige Aehnlichkeit mit dem Scherzo aus Beethoven's zweiter Symphonie Wir gehören nicht zu jenen entjeglichen NeminiscenzensJägern, die bei jedem D-moll-Hccord ausrufen: Ha, »Don Juan!« Nicht einmal die Anklänge an Beethoven’3 »Scene am Bache« im Adagio der Serenade haben wir Brahms verübelt; allein die Unſelbſt— ftändigfeit diejes zweiten Scherzo würde uns bedenklich genug dünken, um den Sat lieber ganz zu ftreihen. In lebhaft markirtem Rhythmus, nur ohne die rechte Steigerung führt ein fröhliches Rondo die Serenade zu Ende.

Lachner's jeinerzeit ſtark auspojaunte » Sturmesmpthe« erichien uns auch diesmal nur bemerfenäwerth durd ihre ge- ſchickte Mache; troß ihres heroifhen Aufpußes ift dieſe Muſik ärmlich, eine große Kleinigkeit. Am begierigiten waren wir auf die Wiederaufnahme von FFelicien David’3 »Wüſte«, melde jeit den Tagen ihres eriten Glanzes nicht wieder gegeben war. Dies Werk befigt des Anziehenden und Liebenswürdigen genug, um einer freundlichen Aufnahme auch jest gewiß zu fein, nach— dem der überjchägende Enthufiagmus von ehedem längſt ver: flogen. Die »Wüſte« ift das Werk eines feinen, aber im Grunde dürftigen Talents. Durch den enormen Erfolg der »Wüſte- iſt dies Talent noch mehr verarmt. Denn jahrelang nad) jenem Erſtlingswerk hat Felicien David geichwiegen, aus Furdt, fich jelbft nicht mehr einholen zu fünnen. Die Furcht war allerdings nicht unbegründet; denn als der Componift fich der Production wieder zumwendete, fand er nur fühle Hörer, bis endlich, zwanzig Jahre ipäter, eine anſpruchsloſe komische Oper: »Lalla Roufh«, feine Popularität, in Frankreich wenigſtens, erneuert hat. Die »Wüſte« der Componilt bezeichnet fie als »Symphonie-Ode« gehört nicht jener Gombination von Symphonie und Bocaldor an, die von Berlioz in dramatifcher, von Mendelsjohı in Cantaten-Form eingeführt wurde: fie iit vielmehr eine Cantate ſchlechtweg; eine Cantate jchildernder Gattung, erweitert durch geiprochene Strophen. Die eigentliche

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Tonmalerei iſt nicht vorwaltend, entichieden geltend macht fie ih blos in der einleitenden Schilderung der Wüfte, jpäter des Samums und des Sonnenaufgangs. Jin übrigen herrſcht das Element menſchlicher Empfindung vor, das auch die vor: fommenden Naturjchilderungen theils belebt, theils unterbricht. In der innigen Verfchmelzung diefer beiden Momente liegt Die Driginalität der David’shen »Wüſte« mehr, als in den formellen Eigenheiten derjelben. Die »Wüſte« erreicht felbit im ihren erniten Partien feine fonderlihe Tiefe des Ausdruds; aber Friſche und Anmuth find ihr nicht abzufprechen. Eine romantifche Dämmerung, ein erotifcher Reiz ruht über dem ganzen Bilde, das mit leichter, ficherer Hand entworfen, mit feiner Empfindung ausgeführt tft. Die Weglaffung der »erläuternden Declamation« dürfte die Wirkung des Ganzen mwefentlic heben; wir vermögen die Miſchung des geiprochenen und gelungenen Wortes immer nur als eine Störung zu empfinden, die den Faden des Fünit- leriihen Zufammenhanges vielmehr abreißt als anfnüpft. Der Nothbehelf eines »verbindenden Gedichtes«, wie ihn Concert: Aufführungen dramatiſcher Mufifen erheiichen, ift überflüffig bei einer muſikaliſchen Bilderreihe, deren einzelne Aufichriften »Sonnenaufgange, »Marſch der Karawanen« u. j. mw. deutlich genug bezeichnen, was der Dichter durch redfelige Paraphraſen nur räumlich auseinanderzieht.

Sm Philharmoniſchen oncerte erntete den wärmſten Beifall Fräulein Bettelheim für den ſchönen Vortrag zweier Arien von Händel und Bergolefe. Die Nebeneinanderftellung beider Arien war una Schon darum intereflant, weil fie uns in der Anficht bekräftigte, daß Händel in feinen Opernarien den melodiichen Reiz und Mohllaut der beiten feiner italienischen Zeitgenofjen nicht erreicht habe. Die Händel'ſche Arie (aus »Rodelinde«) ftand fteif und trocden neben der im ihrer Ur— Iprünglichkeit und Anmuth bezaubernden Siciliana von Pergoleſe. Welch’ blühende Inbefangenheit charafterifirt die Geſänge des »göttlihen« früh verftorbenen Sängers von Jeſi! Ueberall die gleiche edle Plaſtik der Melodie, diejelbe Süßigkeit und forglofe Schwermuth! Unfere mufifaliihen Geichihtsichreiber behaupten, wenn fie gerecht fein wollen, Händel und Gluck feten in

Arie von Händel. Symphonie von Echubert. 295

ihren italienischen Opern von den gefeiertiten Stalienern jener Zeit nicht übertroffen. Darin liegt, wie wir glouben, eine Un— gerechtigfeit gegen jene Italiener. Wer die Gelänge von Aleffandro Ccarlatti, Leo da Vinci, Pergoleſe ſelbſt angejehen und unbe- fangen angejehen hat, dem fann troß der unfreien, ſtereotypen Form derjelben nicht entgangen fein, daß das Beite daraus eine Urfprünglichkeit, Wärme und Fülle melodiöjer Erfindung athmet, welche von den italienifchen Arien Händel’ und Gluck's felten erreicht werden. Es handelt fich Hier nicht um die Höhe der Meilterfchaft, ſondern um die urfprüngliche Be— gabung. Jeder Componift, der fich erſt fünftlih einer fremden Nationalität affimilirt, muß nothwendig im Nachtheil bleiben, denn gerade das kann er nicht erarbeiten, was einem Wolfe als freies Geſchenk der Gottheit in die Wiege gelegt ward. Die Größe und Bedeutung der beiden deutichen Herven liegt ganz wo anders, für Händel ruht fie unangefochten im Ora— torium, für Glud im dramatiihen Styl der großen Oper. Beide wurden das, was fie uns jegt find und immerdar bleiben, erit von dem Augenblide an, wo fie aufhörten für Italiener und italienifch zu fchreiben. Es jollte darum deutichen Geſchichts— Tchreibern doch nicht gar jo ſchwer fallen,d en Fünftlich gezogenen Sugendwerfen Händel’ und Gluück's das irrthümliche Ueber— gewicht in Vorzügen abzufprechen, welche die Natur jo enge mit dem italienifchen Kunftgenius verknüpft hat.

Den Schluß des Goncertes bildete Schubert's C-dur- Symphonie. Dieje geniale Tondihtung, deren etwas mufivijche, ungleihe Zufammenjegung und breit auseinanderfallende Form hundertfah aufgewogen wird durch die blühendite Fülle von Erfindung, bat ſeltſamerweiſe in Wien niemald recht einge- ſchlagen. Es ift dies die vierte Aufführung diefer Symphonie, die und, jedesmal mit dem gleichen mäßigen Erfolge, in Er: innerung ift. Mag dies an der großen Länge der Süße, oder ihrer vorwiegenden Homophonie, oder endlih an der Inſtru— mentirung liegen, die wir ſeit Beethoven jorgfältiger, feiner gewohnt find, Thatſache bleibt es, daß unfer für Schubert fonft jo warmes Publicum fih davon niemal® unmittelbar ergriffen fühlte.

296 1862.

Virtuoſen.

Herrn Tauſig's Concert im Muſikvereinsſaale hat unſere Meinung von ſeinem erſten Auftreten her nicht umzuſtimmen vermocht. Wir bedauern dies um ſo aufrichtiger, als die Leiſtungen des Concertgebers von einer nicht gewöhnlichen Be— gabung und einem außerordentlichen Fleiße zeigen. Seine Bravour, Kraft und Ausdauer find erſtaunlich, man würde fie dem zartgebauten Süngling nimmermehr zutrauen. Gleichfalls erftaunlich ift fein Gedächtniß, das ihm geftattet, eine lange Reihe der verſchiedenartigſten Gompofitionen mit größter Sicher: heit unmittelbar hintereinander vorzutragen. Auch Geift ift dem Spiele Taufig’3 nicht abzufprehen, wenngleich er fih une motivirt und fofett in der einjeitigen Form des Witzes geltend macht, den Heine ein »bloßes Niejen des Verjtandes« nennt. Keine einzige Vortragdnummer des Herrn Taufig hat uns mit einem reinen, befriedigenden oder gar tiefen Gindrud ent— faffen. Peinlich berührt die Abfichtlichkeit, mit welcher Herr Taufig die häßlichite aller möglichen Anſchlagsarten cultivirt: das Stehen in die Taften. Nicht nur in eigentlihen Bravour— ftellen, auch in Gantilenen, die weich und gebunden erklingen jollen, liebt es Tauſig, geftredten Finger® auf einzelne Töne mit einer Gewalt niederzuftechen, die das Clavier förm— fi) wimmern madt. Gin andermal arbeitet er wieder, als gälte es, eingefrore Töne aus dem Eis loszuhacken. Was follen wir von dem Gehör eines Künſtlers halten, der das heulende Dietallgeraffel der aljo mighandelten Saiten nicht vernimmt oder den es nicht ſtört? Wenn Herr Taufig vollends die ganze Meute feiner Bravour ausläßt, welch’ ein Würgen und Quet- ihen, welch’ ein Erdroijeln der Töne! Könnten wir in diejer Kampfluft das Ueberſchäumen einer unbändigen Jugendkraft erblicfen, wir würden auch mit ihren Maßlofigfeiten uns ver: tragen lernen. Allein nicht Ueberkraft, jondern im Gegentheil Blafirtheit ift der Grunddharatter von Taujig’s Spiel. Mit jenen aufgeregten Megeleien wechſeln lange Perioden nach— läffigiter Gleichgiltigfeit; find die Tajten eine Weile gejtochen

Karl Tauiig. 297

und geichlagen, jo werden fie dann wieder in faum vernehm: lichen Pianiſſimo blos gejtreift, getippt, gefegt. Die eigentliche geſunde Mitte, der ruhig fingende Anichlag, fehlt. Es taucht zwar mande Stelle auf, die nah Tonſchönheit, ja nad Em: pfindung Elingt, allein es währt niemal3 lange: eine einzige dröhnend herausgeftochene Note und der Schöne Zuſammen— bang ift wieder vernichtet. Sehr ſchön begann Herr Tauſig das »Andante spinato« von Chopin; wir erkannten Die ſüße Stimme de3 Gomponiften, diejes Ariel des modernen Claviers; jdoh die Furcht, die fürdhtende Gewißheit, in einem der nächſten Takte plößlih aus der Stimmung geworfen zu werden, ließ uns auch hier mit einer Anfpannung folgen, die jedes wahre, fichere Genießen ausſchließt. Es iſt der Fluch des Raffinements, daß man ed auch dort noch heraushört, wo es vielleicht thatjächlich Ichweigt, daß man mit Einem Worte auch den tugendhaften Regungen nicht mehr glaubt.

Herr Tauſig Hatte ein interefjantes Programm zujamnten: geießt. Beethoven's Sonate Op. 109 in E-dur gehört zu den jeltenft gejpielten. Schon deshalb muß fie uns mwillfommen fein. Jedes Werk dieſes Meiiterd, gehöre es auch nicht zu feinen bedeutenderen, übt eine magiiche Anziehungskraft. Im Ihlimmiten Fall gilt e8 ung als ein denfwürdiged Blatt aus Beethoven’: Biographie. Das vorliegende e3 ſtammt ans dem Sahre 1821 erzählte nicht von glüdlihen Tagen. Melodien voll fühnen Aufihwungs und edler Anmuth, rhap— fodiich unterbrochen von böjen Launen und ermattenden Flügel: jenfen. Lenz, der Beethoven-Anbeter par excellence, nennt den erften Sat der E-dur-Sonate »faible, diffus, et maigre dans sa diffusione. Gewiß ift, daß diejed zweimal von einem Adagio unterbrocdhene Allegro feinen eigentlihen Mittelpunft hat und mehr einer freien Jmprovilation al3 einem Sonatenfaß gleicht. Auf den eriten Sat folgt ein furzes, glänzend aufitürmendes Preftiffimo und ein Andante mit Variationen; jchliht und innig das Thema, prachtvoll die erite Variation, die folgenden etwas berichneit in einem Flodenmeer von Noten. Ein Nocturno von Field wirkte auf die Gemitterlandfhaft Beethoven's wie ein anmuthig zierlihes Schäferbild von Watteau, wahre

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muſikaliſche Paftellmalerei. Auf eine »Suitee von Händel (G-moll) und eine Bolonaife von Chopin folgte die bunte, reizende Scenerie, welche unter dem Titel »Garneval« eine der liebenswürdigſten Stellen in Schumann’: Claviermuſik einnimmt. Sagen wir es offen, daß wir nicht ohne Schmerz dies zarte Stück unter den Händen Taufig’3 bluten gejehen. Mer die Compofition fennt und im Concert zugegen war, den brauchen wir nur an das athemloje Herabhegen des eriten und legten Satzes, an dad rohe Anpaden der Grazien »Chiarina« und »Eſtrella«, an daS anmuthloje Gepolter des »deutſchen« und des »vornehmen Walzerd« zu erinnern, um unſer Bekennt— niß zu rechtfertigen. Ungleich beſſer jpielte Herr Taufig Liſzt's Tranzjeription des »Spinnerliedes« aus dem »Fliegenden Holländer«, ein Bravourftücd voll der reizenditen Clavier-Effecte, dem er noch zwei Liſzt'ſche Transfcriptionen (Venezia e Napoli) folgen ließ. Das Concert war gut bejucht und an Beifall fein Mangel.

Alexander Dreyſchock gab fein viertes und letztes Concert. Ein Künftler, der in Wien jo oft gehört und befprochen wurde, wie Dreyſchock, bietet der Kritif nur mehr geringen Stoff. Wir wiſſen längft, daß Dreyfhod die geſammte Technik feines Inſtrumentes, und zwar nad) allen Richtungen hin zur Bravour geiteigert, nahezu unfehlbar beherrfht. Wir haben zu viel Reipect vor der Höhe des gegenwärtigen Clavierſpiels, um aud) nur die rein technifche Virtuofität, wenn fie in einer Ausbildung wie bei Dreyichod vorfommt, ala etwas Geringfügiges zu be- handeln. In dem Vortrag dieſes Künſtlers haben wir über: dies mehr als die blos äußere Fraft, nämlih auch eine innere geihägt, die fih als gejunde Friiche, ala jugendlich feurige Kampfluft kundgibt und der Folie einer gründlicheren mufitalifchen Bildung nicht entbehrt. Weber die Grenzen von Dreyihod’3 Darſtellungsvermögen konnten wir ung nicht täufchen. Hinreißend haben wir ihn nirgends gefunden, als wo ed Kraft und Bravour zu entwideln gab, two eine glänzende Technik wejentlih war. Dahin zählen nicht blos »Virtuoſenſtücke«, fondern auch die Concert:Allegros von Beethoven, Weber, Mendelsjohn Allein ſchon die Adagios dieſer Concerte

Alerauder Dreyichod. 299

fügen ſich nur widerjtrebend dem realiftiichen, ſtrotzenden Spiel Dreyſchock's; noch größer wird der innere Zwieſpalt zwiſchen diefem und dem träumeriichen, innigen Klängen Chopin’ und Schumann’. Derlei jpielt Dreyſchock nicht nur fühl, fondern, was noch ſchlimmer it, mit dem allzu fichtlichen Streben, ja nicht fühl zu Scheinen. Es Elingt geradezu komiſch, wenn Mohldiener Dreyſchock's aus dem Umſtand, daß diefer gegen- wärtig auch Schumann’ihe Sachen vorträgt, eine ganz neue »Phaſe« seiner Eünftleriichen Entwidlung folgern, eine innere »MWandlunge nad überwundenem Virtuoſenthum. Als wenn Dreyihod, mit feinem fejtgenieteten, fertigen, praftiichen Weſen, die Natur wäre, alle fieben Jahre eine pſychiſche Häutung vor— zunehmen! Dreyihod, der feine Kunftreifen 1838 begann, hat Schumann’ Clavier-Compofitionen etwa zwanzig Jahre lang vollftändig ignorirt, obwohl ſchon die techniſche Aufgabe ihn hätte reizen und ihm zu dem Ruhm hätte- verhelfen können, fie zuerft in die Melt einzuführen. Mir find weit entfernt, Drey- ihod dieje vieljährige Interlaffung vorzuwerfen; aber ein groß Weien muß man nicht daraus machen, wenn er je&t, wo Schumann theil® Bedürfniß, theild Mode, alio jedenfalld un ausweichlich geworden ift, defien Namen auch aufs Programm jegt. Das mag eine große That für Leute fein, die jogar über einige falſche Accorde Drevihod’3 aufjubeln, indem fie darin einen Beweis jeiner überquellenden Empfindung und Begeilterung finden! Dreoyihof war ſchon vor fünfzehn Fahren und länger eine vollkommen abgeſchloſſene Kunfterichei- nung. Die Fortichritte, die der unermüdliche Künftler bei jedem neuen Bejuche an den Tag legte, lagen nad) der Seite feiner innmer ftaunenswerther ausgearbeiteten Bravour. Wo dieſe das MWort führt, hat er uns im Verlauf ſeines Wirkens mit Be- wunderung erfüllt, gerührt hingegen, in tieffter Seele be: wegt, hat er im Jahre 1862 wohl ebenfo wenige Hörer, als zehn und zwanzig Jahre zuvor. Wir denfen, eine jo eminente Specialität wie Dreyihod bedarf nicht irreführender Schmei— chelei. Wer innerhalb feiner Grenzen fo unumfchränkt herricht, der wird durch die dankbare Anerkennung dieſer Herrſchaft befier geehrt, al3 durch die Verficherung, er ſei auch König beider Indien.

300 1862.

An den Eoncerten des Bianiften Wilhelm Treiber war durchweg das banfenöwerthe Streben bemerkbar, neben allbe- fanntem Glaffiihen und Modernen auch halbvergeflene Come pofitionen guter Meifter vorzuführen. Allein der Concertgeber traf weder eine glückliche Wahl mit Hummel’ ermüdend ipiel- jeliger Fis-moll-Sonate, no mit Mendelsſohn's jugendlichen Sonatenverfuhe op. 6, noch endlich mit einem Glaviertrio von Marichner, der fich befanntlich mit der Kammermufif nur jehr nebenbei und oberflählih einließ. Weit dankbarer find wir Herrn Treiber, daß er Moſcheles' G-moll-Eoncert aus langem Schlafe erwedte. Wir begreifen vollfommen die Strömung der Zeit, die, geichwellt von den neuen Klängen Chopin’, Mendels— Sohn’: und Schumann’, den älteren Meiſter ſchnell beileite drängte, allein wir fönnen feinen Namen nicht ohne danfbare Pietät nennen. In einer entjeglich fterilen Epoche der Clavier— Sompofition hat Mofchele8 deren Glanz und Würde verhält: nißmäßig hoch aufrechtgehalten. Wäre feiner gediegenen Schulung, dem rnit feines Willens und Wollens eine gleiche Kraft der Phantafie zur Seite geftanden, wir müßten ihn zu den eriten Meiftern der modernen Glaviermufit zählen. Seine beiten MWerfe, dad G-moll-Eoncert, die Etüden umd andere, verdienten noch immer gefpielt zu werden. Es jind dies die Kompofitionen ſeiner zweiten Periode, in welcher Moſcheles nach überwundener Oberflächlichkeit des Virtuoſenthums feine volle Kraft zu größeren Zielen zufammenfaßte. Später hat er, offenbar gefangen durd) den jugendlihen, fremdartigen Zauber der Mendelsſohn'ſchen und Schumann’ichen Klänge, feinen früher klar abgeſchloſſenen Erfindungen eine romantiiche Tiefe und Bedeutiamfeit zu geben veriucht, welche er aus eigenen Mitteln doch nur jehr unvoll: fommen zu beitreiten vermochte. Das G-moll-Goncert imponirt beute noch durch breite Anlage, gediegene und eigenthünliche Grfindung, durd Glanz und Zartheit des Details. Was hin und wieder an Paſſagewerk oder fleinen Mtelodienzügen ver: altet ericheint, verichwindet gegen die Tüchtigfeit des ganzen Werkes, dad ih im Adagio (von dem breit anjchwellenden Tremolo der Streih:Inftrumente) zur Höhe echter Poefie erhebt. Ein Zug, der und in manden Vorträgen dieſes tüchtigen

Wilhelm Treiber. 301

Pianiſten ftört, und der ihm leicht gefährlich werden könnte, ift die Neigung zu weicher, Shwärmender Sentimentalität. Sie verführt ihn nicht blos, das Weiche und Zärtliche noch weicher und zärtlicher zu machen, d. h. die feiten Formen zu lodern und zu verwiſchen, fondern auch an ungehörigem Ort einzelne Töne oder Tonreihen durch empfindelndes Hervorheben aus dem Zujammenhang oder doch aus dem Charakter zu reißen. Herr Treiber liebt es, vielleiht ohne es zu willen den ganzen Entwidlungsgang feiner überfchwenglihen Empfindung während de3 Spiel zugleich mimiſch darzuitellen. Nun fennen wir nichts Störendered, ald wenn ein Pianiſt bei jeder Tyermate die Augen gen Himmel erhebt, zu jedem Moll-Accord das Haupt jchmerz- li) verneinend jchüttelt, und bei einer Figur von ſechs accen- tuirten Noten ſechsmal mit dem Haupte nidt, Iſt dies alles, wie wir gerne glauben, bei Herrn Treiber unmillfürlicher Ausbruch des Gefühl, dann muß er dieſer Ausbrüche um jeden Preis Herr werden. Es ift durchaus nicht gleichgiltig, wie ein Spieler während des Spielend fich geberdet. Wahre Empfin- dung ftrömt dur die Töne allein ficher und unmittelbar in dad Gemüth der Hörer; für das, was der Spieler mit Augen, Kopf und Achfeln ausdrüdt, gibt ihm Niemand einen Grofchen. Ein großer und berühmter Bianift (Dreyihod), der gegenwärtig auf die Ausbildung Treiber’ freundlichen Einfluß nimmt, hatte bei feiner erſten Kunſtreiſe, als er nocd mit der unge— brochenen Luſt und Kühnheit eines jungen Herkules die Taften fnebelte, erfahren müfjen, wie man an jeinem erftaunlichen Spiel den Mangel an Seele bedauert. So au feiner Em: pfindung angezweifelt, glaubte er fortan diefe am Clavier äußerlich legitimiren zu müſſen, und jo fam es, daß er häufig mit dem Ausdruck eines fterbenden Laokoon gegen den Plafond blickte während feine Finger an einer harmlojen Romanze tändelten. Der berühmte VBirtuofe iſt diefer Untugend fjpäterhin bis auf einen kleinen Reſt wieder losgeworden, allein es wird ihn Mühe genug gefojtet haben. Herr Treiber jhloß feine Bor: träge mit Mendelsſohn's G-moll-Concert unter allgemeinem Beifall. Eine mit hübſchen Mitteln ausgeitattete Sängerin fang mehrere Lieder, d. 5. fie nahm einen Mundvoll Stimme

302 . 1868.

und gab ihm vermifcht mit beliebigen Noten und Worten, den Hörern von Takt zu Takt heraus.

Der Name des PViolin-Pirtuofen Remenhi iſt erft jeit einigen Sahren in weiteren Streifen genannt. Man lad zwar von jeinen glänzenden Erfolgen in England, Nordamerifa und Ungarn, ohne daß Nemenyi deshalb unter die großen europätichen Künstler gerechnet wurde, Nun haben wir diefe intereflante Er: jheinung auf deutſchem Boden fennen gelernt, nicht ohne ihr manch’ eigenthümliche und glänzende Seite abzugemwinnen. Wir halten Remenyi im Grunde für eine echte Kinftlernatur; Die tiefe Empfindung, mit der er einfache Volkslieder vorträgt, das elementariihe Feuer, dad ihn im Allegro fortreißt, jagen uns, unterftüßt von der ganzen Art feines Auftretens, fofort, daß hier feine künſtlich aufgeſtutzte Specialität vor uns fteht. Allein zu dem mwahrhaften Beſitz der Kunft, in dem Sinne der großen Culturvölker, Eönnen wir Nemenyi dennoch nicht zählen, dazu fteckt feine muſikaliſche Anihauung zu feſt in dem Erdreich jeiner nationalen Traditionen. Um ein großer Künſtler ichlehtweg zu heißen, iſt Remenyi in jeinem Horizont zu be— grenzt und unfrei; aber als den pirtuofelten und wahrjcheinlich gebildetften Interpreten ungariſcher Muſik müſſen wir ihn vielleicht gelten laffen. Liſzt hat in feinem Buche »Des Bo- hemiens et de leur Musique en Hongrie«e Remenpyi ein eigenes Capitelchen (p. 329) gewidmet. Bei aller Auszeichnung, die Lilzt, in Ausdrüden und liebengwürdiger Herzlichkeit, dem jungen Geiger erweiſt, betrachtet er ihn doch nur als den begabteften, ja einzigen Erben des muſikaliſchen Zigeunergeiſtes. Er beitimmt ihm nur »une place toute sp&ciale dans la galerie des hommes, qui ont releve quelque branche deperis- sante de l’arte. Dieſer abiterbende Kunftzweig ift eben die Zigeunermuſik. NRemenhgi allein hat in Liſzt die Erinnerung an den großen Bihary wieder Icbendig, denn er hat das »ideal bohemien« zu dem jeinigen gemacht. Lijzt lobt den Eifer, mit welchen Remenyi auch claſſiſche Biolin-Sompofitionen, Bad, Spohr und Mendelssohn, ftudire; allein nad) joldhen Productionen fehre er »mit verdoppeltem Aufſchwung zu feinen Lassan und Friska’s zurüd, als wollte er ftillfchweigend dem

E. NRemenpi. 303

PBublicum jagen: Seht wie viel Ichöner als dies Alles doch die Mufik it, die wir Zigeuner mahen!«e Liſzt's Urteil ift hierin jo gut wie maßgebend. Mir fanden es infofern ganz beitätigt, ald ung Remenpi nur im Vortrag von ungariichen Volksweiſen originell und muſikaliſch erfüllt erſchien. Dennod dürfte er gegen die Zufammenftelung mit den Zigeunern in= fofern proteftiren, al3 er in ihnen weit mehr die Verderber alö die Pfleger der ungariihen Muſik erblickt. Remenyi's erites Concert joll jehr bejucht gemweien fein; das zweite war jchütter bejegt, kaum dichter als Herrn Treiber’ letzte Production. Allein da konnte man den Unterſchied zwijchen einem rein deutichen und einem maghariſch-gemiſchten Publicum wahrnehmen und was ſolch ein weftsöftliher Divan werth ift. Nach den ungarischen Liedern« vollführte der halbgefüllte Saal einen Bei: fallsorkan, daß man meinte, es wimmle von jauchzenden Zu— hörern die ganzen Treppen und bis in den Hof hinab,

1863. Schumann’s Muſik zu Goethe's „Jauſt“.

Die Geſellſchaft der Muſikfreunde hat in einem »außerordentlihen Concert Schumann's Scenenreihe aus Goethe's »Fauſt« zum erſtenmal in ihrer Vollſtändigkeit gegeben. Dieſe Vorführung eines merkwürdigen Ganzen ver— dient ebenſo ungetheilte Billigung, als die weiſe Vorſicht, mit welcher die »Geſellſchaft« im vorigen Jahre das Publicum zuerſt mit dem dritten Theil allein dem ſchönſten und faßlichiten des Werkes befannt gemacht, und dadurd für den nicht To ungetrübten Gindrud der beiden übrigen Theile gewonnen Hat. Ueber jene dritte Abtheilung, die »Verflärung Fauſt's«, Habe ih jeinerzeit ausführlich berichtet*) und zwar unter dem be- jeligenden Gindrud eines Entzückens, wie ich es im ganzen Bereich der Kunft nur wenigen Gricheinungen verdanfte. Nach der geitrigen Aufführung könnte ich nur meiner Bewunderung noch gelteigerten Ausdrud geben, denn mit jedem Wieder: erſcheinen ergreift die8 Wunderbild reiner und gewaltiger das Gemüth. Schumann hat diejfe dritte Abtheilung zuerft, und zwar in den beiten Stunden feiner beiten Periode gefchrieben. Grit ſechs und fieben Jahre fpäter fügte er die zweite, dann die erjte Abtheilung Hinzu: Schöpfungen, die genau nach Diejer Ordnung auch in ihrem Werthe aufeinander folgen. Ouverture und die Scenen des eriten Theils ſtammen aus Schumann’s legter Thätigkeit, aus jener trüben Düfjeldorfer Epoche, die des Meiſters phyfiihe und geiltige Gejundheit ſchon wankend

*) Vergleihe ©. 195.

Schumann’ Mufit zu Goethe's »Fauſt«. 305

ſah. Goethe dichtete den eriten Theil feines »Fauſt« auf der Sonnenhöhe feiner poetiichen Kraft; den zweiten jchrieb er als Greis, und vollendete ihn furz vor feinem letzten Geburtstag, im Auguft 1831. Trennt jomit die beiden »Fauſt«-Theile bei Schumann feine jo lange Zeititrede, wie die Goethe’ichen, fo liegen dafür in Shumann’s rajcher und ftürmifcher ſich ver: zehrendem Leben die Wandlungen, die fünftleriihen Stufen: jahre viel näher an einander. Ich habe im vorigen Jahre auf dieſe merkwürdige Analogie hingewielen: Schumann's »Faujt« reproducirt das Verhältniß der beiden Theile von Goethe's Dihtung, nur in umpgefehrter Ordnung. Einige treffende Ausfprühe Viſcher's über Goethe’ »Fauft« fönnten in der genannten Umkehrung beinahe von Schunann’s Compoſition gelten: »Ein allegorifches Machwerk«, jagt Viſcher vom zweiten Theil, »drängt ſich hier als Fortſetzung an die Seite ſeines herrlichen poetiſchen Products. Wenn im erſten Theil die Sprache wie ein Strom daähinrauſcht, fo hören wir bier jene Biſam- und Moſchusſprache, jenes jelbitgefällig ordent- liche, glatte, limitirende Reden, daß der Menichheit Schnigel fräujelt. Die Mängel, welche im eriten Theil mit den Schön: heiten des Gedichts unmittelbar zufammenhängen, find im zweiten zu Schreienden Fehlern angeſchwollen, oder vielmehr fie ſchwollen jo hoch an, weil feine Kraft mehr da war, Schönes zu pro- durciren.e Man wird nicht fehl gehen mit der Annahme, daß auh bei Schumann, als er die Scenen des eriten Theils ichrieb, »feine Kraft mehr da war, Schönes zu produciren.« Die Ouverture D-moll hat unleugbar einen gemiljen Fauſt'ſchen Zug, ein fataliftiiche® Grollen und Refigniren, muſikaliſch iſt fie ziemlich Ihwach erfunden, die Themen nicht bedeutend, der Rhythmus jchwerfällig, der triumphirend beab— fihtigte Schluß in D-dur ohne innerliche Kraft. Die erite Nummer, da3 Geſpräch Fauſt's mit Gretchen im Garten, erreicht muſikaliſch in feinem Ton die blühende, friiche Innigfeit des Gedichts. Im Gegentheil ift dieſe zu einer eigenthümlich matten, ſchwammigen Sentimentalität herabgeftimmt, wie man fie in ſchwächern Spohr’ihen Gejängen findet. Won dieſem weichlichen Grund fteigt der Gefang mitunter zu einem falichen, ungehörigen Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 20

306 1863.

Pathos auf, 3. B. in Gretchens Worten: »Geht, ihr lacht mich aus!« noch mehr in dem Blumenfpiel »Er liebt mich, liebt mich nicht.“ Der Gefang iſt mehr declamatoriſch als muſikaliſch gedacht. Trotzdem charakteriſirt ihn nicht ſowohl die diſtincte, das Wort ſcharf zeichnende Klarheit des echten Recitativs, als vielmehr die Unbeſtimmtheit einer ruhelos modulirenden, wogen— den und deßhalb in ihren Umriſſen undeutlichen Melodie. Es folgt Gretchens Monolog vor dem Bild der Mater dolorosa, ein der Dichtung getreu folgendes düſteres Stimmungsbild. Die Singſtimme ganz dramatiſch (der grelle Aufſchrei: »Hilf mir!«), gleichſam zerpflückt, wird von dem Wogen der charakte— riſtiſchen Begleitung mitgeriſſen. Die ganze Nummer verſchwindet gegen die kurze, innige Geſangſtelle mit der dieſelben Worte »Neige, neige, du Schmerzenreiche« in der dritten Abtheilung auftauchen. Auch die folgende Domſcene wirkt mehr äußerlich, durch den Choreintritt, durch die brauſende Begleitung, endlich durch die unvertilgbare Gewalt des Vorgangs ſelbſt, als durch die ſubſtantielle Kraft der muſikaliſchen Erſindung, die ſtockend und angeſtrengt, nicht frei dahinſtrömt. Dieſe drei Scenen ſind die einzigen, die Schumann aus Goethe's erſtem Theil com— ponirt hat. Ganz dramatiſch componirt, bedürfen ſie geradezu der ſceniſchen Darſtellung; die Oratorienform drückt durch den Mangel an Anſchaulichkeit peinlich auf den Hörer. Erreicht Schumann's Muſik (ſelbſt eine theatraliſche Aufführung ange— nommen) nicht entfernt die Dichtung, ſo erſcheint ſie in Concert— einkleidung völlig als ein matter Abzug derſelben.

Die zweite Abtheilung nimmt ihren Stoff bereits aus dem zweiten Theil des Goethe'ſchen »Fauſt«. Sie ſteht muſi— kaliſch höher als die erſte, aſſimilirt ſich auch inniger dem Ge— dichte; unter der dritten bleibt ſie tief zurück Will man Schu— mann's »Fauft«, analog dem Goethe'ſchen, in zwei Hälften theilen und der fritifer muß es wohl io bilden die erste und zweite Abtheilung, nah Styl und Entftehung zu: ſammengehörend, die eine, und die Verklärung (dritte Ab: theilung) die andere Hälfte. Dieſe fteht eigentlich als mufi- faliihes Kunſtwerk für fi allein, wie bei Goethe der erite Theil des »Fauſt«. Die Scenen, die Schumann für feine zweite

Schumann's Muff zu Goethe's »Faufte. 307

Abtheilung zufammenftellte, erregen von vornherein zwei weſent— liche Bedenken. Für’ erite entziehen fie fich, bis auf wenige Momente, der eigentlihen Miſſion der Muſik. Dieje theils projaiihen Vorgänge, theils ergrübelten Allegorien find noch weniger muſikaliſch als fie poetiich find. Wenn »Fauſt« feine legte Reinigung« in politiihen und national-öfonomiichen Unternehmungen findet, wenn er mit den herrlichen Worten aus dem erſten Theil: »Zum Augenblicke dürft’ ich jagen: Verweile doch, du biſt jo Schöne nunmehr eine gelungene Sumpfaus— trodnung begrüßt was joll da die Muſik Rechtes thun? Sodann it der Sinn und Zuſammenhang dieſer herausge- rifienen Scenen für ein größeres Publicum abjolut unverftänd- lich. Bekanntlich ift der zweite Theil des Goethe'ſchen Gedichts nur in einer dünnen Schicht unferer Gebildeten wirklich heimiſch; eine Aufführung von Fragmenten daraus macht VBorausfegungen bezüglich des Zuhörer’3, denen die Wirklichkeit nirgends ent- ſpricht. Um einem Publicum von Mufikfreunden Ear zu machen, was der Dichter und der Componiſt damit wollen, müßte man jenen nicht nur das ganze Gedicht, fondern überdies noch einen vollftändigen Gommentar deöfelben in die Hand geben. Etwas der Allgemeinheit Unverftändlihes und Unerquickliches wird dieje Scenenreihe, troß ihrer Schönen Einzelheiten, immer bleiben. Was ihren mufifaliihen Ausdruck betrifft, fo iſt er der eigen: thümlich unfinnliche, raſtlos grübelnde der ‚legten Schumann: Ihen Periode. Der Mufifer wird fi an zahlreichen geiſt— vollen Zügen der Rhythmik und Harmonifirung, ſowie der In— ftrumentation erfreuen, den nicht technifch Intereſſirten dürften nur einzelne Momente mit unmittelbarer Wärme ergreifen; das Ganze wird ihm den Eindrud einer erniten, edel und groß are gelegten, aber erzwungenen rhapjodiihen Tondidhtung machen. Die Abtheilung beginnt mit einer überaus zarten Inſtrumental— Einleitung zu Ariel's Geſang. Diefe breiten, weihen Harfen- Arpeggien, die feinen, lichten Geigenftrahlen, die darauf fallen, der ſüße Frieden der Melodie Elingen Schön aus Schumann's befferen Tagen herüber. Die Tenor-Arie jelbit (Ariel) iſt ge: zwungen und geſangwidrig, melodiſches Brödelwerkf; überdies (wie feltfamerweife Manches in diefer vorwiegend declamirenden 20*

308 1863.

Musik) durch auffallende Declamationd: Fehler entitellt. Feſter gefügt tritt der Chor ein mit einem Motiv von abfteigenden Piertelnoten, das wie ein matter Abglanz von dem Chor »bei der Liebe« aus dem dritten Theil ericheint. Mit dem rafchen, an Weber erinnernden 8-Takt »Thäler grünen« belebt ſich der Chor in anmuthigem Aufihwung. Seßt beginnen mitunter ſchon die unpoetiichen und unmufifaliihen Terte: »Auge blinzt und Ohr eritaunt, Umerhörtes hört fi niht« u. dgl. Die Ge: fänge Fault’3 in diefen und in den folgenden Scenen der 2. Abtheilung find überwiegend declamatoriichen Charakters, ernit und würdig, aber auch monoton und in ihrer breiten Ausführung ermüdend. Der Tert zwingt hier den Fauſt mit: unter geradezu zu dociren (»Ihm finne nad) und Du begreifit genauer« 2C.). Die Neigung zu gelangmwidrigem Sa, ſowie zu gehäufter Anwendung von Synkopen macht ſich in dieſer Partie ftark bemerkbar. Von lebendiger, phantaftiicher Färbung ilt der Eintritt der vier »grauen Meibere: ein hüpfender 6/ «Takt. So wirkſam der Sat muſikaliſch iſt, jo zweifellos fcheint uns andererſeits, daB die »Noth«, die »Sorge«, die » Schuld« und der »Mangel« bleiche, Tchleichende Geftalten find, die nicht hüpfen und jpringen wie Elfen. Fauſt's Antwort an die »Sorge« (Des-dur */,:Takt) mit ihrem declamatorifchen Pathos hat eine frappante Aehnlichkeit mit den Sängerfcenen in Wagner’3 »Tannhäufere. Fauſt's Erblindung und faft alles Folgende bleibt ohne ſceniſche Darftelung unverftänd: lid. In der langen Schlußicene der 2. Abtbeilung, Fauſt's Tod, bringt der Chor der Lemuren (namentlich von den Worten an: »Mie jung id) war«) erwünſchtes rhythmiiches und melo- diſches Leben in die biöherige mufitaliihe Dürre. Der Lemuren— gelang iſt ein abgerundetes Muſikſtück mit einheitliher Haupt: tonart (D-moll), gegen welche Mephiſto's Solo in A-moll gleihlam den Mittelfaß bildet; durch dieſe formelle Rundung und Geſchloſſenheit nicht weniger als durch fein frifches, charafte- riftiiches Golorit wird der Lemurenchor zur mufifaliichen Date in der zweiten Abtheilung. In dem Part Mephifto’3 vermochten wir ein diabolifches Element auch nicht entfernt wahrzunehmen; der treuefte alte Diener könnte faum anders fingen. Ein kurzer

Schumann's Muſik zu Goethe's »Fauſte. 309

Chorſatz: »Es iſt vollbracht!« ſchließt die Sterbeſcene, und damit die zweite Abtheilung in frommer, abgeklärter Stimmung.

Es folgt als dritte und letzte Abtheilung »Fauſt's Verklärung«. Wie mit einem Ruck ſind wir aus nebeligem Thal emporgehoben und zu der entzückendſten, ſonnigen Aus— ſicht. Wir begreifen vollkommen, daß manche geachtete Stim— men die beiden erſten Theile weit höher ſtellen, als dieſe uns erſcheinen, und möglicherweiſe ſind ſie im Recht, wir im Un— recht. Aber das begreifen wir nicht, wie das Entzücken der— jenigen über den dritten Theil wahrhaft gefühlt ſein kann, welche ſchon von der erſten und zweiten Abtheilung entzäückt find. Hören fie nicht den fundamentalen Unterſchied zwijchen dieſen zwei ungleichen Hälften? Fühlen fie nicht, daß Schumann gleid) mit den eriten Taften der dritten Abtheilung (»Waldung, fie Ihwanft heran«) ein ganz anderer Menih it? Die Schu— mann'ſche Fauſt-Verklärung gleicht einer Rafael’ihen Madonna, die, von lächelnden Engelöföpfen umringt, zum Himmel auf: ſchwebt.

Die Aufführung der Fauſt-Muſik entſprach allen Wünſchen. Stockhauſen als lang entbehrten, vielverehrten Gaſt müſſen wir zuerſt nennen. Er ſang die Partie des Fauſt in den beiden erſten, den Doctor Marianus in der dritten Abtheilung mit höchſter Vollendung. Die edle Tonbildung, die Reinheit der Intonation, die Kunſt des Athmens, die unübertroffene Deut— lichkeit der Ausſprache würden ausreichen, Stockhauſen zum wahrhaften Meiſter des Geſanges zu ſtempeln. Zu dieſen tech— niſchen Vorzügen treten aber noch hinzu eine hohe Intelligenz und warme poetiſche Empfindung, und als Product dieſer Fac— toren ein künſtleriſcher Vortrag, der edler und verſtändnißtiefer kaum gedacht werden kann. Wenigſtens in der vorliegenden Auf— gabe, die zu den ſchwierigſten und nicht zugleich zu den dank— barſten gehört. Der Glanzpunkt von Stockhauſen's Leiſtung (wenn man bei einem ſo einheitlichen Kunſtwerk von Glanz— punkten ſprechen darf) lag in der dritten Abtheilung. Sein Doctor Marianus klang in der That wie eine Stimme aus anderer Welt, fein »Erdenreit« laſtete mehr auf ihr. Herrn Stocdhaujen ftand Frau Duftmann in der fleineren aber nicht

310 1863.

minder jchwierigen Partie des Gretchen würdig zur Seite. Mit der warmen, leidenichaftlihen Empfindung und der dramatiichen Anihanlichkeit, welche die Leiftungen dieſer Künftlerin aus: zeichnet, fang fie die Scenen Gretchens, die, faft unmwillfürlich zur Mimik und Action fortreißend, gerade einer fo trefflichen Darſtellerin dieſes Charakters feine fleine Ueberwindung auf: erlegt haben mögen.

Die Preisipmpbonien.

Sp wäre denn der ſeit Jahresfriſt erwartete ſymphoniſtiſche MWettfampf endlich vor fich gegangen! Sonntag Mittags wurden vor den ziemlich ichütter bejeßten Bänfen des Muſikvereinsſaales die beiden Symphonien aufgeführt, welche in Folge der von der »Gejellichaft der Mufikfreunde« verfündeten Preisausſchrei— bung für die beiten unter zweiunddreißig Concurrenten erklärt find. Das Interefle am eigentlihen Kampf war ſomit bereits vorüber, diejer hatte in den Arbeitszimmern von fünf unglüd- lichen Preisrichtern fih mit qualvoller Zähigkeit abgeipielt. Das Publicum jollte fi blos an den glänzenden Einzug der beiden Sieger erfreuen. Dieſe gefrönten Kämpen, welche volle dreißig Gegner niedergeitredt, erichienen uns feineswegs von ungewöhn— liher Kraft oder Schönheit. Der Eine ift, ein wohlanftändiges Männchen unter Mittelgröße, von fanft gutmüthigem aber bürgerlichen: Ausdrud; der andere eine hagere, redenhafte Figur, mit bedeutenden, aber etwas verzerrten Zügen und renommifti: ihem Gebaren. Weit jeltiamer al3 jeder für fih, ift das Zu— fammenfinden gerade diejer jo grundverjchiedenen Gejellen; als fie Sonntags jo feierlich nebeneinander durch die Triumph: bogen der Unfterblichkeit ritten, fiel uns einmal, zu unjerer eigenen Beltürzung Don Quirotte und Sancho Panfa ein.

Mag nun der eine Mufiker die beiden Symphonien etwas höher, der andere fie etwas tiefer ftellen, darin werben alle Spruchfähigen einig fein, daß das Nejultat der Preisausichrei- bung fein glänzendes iſt. Wir hatten uns die ahnungsvolle Freiheit genommen, dies vorherzufagen. Preisausſchreibungen

Die Preitigmphonien. 3 il

haben weit mehr die Wirkung, bedeutende Kräfte von der Eon: currenz abzuschreden als fie zu gewinnen, Wenn ein Einft- leriſcher Landſturm aufgeboten wird, hält fih die Ariftofratie de3 Schönen gerne mit einer gewiſſen ftolzen Scheu zurüd. Bewährte Ritter, deren Wappen bereit3 ein Lorbeerreis ziert, mögen dasſelbe nicht ohne Noth gegen unbekannte Gegner aufs Spiel jegen, welchen der Zufall oft jeltiam günftig fein fann.

Im vorliegenden Fal mußten Componiften wie Hiller, NReinede, Volkmann, Liſzt, fih ſchon als Preisrichter der Bewerbung enthalten. Raff dürfte nach dem Endurtheil der Richter ohne Zweifel nicht blos der bedeutenſte, ſondern auch der namhafteſte Concurrent geweſen fein. Ein Componiſt von dem geachteten Namen Raff's bedurfte aber ſicherlich keiner Concurrenz, um eine neue Symphonie zur Aufführung anzu— zubringen, und um die Ehre einer Aufführung handelte es ſich bier ganz allein, denn der ſymphoniſtiſche Landſturm der »Mufik- freunde« ijt merkwürdigerweiſe eine Preisauzjchreibung ohne Preid. Damit war dem Unternehmen noch die lette Spike abgebroden: die Aufmunterung und Belohnung dur materiellen Gewinn. Die »Gejellihaft der öfterreihiihen Mufikfreunde« bat zu viele und erheblihe Beweile von dem Ernft und dem Eifer ihres Kunftitrebend geliefert, al® daß man nicht auch in diefem Fall ihre redliche Abficht rühmend anerkennen follte. Sie hat fih mit der Ausftellung ſymphoniſcher Producte frei: willig viel Mühe und Koften aufgelafte. Allein wir glauben, die Schöne Abfiht war nicht richtig ausgeführt. Indem die »Geſellſchaft« eine Preisausichreibung ohne Preiſe veranftaltete und erklärte, fie wolle von einer unbeftimmten Anzahl einlan- gender Symphonien die zwei beften aufführen, hat fie doch offenbar nur dey Wunsch geäußert, zivei neue brauchbare Sym— phonien für ihr Concert:Repertoire zu gewinnen. Wollte fie diefe durchaus im Wege der Concurrenz erlangen, jo mußte ſie die Auswahl Tediglih als eine res interna betrachten und ruhig im Schoß der Direction, allenfall3 mit Beziehung einiger Wiener Fahmänner, vornehmen. Bei dem Nichtvorhandenfein von Preifen mußte auch von den »Preißrichtern«e Umgang ge: nommen werden. Vielbeihäftigte, von eigenem Schaffen jo jehr

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erfüllte Männer mie Hiller, Liſzt, Volkmann, Ambros, Reinede, von dem Täftigen und undankdaren Geſchäft diefer Prüfung verfhont zu laſſen, scheint und eine Pflicht Fünftleriicher Humanität. Allein die »Gefellihaft« konnte ohne alle Concurs— ausichreibung ihr Ziel weit leichter und ficherer erreichen. Wer die Männer find, von denen in unferer an großen inftrumentalen Schöpfungen fo umergiebigen Epigonenzeit relativ noch das Werthvollite zu erwarten ilt, kann niemand ein Geheimniß jein. Menn die »Gejelihaft«e diefe Männer um eine neue Sym— phonie direct angeht, die (dem Gomponiften als Eigenthum verbleibend) mit der größten Sorgfalt hier in die Welt einge: führt werden fol, dann wird wohl jeder diefer Gomponiiten jo ehrenvoller Einladung gern folgen. Die ganze Mühe und Aufregung eines mufifaliihen Stiergefeht3 wäre erjpart. Wenden wir uns zu den beiden Preisſymphonien jelbit. Da wir weder den Proben beimohnen, no Einblid in Die Partituren erhalten fonnten, können wir nur den erften, uns mittelbaren Eindrud ſprechen laflen. Die erfte Symphonie bietet jo wenig Ungewöhnliches, daß diejer einmalige, erfte Eindruf gar nicht irreführen kann. Das Werk, von Albert Beder in Berlin, führt al3 Motto die Lenau’ichen Verſe:

»Trotz allem Freundeswort und Mitgefühls:Geberden, Bleibt wahrer Schmerz ein Eremit auf Erden«.

Aus den Tönen felbit fpriht manch waderes » Freundes wort«, manch zarte »Mitgefühla:Geberde«, allein von »wahrem Schmerz« haben wir darin fo wenig herausgefühlt, als von wahrer Freude. Es fehlt der Compofition an Urfprünglichkeit, an ichöpferiicher Kraft und auögejprochener Perſönlichkeit. Eine edlere, dem Gemeinen fich abwendende Nichtung, ziemlich ge— wandte Verwendung der Kunjtmitiel und eine bis zur Aengſt— lichkeit jaubere Ausarbeitung des Details bilden die löblichen Seiten dieſes MWerfes. Gerne loben wir fie, aber begnügen fönnen wir und damit nicht. Nach der wichtigen Behandlung bon Kleinigkeiten und gewiſſen Spielereien in der Inftrumentirung zu ichließen, dann nad dem Starken Anlehnen an Beethoven, mitunter auch Mendelsfohn (Scerzo und Anfang des Finale

Die Preie ſymphonien. 313

putzen ſich ſogar mit Meyerbeer'ſchen Schwefelblitzen), iſt der Compouiſt ein junger Mann. Es iſt daher gewiß weit Beſſeres von ihm noch zu erwarten. Seiner Lenau-Symphonie dürfte die erlangte Auszeichnung, ſo fürchten wir, eher zum Nachtheil als zur Stütze gereichen. Das Aushängſchild »Preisſymphonie« wird hohe Erwartungen erregen und unerfüllt laſſen, während die »Symphonie« ſchlechtweg ſchon durch ihre Anſpruchsloſigkeit einer freundlichen Aufnahme überall gewiß ſein konnte.

Ein Werk von ganz anderem Kaliber iſt die mit dem Motto: »An das Vaterland« verſehene Preisſymphonie von Joachim Raff. Höchſte Intentionen, unabſehbarer Umfang, modernſte Schule. Dabei die (ohne Wortſpiel) raffinirte Hand eines erfahrenen Praktikers. Der Componiſt hat ſeinem Werfe folgendes Programm ausdrüdlich beigegeben:

Erſter Sag: D-dur. Allegro. Bild des deutichen Charakters: »Aufſchwungsfähigkeit; Hang zur Neflerion; Milde und Tapfer: feit als Contraſte, die ſich mannigfach berühren, durchdringen; überwiegender Hang zum Gedankenhaften«.

Zweiter Sag: D-moll. Allegro molto vivace, Im Freien; zum deutichen Wald mit Hörnerihall, zur Flur mit den Klängen des Volksliedes.

Dritter Satz: D-dur Larghetto. Einkehr zu dem durch die Muſen und die Liebe verklärten häuslichen Herd.

Vierter Sag: G-moll. Allegro drammatico. Vereiteltes Streben, die Einigkeit des Baterlandes zu begründen.

Fünfter Sat: D-moll. Larghetto. D-Dur. Allegro trionfale, Klage, neuer Aufſchwung.

Es koſtet gewiß einige Selbitüberwindung, ſich durch dieje poetiich:politiihe Gebrauhsanmeilung nit von vornherein gegen die Mufif einnehmen zu laſſen. Man iſt heutzutage nicht mehr io phililtrös, dem Componiften jede poetiſche Anregung oder Anjpielung zu verübeln; allein man ift doc, gottlob, bereit3 hinaus über eine Mufifdeutelei von jolcher Genauigfeit. Wem da3 Motto (an da PVaterland«) oder die einfache Aufichrift: »Deutichland« nicht genügt, dem müßt es auch nichts, wenn Herr Raff die complete Allgemeine Zeitung von Jahre 1848 »zum beſſern Verftändniß« austheilen läßt. Einen directen Bezug zu dem politiihen Programm Hat im der ganzen

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Symphonie auch nur die Melodie vom »Deutſchen Vaterland «, deren Auftauchen, Anichwellen, Unterdrüdtiverden und Verlöſchen eine allerdings handgreiflide Symbolik enthält. Jeder von den fünf Sägen enthält geiftreiche, feſſelnde Züge, poetiihe Momente, originelle tehniiche Experimente.

Mit reiner Befriedigung vermochten wir aber feinen dieſer Süße zu hören, da das Gefünftelte, Bizarre und lleberladene fih immer wieder geltend macht. Eine feurige, geiltreiche, ſehr felbitbewußte aber wenig productive Natur arbeitet bier mit größter Anstrengung, über Beethoven Hinauszulommen. Wenn nicht enden fünnende Redſeligkeit wirklih ein Charakterzug der Deutichen ift, dann hat Raff feine Landsleute allerdingd von dieſer Seite treffend porträtirt. Allein ſchwerlich wird das deutiche Volk, das fih gern in dem idealen Spiegel der Beethoven’ihen Symphonien wiedererfennt, fih in Raff's eritem Saß gejfchmeichelt finden. Zu einer eingehenderen und hoffentlich günftigeren Beurtheilung werden wir ohne Zweifel bald Anlaß finden, da die Raffihe Symphonie, aud abge: jehen von ihrer Preisfrönung, allen Anſpruch bat, auch einem größeren Publicum vorgeführt zu werden. Das erfte Anhören dieſes unermeßlich langen Werkes es verlangt die ange: ſtrengteſte Mitthätigkeit des Hörers hat uns zu ſehr ermüdet, als daß wir auf intereſſante Einzelnheiten, die uns im guten und ſchlimmen Sinn aufgefallen ſind, diesmal einzugehen wagen. Raff's Symphonie iſt die längſte, die wir kennen. Schumann hat mit feinem Lobe der »himmliſchen Länge« von Schübert's C-Symphonie manches Unglück angerichtet, denn nicht jeder jeiner Anhänger war fo einſichtsvoll wie Shumann felbft, diefe »himmliſche Länge« unnahgeahmt zu laffen, wenn nicht zugleich der hinmlifch Iange Faden Schubert'ſcher Melodie dazu vorhanden war. Jedenfalls bleibt man nah Raff's an: und aufregender Symphonie begierig, diejelbe wieder einmal (am liebiten freilich ftüdhweis) zu hören, ein Wunſch, der und rüd- fihtlih der erſten Becker'ſchen Breisigmphonie gänzlich fremd blieb.

Gantate vd. S. Bach. Opferlied v. Beethopen. 315

Soncert der Singakademie.

Sebaltian Bach's (hier noch nicht aufgeführte) Kantate: »Ich hatte viel Bekümmerniß« ift unftreitig eine der jchönften, vielleicht die ſchwungvollſte aus der langen Reihe der Bach'ſchen Gantaten. Der ehriwürdige Gantor hat fie ſämmtlich zu praktiſchem Zweck, für den mufifaliichsfirhlichen Localbedarf von Leipzig, geichrieben: nicht weniger als fünf volljtändige Jahrgänge, deren jeder wenigſtens 60 Gantaten für jeden Sonn: und Feiertag eine enthielt. Hievon iſt freilich blos die Hälfte überhaupt erhalten, und von diefer wieder nur ein fleiner Theil durch die rühmliche Thätigkeit der »Bach-Geſellſchaft« publicirt. Sn der Geftaltung diefer von Bach mit jo großer Vorliebe enltivirten Gattung hielt er, wie in feinen Paſſions-Muſiken, feft an den proteftantiihen Eultusformen. Jede feiner Gantaten ichließt fih genau an das Evangelium des betreffenden Feiertags an, und ſucht mit poetifchen und muſikaliſchen Mitteln den Hauptgedanfen desjelben zur Daritellung zu bringen. Der Inhalt der vorliegenden Gantate iſt mit der prägnanten Kürze einer Theſis in den Worten des eriten Chors ausgeſprochen: »Ich hatte viel Bekiimmerniß, aber deine Tröftungen erquicen meine Geele.«e Aus diefem mit der Einfachheit einer ſchlichten Er: zählung vorgebradten Thema entwidelt Bach ein ergreifendes Seelengemälde, eine Art geiltlicher Tragödie. Das Ringen des geängitigten Gemüthes, hier zum Verzweiflungsiturm aufbraufend, dort zum Sceintod der Refignation bejänftigt, klärt fich immter mehr in der Zuperfiht auf Gottes Hilfe, und erhebt fi ſchließlich zu triumphirendem Aufihmwung. Die Gantate befteht aus einer furzen Orceiter-Einleitung (»Sinfonia«) und act Bocaljägen. Von den Sologelängen gebührt die Palme unftreitig der eriten von einer Solo-Oboe umranften Sopran:Arie in C-moll, deren pietiftifches Waſſer Bah in dem echteiten Mein der Poeſie zu verwandeln wußte. Die Arie hat eine Süßigfeit, wir möchten jagen Sugendlichkeit der Melodie, wie wir fie bei Bad) felten antreffen; wir möchten, jo unerheblich jonft bei Bach die Jahresringe find, der frühen Entitehung diefer Com:

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pofition (1714) etwas von diejem Reiz zufchreiben. Von den beiden Tenor-Arien wurde die zweite in F-dur nicht ohne Grund fortgelaffen; die erite, in F-moll, mit ihrem wunderbar har- monilirten, pathetiih auf Schumann hinmweifenden Ritornell ift ein echt Bach'ſches Meifterftüd. Ungleich geringeren Eindruck macht das breit außgeiponnene, in mancher Beziehung veraltete Duett zwifchen Sopran und Bag. Die allegorifche Figur der »gläubigen Seele«, befanntlih eine jtereotype Erſcheinung in der älteren proteftantiihen Kirchenmuſik, tritt hier in unmittel— bare Beziehung zum Heiland. Won den Chören glaubt man bald diejen bald jenen mehr bewundern zu müfjen, je länger man ji) abwechſelnd darin vertieft. Bereitet der Eingangschor mit würdiger Einfachheit der Stimmung den rechten Boden, jo erhebt jih auf demjelben der Chor: »Was betrübft du dich, meine Seelee zu riefiger Höhe, ftarrend im Reichthum polyphoner Kunft, und unerfhöpflih in immer neuen Wendungen. Men— delsſohn's Compofition derjelben Worte fteht in ihrer janften Modernität wie ein Kind daneben. Auch der folgende Chor: »Sei nun zufrieden, meine Seele«, mit feinem Cantus firmus (⸗Was helfen uns die jchweren Sorgen«) umifpielenden Solo= terzett zeigt una die Polyphonie in ihrem eigentlichen Element, dabei in einer nur Bach erreichbaren Freiheit der Bewegung. Die weithin jtrahlende Krone des Ganzen iſt der Schlußchor: » Das Lamnt, das erwürgt ilt«. Mit einer bei Bach auffallenden, deitomehr an Händel mahnenden Sonnenflarheit intonirt der Chor unter dem Gejchmetter von Trompeten und Poſaunen ein auf den Intervallen des C-dur-Dreiflangs machtvoll aufjteigendes Thema, das im Verlauf den Schmud reichiter YFiguration fiegreich durchdringt. Wie löjt fi hier alle Miſere des Lebens zur freudigiten Siegeögewißheit auf!

Das Programm der Singafademie war zwedmäßig ges ordnet: auf die Cantate folgte, gleihiam als Ruheplätzchen und Grenzitation zwiſchen geiftlicher und weltlicher Mufik, Beethoven’ »Opferlied« (Op. 121) für eine Sopranjtimme mit Orcheiterbegleitung. Bon Beethoven iſt dieſe Mufif allerdings, aber jehr wenig beethoveniich; fie ſcheint auch dem Meiiter, wie die Mehrzahl feiner Gejänge, mehr ein Ruheplätzchen nad)

Concert de3 Componiften Dr. Otto Bach. 317

gewaltigen fymphoniftiihen Anftrengungen gewejen zu fein, als eine jchöpferiiche Anftrengung jelbft. Es folgten drei wunder- ſchöne deutiche Volkslieder, vierftimmig gefeßt, die Harmonifirung . aus dem jechzehnten und fiebenzehnten Jahrhundert; ein viertes, nicht minder ſchönes, etwas modernerer Factur, twurde nad ſtürmiſchem Applaus hinzugefügt. Liebensmwürdigeres, Innigeres in diefer Enappen, jchlichten Form haben wir jelten gehört. Auf der Höhe dieier Stimmung konnte die Schlußnummer, Schu: mann's »Nequiem für Mignon«, die Verfammlung nicht erhalten. Edel und janft im Ausdrud, aber auch weich und ſchwungvoll, ericheint uns dieſe Compofition ſchon als ein Borbote jener Müdigkeit und grübelnden Verſenkung, welche ipäter Schumann’: Schaffen fo eigen zu feſſeln begann.

&oncert des Componiſten Pr. Otto Bach im großen Fiedoutenfaal.

Mer die bisher erjchienenen Compofitionen Herrn Bach's und feinen muſikaliſchen Entwidlungsgang fennt, mochte den Saal nit ohne einiges Bangen betreten haben. Herr Bad hat vor einigen Jahren‘ mit Kammermufit und Clapierfachen debutirt, welche, in fait reactionärer Einfachheit an Haydn lehnend, eine äußerft dürftige Begabung mit Auftand vorführten. Hierauf ift Herr Bach echt hegeliſch »in jein Gegentheil umge: Ihlagen« und avancirtejter Zukunftsmuſiker geworden. Er hat einen Beweis mehr geliefert, daß eine ideenarme, von heftigem Schaffensdrang gequälte Phantaſie fih noch am leichteiten mit dem prätenfiöjen Nebel der Zufunftämufif amalgamire, daß dad allzu Einfache zu dem allzu Ungeheuerlichen den kürzeſten Weg habe: die Schlange, die fich felbit in den Schwanz beißt. Die DOrcefter-Eompofitionen Herrn Bach's haben uns einen geradezu troftlofen Eindruck gemadt. Gnticheidend für denjelben ift der Mangel jegliher Schöpfungstraft und aller Individualität. Schon in Herrn Bach's Eleineren Compoſitionen hat diefes Ab- handenfein einer Perſönlichkeit und am ımangenehmiten

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berührt. Bald wird diefem, bald jenem Vorbild nachgejagt, in demfelben Stück oft drei bi vieren, nur aus dem eigenen Innern iſt nichts geichöpft. Man jehe fich die jüngst erfchienenen drei Liederhefte von O. Bad (op. 9) an: die kleinſten lyriſchen Gedichte werden da zu einem Univerfum von dramatiihen und jonftigen «Intentionen« aufgebläht. Welcher Ausverkauf von fühnen Modulationen, opernhaften Effecten u. dgl.! Jede Seite zeigt, daß der Gomponiit fein eigenes Empfinden ausfpricht, daß er nicht mit fih im Reinen iſt. Das große Concert Herrn Bach's mußten wir, die wir alles bisherige gern al3 unreife Hebergang3-Producte angefehen hätten, wohl als Manifeit be- traten, Herr Bad jei nunmehr mit fih im Reinen. Es waren lauter umfangreihe Tonmwerfe eigener Compofition, die Herr Bad vorführte. Zuerft eine Symphonie von riefiger Dauer, offenbar mit verfchwiegenem » Programme. Diejed Thau— wetter von Schwulft, Lärm und Reminiscenzen analyfiren zu wollen, wäre vergeblihe Arbeit. Die trodenfte Nüchternheit feiert hier mit wüſter Phantaftik ein anmuthlojes Hochzeitäfeit. Ein große® Orcheſter mit zwei Harfen, Ophifleide, großer Trommel und Beden ift in fortwährendem Tumult; aber alle Lärminftrumente de3 türkiſchen Reich vermögen dieſe Gedanken— armuth nicht zu maßfiren. Von den Plagiaten aller Xrt, namentlich den jehr ungenirten aus »Tannhäufer« und »Lohen— grin«, wollen wir gar nicht reden, wäre nur einige Ruhe und Klarheit, nur ein Hauch wirklichen Empfinden? in den Saden. Es war und zu Muth wie Einem, der vor dem Schlafengehen alle Wagner’ichen Opern und einige Liſzt'ſche Symphonien dazu gehört hätte, und nun in wirrem Durcheinander davon träumt. Bon einer fünftleriihen Form ift da faum zu reden; drei bis viermal in jedem Stüd glaubt man den Schluß gefommen, und täuſcht ih. Nach ungebürlicher Länge ſäuſelt ein Sa unter Harfenflängen und leiſen Geigentremolo8 jeinem Ende zu, da ertönt der grelle Pfiff eines Piccolo, der Zuſammenſchlag der Beden, und mit einem Ruck fahren wir aus dem Ber: Härungshimmel direct in die Wolfsihludt. Diefe übergeht wieder in etwas Anderes, 3. B. in ein fteifes Fugato, das mehrmals anfegt, und nie vom Fled fommt, und fo geht es

Goncert bed Gomponiften Dr. Otio Pad. 319

in rein äußerlihem Nebeneinander fort, daß man jchließlich wirklich erftaunt ift, wenn das Stüd dennod ein Ende erreicht hat. Die Inftrumentirung ift von erichredender Rohheit, die Poſaunen, Trompeten, Ophifleiden fommen nicht zu Athem eine Panzerfregatte auf dem Stadtparfteih. Die Ouverture zu Hebbel's »Nibelungen« beginnt mit phantaſtiſch auffteigen: den Gängen der Bälle (ungefähr wie die »Lear-Ouperture« von Berlioz), breitet fih dann in einem langjamen Sa mit vielem Lärm aus, und geräth jchließlich in ein barbarijches alla-breve- Motiv, dad an die Menfchenfreifer-Ballette auf kleinen Bühnen erinnert. Mit dem Geift von Hebbel's tieffinnigem Drama hat dieje Ouverture nicht3 gemein; eher paßt fie zu Glasbrenner’s boshafter Parodie desjelben, in welcher die Reden jede ihrer unfinnig prahleriihen Reden mit dem Ausruf: »Hei! Hei!« beginnen. Wie und das einfachſte Lied von Abt oder Küden höher fteht, ald Otto Bach's früher erwähnte Geſänge, fo ziehen wir jeiner banaufiihen Nibelungen:Mufif auch ohne weiters die beicheidenen Entreaft vor, welche Emil Titl zu dieſer Tragödie ſchrieb fie find mit einem Worte mufitaliicher.

Zwei große Scenen mit Chor und Soli zu dem Drama »Spartafus« machten und feinen günjtigeren Eindrud. Unter betäubendem PBaufenwirbel und müthendem Blajen von allem was Blech heißt, feuchen die Singftimmen fi an einer »Melo— die« ab, die noch mehr als »unendlih« if. Daß mit den Pauken- und Blecheffecten Harfenarpeggien, lange Tremolos der gedämpften »Violini divisie u. dgl. wechſeln, veriteht ih. Es ift merfwirdig, wie Orcheiter-Effecte, welche Berlioz, Wagner und Liſzt mit Geift erdaht nnd verwendet haben, nunmehr be: reit3 zum platteften Handwerfsapparat geworden find und mechaniſch zufammengefügt werden. Al die wunderbaren und wunderlichen Orcheſter-Combinationen jener raffinirten, aber geiftreihen Gomponiften, liegen für Herrn Bad fertig neben einander auf dem Nrbeitstiih; er langt beliebig jet nad) diejem, dann nad) jenem und fügt fie ein, ohne zu fragen, ob die mindeite muſikaliſche Motivirung dafür vorhanden jet. Für Heine, unfichere Talente hat diefe Richtung die größte An— ziehungäfraft, aber auch die tüdifcheften Folgen: nichts Wider:

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wärtigeres gibt es, al3 die Redeweiſe Liſzt's, Berlioz’, Wagner's, ohne den Geiſt dieſer Männer.

Sämmtliche Nummern des Herrn Bach wurden von dem freundlich geſinnten Publicum beifällig hingenommen. Von Herzen gönnen wir dem Componiſten dieſen angenehmen Ein— druck; für das wahre Intereſſe ſeiner Zukunft wäre vielleicht ein redliches Fiasko heilſamer geweſen. Wir würden, offen ge— ſtanden, denjenigen für Herrn Bach's beſten Freund halten, der ihn von einer roſen- und lorbeerarmen Laufbahn zu der juriſtiſchen Carrière zurückführte, der er, durch Geburt und Bildung angehörig, noch vor kurzem gehuldigt hat.

RBhilharmoniſche Concerte.

Wenn irgend einer von den jüngeren Tondichtern der Neu— zeit ein Recht darauf hat, nicht ignorirt zu werden, ſo iſt es Johannes Brahms. Er hat ſich durch ſeine bisher er— ſchienenen Compoſitionen als eine ſelbſtſtändige, eigenthümliche Individualität, als eine fein organifirte, echt muſikaliſche Natur, als einen mit unermüdlichen:, bewußtem Streben der Meilter- ichaft entgegenreifenden Künftler documentirt. Seine » Serenade in A-dur« (Op. 18) iſt die jüngere, zartere Schweiter der von der »Gejellichaft der Mufikfreunde« kürzlich vorgeführten Sere— nade in D. Es herrſcht in ihr im weſentlichen diejelbe ruhig genießende, träumerifche Gartenftimmung; nur flingt alles noch gedämpfter, innerliher. Die D-Serenade, von Anfang bis zu Ende reicher, blühender, ſteht an Kraft und Originalität der der Erfindung unſeres Erachtens unbedingt über der Hleineren in A-dur. Daß fi) mitunter auch Stimmen mit Vorliebe für die letztere ausſprechen, kann dem Autor nur lieb fein. Wir haben von der Serenade in D einen tiefern Eindrud empfangen, und er lag nicht blo3 in der üppigeren Klangwirkung. In der für kleines Orchejter gejchriebenen A-dur-Serenade hat der Com: ponift nicht allein auf Trompeten und Poſaunen, er hat jelt- ſamerweiſe auch auf die Violinen verzichtet, und begnügt fich mit den drei tieferen Arten des Geigengejchlechtes. Unſeres

Brahms’ A-dursSerenabe. Berlioz »Romeo und Julie«. 321

Wiſſens hat dies Grperiment zuerſt Mehul in feiner Oper »Uthal« vorgenommen, und die Bratjchen an die Stelle der Biolinen treten lajjen, um eine dem Localton des Dramas entiprechende, Dumflere, dämmerige Beleuchtung zu erzielen. Solche Klangharakteriitif, welche auf eine ganze Oper einen empfindlichen Druck ausübt, findet in einem kürzeren Orchefter: ſtücke allerdingd eine paflendere Stelle, beionder8 wenn die Inſtrumental-Farben mit jo feiner, fundiger Hand wie hier ge— mifcht werden. Dennoch wird bei einer Concertaufführung in großem Raum der zarte, Shüchterne Klang der A-dur-Serenade ihre Wirkung etwas beeinträchtigen. Das Stüd beiteht aus fünf ſelbſtſtändigen Süßen: 1. Allegro moderato, A-dur (So: natenform, ohne Wiederholung de3 eriten Theil) mit einem etwas jchattenhaften eriten, und einem ganz reizenden zweiten Thema, beide überaus geiftreich durchgeführt. 2. Scherzo in C-dur mit einem Trio in F-dur; in feiner fräftig fröhlichen Rhythmik etwas an das Finale von Beethoven’s 8. Symphonie erinnernd. 3. Adagio in A-moll, 1?/, Takt; diejer von inniger, dabei eigenthümlich vornehmer Empfindung bejeelte Saß leidet nur duch allzulanges Ausjpinnen bei jehr geringem rhythmijchen Wechſel. 4. Menuett in D-dur mit Trio in Fis-moll; die Berle der ganzen Suite, von entzücender Liebensmwürdigfeit. 5. Rondo, Allegro in A-dur, ein Iujtiges SKirmeßtreiben, dem zu voller Wirkung nur ein rascherer Abſchluß fehlt. Die Serenade erfuhr eine äußerft günftige Aufnahme. Der jedem Sat folgende lebhafte Beifall wurde am Schluß in dem Maße größer, als der bejcheidene Componiſt auf feinem Galleriejige immer Eleiner wurde. Brahms ımd Soahim, die beiden Herzensfreunde, jtanden diesmal wie im Leben, jo auf dem Goncertprogranm Hand in Hand. Joachim's »ungariiches Goncert« wieder zu hören, war und ein wahres Labſal. Diefe Tondichtung voll Geiſt und Gemüth, voll Energie und Zartheit fihert Joahim einen hervorragenden Pla unter den modernen Componijten. Man möchte jeinen Virtuojen-Siegen gram werden, weldhe wohl allein Schuld daran find, daß dieje Kraft jo felten zu einem größeren Werke fich zufammenfaßt. Wie Joachim da3 »ungarifche Eoncert« ipielt, wer erinnert fich deijen nicht? Nun, wenn Einer es ih Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 21

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nachſpielen darf und kann, jo iſt es Laub. Diefer kleine, blaſſe Geiger mit dem kühnen Bogenſchwung und der eiſernen Ruhe iſt uns niemals heldenmäßiger erſchienen, als in dem Finale des Joachim'ſchen Concerts. Er ſpielte dieſe idealiſirte Zigeuner— muſik wie ein idealer Zigeuner.

Zwei Sätze aus Berlioz' dramatiſcher Symphonie »Romeo und Julie«: das Adagio (Scène d'amour), und das Scherzo (la fee Mab), die effectvollſten und abgeſchloſſenſten der Symphonie, werden ihrer Wirkung überall viel ficherer jein, als das zujammenhängende, jehr ungleiche Ganze, dem jie ent- nommen find. Troßdem möchten wir bedauern, daß die Romeo— Symphonie, welde in ihrer Vollitändigfeit hier noch unbekannt ift, nicht ganz gegeben wurde. Iſt einmal diefe Pflicht der Pietät gegen einen namhaften Gomponiften geübt, und das Bublicum in deſſen Intentionen eingeweiht, jo mag man jpäter immerhin fi an den wirfungspolleren Bruchſtücken genügen laſſen. Daß dad Programm der Philharmoniker unter anderen auch das »Andante« aus Liſzt's Hier noch unbekannter Fauſt— Symphonie anfündigt, bedauern wir aus gleichen Gründen. Anhänger der Liſzt'ſchen Muſe find wir befanntlicy nicht; allein wir werden zum Anwalt jedes Gomponiften, defjen zuſammen— bängendes Werk man ohne Noth zerftüdt.

Die »dramatiihe Symphoniee wie mand ähnlicher Berfuh durh Beethoven's »Neunte« veranlaft iſt eine unglüdlihe Miſchgattung, die feine Zukunft Hat. Die Orcheſter— nummern ragen aus dem Ganzen hoch hervor, wie denn Berlioz’ Phantafie eine rein inftrumentale, und feine Technik ebenjo glänzend im Orcheſter ift, als tyranniich ungeſchickt im Vocal— jat. Schon der erite größere Inftrumentaliag, aus Andante und Allegro beitehend (Romeo allein, Schwermuthjcene, großes Felt bei Gapulet, Concert und Ball), hebt jich zu blendender Wir— fung; er hätte fich leicht den beiden anderen anfügen laſſen. Das Adagio »Liebeöjcene« iſt wohl die füßefte, innigfte Mufi, die Berlioz je geichrieben. Wie rein und gleihmäßig, Scheinbar uferlos, fließt dies Adagio dahin, mit Schwermuth getränft, wie in Töne zerflofiene Thränen. Es läßt fih, obwohl es im Grunde auch nur ein gefteigerte® Thema ift, rein mufifalifch

Rubinftein »Ocean⸗Symphonie«. 323

genießen; einige Kleine, ſceniſche Zwiſchenwürfe ftören nicht nahhaltig.e Das Scerzo »Fee Maab« tit unferem Bublicum bereit3 befannt und befreundet. ine Fülle glänzender, mit: unter höchſt gewagter Einfälle, erjcheint hier von einem phan— taltiihen Gedanken zufammengehalten. Dan könnte als Motto Calderon's Verſe darüberjchreiben:

»Was iſt Leben? Hohler Schaum, Ein Gedicht, ein Schatten kaum! Wenig kann das Glück uns geben, Denn ein Traum iſt unſer Leben Und die Träume ſelbſt ſind Traum.«

Das dritte Philharmoniſche Concert ſchloß mit einer Novität: der »Ocean-Symphonie« von Rubinſtein*). Die Erfahrung, die wir an allen Werken dieſes ſehr begabten, aber etwas ſchleuderiſchen Tonſetzers gemacht, wiederholte ſich auch hier. Rubinſtein beginnt friſch, vielverſprechend, oft mit genialer Erfindungskraft, um dann ſtufenweiſe abwärts zu fallen. Von ſeinen beiden Opern angefangen bis zu den Trios und Sonaten herab kennen wir keine Compoſition Rubinſtein's, die ſich in ihrem Verlauf auf gleicher Höhe erhielte oder gar ſteigerte. Es iſt, als ob die erſte Begeiſterung ſchnell verraucht, das Beſte raſch ausgegeben wäre, und dann dem Componiſten die Luſt und die Selbſtkritik ſchwänden. Der erſte Satz der Symphonie iſt wahrhaft grandios, die Motive ſchön und eigen— thümlich, die Form bei aller Breite feſtgefügt, das Ganze bei allem Jugenddrang doch klar und durchaus muſikaliſch. Mit dieſem erſten Satz ſcheint ſich aber der Componiſt ausgegeben, ſeinen Stoff poetiſch wie muſikaliſch verzehrt zu haben. Das Adagio hat nicht mehr die gleiche Urſprünglichkeit, es redet mit Mendelsſohn'ſchen Zungen, immerhin Edles und Verſtändiges. In dem geiſtvoll behandelten Orcheſter gewinnt die malende Tendenz ſchon Oberhand, auch manches Claviermäßige macht ſich bemerkbar. Eine Stufe tiefer ſteht wieder das Scherzo, ein raſcher Zweivierteltakt, deſſen derbe Fröhlichkeit eine eigen—

*) Rubinſtein hat in ſpäteren Jahren noch zwei Süße hinzu: componirt, jo daß feine Ocean-Symphonie jehslägig geworden it. 21*

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thümlih erzwungene Phyſiognomie und jtarfen Zug zum Tri: vialen hat. Das Finale endlich, der am breiteften und luxu— riöfeften ausgeführte Satz, tft geradezu Hohl, erfindungslos, dabei von ermüdender Schallwirfung und NRedfeligfeit. Der von jämmtlichen Bläfern (darunter 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Po— jaunen und Baßtuba) fortilfimo geblafene, von den Geigern umſchwirrte Choral dünft ung ein pompöſer Nothbehelf, ein dramatiiches Anlehen für das erichöpfte mufifaliihe Capital. Außer der Ueberſchrift »Dcean« ift der Symphonie fein poetiicher Megmweijer mitgegeben. Der Componift denkt liberal genug, unferer Phantafie volle Freiheit zu laffen. Der Stoff hat ihm, namentlich im erften Sat, großartige Anregungen geboten, auf dem Ganzen drüdt er mitunter läſtig; das monotone Rauschen de3 ewigen Meeres, niemals ermüdend in der Natur, wird es doch in der furzen Dauer einer Symphonie.

ÖOrcheflercompolitionen von Lilzt und Wagner. Goncert von Taufig.

Nah der Weihnahtspaufe jchien ein günftiger Stern für die Zukunftsmuſik aufzugehen; in zwei aufeinanderfolgenden Soncerten hörten wir drei größere Gompofitionen von Liizt und vier dramatische Fragmente von Rihard Wagner. Das vierte »Philharmonifhe Concert« bradte das Adagio aus Liſzt's »Fauft«-Symphonie Died Adagio, »Grethen« über— ichrieben, ilt der zweite von den drei Süßen einer (Hector Berlioz) gewidmeten Symphonie, deren erſter Sat »Fauſt« und deren dritter (Scherzo und Finale) »Mephiftopheles« heißt. Ein Vocalhor über die legten acht Verje aus Goethe’3 zweiten Theil (»Alles Vergängliche ift nur ein Gleichniß) jchließt fich unmittelbar an.

Bon Liſzt's Symphonien ift dieſe jedenfall® die höchſt intentionirte und umfangreichite; den Adepten gilt fie überhaupt al3 der Gipfelpunft von Liſzt's Schaffen. Der General-Agent der Zufunftsmufit in Leipzig, Herr Brendel, verfichert, Liſzt's frühere inmphonifche Dichtungen, neun an der Zahl, »bezeichnen

Liſzt »Fauſt-Symphonie«. 325

den Moment des Heranbewegens« zur »Fault«-Symphonie, womit »Lijzt, ganz wie Mozart«, einen »univerfalen Höhe— punkt erreiht hat«.. Es wäre unter ſolchen Umſtänden von hohem Snterejje geweſen, die Symphonie, deren einzelne Süße überdie8 durch die Wiederfehr derjelben Motive zur Einheit verichmolzen werden, vollitändig zu hören. Als Gutachten einer Eleinen Minorität, welche die Muſik nicht ausjchlieglih vom Standpunkte ded unmittelbaren Vergnügen auffucht, war Dieler Wunſch begründet; praftiicher dachte jedenfalls der Dirigent der Philharmonie-Concerte, indem er blos das Adagio vorführte. Konnte diefer Sag, weitaus der ſchönſte der Symphonie, nur eine getheilte Gunft beim PBublicum finden, jo hätte das Ganze auch nicht einmal fo viel erreicht. Wielmehr war mit hoher Wahrfcheinlichkeit darauf zu zählen, der dritte Sat »Mephiſto«, welcher nichts Geringeres. als die »Negation« darſtellt und Die Themen »Fauft3« und »Gretchend« verhöhnt, verzerrt, ver: ftümmelt, werde das philharmoniiche Publicum auf dag Em: pfindlichite verftimmen, und zur »Negation« jelbit des mäßigen Beifall3 Hinreißen, dem es dem »Gretchen«-Adagio fpendete. Letzteres ift nicht nur unter den Süßen der »Fauſt«-Symphonie, Jondern jo ziemlich unter allen uns befannten Orchefterftüden von Liſzt das mufifalifch befriedigendfte, einfachite und be— jeeltejte. Nach einigen einleitenden Taften der Flöten und Cla— rinette, ertönt blos von einer Oboe und einer Viola gejpielt da3 Hauptthema, dejien einfache Innigkeit manchen Hörer überraiht haben wird. Unmillfürlich fiel und Berlioz' Bezeich— nung des Hauptthema feiner »Symphonie phantastique« ein: »Simple et timide, mais d’un caractere noble et passionnee, eine Charafteriftif, an welche Liſzt's Gretchen-Motiv ebenjojehr erinnert, wie der ganze Sak an Berlioz'ſche Adagios. Auch als zweites Thema erjcheint, vom Streichquartett in diefer Lage gefpielt, eine ſüße, von zartefter Empfindung geſchwellte Melodie. Im weiteren Verlauf beginnt allerdings immer mehr die Phrase zu herrſchen, ein abftractes Pathos, deſſen geringen muſikaliſchen Suhalt neue, zum Theil blendende Orcheiter-Effecte beichönigen müſſen. So 3.2. die gleihjam als Mittelfag ericheinende Die: Iodie der Violoncelle, über welche leiſe die gedämpften VBiolinen

326 1863.

tremoliren und drei Flöten triolenweis in Dreiflängen auf: und niederfchweben. Daß es an reihlihen Harfen-Arpeggien nicht fehlt, a leiſen Beckenſchlägen, an häufigem Taftwechiel u. dgl., muß ſich bei Lilzt wohl von ſelbſt verjtehen. Die Be- mühnng des Gomponiften, gerade diefen Sat jo zart und ein- heitlich als möglich zu geftalten, iſt unleugbar; man wird nirgends geradezu verlegt und aus der Stimmung gerifjen. Eine einzige Stelle möchten wir ausnehmen, es ilt daß Die Melodie plößlich unterbrechende, unmotivirte Reifen und Rupfen der Geigen (S. 142 der Partitur), das wir für eine höhniſche Necderei des über den Gartenzaun hereingrinjfenden Mephiſto hielten, bi3 wir durch bevollmächtigte Adepten erfuhren, es ſei damit Gretchen® Blumen-Orakel: »Er liebt mich, liebt mich nicht«, gemeint. So ſüß und jangbar die Themen, jo edel bei- nahe die ganze Haltung des Stüdes, jo glänzend endlid Die Snftrumentirung desſelben volle fünftlerifche Befriedigung gewährt es nicht. Nirgends begegnet und wahrhaft jchöpferiiche Kraft, große, urfprüngliche Erfindung: man halte da3 einfachite Stück von Beethoven dagegen. Daß Berlioz durchweg als Unterlage durchichimmert, haben wir erwähnt. Die jeltfam ge— mifhte Empfindung, mit welcher wir jederzeit Liſzt'ſche Sym— phonien hörten, fam uns diesmal fräftiger als je zum Be— wußtlein: die erhöhten Vorzüge des Gretchen-Adagio vor allen andern Lilzt’ihen Symphonien erhöhen auch das Bedauern, »troß alledem und alledem« einer im Kern unproductiven Natur gegemüberzuftehen. E& hat etwas Tragijches, einen Mann von blendendem Geift, von zarter und lebhafter Empfindung, von ungewöhnlihem Kunftgeihid, gleichlam an der Schwelle des Tempeld umherirren zu jehen, dem Eingang nahe und näher fommend, und doch unfähig, und jemals in daS Innere jelbit einzuführen.

Wenn übrigens irgend etwas geeignet war, und die Schön- heiten »Gretchens« heller und ihre Fehler verzeihlicher ericheinen aut laffen, jo war dies die Aufführung einiger Wagner'ſchen Orcheſterſtücke am folgenden Tag. Mit all feiner mufiviichen und verſchwimmenden Form, feinem ariofen, nicht fymphoniftifchen Verlauf, mit all feinen gefünftelten Weußerlichfeiten klingt

Eompofitionen von R. Wagner. 327

Liſzt's »Gretchen- noch wie ein Mozart’iches Werk neben den Entreactes aus »Triltan und Siolde« und der Duverture zu den »Meifterfängern«. Dieſe Compofitionen R. Wagner's, nebft jeinem »Schuiterlied des Hand Sachs«, wurden unter Leitung des Componiſten in einem großen Concert aufgeführt, das der Pianiſt Herr Karl Taufig im Nedoutenjaale gab. Weber’ ‚Freifhüß«=Duverture eröffnete das Concert, und mit ihr bite der Dirigent Wagner den Gomponiften Wagner einzu— füßren. Und ein treffliher Dirigent ift der Mann, ein Dirigent voll Geift und ‘Feuer, der bei den Proben mit Stimme, Händen und Füßen wie ein fühner DOfficier feine Compagnie mit fich fortreißt, und richtig auch die Schanze eritürmt. Wir möchten nicht behaupten, daß all die Schönheits- mittel, welche Wagner zur Berjüngung eines innerlich jo jugend- lichen und ferngefunden Tonſtückes anwendete, nothwendig ſeien; allein mwohlthuend war e8 doch, die meift in gleihmäßigem Schlendrian herabgeipielte »Freiſchütze-Ouverture einmal mit neuem Schwung und überaus feiner Nuancirung vortragen zu hören. Das allmälige Anjchwellen und Abnehmen des Horn: jaged in der Einleitung, das etwas zurüdgehaltene Zeitmaß der Gejangitelle im Allegro, das breite Ausklingen der beiden Fermaten vor dem Schlußſatz (nicht Dürftigered als zu furze Fermaten!) waren von ſchönſter Wirkung. Nun folgten von Wagner's Compofitionen das »Vorſpiel« und der »Schlußſatz« zu »Triftan und Iſolde« eine troftlofe Muſik, wenn über: haupt eine. Im Vorjpiel wird ein mwinfelnde® Motiv von fünf Noten in »unendlichem« Verlauf fortgeiegt, d. h. bald Höher, bald tiefer, bald von Diefem, bald von jenem Snftrument wiederholt, ohne irgend einen Gegenſatz oder Ruhepunft. Dies chromatiſche Gewimmer mit feinen unaufhörlihen verminderten Septimen:Mccorden und dem überreizten Sinnenkitzel feiner Inftrumentirung bereitete und eine ungemeine Nervenpein. Vermag man ed, von dieſem Eindrud zu abjtrahiren und ruhig zu prüfen, jo findet man dad Stüd einfach langweilig. Das— jelbe gilt von dem raufchenderen, aber muſikaliſch ebenjo ver: armten Schlußſatz (»Berklärungs). Wir fanden darin die treue Mufifelleberfegung des poetiichen Bombaites, welhen Wagner

328 1863.

den beiden Liebeöleuten in den Mund legt, und der in folgenden Schlußworten gipfelt:

»Liebe, heiligite® Beben,

Wonneshehrites Weben

Nie-Wieder-Erwahens wahnlos

Hold bewußter Wunſch«!

Es folgte (auß den »Meilterfängern«) das »Lied des Hans Sachs bei der Arbeit«. Wir hatten nach den Orcheiter: Fragmenten mit einiger Sehnjucht auf dies Lied gewartet, ilt doc) in der Mufit Wagner’ das Wort ein unentbehrlicher Führer, und war doch von einem Liedchen, dad der Hand: werfsmann bei jeiner Arbeit fingt, etwas anſpruchslos Gemüth— liches zu hoffen. Arge Täufhung! Unfer guter Scufter be: ginnt mit einem Aufjchrei über dröhnenden Poſaunen-Accorden ein Kannibale, der fih an einem zu heißgefottenen Std Menſchenfleiſch das Maul verbrannt hat, könnte nicht anders componirt werden. Wir bedauerten Herrn Madyerhofer, der diefe melodiihen Brocken durch einen Wuſt läftiger Inftru: mentirung unverfehrt durdhzutragen hatte. Daß Wagner feinen Humor hat, jhien ung von einem Componijten von vornherein wahricheinlich, als deſſen Lebenselement wir bisher das Pathos und meilt das trodenite Pathos fannten. Das »Schufterlied« und die Dupderture zu den »Meifterfängern« läßt über dieſen Mangel kaum mehr einen Zweifel übrig.

Der Eoncertgeber, Herr Taufig, Stand neben R. Wagner natürlih etwad® im Hintergrund; uns war jein Erjcheinen jedesmal ein Labſal. Die Virtuofität dieſes jungen Pianiſten dürfte gegenwärtig faum irgendwo ihreögleichen haben, fie ift nach jeder Richtung hin ftaunenswürdig. Das Ueberreizte und unſchön Heftige des Vortraged, das uns früher Taufig’s Virtuofität verleidet hat, Scheint fich jekt wohlthuend gemildert zu haben. Wir wirden uns herzlich freuen, wenn dies unge: wöhnlihe Talent wirklih in das Stadium der Abklärung und Ihönen Neife getreten wäre Die Compofitionen, Die Herr Taufig vortrug, waren Liſzt's Es-dur-Eoncert Nr. 1 und deifen Gapriccio über »die Auinen von Athen«, Stücde, in denen bei unläugbarer Bizarrerie und Aeußerlichkeit doch viel Geift

Hammermufit von Schubert und Em. Bad. 329

jtect. Wenn nichts auders, fo bleiben fie merkwürdige Monu— mente für die Höhe der Claviervirtuofität in unferer Zeit.

Nah den Wagner'ſchen Stüden genofien wir mit doppelter Freude eine neue GCompofition von Brahms, melde am jelben Tage in Hellmeöberger'3 Quartett:Soiree vorgeführt wurde. Es iſt dies ein Sertett für zwei Violinen, zwei Bratjchen und zwei Violoncelld (B-dur. op. 18). Wir zählen diefe Com— pofition nicht nur zu den beiten von Brahms, fondern über: haupt zu dem Schöniten, was die neuere Kammermuſik hervor: gebracht hat. Namentlich der erite Sag iſt von urſprünglichſter Srifhe der Erfindung, von Anfang bis zu Ende melodiös, durhfichtig, meifterhaft in Form und Ausführung. Das ganze Sertett iſt einfah und anmuthig gehalten, in jener E£laren, leihtbewegten, innerlih glüdlihen Stimmung, welche jo ge- winnend aus Brahms’ D-dur-Serenade klingt. Soldhe Com: pofitionen find in ihrer liebenswürdigen Schönheit eigentlich die befte Kritit und Replik auf die Großthaten der Zukunfts— mufif, Brahms iſt eben durch und durch Mufiter, während man von Wagner oder Liſzt jagen könnte, was Plutard) von Damon, dem Mufiflehrer des Perikles, berichtet: »Er war ein Sophiit eriten Rangs, und jcheint ſich hinter den Namen der Muſik veritedt zu haben«.

Kammermufiß.

Die mufifaliihe Woche glih einem blühenden Mai der Kammermufif. Da gab es vorerit eine neue Blume aus den überquellend üppigen Beeten Franz Schubert’3; ein Quartett in G-moll. Es ſtammt aus früher Jünglingszeit, ein Wert weder tief noch allzu reich, aber liebenswürdig durch feine Friſche und unbedingte Luft an der Muſik. Aus Ginem Guß jtrömt e& dahin, und muß dad wohl, denn vor dem eriten Takt der Driginal-:Bartitur leſen wir von Schubert’3 Hand das Datum: 25. März 1815, und nad) dem legten, als Tag der Beendigung: 1. April 1815.

Das Duartett liegt noch beträchtlih weit ab von der »kryſtallenen Wundergrotte- der Romantik, die Schubert uns

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ipäter aufichloß. Nichts von märcdenhaften Dämmerichein, oder tiefverfchwiegener Nacht; Fein wildraufchender Tannenwald, fein majeltätiicher Fels, über den filbern das Mondlicht fließt. Das G-moll-Quartett gleicht einem Kleinen Hausgärtchen, in welchem eintge gute Freunde behaglich Iuftwandeln und von Haydn ſprechen. Denn Vater Haydn ftect jedenfalld darin: fein ift die ungetrübte Stlarheit der Stimmung, fein bie reinliche Führung und die fnappe, tadelloje Symmetrie. Keine der bier Hauptthemen, dad nicht von Haydn jein fünnte Im Verlauf freilich zudt manches Licht auf, dad und den jpätern Schubert gleihjam von ferne zeigt; jo das anhaltende Tremolo der drei tieferen Geigen, womit der zweite Theil des erften Sabes an: hebt, ein hübfcher, fait dramatifcher Effect, den freilich die Wächter des ftrengen Duartettityld nicht für Hoffähig aner— fernen dürften. Zu tieferem rnit faßt ſich die Mufif nirgends zufammen, fein Zweifel, fein Schmerz, feine Sehnſucht wird laut, es geht alles in Einer unbarmherzigen Heiterkeit fort.

Noch eine andere Neuigfeit aus vergangener Zeit: eine Sonate für Geige und Klavier von Phil. Emanuel Bad. Hellmeöberger jpielte fie überaus reizend mit Brahms, der das Stüd nebjt anderen Manuferipten Emanuel® in deſſen legter Rejidenz, Hamburg, aufgefunden hat. Jedes neue Werk Emanuels Bach’3 jpricht mit neuer Beredfamfeit deſſen cultur- hiftoriihe Stellung aus: fein Styl war der Eiöftoß in der Geihihte der neueren Mufit. Von den majeftätifchen, aber Itarren Gebilden Sebaftian Bach's führt er leicht und rajch zu dem Frühling Haydn's. Merkwürdig ift troßdem der eigen thümlihe Zug in Gmanuel Bach’ Mufit, der manchmal in weiten Bogen über Haydn und Mozart hinaus auf Beet: hoven deutet. Diejer Zug, der allerdings bei feinem genialeren Bruder Friedemann noch bedeutender hervortritt, wird dem aufmerfjamen Hörer vornehmlih in dem zarten, geiftreichen Adagio der »Sonate« aufgefallen fein.

Virtuoſenconcerte. Der Violinſpieler Laub und der Pianiſt Jaell gaben gemeinſchaftlich ihr erſtes Concert im Muſikvereinsſaale. Ge—

Ferdinand Laub, Alfred Jaell. 331

meinfame Goncertreifen zweier ebenbürtiger Künftler find eine Idee aus neueſter Zeit, und tie uns däucht, eine recht zwedmäßige Der zwiichen beide Künftler »getheilte« Erfolg iſt zwar fein »Doppelter«, aber die getheilten Auslagen find jedenfall® halbe. Praktiich empfiehlt fi die Erwägung, daß ein concertmüdes Publicum zahlreiher und häufiger zu jolhen gemeinfanen PBroductionen fich einfindet, ald zu Solo— Eoncerten eine Virtuofen. Auch der künſtleriſche Gehalt jolcher Goncerte wird in der Negel ſchwerer wiegen. An die Stelle der gewöhnlich wahllos zufanımengerafften » Zwifchennummern« treten vollwichtigere Productionen, und das mohlvorbereitete Zufammenjpiel beider Kinftler gibt ihren Leiftungen neuen Reiz, ihrem Repertoire erwünſchte Bereicherung. Diesmal hatte jeder der beiden Künſtler noch vollauf mit fich jelbit zu thun. Ferdinand Laub nimmt unter den Biolin-Virtuofen der Gegenwart eine der allererjten Stellen ein. Sein Ton dürfte an marfiger Kraft und Energie jenen Joachim's noch übertreffen. Sein Vortrag kann kaum ficherer, correcter, feuriger gedacht werden, wenn auch oft feiner, poetifcher. So erreichte er in dem Adagio des Beethoven'ſchen Concertes nicht den aus unserer Grin: nerung unauslöjchlihen Vortrag Joachim's. Trefflich war das Finale, auch der erite Sag ließ nichts zu wünſchen übrig, außer etwa eine etwas anspruch3lofere und das mehritimmige Spiel weniger auf die Spige treibende Cadenz. MWahrhaft blendende Birtuojität entwidelte Laub in feinem »Rondo giocoso«, Diefer ganz unvergleihliche Triller, dieſe Sicherheit und Reinheit im Staccato und den Arpeggien, im Flageolet und mehrftimmigen Spiel, waren, einzeln betrachtet, ebenfo be- wunderungswürdig, als die ungeihwäht ausdauernde Straft, niit der Raub dad ganze Stück zu Ende führte. Das zweite geiangvolle Thema des Rondo ſpielte Laub einmal in Octaven jo rein und ficher, wie auf dem Elavier. Die Compoſition jelbit tt ein wirkſames Bravourftüd, nicht ohne intereffante Einzeln- heiten und gut inftrumentirt. Laub's Erfolg war ein vollitändiger. Herr Alfred Jaell wurde von dem PBublicum nicht minder ausgezeichnet. Wir fennen bereit3 die einschmeichelnden Vorzüge dieſes Pirtuofen. Vor allem iſt er Salonipieler im beiten,

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nämlich) jenem Sinne des Wortes, der die mufifaliihe Bildung und das Verſtändniß höherer künſtleriſcher Sphären nicht aus— ihließt. Soweit man mit dem Geſchmack ausreicht, weiß Jaell auch claſſiſchen Compofitionen gerecht zu werden. Allein feine Natur gehört zu jenen weiblich anjichmiegenden, die fich gerne in fleinen Formen, im Kreiſe des Zierlihen und Anmuthigen bewegen, dem Großen, Leidenjchaftlichen lieber aus dem Wege bleibend.

Jaell fpielte Schumann's Fis-moll-Sonate (op. 11), ein Stück Jugendleben des Componiften, voll füßer Träumerei, ftürmifcher Leidenichaft und keckem, lebensfrohem Humor. Auch die Verehrer Jaell's willen, daß feine Vorzüge nicht nad) der Richtung graditiren, in welcher Schumann’ Muſik fi) bewegt. Insbeſondere find e3 die Jugendwerke Schumann’s, die in ihrer genialen, launenvollen Subjectivität, ihrem iprunghaften Wechſel von fchmerzlicher Empfindung und fedem Humor, nur von einer geiftesverwandten Natur unabgefhwäht reproducirt werden fönnen. Etwas vom Schumann'ſchen Dämon, ſei's aud) nur don feinem guten, muß im Spieler jteden. Herrn Jaell's gefälliges, heiteres, elaftiiches Naturell it dem Schumann’ichen beinahe entgegengejeßt; unser Birtuofe hat zu lange in den Salons geglänzt, um allzugern dem fchweigfamen Schumann über Klippen und Abgründe nachzuftürzen. So hat und denn die Fis-moll-Sonate fie ift und aus Augendtagen jehr an? Herz gewachſen diesmal ziemlich unbewegt gelaſſen; es flang alles jo begütigt und abgewaſchen. Herr Jaell war nicht leichtfertig an die Aufgabe gegangen, man hörte jedem Taft die jorgjamfte Vorbereitung an. Allein in ſolchen Regionen wird eben allzu fühlbar, was in niedrigeren nicht ftört, daß dem Spiele des Vortragenden die Tiefe fehlt. Selbſt Aeußer— lichkeiten wirken da ganz eigenthümlich; fieht man Herrn Jaell über einzelnen Tönen der Melodie er trennt fie gern, wie die italieniihen Sänger feine rundlihe Hand jo zierlich jih bäumen und wiegen, jo glaubt man ihm noch weniger, was er von leidenichaftlihen Dingen fpielt.

Herr Laub brachte noch eineReihe glänzender Leiftungen, deren bedentendfte der Vortrag der Bach'ſchen »Chaconne« war. Die

Zunge Bianiftinnen. 333

fichere Entjchiedenheit im mehritimmigen Spiel, dad Mark des Tone, die Behendigkeit der linken Hand und die Kraft der rechten wirkten hier zu mächtigſtem Effect zufammen. Laub's Bogen griff aus wie ein Gemitterfturm und ließ Paffagen und Triller niederregnen. Unfere erfte Wahrnehmung, daß das Kräftige, Energijche, das kühne Auflodern der Bravour Laub's glänzendite Seite bilden, neben welcher das Einfahrührende, Shwärmeriich- Innige etwas abfällt, beftätigie da& lebte Goncert. Der Vortrag der Glegie von Ernst ließ Kalt; der Aufwand an >»großem Tone konnte nicht eriegen, was der Empfindung an Feinheit, Beweglichkeit und Wärme abging.

Wer fih an den Goncertgebereien der legten Woche ganz be— ſonders betheiligt hat, war das ſchöne Geichlecht. An Fleiß und anfpruch3lofem Streben ftehen unfere Bianiftinnen (namentlich die dem Publicum bereits vortheilhaft befannten) hinter ihren bärtigen Collegen gewiß nicht zurüd, dennoch verjegen uns »Mädchenconcerte« meist in einige Verlegenheit. Nicht etwa Die Galanterie, fondern geradezu die Gerechtigkeit erheifcht hier ein anderes, milderes Maß der Beurtheilung. Die moderne Clavier— mufif verlangt einen Grad von phHfiicher Kraft und Ausdauer, der einem jungen, zartgebauten Mädchen nur äußerſt felten eigen. Die Kritik wird fich daher mteiften® zufrieden geben müffen, wenn jolche knoſpende Pirtuofinnen die Wucht der Goncertftüde »ihren Kräften entiprehend« bewältigen. Ein Mibgriff Hingegen, den man imputiren kann, iſt es, wenn Mädchen in der Wahl ihrer Vorträge auf ihre zartere Natur und geringere Kraft gar feine Rüdficht nehmen. Seit es Mode geworden das ift das rechte Wort in allen Goncerten Bad und Schumann zu fpielen, glaubt jedes halbwichfige Mädchen, das allenfalls den kleinern Sahen Mendelsſohn's und Chopin’3 oder einer leichteren Thalberg’ihen Phantafie gewachien ift, e8 müffe fi) mit dem Schwierigften aus Bad und Schumann produciren. Reicht ſchon die phyfiihe Kraft unferer concertirenden Roſenknoſpen für diefe Gompofitionen jelten aus, die geiftige erweist fich meiſt noch unzulänglicher. Wer im Leben und in der Runft nicht jchon Einiges erfahren, mit Schmerz und Mühe erfahren hat, weifen Denken und Fühlen

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noch harmlos wie ein Haydn'ſches Rondo fih in kleinſten Kreifen dreht, der wird Schumann am beiten noch einige Sahre ruhen laſſen. Die künſtleriſche, feinverzweigte Complication des Schumann'ſchen Clavierſtyls und die tiefaufgeregte nur im jchmerzlich lächelnden Humor gemilderte Leidenfchaft feiner Muſik jollten allzu kleine Händchen von ſelbſt abichreden. Und doch pflegen unfere jungen Mädchen ihren Austritt aus der Schule und Eintritt in die Deffentlichfeit mit diefen Wagſtücken zu feiern. Nachdem kürzlich eine junge, ſchwache Pianiſtin Beethoven's Es-dur-Eoncert, Liſzt's Nhapjodien u. dgl. für ihr erſtes Concert gewählt hatte, folgte ihr jüngft ein ebenſo zartes Schweſterchen mit Schumann’3 »Sreißleriana«, Beet— hoven's Es-dur- und Chopin’ F-moll-Goncert (op. 21), einer der allerichwierigiten Compofitionen der modernen Klavier: literatur. Ein blutjunges Mädchen mit den Anfängen einer ganz unausgebildeten Stimme debutirte dabei mit Schumann’s »Stiller Liebe« (au op. 35), einem Lied, daS bekanntlich Die niancirtefte Declamation und die tiefjte Innigkeit erfordert. Wir müßten mitunter nicht, wen wir mehr bedauern follten, die Componiſten oder ihre zarten Mörderinnen? Möchten leßtere doch bedenken, daß wir fie nicht zur Selbitverleugnung, ſondern im Gegentheil zum lohnendften Egoismus auffordern, indem wir wünjchen, fie möchten nur vortragen, was ihnen wirklich veritändlih und jympathiich ift, und was fie vollfommen gut jpielen fönnen. Ihre wahrhaften Vorzüge: Zierlichkeit, Ge— läufigfeit, leichte Anmuth, können junge Pianiftinnen in Ton werfen wie die genannten entweder gar nicht oder nur in falſcher Anwendung geltend machen, d. 5. indem fie Größe und Leiden Ihaft ind Niedliche kräuſeln. »Sie verzupft Alles,« ſchrieb Mozart über die Wiener PBianiftin Fräulein Auern— hammer. Der Ausdrud ift treffend und charafterifirt eine lange pianiftiiche Nachkommenſchaft der jeligen Auernhammer.

Eine neue Erjcheinung auf dem Podium des Mufifvereins- faales war der Bianift Guſtav Satter.

Herr Satter hat fich befanntlich durch feine Erfolge in Amerika einen Namen gemadt. Daß er ein bedeutender Birtuoje jei, bewies er num auch jattfam vor feinen Zandsleuten. Aus:

Guſtav Satter. 335

giebige Kraft und zartes Geflülter ftehen feinem jaftigen Anz: Ichlag gleihmäßig zu Gebot; in feinem Vortrag fanden wir zwar nur ſchwache Spuren von Empfindung, aber ein gewifjes Feuer, dag muthig ind Zeug geht. In dem lebhaft rhyth— mifirten, gefälligen und gefallfüchtigen Vortrag feiner eigenen Bravourfahen, namentlich des Walzerd, erinnerte und Herr Satter an Leopold v. Meyer. Nur war fich diejer vielgereifte Liebling der Salons in feinem Ziel und Gebahren weit Elarer; er jpielte feine Beethoven'ſchen Eoncerte und componirte feine Duverturen zu deutfchen Sagen. Herr Satter macht uns Die Sade ſchon ſchwieriger, er trägt, vorne claffiih, rüdwärts modern, das muſikaliſche Janusgeficht, mit dem unfere Birtuojen jo gerne fi oder Andere täuſchen. Wir halten, nah Satter’s eritem Concert zu fchließen, nicht den ftruppigen Beethovenkopf, fondern die damenbezwingende Leopoldsmiene fir die echte Geite. Ob fie von Anfang an jeine wahre, urwüchſige oder dur die Tangjährige amerifanifhe Campagne ihm angebildet jei, das müſſen wir unentſchieden laſſen. Satter wäre nicht das erite hübjche Talent, das dur den Humbug der neuen Welt feiner befferen Natur entfremdet ward. Das Clapier ilt für den amerifanifchen Reijevirtuofen eben nur ein Ding, aus dem man Gold jchlägt. Die Schnelligkeit, womit dies in Amerifa möglich, und die Marftichreierei, welche dazu noth- wendig ilt, pflegen tiefe Spuren in dem künſtleriſchen Charakter jolcher Goldipieler zurückzulaſſen. Vermochten wir Herrn Satter, den PBianiften, nur auf dem Felde des Bravourſtücks zu rühmen, jo fällt unſere Anerkennung des Componiſten Satter noch weit bedingter aus. Ein intenfives, eigenthümliches oder auch nur tüchtig gejchulte® Talent ſprach aus feiner einzigen von Satter’3 Compofitionen. Seine Ouverture zur »Lorley« ift mufivifh, formlos, ſchwer belaftet mit Reminiscenzen, dabei mit anſpruchsvoller Roheit inftrumentirt. Nicht eine fingende Tee, ſondern eine preußtiche Jägermufit muß, nad Satter’s Shilderung, den armen Schiffer gegen die Felöwand gelodt haben.

Herr Satter ift bis zu einem vierten Concert vorgerüdt. Sedesmal, während Herr Satter noch im Muſikvereinsſaal

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pianifirt, werden draußen im Gorridor bereit Zettel mit der Nachricht angeichlagen, daß für fein nächites Concert ſämmtliche Cercleſitze (jegt auch ſchon »die Galeriefige«) vergriffen jind! Wer die hiefigen Concertverhältniffe aus jahrelanger Beobachtung fennt, den muß diefer plögliche Heißhunger unferes Publicums nad Glavierconcerten in bemunderndes Gritaunen verjegen. Ein durch den Titel: »Adieu, absence et retour« gerade— wegs zur Vergleihung mit Beethoven herausforderndes Trio von Satter, dann ein ſtark an Charlatanerie ftreifendes » Quintett in einem Sat über ein Thema von ſechs Noten« wurden jelbit von dem freundlichen Publicum, welches fih an jämmtlichen Serclefigen de3 Herrn Satter »vergreift«, bedenklich fühl auf: genommen. An Galopaden aber und Walzern, mögen fie auch mit der ftürmijfchen Bravour Herrn Satter’3 gejpielt werden, hat man fi) bald jatt gehört.

1864.

Die „Johannäiſche Palfionsmufik“ und das „Weibnachtsoratorium“ von Heb. Bad.

Macs Johannäiſche Paſſionsmuſik ift der (unſerem Publicum durch wiederholte Aufführungen bekannten) Matthäus— Paſſion nah Inhalt, Dispofition und Behandlungsweiſe voll— ftändig analog. Im gleihen Wechſel epifcher, Inrifcher und dramatiiher Montente wird die Leidensgeichichte Jeſu vom Evangeliften erzählt, von den biblifchen Perſonen handelnd dar: geitellt, von der idealen Gemeinde theilnahmsvoll betrachtet. Die vielfach verbreitete Anficht, welche Bach's Johannes-Paſſion im Vergleich mit der Mathätfchen ein ſchwächeres Werk nennt, vermögen wir nicht zu theilen. Die Johannes-Paſſion bewegt fih nicht in fo grandiofen Dimenfionen, arbeitet nicht mit fo gewaltigen Mitteln wie die Matthäifche, allein an innerer Kraft und Uriprünglichkeit, an Reichthum der mufifaliihen Phantafie, an Tiefe der religiöfen Empfindung, felbit an dramatifcher Lebendigkeit fteht fie ihr um feines Haare Breite nah. Man kann zugeitehen, daß polyphone Pracht- und Riefenbauten wie die dreichörige Einleitung der Matthäus-Paſſion und ihr Chor »Sind Donner und Blitze« feine gleich gewaltigen Seitenftüde in der Johannes: Baffion finden; dafür fcheint und durch Die Johannes-Paſſion ein eigenthümlicher Zug von Milde, Weichheit und echt menichliher Schönheit zu gehen, der an die Geftalt des Lieblingsjüngere Chrifti mahnt. Die nad größter Be— ftimmtheit ringenden, biß zur Unruhe ausdrudsvollen Recita-

Hanslid. Aus dem Concertfaal. 2. Aufl. 22

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tive find jenen der Matthäus-Paſſion ganz homogen; einige Mendungen, welche dies Streben bis zum Wagſtück jteigern, verſöhnen durch die rührende Naivetät der Eingebung, wie Die Stelle des Evangelijten »Er ging hinaus und weinte«, und die andere (ſchon leife an den Barockſtyl jtreifende) »und geißelte ihn«e. Die Chorale mit ihrem tiefen, gejättigten Ausdruck ſchlichter Frömmigkeit bilden einen wunderbar wirffamen Gegen: ja zu den furzen, dramatiihen Chören, welde hier wie in der Matthäus-Paſſion die zündenditen Momente der ganzen Compofition find. Wie ungejucht und fchlagend ift dieſe Dra— matit in den Rufen des Volkes: »Jeſum von Nazareth!« »Biſt Du nicht der Jünger Einer?« »Weg, mit dem!« u. a. Die größeren ausgeführten Chöre athmen theils erhabene Pracht, wie der Einleitungschor in G-moll, theild rührendfte Trauer, wie der Klaggejang »Ruhet wohl!«

Die Arien, im großen und ganzen genommen, jtehen in- fofern hinter den Recitativen und Chören zurüd, als fih in ihnen fürs erſte manches Topifch-Conventionelle eines Muſik— ſtyls fühlbar macht, der nicht mehr der unſrige iſt, fürs zweite das Fremdartige der Bach'ſchen Inſtrumentirung ſich eben nur in den Arien uns aufdrängt. Die (wenn wir nicht irren, Moſevius gehörige) Feine Bemerkung, daß Bach's Inſtru— mentation eigentlich nur eine aufs Orcheſter übertragene Orgel: Regiſtrirung jei, tritt dem Hörer in ihrer ganzen Wahrheit ent— gegen. Die Begleitung der Arien, in der Farbe bi zur Dürftig- feit einfach, in der Zeichnung bis zur Weberladung verziert, ericheint mitunter für unfere mufilalifchen Gewöhnungen jonder: bar genug. Die meiſten diejer Arien find eigentlich Terzette, in welchen der Singitimme und den Injtrumenten ein gleiches Theil an dem contrapımftiichen Gewebe zugemeijen ift; unter der Singitimme bewegt fich unabhängig der Gontrabaß, über der Singftimme ebenſo unabhängig eine Flöte, Oboe oder Violine. So mögen dem mit Bach noch unvertrauten Hörer die Sopran:Arie in B: »Ich folge dir!« oder die Tenor-Arie in Es den Eindrud eines Flötene oder PViolin-Präludiumd mit unterlegter Menjchenftimme machen. Nah etwas vertrauterem Umgang findet man den eigenthümlichen Reiz, theil® den fein-

Bach's »Weihnachtsoratoriume. 339

finnlihen des langes, theild den geiftigen einer zwar typiich gefeilelten, aber doch wahrhaft naiven Empfindung heraus. Auhiger und voller in der Begleitung, dabei von entzückender Innigkeit des Ausdruds, ift die Baß-Arie: »Betrachte, meine Seele« (mit obfigater Zaute), das recitativifch ſchildernde Tenor: Arioſo: »Mein Herze, endlid die mit einem Choral zu im— pojantem Bau zufammengefügte Baß-Arie in D: »Mein theurer Heiland«.

Die Aufführung des Bach'ſchen Weihnachts-Oratoriums geihah durch die Wiener Sing: Akademie, unter der Leitung von Joh. Brahms. Gegen die Gejellichaft der Mufikfreunde ftand fie Schon durch die Wahl der Compojition etwas im Nachtheil. So reih auch das »Meihnaht3-Dratorium« an mufifaliichen Schönheiten vom erften Nang ift, den einheitlichen, unmittelbar zündenden Eindrud der Johannes: oder Matthäus: Paifion vermag es nicht hervorzubringen. Das fjogenannte »Meihnahts-Oratorium« (1734 componirt und jeit Bach's Tod zum erftenmal wieder aufgeführt in Breslau 1844) ift eine Folge von ſechs Gantaten, deren jede einem bejtimmten Yeier- - tag, von Weihnachten bis zum heiligen Dreifönig-Tag gewidmet iſt. Wenn W. Nuft in feiner Vorrede zur Ausgabe der »Badj- Gefellfhaft« dies Herameron ein »geiftlich-Inriiheg Drama im wirklichen Sinne des Wortes« nennt, jo hat er nur injofern recht, als die in Necitativen vorgetragene, verbindende Handlung (nad) den Evangeliften Lucas, eap. 2. V. 1—21 und Matthäus, eap. 2. V. 1—12) erft im 6. Theil zum völligen Abſchluß kommt. Der ftoffliche Zufammenhang der ſechs Cantaten it aber ein fo Ioderer, daß bei der hiefigen Aufführung, wie auch anderwärts, zwei davon ohne Nachtheil für das Verſtändniß ganz wmweggelaffen wurden, ein Beweis, daß der Begriff des Dramas, wie er noch auf die Paſſions-Muſiken paßt, bier nicht mehr Anwendung findet. Wichtiger noch it der Umſtand, daß im »Weihnachts-Oratorium« das dramatiſche Element gegen das epiſche und lyriſche geradezu verſchwindet. Es fehlen hier die leidenſchaftbewegten, dramatiſchen Chöre, welche dort wie tiefe Schlagſchatten wirken; das Weihnachts-Oratorium bietet

uns zu viel Licht ohne Schatten. Die Einheit der Stimmung 22%

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ift allerdingd durch alle ſechs Cantaten durch den Stoff ge- geben und in der Muſik feitgebalten; diefe Stimmung ift mit Einem Wort: MWeihnahtsfreude die geiftliche, natürlich, er: löjungsfroher Seelen, nicht die weltliche rothwangiger Kinder. In einzelnen von den Arien und Duetten, noch mehr in den Chören iſt diefe Stimmung ſchwungvoll und freudig ausgedrückt, wie ſchon die drei Trompeten, welche die wichtigften Chöre jchmetternd einleiten und figurirend begleiten, dem Ganzen eine feftliche Färbung geben. Im Verlaufe wird dies Feltfigen auf einem jo engbegrenzten Iyriihen Felde etiwad® monoton. Dazı fommt nod, daß durch den füßlich pietiftiichen Text etwas Meiches und Spieljeliges in die ganze Betradhtung fommt, das unſerm Gefühle mwiderftrebt. Dies ewige Seufzen und Schmachten nah dem »himmliſchen Bräutigame«, dies Tiebäugelnde Häticheln des »ſüßen Schaßed« von Anfang bis zu Ende macht es etwas fauer, und der Mufif mit ganzer lebhafter Empfindung hinzu: geben.*) Der Heiland hatte damals in Deutichland einen er-

*) Wir greifen beifpieläweije folgende Terte heraus:

Soprans-Arie: »Nun wird mein liebiter Bräutigam, zum Troſt, zum Heil der Erden, Einmal geboren werden. Be— reite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönften den Liebiten bald bei dir zu ſeh'n!«

Chor: »Ach, mein herzliches Jeſulein! Mac dir ein janftes Beitelein, Zu ruhen in meines Herzend Screin!« Arie: »Immanuel, o jüßes Wort; Mein Sejus heißt mein

Biel, Mein Jeſus Heißt mein Leben, Mein Jeſus hat ſich mir ergeben, Mein Jeſus fol mir immer: fort, Vor meinen Augen fchweben; Mein Jeſus heißet meine Luft, Mein Jeſus Iabet Herz und Brurft. Jeſu du mein liebites Leben, Meiner Seele Bräuti- ganı, Der du dic für mich gegeben, an den bittern Kreuzesſtamm!«

Recitativ: »Genug, mein Schatz geht nicht von mir, Er bleibet da bei mir. Ich will ihn auch nicht von mir laſſen; Sein Arm wird mich aus Lieb’, mit ſanftmuthvollem Trieb, Mit größter Zärtlichkeit umfaffen; Er joll mein Bräutigam verbleiben, Ich will ihm Herz und Bruft verfchreiben! u. ſ. w. u. ſ. w.«

Bach's »Weihnachtsoratorium«. 341

bärmlichen poetiſchen Hofſtaat. So unermeßlich hoch ſich Bach's Muſik über ſeinen Text auch ſtellt, ſo übte dieſer doch inſofern einen Einfluß auf jene, daß Bach rein geiſtliche Dinge und religiöſe Empfindungen mitunter in zierlichen und fröhlichen Weiſen be— ſingt, die unſere angeblich ſo frivole Zeit als dem Gegenſtand nicht ganz angemeſſen empfindet. Daß aus den Arien und Duetten, ſogar aus einem und dem andern Chore des Weih— nachts-Oratoriums nicht jene geſammelte tiefe Empfindung ſpricht, wie aus den zwei Paſſions-Muſiken, daß mitunter etwas Aeußerliches, »àa-Modiſches«, wie man damals ſagte, ſich fühlbar macht, dürfte der unbefangene Hörer ohneweiters ge— wahr werden; eine merkwürdige hiſtoriſche Entdeckung gibt uns überdies einigen Aufſchluß dazu. Es iſt nämlich nachgewieſen, daß der größte Theil des Weihnachts-Oratoriums (außer den Choralen und Recitativen faſt Alles) aus weltlichen Gelegen— heits-Muſiken von Bach ſtammt, und von ihm ſpäter dem geiſt— lichen Text entweder ganz unverändert, oder mit unweſentlichen Aenderungen, 3. B. der Tonart, angepaßt worden iſt. (Ber: gleiche Bach's Werke. Leipziger Bach-Geſellſchaft, 5. Jahrgang, 2. Lieferung.) Nicht weniger als 16 Nummern des Weihnachts— Oratorium find theil® dem »Dramma per musica«, Das Bah 1733 »der Königin zu Ehren« componirte, theil® dem Drama »Die Wahl des Herfules« (zu Ehren des Erbprinzen von Sadien, 1733), theild einer »Gratulations-Cantate zur Ankunft des Königs« entnommen. Die beiden erjtgenannten weltlichen Gelegenheit3-Gantaten find beinahe vollftändig in dem »Meihnadht3-Dratoriums aufgegangen. Diefer Vorgang fcheint ehr geeignet, zwei Wahrheiten, welche von der apologetijchen Kritif gern ignorirt werden, in helleres Licht zu ſetzen. Einmal, daß der muſikaliſche Ausdrud, die »pſychologiſche« Fähigkeit und Ausbildung der Mufif, zu Bach’ Zeit auf einer verhält: nißmäßig tiefen Stufe der Entwicklung ſtand, weil jo ohne: weiters Liebeslieder der Omphale, und Huldigungschöre der

Wie wohlthnend wirkt nach folchen Verien jedesmal das Ächlichte, finnvolle Bibelwort, die Erzählung des Evangeliften! Es iſt, als liche man friihe Morgenluft in eine dumpfe überheizte Stube dringen.

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artigen ſächſiſchen Unterthanen fih in geiftlihen Werfen unter: bringen ließen; ſodann, daß in Bach der praftifche Mufifer Doch nicht völlig von dem ftrenggläubigen Ehriften verfchlungen war, vielmehr jener fih aus Unterjhiebungen weltlicher Muſiken unter geiftlihe Texte fein Gewiſſen machte, wenn ihm deren allgemeiner Charakter dazu pafjend erichien, und ihm um eine muſikaliſch werthvolle Gelegenheit3-Compofition leid war. Bach hat derlei Entlehnungen und Uebertragungen allerdingd nicht jo häufig und fo rücjichtö[loS vorgenommen, wie Händel; allein vorgenommen hat er fie doch, und in unferm »Weihnachts— Oratorium« ſogar in großem Styl.

Mendelsſohn's Mufik zu „Antigone“.

Der afademifhe Gejangverein führte Sonntag im Redoutenſaal die Mendelsſohn'ſchen Chöre zur »Antigone« des Sophofles auf eine Aufgabe, die nicht blos durch ihren fünftleriichen Gehalt, jondern ganz vorzüglich auch durch ihren philologiichen alten Adel fih für einen Univerfitätshor ſpecifiſch eignet. In der Gompofition der Sophoffeifchen Choritrophen hat Mendelsiohn ein Unicum geliefert, das mit dem Gehalt des vollwichtigen Kunftwerfs den Charakter eines Kunſtſtücks vereinigt. Als der verftorbene König von Preußen in feiner Balfion für äjthetifche Leckerbiſſen Sophokles' »Antigone« und »Oedipus« aufs Theater gebracht, und die Chöre im Geifte der griechiſchen Kunſtanſchauung und der griechiſchen Bühne componirt haben wollte, da war offenbar in der ganzen mufi- faliichen Welt fein Componift ald Mendelsfohn, an den man denfen fonnte. Kein zweiter verband mit einer glänzenden mufi- falifchen Begabung die claſſiſche Bildung, ja die philologifche Kenntniß, die hiezu erforderlich ſchien. In dem feinen, geift- reihen Anfchmiegen an einen gegebenen Stoff Stand Mendels— john ftetS obenan, und wenn er die römischen und griechiichen Dichter in der Urſprache las, werden ihm wenige Componiſten Geſellſchaft geleiftet haben. Bei Mendelsfohn ftand die har: moniſche, alljeitig reihe Bildung im Gleichgewicht mit feinem

Mendelsſohn's Mufik zu »Antigonee. 343

mufifaliihen Schaffen: feine ſpecielle Kunft, die Muſik, war gleihlam nur die Spige, die feinjte Blüthe einer umfafjenden und durchgebildeten Natur. So offenbart fie fih am entjchie- densten in den griehiichen Chören. Die Berliner Bühne machte eben (zu Anfang der Bierzigerjahre) den Berfuch, den Haide- boden, auf dem Hirſemenzel-Raupach unbeſchränkt herrichte, zu einem poetiihen Park umzufchaffen. Sie flüchtete in die weſen— loſe Phantaftit Tieck'ſcher Märchen, und griff endlid Jahr: hunderte weit zu Racine’3 »Mthalie«, ja fogar zu Aeſchylus und Sophofles zurüd. Während man die hiftorifche Tragödie die einzige Richtung, nach der fich das höhere Drama weiter entwiceln kann und wirklich fich zu entwideln ftrebte durd) die kleinlichſten Rüdfichten verrammelte, wollte man ein Tängft Hiftorifchgewordenes wieder zum Leben erweden. Anregend und genußreich für einen Eleinen, auserwählten Kreis von Gebildeten fonnte für die Gejammtheit jene Erwedung doch nur ein kurzes Sceinleben führen. Als merkwürdigites und bleibendes Re— fultat jener Berliner Aufführungen des »Oedipus« und der » Antigone« müffenwir Mendelsſohn's Kompofition der Chöre anjehen. Uriprünglich für die wirkfihe Bühnenaufführung com: ponirt, hatte Mendelsſohn's Muſik nur eine nebenfächlihe Be— deutung; jo follte in ımgefährer Anlehnung an altgriechiiche Traditionen die theatraliicher Wiederbelebung des Sophokles möglih machen. Dies Verhältniß der Chöre zur Tragödie hat fih gegenwärtig umgekehrt. Von der Mißlichkeit der Auf: führung antiker Tragddien auf unſeren Bühnen überzeugt, ſucht man nunmehr den mufikaliihen Genuß der Mendelsſohn'ſchen Chöre daraus zu retten. Dieſe werden jeßt Telbititändig und als Hauptſache aufgeführt, während ein »verbindendes Gedicht« an die Stelle der Tragödie tritt, dad Verſtändniß nothdürftig zufammenzubhalten.

Mendeliohn’3 Chöre zu den Tragödien des Sophofles find vielleicht das leuchtendſte Beilpiel, was für Aufgaben ein durch Tiefe und allieitige Bildung befruchteter muſikaliſcher Geiſt vollbringen fünne. Allein der Charafter der Aufgabe des Problems (im Gegenfag zu vollftändig freier, aus dem Innerften ftrömender Schöpfung) war daraus nicht zu tilgen.

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Wo immer der Componift feine Aufgabe erfaßte, ftieß er auf einen MWiederftreit zwiichen den Bedingungen des antiken Dramas und der modernen Muſik. Dieje wirft nur in felbititändiger, freier Entfaltung; jenes erheiſcht ein ſklaviſches Unterordnen der Muſik unter die Declamation. Sollen die Worte des Chor in ihrer vollen Gedanfenwucht wirken, ja überhaupt von der Bühne herab deutlich vernommen werden, jo muß die Mufik, auf die Schönheit ihrer eigenen Architeftonif und Farbe ver- zichtend, langjam, eintönig und äußerſt ſchwach begleitet (Flöten und Harfen nach antifem Vorbild) einherjchreiten. Damit würde die muſikaliſche Bedeutung der Chöre auf Null herabjinfen. Solde Verleugnung kann man der modernen Muſik, kann man einem ihrer größten Meifter faum auferlegen; ein fort- währendes fünftliches, ja fünftelndes Vermitteln und Nachgeben wird demnach zur Norm. Mendelsjohn hat durch bewunderungs— würdige Mäßigung des mufifaliihen Clement? und geiftvolle Anempfindung griehiicher Kumftweije dies ungewöhnliche Problem gelöſt. Die Schwierigkeit, der antifen Chorftrophe mit ihrem wecjelvollen, complicirten Versmaß und ihrem beiwörterthür= menden Satbau ein mufifaliiches Kleid anzupafien, ſtreift im der »Antigone« wie im »Dedipus« mitunter and Unüberwind- lie. Der Accent des muſikaliſchen Abſchnitts zerreißt oft den grammatiich und logiſch zufammengehörigen Saß in zwei gegen= jägliche Hälften, und umgekehrt. Beinahe jeder der Chöre bietet Beilpiele diejes Kampfes zwifchen declamatorifher und muſi— faliicher Rhythmik. Mit diefer äußern, ſprachlichen Schwierig: feit verbindet fich die innere, die in dem überwiegend reflec- tirenden, Mäßigung und Weisheit lehrenden Inhalt der Chöre liegt. Wo der Chor fih ausnahmsweiſe zu großartigerer leiden- Ichaftliher Bewegung erhebt, da fteigert ſich auch Mendelsſohn's Muſik zu jelbitftändiger Wirkſamkeit, zu voller Pradt. So vor Allem in dem Bachuschor, deſſen muſikaliſcher Haupteffect allerdingd in dem von Mendelsſohn eigenmächtig wiederholten Aufruf: »Hör' und!« liegt, nebenbei eine merkwürdige Voraus: nahme des »Hör’ uns!« der Baalöprieiter im »Eliad«.

Dat man eine Compofition wie diefe »Antigone« contre- eoeur blos auf Allerhöchſten Befehl schaften könne, wäre

Mendelsſohn's Mufif zu »Antigone«. 345

eine lächerlihe Anfiht. Wer die tiefe, innere Betheiligung, ja Begeilterung Mendelsjohn’3 an diefer Arbeit nit aus ihr jelbit erkennt, den werden deſſen nachgelafjene Briefe belehren. Die Idee ging allerdings vom König aus; Mendelsſohn wollte fih »anfänglich auf die Sache gar nicht einlaffen; aber (fo Ichreibt er an F. David) das Stüd mit feiner außerordentlichen Schönheit und Herrlichkeit trieb mir alle8 Andere aus dem Kopfe. An den jpäteren »Dedipos auf Kolonos« fcheint er Ihon mit geringerer Wärme gegangen zu fein; und als der König gar ein drittes Werk diefer Art, die Compofition der Eumeniden des Aeſchylos, von Mendelsfohn verlangte, lehnte diejer entichieden ab. Daß dieje Ablehnung ihren Grund wirklich nur in der »jehr ſchweren, vielleicht unausführbaren« mufifalifchen Behandlung diejer Chöre hatte, Fällt uns zu glauben ſchwer; wir fönnen in den hochdramatiſchen Strophen des Aeſchylos für den Mann feine übermäßige Schwierigkeit erbliden, der die »Antigone« und den »Dedipod« bewältigte. Wahrjcheinlicher bedünkt uns, daß Diendeldjohn, nachdem er zwei griehiiche Probleme jo glänzend gelöft Hatte, eben den Zug des Problematifchen in jolhen Wiederbelebungen deutlicher empfand und das Unfrucht— bare einer Liebhaberei einſah, welche fi darauf fteifte, ein geiftvolled anregendes Experiment zu einer confequenten Richtung auszudehnen. Er mochte fühlen, daß dieſe griehiichen »Er— wedungen«e doch nur den Genuß einer fleinen poetifchen und philologischen Ariftofratie, aber niemals das echte, verftändniß- innige Entzüden ded ganzen Volkes bilden fönnen.*) Und für

*) Wir möchten wiſſen, ob die Verfechter der gegentheiligen Meinung aufrichtig glauben, daß ein großes Publicum, oder auch nur eine Hälfte desjelben, bei Verſen wie folgende (wir wählen fie auf’ Gerathewohl und auß der berühmten Donner’ichen Ueberſetzung) etwas fih zu denken oder etwas zu empfinden vermag:

An der fyanischen Fluth des verichwiiterten Meeres hin

Dehnt ſich Bosporos Strand und der ihrafiiche

Salmydeſſos, wo Ares, im Land waltend als Gott an Phineus’ zwei Söhnen

Schaute die graufe Wunde,

Nachdem die ruchloje Göttin blendend

Der Augen Sterne beiden nicht mit dem Speere, nein

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legtere8 hatte Mendeldfohn noch vollauf zu jchaffen. Er war es fatt, den mufifaliichen Hofgriehen des geiltreihen Königs abzugeben, und ſchrieb den »Elias«.

Concert des Wiener Männergelang: »Dereins.

ALS eines der gewichtigften Verdienite Herrn Herbed’s be— trachten wir feinen Einfluß auf das Repertoire des mehritimmigen Männergelangd. Dieje Gattung, fiegreid) durch die üppige, wenngleich monotone Schönheit des finnlichen Klanges, ift ihrer Natur nah auf ein kleines Gebiet beichränft, ein Gebiet über: dies, das nicht auf der Hochebene der Kunft, fondern am Ab— hang derjelben fich ausdehnt, wo die Iuftigen Brüder wohnen. Sp lange der Männergefang irgendwo im Glanz der Neuheit auftritt, übt er ganz abgejehen von feiner gejelligen An— ziehungskraft auch auf das eigentliche Eoncert:Bublicum einen eigenthümlichen Zauber. Man glaubt, fih an dem reinen, Iharfen Zufammenflang friiher Männerftimmen nicht fatthören zu fönnen, und gibt fih mit der Dußenwaare von Liebes-, Trink-, Vaterlands- und Scherzliedern gern zufrieden. So war es in Wien in den PVierzigerjahren und darüber hinaus. Später madte fih allmälig das Enge und Dürftige diejes Genres noch fühlbarer, als man anfangd glauben mochte, und jelbit die virtuoſeſte Ausführung will nicht mehr recht über die Spärlichfeit des geiftigen Gehalts hinmeghelfen. Nach einer Periode allgemeiner Schwärmerei tritt diefe Ernüchterung

Ergrimmt ausſtach mit blut’gen Händen,

Mit ihres Webſchiffes icharfen Spigen.

Und es vergingen im Leiden die Elenden über ihr Elend, Meinend, entiproffen dem Unglücksbund

Der Mutter, die doch an dem uralten Geblüt

Des Erechteus Theil hatte;

Und bei den väterlichen Sturmwinden aufwuchs in fernen Grotten Die Roß' ereilende Boread' auf ſteilen Höh'n,

Ein Gottkind. Doch auch fie beitürmte die Macht.

Der uralten Moira, Tochter! u. ſ. w.

Concert des Wiener Männergelang-Bereins. 347

allenthalben zu Tage, und der NRüdichlag trifft mitunter fo weit, daß ftrengere Kunftrichter es an der Zeit halten, den vierftimmigen Männergefang aus den Concertiälen allmältg wieder in den Burgfrieden der Gejelligfeit und des Vereins— weſens zurückzuweiſen. In folcher Zeit vermag nur eines Die günstige Poſition des Männergefangd im öffentlichen Concert: leben zu retten: die Bereicherung und Veredlung ſeines Pro— gramms. Mer die beicheidene Literatur dieſes Kunſtzweiges fennt, wird einräumen, daß ein ſolches Begehren leichter geitellt als erfüllt ift. Im diefer Beziehung num hat Herbed, als Chormeifter des Miener Männergeſang-Vereins, mehr geleiitet, als irgendwo zu irgend einer Zeit geleiftet worden tit. or feinem Eintritt waren Productionen des Wereind mit vollem Orcelter eine feltene Ausnahme und Mendelsſohn's Dedip- und Antigone-Mufif jo ziemlich das Einzige, womit der Verein eine höhere Kunftregion betrat. Herbed hat die großen Orcheſter— Eoncerte zur Regel gemadt, und im Auffinden intereffanter Novi— täten und Antiquitäten ift ihm der Faden noch nicht ausgegangen. Mit Ausnahme von Schubert's »Nachtigall« waren alle vor: geführten Stüde Novitäten, und drei davon umfangreiche Eompofitionen mit ganzem Orceiter, von Shumann, Ber: lioz und Wagner. Daß feine davon ein Meiſterwerk und im Stande war, die Hörer wahrhaft zu begeiftern, müffen mir hinterher einräumen; immerhin bleiben es Werke, welche, durch ihre Eigenart wie durch den Ruhm ihrer Verfaſſer, der Vor— führung würdig erfchienen und jeden Muſikfreund lebhaft inter: eifiren mußten. Man begann mit R. Shumann’® »Glüd von Edenhall«e (op. 143, componirt in Düfleldorf 1853). Die Uhland’ihe Ballade iſt für die Zwecke des Componiſten von Dr. Hafenclever mit großer Diöcretion dramatifirt, fo daß das DOriginalgediht beinahe nur »mit vertheilten Rollen« ge: lefen wird. Mit dem Chor der Gälte wechſeln Soli des über: müthigen Laros und feines greifen Schenken; nad der Kata— ftrophe betritt der Anführer der ftürmenden Feinde und der GChoren die Scene. Die Gompofition vermochte uns nicht zu erwärmen; in ihrem eigenthümlich unfebendigen, theils gequälten, theil® nüchtern declamatoriichen Charakter trägt fie

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volftändig die Kennzeihen des Schumann’schen Nachſommers. Hätte der Meifter die von ihm eingeführte Specialität der »Chorballaden« mit der vollen poetiihen Wärme und Erfin= dungsfraft feiner früheren Jahre erfüllen können, daS neue Genre hätte fih weniger aus äfthetiichen als aus praftifchen Gründen mwahrjcheinlich bewährt und erhalten. Wirkſamer und fließender behandelt als der gleichzeitig erjchienene » Königs johne, steht das »Glück von Edenhall« doch jchon bedeutend unter der Mufif zu »Page und Königstochter«, welche wenigitens in den märchenhaften Bartien noch wunderbare Töne anjhlägt. Was dem »Glüd von Edenhall«e nicht abzujprechen ift, find die Vorzüge der Form, der Declamation, des ſtets würdigen und gebildeten Ausdrucks ſie find mehr ald ausreichend, um die Aufführung des Werkes zu rechtfertigen ; weniger als aus— reihend, um demjelben zu durchagreifender Wirkung zu verhelfen.

Sffectvoller und lebendiger, bei allerdingd weit größerem Raffinement, ift der Studenten: und Soldatendhor aus Berlioz' dramatiicher Legende: »La damnation de Faust« Der Componiſt hat hier Goethe’3 »Fauſt« in ähnlicher Meile mie Shafejpeare’3 »Romeo und Julie« für fein eigenthünliches, halb— dramatiiches, muſikaliſch-malendes Talent ausgebeutet. Die Scene, die una der MännergefangsVerein vorführte, bildet das Finale der zweiten Abtheilung. Fauft und Mephifto umjchleichen nächtlicherweile Gretchen's Haus. Sie hören luſtigen Chorgejang von weitem. »Des etudiants voici la joyeuse cohorte, Qui va passer devant sa porte«, alfo der Gounod’she »Siebel« en masse. Zuvor ericheinen Soldaten und fingen in populärer, hübſch rhythmiſirter Melodie den »Goethe'ſchen Chor: » Burgen mit hohen Mauern und Zinnen«; der Geſang geht aus B-dur, / Takt, ein Iuftiger Terzenlauf der Glarinetten fteigt jauchzend ziwiichen je ziwei Verſen auf. Nun rüden von der andern Seite die Studenten heran, ein lateiniiches Burfchenlied (D-moll, 2/ Takt) in ungeihladhtem Uniſono fingend, wozu die Violinen mit pizzilirten Terzen accompagniren. Die beiden Chöre er— tönen jchließlih zufanımen, ein Witz, der mehr Schweiß ge— foftet hat, als ſich lohnte. Obwohl beide Parteien durch das Orcheſter möglichſt auseinandergehalten jind (die Holzbläjer

Wagner »Liebesmahl der Apoftele. 349

gehen mit den Soldaten, das Blech mit den Studenten, die Violinen pizzifiren neutral zwiichen beiden), fo ilt der Total: eindrucd doch wirr und überladen. Der Studentenhor verliert mit dem D-moll-Charafter vollitändig feine Phyſiognomie, kurz, jedes der beiden Chorlieder war für fich allein weit hübſcher. Das Eleine, äußerit ftimmungspolle Orcheiter-Ritornell, das die Scene eingeleitet, Tchließt fie wieder und läßt das Ganze Teile wie im Abendduft verſchwimmen.

Die dritte große Nummer war Richard Wagner's »Liebesmahl der Apoſtel«. Diefe »bibliihe Scene für Männerhor und Orcdelter«e lang vor dem »Tannhäuſer« componirt und vor mehr als zwanzig Jahren im Drud er- Ichienen ift wenig befannt und vom Gomponiften jelbit nicht als vollwichtig anerfannt. Die ganze umfangreihe Compofition ward offenbar einem einzigen Orchelter-Effecte zuliebe entworfen und ausgeführt, der allerdings erquifitelter Art ift. Gute zwei Dritttheile des Werkes füllt nämlich bloßer Männerchor, ohne alle Begleitung: die Jünger und Apoftel find nah Chriſti Tod in andäcdhtiger Heimlichkeit verfammelt; Zucht und Zagen erfüllt ihr Herz. Plötzlich horchen fie auf: »Welch' Braufen erfüllt die Luft? Du Heiliger Geift, dich fühlen wir das Haupt ummehen!« Hier erit fällt das Orcheſter ein, ein überrajchender Effect, der mit größter technifcher Meiſterſchaft in Scene gejeßt it. Geigen, Bratfchen und Gelli, vierfach getheilt, beginnen leile ein zauberhaftes Schwirren, über welchem gehalteıte Accorde der Flöten und Glarinetten und Fagotte wie jchwacer Lichtſchimmer glänzen; das Schwirren wächſt immer braufender an, das Licht wird immer intenfiver, zwei Pauken wirbeln leiſe, beide auf C, zwei andere Schlagen in Biertelnoten, dann heftiger in Achteln dazu; nun fallen im Fortiffimo auch vier Trompeten, vier Hörner, drei Poſaunen, ein Tuba und ein Serpent Ichmetternd ein, Chor und Orcheiter entladen fich in mächtigen Donnerichlägen. Es veriteht fih, daß ein folcher Effect, nachdem das Ohr eine Stunde in trodenem Vocalſatz geihmadtet, fo fiher ift wie bares Geld. Er iſt an diejer Stelle auch äfthetiich “berechtigt. Und dennoch gewannen wir von dem Ganzen feinen tieferen Eindrud, feine Erregung, die über die rein finnliche

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diejes effectvollen Contraſtes hinaugreihte. Der lange rein pocale Theil bereitet dem Componiſten allerdingd den Boden für jene Wirkung, aber er verräth auch dejjen ganze Blöße im polyphonen Satz, feine Unfähigkeit, den Ausdruck religiöjer Würde und Einfachheit feitzuhalten. Der Gejang der Apoitel (zwölf Baſſiſten) iſt declamatoriſch trodener, meiſt unifoner Sprechgeſang, muſikaliſche St. Nicolo-Mummerei; was die Jünger (erſt allein, dann mit den Apoſteln) vortragen, klingt jo unbibliſch modern, jo jentimental weltlih, daß wir nicht da3 erite Pfingſtfeſt, ſondern einen Apoſtelgeſangs-Verein »Biederjinn«e vor una zu haben glauben. Dieſe Ihmachtenden Septimen: und Nonen:Accorde, dieſe VBorhälte und Modulationen führen und weit weg von den ehrwürdigen Ambositätten des Chriſtenthums, fie führen uns direct nad Wagner's romantischer Wartburg, vor welcher der Baritonift Wolfram von Eichenbach jeine liebegwunde Seele ausfingt. Die Ausführung des überaus ſchwierigen Werkes war eine Feuerprobe für den Chor, und er beitand fie redlich. Nur wären die Sänger, welche die » Stimmen bon Oben« repräfentiren, beſſer auf die Eitrade poftirt geweſen, unten fonnten fie eine »himmliihe« Wirkung unmöglich er— zielen.

Schubert's »Nadhtigalle (Chor mit Clavierbegleitung) wurde ſtürmiſch zur Wiederholung begehrt, eine Ehrenbezeugung, die wir für unfern Theil mehr der Ausführung als der Com: pofition zollen. Sp lange dieſe in Vierpierteltaft geht, ſchmeichelt fie, ohne tieferen Eindrud, mwenigitend® durch melodidje Anmuth ; mit dem trivialen Dreivierteltaft der Schlußftrophe und deren unbegreiflichen Walzer-Accompagnement find wir aber geradezu ind Wirthshaus verjegt. Bei feinem Tonmeiſter der Neuzeit muß man jo vorfichtig in der Unterfcheidung des Einzelnen jein, wie bei Schubert, denn fein Zweiter hat jo wie er, im Bollgefühl seiner Kraft und feines Reichthums, jo flüchtig ungleich producirt. Diefe ftrogende Gejundheit und fröhliche Naivetät loden ihn oft bedenklih an die Grenze des Trivialen, wie wir das mantentlih in feinen Finalſätzen wahrnehmen , können. Jene Gößendiener, welche auf den glorreihen Namen hin alles Schubertihe gleihmäßig preifen umd bewundern,

Lachner's »Drchefter-Suiten«. 351

verfallen nur zu leicht in die Schon von Shafejpeare getadelte Thorheit »tho make the service greater than the God«.

Orcheſter-Concerte.

Franz Lachner war von München eigens hiehergekommen, um ſeine »zweite Orcheſter-Suite in E-moll« zu dirigiren. Mit lang anhaltenden Beifall begrüßte das Publicum fein Erſcheinen. Diefer Willlomm Lachner hätte ihn überall verdient und gefunden Hatte in Wien doch noch eine intimere Färbung und Bedeutung. Nicht allzu viele von den Zuhörern mochten aus eigener Erinnerung der Zeit gedenken, wo Lachner in Wien thätig war, aber der Beifall Klang, als wüßten ſie's Alle und fühlten es lebhaft durch.

Bor AO Jahren war Lachner als junger Mufifer, unbe: mittelt und unbefonnt, aus Baiern nad) Wien gewandert. Ein günjtiger Stern hat ihn geleitet, und in Lachner's fchneller Garriere und Doc endlich wieder einmal jehen laſſen, »wie fich Verdienit und Glück verfetten«. Nicht lange nach feiner Ein- wanderung ward Lachner Gapellmeifter am Kärntnerthor: Theater (1826), daS er erit 1834 verließ, um einem Auf nad) Mannheim und bald darauf nah München zu folgen. Was Lachner seither in München für die Pflege claifiicher Muſik gewirft hat, durch jeine eminente Dirigenten-Thätigfeit mie durh das Anjehen feines Namens, iſt befannt. Seine eigene Schöpferfraft jedoch jchien verfiegt, wenigſtens lag fie in jahre: langem feiten Schlummer. Da jehen wir fie plöglich im neuer, ungeahnter Frifche fich erheben und die Welt mit einer Nach— blüthe überrafchen, welche die Ernte feiner jüngeren Jahre in Schatten jtellt. Dieſe Nachblüthe find Lachner’3 zwei Ordeiter- Suiten, die ganz Deutſchland mit aufrichtiger Freude begrüßt hat. Wenn man erwägt, wie viel jchwieriger, begehrlicher und verwöhnter das mufifalifche Bublicum jeit 30 Jahren geworden ift, jo darf man die Aufnahme der zwei Lachner’fhen Suiten wohl als den bedeutenditen Erfolg bezeichnen, welchen der Componiſt überhaupt errungen.

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Die neue »Suite« in E-moll ift der eriten in D-moll (die im vorigen Jahre Deffoff zur Aufführung brachte) fehr nahe verwandt. An Kraft und Originalität der Erfindung, an Schwung der Durchführung erreicht fie, unjeres Grachtens, ihre Borgängerin nicht, an Wohlgeitalt der Form und glänzender Technik ift fie ihr ebenbürtig. Der erite von den finf Süßen bringt nach einer bebeutfam vorbereitenden, Yanglamen »In— troduction« eine Fuge, und zwar eine Doppelfuge, deren erites Thema erit für fih durchgeführt wird, worauf das zweite Thema auftritt und das erfte als Gegenthema mit durchführt. Der mwuchtige Charakter der Themen und die conjequente contras punktiſche Ausführung des ganzen Satzes erinnert (abgejehen von der modernen Verwendung der Chromatif) an die typiichen Vorbilder aus älterer Zeit. Diefem erſten Saß, der uns der werthoollite von allen dünft, folgt als zweiter ein romanzen- artiges Andante in E-dur, edel und gejangvoll, wenn auch nicht gerade bedeutend. »Menuet« Tautet die nicht ganz zutreffende Veberfchrift des dritten Saßed in H-moll, deſſen Rhythmus und Tempo ihn eigentlih unjerer »Polka-Mazur« vindiciren. Menn der Componift fih ded Namens fchämte, der Sache hat er fih nicht zu ſchämen. Die Erfüllung der alten Suitenform mit modernem Inhalt ift ‚ja das enticheidende WVerdienft der beiden Lachner'ſchen Orchefterftüde. Wenn Bach's und Händel's Suiten die Tanzformen ihrer Zeit (MAllemande, Sarabande, Gavotte 2c.) in reineren, idealifirten Linien vorführten, warum foll ein Componift von heute nit das Gleiche thun, wenn er es eben mit feinem Schönheitäfinn vermag? Schon Beethoven fonnte die alte Menuetform, wie fie Haydn benüßte, nicht mehr brauchen; Lachner geht in der Modernifirung derfelben noch einen ftarfen Schritt weiter. Der Satz ilt ſchlank gebaut, bon anmuthiger, etwas tändelnder Melodie. Dad »Intermezzo« it ein Alla Mareia mit gefälligem, intereffant harmonifirtem Hauptmotiv und einem Trio in C-dur, deſſen theatralifches Marſchthema unter den fortlaufenden Trilferfetten der Geigen von unfehlbarem, populärem Effect ift. Der lette Sat lenkt wieder in ftrengere Bahnen ein; an dem gedrungenen, poly: phonen Styl des eriten Satzes anfnüpfend, wirft er ſehr günſtig

Berlioz' »Benvenuto Cellini.« 353

durch jeine rhythmiſche Lebendigkeit. Das ganze Werk offen: bart, zumal in der contrapunftiichen Arbeit, die feite und leichte Hand des Meiſters; die Inſtrumentirung glänzt durch Wohlklang, Schattirung und unübertrefflihe Durchſichtigkeit, man hört jedes Inftrument heraus. So empfangen wir in Lachner's Suite einen anmuthigen Inhalt in meifterhaft gefügter Form, geziert mit allen Reizen moderner und doch jolider Orcheſtertechnik. Das Werk rührt nicht an die Tiefen der Mufif, nicht am ihre legten dämonischen Kräfte, es entzündet weder unfere Leidenjchaften, noch verklärt und jänftigt es deren heiß— glimmende Aſche. Was Lachner’3 Suiten und bieten, ift ein freundliches, wechjelvolles Bild reiner Muſik, einer Muſik, die, gegen jede poetijche und philoſophiſche »Bedeutung« proteitirend, in anſpruchsloſem Behagen fich jelbit zuzuhören fcheint.

Dann hörten wir Berlioz' Ouverture zu »Benvenuto Gellini«, jener Jugendoper, die fait zwanzig Jahre nad einem ſchlimmen Durchfall in Paris, vom Componiften neu überarbeitet und in Weimar, dem mufifaliichen Zukunfts— Mekka, aufgeführt wurde. Wir hätten lieber die Oper jelbft ohne Duverture gehört, als umgekehrt. Aeußerſt empfänglich für den blendenden, wenngleich gemijchten Reiz aller Berlioz'ſchen Orcheſterwerke, haben wir der eriten Aufführung auch diejer Sompofition erwartung3voll entgegengejehen. Wir fanden un? bitter getäufcht: nicht nur die ſchwächſte, jtyllojeite Arbeit von Berlioz trat und entgegen, fondern eine dieſes geiltvollen Com: poniften fait unwürdige. Man halte nur die »Lear«-Ouverture oder den »Römiſchen Gardinal« dagegen. Ja fogar die »Vehm— richter« und »Waverley«, zwei Duverturen aus Berlioz’ früheiter Zeit, ftehen in unferer Erinnerung muſikaliſch gehaltvoller und einheitlicher da. Ein ſeltſames Intervallen-Stolpern und Schwanken vertritt hier die Melodie. Die Reize der Inftrumentirung wirken diesmal nicht, wie bei Berlioz' beiten Sachen, nad Einem Ziel hin, in Einem ftarfen jtrömenden Zug; fie find vielmehr machtlos verfplittert, wie verlorene Poſten auf unentſcheidende Punkte geworfen. Manche Streden diefer Ouverture langen und mehr wie ein bloße8 Probiren von Inſtrumenten und Inſtrumental-Effecten, als mie eine organiihe Entwicklung

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muftfalifcher Gedanken. Die »Gellinie-Duverture machte, troß der äußerſt lobenswerthen Aufführung, auf das Publicum fehr geringen Eindrud.

Neu war und Bargiel’8 »Duverture zu einem Trauer— ſpiel«. Der Componift, ein geiftiger Stiefbruder Robert Schu— mann’s und ein leibliher Clara’, verleugnet fein Vorbild in feinem Takte. Die »Ouverture« ift von würdigem Ausdrud und einheitlicher Haltung, formell unanfehtbar (bi auf den unndthig angehängten Iang Hinfiehenden Schluß), im Detail fein und anziehend, verlegend nirgends, wenn man allenfalls von den unmotivirten Molfeihluchtsharmonien im Durd: führungsiag abfieht. Im Ganzen ein fehr achtbares Werk, aber mit größeren SIntentionen angelegt, als der Componift zu ver: wirklichen vermochte. Bargiel hat feither zwei neue Ouverturen geichrieben, die bedeutender ſein jollen; fein echtes und redlich firebende® Talent verdient, in jeiner Weiterentwidlung nicht ignorirt zu werden. Haydn’s B-dur-Symphonie mit ihrer liebenswürdigen FYriihe und Anmuth machte und das auf: richtigfte Vergnügen; fie erfcheint im eriten Sag und Andante ohne Zopf und Puder, mit Rojen in dem wallend blonden Haar. Die philharmonifhe Hörerſchaft wurde troßdem erit warm und das bis zum Enthufiaamus bei Mendelö- john’? A-moll-Symphonie. Deſſoff und fein Ordeiter feierten bier einen Triumph, den wir durch die beicheidene Bemerkung feineswegs ftören wollen, daß fünftig die unmittelbare Aufein- auderfolge von zwei Symphonien befjer unterbleiben würde.

Schumann’ »Lied beim Abſchied zu fingen« (Es ilt beftimmt in Gottes Nath«, op. 74) hat in Mendelsſohn's einfacherer, innigerer Compofition desjelben Gedichtes einen Rivalen, den es aus dem Herzen des deutichen. Volkes auch nicht für einen Augenblik verdrängen wird. Warmes Empfinden durchdringt zwar auch den Schumann’shen Chor, allein für die Einfachheit der ganzen muſikaliſchen Erfindung ſcheinen uns der verwendeten Mittel immer noch zu viele und zuſammen— geießte. Das Herauötreten eines Soloſoprans auf die Worte »Scheiden, ſcheiden«, das aufdiinglide Genäfel der Oboen in der begleitenden Harmoniemuſik und Mehnliches erfälten Die

Beethoven's Achte Symphonie. 355

ohnehin ziemlich temperirte Stimmung der Compoſition. Durch reizende Klangwirkung beſticht das ſchwediſche Volkslied: »Der Hirt«, das übrigens von der fünften Zeile an ganz den Charakter des modernen, Jogar vom Opernityl angehauchten Kunftliedes trägt. Beethovens achte Symphonie zündete ungleich) weniger als bei früheren Aufführungen. Im Jahre 1818 hatte ein Rritifer der Allgemeinen Muſikaliſchen Zeitung prophezeit, das Allegretto der ahten Symphonie werde immer da capo verlangt werden. Im letzten Geſellſchaftsconcert geſchah es unſeres Wiſſens zum eritenmal, daß dieje Prophezeiung nicht eintraf. Das Tempo wurde allgemein zu raſch gefunden; auch una erichien es fo. Director Herbed Hatte fhon im Jahre 1859, in dem eriten von ihm dirigirten »Gejellichafts- concerte, dad Mllegretto etwas rajcher genommen als ge: wöhnlih, ein WVerjuh, mit dem man fih noch befreunden fonnte, da das traditionelle langiamere Tempo, an dem die nambhafteften Dirigenten, Mendelsſohn an der Spige, ſtreng feitgehalten hatten, anfing, allenthalben übertrieben zu werden. Diesmal verfuhte Herr Herbed noch um einen Schritt weiter zu gehen, ein jehr Kleiner Schritt vielleicht, aber er war ent- fcheidend. Dies reizende Tonſtück bei welchem jelbit der Großmeiſter aller Bellimiften, Schopenhauer, auszurufen pflegte, es mache vergellen, daß die ganze Welt nur Elend trage hatte diesmal jeine eigenthümlich vornehme, aus— drudspolle Grazie eingebüßt.

Es ift übrigens Sehr erfreulih, daß die achte Sym: phonie, die lange Zeit eine beharrlihe Zurüdiegung erfahren mußte, endlich häufiger auf den Concert-Programm erfcheint. Thatfählih Hat Dulibiheff vollitändig Recht, wenn er die achte Symphonie »la moins goütee« unter den neun Schweftern nennt. Sie wurde fo jehr ignorirt, daß mir in den Wiener Eoncert-Programmen der Dreigiger- und auch noch der Vier— zigerjahre die Baltoral- Symphonie faſt durchweg nur als » Symphonie in F-dur von Beethoven« angeführt finden, gerade als wenn Beethoven feine andere Symphonie in F-dur gefchrieben hätte. Die achte Symphonie ſchien durch ihre eigenthümliche Stellung PBublicum und Kritik mitunter zu verwirren. Ihrem

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bejcheidenen Umfang nah an die zwei eriten Symphonien lehnend, ragt fie mit zahlreihen Charafterzügen (namentiich des legten Satzes) in den Styl der dritten Periode. Es beein= trähtigt fie die Nahbarihaft zur Linken, die fiebente Sym— phonie mit ihrer überquellenden Blüthenfülle, und die Nachbar— schaft zur Rechten, die gigantiihe »Neunte«. Obendrein bot fie in ihrer rein mufifalifchen Objectivität, den bereits bilderſüchtig verwöhnten Auslegern jo wenig Anhaltöpuntte zu poetiicher Deutung eine von ihren Wehnlichfeiten mit der vierten Symphonie. Was für heterogene Erklärungen mußte fich dieſe ipröde »Achte« gefallen laſſen! Lenz fieht darin lauter »Mili— täriiched«, dad Finale ift ihm ein »mit höchſter Poeſie ge- ichaffener Zapfenftreihe. Sein Landsmann Oulibicheff leistet wieder in Auslegung des reizenden »Allegretto« das Un— glaubliche, indem er es vollen Ernftes für eine beabfichtigte Satyre auf Roſſini's Mufit hält, über welche Beethoven ſich mufifaliich Iuftig machen wollte! Minder fühne Ausleger fuchten frampfhaft in Beethoven’: Ausiprühen und Lebensumjtänden nach einem poetiihem Sclüffel zu dem verſchloſſenen Sinn der achten Symphonie, und ernenerten ihr Wehklagen darüber, daß Beethoven fein angeblich gegen Schindler geäußertes Pro— ject, durch Ueberichriften und furze Andeutungen die »poetiiche Idee« jeiner Compofitionen zu bezeichnen, nicht ausgeführt habe. Ich erlaubte mir einmal, das Nichtzuftandelommen diejes Planes als ein wahres Glüd für die Muſik zu bezeichnen, eine Steßerei, für welche ich damals Mancherlei zu erdulden befam. Mit wahrer Freude hat es mich erfüllt, in einer trefflihden Kritik von Otto Jahn über die neue Beethoven-Ausgabe dieſelbe Ueberzeugung ausführlich dargelegt zu finden. Jahn beleuchtet dad Mißliche jenes (in Beethoven gewiß nur flüchtig aufge: tauchten) Vorhabens, und erinnert an mehrere Beiſpiele. Sp habe Beethoven einmal, von Schindler über die Bedeutung der Sonaten in D-moll und F-moll befragt, geantwortet: »Leſen Sie nur Shafeipeares Sturme. Jahn bemerkt hierüber, » DaB gerade diejes Drama Beethoven zu ſolchen Schöpfungen anregen fonnte, ijt freilich nicht ohne Intereſſe zu erfahren, aber aus dem Shafeipeare das Verſtändniß derielben herholen

Beethoven’3 Achte Symphonie. 357

wollen, hieße nur die Unfähigkeit der mufifaliihen Auffaſſung bezeugen.«e Auch wenn Beethoven einmal genauer citirt, wird das Verſtändniß Dadurch nicht gefördert. Sein veriranter Freund Amenda erzählte, daß Beethoven ihm gejagt habe, bei den Adagio im F-dur-Quartett (op. 18, 1) habe ihm die Grabes— jcene aus »Romeo und Julie« vorgeſchwebt; wer nun etwa diele in jeinem Shakeſpeare aufmerkſam nadliejt, und dann beim Anhören des Adagios fich zu vergegenwärtigen fucht, wird der fih den wahren Genuß des Mufikitüces erhöhen oder ftören? Man will willen, daß Beethoven ein borübergaloppirender Reiter das Thema zum legten Sag der D-moll-Sonate, das ungeduldige Stlopfen eines in fpäter Nacht vergeblih Einlaß Begehrenden dag Motiv im eriten Sag ded Biolin-Eoncertes eingegeben habe. Möglich, daß ein prägnanter, finnlicher Ein— druck im günftigen Moment bligartig ein charakteriftiiches Motiv hervorrief; aber mit der künſtleriſchen Entwidlung dieſes Keims, mit der jchöpferiihen Organifation des Kunftwerfs hat dieſe äußere Anregung nicht? mehr zu thun; Die Thätigfeit des Künstler bewegt fi) in ganz anderen Regionen, und wer da glaubt, von dem zufälligen äußeren Anlafje aus laſſe fi) das Kunſtwerk conjtruiren, der hat feine Ahnung vom künſtleriſchen Schaffen. Sollte 3. B. Semand auf den Einfall kommen, den eritten Sat des PBiolinconcerte® nah jeiner piychologiichen Entwidlung und äußerlichen Gliederung aus jener Situation des nächtlichen Klopfens abzuleiten und zu erklären, jo möge man ihn in Gottes Namen klopfen laffen: die Thür des rechten Verſtändniſſes wird ihm nicht aufgethan werden. »lleberichriften und Notizen, auch authentiiche, von Beethoven ſelbſt herrührende, würden das Eindringen in Sinn und Bedeutung des Kunſt— werks nicht weſentlich gefördert haben; es ift vielmehr zu fürdten, daß fie ebeniowohl Mißperftändniife und Berfehrtheiten hervorrufen würden, wie die, melde Beethoven veröffentlicht hate. »Darum fünnen wir zufrieden jein, daß auch Beethoven feine Worte nicht ausgeſprochen hat, die nur zu viele zu dem Irrthum verleitet haben würden, wer die Ueberſchrift verftehe, der verſtehe auch das Kunſtwerk. Seine Muſik jagt alles, was er jagen wollte, fie ift und bleibt der

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lautere Quell, aus dem Jeder Ichöpfen kann, der empfänglich iſt«. Solche Worte können nicht oft genug wiederholt, nicht weit genug verbreitet werden.

Die in Wien noch nicht gehörte »Duperture zu Shafipeares Julius Cäſar« (op. 128) ift eine von den vier jelbitftändigen Duverturen, die wir von Schumann befigen, und die er jämmtlih in den lebten Jahren jeiner Thätigfeit zu BDüffeldorf ſchrieb (1851 1853). Die »Julius-Cäſar«-Ouverture lehnt fih nicht jo eng, wie Beet- hoven’3 »Coriolan«, an ihren dramatiihen Stoff; faum mehr al3 der eherne Schritt des Hauptthemas und eine allgemeine friegeriiche Färbung weiſt auf die große römische Tragödie hin. Allerdings hat ein Freund Schumann's in den dreizehn jcharf innfopirten Schlägen, die (Takt 109 bis 112) raſch zu dem breit verhallenden Paukenwirbel auf © hinabfteigen, die dreizehn Dolchſtiche in Cäſar's Bruft wiedererfaunt, und vielleicht zeigt una auch nocd Jemand den Ausruf: »Et tu Brute«! in einem fleinen veritedten Motiv. Die Ouverture jelbit fordert zu feinerlei Icharfjinniger Deutung heraus; fie ift muſikaliſch Elar und einheitlich, faßlicher al3 die Mehrzahl der größeren Or— cheiterfjahen von Schumann. An Eigenart und NReihthum der Erfindung fteht fie nicht in der eriten, faum in der zweiten Reihe Schumann'ſcher Tondihtungen. Die Kraft, mit welcher Die »Cäſar«-Ouverture einherjchreitet, ift mehr die beabfichtigte, mitunter angeftrengte der dramatiichen Charafteriftif, al3 die urfprünglihe des muſikaliſchen Gedanfenjtroms; eigenthümlich weich wehen aus den fanften Nebenmotiven Ankflänge aus »Manfred« und ⸗»Genovefa« herüber. Merfwürdig iſt die Auf: faffung, Die aus der Schlußwendung ſpricht. Der Componiit inmboltfirt den Untergang Cäſar's nicht durch eine Klage, jeine Muſik jtirbt nicht mit ihrem Helden dahin, wie die jchmerzlich verathmende Coriolan-Duverture: fie erhebt fih im Gegentheil aus dem düſteren F-moll in daS helle F-dur und fchließt voll Muth und Siegesfreude. ES iſt alfo ganz eigentlich eine re publifaniihe Duverture, die den Sturz des gewaltigen Unter: drückers al3 glücklich errungenen Sieg der Volföfreiheit feiert. Die Duverture machte feinen lebhaften Eindruck auf das Publi-

Ouverture von R. Schumann. 359

cum; der Maßſtab, den wir aus den beiten Werfen Schumann’3 uns gebildet haben, it für Compofitionen, wie die »Cäſar«— Ouverture, zu groß geworden. Was der Ouverture mwejentlich fchadet, ift ihre derbe, undurchſichtige Initrumentirung, die mit Blechmaſſen das Ohr betäubt und manch feinen Zug eritict. Bon einem Meifter wie Schumann ift jedes größere Merk der öffentlihen Kenntnignahme würdig; jelbit Compofitionen von geringerem fpecifiichen Gewicht find uns hochwichtig als Mark— jteine in Schumann’3 Entwidlungsgang. Weberdies find wir an neuen Orcdefteritüden nicht jo reich, ald daß wir Compoſitionen, wie dieſe »Cäſar«-Ouverture, ohne Nachtheil könnten beijeite liegen lajjen. Aus diefem doppelten Gefihtspunft, nämlich der vollftändigen Kenntnig Schumann’3 und der Bereicherung unseres Orceiter-Repertoires, möchten wir auch die Vorführung der drei anderen Duverturen angelegentlich befürworten. Es find die zuerit die Dupderture zu Schiller’3 »Braut von Meifina« (op. 100), die bedeutendite und ſchwungvollſte von allen, das tragiihe Seitenftüf zum »Julius Cäfare. Danı die beiden mit bellerer, heiterer Farbe gemalten Bilder »Hermann und Dorotheae und »FFeit-Duverture«e. Die Duperture zu »Her— mann und Dorothea« (op. 136, »ſeiner lieben Clara zuges eignet«) ſchrieb Schumann »mit großer Liebe in wenig Stunden«. Man fieht dem flüchtigen Werke allerdings die » wenigen Stunden« an, aber auch die »Liebe« des Tondichters zu dem Goethe- ſchen Idyll, welches er als vollitändiges Singipiel für die Bühne componiren wollte Die »Feit-Duperture«, op. 123, iit über da3 bekannte Rheinmweinlied: »Bekränzt mit Laub« componirt; das Thema wird von den Trompeten wie eine Thefis aufgeftellt, vom Orcheiter durchgeführt, am Schluß fingt e3 der volle Chor, wie ein »quod erat demonstrandume«e. Die »Feſt-Ouverture« iſt ein Gelegenheitsitüd, eine muſikaliſche Huldigung, die Schumann beim Antritt jeiner neuen Stellung dem Rheinlande brachte. Erfindung und Arbeit find unbedeutend, doh hört fih das Ganze immerhin recht feitlih an. Möge Herr Deſſoff dieſe drei Ouverturen gelegentlich hervorſuchen, und nicht müde werden, uns neben dem Bewährten, für alle Zeit Claſſiſchen, das der Grundſtock der Philharmonie-Concerte

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bleiben muß, auch das Intereflantefte der neueren Orcheftermufif vorzuführen. Unter Nicolai und Edert beharrten die »Phil— harmoniſchen Goncerte« in einer allzu erclufiven Stellung; in— dem fie das coniervative Clement, die Stabilität geradezu betonten, bildeten ſie eine Art muſikaliſcher Pairskammer in Wien, weldher die »Gejellihaftö-Eoncerte« mit ihrem flüffigeren reformatoriihen Zug als mufifaliiches Abgeordnetenhaus gegen= überftanden. Herr Deſſoff erfannte ganz richtig die nadtheilige Stellung, in welde ein jo ftarres Feithalten die Philharmonie— Goncerte allmälig bringen mußte; wir glauben mit ihm, daß die Pairs einen ſehr geicheiten Einfall haben, wenn fie mit- unter an Liberalität mit den Abgeordneten concurriren.

Die zweite Nummer des Philharmoniſchen Concerts war Beethoven's Tripelconcert in C-dur, für Clavier, Violine und Gello. Der erfte Sat beginnt mit einem wahrhaft monumentalen Thema, und führt es breit und behaglich, mitunter großartig duch. Im Berlauf wird der mufifaliihe Auffhwung immer empfindlicher durch die unbequeme, an zahllofe Aeußerlichkeiten gefnüpfte Form eines ſolchen Dreiconcert3 herabgedrüdt. Das Finale hat nur noch einzelne ſchwungvolle Stellen, wie das Bolero-Motiv (»⸗Ich verſprach Dir einmal fpanifch zu fommen«); das Meifte darin ift »A la mode-Mufif«, jehr umständlich, redſelig und reichlich behängt mit veraltetem Flitter. Die gleiche Entſtehungszeit und unmittelbare Nachbarſchaft dieſes jehr um: erheblichen Concerts (op. 56) mit Beethoven's großartigiten Schöpfungen, der Eroica, der Sonata appassionata und der Razumomwösfy’fhen Duartetten- Trilogie erjcheint mwunderlich genug.

Virtuoſen.

Wir hatten bereits oft Gelegenheit, die Virtuoſität Karl Tauſig's anzuerkennen. Daß wir noch im verfloffenen Jahre diefe Wunder der Technik mit äfthetiichen Barbareien aller Art gemengt hinnehmen mußten, zwiſchen Bewunderung und Abjcheu gleihlam hin- und hergeworfen, wurde nicht verſchwiegen. Herrn Taufig’3 jüngftes Concert im Redoutenſaal machte und jchon

Karl Tauiig. 361

eine DBerfeinerung und Abklärung feines Vortrags un: zweifelhaft. Diele von uns mit aufrichtiger Freude begrüßte Wahrnehmung fand eine noch weitere Betätigung in Herrn Tauſig's jüngiter Production. Es haben nicht nur die grellen Heußerlichkeiten feines Spield fi ſehr gemildert, aud) jene jouveräne Genialität, die mit dem Kunſtwerke blafirt und vor: nehm jpielt, es der eigenen Laune beliebig anpafjend, ift einer erniteren Auffaffung gewichen. Daß fih Herr Taufig von dieſen zum Theil an der Schule haftenden Ercentricitäten vollftändig freigemacht, ift weder zu behaupten, noch war es zu hoffen. Geltener als im verfloffenen Jahre, aber doch noch zu häufig drängten zwei Gewohnheiten Tanfig’3 fih vor: der zu häufige Pedalgebrauh und das gewaltjame Herausftechen einzelner Töne. Er eröffnete jein Concert mit Chopin's jelten gehörter B-moll-Sonate op. 4. Kann man diejfe Koppelung von vier verichiedenen Clavierpiecen faum al& Sonate anerfennen, io gehört fie doch zu Chopin's eigenthümlichiten und intereflanteften Stüden. Nicht zu feinen beiten, denn dieſe bewegen fich aus— ichlieglih in den knappen Formen der Mazurka, des Notturno, der Etude. In den weiten Hallen der Concert: und Sonaten— form (Chopin jchrieb zwei Concerte, vier Sonaten, ein Trio) fühlt ih Chopin nicht heimiſch, es geht ihm darin ähnlich wie jeinem Ascendenten Field und den Descendenten Stephan Heller und Henjelt. Aus der B-moll-Sonate hat nur der Trauermarfch Verbreitung gefunden, deſſen Klänge auch Chopin’s Leiche nah) Pere Lachaiſe geleiteten.

Tauſig jpielte die Sonate fehr virtuos, aber ungleid im Ausdrud, am beiten das Scerzo; im Trauermarſch ftörte das conjequente Nachichlagen der Melodie nah den Baßnoten, mit denen jie zufammenfallen fol. Das unglaublich Schwierige Finale jpielte Herr Taufig in denkbar rafcheftem Tempo, mit einer Gleichheit und Genauigkeit, als wenn Eine Hand es durch— führte. Dies dämoniſche Stüd, mit feiner and Irre ftreifenden Lebhaftigfeit, konnte faum einen anderen Gindrud als den der Befremdung machen; ein leichtes Markiren der eriten Note, von zwei zu drei, wenigſtens von vier zu vier Taften, hätte immerhin einiges Licht in dies fluthende Dunkel gebracht. Fr

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die Wahl der Chopin’ihen Sonate und der »Symphonifcden Etudene von Schumann find wir Herrn Taufig aufrichtig dankbar; es ift doch die eigentliche, wahre Aufgabe einer aus— nahmsweiſen Virtuoſität, und bedeutende Compofitionen zum Verſtändniß zu bringen, deren große Schwierigkeiten dem ge— wöhnlichen »guten Spieler« unbezwinglich entgegenstehen. Die »Etudes symphoniques«e (op. 13) heißen gegenwärtig in der zweiten Auflage »Etudes en forme de Variations«; wir lieben fie mehr unter dem alten als unter dem neuen Titel. Die Etuden gehören zu den originelliten, geiltvollften Schöpfungen Schumann’, und zu dem Bedeutenditen, was unter Beethoven's Einfluß für die Erweiterung und Befeelung der Variationenform geichehen ift. Das eigentlich Etudenmäßige, die Durchführung einer ſchwierigen Figur, tritt nur bei wenigen in den Vorder— grund, jo in der reizenden dritten Nummer, in dem Canon (Nr. 4). Im Ganzen hat und Taufig’3 Vortrag der Schumann ihen Etuden weniger befriedigt, als feine übrigen Productionen; etwas Ungemüthliches, verftändig Kalte Tiegt überhaupt in Taufig’3 Spiel; in Schumann’fhen Compofitionen tritt e8 am empfindlichiten hervor. Wir Haben die »Symphoniſchen Etuden« von Clara Schumann und Brahms weniger virtuos, aber viel poetiicher und eindringlicher vortragen hören. Ganz ums vergleichlich jpielt Taufig dafür die eigentlichen Bravourſtücke: zwei »Balljcenen« von Rubinftein, eine zweite Nummer feiner eigenen »Nouvelles Soirees de Vienne« (nad Strauß’ichen MWalzern), endlih Liſzt's vierte »Ungariihe Nhapfodie«. Für Liſzt's ungariihe Rhapſodien hatte ich ftet3 eine heimliche Schwäche. Sie find zwar, dreizehn an der Zahl, jehr ungleich im Werth, manche Höchtt bizarr und Außerlih. Allein in jeder einzelnen ſteckt ein Stück reizend wilder Naturpvefie, und im Zujammenhang betrachtet, bilden fie ein merfwürdiges Ganzes, in welchem die Gigenthümlichfeit der nationellen Zigeuner: Melodien mit Liſzt's glänzenditen laviereinfällen mitunter wunderbar verwächſt. Liſzt Iegte in dieſe Reihe feiner Rhap— jodien die dee eines »Zigeuner-Epos«, wie e3 die Volf, da3 in all feinem Thun einer ungewohnten, ungebräudhlichen Weiſe folgt, in einer ungewohnten, ungebräuhliden Sprade

Taufig. Liſzt. 363

und Form gejungen hat«. Liſzt's Buch »Des Boh@miens et de leur musique en Hongrie« iſt befanntlih nur eine in Worten breit ausgeführte Erklärung und Trandfeription de3 Inhalts feiner »Rhapjodien«.

Liſzt's »Concert-Solo« entfeflelte alle Mächte der Taufig’ihen PBirtuofität, gute und böje Dämonen. Diefe Com: pofition ijt ein wahres Muſeum der jeltenften Schwierigfeiten aller Art; Herr Taufig befiegte fie ſämmtlich mit erjtaunlicher Sicherheit und Kraft. Das Stück intereffirt durch einzelne geiſt— reihe Züge und Gombinationen, die aber gegen die Unergquid- lichkeit des Ganzen nicht auffommen fönnen. Unichönes und Dizarres drängt ſich jo dicht in dieſem Concertjolo, daß man mitunter auf den Verdacht fommen könnte, der Spieler wolle ſich vielleiht doch nur einen Spaß machen. Wir ziehen die fleinite Transfeription von Liſzt diefer jelbititändigen Unmufit vor. Herr Taufig zeigt ung übrigens feinen Meifter auch von dejien liebenswürdigiter Seite, durh den Vortrag von Nr. 6 der »Soiréé de Vienne«e,. Die Gapricciod, welche Lilzt unter diejem Gejammttitel über Schubert’ihe Walzerthemen jchrieb, gehören zu dem Anmuthigiten und Glänzenditen unjerer con= certanten Glaviermufif. Die reizenden Melodien Schubert’s mit ihrem weichen, herzlihen Ton und Liſzt's reiche, gligernde Ornamentif vereinigen fich hier zu eigenthümlichen, anmuthigen Bildern aus dem Balljaal, deren aufgeregte Sinnlichkeit allen= fall3 auch einiges muſikaliſche Cancaniren verträgt, Liſzt's Be: arbeitungen der Schubert’ihen Tänze haben Herrn Tauſig angeregt, in ähnlicher Weile einige Walzer von Johann Strauß zu illuftriven. Wir finden die Idee dieſer » Nouvelles Soirde de Vienne« (e3 find deren drei Hefte bei Karl Hadlinger er: ſchienen) jehr glüdlih. Die Walzerthemen jelbit find uns liebe alte Bekannte, und Tauſig's Bearbeitung läßt an glänzendem Effect nichts zu wünſchen übrig. Das Vorbild Liſzt's, dem ſie auch gewidmet find, blidt aus den Trandicriptionen unver: fennbar; Tauſig jcheint von feinem Meifter den feinen Sinn für den Clavier:Effect geerbt zu haben, zugleich) allerdings auch deſſen Vorliebe für Gewaltſames und Bizarre. Es ijt mit: unter wunderlid, was für Baradora er aus Strauß’ lieblich

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einfachen Themen deducirt; ordentlich zuſchauen kann man, wie er dem theuern Meiiter Johann hier und dort die »Milch der frommen Denkungsart in gährend Dradengift verwandelt«. Immerhin nehmen Taufig’3 » Strauß-Soireen« unter den neuejten Bravourftüden einen vorzüglihen Plaß ein, und mer fie zu bewältigen vermag wie Herr Taufig, kann der gleihen Wirkung fiher jein. Befonderd dankbar waren wir dem Concertgeber für die Öffentlich fo felten gehörte Sonate von Beethoven »Les adieux, l’absence et le retvur« (op. 81), deren ungemeine Schönheiten (inöbejondere der beiden erjten Süße) wir ohne die zwingende Heberfchrift vielleicht noch reiner genießen würden. Der dritte Sag ift eine der glänzendften Aufgaben für den Virtuofen, und ob diefer mehr als blos Birtuofe jet, fann er in den beiden erften Stüden vollftändig darthun. Herr Taufig fpielte die Sonate mit männlicher Energie und großem rhyth— miihen Zug; daß fein Spiel mehr glänzt als erwärmt und rührt, erfuhren wir demungeachtet auch hier. Die berühmte Stelle im erſten Sab, wo Beethoven (um den Abſchied zweier Ber: onen anzudeuten) viermal nad) einander Dominante und Tonica zugleich anjchlägt, hat Herr Taufig im Vortrag gemildert, nicht geihärft, was und eine angenehme Ueberraſchung war. Für den Schlußeffect hatte der Concertgeber ſich eine Clavier— Trandfcription des »Walfüren-Rittes« von Rihard Wagner aufgeipart, auf welchen auserwählten Leckerbiſſen die Anſchlag— zettel auch ganz beſonders aufmerkſam gemacht hatten. Die wahrhaft demagogiihe Gewalt, mit welcher die glänzend in- ftrumentirte Orcefterftüd die Maffen padt, geht in der Clavier— bearbeitung gänzlich verloren. Man hört nichts als die dröhnend aus der Tiefe herausgeftochenen Noten des Themas und ein wildes Charivari darüber her. Das Publicum, das die vorher: gehenden Nummern mit außerordentlichem Beifall aufgenommen hatte, fhien an dem »Walküren-Ritt« fein Gefallen zu finden. 65 war falt betroffen. Daß das Unternehmen diefer Trans- jeription felbft einem Virtuoſen wie Taufig mißlingen mußte, war vorauszufehen. Was er geleitet hat, grenzte allerdings ans Unmögliche; wir hätten gewünfcht, e$ wäre ganz unmöglich ge= tvefen. Fräulein Deftinn fang zwei Lieder von Lijzt, (Lieder

Ernft Bauer. 365

von Liſzt Elingt Schon wie ein Widerſpruch), dramatiſche Aus: renfungen einfacher Heine'ſcher Gedichte, arm an Erfindung, reih an Declamationsfehlern ärgfter Art.

Als eine der liebenswürdigften Erfcheinungen der dies: jährigen Concertſaiſon dürfen wir den Pianiſten Herrn Ernit Bauer bezeihnen. Wie Pauer als Juror bei der Londoner Weltausstellung die Tonkunſt in ihren materiellen Werkzeugen ihügte, jo hat er lange zuvor für deren ideale Ziele geitrebt und gearbeitet. Durch Anleitung und Beiſpiel, ald Lehrer und Virtuoſe, hat Pauer ſeit zwölf Jahren in England die jegend- reihiten Keime deutihen Mufiffinnes gepflanzt. Man weiſt ung Deutihen mit Recht die geiltige Miſſion zu, »Cultur nad Diten zu tragene, der deutihe Mufifer muß auch noch für ein gutes Stüd Weſten forgen. In England liegen wichtige Streden muſikaliſcher Bildung noch hinreichend unbebaut, um deutſchen Miffionären vollauf zu thun zu geben. Pauer tft ein ſolcher Miſſionär befter Sorte: erfter Baftor der deuticher Ton: funft in London, hat er unzählige Ladies und Gentlemen muſi— faliih getauft und confirmirt. Für die deutſche Muſik in London war es von heilfamiter Wirkung, daß Pauer durch feine Kennt- niſſe, feine Thätigfeit und feinen Charakter fih raſch allgemeine Autorität erwarb, denn der Engländer iſt autoritätsgläubig. Auf die Autorität von Pauer's »Hiftorifchen Concerten« bin haben fih nicht wenige Dilettanten in London mit Bach, Beet: hoven, Schumann befreundet. An dies Alles dürfen und müffen wir hier füglich erinnern, denn an die8 Alles dachte wohl der Schöne Kreis von Zuhörern, als Sonntag Mittag? die Schlanke Grenadiergeftalt mit dem treuherzigen Bli und dem freundlichen Lächeln vortrat, die vor fo und fo viel Jahren als »Ernftl Pauer« von hier in die weite Welt gezogen war. Mir haben feinerzeit Pauer’3 Leiftungen gewürdigt und fünnen nur hinzufügen, daß fih fein Spiel noch mehr confolidirt, ges glättet und verfeinert hat. »Geflärt« kann man nicht jagen, denn Pauer gehört zu jenen glüclichen Naturen, deren Anlagen und Triebe von Haus aus in harmoniihem Ebenmaß ftehen, deren Entwidlung ohne vulfaniiche Proceſſe, ohme verwirrende Trübung vor fih geht. Klar, reinlich, überzeugend, nicht mit

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hinreißender Gewalt, aber mit gemwinnenditer Anmuth ſpricht fein Spiel zum Hörer. Es ift ftet® in maßvolle Empfindung getaucht, die zwar den höchſten Aufflug nicht wagt, aber für das Kräftige wie für das Liebliche den rechten Ausdrud hat. Ueber allem, was Bauer unternimmt, ſchwebt der Geift ficheren Gelingens, die Feſtigkeit erprobter Kunftanfchauung, der Froh— finn eines mwohlbeitellten Gemüths.

Bon Herrn Julius Epftein hörten wir drei große ſym— phonifche Eoncert:Gompofitionen von Seb. Bad, Mozart und Schumann Seb. Bad’ von Streich-nftrunenten be— gleitete® Concert in D-dur gehört zu den anmuthigiten und ſinnreichſten Glavier-Gompofitionen des großen Meifters. Die ideenreihen Tonipiele des erften Saßes, die ganze eigenthüm— lich weiche, gegen den Schluß geradezu romantiihe Färbung des Andante, die lebensvolle fnappe Rhythmik des Finale wirken, jedes für ſich und als beziehungspolle Theile eines organiihen Ganzen, entzüdend. Es iſt nicht zu leugnen, daß nah diefem Badh’ihen Concert das Mozart'ſche in F-dur eine erſchwerte Stellung hatte, fo jehr diefem der Klangreichthum des ganzen Orcheſters und der melodiöſe, überwiegend homo— phone Fluß des neueren Inſtrumentalſtyls zu ftatten fam. In vielen Momenten reizend durch feinen Blüthenſchmuck, erichien es doch in andern neben dem viel älteren Bach veraltet. Dad Concert ift 1784 in Mien componirt und wurde bon Mozart bei den Krönungsfeftlichkeiten Leopolds II. in Frankfurt gejpielt. Der erite Satz, deſſen marfirtes Hauptthema mit einer Art Humoriftiiher Würde fih aus dem einfahen Aufiprung von der Tonica in die Dominante aufbaut, benüßt dies Motiv jehr glüklih und ift troß einiger Längen von feitlihem, Tebhaften Eindrud. Die beiden folgenden Süße halten fich nit auf gleicher Höhe. Das »Mllegretto« (ed wurde viel langjamer genommen als dieje Bezeichnung vermuthen ließ) ift echt Mozart'ſcher blauer Himmel, aber fo gänzlich unbewölft und unbewegt, daß er und fat langweilig wird. Wir Kinder einer unruhigeren und nachdenklicheren Zeit, für welde Beethoven den Baum der Erkenntniß geplündert hat, fühlen uns von der langen Dauer einer jo füßen, einförmigen Zufriedenheit beängitigt; unſer Ohr

Epftein. Derffel. Bendel. 367

wird undankbar wie Heine's Tannhäuſer und »jchmachtet nach Bitternifien«.

Schumann’ Eoncertitiid (op. 52) » Introduction et Allegro appassionato« obwohl nicht in der vorderſten Reihe von Schumann's Merken ftehend, wirft überaus anziehend, häufig feſſelnd durch das eigenthümlich ſchöne Halbdunfel der Stimmung, überall an regend durch geiſtvolle Wendungen und Einfälle Die langſame »Introduction« (G-dur) hindurd bewegt fih das Klavier fort- während in breiten Arpeggien, über welchen in langgezogenen Tönen abwechſelnd das Horn, die Klarinette, die Trompete (pianissimo) die Melodie anftimmen. Das »Allegro«, E-moll, ichließt jich mit einem fräftigen Thema an, defjen zweiten Theil eine jener leidenfchaftlih aufraufchenden Clavierpafiagen bildet, die Shumann fo eigenthümlich find. Das Ganze ift wirkungs— voll, aus Einem Guß, mitunter allerdings etwas an Mendels- ſohn's H-moll-Gapriccio und G-moll-Eoncert erinnernd.

Herr Derffel jpielte unter anderm E.M.Weber’3 Clavier— Quartett, dad allerdings auch für jeden andern Concertgeber feine glüdlihe Wahl geweſen wäre. Nicht bald iſt uns eine größere Inftrumental-Compolition auß neuerer Zeit und von fo vornehmer Herkunft in ſolchem Grad veraltet und über: wunden vorgelommen.. Wenn jemand das Quartett zum erſten— mal gehört hätte, er würde fi nur ſchwer überredet haben, eine Compofition, und zwar eine ſehr gefeierte, desjelben Meiſters vor fich zu haben, deifen wahrhaft geniale Opern in ungebrochener Jugendfrifche noch heute auf allen Bühnen leben.

Ungleih geringere Befriedigung als Die Concerte Epftein’3 und Derffel’d gab uns die Production eines dritten Pianiften, der gleihwohl die beiden erjtgenannten an virtuofer Technik entichieden überragte. Herr Bendel gab ein viertes Concert mit der Tendenz, fih als Tondidter, und zwar vorzüglih in größeren Formen, vorzuführen; wir hörten den ganzen Abend Hindurh nur Bendel’ihe Com: pofitionen. Schon in Herrn Bendel's eritem Concert gab und die »Sonate mit Biolinbegleitunge Anlaß, an feiner ichöpferiihen Begabung zu zweifeln Wir anerkannten zwar den lobenswerthen Ernſt der Richtung und die Ver:

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meidung alles blos Virtuoſenhaften, vermißten aber die eigen— thümliche, individuelle Phyſiognomie, welche durh die jtarf hervortretende Anftrengung, bedeutend zu jein, keineswegs erreicht oder erſetzt erichien. Die von Herrn Bendel vorgeführten größeren Gompofitionen haben uns in dieſer lleberzeugung voll— ſtändig befräftigt; was fie neues hinzufügten, fällt nur belajtend in die Wagichale der Negation. Wir hörten von Herrn Bendel’s Compoſitionen (außer drei Xiedern) ein »Coneert symphonique« für Glavier und Ordefter, das Kyrie aus einer »Missa solennis«, endlich einen Felt: und Huldigungsmarſch »Kümitler- weihe«e. Den in fih unklaren, wideripruchevollen Styl aller diefer Werke erflären wir uns dadurch, daß hier eine mittel- mäßige Begabung fih frampfhaft an dem Wagen Lijzt’3 und Magner’3 feitzuhalten und hinaufzuſchwingen ſucht. Manches Motiv, namentlich aus dem Concert, Elingt recht hübſch und war nicht übel zu einem Eleinern, anſpruchsloſen Clavierſtück zu verwenden; allein der Componiſt will durchaus größer icheinen, als er gewachſen ilt. Das macht nun den peinlichen Eindrud eines fortwährenden Redens und Dehnens; alle Inner— fihfeit und Sammlung geht darüber verloren. Das »Sym— phoniiche Goncert«e bewegt fih anfangs ganz im dem une muſikaliſch rhetoriichen, bedeutungsvoll zerhadten Styl Wagner’s und Liſzt's; an das Adagio Ichließt ſich nichtsdeſtoweniger ein reiner Bravourwalzer. Das Finale beginnt als Mari, hetzt dann dämoniſche und idylliiche Elemente wunderlich gegen ein- ander und ſchließt in rein äußerlichem Polkaglanz. Die effectvolle Behandlung des Glavierpartes verleiht übrigens diefem Goncert ein unleugbared, wenngleih nebenjächliches Interefie, da8 den beiden anderen großen Gompofitionen mangelt. In dem »Kyrie« der Meile wechieln fortwährend Stellen, die nah einfah kirchlichem Ausdrud ftreben, mit Modulations:Erperimenten und Inftrumental-Effecten, welche unverändert im »Tannhäufer« oder »Lohengrin- jtehen könnten, vielleicht auch wirklich dort ftehen. Verhielt fih dad Publicum zu diefen Tondichtungen ziemlich kalt, jo schien es von der Schlußnummer, dem »Feſt- und Huldigungsmarich«, fait abge: ftoßen. In der That war dies die bedenflihhite Gabe aus dem

Harfenconcerte. 369

mufiftaliihen Fülhorn Herrn Bendel's, und ein jchlimmes Dmen wäre es, wenn der Gomponilt in dieſem rohen Effectitüd, daß die Faßlichkeit einer Wachtparade mit der Prätenjion eines erhabenen Myſteriums verbindet, wirklich erbliden jollte, was er in der Ueberſchrift außipriht: eine »Künſtlerweihe«! MWir zählen gewiß nicht zu den Verehrern des Tondichters Liſzt; wenn aber ein hieſiges Blatt behauptet, Herr Bendel habe alle Vorzüge Liſzt's, ohne defjen Fehler, jo mußten wir feierlichit gegen eine folche Abihägung Liſzt's proteitiren. Dasjelbe Blatt erzählt uns, daß Liſzt beim Anhören des Bendel’ihen »Huldigungsmariches« (zu Liſzt's 50. Geburtöfeft componirt) ſich darin wie in einem »muſikaliſchen Porträt« erfannt und laut ausgerufen habe: »Ja wohl, das bin ih!« Diele eritaunliche Begebenheit ift von folder Bedeutung, daß wir fie nur noch durch die genaue Angabe vervollitändigt wünjchten, nad dem wievielten Toaſt Liſzt diefen Ausfpruch gethan, und ob er ih auch am folgenden Morgen noch in demjelben Spiegel erkannt habe.

Zwei Harfenconcerte fanden jüngit in einer Mode ftatt. Unwilltürlich fiel uns die Bibelitelle ein: »Ich haffe eure Feite, das Spiel eurer Harfen mag ich nicht hören«. (Amos 5, 21.) Die beiden Rivalen, Herr Jamara und Herr Dubeg, find zwar anerfannte Virtuoſen auf ihrem Inftrumente, aber das Inſtrument jelbit iſt fein rechter VBirtuofe. Die wahre Miſſion diefes altehrwiürdigen Organes bleibt denn doch immer bie Begleitung des Gelanged, außerdem gebührt ihm im Orcheiter eine charakteriitiihe Stelle, deren Wirkſamkeit in neuerer Zeit Berlioz gleihjam neu entdedt hat. Getrennt vom Gejang und von der ftügenden Grundlage des Orcheſters oder eines anderen begleitenden Inſtruments, allein auf ihre eigenen Tpärlichen Mittel gewiefen, wird die Harfe immer auf ein engites Feld muſikaliſchen Ausdruds gebannt jein. Will fie dieſes Feld über: fchreiten, in dem Gebiet anderer Inſtrumente colonijiren wie das zu Goncertzweden gar nicht zu vermeiden iſt, jo tritt ihre Unzulänglichkeit nur um jo greller hervor. Töne, die nur duch Nupfen und Reißen von Saiten erzeugt werden, geitatten feinen gebundenen Gejang. Immer wieder auf ihre

Hanslid, Aus den Goncertiaale. 2. Aufl. 24

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urjprünglihde Domäne, die Arpeggien, zurücdgedrängt, wirft Die Harfe ald Solo-Inſtrument jehr bald monoton; ihr glänzen der, rauichender Ton kann die feelenlofe, kalte Phyſiognomie nicht verleugnen. Auch Herr Dubetz, der ohne alle Begleitung jpielte, machte dieje Erfahrung. Das von ihm vorgetragene Mendelsſohn'ſche »Lied ohne Worte« heftet an die Spike arpeggirender Accorde eine gebundene fingende Melodie; Die Harfe gab die Arpeggien prächtig wieder, verjagte aber den Gejang. Den türfiihen Marſch aus den »Ruinen von Athen« beeinträchtigte ein anderer Punkt, an dem die Harfe fterblich it: die Schwäche und Unflarheit der tiefen Baßjaiten; die ftaf- firte Melodie fiel wie in luſtig gligernden Tropfen herab, allein der Baß wankte und ſchwankte darunter, wie es marjchirenden Soldaten, und ſeien es jelbit Türken, nicht geziemt. Den beiten Effect machte jedenfall der befannte »Sylphentanz« von God e= froi, ein für die Harfe gedachtes und geichriebene® Bra= vourſtück.

Alois Ander (F 12. December 1864).

Der Trauerglodenton, der in dieſem Augenblid die Be— erdigung Ander's verfündigt, widerhallt tief und jchmerzlich in jeder Bruft. Man darf kühn behaupten, daß daS Leidweſen um den vortrefflichen Künftler und liebenswerthen Menſchen in Wien ein allgemeines ſei. Nicht einmal Staudigl’3, des Vielver— ehrten, Heimgang traf in ſolchem Grad Ichmerzlich und beftürzend; der Tod hatte ihn mit Stumpfer Senje langſam zu Ende ge= bradt, nachdem er der Kunjt und dem Leben längft verloren war. Ander Hingegen, den viel jüngeren Mann, hörten wir noh dor wenig Wochen in feiner Lieblingsrolle und jahen ihn guten Vertrauens die Neife nach dem heilkräftigen Warten: berg antreten. Die Nachricht von jeinem Tod fonnte nicht unerwarteter fein. Die perfönliche, faſt familienhaft herzliche Zus neigung, die das Wiener Bublicum von jeher für feine Theater: Lieblinge hegt ein traditioneller Charafterzug war Ander in einem ganz befonderem Grade zugewendet, in einer Allgemein:

Alois Ander +. 371

heit und Wärme, wie fi deren nur die größten, mit Wien am längiten verwachjenen Kimftler des Burgtheater rühmen fönnen. Ander hatte in Wien jeine Garriere begonnen, feinen Ruhm begründet, die Wiener hatten ihn gleichſam -entdedt und erfunden, fie haben ihn ununterbrochen und ausſchließlich be— jeilen, ald einen der Ihrigen großgezogen, geliebt und ver— hätichelt.

Den Freunden des Kärntnerthor-Theater ift der Abend de3 22. October 1845 noch wohl erinnerlih, an welchem Ander zum eritenmal die Bühne betrat. Ander’3 jchöner Tenor war in Eleineren Gejellichaftöfreifen und im »Männergefangverein« befannt geworden; Stimme, Intelligenz und eine ſehr ein— nehmende Erjcheinung wiejen ihm den Weg zur Bühne Dem energiichen und gewichtigen Einfluß des Ober-Regiſſeurs Franz Wild gelang es, Auder zum Debut zu verhelfen. Die leifen Befürchtungen einiger Freunde, wie das Wagſtück des noch un- geſchulten, incorrect außiprechenden, gänzlich theaterfremden Ander ausfallen werde, ihlug Wild mit dem Ausruf nieder: »Ich jage euch, daß, jeit Wild aufgehört hat zu fingen (fich felber jegte er bekanntlich immer an die Spige), Wien zum eritenmal in Ander wieder einen großen dramatifhen Tenor befommt«. Ander’3 Debut ald »Stradella« war ein Greigniß, mie es jelten in den Annalen eines Hoftheaterd vorfommt. Ein jchüd)- terner, junger Dann, der fih noch auf feiner Bühne verfucht hatte, der weder von weit her kam, noch daheim auf der Leiter fleiner Nebenrollen emporgeflettert war er eridien auf dem f. £. Hofoperntheater gleih in einer Hauptrolle ald Träger einer neuen Oper. Der günftige Erfolg des Abends war ein enticheidender und Ander jeither dur 20 Jahre der Liebling des Wiener Publicums. Seine nächſten Aufgaben bildeten gleichfalls Iyrifche Partien der deutſchen Oper, ein Gebiet, auf welchem unjer Sänger ſtets feine liebenswürdigiten Vorzüge entfaltet hat: Konrad in »Hans Heiling«e, Hugo in Spohr's »Fauft«, Nadori in Seffonda«, Jvanhoe in » Templer und Jüdin« u. f. w. Schon dieſe eriten Bühnenichöpfungen Ander’3 machten den wohlthuendſten Eindriud, Seine Stimme

blendete nicht durch) Energie oder Größe, gewann aber um jo 24%

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fiherer durh Schmelz und jugendliche Weichheit. Diejes blühend Ihöne Organ, dem allerdings noch die methodiihe Schulung mangelte und das einen leifen Nafalbeillang nie ganz verlor, behandelte .der junge Sänger damald ſchon mit eritanmlicher Leichtigkeit und Freiheit. Dabei Leuchtete jein dramatiſches Talent, das fih in den folgenden Jahren nod zu ungleicd) größerer Bedeutung entwidelte, bereitS in jenen eriten Rollen unverkenn— bar durch. Mit der Höhe feiner Erfolge ftieg auch Ander’s Fleiß und Kunſtſtreben. Als jeine eigentlichen, jedenfall bedeutenditen Lehrer dürfen wir wohl die Haſſelt und Wild anfehen, welche ihm beim Ginftudiren der Partien ummittelbar an die Hand gingen. Mit gleichem Eifer arbeitete Ander an feiner ziemlich dirftigen allgemeinen Bildung. Er erzählte ſelbſt in ipäteren Jahren lächelnd, wie er damals anitatt aller anderen Hülfsbücher ein Converſations-Lexikon faufte und es von An— fang an durchzuleien begann. Sn feine vollite, reichite Blüthe trat Ander mit Meyerbeer's »Prophetene. Er Hatte die ans ftrengende, aus den widerftrebenditen Glementen zufammen: gejeßte Rolle mit poetiihem Geiſt geitaltet, in Spiel und Ges fang meifterhaft durchgeführt. Sie war es, die ihm auch auf auswärtigen Bühnen große Erfolge und das unbeftrittene An— jehen eines der eriten deutichen Sänger erwarb. Die Jahre 1850 bis 1853 bilden Höhepunft in Ander’3 Laufbahn. Jugend und Talent, Ruhm, Gold, Frauengunſt Alles fein Eigen! Sein Leben glich einer Blume, die ſich auseinanderfaltet.

Ander’3 Stimme hatte noch nichts von ihrem jugendlichen Schmelz und Wohllaut eingebüßt und war an Kraft und Aus: dauer gewachſen. Der Zug edler, ritterlicher Männlichkeit bildete fich immer jchöner und beitimmter aus; jelbit in den zarteften Iyriichen Bartien, wie Nadori, Tamino, Gennaro, Arthur ver: fiel er nicht in fpielende Weichlichkeit. Seine poetiihen Schöpfungen breiteten fih num in reichem Kranz um den »Propheten« aus: Raoul in den »Hugenotten«, Arnold im »Tell«, Edgar in der »Lucia von Lammermoor«, Adolar in »Euryanthe«. Sie zählen zu unseren fchöniten Erinnerungen. Der ganze Zauber von Ander’s PVerfönlichkeit war darüber gebreitet und nahm jeden Hörer willenlo8 gefangen. Zum eritenmal erlebten wir

Alois Ander F. 373

in den gedachten Rollen mehr als eine blos mufifaliihe Aus: füllung der Partie; Gejtalten von hinreißender Lebenswahrheit itanden vor und, mir liebten und haften, verzweifelten und jubelten mit ihnen. Dan denfe an Raoul's Eintreten bei Valen— tine und das erichütternde Liebesdueit, an die geheimnißtrunfene jüße Beklommenheit Nadori’s, an Edgar’ Fluh und vor Allem an das große Terzett in »Wilhelm Tell«. Noch nie haben wir fo unmittelbar das tieffte Gefühl der Seele aus: jingen hören. Der Ton war bier unendlich mehr, als das funstreiche, wohlgeichulte Inftrument des Mufifers, er war der durhlichtige Xeib der edeliten Empfindung. Wir haben in dieſen Rollen fiegreichere Organe und gejchultere Geſangskünſtler ge— hört, aber einer jo freien, harmonischen, aus ſich jelbit hervor: blühenden Leiftung begegnen wir faum wieder.

Es lag etwas Näthielhaftes in Ander’3 Gewalt über das Rublicum. Weder feine Stimme, noch weniger deren technijche Ausbildung waren von ungewöhnlihem Glanz; e3 fangen neben ihm deutiche und italieniihe Sänger, die ihn in beiden Stüden entichieden überragten. Und dennoch wußte Ander in einer Weile zu rühren und zu fefleln, wie es feinem jeiner Rivalen in Wien gelang. Das Seelenhafte im Klang feiner Stimme, ſtets ausitrömend in edlem, jchönem Ausdruck und überall getragen von echt dramatiichen, lebenswahrem Spiel, erklärt dieie Ge— walt. Ander's jchaufpieleriiche Begabung verlieh ihm ein außer: ordentliche Webergewicht über die meilten feiner Rivalen und Gollegen. Er war als Dariteller jo wenig wie al® Sänger der Dann der überrafchenden Effecte, der auögeflügelten Pointen, der raffinirten Contrafte; jein Spiel lebte, ohne zu falicher Selbitjtändigfeit fi vorzudrängen, in charafterpoller, harmonijcher Einheit mit und in dem Gejang. Stets war es ein wirklicher Charakter, den er mit fiherem Blick erfaßte und in fein gezeichnetem Fortichritt entwidelte. Ander nahm es jehr ernit mit dem dramatiihen Theil jeiner Aufgaben; über die Seihichte Johann's von Leyden und anderer Bühnenhelden war er informirt wie der beite Hiftorifer. Das Enticheidende in Ander’3 Leiitungen blieb aber ſtets das Harmoniiche, Edle des Gejammteindruds, die quellende Gmpfindung und Liebens-

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würdigfeit, die ihn nie und nirgends verließ, die jede Vor— ftellung, in der er mitgewirkt, fofort adelte und ihn ganz eigentlih al® den Poeten unter unferen Sängern hingeftellt hat. ALS Goncertfänger wählte Ander am liebiten Beethoven's »Adelaide«, die er mit ſchwärmeriſcher Empfindung fang.

Im Jahre 1853 traf Ander’s Gefundheit der erfte Stoß: ein durch allzugroße Anitrengung herborgerufener Blutſturz. Eine berühmte mediciniihe Autorität in Wien, deren Todes- urtheile zum Glüd nicht immer tödtlid find, machte für alle Zukunft das Kreuz über Ander’s Stimme. Demungeachtet trat Ander nah mehrmonatlicher Krankheit unter unendlichem Kubel als Lyonel in der »Martha« wieder auf. Der »Markt zu Rich— monde war vom Publicum in einen förmlihen Blumenmarft verwandelt, und das Tiichhen, an dem Ander mit Staudigl aß, bog fih unter der Laft von Kränzen und Blumenfträußen. Anders Stimme hatte in der mittleren und tiefen Lage faum gelitten, nur die Höhe zeigte nicht mehr ganz die frühere Kraft und Leichtigkeit, eine Einbuße, die im Laufe der folgenden Jahre noch merfliher hervortrat. Die zweite Hälfte der Fünfziger Fahre zierte noch eine Reihe der ſchönſten Gaben Ander’s. Ja eine feiner berühmteiten und bedeutenditen Gejtalten fällt in diefe Zeit: Wagner's »Lohengrin«, eine Leiltung, die für Die glänzende Aufnahme der Oper enticheidend war und in gewiſſem Sinn Under’3 »Propheten«-Ruhm in einer Schönen Nachblüthe wiederholte. Bon da an wurden leider die Unterbrechungen von Ander’3 Thätigkeit häufiger und länger. In den le&ten Fahren bradte Ander noch an neuen Rollen: »Tannhäuiere, den Herzog in »Nigoletto« (1860), Janko, in den »Sindern der Haide« (1861), »Fauſt« von Gounod (1862), endlich den Franz Baldung in Offenbach's »NRhein-Niren« (1864), die legte und wohl undankbarſte feiner Rollen. Zu Anfang diefes Jahres ſchien Ander leidlih gefräftigt; nad Ablauf der Sommerferien fühlte er fich aber unfähig, zu fingen, und mußte feinen Urlaub immer von neuem verlängern lafjen. Seine Stimme war ihm nicht mehr zu Willen und fein Nervenleben fo aufgeregt, daß ihn vor jedem Auftreten ein heftiges Fieber fhüttelte. Mehrmals geichah es, daß Ander, völlig angekleidet,

Alois Under F. 375

im enticheidenden Moment nicht vor die Lampen treten wollte und der Regiſſeur ihn fürmlih auf die Scene hinausführen mußte. Sein Zuftand beichäftigte ihn auf das peinlichite, jede Viertelftunde trat er and Clavier und probirte feine Stimme. Oft ſuchte er fich jelbittäufchend Muth zu machen, und wir hörten ihn in der legten Zeit gar häufig verfichern, er fühle fich beiler bei Stimme alö je zuvor. Die böfe, nicht ruhende Heberzeugung vom Gegentheil fam dann nur um fo heftiger in ihm zu Worte Daß er aber nicht leben könne, ohne zu fingen, fühlte Ander Mar und äußerte e8 mehr als einmal. Es war vorauszuſehen, Dies Gefäß werde zerfpringen, wenn es nicht mehr Elingt. Die tiefe Verftimmung, die Ander’3 nähere Freunde jeit zweit Jahren an ihm bemerften, war nicht blos durch phy— fiihe Störungen veranlaßt, fondern ebenfofehr durch anhaltende Gemüthsaufregungen, welde mit der Kunst nichts zu ſchaffen hatten. In dieſen legten zwei Jahren feines Lebens hat Ander fein Buch mehr gelejen und fein Bild mehr gemalt Be: ihäftigungen, welche früher einen großen Theil feiner Zeit in Anipruch genommen. Die Wände jeiner Zimmer hingen voll von jeinen Delgemälden, meiſt Zandichaften, welche bei ziemlich incorrecter Zeichnung doch ein ſehr glüdliches Auge für Farben— Effect verriethen.

Ander’3 trauriger Ausgang ift ung in nur zu lebhafter Er— innerung. Nach feinem unglüdlichen legten Auftreten als Arnold, auf welchem er mit Gewalt bejtand, wurde Ander nad) der Waijer: beilanitalt Wartenberg in Böhmen gebradt. Sein Zuftand erwies fich bald als hoffnungslos; grauenhafte Nacht ſenkte ſich auf fein Bewußtfein und der raſche Tod hat ihn wenigjtens vor dem traurigeren Los bewahrt, das Scidjal feines Freundes Staudigl zu theilen. Ander's beicheidenen, wohlwollenden Cha= after ımd feine, gebildete Sitte brauchen wir faum ausdrüdlic zu rühmen feine Liebenswürdigfeit war jprihwörtlid. Die Menſchen alle, die heute die jchneebededten Straßen entlang zu Ander's Leichenbegängniß eilen, ihm im Herzen zahlloje Stunden der Freude, Rührung und Erhebung dankend, werden aus Einem Munde ihm jene Nachrede mweihen, die am Ende der lebte, ehrendite Erfolg unserer größten Rolle tft.

1865. Philbarmonifche Concerte.

Das Orcheſter des Hofoperntheaters gab unter Deſſoff's Leitung ein eigenes »Philharmoniſches Concert« für die Er— richtung des Schubert-Monuments. Drei von den Orcheſter— ſtücken waren den Hörern ſo gut wie neu: zwei Zwiſchenakt— Muſiken zu »Roſamunde« und die Ouverture zur Oper »Alfons und Eſtrella«. Roſamunde war ein vier— aktiges Drama der Frau Hermine v. Chezh, in welchem vieh— hütende Prinzeffinnen, fühne Prinzen, gräßlide Tyhrannen, Räuber, vergiftete Briefe 2c. vom Zufall weiblich durcheinander: gehegt, einen romantischen Unfinn vollführen, den heutzutage wohl kaum Jemand verdauen würde Und was veranlaßte Franz Schubert zur Gompofition der Chöre, Tänze und Zwiſchenakt-Muſiken in diefem Schauerdrama? Ein äußerer zu— fälliger Anlaß, Diejelbe » Göttin Gelegenheit«, die ihm zeit- lebens die koſtbarſten Schäße entlodte, um damit nur zu oft hölzerne Puppen zu ſchmücken. »NRojamunde« war für das Theater an der Wien, und zwar zum Benefice der Demoijelle M. Neumann (fpäter verehelichten Lukas) beftimmt. Für die hübſche Beneftciantin intereffirte fich gar zärtlih Herr Kuppel: wiejer, Schubert’S Freund. Er vermittelte, daß Schubert die mufifaliihe Ausftattung der »NRojamunde« übernahm und in feiner wunderbar raſchen Vroductivität binnen fünf Tagen vollendete. Bei der Aufführung im Wiedner Theater (am 20. December 1823) gefiel die Mufif jehr, ohne jedoch dem langweiligen Schauspiel aufhelfen zu fönnen. »Roſamunde«

Schubert's »Roſamunde«. 377

wurde nach zwei Vorſtellungen für immer zurückgelegt. Auch um die Muſik kümmerte man ſich nicht weiter, bis ſie jetzt, alſo nach 42 Jahren, durch Capellmeiſter Deſſoff wieder ans Licht gezogen wurde. Die Entreakts zu »Roſamunde« gehören zu den intereſſanteſten und liebenswürdigſten Bekannt— ichaften, die wir jeit langer Zeit im Concertſaal gemacht haben. Nicht der (mitunter mißbrauchten) Pietät für Schubert’3 großen Namen bedarf e8 zum Preiſe dieſer ZTonftüde, ſie über jtrömen von der reizenden Melodienfülle, dem feurigen und doch jo lieblihen Erguß feines Gemüthölebens. Namentlich der erfie Entreakt iſt ein echter Schubert und, wie ums dünkt, der werthvollſten einer. Ein marſchähnlicher Sag übergeht in einen freien, dramatiſch Tchildernden Mitteliaß, der von dem tre— molirenden Fis-moll-Accord an alle Reize der Schub ert’fchen Romantik enthüllt. Die Anlehnung an einen bejtimmten Moment de3 Dramas ift augenscheinlich, ohne daß fie jedoch den mit dem Schaufpiel unbekannten Hörer in jeinem muſikaliſchen Genuß verkürzt.

Das eigenthümliche, tief leidenſchaftliche Stüd jagt ung, welh bedeutende dramatiihe Wirkungen Schubert Mufif erreicht hätte, wäre ihr jemals eine halbwegd ebenbürtige Dichtung entgegengefommen. Poetiſche Klöße, wie »Rojamunde«, »die Zauberharfe«, »Alfonjo« und »Fierrabrad« mußten mit ihrem Centnergewicht ſelbſt Schubert 3 Muſik rettungslos zu Boden ziehen. Der Strom der Zeit ging darüber hinweg. In unferen Tagen wagen fich rüjtige Taucher hinab, löſen den funfelnden muſikaliſchen Schmuck von den verfunfenen Klögen und retten ihn zur allgemeinen Freude wieder ans Tageslicht. Minder energiih und bedeutend, dafür von einjchmeichelnder Zärtlichkeit ift der zweite Entreaft, ein liedmäßiger Sag mit zwei Trios, deren eines dem reizendften Wechjelgejang zwiichen GSlarinette und Oboe bildet. Das Thema jcheint Schubert beionders lieb gewejen zu fein, er hat es in das Andante jeines A-moll-QuartettsS herübergenommen. Während Schubert in dem erſten Entreaft ſich vollkommen frei gehen läßt, in der Fülle jeiner reichbewegten Gedanfenwelt ſich nit an die Grenzen einer Zwiſchenakt-Muſik bindend, behält er in der

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Duverture zu »Alfonio und »Eſtrella« ftreng die fnappen Formen der damaligen Duverturen. Nicht von hervorragender Eigenthümlichkeit oder Größe, mit andern Schubert’ichen Instrumental Werfen verglihen, macht doch ihr klarer lebhafter Melodienfluß, mit dem effectvoll und glänzend aufftürmenden Schluß, einen gemwinnenden Gindruf und eignet dad Stüd ganz beſonders zur Einleitungsmufif.

Beethoven's Felt-Dupderture op. 124 (»MWeihe des Hauſes«), eine der ſchwierigſten Orcheiter-Aufgaben und dadurch zu des Meiſters Lebzeiten eine jeiner härteften Prüfungen, wurde mit vollendeter Virtuoſität ausgeführt. Die Barifer, welche mit fo viel Stolz auf den »premier coup d’archet« ihrer Conſervatoires-Concerte laufchen, hätten vor diejen blit- artig einichlagenden Eröffnungs-Accorden gehörigen Reſpect befommen. Was die Ouverture jelbit betrifft, jo konnte das Joſefſtädter Theater (zu deſſen Gröffnung im Jahre 1822 fie befanntlich gejchrieben tft) in erlauchterer Weile gewiß nicht eingeweiht werden. Ihre Sroßartigfeit in Styl und Dimenfionen läßt faum vermuthen, daß es fi dabei um eine £leine Vor: ſtadtbühne handelte, und das komiſche Mißverſtändniß Fétis', der »die Weihe des Haujed« mit »dédicace du temple« über: jegte, ericheint in dieſer Hinfiht jo ganz unvernünftig nicht. Bei all ihrer grandiofen Haltung hat übrigens die »Feſt— Duperture« meitaus nicht die frei und üppig dahinſtrömende Sdeenfülle der Ouverturen zu »&gmont«, »Coriolan«, »Fidelio« und ⸗Leonore«; vielmehr beitätigt fie jammt ihrer Fleineren Vorläuferin (»Namenöfeier« op. 115), daß Beethoven in allen Gelegenheits-Compoſitionen einen gedrüdteren, müh— jameren Flug nimmt, wie gemwöhnlid. Mit herzlihem Be— bagen ließen mir hierauf Schubert’3 jugendlich romantiiche »Duperture zu Fierabrad«e an und vorüberziehen. Sie war es nicht, die ihn unfterblich gemacht, aber es tft doch ein Unſterb— licher, der aus ihr ſpricht.

In dem vierten »Philharmoniſchen Concert« wurde eine Duverture, »Safuntalae, von Karl Goldmarf zum eriten- male aufgeführt und beifällig aufgenommen. Wir halten dieie Gompofition für das -Beite, was der begabte und energiich

Goldmartk's »Sakuntalae. Rubinſtein's »Nixre«. 379

vorwärtsſtrebende Componiſt bisher geliefert hat. Friſch und charakteriſtiſch in der Erfindung, von überſichtlicher Anlage und feinem Detail, zeigt die Ouverture eine entſchiedene Klärung des früher etwas mirren und wühlenden Talentes Goldmarf’s. Nur wenige Stellen erinnern an feine ehemalige Dijjonanzen: Liebe und pathetiiche Unklarheit. Die wirkſame, charakteriftiiche Inftrumentation verdient umſomehr Anerkennung, al® Herr Goldmark bisher wohl kaum in der Lage war, feine Orcheiter: ſachen felbit zu hören. Was das Verhältniß der Compofition zu dem berühmten indiihen Drama »Gafuntala« betrifft, jo iſt es fein abhängige® in dem mißverftändlihen Sinne der deicriptiven Muſik. Als Mufititüf an und für fi vollfommen verftändlich und felbftitändig, nimmt fie von dem Gegenstand nur die poetifche Anregung, die allgemeine Stimmung und Zocalfarbe allenfalls die einfachiten Grundzüge der dramatiichen Peripetie.

Das letzte »philharmonifhe Concert« neigte ftarf zum Cultus der Naturgeifter; es begann mit Niren und endigte mit Elfen. Legtere jpendete Mendel3john mitfammt dem ganzen »Sommernadhtötraume, die erfteren famen aus Rußland von Anton Rubinftein. Ein Gediht von Lermontoff, »bdie Nire«, hatte diefem Gomponiften Anregung und Stoff zu einer Art dramatifirter Ballade für Altfolo, Frauenhor und DOrchefter gegeben, welche dem Wiener Concertpublicum bisher unbekannt war. Eine fchöne liebestolle Nire, welche, von Fluthen umraufht, vom Mondlicht übergofien, die Leiche eines Helden— jünglings zum Leben zurückzuküſſen fi) bemüht dies gäbe ein Bild (die Düffeldorfer Haben derlei gerne gemalt), das uns den Inhalt der Nubinftein’fhen Tondichtung deutlicher und vollftändiger erklärt, ald e8 Lermontoff's Gedicht thut. In der deutfchen Ueberſetzung flingt das Gedicht, welches einen, viel- verbrauchten Heine’fchen Stoff mit froftiger, fünftelnder Pracht augeinander legt, hart und unbeholfen. Wenn die Nire folgende Verſe immer und immer verwundert wiederholt:

»Dies brünftige Koſen, ich weiß nicht warum,

E3 läßt ihn fo falt und fo ſtumm;

Er ichläft, jein Haupt auf die Brut mir gelehnt, Und im Schlaf er nicht athuret, nicht ftöhnt!e

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jo mödhte man etwas ungeduldig ihr endlich zurufen, daß der Mann aus dem einfachen Grunde »nicht athmet, nicht ftöhnt,« weil er eben, wie die meijten Grtrunfenen, maustodt ift. Rus binjtein hat aus dem Gedicht eine wohlflingende, abgerundete, aber in feiner Weiſe hervorragende Compofition gemacht. Die Muſik, die fih ungefähr in Tenıpo und Stimmung der Mendels— john’ichen Melufina bewegt, anfangs jogar mit ftarfem Anklang an das Hauptmotiv, entbehrt der Originalität. Sie ericheint al? verjpäteter Nachzügler der mufifalifchen Loreley: und Niren- Literatur, die Mendelsjohn, Schumann, Gade und Hiller ſchufen. Mit Schumann’: zanberhaftem Nirenhor in »Page und ‚Königstochter«e erlaubt das Rubinſtein'ſche Stüf nit den entfernteiten Wergleih. Rubinſtein's Niren drücken fih in diejer conventionell gewordenen Loreleyiprache fein und gebildet aus, ohne darin irgend etwas Eigenthümliches oder Bedeutendes zu jagen; ebenjo iſt die umgebende Waſſer- und Mondſchein— Decoration mit SHarfenarpeggien, Hornklängen, sordinirten Violinen äußerjt jauber, aber nad) befannten Vorbildern ge: malt. In formeller Hinfiht könnte man die Nopität für einen Fortichritt des Componiſten anjehen, jo ruhig und mwohlflingend fließt fie in mäßig geiteigertem, durch feine Crudität unter: drochenen Verlauf dahin. Schade, daß diefer formelle Vorzug bier ganz deö bedeutenden, eigenthümlichen Inhaltes entbehrt, nicht3 von dem originellen erfinderifchen Geift verräth, welcher die früheren Werke Rubinſtein's, wenn nicht gleihmäßig erfüllt, doc ſporadiſch dDurhbligt. Wir hätten beim Anhören der »Niren« nimmermehr auf Rubinftein gerathen, eher auf Hiller, Gade, Neinede. Ob Rubinftein doch noch die Hoffnungen erfüllen werde, die man jeit zehn Jahren auf jein Talent jegt ? Er müßte fich beeilen, oder befjer, er müßte die Eile aufgeben, mit der er jorglos, kritiklos in den Tag hineinproducirt, fich fopfüber aus einer Gompofition in die andere ftürzt, feinem Gedanken Zeit gönnt, außzureifen, feinem Werk die Mühe, gefeilt und vollendet zu werden. Aubinftein hat noch immer feine Tochdichtung geliefert, die in allen Theilen fih nur einigermaßen auf gleiher Höhe erhielte, in ihrer Totalität be= friedigte, den Stempel des Fertigen, Meifterhaften, Claſſiſchen

Duverture von Mehul. 381

(in des Mortes Jiberaliter Bedeutung) trüge. Noh immer wechſeln Säge voll Schwung und Leidenfchaft mit matten all: täglichen, lebenftrogende Melodien mit verwajchenen, flachen Phrafen, noch immer führen von einem glänzenden Einfalle zum andern die miferabeljten Brüden, noch immer fchließt unluftig, Schwach und banal, was friich und jchöpferiich be- gonnen. Weder Rubinftein’® Opern (in ihnen ruhen die ſchim— mernditen Juwelen feines Talentes), noch fein Oratorium ver: mochten irgendwo feiten Fuß zu fallen, feine Orcheſter-, Clavier- und Kammermufifen, überall mit lebhaftem Beifalle begrüßt, behaupten (vielleicht mit ganz geringen Ausnahmen) feine bleibende Stelle in den Repertoire; kurz, auf die viel- verheißende üppige Blüthe diejes Talente will noch immer die Frucht nicht folgen. Die »Niren« jchienen dad Publicum ziemlich falt zu laffer.

Auf die Rubinſtein'ſche Novität folgte ein ehrwürdiges Rococcoſtück, das durch fünfzigjähriges Liegen wieder zur No— vität geworden iſt: Méhul's Ouvertüre »La chasse du jeune Henri.« Sie ilt die noch heutzutage in ganz Frankreich) populäre Einleitung zu einer Oper, die nicht ausgeſpielt wurde. Es war im Jahre 1797, als Mehul’3 Oper unter dem ge— dachten Titel in der Opera comique gegeben und die Duverture mit jolhem Enthufiasnus aufgenommen wurde, daß jie zweimal hinter einander geipielt merden mußte. Die Oper jelbit hatte eine Epifode aus der Jugend Heinrich's IV. von Frankreich zum Gegenftand. Was immer in jenen Revolutions-Jahren auf einen König Bezug hatte, gerieth in die bedenklichſte Stellung und wurde fofort Barteifache. Auch diesmal hofften die Royaliiten einen Erfolg der Oper, während die Ptepublifaner, entrüftet, daß man einen »Tyrannen« auf die Bühne bringe (feine Tyrannei war befanntlich, Frankreich glüdlih zu machen), die Dver von der eriten Scene an ununterbrochen auspfiffen, jo daß der Vorhang lange vor dem Scluffe fiel. Um jedoch den Eomponiften durch einen Beweis der allgemeinen Achtung zu entichädigen, verlangte das Publicum fchließlich die Ouverture zum drittenmal. Dies dürfte der erfte umd einzige Fall in der Theater-Gefchichte fein, wo Ludwig Tieck's abitrule Idee, es

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follten die Duverturen, da fie ja por dem Stück gar nicht veritändlih jeien, ſtetts nach Ddemielben gegeben werden, thatſächlich zur Ausführung kam. Seit jener erften Aufführung, alio fait 70 Jahre Yang, hat fih Méhul's Jagd-Ouverture ala Zwiſchenakt-Muſik in der Opera comique und als Lieblings— nummer in den Concertprogrammen erhalten. Auch in Deutich- (and wurde fie häufig geipielt und tet gern gehört. Wien hörte fie zum erftenmal im jenem denfwürdigen Concert des Hornilten Punto, das im Jahre 1800 im Burgtheater umter Beethovens Mitwirkung ftattfand. Punto hatte Mehul’s »Fagd-Symphonie« aus Paris mitgebraht und Ddirigirte fie, jeine Zuhörer damit mehr verblüffend als erfreuend. »Kein einziger Mufikverftändiger oder auch nur überhaupt gebildeter Zuhörer fonnte fi) damit ausſöhnen«, berichtet ein Kritiker jenes Goncertes und fährt fort: »Mehul ift nicht nur ein Mann von Genie, ſondern auch von vieler Wiſſenſchaft, wie vermochte er es aber über fich jelbit, in dieſe jehr lange Jagd-Symphonie außer dem jchredlichen, verworrenen Getöje alle Arten gemeiner Jägermelodien, ja auch ganz Eleinlihe und widerliche Malereien anzubringen?« Man war eben damals gegen den Realismus in der Muſik und vor Allem gegen grelle Snftrumentirung empfindlicher, als in fpäteren Zeiten. Heut— zutage fönnen wir in der »Jagd-Ouverture« zwar feine geniale Schöpfung erbliden die Erfindung hat ganz die trodene, verftandesmäßige Phyfiognomie der älteren franzöfifhen Muſik aber das einfache, idylliſche Andante ſpricht und recht artig an, und dem Gffect des Lebendigen Jagdallegros mit dem Ge— ſchmetter von fieben Waldhörnern kann wohl nur ein äfthetifcher Griesgram fi) ganz verichließen. An zweiter Stelle ftand die unter Mozart’3 Namen cireulivende Baß-Arie: »To ti laseio, eara, addio«, die nad den vorhandenen Zeugniffen ohne Zweifel von Mozart’ Freund Gottfried von Jacquin com: ponirt und in Köchel's Katalog ald Nr. 245 umter den »unterfchobenen Gompofitionen« verzeichnet ift. Der Streit über die Autorfchaft hat übrigen hier nur hiſtoriſche Bedeutung. Mozart könnte in ſchwächerer Stunde die Arie ebeniogut com= ponirt haben, als Jacquin in einer guten. Wenn Otto Jahn darin

»Ruy Blade von Mendelsiohn. 383

wohl Mozart'ihe Wendungen, aber feinen charafteriftiichen Zug ſeines Geiftes« findet, fo ftimmen wir vollfommen bei, doch nicht ohne zu erinnern, wie viele echte Mozart’ihe Arien (theatraliihe aus früherer Zeit, Concert: und Gelegenheits— gejänge) wir befiten, in denen gleichfalE Mozart’ Geift nur die allgemein reipectirte Bilitfarte »Mozart’iher Wendungen « abgegeben hat. Die Hauptſache in bejagter Arie bleibt, daß jie in ihrer breiten, Schönen Sangbarkeit dem Organ und Bor: trag des Sängers ein günftiges Feld eröffnet. An Beethoven's erite Symphonie wurden wir in diefem philharmonijchen Eoncert gern erinnert. Wir find zwar durch Beethoven's fpätere Symphonien jehr nachhaltig verwöhnt, trogdem jehen wir »von Zeit zu Zeit« die alten gern. Melch’ bedeutende geichichtliche Grinnerungen, welch’ fruchtbare Betradtungen über den Um— ſchwung der mufifalifchen Anfichten knüpfen fich für jeden Hörer daran! Oder gibt ed etwas Anziehenderes, als fi im Geilte in die Zeit zurückzuverſetzen, da e8 noch feine »Eroica« gab?

Mendelsſohn's Duverture zu »Ruy Blade iſt ein Gröffnungsftüd par excellenee. Als muſikaliſches Kunſtwerk feine der »&oncert-Ouverturene Mendelsſohn's erreihend, hat »Ruy Blad« in feinem jugendlichen Fortftürmen, jeiner glänzen: den Nitterlichfeit doch einen Zug für fich, welchen weder der märcenhaft vergeiftigte und vergeifterte » Sommernadtätraume, noch die mondicheingebadete »Melufina«, noch endlich die düftere Landihaft der »Hebriden« aufweiſt. Daß die Ruy Blas-Ouver— ture äußerlicher, daß fie im eminenten Sinne theatraliſch iit, nimmt ihr die Ebenbürtigfeit mit dieſen Concert-Duverturen, wahrt ihr aber eine gewiſſe realijtifche Selbititändigfeit neben diefen. Wir befennen uns zu einer Eleinen Schwäche für die jugendliche chevaleresfe Energie im »Ruy Blas« gegenüber der allzu weichen Sentimentalität mancher jpäteren, viel funitvolleren Compoſition Mendelsfohn's; von »Jugendwerken« im gewöhn— fihen Sinne ift ohnehin feine Nede bei einem Tondichter, der mit zwanzig Jahren den »Sommernadtötraum« und die »Wal- purgisnadht« geichrieben. Etwas abgeblaßt nahm ſich daneben Cherubini's »Lodoiska--Ouverture aus, die wir troß ihres großen dramatijchen Ernftes und des überaus feinen zweiten

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Themas den beiten Duverturen des Meiſters (Faniska« nament- lich) nicht gleidhitellen können. Ueber die Mitte ihrer Entwick— lung, an dem Punkte angelangt, wo man eine energiihe Steige- rung und Erhebung erwartet, nidt die Ouverture geradezu ein und fchläft einen längeren, paftoralen Schlummer, aus dem fie endlich, wie von derber Hand gerüttelt, auffährt und in zwei Sätzen zur Thür hinaus ift.

Eine jehr anziehende Novität war Julius Grimm's vier: fäßige »Suite in Canonform« für Streidinftrumente. In— dem dieſe Compoſition (die wohl richtiger mit »Symphonie« be= zeichnet wäre) fich durchaus den Zwang der canonifchen Schreibart auflegt und überdies auf jede Mitwirkung von Bladinftrumenten verzichtet, Ichafft fie fich pofitive und negative Schwierigkeiten, die zu bemältigen nur ein entjchiedene® Talent und große Ge— wandtheit vermag. Beide Vorzüge muß man dem Componiften ohneweiters zugeitehen. Seit langer Zeit hat und fein Erſt— lingöwerf jo viel Achtung und Antheil abgezwungen. Die canoniſche Imitation iſt durch alle vier Süße und ununter- brochen durchgeführt (meift taftweile), aber mit jo viel Geihid und Grazie, daß der Hörer davon nur den Neiz diejer tönenden jeux d’esprit empfängt, das behagliche Vergnügen mufifaliichen Vor- und Nachdenfens, ohne von der Schwere und Starrheit der Regel irgendwie beläftigt zu werden. Grimm trägt feine canonifhen Bande mit ungewöhnlicher Freiheit und Eleganz. Er verwendet allerdings nur den Canon in der Octave, inner: halb diefer Form bietet er aber jo viel Abwechslung ala möglid. So führen im eriten Sag, einem in energifcher Triolenbewegung aufitürmenden Allegro, anfangs die Violinen den Canon mit den Bäſſen; fchon in dem gejangvollen zweiten Thema ift er aber zwiichen die erite Violine und das Cello verlegt, und zwar mit ſyncopirten Accenten, die an den pifanten Neiz eines leichten Hinkens erinnern. Der zweite Sag, ein reizended® Andante, ift für Soloquartett gejichrieben. Den Geſang der Violine verfolgt canonifch die Viola, beide getragen von Arpeggien des Bioloncell® und den einfachen Grundtönen des Gontrabaffee. Das Andante erinnert an die föftlichen »Ganons für den Bedalflügel«e von R. Schumann; ihm ge:

Nequiem von Schumann, 385

bührt eigentlich; das Verdienſt diefer ganz modernen Neugeftal- tung alten Materiald, welche man kurz den gejangvollen Canon nennen könnte und deren jchönjte Kunft es ift, die Kunft zu verbergen. Der dritte Sat der Grimm'ſchen Suite (ein Menuett), in welchem die erite Violine mit der zweiten den Canon führt, bewegt fich jehr gefällig, insbeſondere hebt fich das Trio in E-dur in fchöner Klangwirkung hervor. Stünde der vierte Sat auf der Höhe der früheren, die er von rechts— wegen jogar zu überflügeln hätte, jo ließe die Totalwirkung nicht zu wünſchen übrig. Leider ermattet die Erfindungäfraft de3 Componiften gerade hier, wo der ſchon etwas angeftrengte Hörer einen tüdhtigen Schwung nad oben braudte. Das Publicum blieb troßdem dem ganzen Werke günftig geftimmt; ein doppelt ehrenvoller Erfolg für eine Compofition, die durch ihre freiwillig angelegte muſikaliſche Rüftung fi förmlich gegen jeden populären Erfolg verjchangt.

Singvereine.

Unfer Intereffe concentrirte ſich hauptſächlich auf Schu: mann’ »Requiem«. Es ift in Tertauffaffung, Styl und tech— niſcher Behandlung ein ergänzendes Seitenftüd zu der Meile dieſes Tondichters, nur, wie und dünkt, in günftigerer Stunde geihaffen.. Schumann’: Muje hatte zu jener traurigen Zeit, da fie felbit der »ewigen Ruh'« bereit entgegenmwallte, der glüdlihen Schöpferftunden nur wenige. Die geniale Uriprüng- lichkeit, die gleichmäßige Lebenskraft, die feine früheren Ton: Dichtungen durchdringt, muß man in Schumann’s Requiem nicht erwarten. Dennoch fcheint e8 uns ein jehr merkfwürbiges Werk und mehr al3 dies, ein tiefempfundenes, edles und eigenthüm— lies. Die muthige, dabei von eitler Originalitätsfucht unbe: rührte Ueberzeugungdtreue, mit welder Shumann aud in der Rirchenmufif feinen eigenen Weg beibehält, fein eigenes Fühlen und Denken ausſpricht, umbefümmert um traditionelle Normen und Vorbilder, erfüllt und mit Verehrung und Freude. Mag man auch Vieles in dem Requiem modern nennen, wir

Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 25

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haben nichts Unmwürdiges, nichts Unwahres darin vernommen; Schumann zeigt, daß auch ein »moderner Menſch« würdevoll und herzlich mit feinem Gott jprechen fann. Man vergleiche ihn nicht mit Bach und Beethoven in ihren Kirchen-Gompofitionen, Schumann ftrebt diefe jchwindelnde Höhe nicht entfernt an, und eben weil er fih für die Kirche nicht größer ftredt, als er gewachſen ift, weil er auch im Gebete fein Anderer ala Er jelbft zu jein fih anjtrengt, fpricht fein »Nequiem« uns fo innig überzeugend und menſchlich Shön zu Gemüth. Shumann jucht die Wirkung feiner Kirchenmuſik weder in erftaunlichem polyphonen Aufbau, noch in dramatiiher Malerei und neuen Klangeffecten. Der Gejang, dem das Orcheiter fih durchwegs beicheiden unterordnet, fließt einfach und finnig dahin, mitunter freilih auch ſtockend oder jpärlih, dafür in anderen Momenten zu boller, eigenthümliher Schönheit fih aufichwingend. Der Ausdrud des Ganzen neigt mehr zu elegiiher Einkehr, zu janfter Wehmuth, als zur Strenge und Erhabenheit. Schumann’3 Requiem iſt fein mufifaliiches Mauſoleum, deſſen fteinerne Züge - und die furdhtbare Majeftät des Todes vor Augen ftellen, es it ein NRosmarinftengel, aus deffen Duft Grabgedanfen mit der geheimnißvollen Macht jchmerzlicher Erinnerung zu uns auf: fteigen, vielleicht Niemanden an den falten- Triumph der Un— iterblichfeit erinnernd, aber Jeden an dad, was er felbft verlor.

Der »Akademiſche Gejangverein« hatte die glückliche Idee, und nicht blos eine umfangreihe neue Compofition, fondern zugleich einen neuen Gomponiften leibhaftig vorzuführen. » Scenen aus der Frithjofsfage« heißt die Tondihtung und Mar Bruch der Componiſt. Als Jüngling mit dem Preis der Frankfurter »Mozart-Stiftung« gekrönt, wurde Bruch zur weiteren Aus— bildung Ferdinand Hiller in Köln anvertraut. Nachdem er fih mit einigen kleineren Compofitionen hervorgethan, glücdte e3 ihm, die Crlaubniß Em. Geibel’s zur Compofition der »Loreley« zu erhalten. Geibel, der diefen Operntert befannt: ih für Mendelsfohn-Bartholdy gedichtet und in großer Furdt vor ſchlechten Componiſten jorgjam gehütet hatte, gab dieſem jingiten Bewerber um feine Loreley Gehör. In den »Frith- jofsjcenen« für Soli, Männerhor und Orcheſter befamen wir

Max Bruch »Frithiofsfage«. 387

nun das neueſte und nach allgemeinem Urtheil beſte MWerf des jungen Componiſten ſelbſt zu hören. Es find ſechs Stüde aus Eſaias Tegner’3 befanntem Gedicht, die dramatifchen Haupt: momente der Erzählung. Die Compofition gehört jener Form und Ausdrucksweiſe an, die unter Mendelsfohn’shem Einfluß Schumann in feinen Chorballaden, Hiller in der »Loreley«, Gade in »Erlkönigs Tochter«e ausgebildet haben. Namentlich den beiden Leßteren iſt Bruch muſikaliſch nahe verwandt. Er hat ein feines Verftändniß für alle Wendungen feine Ge- Dicht und weiß für jede Situation harakteriftifche und wirkſame, wenn auch nicht immer eigenthümliche Klänge zu finden. Sein Ohr prüft wähleriih und ftößt fchlechterdings alles Rohe und Triviale von fi; feine Hand formt und feilt auf das Sorg- famfte. Der Charakter der Muſik ift durchwegs deutſch, nicht jowohl in dem urfräftigen Sinn Beethoven’3 als in dem zarteren, weichliheren der Mendelsſohn'ſchen Schule. Der durchaus twohlgefügte Bau neigt mehr zu bequemer Breite, als zu ftraffer Eoncentration. Ueberall zeigt fi große Formgewandtheit, Sicherheit und genaue Kenntniß des mufifalifchen Effects. Im Ganzen empfangen wir aus Bruch's Mufif mehr den Eindrud einer feinen und gründlichen Bildung, als den einer fräftigen, eigenthümlichen Individualität. Bruch behandelt den »Frithjof« in Form und Färbung durhaus dramatifch, jelbit in den rein lyriſchen Scenen wird der ruhige Fluß der Empfindung häufig unterbrochen. Dies Untertauchen der Lyrik im die Unruhe des Dramatifhen findet in den »Frithjofsicenen« ihren formalen Ausdruck, insbefondere in jener zwiſchen Recitativ und Arioſo ſchwankenden Melodienbildung, die wir au Schumann's Balladeıı und noch marfirter aus R. Wagner’3 Opern kennen. Wir geitehen, nur an einen jehr fparfamen Gebrauch diefer Miichform Gefallen zu finden; lange fortgejegt, verfällt fie unleidliher Monotonie und macht den Hörer, der nad abgeichloffenen Melodien, nad) wirklihen Themen verlangt, unruhig. Hierin liegt das einzige weientliche Bedenken, dad wir gegen Bruch's Gompofitionen auszusprechen haben. Wo diefer ſchwankende Gejangityl, dag uferlofe Melodiſiren ohne eigentliche Melodie, feiteren mufis kaliſchen Gebilden Pla macht, da bieten ung die »Frithjofs— 25%

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fcenen«e die meifte Befriedigung. Dahin gehört vor Allem Ingeborg's erſter Geſang auf dem harakterijtifchen Hintergrund des düftern Hochzeitömarjches, dann die ausdrucksvollen erjten Strophen von »Ingeborg's Hlagene. Der »Tempelbrand« iſt von einichlagendem Effect, werthooller jcheint und trogdem der kurze einleitende Priefterdor in Es-moll. Den Chorjag für Männerftimmen behandelt Bruch vortrefflich, mit großer Vorliebe verwendet er nach Mendelsjohn’s Vorbild in der »Antigone« das Unifono der Stimmen in vorwiegend recitativifhen Gängen. Lachner's »Sturmesmythe«, die wir bereits aus Den Concerten des Männergeſang-Vereines (1262) kennen, hat uns diesmal ebenſowenig als damals erbaut. Schon die Wahl des Lenau'ſchen Gedichts dünkt uns unglücklich; eine bildertriefende, unnatürlich reflectirende Perſonification der Wolken als weinende Töchter der eingeſchlummerten Mutter, des Meeres nämlich. Dazu nun eine höchſt anſpruchsvolle und dennoch ſehr dürftige Muſik. Nicht hervorragend, aber recht ſtimmungsvoll iſt C. M. Weber's »Schlummerlied« über Verſe von Caſtelli. Wir hoffen, daß nicht auf jedes fchlechte Gedicht verftorbener Poeten eine entjprechende Verlängerung des Fegefeuers gejegt ift. Die Feit-Liedertafel des Wiener Männergefang- Vereins bradte eine größere Compofition von Engelberg: »Moeten auf der Alm«. Wir fehen uns inmitten einer Geſellſchaft junger Freunde, die auf einer Alpenpartie ihrer poetilchen Begeifterung, je nad) Scene und Stimmung verjchieden gefärbt, in Gitaten deutjcher LieblingSdichter Luft machen. Einleitung und Schluß zu diefem kleinen Cyklus von Chören hat die ebenfo verögewandte als notenfundige Hand Engelöberg’3 abrundend hinzugefügt. Die Compofition ift die hübjchefte uns befannte Anwendung der Ländlerform auf Chorgefang; hier zu tieferer Empfindung fih ſammelnd, dort in heiterer Lebensluſt auf: ihäumend, klingt jie überall friih, gemüthvoll und wahr, nirgends in die Grtreme des Geſuchten oder des Trivialen verfallend. Engelöberg, der feinen eriten rafchen Erfolg auf dem Gebiet des mufifalifhen Scherzes errungen, hat bisher durch mehrere ernſte Chöre, insbeſondere den jüngst erfchienenen »Heini von Steyer« bewiejen, daß das Gebiet jeines Talents viel weiter

Berlioz »Hönig Lear«. 389

ausgeſteckt ſei. Die beneidenswerthe melodiöſe Ader, die Engels— berg's humoriſtiſchen Chören ſo ſchnelle Beliebtheit verſchaffte, ſtrömt auch in ſeinen ſentimentalen und zärtlichen Melodien. Die wanderfrohe, ſtudentiſch glückliche Stimmung in den »Poeten auf der Alm« erinnert uns unwillkürlich an Eichen— dorff's Jugendnovelle »Dichter und ihre Geſellen. In jedem diefer anſpruchsloſen Chöre ftedt ein Stück Jugend.

Geſellſchafts-Concerte.

Berlioz' Ouverture zu »König Lear« op. 4 (ſeit des Componiſten Anweſenheit in Wien nicht wieder gehört) feſſelt durch einen Zug von Großartigkeit und Pathos, welcher mit— unter an Beethoven erinnert. Leife rührende Klagen und grelle Verzweiflungsrufe fprechen hier mit ergreifender Wahrbeit zum Hörer. Das Ganze wirft troßdem mehr befremdend und beun- rubigend, als äfthetiich erfreulich und erhebend. Wie in den meijten, insbefondere den früheiten Werfen Berlioz’, liegt auch im »Lear« Erzwungenes, Leere und jelbit Triviales Dicht neben den gewaltigiten Impulſen; ein leidenichaftlich bewegte inneres Leben bringt e3 hier zu erjchütternden Ausrufen, aber zu feiner zufammenhängenden Sprache.

Bon den drei Mufikitüden, welche dad Programm des erften Geſellſchafts-Concertes bilden, war fein einziges neu, jedes aber hatte eine Reihe von Jahren unberührt gelegen, nach deren Ablauf ein Merk gleichſam als Halbnopität wieder erwadt. So ift Gade's Goncert:Ballade »Erlkönigs Tochter« feit ihrer eriten Aufführung im Sahre 1856 nicht wieder ge geben worden, obwohl jie damals entjchieden gefiel. Andere Novitäten konnten jih in Wien gleihen oder noch größeren Erfolges rühmen und find trogdem ebenjomwenig tmiederholt worden. Concert-Novitäten haben ein ungleich härtere 203, ald die dramatiichen, Grringt eine Oper ihren anftändigen Er: folg, fo darf fie auf mehrere raſch aufeinanderfolgende Re— prifen zählen, deren jede den Hörern einige neue, früher über: ſehene Vorzüge entdeden hilft und im ungünftigiten Falle

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wenigftend als gerechte Appellation von einem unvorbereiteten an ein »beijer informirte« Publicum auftritt. Fallen aber die Würfel gleih auf den eriten Wurf günftig, fo fiedelt fih eine Novität, wie Gounod’3 »Faufte u. dgl., vollitändig im Re— pertoire feſt und ift binnen Jahresfrift den Hörern Note für Note geläufig. Was gejchieht hingegen mit einer neuen Sym— phonie, Duverture oder Kammermuſik? Sie wird applaudirt und ift nun für 10 biß 15 Jahre, vielleicht für immer todt. 63 fallen uns zur Noth ein bis zwei lebende Gomponiiten ein, von denen größere Concertitüde mehr als einmal aufgeführt find. Manche Novität wird bei Hellmeöberger drei» und vier— mal probirt, ehe fie von den Spielern ganz gefaßt, anerkannt, ja lieb gewonnen wird. Und das Publicum, welches nit das feine Ohr, nicht die mufifaliihe Erfahrung diefer Herren befitt, jollte das Stück auf's erſte Hören gleich fo vollftändig auf: genommen und ausgefoftet haben, daß eine zweite Aufführung Thorheit wäre? Könnte man doch nur mit der zweiten Auf— führung anfangen! hörten .wir einen jungen Gomponiften ausrufen, und er hatte Recht. Das jus gladii des Publicums fechten wir nicht an, wohl aber die Uebung, eine wohlauf: genommene Novität blos deßhalb, weil fie num feine »Novität« mehr ift, zu den Todten zu legen. Unſere Concertprogramme bejtehen faſt ausschließlich aus zwei Claſſen von Compofitionen: claffifche, welche fortwährend, und neue, die niemals wieder: holt werden. Wir möchten eine dritte Kategorie hinzufügen: Wiederholung moderner Mufikftüce, die nicht an die claffiichen Ahnherren reihen und vielleicht auch nicht auf die Nachwelt; deren einfeitige, epigone Vorzüge aber für die Gegenwart immerhin ihren Reiz und ihre Bedeutung haben. Von neueren Somponiften iftt nur Schumann (nad) feinem Tode) durd häufigere Wiederholungen geehrt, welche jegt den Charakter der Negelmäßigfeit gewinnen. Und doch find aud von Schu: mann’ Gompofitionen viele nah der erften Aufführung mit Unrecht bejeitigt worden. Sollten »Page und Königstochter«, die »Meſſe«, das »Nequiem« u. a. feine Wiederholung ver: dienen? Was nicht an der erften Aufführung ftirbt, joll aud nicht nach derielben fterben. Auf diefe Betrachtungen führt ung

Gantate von Bad. Symphonie von Echubert. 391

»Erlkönigs Tochter«,“) mit deren Wiederaufnahme Herr Herbed recht that, obiwohl dad Stüd weder neu, noch von Beethoven ift.

Sebaftian Bach's Bantate: »Gottes Zeit ift Die allerbeite Zeit« gehört zu den in Deutichland befannteften und populärften des großen Meiſters. Gedrängter und faß: liher al die Mehrzahl der Bach'ſchen Cantaten, ftrebt dieſe mehr nad rührendem Ausdrud, als nah Entfaltung reichſter muſikaliſcher Kunſt. Von dem etwas trodenen eriten Chor urtheilte Mendelsſohn, der begeijterte und trogdem nicht blinde Bach-Verehrer, man könne denjelben allenfall3 auch einem an: dern tüchtigen Gomponiften jener Zeit zutrauen. Die Bemerkung ilt ganz treffend und ließe fi) wohl auf eine und die andere Arie der Cantate ausdehnen. Dafür jchlägt das Unisono der Bälle: »Beitelle dein Haus« mit einer Donnergewalt ein, die nur in dem contraftirenden zarten Soprangejang: »Komm', Herr Jeſus« ein ebenbürtiges® Gegenftüd findet. Die Cantate: »Gottes Zeit« (von Bad jelbit »Actus tragieus« zubenannt) bildet in ihrer düſtern, verwejungsichiwelgenden Frömmigkeit ein volljtändiges Seitenftük zu den fürzlih hier aufgeführten, noch bedeutenderen Gantaten: »Ich Hatte viel Bekümmerniß« und »Liebiter Gott, wann werd' ich fterben?« Bach's Mufe gleiht einer prachtvollen Paſſionsblume, welche in zierlich ge: formtem Kelch die Kreuzigungswerkzeuge trägt.

(Schubert’3 unvollendete H-moll-Symphonie). Unter den fogenannten »Schubertfreunden« par excellence ftehen zwei harafteriftiihe Gruppen hervor: die Sorglojen und die Hart: nädigen, oder auch, phyſikaliſch geſprochen, die Gentrifugalen und die Gentripetalen. Die erfteren lafjen ruhig Schubert's Manuferipte nad allen Weltgegenden zerflattern; fie willen oder mußten genau von irgend einer noch vorhandenen Oper oder Symphonie (fie haben fie ja entjtehen fehen!), aber es ftört ihre Seelenruhe nicht im mindeiten, wenn dieſe Schäße um ein paar Gulden einem amerifanifchen Sammler, oder nod) billiger, einem Käſehändler zufallen. Die Hartnädigen hingegen

*) Vergleide S. 9.

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oder Gentripetalen haben zwei oder drei Perlen aus Schubert’3 Nachlaß in's Trodene gebracht, Halten fie aber vor lauter Freundſchaft für den Weremwigten und lauter Verachtung der Lebenden in irgend einem Koffer verfchloffen, mit deffen Schlüffel fie fih zu Bette legen. Wir wollen Herrn Anfelm Hütten- brenner, den Freund Schubert’3, feit geftern nicht mehr zu der zweiten Claffe zählen, da er ja fchließlihh der Pelham'ſchen Beredtſamkeit und Artigkeit des Hofcapellmeifter8 Herbed nicht widerftand, der eigens nah Graz abgereift war, um eine Hüttenbrenner’ihe Partitur für die Geſellſchafts-Concerte zu acquiriren, und bei dieſer Gelegenheit mie feltfam! auch ein lang gejuchtes Schubert’ihes Manufeript mitbrachte. Wir können nicht enticheiden, welche von den beiden Compo— fitionen die Angel und welche der Fiſch war, genug, daß Schubert und Hüttenbrenner wie im Leben fo auf dem Programm des legten »Geſellſchafts-Concertes« einträchtig neben einander hergingen. Hüttenbrenner, der befanntlich zur Be— rühmtheit de8 Schubert’fchen Erlkönigs viel beigetragen hat, nämlich eine Bartie »Erlkönig-Walzer«, eröffnete dad Concert mit einer Ouverture in C-moll, weldder man ein gewifle Tüch— tigkeit der Arbeit nicht abjprehen kann. Nun folgte die Schu— bert’ihe Novität, die einen außerordentlihen Enthuſiasmus erregte. Es find Die beiden erſten Süße (Allegro moderato, H-moll und Andante, E-dur) einer Symphonie, welche, feit vierzig Jahren in Herrn Hüttenbrenner’3 Befig, für gänzlich verfchollen galt. Die und vorliegende Originalpartitur, ganz von Schubert’3 Hand, trägt die Jahreszahl 1822 und enthält nebit den zwei erſten Sätzen noch den Anfang (neun Takte) des dritten, eine® Scherzo in H-moll. Ob Schubert überhaupt weiter daran gearbeitet, ift nicht zu eruiren. Möglich, daß irgend Einer der »Sorgloſen« den Schlüffel zu diefem Räthſel fennt, oder ein »Hartnädiger« ihn gar unter dem Kopffiffen birgt. Wir müffen und mit den zwei Süßen zufrieden geben, die, von Herbed zu neuem Leben ermwedt, auch neues Leben in unfere Concertfäle bringen. Wenn nach den paar einleitenden Takten Glarinette und Oboe einftimmig ihren füßen Geſang über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anjtimmen, da kennt

Symphonien v. Echnbert und Gherubint. 393

auch jedes Kind den Gomponiften, und der halbunterdrückte Ausruf »Schubert!« ſummt flüfternd durch den Saal. Er ift noch faum eingetreten, aber es ift, als fennte man ihn am Tritt, an feiner Art, die Thürkflinfe zu Öffnen. Grflingt nun gar auf jenen jehnfühtigen Mollgefang das contraftirende G-dur-Thema der Pioloncelle, ein reizender Liedfag von faft ländlerartiger Behaglichkeit, da jauchzt jede Bruft, als ftände Er nah langer Entfernung leibhaftig mitten unter uns. Diefer ganze Sag ilt ein ſüßer Melodienftrom, bei aller Kraft und Genialität kryſtallhell. Und überall diefelbe Märme, derſelbe goldene, blättertreibende Sonnenichein! Breiter und größer ent- faltet fih da8 Andante. Töne der lage oder des Zornes fallen nur vereinzelt in dieſen Geſang voll Innigkeit und ruhigen Glückes; mehr effectvolle, muſikaliſche Gewitterwolken, al gefährliche der Leidenſchaft. Als fönnte er fich nicht trennen von dem eigenen ſüßen Gejang, ichiebt der Componiſt den Ab- ſchluß des Adagios weit, ja allzumeit hinaus. Man kennt dieſe Eigenthümlichkeit Schubert’, die den ZTotaleindrud mander jeiner Tondichtungen abſchwächt. Auh am Schluſſe diefes An— dantes Scheint fein Flug fih in's Unabſehbare zu verlieren, aber man Hört doh noh immer das Naufchen feiner Flügel.

Bezaubernd iſt die Klangſchönheit der beiden Sätze. Mit einigen Horngängen, hie und da einem kurzen Clarinett- oder Oboeſolo auf der einfachſten, natürlichſten Orcheſter-Grundlage gewinnt Schubert Klangwirkungen, die kein Raffinement der Wagner'ſchen Inſtrumentirung erreicht. Wir zählen das neu aufgefundene Symphonie-Fragment von Schubert zu ſeinen ſchönſten Inſtrumentalwerken und ſprechen dies hier um ſo freudiger aus, als wir gegen eine übereifrige Schubert-Pietät und Reliquien-Verehrung mehr als einmal ung ein warnendes Wort erlaubt haben.

Es gibt interefiante Goncertprogramme, die fi auf dem Anfchlagzettel ungleich effectvoller ausnehmen, als fie und nad) der Aufführung ericheinen. Dahin gehörte dad »zweite Ge- jellihaft3-G&oncert« mit feiner Cherubini’ihen Symphonie und Beethoven’: »Stephansmufife.

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Eine große Symphonie italienischer Herkunft ift an fich ſchon etwas Seltenes, die Cherubini'ſche war obendrein bis heute in ein faft undurchdringliches Incognito gehüllt. Die »Muſeums-Geſellſchaft« in Frankfurt Hat das Manufcript von der Philharmonie Society in London erhalten und Herrn Herbed zum Behuf der Aufführung mitgetheilt. Die authentifhe Gejchichte jener philharmonifchen Gejelihaft (von ©. Hogarth) weiß gar nichts von einer Cherubinishen Symphonie, fondern nur don einigen Ouverturen und einer Cantate, welche Cheru- bini für die Gejellfihaft componirt hat. Aus anderen zweifel- lojen Daten läßt ſich übrigens faft mit Gewißheit folgern, daß die hier aufgeführte Symphonie in D-dur (wohl die einzige von GCherubini componirte) von ihm für die Philharmonie Society gefchrieben und im Frühling 1815 in London dirigirt worden ſei. Gedrudt ift fie niemald worden, doch Hat der Componiſt ihren mwejentlihen Inhalt noch einmal wir willen nicht, ob früher oder jpäter in einem Streichquartett ver: wendet. Wer mit großen Erwartungen an diefe Symphonie ging, wird eine anjehnlihe Enttäufchung erlebt haben. Es bedarf der ganzen Pietät für den Namen des großen Opern: Componiſten, um der Abwicklung dieſes zopfigen Gebildes theilnahmsvoll bis zu Ende zu folgen. Kunftooll geflochten, forgfältig gebunden, vornehm getragen aber doch ein Zopf. Hoffe Niemand der Ideenfülle und ſchwungvollen Energie aus Cherubini’3 beften Opern hier zu begegnen. Er findet eine Haydn'ſche Symphonie mit künſtlich vergrößerten Gliedmaßen und vertrodneter Seele. Unſer Haydn, den Cherubini ſelbſt als feinen muſikaliſchen Water verehrte, hat aud zu biefer Symphonie einen fehr bedeutenden Alimentationd-Beitrag ge— zahlt. Aber fo ſehr der ganze Bau und unzählige melodijche Wendungen an Haydn erinnern, von feiner Friſche und feinem ichalfhaften Humor ift nichts geblieben. Der Ernit des allzeit pathetifchen Florentinerd wird hier, wo die Größe und Inge: wohntheit der Aufgabe ihm einen gemwiffen Zwang anlegten, zur Trodenheit und künftelnden Pedanterie. Unverkennbar iſt jeine Anftrengung, fih aus dem wirklichen und dem Adoptiv: Vaterland feiner Mufe, Italien und Fraufreih, zu deutſchem

Beethoven's »KHönig Stephan«, 395

Sthl herauszuarbeiten; die Spontaneität, die naive Urfprüng- lichkeit des Schaffens ging darüber verloren. Einzelne inter: ejlante Stellen laben den Hörer von Zeit zu Zeit, am Schluffe bat er troßdem ‚das Gefühl, beinahe verihmacdtet zu fein. Welche Erfrifhung breitete fih mit den erften Takten von Weber's »Concertftüd« über den Saal! Herr Taufig fpielte die reizvolle Compofition, und zwar wie nicht anders zu erwarten mit vollendeter Birtuofität. Er jpielte mit den Schwierigkeiten, aber auch ein wenig mit der Sade jelbit: der Vortrag, geiftreich und eigenthümlich, hatte mitunter etwas Zerriffenes, überlegen Blafirtes.

Bon bejonderem Interefle war die Schlußnummer: Beet: hoven's Muſik zu dem Kogebue’ihen Feſtſpiel »König Stephan«, oder wie der urfprünglide Titel lautete: »Ungarns eriter MWohlthätere. Wir verdanfen Herrn Herbed die erite volftändige Goncertaufführung tiefes Werkes, von dem bisher nur einzelne Bruchſtücke aufgeführt und nur zwei Nummern (Duverture und Feſtmarſch) gedrudt waren. Erſt in der neuen Gefammt- Ausgabe Beethoven’3 (von Breitlopf & Härtel) hat nun auc dies Feitipiel feinen ihm gebührenden Platz gefunden. Die Veranlaffung dazu war befanntlid die Eröffnung des deutihen Theaters in Belt im Sahre 1812. Man Hatte Kotzebue mit der Abfafjung einer Trilogie aus der ungarifchen Geſchichte beauftragt und Beethoven mit der Compofition der Mufikitüde im Vor: und Nadipiel. Das einaftige Vorſpiel mit Chören, das die Feltvoritellung am 9. Februar 1812 eröffnete, war »Ungarns erfter Wohlthäter« und ftellte König Stephan I. in den wichtigſten Momenten feiner Regie: rung dar. Das eigentlihe Drama, welches Kotebue unter dem Titel »Bela’3 Flucht« verfaßt hatte, konnte aus verichiedenen Nücfichten nicht gegeben werden; es wurde dafür »Die Er: hbebung von Beit zur königlichen Freiltadt« (auß der Geſchichte des Jahres 1244) jubftituirt. Hierauf folgte das - Nachſpiel mit Gefängen und Chören, »Die Auinen von Athene. Die Mufif zu Teßterem, durch häufige Goncertauf: führungen befannt, Steht nicht nur an äußerem Umfange, jon: dern auch an muſikaliſchem Werthe hoch über dem »König

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Stephan«. Stüde von der hinreißenden Wirkung des Derwiſch— Chores oder des Türfenmariches aus den »Ruinen von Athen « wird man in »König Stephan« vergeblich ſuchen. Beethoven hat das Worfpiel ungleich flüchtiger behandelt, die Muſik mehr decorativ als jelbititändig verwendet; feine volle Kraft jparte er für die lohnenderen Aufgaben des Nachſpiels. Im »König Stephan« jehen wir nur die Tage ded mufifaliichen Löwen, im Nachipiel diefen felbft. Um Beethoven’: Mufif zu »König Stephan« gerecht zu beurtheilen, darf man feinen Augenblick auf deren beitimmten theatralifchen Zwed vergeffen. Die Mufit mußte fih Hier. in kleinen und möglihft populären Formen bewegen und hatte mehr die Beltimmung, eine Reihe raſch aufeinanderfolgender tableauartiger Scenen zu illuftriren, als eine eigentlich dramatiihe Entwidlung mit vollem Lebens— hauch zu erfüllen. Die abicheulichen Verſe Kotzebue's konnten den Gomponiften unmöglich begeiltern, und der Snhalt des König Stephan« war jo ausfchlieglih ungariih, daß Beet— hoven gar nicht hoffen durfte, es werde feine Arbeit über jenen Feitabend hinaus und vor dem nichtsungarifhen Bublicum Europas ihr Leben felbititändig fortfegen. Wir müfjen ung aljo beicheiden, eine raſch hingeworfene Gelegenheitämufif Beethoven’s zu hören, und das bleibt unter allen Umftänden ein micht zu verichmähender Schatz. Obendrein ftammt dieſe Gelegenheitsmufif aus der frifcheften, üppigiten Periode des Meifters (fechite und fiebente Symphonie). In der Ouperture pulfirt ein rajches, fühnes Blut; die wunderlich zerhadte Form läßt aber feine einheitlihe Wirkung auffommen. Einfach, wohl zu einfach treten die beiden erften Männerchöre auf, Eleinite Abichnigel von Beethoven’3 Purpur. Der Frauendhor hingegen mit feinen zierlihen Flöten-Guirlanden ift von bezaubernder Lieblichkeit. Der Feſtmarſch imponirt nicht durch Neuheit der Motive, aber durch eine gewiſſe großartige Popularität, wie fie neben Beethoven fein Zweiter in feiner Gewalt hatte. Der jehr furze »religiöfe Marſch« fällt daneben beträdtlid ab. Was in der Concertaufführung am unwirkſamſten bleibt, find die rein melodramatifchen Partien; an Ort und Stelle mußte die mufifaliihe Begleitung der »Bifion Stephan’s« fehr bes

Quartett von Rubinſtein. 397

deutend wirken. Der in charakteriitiihen Cſardas-Rhythmen aufjubelnde, beinahe ungariſch-deutſch declamirende Schlußchor mit feinen gellend hohen Soprantönen und raufchendem Or: cheſter Schlägt tüchtig ein; wir fönnen und den Enthufiasmus des magyarifchen Publicums von 1812 lebhaft vorftellen. Bei aller bewundernden Anerkennung der theatraliihen Zweck— mäßigfeit diejer Feſtmuſik wird man doc nicht leugnen können, daß fie im Goncertjaal nur geringen Eindrud madt.

KHammermulik.

Hellmesberger’3 dritte Quartett-Soiré bradte ein neues Clavier-Quartett von Rubinftein (C-dur, op. 66). Das Thema des erften Satzes iſt von hinreißender Schönheit. Sn der Ausführung macht der Componift beimweitem nicht daraus, was man erwarten durfte, troßdem bleibt der Total-Eindrud des Satzes, der nah mancherlei Stodungen und ımbebdeutenden Phrafen fih zum Schluſſe wieder auf: zuſchwingen mweiß, ein günftiger. Minder bedeutend, doch von rafhem Zug und pridelndem Eſprit ift das Scherzo. Von da geht es, wie gewöhnlich bei Aubinjtein, ftufen= und ter: raffenweije abwärts. Das Auditorium, daS die beiden erften Sätze lebhaft beflatichte, nahm die beiden leßten mit eifiger Kälte auf. Das langgeitredte Adagio gleicht einer Wüſte, in welder uns nur jelten und von fern der warme Ton einer menſchlichen Stimme grüßt. Doch iſt es immerhin noch von einer gewiſſen düfter-melandoliihen Stimmung angehaudt. In dem Finale aber finden wir gar nichts mehr, an was wir una flammern könnten, weder mufifalifche Erfindung, nach poetifche Stimmung, weder glüdlihe melodiſche Einfälle, noch kunſtvolle Arbeit. Das Ganze ift roh und reizlos, wie in verdrießlicher Eile hingeworfen, damit doch das Quartett in Gottes Namen einen Schluß habe. Mit diefem kurzen Bericht über Aubin- ftein’3 neueſtes Werk haben wir leider die Biographie faſt aller feiner mehrjägigen Gompofitionen gejchrieben. Wir kennen feine einzige die, durchaus auf gleihe Höhe ſchwebend,

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al3 Ganzes ſchön und bedeutend heißen dürfte Rubinſtein's Erfindung gleicht einem raſch und glänzend auflodernden Feuer, da3 jchnell erliiht. Seine Kunſt und Ausdauer reihen niemals aus, dies Erlöfchen zu hindern, und feine Selbitkritif jagt ihm niemals, daß es längft nur glimmendes Gebälf oder todte Aſche ift, was er, unbefümmert fortichreibend, dem Anfangs entzücten Hörer bietet. Wie jchade, daß Rubinftein Alles immer nur dem »Genie« anheimitellt, dad er wild und unmwillfürlich umberjagen läßt. Das Genie muß das Kunſtwerk beginnen, aber nur die Arbeit vollendet e3.

Die Allman'ſchen Soncerte und Gar- Lotta PRatti.

So wären denn auch bei uns die berühmten Ullman’ichen Wanderconcerte ind Leben getreten. Außer ihrem Zeititern, Garlotta Patti, und den ihm folgenden heiligen drei Königen der Suftrumental-Virtwofität, Vieurtemps, Piatti und Jaell, interejjirt uns noch die ganze Form dieſer Unternehmung an ih. Sie iſt etwas durchaus Neues und Fremdartiges. Durch ihren eminent gejchäftlichen, alfo ungemüthlichen Charakter und das große Geräufh, mit dem fie allerorten einzieht, hat Ullman’3 Concertgeſellſchaft fih in Deutjchland zahlreiche Gegner gemadt. Auch bier hörten wir fie täglid mit ben Schlagworten »Schwindel«e und »Humbug« von vornherein und ungehört verdammen. Die Sade ift wohl werth, rubiger betrachtet zu werden. Wir glauben, daß man über Schwindel und Humbug nur dort flagen kann, wo eine Täufchung, eine Hebervortheilung des Publicums jtattfindet. Dann find Ullman’s Goncerte alles Andere eher, ald ein Schwindel. Sit und doch nirgends ein Concertunternehmen vorgefommen, dad dem Bus blicum für fo geringes Geld eine jolche Serie glänzender Namen und Leiftungen geboten hätte, An Einem Abend genießen wir die vereinten Kunftleiftungen von vier bis fünf Virtuofen euro— päiſchen Rufes, welche einzeln zu hören das Publicum fich ſonſt

Die Ullman'ſchen Eoncerte und Carlotta Patti. 399

glüklih genug ſchätzte; an ihrer Spike eine neue glänzende Berühmtheit, welche von Director Gye in London für eine ein: ige Concertfaifon die Kleinigkeit von 3000 Guineen erhält. Wenn Herr Ullman uns diefen Reiz und jene Trefflichkeit durch verdoppelte und verdreifahte Eintrittäpreife entgelten ließe, dann könnte man noch immer nit von Schwindel ſprechen, höchſtens von einer Ausnügung des Publicums. Nun hört aber das Publicum bei Herrn Ullman die ganze illuſtre Künſtlergeſellſchaft um den gewöhnlichen, einfachen Preis, den auch der mittelmäßigſte Concertgeber für ſeine Perſon hier prätendirt. In dieſem Zuſammenwirken auserleſener Künſtler liegt aber noch ein eigener, höherer Reiz, als der blos finanzielle. So oft noch zwei berühmte Virtuoſen gleichzeitig in Wien concertirten, ver— nahm man auf Schritt und Tritt den Wunſch: Würden doch einmal Beide zuſammenſpielen! In den ſeltenen Fällen, daß dies ausnahmsweiſe geſchah, und Liſzt mit Ernſt, Clara Schu— mann mit Jenny Lind, Vieurtemps mit Dreyſchock aus Col— legialität oder zu wohlthätigen Zwecken einmal ein Duo aus— führten, wurde der Saal förmlich geſtürmt. Der Grund, weßhalb fich trotzdem niemals zwei Virtuofen zu gemeinfamen Eoncertreifen verbanden, war: ihr Stolz. Wer mochte Gold und Beifall mit einem Nebenbuhler theilen? Eine Frage diejer Solirung war, daß man bei jedem Concert eines berühmten Birtuofen ftet3 eine Anzahl jogenannter Zwiſchen- oder Ausfüll— nummern in den Kauf befam, welche durd; ihre Mittelmäßig- feit gehörig abftechen mußten. Diejes von den Goncertgebern fo ſchwer zu befchaffende und von den Hörern jo wenig geacdhtete Füllwerk ift in Ullman's Goncerten gänzlich bejeitigt, ba jede Nummer von einem audgezeihneten Künftler ausgeführt wird, fo daß wenigſtens die gleich vortreffliche Erequirung aller Mufikftücde eine gewiffe Harmonie über das etwas bumte Programm breitet. Die Affociation berühmter Birtuofen hat ihre Zukunft; die »Gejammtgaftipiele« namhafter Schaufpieler find eine anologe moderne Erſcheinung.

Ein Umftand, der viele Mufikfreunde gegen die Ullman'ſche Unternehmung einnimmt, ift die eigenthümliche Haft des Erwerbes, das fchnelle Neijetempo, in dem die Geſellſchaft Deutichland

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nah allen Richtungen überzieht, in einem Monat mehr Con— certe gebend, alö früher ein Virtuoſe in der ganzen Saiſon. Das hat allerdingd® wenig Gemüthliche® und möglicherweiſe viel Unangenehmes für die Künftler. Bleiben wir aber beim PBublicum. Was verliert dieſes durch den Umstand, daß die Künftler, welche es heute entzüden, vor wenigen Tagen noch in Berlin oder München concertirt haben und bereits für die nächſte Woche in Graz ‚oder Belt angekündigt find? Das find heutzutage Spazierfahrten, vor wenig Decennien waren e3 Reifen. Wenn wir in der Jugendgejchichte, der pa= triarchaliichen eilenbahnlojen, des Virtuoſenthums blättern und die unaufhörliden weiten Reifen eine Lolli, Jarnopic, Steibelt, jpäter noch eines Hummel und Paganini be— denken, jo werben wir faum zweifelhaft fein, wer um des Concertirens willen mehr Retjeplagen erduldet habe, die Alten oder die Jungen. Aber die entjeglichen Reclamen dieſes Herrn Ullman!- Auch damit iſt's nicht jo arg. Wir haben bis jegt in den Miener Blättern zwar eine Unmaſſe Anzeigen und Inſerate des Herrn Ullman, aber feine einzige ımbejcheidene Anpreiſung jeiner Künftler getroffen. Herr Ullman braudt, um auch nur jeine Koſten zu deden, ein außerordentlid großes Publicum, und ein jolches läßt fih ohne zahlreihe und auffallende Annoncen nicht herbeiloden. Eine für Concertzwede bisher unerhörte Benügung der Wublicität iſt noch immer feine »Reclame« im tadelnden Sinn. Wir wollen dies gar nicht der Tugend des jchlauen Imprejario zugute jchreiben, offenbar fennt er Deutichland Hinlänglid, um zu wiffen, daß man mit engliihen und amerifaniihen Buff? die Meinung des Bublicums und der Kritik in Wien, Berlin, München nit gewinnt, vielmehr fih fie entfremdet. Bon Ullman’3 jogenannten Reclamen kennen wir blos eine in Berlin gedrudte Brojchüre von wenigen Seiten: eine fleine Sammlung von Recenfionen über Garlotta Patti, größtentheild aus der Feder bekannter und allgemein geachteter Kritiker. In einigen einleitenden Worten ſpricht Herr Ullman den Wunſch aus, der Hörer möge, um feine Erwartungen nicht getäufcht zu ſehen, von diefer Sängerin ja nicht Vorzüge

Die Ulman’ihen Concerte und Carlotta Patti. 401

erwarten, welche ihr verjagt find. »Leidenjchaftlicher Ausdrud« jei ihr fremd, fie fei »feine dramatiihe Sängerin« und habe ihren großen Auf »niht durch das, was die ftrenge Kritit veredelte Kunſt nennt, wie eine Sonntag oder Jenny Linde, jondern als eine Specialität erlangt. Das ift gewiß nichts weniger als Schönfärberei. In England und Amerifa, wo die öffentlihe Aufmerkſamkeit, gewohnt, mit Schüreiien und Thorbalfen gefigelt zu werden, die gröbſten Mittel der Reclame erwartet, wo jelbit der Gebildete den Champagner nit ohne Branntweinzufag mag, geſchweige den den Goncertzettel dort verjteht Herr Ullman allerdings ſtär— fere Regifter aufzuziehen. In Amerika fand fein Erfindungsgeiit das richtige Terrain; was er dort alles aushedte, um Geld und Ruhm zu machen, ericheint und Kindern der alten Welt mitunter geradezu unglaubli. Al die berühmte Sonntag, welde von Ullman nad Amerika engagirt war, in New-York eintreffen jollte, beichlojjen die Mufifer diefer Stadt, ihr eine Serenade zu bringen. Ullman erbot ji) dem Comité Ddiejer Mufiker, die Serenade felbit zu leiten und die Koften tragen zu wollen. Er verfündigte fofort durch Inſerate und Placate an den Straßeneden, daß die von den Newyorker Mufikern zur Begrüßung der großen Sängerin vorbereitete Serenade um Mitternacht bei Fackelſchein mit einem Orcheiter von 400 Mufifern und 1000 Sängern ftattfinden werde. Die Herren vom Comité eröffneten ganz erfchredt Herrn Ullman, daß man in ganz New: York kaum ein Ordefter von 150 Mann zu: jammenbringen fönne und daß feine Annonce fie Alle der LZächerlichfeit preisgebe. Ullman bejhwichtigte das Comité mit der Mittheilung, er habe die fämmtlichen Orcheſter von Bojfton, Baltimore und Philadelphia telegraphifh verfchrieben und jcheue für den gedachten Zweck gar feine Unkoſten. Das Rejultat diefe8 Manövers war, daß 200.000 Menſchen, begierig, dies Sratisconcert zu hören, zufammenliefen und alle Zugänge zum Unionplag, auf welhem die Sonntag wohnte, dermaßen ver— ftopften, daß nit einmal die SO wirklich engagirten Mufifer fih Hindurhdrängen fonnten. Es eniltand ein fFürchterliches Gefchrei und Gepfeife, aber Herr Ullman Hatte jeinen Zweck

Hanslid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 26

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erreicht: er Hatte 200.000 Menichen auf die Beine gebradt, die von der Sonntag redeten. Solde Späffe, in Amerika be- wundert, find bei uns gottlob unmöglich.

Wie fommt es nur, wird man fragen, daß die als Dame und Künftlerin fo vornehme Sonntag, daß die auöge- zeichnetiten Virtuoſen nah ihr, fi gern diejem Unternehmer engagirten? Dieſe zweite Frage, das Berhältniß der concer- tirenden Künftler zu einem mit ihrem Talent jpeculirenden Unternehmer, iſt etwas bedenflicher, als die früher beleuchtete nach dem Intereſſe des Publicums. Wir geftehen unverholen, daß diefe Art künſtleriſcher Leibeigenſchaft uns ſtets einen un— angenehmen Gindrud gemacht hat, und daß wir dieje Jubjective Empfindung niemal® ganz verloren haben, noch verlieren wer— den. Gerade deshalb hielten wir es eben für Pflicht, die durch ihre Neuheit und frappirende und dadurd vielleicht ungerecht ftimmende Erſcheinung der modernen Aſſociations-Concerte mög— lichit unbefangen von beiden Seiten zu betrachten. Fragt man die engagirten Künstler jelbft, fo vernimmt man faſt durchaus, daß fie fi) dabei wohl und zufrieden befinden. Sie beziehen, unabhängig von den Tageseinnahmen, einen jehr namhaften firen Gehalt und den vollftändigen Erſatz der Reiſekoſten. In unferer Zeit, wo die Virtuoſen-Concerte längft eine undankbare und mißlihe Speculation geworden find, muß dem Künſtler ein fichere® Budget jehr willfommen jein. Es iſt für den ein- zelnen Birtuojen gar Eoftipielig, gegenwärtig Goncerte zu geben, e3 ift aber auch nebenbei jehr mühevoll, zeitraubend und ver— drießlih, al die nothmwendigen Vorbereitungen dazu ſelbſt zu treffen. »3ch würde mit Vergnügen jedes Concert dreimal hinter einander jpielen«, fo jagte uns mehr ala Gin Virtuoſe, »wäre ih dadurch der Mühen und Sorgen enthoben, die mir das Arrangement eines einzigen verurjachte. Diejen Wunf erfüllt die Ullman'ſche Unternehmung vollftändig; die Künftler ſpielen öfter als jonft, find aber aller Sorgen enthoben. Der Unter: nehmer ift ihr Reiſemarſchall, Secretär und Bantier.

Die in engliſchem Geift und lakoniſcher Kürze abgefaßten Contracte fonımen uns Deutichen etwas jeltfam vor. »Herr Vieurtemps oder Herr Jaell verpflichtet fih für ſechs

Die Ullman'ſchen Concerte und Garlotta Patti. 403

Monate oder ein Jahr in Herrn Ullman's Concerten zu fpielen, wo und warn es dieſem zwedmäßig ericheint, gegen ein monatliches Honorar von fo umd fo viel taujend Francs und Vergütung der Reiſekoſten«. Fiele e8 Herrn Ullman ein, drei Goncerte an einem Tag zu geben, jo hätte Herr Vieurtemps oder Herr Jaell nicht das leiſeſte Recht, dagegen zu proteftiren. Hier muß das perjönlihe Vertrauen eintreten nnd ſich vor die gefährlihen Mündungen des Contractes Stellen. Der Kinftler weiß eben, daß dieſer nicht jo ſcharf geladen ift, und daß Herr Ullman unbillige Forderungen nicht ftellen wird. Er weiß überdies, daß, wenn er durd Krankheit verhindert würde, an einem oder an zehn und zwölf Eoncerten mitzuwirfen, feine Gage ungeichmälert fortläuft. Bor zwei Jahren hatte Herr Ulman einen berühmten deutjchen Gelliften (Kellermann) für drei Monate engagirt; nach den erjten 14 Tagen wurde Diejer dur einen Schlaganfall gelähmt, erhielt aber trogdem jeinen Gehalt für die ganze Zeit ausbezahlt. In Berlin jollen Herrn Ulman durch ein längeres Unmwohljein Carlotta Patti's Taufende von Gulden entgangen fein, der Sängerin entging fein Heller. Das find, meinen wir, für den reilenden Künftler Dinge von Werth und Wichtigkeit.

Die Gewohnheit macht, daß wir im Bühnenweſen, ins— bejondere bei den italienischen Opern-Geſellſchaften, dasjenige faum mehr bemerfen, was uns an den Concert-Ajfociationen noch jo ſehr befremdet. Auch dort dasjelbe Princip des ge: meinjchaftlihen Reiſens und Producirend, der Herrſchaft des zahlenden Unternehmers über feine Künftler. In London ver: wendet der Director der italieniichen Oper von Her Majesty’s theatre jeine Opernfänger nah Belieben in den verichiedenften Städten Großbritanniens, auf der Bühne und im Concertiaal, und hat das Recht, ihnen jede Mitwirkung in öffentlichen oder Privat: Akademien zu unterfagen. Bon allen Kunftzweigen hat aber von jeher das mufitaliiche Virtuoſenthum die geichäftliche Seite, die Tendenz nah Geldgewinn, am wenigiten ver: leugnet. Schon der alte Forfel, der im Allgemeinen den Eoncerten eine große fünftleriihe Milton zugeiteht, definirt (1783) die Birtuofen-Concerte als folche, »die blos zum

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Gelderwerb gegeben werden«e. Der Pirtuofe reift in der Negel, um Geld zu verdienen.

Die muſikaliſchen Inftitute, bei welchen der tiefere künſt— lerifche Gehalt als Hauptfache, die echte Kunftpflege als Selbft- zwed erjcheint, find die ftehenden Orcefter:, Chor: und Sammer: Eoncerte. Die Virtuofen-Eoncerte als folhe waren es niemal3. Nur vereinzelte Virtuoſen gab es und wird es hoffentlich immer geben, welche die höchſten Ziele der Kunſt verfolgen, und dieſe werden auch künftig allein reifen. Die Ullman’ichen Concerte haben das leichte glänzende Genre, die Virtuofität par excellence, fomit die Unterhaltung eines größeren Bublicums im Auge Wenn fih jet mehr als früher die gefchäftliche Tendenz des Virtuoſenthums bemerkbar macht, jo Tiegt Dies theils in dem allgemeinen praktiſchen Zug der Gegenwart, theils in den ſtark gefunfenen Gurfen des ehemals florirenden Vir— tuoſenthums. Diefe Blüthenzeit (die Lilzt:Thalberg’ihe Epoche) währte nicht lange, noch weniger war fie bon Anbeginn da. Wenn wir in einer Wiener Correfpondenz der Leipziger Mufif- zeitung vom Sahre 1803 leſen: »Die Künftler haben Hier einen bitteren Kampf zu beftehen; oft hilft ein Theil des funftliebenden Publicums und das MWohlwollen einiger Fürften dem Bedrängten dur; Subfcription aus der Klemme«, jo iſt damit ein alter, langmwährender Zuftand bezeichnet, der das ältere Virtuoſenthum nicht in beneidenswerthem Lichte zeigt. Zu Anfang diefes und im Verlauf des vorigen Jahrhunderts mußten felbft große und berühmte Künftler fih dazu bequemen, wochenlang vor ihrem Auftreten in allen möglichen Soirden zu fpielen, um fi) dadurch Zuhörer für ihr eigene® Concert zu fihern. Dann gingen fie mit den Eintrittöfarten oder dem Subſcriptionsbogen in den Häufern der Adeligen und Reichen förmlich haufiren. Dies war die Gepflogenheit der »guten, alten Zeit« mir finden fie mühjeliger und demüthigender, als die Stellung von Ullman's engagirten Künftlern, die nur an die Trefflichkeit ihrer Leiftungen zu denfen und fonft um nicht und um Niemanden fi zu kümmern haben. An Die Stelle der großmüthigen Mriftofraten und Bankiers iſt jetzt das große Publicum getreten, und alle geichäftlihe Thätigkeit

Carlotta Patti. 405

und Berehnung concentrirt fih in der Perſon des Inter: nehmer. Indem diejer, als Geihäftgmann von Fach, feine Aufgabe überdies mit mehr Geſchick und Erfolg löft, als der Kiünftler jelbit e& vermöchte, jo befördert er gleichzeitig das In— terejje feines Gejchäfts, der Virtuojen und des Publicums.

Died wären etwa die Gefichtöpunfte, welche für die viel angefeindete Yorm der Aſſociations-Concerte ſprechen. Wir geben fie lediglich als Thatſachen und ohne einen ungebühr- lichen Nahdrud darauf zu legen; der Lejer möge fie nad Gefallen abwägen, allein erwägen muß fie, wer über das Ganze urtheilen will. Wir erbliden in dieſen Affociations- Goncerten eine neue, interefjante Culturerjcheinung, die aller: dings nur aus dem leidigen Gejchäftsgeift der Gegenwart ſich herausgebildet hat, aber auch erjt bei der jekigen Vervoll— fommnung des Weltverfehr8 und der impofanten Maſſe des modernen Publicums möglich ward.

Das erfte „Yatti:&oncerf“.

Was die gefeierte Carlotta Patti betrifft, fo will fie mit einem eigenen Maßitab gemefjen fein. Die abnorme Höhe ihrer Stimme und mehr nod die erftaunliche Leichtigkeit und Sicherheit, mit der fie ſich in jener dreigeftrichenen Schnee- region des Geſanges bewegt, in welcher ſelbſt einer Mali: bran und Catalani jeder Athemzug vergangen wäre, ftem- peln Carlotta Patti zu einer biöher nicht vorgefommenen Specialität. Sie erreiht Töne, wie daß dreigeftrichene d, e, f, nicht etwa in gemwagtem, bligartigem Sprung oder vorberei: tendem Anlauf, jondern ſetzt fie nah einer Paufe pianissimo oder mezzovoce frei, mit vollendeter Reinheit und Ruhe ein, ſchwellt ſie bis zum fortissimo und läßt fie allmälig wieder zum Hauch verflingen. In der Linda-Arie hörten wir Triller auf dem hohen des und es, im »Garneval von Venedig« ein lang und kraftroll ausgehaltene® e, in dem (nad) Es-dur transponirten) »Schattenwalzer« der Dinorah Echo-Effecte in den höchſten Lagen, einmal fogar in ſchönſtem Klang das

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dreigeitrichene ges! Durch dieje wahrhaft außerordentliche Kehle und durch die Virtuofität in Allem, was auf jenem ihr allein gehörigen Höhengebiete jich bewegt, iſt Carlotta Patti uns ftreitig eine Erfcheinung ohnegleichen. Ihre Intonation ift ſtets haaricharf, ihre Virtuofität nach einigen Richtungen ſehr aus— gebildet, vor Allem im Staccato, das man nicht glänzender hervorbringen fann, al® fie es in den Sertenfprüngen Der Linda:Arie und am Schluß der »Ladjcouplet3« thut. Der Triller ift Leicht und flüffig, aber nicht immer von tadellofer Gleichheit; am wenigſten befriedigte die Verbindung der Töne im Legato, namentlich bei herabfteigender Scala. Als voll— endete Geſangskünſtlerin ericheint und demnad Carlotta Patti troß all ihrer blendenden Kunſtſtücke nicht, und wir können fie, auch von blos technischen Standpunkt, unmöglid in eine Reihe mit Adelina Patti oder Déſirée Artöt Stellen. Der Klang diefer phönomenalen Stimme ift nit ohne eigenthüme lihen Reiz die Höhe filberglödchenartig hat aber weder Größe noh Wärme. Sie it von einem falten Glanz, der im Paſſagenwerk an Sterngeflimmer, in ruhiger Ausbreitung auf den höchiten Noten an das weiße Licht des Magneſiums er— innert. Eine gewiſſe Samilienähnlichfeit herrſcht zwiſchen den Stimmen Carlotta's und ihrer jüngeren Schweiter, ungefähr wie zwiſchen ihren Gefichtszügen, doch ift Adelina's Organ voller, wärmer und vor Allem empfänglicher für alle Schat- tirungen des Ausdruds. Die mittleren und tieferen Töne Garlotta’3 haben wenig Körper und Rundung; wenn fie eine Gantilene im gewöhnlicher Gejangslage anhebt (wie gleich an— fang in der Linda-Arie), jo glaubt man faft eine Sinder- ftimme zu vernehmen und laufcht ihr mehr befremdet alö be- friedigt. Wir mußten den Timbre diefer Stimme erft förmlich gewöhnen, er jagte uns in der dritten Nummer beffer zu, als in der zweiten und erjten, und am beften in der legten. Und ihr Vortrag? Er gleiht frappant der Stimme. Strahlend, elegant, jogar grazids, läßt der Geſang Garlotta’3 die meite, reihe Welt des Gedanken: und der Empfindung völlig ab— jeitö; daS ewige Meer der Leidenschaft fräufelt er nicht mit Einer Welle, Er blendet den Sinn, entzüct ihn vielleicht, aber

Tas erfte »Patti⸗Concert«. 407

zum Herzen findet er feinen Weg. Aus diejen Tönen dringt nicht Blumenduft noch Frühlingswärme zu uns; fein Drud einer geliebten Hand, fein Blick eines jeelenvollen Auges wir find allein unter gejchliffenen Kryſtallen und hellpolirtem Marmor. Der Hörer fommt aus dem Betwundern nicht heranz, der Fritifer nicht über die Bewunderung. Garlotta Patti it eine eminente Merfwürdigfeit, man muß fie gehört haben. Wie mähtig man fich hierauf gedrängt fühle, fie oft und wieder zu hören, dad mag die Empfindung jedes Einzelnen enticheiden. Am meiften erftaunt hat uns unter Garlotta’3 Vorträgen der »Garneval von Venedig«, am aufıichtigiten er- freut die Couplet3 (l’celat de rire) von Auber. Diefer an— ſpruchsloſe Scherz ſchien und, jo wie er äußerlich die ſchönen ftatuarifhen Züge der Sängerin plößlich belebte, auch ihren Gefang ein eigenthümliches Leben einzuhauchen. Diejes Lied fingt Carlotta Patti nicht blos mit Bravour, fondern in der That mit Efprit und Tiebendwürdigem Humor. Das Publicum ſchien derjelben Anficht, es fteigerte den Beifall, den es ber Künftlerin nach jeder Nummer fo reichlich geipendet, nach den Lach-Couplets zum vollftändigen Sturm. Ueberdies wirft das gejungene Lachen anftedend; es war zu ergößlich, nicht als lähelnde und lachende Gefichter im ganzen Saale zu jehen. Herr Ullman hatte eigend aus Paris Roger fommen laſſen. Der berühmte Tenorijt, einſt die Zierde der Opera eomique und fpäter der großen Oper in Paris, ſang Schu: bert3 »Erlfönige und die befannten »Wögelein« von Gum— bert. Eine wunderliche Wahl, wenn fie auch vielleicht ein »Compliment an die deutſche Nation« vorjtellen ſollte Roger's Erlfönig ift die conjequenteite dramatiiche Ausführung und Zufpigung der an ſich Schon bedenklichen Intentionen Schubert’2. Sie ftreift an geiftreihe Carricatur und hat nur einen Kleinen Schritt zu dem vollitändigen Erperiment, den »Erlfönig« von 3 verichiedenen Perfonen fingen zu laſſen. Roger's Vortrag accentuirt mehr die Echattenjeiten als die Vorzüge der Come pofition und producirt mehr den Schaufpieler ald den Sänger. Letterer trat in den Gumbert'ſchen Bänkelſang etwas deutlicher hervor; wir erfannten wieder, wie durch einen Schleier, Roger's

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ehemals twundervolled Portamento, aber was wurde ge— tragen? Gin troftlojes Lied und eine trojtlofe Stimme, E3 jchmerzt, über daS gegenwärtige Singen des großen Künftlers iprechen zu müſſen, der uns einjt mehr als irgend ein Anderer das deal eined dramatiichen Sängers ahnen, mitunter auch vollfommen jchauen Tieß. Roger's Erjcheinung hat fih merk: würdig unverändert erhalten; dieſelbe glatte edle Stirne, der jugendlihe Mund, der ernite Blick voll Geift und Güte, Aber von der Stimme wollen wir jchweigen, und von dem Kampf de3 Sängers mit dieſem zertrümmerten Inſtrument. Roger macht allerding® auch jegt noch einen weit ebleren Eindrud, al fein zum Poſſenreißer herabgefonımener berühmter College Ronconi. Beide Künftler erfüllen aber hier diejelbe weh— müthige Miffion: ihren eigenen Nefrolog zu fingen.

Jede neue Erfcheinung von großem Auf ift bei ihren: erften Auftreten verurtheilt, ungemefjenen und oft ſehr unbe- ftimmten Erwartungen gegenüberzuftehen. Vermißt der Hörer . einige geträumte Vorzüge, jo wird das Gefühl theilweijer Ent- taufhung ihn auch die wirklich vorhandenen leicht unterfhägen faffen. Erjt wenn der Eindrud des Neuen, Befremdenden über- wunden und man über das äjthetiihe Soll und Haben im: Klaren iſt, Hört man unbefangener und urtheilt geredter. Wir haben und mit der Stimme Carlotta Patti's viel mehr befreundet, fie in den fpäteren Concerten jchöner und voll: tönender gefunden, ald am erjten Abend. Hin und wieder, 3.8. in Gounod’3 »Ave Maria«, verrietd ein Ton bon über: rafchender Kraft, daß dieſe filbertönige Stimme auch nad) Seite des Volumens weniger ftiefmütterlich bedacht fei, als fie in der Regel jcheint. Diefe und ähnliche Wahrnehmungen flößten und Reſpect ein vor ihrem ftreng eingehaltenen Princip: Maß zu halten, die reine Schönheit des Tons niemald zu alteriren. Garlotta Patti vermeidet, auch nur der Grenze des Schreiens fi zu nähern, und wird, beiläufig gejagt, troß ihrer angejtrengten Thätigfeit ihre Stimme ohne Zweifel lange bewahren. Hierin ericheint fie als ein Zögling der beiten italienischen Schule. Stein Zweifel, daß ihre leidenſchaftsloſe Ruhe dieſes Maß— halten ſehr erleihtert, aber blos als »Kälte« können wir

Daß erfte »Patti-Goncerte. 409

nicht mehr betrachten, was fi und als ein confequentes ſei es auch einfeitig auögebildetes Schönheitprincip er: wiefen hat. Es iſt dasjelbe PBrincip des reinen MWohllauts, dad die Linien einer italienifchen Melodie in jchöner janfter Rundung zieht. Ebenſowenig als wir die Patti jchreien oder medern hörten, haben wir fie im Vortrag jemals übertrieben oder affectirt, in Haltıng und Miene grimaffirend gejehen. Bei Wagſtücken wie daS »Lachlied« oder der »Carneval von Venedig« will dies nicht wenig jagen. Der Birtuofität Carlotta PBatti’3 find wir bereitö gerecht geivorden, aber auch in ihrer Gantilene beobachteten wir im Laufe ter verſchiedenen Pro- ductionen das MWalten einer Technik, die hochzuſchätzen nament: lih wir Deutihe allen Grund haben. »Die Deutjchen fingen mit dem Kopf und mit dem Herzen, aber nicht mit dem Ohr«, fo jagte ung wörtlich vor einigen Jahren Jenny Lind. Diejer Ausspruch einer großen und dur ihre germanische Abkunft wohl unparteiifhen Sängerin jchien una damals zu hart taufendmal iſt er und jeither eingefallen. Den Gejang der Garlotta Patti hat wohl Jedermann einen fräftigeren Herz- ihlag gewünſcht, aber gewiß nicht ein feinered, Maß und MWohllaut fchärfer überwacendes Gehör. Carlotta Patti fang in der Concordia. Akademie das Duett aus Roſſini's »Stabat mater« mit einer unjerer intelligenteften uud ftimmbegabteften Sängerinnen. Während Erftere die Melodie fehr ruhig, gleich- fam in Einem leichten, weiten Bogen aufbaute, verjah Letztere fast jede Note mit einem gefühlvollen Accent, jo daß derjelbe Gejang hier gleihfam aus einer Anzahl Kleiner Crescendos und Decrescendos fi) zufammenfegte. in höheres Drittes geben wir zu, können aber nicht leugnen, daß die klare, mono tone Himmelsbläue des italienischen Vortrags ung nicht blos mufifalifch Schöner, fondern immer noch ſeelenvoller däuchte, als jene heftige Licht: und Scattenjpiel.

Stimme und Gefangsmanier weifen Carlotta Patti vor: zugsweiſe an den Sologefang; in den Spinnquartett aus »Martha« jang fie zu ſchwach, was allerdings nicht ganz ent: Ihuldigt, daß die anderen drei Stimmen zu ftark begleiteten. Fräulein Patti die Wahnfinn-Arie aus »Lucia« im Coſtüm

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vorgetragen zu jehen, wirkte ohne Zweifel als ein Lod- und Reizmittel auf die Beſucher der Goncordia:-Afademie. Die Leiltung war intereflant genug, indem fie im Spiel der Künſt— lerin dasjelbe Princip verrieth, mit wenigen, plaſtiſch-ſchönen Bewegungen auszureihen, Der dramatiſche Ausdruck erhob fi nicht merflih über den Concertvortrag. Bedenft man indeh, daß Carlotta Patti ſeit ihren erften Anfängen, vor vier Jahren, die Bühne nicht betreten und in ihrem Gang ein phyſiſches Hindernig mühlam zu befämpfen hat, jo erfcheint der Verſuch immerhin rejpectabel. Da die Accente tiefer Leidenschaft ihrem Geſang verſagt find, glauben wir nicht, daß die tragiihe Bühne an Garlotta Patti viel verloren habe. Hingegen jcheint ein jehr artiged® Talent für die komische Oper in ihr zu jchlummern. Das fröhlich Schmetternde, fo gut wie das freundlich Behäbige ihres Geſangs müßte, vereint mit dem bezaubernden Lachen Garlotta’3, in der Opera buffa trefflich wirfen. Sie ift »Die Lerche, nicht die Nachtigalle. Man fche die dürren Noten des Auber’ihen Lachliedes und urtheile jelbit, ob hier der Vortrag der Patti nicht gerade zu productiv fei. Nicht bloß neue Noten bat fie Hinzugefügt, fondern neue Effecte, die in Noten gar nicht zu faſſen find. Es ift und bleibt ihr Meifterftüdchen. Großen Beifall erregte Roger’3 Vortrag der Arie »Ah, quel plaisir d’ötre soldat« von Boieldien. Wir haben den weh: müthigen Eindrud nicht verhehlt, den Roger's »Erlfönig« und »Liebe Vögelein« jüngſt hervorgebracht; um jo größer war unfere Freude, mit einer jchöneren Erinnerung bon dem ver— ehrten Künstler jcheiden zu fönnen. Stimmen, die im Nieder: gang oder Untergang begriffen find, haben befanntlih von Zeit zu Zeit ihren »beau jour« (man denfe an Wild); ein ſolcher Glüddtag war der 26. December für Roger. Er bot jeine ganze Kraft und Energie auf, und da e3 einer Arie galt, in welcher er auch ohne Stimme faum einen Rivalen hätte, jo war der Eindrud ein ungewöhnlider. In Frack und Glace- hbandihuhen fang und ſpielte Roger die ganze reichbewegte Schilderung des Soldatenlebend. Die hinreiende Beredtſamkeit des Ausdruds und eine Fülle charakteriitiiher Züge ließen die Schäden der Stimme vergeffen. Hier jah man, wie Geijt und

Das Dante-Goncert der Italiener in Wien. 411

Temperament eines reproducirenden Künſtlers jchöpferiich wirken fönnen. Im Fach der eleganten fomifchen Oper stehen die franzöfiiden Sänger einzig da; Roger hat neben den beiten Traditionen diejer Kunft eine geniale Perfönlichkeit, die jede Tradition überholt, und neben dem Geilt der Schule noch jeinen eigenen.

Das Dante: Eorncert der Italiener in Wien.

Die koloſſale Büfte, welche am 14. Mai vom Occheſter im Nedoutenjaal auf das Publicum niederblicte, hat wohl zum eritenmale einem &oncerte präfiditt. Es iſt Dante's hagerer, ausdrudsvoller Kopf mit einem friihen Lorbeerfranze über der traditionellen wunderlichen Haube. Der große Dichter und Batriot, deifen fechshundertites Geburtsfeſt Italien, ja Europa feierlich begeht, war Schukpatron und FFeitobject de Concertes, daß die in Wien wohnhaften Italiener zur Feier dieſes Jubiläums veranftaltet hatten. Das Unternehmen, Zeichen eines jchönen PBatriotismus auf fremdem Boden, ver: dient die wärmfte Anerkennung, zumal die lodende Maienzeit wenig Hoffnung auf zahlreichen Beſuch eines Sonntagsconcertes geitattete. Der große Redoutenſaal zeigte ſich indeffen, wenn auch nicht gefüllt, doch anftändig bejudht. Die Akademie war ausſchließlich muſikaliſchen Inhalts nit mit Recht, wie wir glauben, da. zur Verherrlihung eine® Dichters jedenfalld auch dem geiprochenen Wort eine Stelle gebührte. Daß man nur an die Mufif dachte, erklärt ſich zunächſt wohl auß der allgemeinen natürlichen Miffion diejer Kunſt, Pathenftelle bei jeder eine große Gejfammtheit bewegenden Feier zu vertreten, ſodann aus dem günftigen Zufanımentreffen des Feſtes mit der ttalieniichen Operngejelihaft in Wien. Lebtere hat den größten und beiten Theil ihrer Kräfte geftellt.

Mit Ausnahme zweier Compofitionen von Händel und Gounod waren ſämmtliche Nummern von italieniihen Ton— dichtern, zwei davon nahmen unmittelbar Bezug auf Dante

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und feine »Göttlihe Komödier. Nah Cherubini’s geiftvoller »Medea«-Duverture eröffnete Herr Everardi die Reihe der Solovorträge mit Gounod’3 jogenannter »Meditation«e. Der Componiſt jegt darin befanntlih auf Bad’: C-dur-PBräludium eine eigene Melodie für die Violine, mir waren nicht wenig erjtaunt, nun auch noch als drittes Stodwerf über diejen beiden ein Ave Maria für Bariton : aufgebaut zu fehen. Eine glüdlihe Wahl war dies keineswegs, der trefflihe Sänger hätte in irgend einer guten italienifhen Arie feine Vorzüge weit glänzender und eigenthümlicher entfaltet. Es fchien eben, als wollten die Italiener diesmal beſonders feierlihe Mienen zeigen; fie hatten nur Stüde langfamen Tempo’3, pathetijchen düfteren Charakters und theilweiſe Eirchlichen Inhalts gewählt. Dadurh Fam über die ganze Production ein unleugbar mono: toner Anſtrich, etwas Gezwungenes, Schwüled. So dankenswerth auch manche dieſer Gaben erſchien, man fühlte, daß eine weſentliche, glänzende Seite der italieniſchen Muſik und Geſangs— kunſt, wenn nicht gar ihr eigentliches Temperament, gewaltſam zurückgedrängt war. Herr Mongini ſang (etwas zu tief, wie die ganze Saiſon hindurch) die As-dur-Arie aus Roſſini's »Stabat« (cujus animam gementem); eine ſüße, wenngleich wenig kirchliche Melodie, worin leider der Geſang von der vollen Blechharmonie häufig verſchlungen wird. Graziani's edle, liebenswürdige Weichheit ſtimmte wohl zu den ſchmelzen— den Weiſen von Stradella's Kirchenarie. Es folgte »Il sogno« von Mercadante, eine lyriſche Seufzerallee, umwinſelt von kläglichen Cellopaſſagen. Die Herren Röver und Boccolini verſchwendeten vergebliche Mühe daran. Deéſirée Artöt hatte Händel's ſchöne Arie »Lascia ch'io pianga« gewählt. Wer dieſe große Geſangsvirtuoſin noch nicht von Seite ihrer ſeltenen muſikaliſchen Bildung im klaſſiſchen Gebiet kennen gelernt, der fand Gelegenheit dazu in ihrem wahrhaft ſtylvollen, ſchlichten Vortrag dieſes ſchmuckloſen Satzes. Die beiden auf Dante bezüglihen Nummern des Programmes waren »lIgolino« von Donizetti und Pacini's neue »Dante-Symphonie«. Die dichtende und bildende Kunft hat bis auf die neueſte Zeit nicht aufgehört, fi Stoffe und Anregungen aus Dante zu

Das Dante:Concert ber Ztaliener in Wien. 413

holen; für die Muſik jtrömt eine fichtbare Quelle weder in der Perfönlichkeit noch in dem Gedicht des großen Florentiners. Einige Ihmwungvolle, die Macht der Töne preifende Terzinen bezeugen wohl, daß Dante diefem Zauber nicht verfchloffen war, ein näheres fünftlerifche® Verhältniß zur Muſik ſcheint er nicht gehabt zu haben. Verſuchte doch die Tonkunft eben ihre unbe— holfenen erften Schritte, ald die moderne Poeſie bereit3 einen MWunderbau wie die Divina comedia aufgeführt Hatte. Die Tontunft war damals faum in den Beſitz der Notirung, der Menſur, der mothwendigften harmoniſchen Geſetze gelangt; noch waren die Niederländer, die 200 Jahre ſpäter den Contrapunkt und damit wirkliche muſikaliſche Kunſtübung nach Italien ver— pflanzten, nicht hervorgetreten, noch beſtand das ganze Muſik— leben in theoretiſcher Speculation und den ungeregelten Rhap— ſodien der Troubadours. Dritthalb Jahrhunderte liegen zwiſchen der Geburt Dante's und jener Paleſtrina's. Die » Göttliche Comödie« ſelbſt, mit ihrem theils concret=hiftoriichen, theils myſtiſch-ſpeculatien Inhalt, mit den rieſigen Dimenſionen ihres kaum überſehbaren und doch ſo feſt zuſammenhängenden Baues mußte jede Mitwirkung der Muſik eher abwehren als anlocken. Es darf als ein muſikaliſches Curioſum gelten, daß Donizetti die Erzählung Ugolino's aus dem 33. Geſang des »Inferno« für eine Baßſtimme mit Clavierbegleitung componirt hat. Die Compoſition (im Jahre 1835 entſtanden und Lablache gewidmet) wurde hier von Herrn Angelini mit würdevollem Ausdruck vorgetragen. Bedeutend in der Erfindung oder frappant durch glückliche Auffaſſung iſt nicht ein Takt dieſer langwierigen Monodie; aber ſie erhält ſich einfach, an— ſpruchslos, muſikaliſch in feinem Punkt verletzend. Donizetti iſt ſichtlich bemüht, ernſt und gemeſſen zu bleiben, ohne in Geſchraubtheit zu verfallen. Dies iſt ihm in ſeiner Aus— drucksſphäre gelungen, und kein Italiener dürfte es unge— rechtfertigt finden, daß beſagter »Ugolino« in Mailand an der Spike einer »Antologia elassiea musicale« erſchienen iſt. Als Arie des zärtlichen Water oder Gatten in einer Donizetti'ſchen Oper würden wir und dad Stück ganz gut gefallen laſſen. Hält man aber dieje janft abfliegende Mufif an das fchauder-

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volle marferichütternde Nachtſtück, das fie vorftellen Toll, jo muß man über die Naivetät diefes Componiften eritaunen. Ugolino, vom Dichter in dem gräßlichiten Bilde vorgeführt, er— zählt diefem befanntlich die Qualen des erlittenen Hungertodes, wie er im Thurm feine drei Söhne nacheinander Hungers iterben fieht, und endlich erblindet über ihren Leichen herum tappt. Er ſchließt mit einem Fluch gegen feinen einiger Auggiero und die Stadt Piſa. ine jo haarfträubende Tra= gödie ſelbſt die Ericheinung Satans im 34. Gefang iſt minder ſchrecklich muß man anderd componiren, oder viel- mehr man muß fie gar nicht componiren. Die Mufif, die ver: jöhnende Kunſt des Wohllauts, weicht vor der Daritellung der nadten Gräßlichkeit jcheu zurüd. Sie wird zwar im Drama auh das Gräßlihe als vorübergehenden Moment beſchwichti— genden Schritte begleiten, niemals aber es zu jelbititändiger lyriſcher Darftellung heraudgreifen.

Wenn irgend einem italienischen Componijten eine innere Berwandtichaft mit Dante und die Befähigung zugeiproden werden darf, fich diefem Dichter mufifalifch zu nähern, fo ift es deſſen großer Landsmann Cherubini. Cherubini, der muſikaliſche Stolz der Florentiner, wie Dante ihr poetiſcher, hat in feinem ernten, gedanfenjchweren, vornehmen Weſen ein Etwas, das (wie ſchon Schumann einmal bemerkte) an Dante erinnert. Wie Dante der ichmelzenden Süßigfeit der italienifhen Sprache durch lateiniſche Anklänge und Formen eine jo wunderbar herbe Kraft verleiht, jo durchſtrömt Cherubini's Muſik, unbeſchadet ihres echt italienischen Charakters, eine kräftige, eiſenhältige Ader, die nach deutſchen Schachten weiſt. Hätte er es unternommen, Dante mit Har— monien zu feiern, er wäre dem Dichter wenigſtens auf rich: tigem Pfade und als verwandter Geift entgegengetreten. Donizetti und Pacini fommen uns mit ihren Dante-Compofitionen vor, wie fleine halbflügge Schmetterlinge, die über die Peterskuppel feßen wollen. Indeſſen, man braudte eine Feſt-Symphonie oder Gantate fir die Dante-Feier in Stalien und Gerubini ruht längſt auf dem Pere Lachaiſe. Mit Recht wandte ſich das Comité zuerft an Roſſini und mit Recht entichlug fich diefer der Einladung in Erwägung ſeines hohen Alterd. Dann Tehnte

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Mercadante aus gleichem Grunde ab und that wohl daran. Hierauf fragte die Deputation, gleichfall® vergeblich, bei Verdi an; ih weiß nicht, welches Motiv er vorjhüßte, aber jedenfall war es jehr weile. Verdi, der einzige, alio größte aller activen Componiſten Staliens, fühlte jehr wohl, dag man an jeinen Namen Erwartungen fnüpfen würde, denen er in ſolchen Formen und für ſolchen Anlaß nicht gewachien jet. Was er in der That für ein trauriger Gelegenheitsmacher ift, haben wir in London an jeiner Weltausitellungs:Gantate er: fahren. Es blieb fomit nur noch als lette nationale Reputa- tion der greiie Bacini.

Der Satan begab fih in Geſtalt eines Dante-Comités zu dem halbverftorbenen Componijten der »Saflo«, zeigte ihm ringsum ganze Lorbeerwälder von Ruhm und Anerkennung, und der alte Herr, anftatt »Apage Satanas«! zu rufen, wie die Andern, fiel richtig nieder und betete an. Mit unfägliher Mühe muß er die »Große Dante-Symphonie« componirt haben, die in ge= Itochener Partitur niedlichiten Formates vor mir liegt, mich an eine der heiterften Stationen meiner muſikaliſchen Lebens: reife erinnernd. Die Symphonie bejteht aus vier Säßen: die Hölle, daS Fegefeuer, dad Paradies und die triumphirende Rückkehr Dante’3 auf die Erde. »Die Hölle« iſt ein unabſeh— bared Agadio im Sechsachtel-Takt, das die Tempobezeihnung »Largo infernale« und mit föltlicher unbewußter Ironie die Extra-Aufſchrift »Tormenti senza speranza« führt. An einen wirklichen Symphoniejaß, an gegliederte Form und thematiſche Arbeit darf man dabei nicht denken, das Ganze jpinnt fi wie eine wüſte Melodram= oder Zwiſchenakts-Muſik in freiefter Phantafie ab. Ein Thema ift nirgend® zu endeden, nur ein kleines, lumpiges Motiv, an dem der Componiſt herumnagt wie Ugolino an dem Schädel des Erzbiichofs Nuggiero. In das düftere Gerumpel der Bäſſe fahren unabläſſig grelle Biccolopfiffe, Schreie verdammter Seelen, die zu ftarf gezwickt oder gebrannt werden. Dazu gefellt ſich ein wüthendes Kettengerafjel, jehr jinnreich hervorgebradht durch fortwährendes Bearbeiten eines Metall: bedend mit einem großen Holzichlägel. Der Schlägel jpielt Zweiunddreißigftel, ja förmliche Triller auf dem Becken und

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beihämt die blecherne Donnermafhine im erften Akt der »ihönen Helena«. Poſaunen und Ophicleyden, große und feine Trommel, und was jonjt noch die »Hölle« mufifalifch heiß machen fann, treten emfig heizend Hinzu; das Alles ohne eine Spur von mufifaliihen Gedanken, ohne Melodie und Rhyth— mus und ſtets im langiamften »Largo infernale«. Der zweite Sag: »Il Purgatorio«, beginnt mit einer Art Polfa-Mazur. Einen Unterfhied zwiſchen Hölle und Fegefeuer wird es gewiß geben, aber gar jo human Hatten wir und Letzteres doch nicht vorgeftellt. Das ift ja recht tröftlich. Leider ift der Aufenthalt doch nicht ungetrübt, ein barbarifcher Lärm erhebt fi) wieder, die Piccoli fchreien, die Ketten rafjeln und der alte Maeftro fünitelt an Inftrumental-Effecten und Kleinen »purgatoriſchen« Gontrapunften herum, daß es eine Art Hat. Da fällt plöglih das Clavier (bisher unbeichäftigt) mit einem brillanten Solo von Baflagen und Trillerfetten in da erftaunte Orcheſter: wir find im »Paradies«. Selig find die Clavier— Birtuofen, denn ihrer ift das Himmelreih! Ob hier Bacint, prophetiih wie Dante, ſchon die heiligende Tonfur auf dem Haupte Liſzt's, des Clavierfönigd, geahnt Hat? Frage nicht, begeijterter Hörer, gieb den letzten Sparpfenning deines Er— ftaunens nicht aus, es find dir noch größere Dinge befchieden! Zu den Glaviertrillern und Harfen-Arpeggien gefellt fi) ein luſtiges Klingen vieler geftimmter Glöckchen: Dinorah's Ziege leibhaftig im Paradies! Nun geht es an ein alberned Fidel, Blaſen, Trillern, Klingen, Blöden Thon beginnen wir, uns aus diefer namenlos findifchen und langweiligen »Seligfeit« nach dem Fegefeuer zurüdzufehnen, als, erjt leije, Daun immer ftärfer, endlih mit Hufarenmäßiger Gewalt ein Regiments— Triumphmarfch angeblafen fommt. Das iſt »Dante’3 Rückkehr auf die Erde«, der vierte und gottlob letzte Saß einer Sym— phonie, die gewiß Niemand der fie je gehört, vergefjen, noch weniger ein zweitesmal anhören wird.

Es geht mir wirklich nahe, in diefem Tone von einem Werke Sprechen zu müſſen, dad, an die Pietät einer großen Nation zweifach appellivend, den Namen de3 größten italieni- ichen Dichter mit dem eines geachteten mufifalifchen Veteranen

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vereinigt. Aber wenn der Gontrajt zwijchen diejer geift- und gemüthlojen, unmufifaliichen, dabei höchit prätentidjen Kinder: ſymphonie und der großartigen Gedankenwelt Dante's nicht komiſch ift, dann weiß ich nicht, wo noch ſonſt Komifches zu finden wäre. Entjchuldigend für den alten Maeſtro iſt allenfalls die faum überwindlihe Schwierigkeit, eine Riejenichöpfung wie die »Gödttliche Comödie« muſikaliſch nachzubilden. Bei einem Gedenkfeſte obendrein, daß den Dichter jelbit feiern und unferer Verehrung für ihn den höchſten Ausdrud leihen fol, fteigern ih unmwillfürlih die Anforderungen an jeden Künftler, der ſolches aus eigenen Mitteln zu leiſten fich erfühnt. Man ruft zu ſolchen Feiten die Anftrengung aller Künfte und vornehmlich der Mufif auf, ohne zu bedenken, daß nicht jede Nation zu jeder Zeit congeniale jchöpferiihe Naturen befigt, die fich, fei es auch nur in Huldigender Abficht, neben den gefeierten Heros ftellen fönnen. Wir Deutihen können mit den muſikaliſchen Refultaten unjerer Goethe und Sciller-Feier wahrlich aud nicht prahlen: Liſzt's Goethe-Compofition »Mehr Licht«, Meyerbeer’3 Sciller-Gantate und Aehnliches waren todt— geborene Kinder. Aber mit einer jo ungöttlihen Comödie wie Pacini's Dante- Symphonie hätte fi doch in Deutfchland der legte Cantor nicht dürfen ſehen laſſen. In Stalien wird die berrichende Feltitimmung ohne Zweifel auch Donizetti's »ligolino« und Pacini's »Symphonie« zur Höhe von claſ— jiihen Meifterwerfen hinaufjubeln. Falls aber (wie PBacini ans nimmt) Dante perfönlich zu dem Feite kommt, jo dürfte er jeine mufifaliihen Iluftratoren faum ander vereiwigen, als durch einige nachträglihe Verje zum »Inferno«.

Muſikaliſche Leiden.

(Leierfäften. Muſikaliſche Jungfrauen). Wir hätten feine Muſik im Sommer? Welche Täufhung! Allerdings feine Mufit, über die man jchreiben muß, feine »Afrifanerin« oder »Iſolde«, aber Muſik, die man hören muß, man mag mollen

oder nicht. Sie wuchert im Sommer, wie giftige Unfraut in Hanslick. Aus dem Concertfaal. 2. Aufl. 27

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Siüdamerifa. O Leierkaſten! Ihr priviligirten Peiniger des menſchlichen Gehörs, ihr geieglich befugten Quäler aller Ruhe: bedürftigen und Kranken, Aller, die da ftudiren und geiftig arbeiten wie lange noch werdet ihr und vom Morgen bis zur Nacht mißhandeln dürfen? Zehn Jahre find es, feit wir, und Andere vor uns, das letzte Mal mit Spott und bitterem Ernſt gegen dieje, einer Reſidenzſtadt ſo unwürdige Stadtplage loszogen. Wir thaten es ziemlich hoffnungslos, denn, wie vor: herzuſehen, wehrten ſich die Ritter jedes duch Alter »ehr- würdige gewordenen Scandals für ihre lieben Drehorgeln, und ereiferten jich unjere Humanitätöbolde gegen die Abftellung einer Ohrenqual, welche mwenigitens zehn bis zwölf Familien zugleich peinigt, aber vier bis fünf Köchinnen amüſirt. Daß unjere lange zurückgedrängten Seufzer jeßt wieder Luft befommen, daran ift niemand Anderer Schuld, als der Statthalter von Böhmen. Diejer einficht3volle Menjchenfreund (»ein zweiter Daniel« !) ſoll nämlich bejchloffen haben, die Zahl der orgeln- den Gehörsmdrder in Prag zu vermindern und mit Schonung der beftehenden »Rechte« feine weiteren zu ertheilen. So fol diejes mittelalterliche Inititut allmälig einfrieren. . Böhmen, du Gonfervatorium von Europa, möge dein Beilpiel fruchtbar jein! Das Land, welches unjere Muſik und unjere Muſikantenſchaar jeit jeher jo reichlid vermehrte, würde fi um uns kaum weniger verdient machen, gübe es diesmal das Signal zur Verminderung unjerer muſikaliſchen Zwangsgenüſſe. Ich weiß nicht, ob die Quantität unjerer Wiener Drehorgeln ſich von Jahr zu Jahr vermehrt, ihre Qualität aber wird immer gefährlicher. Was waren jene ehemaligen Eleinen Flötenwerke, jene tragbaren Borrathöfältchen alter Lanner'ſcher Walzer gegen die jegigen mauererichütternden Drehkoloſſe, die auf vier Rädern in Begleitung eines Directord und mehrerer Regifjeure ihren nufitaliihen Großhandel treiben! Die vormärzlichen Leierkäften verhielten fih zu den »vervollkommten« von heute wie Stuben fliegen zu giftigen Scorpionen. Ein erjchütterndes Klagegeichrei dringt plöglih wie ein Schwert in mein Ohr. Es iſt der Sturm aus der Wilhelm:-Tell-Ouverture, den ein fehr »ver— volltommter« Leierfaften mit riefigem vollem Werk und ſechs

Muſikaliſche Leiden. 419

Trompeten im Leib vor meinem Fenſter andreht. Ich eile, das Fenfter zu fchließen zweimal täglich ericheint dieje muſi— kaliſche Guillotine mit ihrem Tell-Sturm, ihrer Don-Juan— Duperture, ihrem Tannhäuſer-Marſch! Ich kenne das wüſte, alte Weib, dad mit gleichgiltiger Bulldoggmiene fortorgelt, während der »Director«, rechts und links die Kappe ziehend, nah allen Fenitern hinauf begehrende Büdlinge fchneidet ! Wenn, wie zu erwarten Steht, die Vervollkommnung dieſer Torturmwerkzeuge jo weit gediehen fein wird, daß fie und das Mozart'ſche Requiem und Beethoven’3 C-moll-Symphonie in’ Haus bringen, dann wird jeder Menſch von einigem Gehör und Ehrgefühl auswandern müfjen.

Wil und kann man die Leierfäften nicht geradezu aufheben, jo möge man fie menigitend® in ber inneren Stadt verbieten. Hier bringt e8 die Enge der Straßen mit fih, daß man immer mehrere Drehorgeln, ein halb Dutzend Glaviere und verjchiedene Gejangsübungen zugleich hört. Es iſt thatfählich To weit gefommen, daß man in der in neren Stadt den Frühling und Sommer bei fejtverichlofjenen Fenftern zubringen muß. Leierfäften jollten im engeren Sinne des Wortes eine Landplage fein. Wie auf flahenm Lande dad Haufiren überhaupt einen Sim Hat, fo auch das Haufiren mit Muſik. Dorfbewohnern, die nur des Sonntags Mufit hören, mag 83 willkommen fein, wenn eine ver: ftimmte Pfeifenlade ihnen den feltenen Genuß einiger Opern- oder Walzermelodien in’3 Haus bringt. Da jubeln die Kinder, da tanzen die Mägde, und ich weiß nichts Wichtiges, was da- duch geftört würde. Ander® im Innern einer Refidenzitadt. Hier quillt ohnehin von Früh bis in die ſpäte Naht Mufit aus allen Thüren, allen Fenitern. Aus jeder Sneipe, jedem öffentlichen Garten ertönt Abends Geſang und Mufik, treffliche Militärbanden durchziehen die Stadt, die häuslihe Muſik— Conſumtion ift ins Ungeheuerlihe angewadhien. Und nun pris vilegirt man noch eine Unzahl ohrenmörderiicher Drehorgeln, die nach Belieben zu zweien und dreien ſich in einer engen Straße aufpflanzen und Hunderte von ruhig arbeitenden Menſchen— findern peinigen dürfen! Das Ginzige, was gegen den allge:

27*

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meinen Wunſch nad Abſtellung diefer Salamität immer wieder eingewendet wird, ift, daß diefe Mufifhaufirer ja Ermwerb- fteuer zahlen. Defto ſchlimmer. Bettler fertigt man mit einem Almofen ab, oder nimmt feine Notiz von ihnen, fall® man nicht will. Wer kann aber von dem aufdringenden Thun der »pervollfommten« Leiermänner feine Notiz nehmen? Das find bewaffnete Bettler. Würde man Leute gegen Erlag einer Er: merbfteuer etwa berechtigen, Jeden, der ihnen begegnet, zu figeln oder zu zwiden? Ich finde feinen erheblichen Unterjchied zwijchen diefem und dem wirklichen PBrivilegium der Leierzunft, einer ganzen NRefidenzbevölferung das (ohnehin fo lärm— gequälte) Gehör vollends zermartern zu Dürfen.

Schreiber diejer Zeilen wohnt in einer Straße der inneren Stadt, welche als eine »ruhige und angenehme« gerühmt wird. Wohl wäre fie ruhig und angenehm, hätte nicht der Muſik— dämon fie zu einem jeiner beliebteiten Stationspläße erforen. Bon den Leierfälten will ich nicht mehr reden, die fich Hier regelmäßig ablöfen, oder auch gleichzeitig auf geringe Diltanz »werfeln«, der eine die Wilhelm-Tell-Dupverture mit Trompeten: Negifter, der andere den »Trovatore« mit fortwährendem »Tremolo«e, auch einer neuen, jauberen »Berbolllommung«. Bor ihnen ift feine Rettung, fie haben fein Gefühl! Aber mit den nicht jteuerpflichtigen, vornehmeren MWerfelmännern im eriten und zweiten Stod meiner unglüdlihen Gaffe möchte ih noch ein bejcheidened, freundnachbarliches Wort ſprechen. Eigentlich find es Werfelfräulein, mufttaliihe Satanella®, ohne Zweifel jung und hübſch, überaus gebildet, aber von fehr weiten mufifaliichen Gewiſſen, liberalftem Gehör und ftet ver- ftimmten Clavier. Während die Fräulein mir gegenüber den ganzen lieben Tag ale Offenbach'ſchen Operetten, Beethoven's »Sonate pathötique«, Strauß’ihe Walzer, den Bacio und Die Zampa-Duverture nacheinander abthun, biutet über ihnen ein junges Opfer mufifaliicher Dreifur unter langjamen Ton: leitern und Uebungen. Rechts von mir begrüßt ein Fräulein mit (leider audgiebiger) Sopranftimme den anbrechenden Morgen mit italieniichen Arien auß »Lucia« und »Lucrezia«. Es ſcheint ihr Appetit zum Frühſtück zu madhen, und Donizetti iſt ja

Muſikaliſche Leiden. 4921 ohnehin ſchon todt. Einige Häufer weiter wird dad Familien: fouper regelmäßig durch vierhändiges Abſchlachten von Ouver— turen eingeleitet. Iſt gerade Mondichein, jo ftöhnt auch eine Physharmonifa ihren Weltſchmerz in dies liebliche Enjemble. Da3 märe nun Alles recht und gut bei gejchlofjenen Fenitern. Aber warum kommt folchen gebildeten und kunſt— finnigen Gemüthern niemal®, gar niemal® der Gedanke, es fönnten dieſe außerordentlichen Mufifproductionen andern Leuten in der Straße doch vielleicht nicht erwünſcht fein? Liegt nicht in dieſem unaufhörlihen Muficiren bei offenen Fen— ftern auch eine Art Barbarei, ähnlich jener der Drehorgel- männer? Muſikaliſches Fauftreht im erften Stod oder vor dem Hausthor. Iſt die Nächftenliebe nicht ftarf genug, die Fenſter zu Schließen, fo follte e8 doch die Eitelkeit fein. Denn was fol man von der muſikaliſchen Empfindung und Bildung eines Pianiften halten, der bei offenem Fenfter im eriten Stod ein Adagio in C-moll fpielt, während unten eine Drehorgel von 20 Pferdefraft ihn mit einem H-moll Cſardas übertönt und vis-A-vis aus gleihfall3 weit geöffnetem Fenſter eine fräftige Sängerin ihr Verlangen nad) einem »Bacio« in Des-dur pro= clamirt! Meine mwerthen Fräulein, bedenken fie doch!

Am verfloffenen Samftag Abend es war obendrein ein prachtooller, warmer Abend hörte ih ausnahmsweiſe feinen Ton in meiner Gaſſe. Das kam daher, weil ich mich im »Volfögarten« befand, vergnüglich pojtirt vor dem Strauß: fhen Orchefter. Allein auch die neuen Walzer von Johann Strauß vermodten mid für die außgeitandenen Plagen nicht wie fonft zu entihädigen; es fehlte ihnen der alte Melodien: duft von ehemald. Gereizt wie ich war, verfiel ich auf ein neues mufithiftorifches Apereu: Strauß Sohn hat fi offen- bar einen Act großartiger Hiftorifcher Vergeltung zum Ziele geſetzt. Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die Orcheiter- muſik durch ſyſtematiſche Verflahung des Haydn'ſchen Styles populär gemacht wurde, gingen die Herren Pleyel, Wra— nigfy, Hoffmeifter, Gyrowetz und Rojetti, alſo die von Niehl »vergötterten« Philifter jo weit, die fidelften Ländler zu Motiven ihrer Symphonien uud Duartette zu machen. Sohann

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Strauß fcheint diefe Schmad feiner Wiener Vorfahrer durch Compenſation tilgen zu wollen und jchmüdt feine Walzer mit Motiven, deren Ehrenplag von rechtöwegen bie Symphonien neuejter Schule wären. Deßhalb contrapunktirt, fich ſelbſtver— leugnend, unfer Walzerkönig; deßhalb (um im Style der per- ſiſchen »Bapageienmärdhen« zu jprechen) ftreiht er mit Dem Bogen der Gelehrfamfeit die Saiten der Schwermuth. Ein Feuilletonift äußerte jüngft: Strauß fcheine feine neueſten Walzer mehr für den Mufenhof zu Weimar, als für Wien berechnet zu haben. In der That bemerkte auh ih in Strauß’ Nopvitäten jenen jcharf pridelnden Duft, den das Wildpret auzftrömt, wenn es nach Vergangenheit, und die Muſik, wenn fie nah Zukunft riecht. Diejenigen feiner Walzer, welche ohne hervoritehende Originalität wenigſtens friſch und natürlich fingen, find noch immer weit befjfere Tanzmufif, al3 jene ge— jpreizten Themen, deren eudloje Perioden fi mit der geſuch— teſten Harmonifirung verbinden, um Ohren und Füße in 2er- wirrung zu bringen. So ift der Anfang der neueſten Walzer: partie: »Die Ertravaganten« zwar eine altitraußifche Re— miniscenz, aber dur ihren glänzenden Schwung das Beſte aus dem ganzen Heft. Sogleich folgt aber ein Langgeftredter, diatoniſch auffteigender Cantus firmus und andere gelehrte Seltenheiten, welche mit Romeo lächelnd zu fagen fcheinen: »Wir meinen’ gut, da wir zum Balle gehen, doc ift es Unveritand«,

1866. ÖOrchefter-Eorcerte. .

Das Sröffnungsftüf der Philharmoniker, Spohr's Duverture zum »Berggeiit«, wurde ſehr fühl aufgenommen. Eine große fünftleriihe Bedeutung des Werkes fünnen mir allerdings nicht diefer Aufnahme anflagend entgegenhalten, doch hat dasjelbe ftet3 anziehend und harmoniſch auf und gemirft. Gewiß wäre dad gänzlihe Verſchwinden Spohr’iher Muſik aus den Goncerten als ein Verluft und Unrecht zu beklagen. Für unfer Theil wenigſtens befennen wir, daß wir gerade jeit dem Seltenwerden Spohr'ſcher Mufif uns jedesmal an genehm berührt fühlen, wenn diefe Entfremdung von Zeit zu Beit durch eine Gompofition feiner beileren Periode (vor 1846) unterbroden wird. Spohr ift nicht nur ein tüchtiger Meifter, ſondern eine wahrhaft liebenswürdige und eigentHümliche Individualität, freilich auch eine einfeitige, fich gern mwiederholende, weßhalb denn auch amı beiten genießt, wer fie mäßig genießt. Kaum zwei Decennien ift’3 her, daß man vor einem allzu eifrigen Spohr-Cultus warnen mußte, und jet bedarf es jchon einiger Anftrengung, um die Werke des Meifter vor dem Schidjale gänzlihen Vergeſſens zu retten! Frau Marie Wilt jang mit entjchiedenem Erfolg die Arie mit Chor aus Mendelsſohn's unvollendeter Oper »Loreley«. Letzteres Stüd, zulekt im Jahre 1855 von Fräulein Tietjens hier gelungen, erjchien einem großen Theil des Pu— blicums als Novität. Bei aller Bewunderung techniicher Vor— züge konnten wir und doch für dieſe »Loreley« niemals erwär—

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men. Dad Stüd ijt glänzend im Sinne des Beltechenden ; jeinem unleugbaren äußeren Effect Tiegt fein entiprechender jubitanzieller Gehalt zu Grunde. Speciell vom muſikaliſchen Standpunkt erfcheint die technifhe Meiſterſchaft in der über: fihtlihen Anordnung des Ganzen, wie in der glänzenden Darftellung alles Cinzelnen bewundernswerth, während Die eigentliche mufifaliihe Kerngeftalt, die melodifhe Erfindung, bon geringer Bedentung ift. Dramatifch angejehen, dünft uns das Phantaſtiſche allzufehr den Ausdrud des Gefühle zu überragen; die Leidenschaft mehr angeflogen, al® aus der Tiefe hervorbredend. Das märdenhafte Clement jteht hier gegen das menſchliche im entichiedenften Wortheil; neben den fühlen, aber blendenden Niren:Chören tönt die Klage des Mädchens nicht warm und tief genug. Man vergefje nicht, daß diefer Aufruf der MWaffergeilter den Höhepnnft in Leonorens Herzend-Tragödie bildet; das Aeußerſte ift an ihr gefrevelt worden, »der Menjchheit ganzer Sammer faßt fie an«. Dafür fehlen der Mendelsjohn’ihen Compofition die entſprechenden Töne. Die beiden wichtigften und für den Componijten ver- pflichtendften Stellen in Leonorens Klage waren vielleicht Die Verſe: »Für meine Liebe hat er mich zertreten; weil ich ihm Alles gab, däucht' ih ihm nichts« dann der Auöruf: Nimm Hin zum Pfande, nimm Hin den Brautring!« Im Mendelsſohn's Compofition Hingen fie conventionell und ge= macht; Worte wie diefe mußten wie heiße Thränen in Die fühle Fluth fallen. Auch die beiden größeren Geſangsſätze Leonorend, dad Andante in Fis-moll und dad Schluß-Allegro in E-dur: »Es jeil« athmen mehr rhetoriiches Pathos als wahre Leidenihaft. Das Beſte bleibt jedenfalls der einleitende Chor der Wafjergeifter: von anmuthigem Scaufeln fortjchrei- tend bis zu wogendem Gebrauje, dad ganze Bild übergofien mit den effectvolliten Farben des Orcheſters.

Bekanntlih hat Mendelsfohn von dem ganzen Gei- bel’ichen Libretto »Loreley« nur dieſe eine Scene vollendet. Es macht einen tragischen Eindrud, den Tondichter fein ganzes ruhmvolles Leben hindurh raſtlos und fruchtlos nad) einer Dper ringen zu jehen. Bon feinen dramatiichen Jugendarbeiten:

Mendelsiohn's »Lorelehe. 425

»Cammacho« und »Heimkehr aus der Fremde« hat die erftere im Theater gar fein Aſyl, die letztere nur ein fehr flüchtiges gefunden. Seitdem hatte Mendelsfohn nie aufgehört, nad einem würdigen Operngediht zu ftreben und darüber mit PBoeten wie Immermann, E. Devrient, Geibel u. A. auf's eifrigfte zu unterhandeln. Durch Zufall ftießen wir kürzlich auf einen neuen, noch nicht befannt gewordenen Beitrag zu dieſem Tantalus:Capitel in Mendelsſohn's Leben. ES ift ein eigen- händiger Brief Mendelsſohn's an den Dichter Bauernfeld, den er gleihfalld um einen DOperntert angegangen hatte. Das Schreiben (datirt Berlin, am 10 Juli 1838) bezieht fih auf ein nicht näher bezeichnetes Libretto, das ihm Bauernfeld zu: geihict, ohne den Componiften damit befriedigen zu können. »Ich wünſchte mir«, fchreibt Mendelsjohn, »zum Anfang feine Zauber-Oper, oder vielmehr, ich traue mir in dieſem Fade nicht genug Talent zu, während ich im rein ernften oder rein heiteren Styl mit mehr Zuverficht arbeiten würde. Schwebt Ihnen nun ein erniter, hiſtoriſcher oder ein intriguanter oder ganz heiterer menſchlicher Stoff vor, jo bitte ich, theilen Sie ihn mir mite. Das Bauernfeld’ihe Libretto hieß, wie und der Dichter freundlichit mittheilt: »Der Geijt der Liebe«, und war eine richtige Zauber-Dper in phantaftiicheorientalifchem Goftüme, mit Niren, Feen und Dämonen. 3 ijt bemerfend- werth, daß Mendelsjohn in jeinem Briefe an Bauernfeld (fowie einmal fpäter gegen Otto Prectler) gerade Die phantaftifch-märcdhenhaften Stoffe ablehnt, für welche ihn die allgemeine Stimme auf Grund feine herrliden » Sommer: nachtstraum« vorzüglich befähigt und eingenommen glaubte. Sm Grunde mag ihn weniger ein Mißtrauen in fein Talent, als die richtige Weberzeugung geleitet haben, daß die Zeit der Niren- und Elfendramen vorüber jei. War doch eben unter Anderem der früher erwähnte Spohr’iche »Berggeiit« mit feinen großen mufifaliihen Schönheiten an einem findijchen Geiftertert gefcheitert*). Und fiehe da, am Ende fpielt die jelt-

*) Spohr’3 »Berggeiſt« ift eine Art verdoppelter »Hans Heilige, indem nicht blos der regierende Berggeift, ſondern zugleid)

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ſame Sronie des Schidjal® Mendelsſohn doch wieder eine Niren:Oper, die »Loreley«, in die Hände. Müde des Suchens und Harrens, verjöhnt er fih damit, entjchließt fih zur Come pofition, beginnt dieſe gerade bei der Nirenjcene und ftirbt darüber.

Raff's C-dur-Suite, op. 102, beiteht aus fünf Süßen. Der erſte bringt eine breite, pompöfe »Introduction« und darauf eine jehr trodene Fuge mit äußerft phyfiognomielofem Thema und unruhiger Durchführung. Es folgt ein »Menuett«, unbe- deutend. in den Themen, aber von graziöjer Haltung und fehr pifanten Detaild. Achnliches läßt fi von den beiden folgenden Süßen, den beiten der Suite, jagen, einem gejangvollen »Ada— . gietto«e und einem recht niedlichen, elfenartig plauternden »Scherzo«e. Der gegen das Frühere wieder abfallende Schluß: jag ijt ein ⸗Marſch« von nicht origineller Erfindung, aber jebr effectvoller Mache. Unter den Orcheſterwerken der neudentichen Schule uud unter den Raff'ſchen jpeciell nimmt die Suite eine beachtenöwerthe Stelle ein. Gegen die »Preis:Symphonie« desjelben Componiften gehalten, erſcheint und die »Suite« als erfreulicher Fortichritt, fie verzichtet auf die ermübdende Länge und Ueberfüllung, wie auf allzu ftarfe Harmonische und rhythmiſche Torturen. Naff hat in dieſer Suite fich größerer Klarheit und Einfachheit befliffen, alſo einen Weg eingeichlagen, zu welchem wir dem begabten Componiſten nur gratuliren fönnen. Das Werk hat und auf das anregendfte beichäftigt, Durch viele Schöne Einzelheiten erfreut nnd überrafcht; einen be— ftimmten, ſtarken und nachhaltigen Eindrud haben wir aber nicht mit fortgenommen. Es ift das ein Charafterzug dieſer ganzen modernen Schule, deren Princip wir »Emancipation des Detaild« nennen möchten. Sie bringt es über die geiftige Anregung und dad momentane Gefallen nicht hinaus biß zur vollen, nachhaltigen Befriedigung. Es fehlt ihrer Muſik bei allen Glanz und Ejprit an jener Nothiwendigkeit und überzeu:

auch fein Kammerdiener »Droll« ſich nad) irdifcher Liebe fehnt. Wir jehen ſie jelbander zur Erde auffteigen, dafelbit ſchreckliches Unheil anrichten und fchließlih, mit irdischen Körben beglückt, jich wieder in ihre geologische Reihsanftalt zurückziehen.

Suite von Eifer. Liederkreis bon Beethoven. 427

genden logiſchen Gewalt, weldhe die Tondichtungen der Glaf- fifer, bejonder8 Beethoven’3, auszeichnet. Wir haben nicht ein natürliches Werden und Wachſen der Ideen vor und, jondern ein mufifaliiches Machen. Immerhin haben wir, wie gejagt, an Raff's »Suite« eine anziehende neue Bekanntſchaft getvonnen.

Eine noch anziehendere an Eſſer's zweiter Orcheſter— Suite in A-moll, welche fih bei der Aufführung einer glän— zenden Aufnahme erfreute. Die Hand des Meifterd verläugnet jih darin in feinem Tal. E3 dürfte Heutzutage jehr wenig Componiften geben, welde die Kunft, polyphon zu fchreiben, mit jolcher Leichtigkeit, Correctheit und Eleganz handhaben, wie Ejjer. Tritt diefe Kunſt ehernen Scrittes, voll Kraft und Nahdrud im erften Satze auf (wohl dem bebeutenditen des Werkes), jo leidet ſie fich in den beiden folgenden in das anmuthigite, fließendite Gewand. Diefe mittleren Süße, ein in den mannigfachſten, reizendften Klangfarben jchillerndes Alle gretto und ein äußerft interejfant (mitunter etwas concertmäßig) bariirted® Andante wirfen mit unmittelbarem Reiz auf das große Publicum, während fie gleichzeitig dem Mufifer von Fach zu hören und zu denken geben. Das Finale, ein brillantes Allegro, ſchien ung gegen die früheren Säte abzufallen, fein Teuer ilt jedenfall® etwas Außerlicher Natur und die Inſtru— mentirung mitunter jtärfer als die Gedanken. Es ift eine überrafchend neue Seite, die Eſſer mit feinen zwei Orcheſter— Suiten jo plößlich hervorgefehrt hat, er, der biß jet faft nur durh eine große Zahl von Liedern befannt war, die "zum großen Theil anmuthig und dankbar, zum Theil aber aud ziemlich unbedeutend und phyfiognomielos find. Wir gratuliren dem trefflihen, als Künſtler wie als Menich gleich ver: ehrungsmwirdigen Mann bon ganzem Herzen zu dieſem neuen Aufſchwung.

Für die Vorführung von Beethoven's Liederkreis »an die entfernte Geliebte« fonnte man Herrn Dr. Gunz und Herrn Gapellmeifter Deſſoſf nur dankbar jein. Das Werk gilt für den Höhenpunft von Beethoven's Lieder-Compofition und wurde jei zwanzig Jahren (wo Erl, von Liſzt accome pagnirt, e8 vortrug) bier nicht gehört; Beethoven, in allen

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andern Runftformen feiner Zeit repolutionär vorauseilend, ver: hielt fi gerade im Liede ſehr confervativ, mitunter reactionär. Wir glauben oft Haydn und Mozart, ja Gyrowetz, Weigl und Winter zu vernehmen. Etwas lnfreies, Bürgerliches, mitunter ſogar Triviales ftedt in der Mehrzahl der Beethoven: chen Lieder. Bald an das ältejte, einfachſte Strophenlied an- lehnend, bald in italienifirende Opern-Gadenzen verfallend, ift Beethoven im Lied fat niemald ganz Er felbft. Nur einzelne Hccordfolgen, Rhythmen, Melodientheilchen verrathen ihn. Das Lied ift die einzige Kunftform, die erſt nach Beethoven einen ungeahnten Aufſchwung nahm. Schubert war es vorbehalten, unvergänglide Zaubergärten auf einem Gebiete zu pflanzen, über welches Beethoven faum feinen Schatten geworfen. Bon allen Liedern Beethoven's ift feinem Wolfe nur Eines ans Herz gewachlen: die »Adelaide«, die der Meilter verbreunen wollte. Beethoven's Zeitgenofien haben mit richtigem Inftinct diefe ſüßeſte, zärtlichite Melodie, zu der ihn jemals ein Ges dicht begeiftert hatte, unter ihren Schu genommen und mit einer beifpiellojen Popularität befränzt. »Adelaide« ift wohl dad einzige Lied von Beethoven, deſſen Verluft eine Lücke in dem Gemüthsleben unjerer Nation zurüdlaffen würde.

Der zweite Weihnachts-Feiertag brachte diesmal wie all- jährlih ein »Philharmonifches Concert«. Muſikaliſche Pſycho— logen oder Vhyfiologen mögen nad den Gründen forfchen, warum unfer font jo elaftiiches Concert-Publicum jedesmal an diefem Tage ganz eigenthümlih müde und zerftreut erjcheint. Die Thatſache felbit fteht uns feſt. Insbeſondere für Novitäten it der Stephandtag ein dies nefastus; Hiller’3 E-moll-Sym: phonie mußte die geftern erfahren. Wir glauben keineswegs, daß die Gompofition zu anderer Zeit ein enthufiaftiihes Publi— cum gefunden hätte; ein etwas theilnehmendere® aber hatten wir doc gehofft. Ferdinand Hiller fol nun einmal in Wien fein Glüd haben. Werke feiner Compofition, welche im übrigen Deutichland ſchöne und bleibende Erfolge errangen, gingen hier ſpurlos vorüber. Einen wirklichen Succeß hatte in Wien nur jein allerfleinfte® Stüd, da8 von Clara Schumann eingeführte Clavier-Impromptu: »Zur Guitarree. Für Hiller ift in Wien

Symphonien von Hiller und Neinede. 429

der rechte Zeitpunkt verpaßt worden; wir meinen die Periode de3 leidenjchaftlichen Mtendelsfohn-Eultus. Das verwandte, wenn auch ſchwächere Aroma der Hiller’ichen Mufit wäre damals auf geeignetere Sinne geitoßen. Daß Hiller’3 Mufif fein Trunk bon der Duelle iſt, da ſpürt Freund wie Feind ſchon am eriten Schlud. Der höher liegende Quell, der Hiller’3 Talent durch verborgene Ganäle jpeift, it Mendelsjohn Nun will und ſeit einiger Zeit dieje Quelle ſelbſt nicht mehr ſo friſch und jtärfend Dünfen, wie vordem eine Wandlung, welche mit verdoppelter Schwere die abgeleiteten Talente, wie Hiller, Gade, Benett, Reinede, trifft. Mit kühler Anerkennung ſalu— tirt man jet Productionen und Eigenichaften dieſer Künitler. welche man vor 15 bis 20 Jahren ſympathiſch empfunden hätte.

Das Wiener Bublicum hat von Natur, und ununterbrochen beeinflußt von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, einen entjchiedenen Zug zum Urfprünglichen, Erfinderifchen, namentlich zum Melodiih-Driginellen in der Mufif, ein Zug, den man nur beglückwünſchen kann, und der fih in hohen wie niedrigeren Kunftregionen (3. B. in der Vorliebe für die italienifche Oper) übereinjtimmend ausſpricht. Diefe Richtung trifft offenbar das Wahre, denn die jchöpferifche, originelle Kraft ift umd bleibt dad Erite in der Mufit; das Talent wiegt ſchwerer als die ge— bildete Technik. Demungeachtet darf man es bedauern, daß mit- unter Compofitionen bon geiftreicher, vornehmer Individualität und feinfter Durhbildung in Wien nit die Anerkennung fanden, welche ihnen anderwärt3 in Deutichland gezollt wurde, und die fie vom fünftlerifchen Standpunkte vollauf verdienen. Die Zahl der muſikaliſchen Original-Genies ift eine fehr Kleine, und wenn man conjequent die Arbeiten der feinen Bildung als ungenügend ablehnt, wird dem Goncert:Repertoire bald der nothiwendigfte Zufluß fehlen. Am ftrengiten verhält fich unfer Publicum gegen Nopvitäten ſymphoniſcher Gattung. Daß dabet unmwilltirlih immer an Beethoven gedacht wird, das ift unfer und der Componiſten Unglüd. Beethoven verdirbt jeder mo: dernen Symphonie dad Spiel, er hat factifh »alle Neun« gemadt. Ob wir wohl daran thun, diefen höchſten Maßſtab an alle Broductionen unferer Epigonenzeit zu legen, Icheint ung

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jehr zweifelhaft. Es gibt wie in der jchönen Literatur jo auch in der Mufif neben den großen genialen Dichtern eine andere zahlreihere Gruppe, welche wir als die der angenehmen, liebens— würdigen Erzähler bezeihnen möchten. Es find Talente von geringer Naturfraft, aber feiner Bildung, die von oben herab zu behandeln das hörende Publicum noch weniger Urſache bat, als das viel reicher bedachte Iejende. Und doch ift letz— tereö ungleich toleranter und dankbarer. In der Mufik finden wir heutzutage Publicum und Kritif erſtaunlich ftreng geworben. Gritered bat das volle Recht, nur feinem unmittelbaren Impuls zu folgen. Die Kritik hingegen, jo meinen wir, follte zweierlei nicht vergefjen. Einmal, daß man überhaupt fih hüten muß, die künſtleriſche Production Igitematifch zu entmuthigen. Sodann, daß gerade im Fach der reinen Inſtrumental-Muſik wir aus— ihließlih auf Deutichland verwiejen find. Während uniere Dpernbühnen einen wejentlihen Succurd aus Franfreih und Stalien beiigen und an einem zeitweiligen Schmollen der deutichen Opern-&omponilten nicht zu Grunde geben werden, ruht die gefammte Production iymphoniiher Muſik in den Händen einiger weniger deutiher Tondichter. Gemwöhnt man fih, Lestere einfach an dem Feljen Beethoven zu zerfchellen und für Nopvitäten wie mande der jüngit gehörten nur Worte der äußerſten Geringihäßung zu haben, jo raubt man gleich: zeitig bis nicht ein zweiter Beethoven ericheint dem Publicum die Möglichkeit, Neues zu hören, und den Künft- lern die Luft, Neues zu Schaffen.

Hiller’3 Symphonie (op. 67) trägt den Geibel’ichen Refrain: »Es muß doch Frühling werden!« ald Motto. Der poetifhe Kriegöplan des Ganzen, das allmälige Durdringen aus Froſt und Winterftürmen zu fröhlihem Sonnenſchein, zu Veilchen und Lerchen liegt in diefen Worten vorgezeichnet. Mit feinem und conjequentem Sinn hat ihn der Componiſt durch— geführt; jchade nur, daß er nah langem Wintermarih uns ſchließlich doch einen echt deutfchen Frühling bejcheert, dem man ohne Regenschirm und Ueberrock feinen Augenblid traut. Der erſte Sat, ein jtürmifches Allegro in E-moll, das ſchon durch den Stoff an die Einleitung zu Mendelsſohn's »Malpurgis:

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nachts erinnern muß, hat Spannung und energiihen Fluß, geiltreiche thematifche Verwendung aller Motive und Motivchen, ift aber etwa3 lang ausgeſponnen. Die beiden mittleren Sätze find Die gelungenften: ein zartes, fingendes Adagio (C-dur, ?/,) mit reizend außflingendem Schluß und ein lebhaft pridelndes Scherzo in fchnellem Zweivierteltaft, dad in Motiven und In— ftrumentirung allerdingd ftarf an Mendelsſohn's »Sommer:- nachtstraum« mahnt. »Befreit vom Eis find Strom und Bäche« nun möchten wir im legten Sa den Frühling ungeltört mit voller Freudigfeit genießen. Aber das Finale (E-dur, ?/,) bringt es nicht zur vollen Blüthe, es will eben noch immer »Frühling werden«. Falt Alles hing bier von einem glück— lichem Thema ab, und daß gerade für den Finaljag Hiller fein frifcheres und bedeutenderes fand, wird verhängnißvoll für den Totaleindrud der ganzen Symphonie. Mußte Hiller’3 Sym: phonie fich mit einem Succès d’estime bejcheiden (nur Adagio und Scherzo janden lebhafteren Anklang), jo fünnen wir troß- dem die Mahl des Stüdes von Seiten der Philharmoniſchen Gejellihaft nicht anfechten. Ein Mann von dem Namen umd Verdienſte Hiller’3 hat den gegründetiten Anfpruch auf Be— achtung. Hiller ift als Mufifer wie als Schriftiteller und Dirigent eine Zierde feines Vaterlandes, und wer jemals feinen anregenden Umgang genoß, der wird auch die lebhafteiten Sympathien für den trefflichen, liebenswürdigen Menſchen gern befennen.

Eine Symphonie von Karl Reinede (A-dur, op. 79) fand bier freundliche, aber keineswegs begeilterte Aufnahme. Die Aufführung konnte feiner und eleganter kaum gedacht werden; daß der Beifall feinen höheren Temperaturgrad erreichte, war fomit mur in dem Charakter des Werkes jelbit begründet. Reinecke's Phantafie reißt und nicht im Flug nach unbefannten Regionen empor, fie führt uns an fanfter Hand durch heimifche Fluren und Thäler. Nicht von genialer Gigenart oder Ueppig— feit, iſt Reinecke's Talent doch beachtenswerth. In unjerer Zeit der falfchen Genies (die im Gegenjaß zu den Pierres de Strass von den echten jehr Leicht zu unterfcheiden find), haben wir allen Grund, ſchon die negativen Vorzüge des Componiſten

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hochzuſchätzen: ſeine Scheu vor allem Häßlichen und IUnwahren, vor jeder Rohheit und Affection. Auf diefem Boden erblühen bei Reinecke als pofitive Tugenden: anmuthigsmelodiöfer Ge— ang, feinfte Empfindung für Ebenmaß in Form und Stim- mung, und geichmadvolle Beherrihung aller Inſtrumental— mittel. Wir finden diefe Eigenichaften Reinecke's auch in jeiner neuen Symphonie wieder. Alle vier Sätze haben den Vorzug einer bejcheidenen Kürze; der Componift ver- ſchmäht es, fih größer zu ftreden, al3 er gewachſen. Einzelne Gedanfen erinnern an Schumann und Mendelsſohn; den Blick auf das Ganze gerichtet, kann man troßdem Reinede weder als Nahahmer des Einen, noch des Anderen, nod eines Dritten bezeichnen. An Beethoven muß man freilic” nicht denken, und daß wir dies bei jeder neuen Symphonie thun, iſt unjer und unferer Componiſten Unglüd. Wem aber zufällig die jüngit gehörte Cherubini’ihe Symphonie einfiel, der wird viel- leicht dem freimüthigen Geftändniß beiftimmen, daß wir Rei— necke's freundlich gepflegten Garten noch immer jenem hof— färtigen Porticus vorziehen, in deſſen Riten alle Eulen der Langeweile ihre Nefter bauen.

»Waſſermuſik«, »Feuermufife jeltfame Titel zweier ehemals gefeierter GCompofitionen von Händel! Ermwarte ja Niemand irgend eine ſymboliſche oder poetijche Beziehung diejer Elemente zu dem Inhalt der GCompofitionen, die überhaupt wenig Glementarifhes an ſich haben. Zwei Hoffeitlichkeiten: eine Wafferfahrt auf der Themſe (1716) und ein jolennes Feuerwerk aus Anlaß des Aachener Friedens, waren die Ge- legenheitsmacher und Taufpathen diefer Mufikftüde. Nach dem Vorgang auswärtiger Concert-Inftitute führten una die »Phil— harmonifer« am vorigen Sonntag einen großen Theil der Händel’ihen »Waſſermuſik.« vor. Das Original beiteht aus etwa zwanzig kurzen, nach Suiten-Art aneinandergereihten Stüden. Herr Gapellmeifter Deſſoff hat mit richtigem Takte die beiten und wirffanften Stüde (Duverture, Adagio, Bourree, Andante, Menuett, Allegro) aus dieſer obſoleten Maſſe herausgeſucht. Bei Anhören derſelben beſchränkte ſich unſer beſcheidenes Ver— gnügen auf das hiſtoriſches Intereſſe und einige angenehme

Händel »Waffermufif«e. Lachner »Suitee. 433

Nebengedanken moderniter Art, nämlich über den unermeßlichen Forticgritt an Leib und Seele, welchen die Inftrumentalmufif jeit jener gloriofen Wafjerfahrt gemadt Hat. Den Genius Händel’3, des Meiiters im Oratorium, lernt man aus feinen Snftrumental-Sompofitionen überhaupt nicht fennen; fie verrathen die unläugbare Starrheit und Schwerfälligfeit einer fich eben erſt entwidelnden Kunſt, ohne die gewaltige Eigenthümlichkeit Seb. Bach's auf diefem Gebiet zu erreichen. Weit eher nocd können wir und an den Händel’ichen Elavier-Suiten erfreuen, als an diefer »Celebrated Water-Musie«, deren größere Hälfte gerade- zu ungenießbar iſt. Ohne fich durch den großen Namen Händel im mindeften beirren zu laffen, nahm das Publicum die » Waffer- mufif« bis zur vorlegten Nummer (Menuett in G-moll) mit lautlofem Schweigen hin; hier erit, wo der dürre Stafetenzann einige Blüthen anfeßt, wurde die Verfammlung warm und ver: langte den Menuett jogar da capo. Dieje Ehre möchten wir dennoch zum größeren Theil der Aufführung zufchreiben, Die durch äußerſte Zartheit und glüdlihe Schattirungen der Ton- jtärfe dad Stüd zu individualifiren und zu beleben verjtand. Dem ganzen Werke fieht man feine Zeit an, nicht aber den Genius eines der Größten diefer Zeit. Die gefunde Kraft, welche die beiferen Inftrumentalftüde jener Epoche zu charakterifiren pflegt, erjcheint ums in der »Waffermufif« und Aehnlichem über: wiegend ald monotone Starrheit, Gebundenheit und Schwere. Die 33 Jahre fpäter componirte Feuermuſik (»Musie for the royal fireworks«) bewegt fich etwas lebendiger und freier wir wollen fie darum den »Philharmoniſchen Concerten« noch feineswegs zur Aufführung empfohlen haben. Aus der grauen Allgemeinheit dieſes Wafferfpiegel3 erhob fi, wie die märchen— hafte Wunderftadt Vineta, mit zanberifhem Reiz Schubert’s Mufit zu »Rojfamunde«.

Zum drittenmal und mit einer dritten »Suite« erſchien Franz Lachner, der jugendlich friiche Veteran in Wien, um jein der »Gejellihaft der Mufikfreunde« gewidmetes neueſtes Wert jelbit vorzuführen. Das Publicum begrüßte ihn bei feinem Eriheinen und nad jedem Sate der Compofition mit anhal- tendem Applaus. Die neue Suite in Es-dur, die vierte in der

Hanslid. Aus dem Concertjaal. 2. Aufl. 28

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Neihe (eine dritte in F-dur ift hier noch unaufgeführt) heilt die glänzenden technifchen und formellen Vorzüge ihrer in Wien fo beifällig aufgenommenen Worgängerinnen in D-moll und E-dur. In der Kunſt ftrenger und doch mwohlflingender Poly: phonie, reicher Figuration und Gontrapunftif, endlih in der Meifterfchaft der Inftrumentirung fteht die neue Lachner’iche Suite jenen beiden nicht nad. An Frifhe und Eigenart der Ideen bleibt fie hingegen zurüd. Die »Arbeit« herricht in manden Partien (befonder® dem erften und vierten Sag) allzu merflih vor und ftreift dann an Trodenheit; ruft der Com— ponijt hierauf als wirkſame Gegenfraft die Bopularität auf den Kampfplag, fo verfällt er mitunter dem Alltäglihen und Ba— nalen. Schöne Einzelheiten gleihen Werthes vielleicht, wenn auch nicht gleicher Zahl Hat das neue Werk auch gegen jeine beiden älteren Schweftern aufzumweilen; der Fluß des— jelben erjcheint aber diesmal doch etwas ftodend und un— gleih. So beginnt der erſte Sat jehr hübſch mit einem marſchartig einherjchreitenden Motiv voll anmuthiger Würde; nah 48 Taften macht dieſes auf Nimmerwiederjehen einem blechgerüfteten Fanfarentfum Pla, da8 an da Gloria einer Landmeſſe erinnert. Nur kurz vor einem gefälligen Gegen- motiv in B unterbrohen und jchließlih kunſtvoll damit ver— einigt, verläßt uns diefe pomphafte Alltäglichkeit nicht wieder; allerdings legt fie nacheinander die reichiten Gewänder an, welche die Fuge und der doppelte Contrapunkt, Augmentation und Engführung nur herbeifchaffen fünnen. Das tranermarjchartige Thema ded Andante tft nicht von bedeutender Erfindung, wird aber in freier Variationenform mit großem Geſchick verändert und verwendet; ein idylliſches Andantino in 9/,-Taft läßt den Sat anmuthig, wenngleih etwas weichlich außflingen. Der dritte Sat, »Sarabande«, nicht don hervorragender Eigen— thümlichfeit, wirft durh anmuthig melodiöſen Fluß und über: aus zierlihe Inftrumentirung. Das Thema der »Sarabande«, fowie dad vorangehende Andantino am Schluß de zweiten Sates erinnern ftart an Spohr. Der letzte Satz iſt »Gigue« überfchrieben, obwohl er mit dem Charakter diejer alten Tanz: form wenig gemein hat. Das Thema hat etwas redenhaft

Suiten von Lacher und Eifer. 435

Gewaltiges ; von den Contrabäffen angeitimmt und als vier: ftimmige Fuge pompös eingeführt, macht es bald freieren melodifchen Geftaltungen Platz (ein Wechfel, der zu den ſchönſten Kunſtfortſchritten unferer Zeit gehört), ſtürzt ſich abermals in den braufenden Wirbel der Contrapunktik, um endlich in fräf- tigem und beichleunigtem Aufſchwung zu Schließen. Eine contra= punktiſche Meifterarbeit voll anziehender Details, wirft dieſe »Gigue« fchließlih doch etwas ermüdend. Der lärmende Bei: fal am Schluß der Suite dürfte, jo weit wir dad Publicum beobadten fonnten, noch mehr der verehrten Perſönlichkeit des GComponiften, als dem Werfe jelbit gegolten haben daß die zwei erjten Suiten ungleich aufrichtiger gefielen, ift zweifellos und mwohlbegründet.

Wie Eſſer's jüngft gehörte Suite (wir ziehen fie der neuen Zachner’fchen vor), ift auch dieſe auf die Zahl von vier Süßen herabgegangen, nachdem früher beide Componiſten ihre Suiten fünf- und ſechsſätzig ſchrieben. Wie die Zahl der Sätze, ſo iſt auch deren urſprünglicher Tanzcharakter bei Lachner und Eſſer auf ein Minimum reducirt. Endlich erſcheint auch das dritte Geſetz der alten Suitenform, die Einheit der Tonart in ſämmt— lichen Sätzen, definitiv beſeitigt. Wir ſehen hierin ein ſehr beachtenswerthes Zeichen, daß die modernen Verſuche zur Wiedererweckung der alten »Suite« ihren ardaiftiihen Aus— gangspunft bereit vollitändig verlaffen und unter Beibehaltung des alten Namens fih der Symphonie wieder auf Eleinfte Diftanz genähert haben. Die großen, claffiihen Schöpfungen in der Symphonie und die daraus quellenden hohen An- ſprüche haben in neuelter Zeit zwei Umgeſtaltungsverſuche dieſer Form hervorgerufen: Liſzt's »Symphoniſche Dichtung«, welche den Inhalt der Symphonie in einen Sat zufammendrängt, und die ſymphoniſche »Suite«, die ihn in eine größere Zahl von Süßen außeinanderbreitet. Beide Verſuche fcheinen eine eingreifende, allgemeine Wirkung nicht zu üben, fie bleiben fait ohne Nachkommenſchaft. Die indirecte gute Folge dürften fie aber haben, daß die Symphonie fih nunmehr eine größere Freiheit in der Reihung und Geſtaltung der Süße erlauben wird, die ſchwer zu definirende, aber dennoch unentbehrliche

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Einheit des Gefammtbildes ſtets vorausgeſetzt. Es iſt nicht einzufehen, warum Künftler wie Lachner und Eſſer fi unter folhen Bedingungen nicht zur Symphonie befennen follten ihre letzten Orcefter-Suiten gehören der alten »Suite« gar nicht und der »Symphonie« jedenfall® mehr an, ald irgend einer anderen Runftform.

Mendelsſohn's „Antigone“ und Meyer⸗ beer’s „Struenfee“.

Als wir fürzlih in den Blättern die Notiz laſen, es werde eine vollftändige theatraliihe Aufführung der »Antigone« von Sophofles mit Mendelsſohn's Mufit vorbereitet, da ſagten mir von ganzem Herzen: Amen. Denn leider hat Wien noch niemal® Gelegenheit gehabt, den lebendigen dramatiihen Ein- drucd der griehiihen Tragödie an fich zu erfahren, während da3 Publicum in Berlin, München und Dresden die Aufführungen der »Antigone« zu feinen Kunftgenüffen zählt. Ein einzigesmal machte dad Theater an der Wien vor etwa 18 Jahren einen Verfuh: er war nur halb gewagt und ift ganz mißlungen. Diefe verihämte »Antigone«-Aufführung war nämlich nichts weiter als eine Lectüre mit vertheilten Rollen; die Schaufpieler faßen in Frack und Glacehandichuhen vor den Fußlampen und laſen ihren Bart aus dem Buche, die Sänger hinter ihnen aud den Noten. Das Publicum ſchien gleich nad den erften Scenen in der beiten Stimmung, fih das Eintrittögeld an der Kaſſa zurüdgeben zu laffen. Es hätte fih jeither längſt verlohnt, die ſceniſche Aufführung der »Antigone«e ind Merk zu ſetzen, da gerade Wien über theatraliihe und mufifaliiche Kräfte verfügt, wie feine zweite Stadt in Deutſchland. Sei es nun, daß der Plan einer vollftändigen Darftellung auch diesmal nicht ernitlich gefaßt oder daß er von Hinderniffen überwältigt wurde die »Antigone«, weldhe und vorgeftern im großen Redoutenſaal erfhien, war eben nur der oftgehörte Mufik- Srtract mit »verbindender Declamation«.

Mendels ſohn's »Antigone« und Meyerbeer's »Struenſec«. 437

Das Abtrennen, Abzapfen der zu einen dramatiſchen Ganzen gehörigen Mufit bleibt an fich ſtets eim äfthetiicher Nothbehelf, mit dem wir je nach dem Charakter der Mufif und fchwerer oder leichter abfinden. Die Männergefang-Bereine handeln in vollem Necht, wenn fie ihr an größeren erniten Gompofitionen armes Repertoire dur die Mendelsiohn’ichen Chöre zu »Dedipus« und »Antigone« bereichern und diejelben, unbefümmert um deren theatraliihe Beltimmung, als Concert: muſik feithalten. Durch ihren abjoluten Muſikgehalt wie durd) ihre relativ größere Unabhängigkeit von der Scene find dieſe Chöre mehr als andere geeignet, ein jelbitjtändiges Concert- leben zu führen; ungleich mehr 3. 8. als die Meyerbeer'ſche »Struenjee«-Mufit, welche kurz vorher in einer Wohlthätig— feit3-Afademie mit jehr zweifelhaftem Erfolg vorgeführt wurde. Wir Hatten in Wien Gelegenheit, die Meyerbe er'ſche Mufif mit dem Drama »Struenjee« und ohne dasjelbe zu hören, im Theater und im Goncertfaal. Für eine begleitende Schaufpielmufif gibt fie viel zu viel, ihr melodramatijcher Epheu frieht in alle Riten des Gedichtes und verwiſcht die unentbehrlihen Grenzlinien zwiichen Drama und Oper. Al jelbitftändige Concertmufif hingegen gibt fie zu wenig und das Wenige zu formlos und unruhig. Uebrigens dürfte noch eher Mendelsjohn künftige Concert: Aufführungen der »Antigone« vor— bedacht haben, als Meyerbeer die Iſolirung feiner » Struenjee«= Muſik. Legtere jollte ja nur das Drama des geliebten Bruders Michel Beer auf den Bühnen flott machen und erhalten; der ftärfere Bruder wollte mit diefer Partitur den jchwächeren in die Uniterblichfeit einkaufen. Meyerbeer hat es damit nicht feiht genommen; wir zählen feine »Struenjee«-Mufit zu den größten Anftrengungen, die er gemacht hat. Mitunter glaubt man fürmlih den Schweiß diefes fünftleriichen Ringens zu jehen, und fürmwahr, viel unmilliger würde man fih davon abmenden, ſpräche nicht jeder Tropfen: Sch bin der Hüter meines Bruders.

Gegen Meyerbeer's Struenjee«-Compofition, welche mit dem Drama ftirbt und ohne das Drama nicht leben fann, ſteht Mendelsſohn's »Antigone«-Muſik ungleich günftiger. Sie

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verhält fich zur Tragödie des Sophofles ungefähr wie der antife Chor zu dem dramatiihen Ganzen überhaupt: eine Art Staat im Staate, nicht mithandelnd, jondern die Handlung nur mitdenfend und mitfühlend. Was bier zu näherem Ver— ſtändniß noch wünſchenswerth bleibt, fann durch ein jogenanntes »verbindendes Gedicht« Leicht beichafft werden. Wir geftehen unfere lebhafte Abneigung gegen diefe Art poetifcher Fremden: führer, die und aus der idealen Region der Muſik alle fünf Minuten wieder auf die platte Erde herabziehen. Mas wir lebendig vor una fehen follen, davon wird uns in fäuberlichen Verſen erzählt, daß es eben geichehen ſei oder fofort geichehen werde. Wir würden, wo es nur halbwegs möglich, alle ver: bindenden Declamationen entfernen und durch Ueberſchriften und furze Bemerkungen im Programm erjegen. Ueberdies find die meiften diejer erflärenden Gedichte durch ihre Breite und Redfeligfeit weit mehr geeignet, die Zuhörer zu zerftreuen und zu langweilen, als fie zu feſſeln. Mit Ausnahme des immer zündenden Bacchus-Chors jchien »Antigone« die Zuhörer wenig zu erwärmen.

Kammermufik.

Seltſamerweiſe als »neu« bezeichnet und wirklich in Wien noch nicht gehört war ein »Divertimento« von Mozart für Streichquartett und zwei Waldhörner in B-dur. Aus der großen Zahl Mozart’icher Divertimento’3, Serenaden, Caſſa— tionen und dergleichen, welche, flüchtig und meiſt auf Beitellung gearbeitet, den Stempel von Geſellſchaftsmuſik an der Stirn tragen, heben ſich zwei ala wahre Meifterwerte heraus: das eben genannte Divertimento in B (Nr. 287 bei Köchel) und ein zweites in D-dur (Nr. 334 bei Ködel) Das neue »Divertimento« hat und von Anfang bis zu Ende die größte Freude bereitet. Daß man die Mozart’ihen Sardinaltugenden: Klarheit, Wohllaut und Formichönheit, auch Hier nit ver— mißt, iſt ſelbſtverſtändlich. Allein es gibt unter den Jugend: und Gelegenheit3:Compofitionen Mozart’ gar mande, die

Kammermufit. Divertimento von Mozart. 439

troß jener nirgends fehlenden Vorzüge doch zu wenig Ideen— gehalt und Begeiſterung verrathen, um uns heute noch ent— zücken zu fönnen genau jo wie es unter Haydn’ Werfen recht viele gibt, die -man unbedeutend und veraltet nennen jollte, während man hergebradterweife von »unver— welflicher Jugend« und dergleichen jpriht. Mit ſolchem, auf die bloße Firma hin gleihmäßig ertheiltem Lob jchadet man leider jenen Werfen der Meifter, welche wirklich aus einem Beet geringer oder halbwelfer Blümchen friid und reizend hervorragen. Dazu gehört das Mozart’ihe Sertett in B-dur. Man hört, der Meifter hat es mit Luft und Freude gefchrieben und diefe Luft und Freude überftrömt auch in die Herzen ber mühelos laufchenden Hörer. Großartiges Pathos, Leidenichaft und dramatiiche Blige möge freilich Niemand erwarten; das Divertimento verleugnet nirgends jeinen Charakter als Geiell: ihaftsmufif, als mufifalifche »Unterhaltung«e. Das contertante Herportreten der eriten Violine, welche nicht ohne Koketterie die pifantefte Gonverfation führt, der fnappe Zufchnitt der ſechs Sätze, endlich der gefällige Aufpug des ganz quartettmäßig gejegten Stüdes dur zwei tiefe MWaldhörner halten jene Phyſiognomie unverkennbar feit. Die beiden tiefen B-Hörner, auf die Naturtöne beichränft, greifen in daS Getriebe des muſikaliſchen Gedankens nicht felbft ein, aber fie verleihen dem Ganzen eine reizende Tonfüle und Färbung. Diejer friiche, gefättigte Klang der in den einfahiten Gängen ſich jo friedlich bewegenden Waldhörner gibt dem Bilde etwas eigenthümlich Idylliſches, Serenadenartiges. Wir denfen unwillfürlih an Gartenmuſik und ſchmucke Rococco-Pavillons mit erleuchteten Fenſtern, ımten im Barf jchöne, Teidenraufchende Damen mit gepudertem Haar und Herren mit feinen Gefichtern und bunter Tracht. Dies Alles in dem idealifirenden Reiz einer fremd: artigen und doch uns nahen Vergangenheit, ohne den Bei: geſchmack von Lächerlichkeit, den jeßt jene Lebensformen für uns ſo leicht annehmen. Auch auf jene bemalten Fächer und Spitzenmanſchetten find Thränen der Freude und des Kum— merö gefallen wie heute, und unter den hohen, goldgefticten Schnürleibhen des vorigen Jahrhunderts pochten die Herzen

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in Haß umd Lieb, wie heute. Mozart’3 »Divertimento« zauberte ein Stüd vergangened Leben vor uns hin.

Slara Schumann.

63 war gegen Ende des Jahres 1846, als Robert und Clara Schumann nah ihrem eriten Concert im Muſik— vereindfaal von einigen wenigen Getreuen nad) Haufe geleitet wurden. Die Stimmung war allerjeit3 nicht die beſte. Weber den mäßigen Beſuch des Saales hatten wir erwartet, noch Die mäßige Zuftimmung, womit das Publicum Shumann’s B-dur- Symphonie (von ihm jelbit dirigirt) und fein A-moll-Goncert (von Clara geipielt) entgegennahm. Es waren dies die eriten in Wien aufgeführten Compofitionen von Schumann, befanntlich zwei jeiner größten und jchöniten Schumann war nad einer faſt zehnjährigen hHochbedeutenden Thätigfeit als Componiit und Schriftiteller und trog eines früheren Aufenthaltes in Wien, wo er mehrere Tondichtungen herausgegeben hatte, den Wienern ein unbefaunter Menſch geblieben. Es wollte faft jcheinen, als ſei Schumann auh noch im Jahre 1846 vergeblih in Wien ge- mejen. Allein das Samenforn war dennoch nicht im Winde verweht, es ruhte und wuchs im Herzen der Kleinen Davids- bündler-Gemeinde, die bier (der Sade, wenn auch nicht dem Namen nach) entitanden war, um nad den befruchtenden Stürmen von 1848 allmälig zu Aller Nuten und Freude fihtbar aufzugehen. Langjam genug geichah dies allerdings. *)

Wenn Karl v. Lützow fürzlih in einem Aufſatz über die Wiener Baugeihichte den »veripäteten Charafter« derfelben betonte, jo können wir dieſen treffenden Ausdruck ganz analog auf das frühere Mufifleben Wiens anwenden. Wie Shumann, ſo a vor ihm Mendelsjohn, nah ihm Rihard Wagner

*) Aus der Wiener Birtuofe Leopold von Meyer einmal interpellirt wurde, weßhalb er Schumann's Compofitionen ganz ignorire, ermwiderte der große Slavierpaufer: »Warum foll ih in meinen Con: certen Sachen von Schumann jpielen? Seine Frau fpielt auch nichts bon meinen Gompoittionen«.

Clara Schumann. 441

einen jehr veripäteten Einzug bei und gehalten; Wien nahm von diefen Männern erit Notiz, nachdem fie ein Jahrzehnt in ganz Deutjchland befannt und gefeiert waren. Dafür hat Wien feine muſikaliſche Veripätung jederzeit durch eine deito wärmere und anhaltendere Pflege des einmal Grfannten wieder gutgemacht, jo daß Clara Schumann das Wiener Publicum heute mit Recht alö das theilnehmendite und verjtändigite rühmen und ihm ſelbſt die jchwerfaßlichiten Compofitionen ihre Gatten mit voller Zuverficht vorführen darf. Bei ber qualitativ und quantitativ jo bedeutenden Ausbildung des mufifaliihen Dilettantismus und fpeciell des Clavierfpiels in Wien fonnte die Concertgeberin mit größerer Sicherheit als irgendivo ander® annehmen, daß ein anjehnlicher Theil ihrer Zuhörer auch mit den noch nicht öffentlich geipielten Com— pojitionen Schumann’ befannt jei. So hat Frau Schumann in ihrem legten Concert zum eritenmal die »Humoresfe« op. 20 vollftändig und mit glänzendem Erfolg vorgetragen. Dad Stück gehört der erften Periode Schumann’? an, in welcher die mwunderbarite Infpiration mit jugendlich wilder Gährung im Streite lag oder richtiger: zu unmiderftehlichem Zuſammenwirken fi) verband. Trotz ihres Singular-Titeld und der Abweſenheit beſtimmter Unter-Abtheilungen (mie fie die »Sreißleriana«e und »Davidsbündlertänze« haben) bildet die »Humoredfe« nicht eine untrennbare Einheit, jondern eine Reihe von ſechs (wenn man will fieben) Charafterjtüden, ver: Ihieden nad Tonart, Tempo und Ausdrud. Wahrſcheinlich bezog jie der Componiſt durch einen beitimmteren poetilchen oder piyhologiihen Zufammenhang näher aufeinander, als Deren rein mufifalifhe Verbindung uns jest errathen läßt. Die Fac— toren des Humors find darin mehr jelbititändig auseinander: gelegt, als verjchmolzen, und zwar waltet der jentimentale vor dem Jaunigen, das Idealmoment vor dem Realmoment vor. Gegenüber ſolchen höchſt jubjectiven Ergüſſen einer in ihrem Reichthum ſchwelgenden Phantafie verftummt das nad): Schildernde Wort genug, daß wir innigere Herztöne, bligendere Geiftesfunten, beraujchendere Klänge faum in einer anderen Com— pofition Schumann’3 erlebten. Hat man dies merfwürdige Stüd

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auch nur einmal gehört, ſo wird man, ſeltſam befremdet und bezaubert, den Eindruck ſchwerlich wieder loswerden. Beſchäftige man ſich aber jahrelang damit, und man wird immer neue Schönheiten und die alten jedesmal ſchöner finden. Wie ſchon der Titel »Humoreske« andeutet und der Inhalt vollauf beſtätigt, ftand der Gomponift damals unter der heftigiten Einwirkung eines Dichters, der auf Schumann’3 mufifaliihe Phantafie, jomie auf feinen literariihen Styl einen enticheidenden Einfluß ge- übt hat: wir meinen Jean Paul. Bon diefem Einfluß Hat ih Schumann’ Mufit allerdings befreit, als fie jpäter in jene Phaſe der Abklärung und Formſchönheit trat, die wir als feine zweite Periode bezeichnen. Aber an jeiner perjönlichen Begeilterung für Jean Paul ließ Schumann jelbft in jpäteren Jahren nicht mäkeln; der wortfarge, freundlich vor ſich hin fiimende Mann konnte in joldem Falle jehr heftig werden. Sp gaben einmal die Mufifer und SKunftfreunde Hamburgs dem ald Gaſt anweſenden Schumann ein Feitiouper. Nachdem der erite Toaſt auf daS gefeierte Künftlerpaar ausgebracht und in allgemeinen Jubel allmälig verhallt war, erhob ih Schu: mann, um etwas Nußerordentliches zu begehen, nämlich zu jprechen. Athemloje Stille. Der Redner pried das glückliche Zujammentreffen diefes Feltes mit einem Tage, welcher Deutjch- land zwei der größten Genies gejchenft habe: es ſei heute der 21. März, der Geburtstag Sebaftian Bach's und Jean Paul's, diefer unfterblichen Beherrſcher der Mufif und der Poeſie! Er erhob jein Glas und die Gejellichaft that mit freudigem Zuruf Beicheid. Allein der Dämon der Fritif, der oft am nächſten, wenn die Begeifterung am höchften, war auch bei dieſem SKünftlermal gegenwärtig und erhob fi langen Haljes und funkelnden Blides in Geftalt des geiftreichen Grädener, damals Director der Hamburger Sing. Afademie. Den Ruhm Jean Paul’, jo jprad er, wolle er nicht antaften, noch irgendwelde Sympathien für diejen Dichter; allein dagegen müſſe in einem Kreiſe deutjcher Muſiker proteitirt fein, daß Jean Paul mit dem gewaltigen Sebaltian Bad in einem Athem genannt und als ein Ebenbürtiger vers ehrt werde. Grädener war eben im beften Zuge, diejen Ge-

Glara Schumann. 443

danfen weiter auszuführen, als Meiſter Robert jchon aufges fprungen und ohne ein Wort zu jagen zum Saal hinausgeftürzt war. Vergebens ſuchte man ihn, und der Reit des Abends verfloß in ſehr herabgemunterter Stimmung. Am folgenden Morgen eilte Grädener (au dejjen Munde wir die Ges Ihichte haben) mit einigen mufifalifhen Würdenträgern zu Schu: mann, den man mittelft aller erdenklichen Erklärungen endlich verföhnte.

Die »Humoreske« kann, ganz abgejehen von ihrer enormen techniſchen Schwierigfeit, überhaupt nur von Jemandem geipielt werden, der fich, verwandten Geiſtes, vollitändig in Diele eigenthümliche Gedankenwelt hineingelebt hat. Wie jehr Frau Schumann’ Kunſt hier am rechten Plage und von ganz ein— iger Wirkung war, braucht faum erit gefagt zu werden. Rudorff's »Wariationen für zwei Pianoforte« (von Frau Schumann mit Fräulein v. Aſten gejpielt) haben una troß mancher geiftreichen Figuration und manden finnigen melodiichen Zuges einen unerquidlichen Eindruck Hinterlaffen. Sie find eine directe Nachbildung Schumann’3, und die Nahahmer Schu: mann’? beginnen und im Lied wie in der Claviermuſik peinlich zu werden. Iſt es an fich fchon bedenklich, eine fo ganz ins dividnelle, bis zum Krankhaften jubjective Erjcheinung tie Schumann zu copiren, jo wirkt e8 vollends verftimmend, wenn jeine Nahahmer fi) mit conjequenter Beharrlichkeit gerade an jene Eigenheiten und Manieren ihres Worbildes feitflammern, welche an dieſem felbft mitunter fchon bedenflih find. Dahin gehört die Vorliebe für Synkopen und Vorhälte, Diffonanzen, rhythmifche und harmoniſche Härten. Rudorff ſcheint es bes ſonders auf die Synkopen und rhythmiſchen Verschiebungen aller Art abgejehen zu haben, und zwar mit ſolchem Grfolg, daB man mitunter nicht errathen fann, wohin der gute und ſchlechte Takttheil falle, ob man Perioden von vier zu vier oder bon drei zu drei Takten höre u. ſ. w. Wir erinnern beis jpielöweije gleih an das Thema mit feinen langſamen Triolen, an das ſynkopirte Hinfen der zweiten Variation und Aehn— lied. Den günftigen Gindrud der °/,-Takt:Allegrettog, das einen freundlichen, Tebhaften Abſchluß des Ganzen bilden

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fönnte, erwürgt der Componift mit eigener Hand, indem er noch ein unerwartetes langathmiges Adagio Hinzufügt, was natürlich viel »Ddiftinguirter« ausfieht.

Frau Clara Schumann Hat uns diesmal noch voll- ftändiger befriedigt, ald in früheren Jahren. Möglich, daß etwas pon dem fröhlihen Sonnenglanz, den die Jugend über Alles breitet, ihrem Spiel abgeftreift jet, aber daß e8 an Wärme und Tiefe des Ausdrucks noch gewonnen hat, ſcheint und zweifellos. Dan fann das furze Andante aus Beethoven's Es-dur-Sonate op. 27 (es ift unter Anderm auch als »Kyrie« arrangirt), nicht inniger und ftylooller vortragen. Der phantaftiiche Flug der »Kreis— leriana«, das leichte Geflatter des Henfelt’ischen »Vögleins«, Hiller’3 verliebte Gonverfation »zur Guitarre«, Die £lare Grazie des Mendelsſohu'ſchen Capriccio Alles gab Frau Schumann mit gleiher Wahrheit und Schönheit wieder. Daß es der verehrten Künftlerin, ſchon ihrem Geſchlechte gemäß, mitunter an der legen Gnergie, ſowie an fühnem, freiem Humor fehlt, kann Niemanden befremden, immerhin weiß fie auch dem Großen, Starfen, der bewegten Leidenschaft zu ge= nügen und die größten Formen mit ficherer Ueberfhau und zufammenhaltender Straft zu bewältigen. Bejonderen Danf zollen wir Fran Schumann für die Vorführung dreier »Album— plättere von der Gompofition des hier jehr wenig befannten Theodor Kirchner, eines der finnigiten und gemüthpolliten Tondider der Schumann’ihen Schule. Haupt: und Prachtſtücke der beiden legten Goncerte waren daS Quartett und Quintett (beide für Glavier und Streich-Inſtrumente) von Shumann, zwei Werke, welche mit deſſen Streichquartetten und Dem GSlavierconcert zu dem claſſiſchen Schag unjerer Inftrumental- Mufit zählen. Die »PBhantafieftüde«, op. 80, welche Frau Schumann mit den Herren Hellmeöberger und Röver vortrug, ftahhen dagegen betrübend ab. Dürftig in den Themen, gequält und widermwillig in der Ausführung, gleichen diefe Stüde wegge— worfenen Skizzen, die der Meiiter in jpäteren Jahren faut de mieux wieder aus dem Papierforb genommen, um frank und mißmuthig ihnen die früher verjagte Form zu geben. Der Gattin des theuren Mannes darf man e8 freilich nicht verübeln, wenn jie

Clara Schumann. 445

jedes jeiner Werke gern zur Anerkennung brädte, ja wenn ihr vielleiht alle »gleich liebe Kinder« find. Troßdem halten wir im Intereſſe Schumann’3 eine forgjame Wahl gegenwärtig noch für jehr wichtig. Das große Nublicum ift mit diefem Ton: dihter noch lange nicht jo vertraut und im Heinen, daß, ohne Nachtheil für diefen, feine Sahen mwahllos von Pir- tuofen und Sängern öffentlich producirt werden dürften. Dem entipricht die Pflicht des Kritiker, die mitunter ſehr ungleichen Werthe der Schumann’schen Thätigkeit jederzeit rückhaltlos zu conftatiren, eine Pflicht, die deſto größer wird, je zweifel: Iojer die Verehrung oder Vorliebe des Kritiferd gerade für Schumann feftiteht. Daß die zahlreichen Eleineren Gompofitionen (Slavierftücde, Lieder) aus Schumann's dritter Periode mit geringen Ausnahmen tief unter feinen früheren ftehen, ift nur zu gewiß, und deßhalb reihe man dem Publicum nicht brödelnde Reliquien, ehe es den lebendigen jchönen Leib voll: ſtändig fennt.

Noch ſeltſamer wird mitunter in der Auswahl Schu: mann’jcher Lieder für den Goncertgebrauch vorgegangen. »So oft fie fam« iſt ein poetifcher Hauch, aber fein Lied, »Lehn’ deine Wang’ an meine Wang’« ein leidenfhaftliher Aufichrei, aber fein Lied. Für den Concertvortrag paßt fein Lied, welches aufgehört hat, nahdem es kaum anfing. Auch jene fubjectiv grübelnden Stimmungs- oder Verftimmungslieder, die mit einer Diffonanz anheben und fließen, taugen ſchlecht vor Die Deffentlichkeit. Eine gewiffe Plaſtik und klare Weberfichtlichkeit, eine gewiſſe unumgänglihe Ausdehnung muß ein Gelangftüd haben, das auf eine größere Verſammlung wirken jol. »Mein Herz ift ſchwer« (von Fräulein Bettelheim gefungen) jpannt bet aller fjubjectiven Wahrheit gleichſam jede Faler der Em— pfindung einzeln auf die Folter; die (von Frau Duftmann gewählten) »MWaldlieder«, op. 119, und »Jugendlieder«, op. 79, zeigen ein viel freundlicheres, aber defto unbedeutenderes Ge- fiht. Und dennoch liegen rechts und links davon im Schu: mann’schen Liederfatalog die föftlihen Perlen, die noch feine Hand berührte! Frau Schumann darf fih und und nach— rühmen, das ihre ernite, wahre Kunſt hier nicht blos anerkannt,

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fondern geradezu Mode geworben. Durch frivole Gegenbilder von unverdienten Erfolgen, wie fie ja nie und nirgends fehlen, muB man fi nicht beirren laſſen. Paßt es doch vor Allem auf die Kunftzuftände einer großen Stadt, wenn Fr. NRüdert uns zuruft:

»Das iſt zu viel von der Welt begehrt,

Daß ihr das Gute allein ſei werth;

Sie hat dem Guten ihr Recht gethan,

Wenn fie'3 nimmt zugleih mit dem Schlehten an«!

Dirtuofen.

Dem neuen Harmonie-Theater gebührt das Werdienit, den MWienern einen der berühmteften Virtuofen der Gegenwart, Giovanni Bottefini, zuerſt vorgeführt zu haben. So jung Bottefini noch ift, er fieht feine Herrichaft iiber den Contrabaß unbeftritten und feine Virtuoſität von feinem Rivalen erreicht, weder in den modernen Concertfälen, noch in den alten Muſik— Lexikons. Allerdings und mit Recht ift die Baßgeige ein felten gewähltes Concert-Inſtrument. Seit dem alten Hindle, der in den Zwanziger: und Dreißiger:Sahren alljährlich fein regelmäßiges Gontrabaß-Eoncert in Wien gegeben, ift unſeres Wiſſens hier Niemand auf dem Orcefter-Clephanten geritten. Die Baßgeige verdankt ihre Wichtigkeit im Orcheiter Dem entfcheidenden Ernft und Nachdruck, womit fie die Converfation der übrigen Inftrumente ftüßt und approbirt; fie ſelbſt ift nicht zum Redner geboren. Wer die Baßgeige zum Solo-Inſtrument erheben will, ift genöthigt, gerade ihre charakteriitiichen Eigenfchaften möglichit abzuſchwächen: der Birtuofe nimmt ihr die derbe, rumpelnde Kraft, die erhabene Vierſchrötigkeit, und dreifirt fie zum Wioloncell. In der That kann man gefchlofienen Auges Botteſini längere Zeit mit der Illuſion anhören, einen trefflihen Gelliften zu vernehmen. Er trägt Gejangitellen in der Bariton und Tenor: lage mit weichem edlen Ton und fchmelzendem Ausdrud vor; die ſchnellſten, ſchwierigſten Paſſagen, Triller, chromatiſche und diatoniſche Terzenläufe, endlich alle Gaukeleien des Flageolets

Virtuoſen. Botteſini. 447

vollführt er mit größter Sicherheit und Eleganz. Eines nur hätten wir noch gewünſcht: daß Botteſini die hohe Lage nicht ſo unverhältnißmäßig bevorzugt, ſondern auch die ge— waltige Tiefe des Inſtrumentes häufiger producirt hätte. So kann man mitten in der Bewunderung über dieſes Violoncell— ipiel auf der Baßgeige den Gedanken nicht ganz abmwehren, warum der Mann nicht lieber glei zum Cello greife, wo das Alles viel Leichter von ftatten geht? »Eben weil es leichter wäree, würde der Birtuofe mwahrjcheinlih antworten, »und weil mein Erfolg darauf beruht, das Schwierigere zu voll— bringen«e. Wo ungewöhnlihde Kraft und Gewandtheit ihre volle Herrihaft über ein widerſpenſtiges Material produciren, da fann und wird der Zoll der Bewunderung nicht verjagt werden. Ein wideripenftigere® Material für die Bravour fann es aber kaum geben, ald den Gontrabaß, und einen voll fommeneren Bändiger desjelben aud nicht, als Bottefini. Glaubt Jemand dad Staunen über technijche Virtuofität verlernt zu haben, bei Bottejini’3 Productionen wird er es wieder lernen. Daß ein äjfthetiiher Eindrud, welcher hauptſächlich aus dem Erſtaunen rejultirt, fein nachhaltiger fei, bedarf freilich nicht erit des Beweiſes. Hingegen verdient Bottefini dad ausdrück— lihe Xob, daß er auch in der Bravour mit Gejhmad verfährt und jene bajazzoartigen Charlatanerien verſchmäht, mit denen auf derlei Ausnahms-nftrumenten fo gern geflunfert wird. Dahin gehören 3. 3. daß über Gebühr berühmte Kunſtſtückchen des Piemontefen Langlois, der die hohe Saite des Contra— baſſes, anftatt fie aufs Griffbrett zu brüden, zwiſchen dem Daumen und Zeigefinger feſtklemmte und fo mit umgekehrter Hand raſch bi an den Steg rutichte, eine heulende Here, die zum Schornitein hinausfährt. Much die Compofitionen Bottefini’3 find in der gewöhnlichen Form virtuofer Opern-Potpourris, anftändig und nicht ohne muſikaliſches Geſchick gearbeitet. Botteſini's Contrabaß ift ein breifaitiger, wie ihn die meiften Solojpieler benügen und alle benützen follten. Der dreifaitige Contrabaß (Ouartenftimmung a, d, g) ilt nit mur leichter zu handhaben, jondern gewinnt auch durch den Wegfall der verworrenen polternden tiefiten Saite an Beltimmtheit und

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Vollklang des Tones. Im Orceiter dürfte die Zukunft überall den vierfaitigen Baßgeigen gehören, wie fie in ganz Deutjchland und Frankreich üblich find, während man die dreijaitigen nur mehr in den DOpernhäufern Englands und Italiens antrifft. Obwohl Botteſini's Inftrument nit vom größtem Format ift, nimmt e8 doch eine gewaltige Körperfraft in Anſpruch. Eine Production auf der Baßgeige iſt fein »Spielen« mehr, fondern ein Ringen und Raufen, ein Anfallen und Nieder- zwingen des colofjalen Gegnerd. Wenn Bottefini, ein fräftiger, hochgewachiener Mann, ji tief über den Coloß beugend, mit der linfen den langen Weg vom Hald bis zum Steg unaufhörlich zurüdlegt, während die Rechte mit mächtigem Bogen die Saiten jäbelt, jo bewundert man den Athleten in ihm faum weniger, ols den Tonkünſtler. Im Preſto fam er und vor wie ein mufifaliiher von Aken, der eine mild- gewordene Beitie bändigt.

Drei jugendlihe, uns bisher unbefannte Birtuofen betraten fnapp nacheinander den Kampfplaß unter den Tuch lauben: der Geiger Lotto, der Glarinettift Orfi, der Clavier— ipieler Smietanjfy. Weitaus der Bedeutendite von ihnen ift Lotto, Pole von Geburt, alfo in Paris gebildet. Ein Virtuofe von allereritem Rang, aber im allerengiten Sinn. Selbit das blafirtefte Publicum der Sebtzeit wird Lotto's Herereien mit Gritaunen folgen, dad Mittelalter hätte ihm einen Ehren: und Srtra-Sceiterhaufen votirt. Cine ſolche Leichtigkeit und Ausdauer in der Bravour, jo eifernen Arm bei jo gefchmei- digem, loderitem Handgelent befommt man jelten zu jehen. Sobald aber die Bravour auch. nur acht Takte ruht, findet una 2otto’3 Spiel falt und ernüchtert, der Zauberkefjel wird zur ganz gewöhnlichen Geige ohne Größe und Adel des Tons, "ohne Gefühl und Leidenschaft. Bezeichnend ift, daß Herr Lotto mit Vorliebe Paganini'ſche Gompofitionen fpielt, deren Bedeu: tung faſt ausſchließlich in ihrer technifchen Schwierigkeit Liegt. Wenn die wahrhaft großen Künftler des modernen Biolinfpiels die Werke Baganini’s in der Negel vermeiden, fo thun fie dies Doch gewiß nicht blos aus Furcht vor deren technifcher Anforderung. Hätte nicht Paganini’3 Spiel fie in die Welt

Birtuofen. Orfi. Emietansty. Mary Krebs. 449

geführt, man wüßte wenig mehr von ihnen; die dämoniſche Laune, die gejpenitig feſſelnde Ericheinung des genialen Son: derlings hat jeinerzeit über dieſe Gompofitionen ein bengaliiches Liht don Geiſt und Genie audgeftrömt, das in den Noten: föpfen jelbit nicht ftedt. Es find treffliche Uebungsſtücke, die den jungen Virtuofen zur Verzweiflung und zur Meifterfchaft führen. Bon mander Paganini'ſchen Brapourftele müflen wir geradezu glauben, ihre vollfommene Ausführung hänge vom Zufall ab. So 3.8. die ausfchließlih im Flageolet ſich bewe— gende zweite Variation über »di tanti palpitie, welche ſelbſt Herr Lotto nur mit empfindlicher Unreinheit herausbrachte. Sein Meiſterſtückchen blieb jedenfalld der Vortrag des »Perpe- ' tuum mobile«; länger und fchneller wird faum ein Zweiter dieje Kraftprobe durchführen.

Herrn Romeo DOrfi haben mir nicht felbft blajen, wohl aber ihn loben gehört. Seine Landaleute Hatten ein hiſtoriſches Privilegium der Pirtuofität auf den Holz-Blas— inftrumenten. Trotzdem oder auch deßhalb fließen wir ung dem Votum an: Geh’ in ein Orcheiter! Das ift der Pla, auf dem wir den Glarinett-, Flöte, Oboe- und Fagottpieler zu Ichägen milfen; über die Zeit, wo diefe Künftler fchaaren- weile gereift famen und Concerte auf ihrem langweiligen Einzel- rohr abbliefen, find wir hinüber.

Herr Smietanskh, Pianift aus Herrn Pirkhert's Schule verfügt über eine jehr beachtenswerthe Technik. Sein Anfchlag iſt kraftvoll und elaftifh, nur noch zu einfärbig und wenig nuancirt, der Vortrag rein, ficher und virtuos. Blos die Be- feelung dieſes jchönen Material läßt noch viel zu wün— Then; mir vermißten Geift und Empfindung, ja felbit in der Behandlung des Techniichen mitunter den feineren Geihmad. Dad Publicum nahm Herrn Smietandfy fehr beifällig auf, deögleihen die mitwirfende Sängerin Fräulein Benza. In ihrer frifhen Stimme und jugendlih blühenden Perſönlichkeit befigt Fräulein Benza einen guten Empfehlungsbrief für Die Oper, nur müßte fie zubor eine ganze Bibliothef von Unarten und ſchlechten Gefangsmanieren über Bord werfen. Ein Duett aus dem »Liebeötranf« fang fie mit ihrem Water, »erftem

Hanslid. Aus dem Toncertiaal. 2. Aufl. 29

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Buffo am National-Theater in Peſt«. Eine jo wirkſame un: freiwillige Komik wie den Geſang dieſes Herrn haben mir felten genofjen. Eigentlih war es ein gejungenes, geiprochenes und gepfiffened Gefichterfchneiden. Da indeß Herr Benza über alle Bejchreibung zufrieden jhien, fo wollen wir es aud fein.

Die königlih ſächſiſche Kammervirtuoſin Fräulein Mary Kreb3 hat nun auch ein eigene® Concert gegeben. Daß ihrer erftaunlih ausgebildeten Technik feine ebenbürtige Entwicklung des geiltigen Ausdruds zur Seite fteht, blieb auch diesmal der Eindrud, den wir nah Haufe nahmen und den mir höchſtens neu paraphrafiren könnten. Chopin’s G-dur-Nocturno Hang weich und gejangvoll, wenngleich hier ſchon der eigen: thümlih Chopin’ihe Zug einer träumerifchen und reizbaren Subjectivität fehlte. Beethoven's C-moll-Sonate (mit Violine), tehnifh tadellos andgeführt, ließ fühl und gleichgiltig. Bei einem jo ansgefprochenen Talent wie Fräulein Krebs darf man auch in biefer Hinficht Viele8 von der Zukunft Hoffen. Noch ift fie Undine im eriten Gapitell. Wenn in dem poetiihen Reproductions-Vermögen junger Mädchen fi gleich: ſam Teere Stellen zeigen, fo ift uns das ungleich lieber, als die künſtliche Ausfüllung folder Lüden mit unmwahrem, affectirtem Gefühl. Für die legte Ausbildung der talentvollen Künftlerin würde fih vielleicht ein abichließender Curſus bei einem geiftvollen Virtuofen moderner Schule (Clara Schuman, Bülow, Brahmd, Taufig) als mwohlthätig empfehlen. Fräulein Krebs Hatte und Hat an ihrem verbienftoollen Vater einen porzüglichen Lehrer, aber gewiſſe Fefleln des Vortrags löſen ſich nicht Leicht, fo lange ein junger Künftler nur einen Meifter nahgeahmt, nur eine Stimme gehört hat.

G&oncert von Joh. Herbeck.

Herr Hof-Gapllmeifter Herbed gab im großen Rebouten- faal ein Concert, dad ausſchließlich Werke feiner eigenen Com: pofition zu Gehör bradte. Die Ausführenden waren: der

Goncert von Job. Herbed. 451

Wiener Männergefang=Berein, der Singverein und das Orcheſter ver Geſellſchafts-Concerte, aljo drei Corporationen, welche dem oncertgeber zwar nicht das Leben jcdhlechtweg, aber doch ein neues Leben verdanken und im ihrer jeßigen Tüchtigkeit als feine Schöpfung angejehen werben. Ueber Herbeck's jchöpferiiche Begabung fünnen wir nicht in jenem Tone unbedingter Anerkennung fprechen, in welchem wir feit Sahren jo oft daS eminente Dirigenten: und Organijations- Talent diejes Künſtlers hervorgehoben haben. Ein abſprechendes Verhalten fteht und derzeit ebenjo fern, denn Herbed, der ala Componift verhältnigmäßig ſpät und fparfam hervorgetreten ift, hat feine vollftändige Entfaltung faum ſchon vollzogen und gedentt wohl noch mehr als eine Schlangenhaut abzuftreifen. Aus dem Charakter feiner Compofitionen jelbft möchten mir ichließen, daß Herbed ſchwer und langjam producirt. Die Symphonie in C-dur (1862 gejchrieben) jcheint und das Werk eine durch Bildung und Routine anſehnlich gefteigerten Talente, nit aber einer genialen Begabung. Wahrhaft Ihöpferifhe Kraft und Originalität erkennen wir nicht darin, wohl aber Combinationd-Talent und eine geiftreiche Beherrichung des techniſchen Apparates. Die harmoniſche und contrapunktiſche Kunft überwuchert die melodifche, und die berechnende Klugheit überragt die natürlide Kraft der Phantafie und der Empfindung. Es tauchen einzelne ſchöne Melodien auf, wozu wir vor Allen das edle Thema des Adagio und das zweite gejangvolle Motiv des Finale zählen, aber meiltend verfiegen fie ſchnell oder werben als »unendliche« formlos fortgeiponnen. Sprühende Blige fliegen ab und zu über jede der vier Abtheilungen, aber feine Hinterläßt in uns ein bejtimmtes, klares Bild in ein- heitliher Beleuchtung. Wir empfangen von dem Ganzen. nicht den Eindrud eines organifchen Werdens und Blühens, fondern den einer zwar fehr geichicdten, aber dennoch mofaifartigen Zufammenfügung Das Werk hat übrigens nichts Kleinliches, bedeutungslos Spielendes, wie jo manche neuere Symphonie oder Suite, e8 geht vielmehr ein entjchiedener Zug von Energie und Größe durch das Ganze, das gleihlam Ströme von Kraft nah allen Dimenfionen entfefleln möchte. Es ift dies 29*

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eine Energie und Größe des MWollend, aber nicht des mufi- faliihen Vollbringend. Daher auch die frampfhafte Anſpannung aller Fibern, um fih fortwährend im WVollbefig de Pathos und auf der Höhe des Ungewöhnlichen zu erhalten. Herbed behandelt das Orchefter mit Meifterihaft, er fennt die ftärfiten Effecte des langes, wie deffen heimlichite Launen. Aber dieſe glänzende Hülle verbedt häufig den mufifaliichen Kern; das Ohr wird durch effectvolle Contrafte bis zur Ermüdung ge= blendet. Bezeichnend ift 3. B. die Verwendung der Harfe die ganze Symphonie hindurch, die wir und nicht erflären können, außer durch die Abficht, zu den vielen Klangeffecten und In— ftrumental-&ontraften noch einen neuen, ungewöhnlichen Hin- zuzufügen.

Wir entfinnen und fehr weniger Orcheſterwerke, in welchen ein jo anhaltende® Arbeiten auf allen SInftrumenten, ein jo gemwaltige® Stürmen der Pauken und Blechinftrumente herrichte, wie in diefer Herbed’ishen Symphonie. Die Inftrumentation und die mandhmal mehr dramatiihe als ſymphoniſche Phra— firung erinnert nicht felten an Meyerbeer. Den reinften, be- friedigenditen Eindruck macht unter allen vier Sätzen das Adagio, und diefem zunächſt dad Scherzo, dem wir nur etwas mehr Temperament wünſchten. Im erften und letzten Sat müffen wir und an einzelne effectvolle, geiltreihe Momente halten. Werke, die und taftweife zur Bewunderung zwingen wollen, büßen dieß gewöhnlich an ihrer Totalität; über lauter Wirkungen veripielen fie jchließlich die wahre, die enticheidende Wirkung auf unfer Gemüth. Außer der Symphonie wurden in dem Goncerte ſechs Herbed’ihe Chöre aufgeführt. Der Com: poniſt behandelt die Klangwirkung der Singftimmen mit der- jelben Meiſterſchaft wie die Inftrumental-Effecte im Orcheiter. Wir hatten oft Gelegenheit, diefe frappante Klangſchönheit Herbed’icher Chorfäge zu rühmen; am reinften genofjen wir fie in den von SHerbed jo trefflih arrangirten altdeutfchen Liedern und den Volfömelodien au Kärnten. Auch in dieſem Fache fcheint ung um in alter Terminologie zu ſprechen die Kunft de Setzers in Herbed die ded Sängers zu über: treffen. Herbed'3 eigene Chor-Compofitionen haben, jo durch—

Ealomon Sulger. 453

dacht und effectvoll fie auch find, für unfere Empfindung etwas Gefünfteltes, Webertreibendes. Jedenfalls ift es für die Art von Herbed’3 Talent bezeichnend, daß er nicht blos in dem größten Inftrumentalformen, fondern auch im einfachen Chor: oder Strophenliede ein reflectirtes Zufpiken des Ausdrucks und die effectvolle Entwidlung der Klangmittel liebt. Wir er: innern an das »Morgenlied« von Eichendorff, das, für Wechſelchor und Orcheſter gejeßt, einen fo unpaffenden opern= mäßigen Prunk entfaltet, daß man darunter die ſüße Träumeret des Gedichtes faum wiedererfennt. Muh das Eihendorff’iche »Ständchen« jchien und (namentlich in den Schlußzeilen) nicht warm und natürlich genug für die Stimmung des kleinen Ge— dichtes. Ungleich Schöner und wahrer flingt der Chor: »Wohin mit der Freud?« eine Gompofition, die von Herbeck's fruchtbarer Beihäftigung mit älteren Volksliedern Zeugniß gibt, und das in feiner anmuthigen Einfachheit wohlthuende »Wald- vöglein«. Das volltommenfte und wirfjamfte Stüd des Pro- gramm war jedoh der Männerhor: »Landöfnedht«. Das grelle Eolorit paßt trefflih zum Gegenftand; Trommelwirbel und Piccolo erjcheinen hier nicht als bloße Klangeffecte, ſon— dern als nothwendige und geiftvoll verwendete Mittel der Charakteriſtik Herbed’3 »Landsknecht« ift ein kleines Genre- bild voll Farbe und Leben, deffen Erfolg überall gewiß: ift.

Salomon Sulzer.

Während bereit? der legte Schnee des Concertwinters vor den Strahlen der Ofterfonne jchmilzt, geht dur die mufi- kaliſchen Kreiſe Wien? noch eine fröhliche Geichäftigfeit und Bewegung ganz eigener Art. Sie gilt dem in wenig Tagen Itattfindenden fünfzigjährigen Jubiläum des Ober-Cantord am ifraelitifihen Bethaufe, Salomon Sulzer. Die Kunſt des Jubilars wirkt, abjeit3 von weltlichen Erfolgen, nur für den jpeciellen Zwed des Gotteödienftes einer Minoritätz-Religion obendrein und dennoch darf man behaupten, daß ganz Wien fih in dem Augenblick für den Chrentag des »alten

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Sulzer« intereffire. So hört man ihn am liebften und häu— figiten nennen, denn »der alte Sulzer« ift eine der populärften Perfönlichkeiten von Wien. Wer fennt ihn nicht, den merk: würdigen Charakterkopf mit dem graugelodten Haar, den runden, feurigen Augen und dem energifchen breiten Mund, über welchem die haltig gefrümmte Nafe das Inventar der orientalifchen Phyſiognomik vollendet und hier zu ſprechendſtem Ausdrud zufammenfaßt? Der Mann, welcher vor einem halben Jahr: hundert, kaum ftiebzehnjährig, die Gemeinde feiner Waterftabt (Hohenem? in Vorarlberg) als Gantor zum Gebet geführt, hierauf an 40 Jahre lang das mufifalifhe Wien durch Die Pradt feiner Stimme und die Gluth feines Vortrages entzückt hat, er wirft noch in ungebrochener Rüſtigkeit, weder feiner Stimme noch feines Jugendfeuers verluftig. Noch heute wie vor 30 und 40 Jahren fcheidet faum ein fremder Tonfünftler von Wien, ohne dem berühmten Gantor einmal gelaufcht zu haben.

Ih ſelbſt habe Sulzer nicht mehr in der Blüthezeit feiner Stimme gehört; trogdem machte mir fein noch immer flangreicher Bariton und feine ſchwungvolle Vortragsweiſe einen tiefen Eindrud. Diefer Vortrag, in weldem vom Teifeften Athemzuge bis zum mäcdhtigften Tonfturm jede Note jede Pauſe möchte man falt jagen tief aus dem Innerſten fam, den Reiz des Fremdartigen mit der Meberzeugungdfraft wahrer, glühender Andacht verbindend, er mußte Jedermann, weß Glaubens und WVaterlandes immer, unmiderftehlich feifeln und erregen. Dad war tönendes Feuer, etwas überlodernd und qualmend vielleiht jedenfall der Iebendigfte Gegenſatz zu jenem mechaniſch gleihmäßigen Abfingen ritueller Formeln, das in anderen Gulten Styl und Vorfchrift geworden. Ein zer: fnirichtes Auffeufzen, ein begeiitertes Gmporjubeln zu Gott, jtet8 mit dem vollen Aufgebot der Empfindung und gleichſam gelpornt durch den Gedanken, mit der Wahrheit jede einzelnen Tones für die ganze Gemeinde, ja für ganz Sfrael einzuftehen. Sulzer hatte damald ein wunderbar ergänzende und erläu— terndes Seitenftüd an dem feither verftorbenen Prediger Mann: heimer. Der alte Mannheiner noch ſehe ich feinen hageren, geiftvollen Kopf mit den flatternden Haaren predigte, mie

Salomon Eulzer. 455

Sulzer jang. Diejelbe Gewalt über dad Material, dieſelbe fremdartige und doch Alles fortreigende Leidenjchaftlichkeit, dasielbe begeilternde Aufleuchten de Auges und der Stimme. Es war die glühendite Kanzelberedfamkeit, die ich erlebt, hier in Worten, dort in Tönen.

Liſzt erzählt in feinem Buche »Des Bohemiens et de leur musique«, er habe bei Sulzer’3 Tempelgelang zum eriten und einzigen Mal den Eindrud von einer wirklichen nationalsfüdiihen Kunft empfangen, während alle anderen, felbit trefflichften Leitungen jüdiſcher Tondichter, Poeten und Maler doh nur ein Nachbilden und Wiederholen chriftlich-abend- ländifher Kunft jeien. Ich Habe den treffenden Ausspruch Liſzt's in feiner vollen Wahrheit empfunden, als ich Sulzer zum eriten Mal hörte. Die Wirkungen des Sängerd, wie alle höchftperfönlichen, erlöfchen mit dem Individuum; nur in der Erinnerung der Zeitgenoffen und den Beftrebungen der Schüler Ihlummern fie wie unter einem Schleier fort. Sulzer hat dafür geforgt, daß fein Name nicht zugleich mit feiner Stimme verflingen wird. Als Schöpfer und Verbreiter eines geregelten Spnagogen:Gefanges hat er fich ein bleibendes Verdienſt ge: Ihaffen, deſſen fichtbare8® Document, der »Schir-Zion«, vor mir aufgeichlagen liegt. Ueber den früheren jüdiſchen Synagogal— Gejang und die einfchlägigen Reformen Sulzer’3 zu urtheilen, fehlt mir die Berechtigung. Die literarifche Belehrung über den eriteren ift mehr als dürftig; dad Gewicht der Tegteren muß ih auf Treu’ und Glauben annehmen. Anerfannt fand id Sulzer’3 Verdienft von Freund und Feind. Sadhfundige bes zeugen, daß Sulzer der mufifalifhen Liturgie der Juden Ordnung, Würde und äfthetifche Form gegeben, daß er fie aus einem wüſten Zuftande der Willkür und Verwahrlofung geriffen. Es jei Sulzer’s Einfluß, wenn Gemeinden, in welchen man eheınal® Pſalmen auf profane Opern: und Liebermelodien bortragen und den Gantor das häßlichſte Schnörfelwerf im— propifiren hörte, fich gegenwärtig in mufifalifch würdigen, wohl- geregelten Formen bewegen. Für die rein muſikaliſche Seite diefer Reform Haben wir einen enticheidenden Anhaltspuntt an dem »Schir-Zione, der von Sulzer herausgegebenen

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großen Sammlung von Gefängen für den gejammten jüdifchen Eultus. Bon diefem Werke ift vor furzem der zweite Theil erichienen, welcher wohl den erjten nicht fo jehr zu ergänzen als zu erfegen beabfihtigt. Er ift dem »erften Theil«, welcher fich überwiegend in deutſchem Muſikſtyl, theils Haydn-Mozartiſch, theils noch viel moderner bewegt, unvergleichlich überlegen. (Der erſte Theil enthielt unter Anderm viele Compoſitionen von Seyfried, Schubert, Fiſchhof, Würfel, Drechsler und Bolkert) Die Geſänge der neuen Sammlung klingen nicht nur fräftiger, origineller und firchlicher, fie tragen au worauf ein großes Gewicht zu legen ungleih mehr das Gepräge jüdiſch-orientaliſcher Muſik. »Schir-Zion« ift nicht etwa eine Compilation oder Bearbeitung älterer Gejänge, fondern durhaus eigene, freie Compofition Sulzer's. Nur in einigen wenigen Chören, ſowie in vielen der recitativartigen Ginzelgefänge des Cantors hat der Componiſt ältere, im jüdi- ichen Gottesdienft zu bejonderer Bedeutung gelangte Melodien zu Grunde gelegt.*) in hohes Alter nehmen übrigens jelbit diefe Reliquien nicht in Anſpruch; die älteften jüdiſchen Me— lodien reichen nicht über 400 Jahre. Bei dem hohen Alter und der ftrengen Zucht der jüdiſchen Traditionen, zumal im Gottesdienfte, wäre es gerade fein Wunder, wollten die Juden ihre älteften Melodien bis zu David, dem Gründer der hebräiſchen Tempelmuſik zurücgeführt wiſſen. Um jo rühmlicher und redlier handelt Sulzer, indem er jede derartige Träu— merei oder Fiction verihmäht, fogar gegen einige Gejang- weiſen ausdrüdlich polemifirend, »welche in ganz unberecdhtigter Weiſe den Schuß des Alterthums für fih in Anſpruch nehmen«.

*) Bei einem der älteften Themen gibt und Sulzer eine An: ihauung der altjüdiſchen Notirungsweiſe (»Neginah«), die in Form von Keinen Häkchen, Punkten und Strichen über den Wörtern ange: bracht, die größte Verwandtichaft mit den altchriftlihen Neumen hat, Indem das Hebräifche zeilenweife von rechts nad links gelefen wird, fo ift es einer Notirung nad) unſerem Muſikſyſtem eigentlich unzu— gänglich. Im »Schir-Zion« find deßhalb nur die Heberichriften in hebräifchen, der ganze gelungene Tert hingegen in lateinifchen Bud; ftaben ausgeſetzt.

Salomon Sulzer. 457

Der zweite Theil der Sulzer’ihen »Schir-Zion«, obwohl natürlich) dem modernen Ton- und Modulationd-Syftem an— gehörig, läßt ein eigenthümliches orientalifch-füdifches Gepräge nirgends vermifjen. Mit voller Anſchaulichkeit tritt dasſelbe allerdings erft heraus, wenn die Note durch den charafteriitiichen nationalen Vortrag belebt und individualifirt wird. Aber auch die Note an fi trägt diefen Typus; wir finden ihn in dem Vorwiegen des Recitativiihen, dad im Munde eine Cantors wie Sulzer den Charakter begeifterten Improviſirens annimmt ; in gewiſſen rhythmiſchen, Harmonifchen, vorzüglichen aber melo— diihen Grundzügen, wiederkehrenden Gadenzen und Schluß: formeln. Ein namhafter neuerer Mufif-Hiftorifer geht offenbar zu weit, wenn er dem jüdiihen Synagogal-Geſang einen originalsjüdiihen Charakter aus dem Grunde abjpriht, weil die Juden feit ihrer Zerftreuung über den Occident überall dem modernen Adoptivlande fich ajlimiliren, jo daß die Muſik der ſpaniſchen Juden fpanifch, der deutichen deutich, der pol- nischen polniſch ſei Man braucht aber nur einmal dem Gottes: dienfte der deutichen, portugiefiihen und polnifhen Juden beizumohnen (in Wien hat man dad Alle ganz nahe), um durch alle Verjchiedenheiten hindurch da überwiegend Gemein jame in ihrem Gejange wahrzunehmen. Und Died gemeinjame iſt eben der ſpecifiſch orientaliide Typus, der weit mehr an arabiiche, türkiſche, perſiſche Weiſen erinnert, als an die Na: tionalmufit der Deutichen, Bortugiefen und Polen. *) Lebt doc im jüdifchen Volfe neben dem Charafterzug der Ajfimilirung der noch ftärfere eined zähen Feſthaltens an den nationalen Sitten und Traditionen. Am ftärkjten wirkt er in den unteren Volksclaſſen, und dieſe find überall die treue, alte Garde der Religiofität. So dürfen wir denn aud im »Schir-Zion«, dem Repräfentanten des modernen Synagogal-Geſanges, einen na:

*) Wie jehr erinnert 3. B. das Klagelied Nr. 345 und Aehn— liches bei Sulzer an den Ruf des Muezzim bei den Türken! Die nahe Verwandtſchaft der jüdifchen mit der arabiichen Geſangsweiſe beftätigt uns (von älteren Sammlungen abgeiehen) ganz neuerdings das Werk von Alerander Chrijtianomwitjch »Esquisse historique de la Musique Arabe« (1853).

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tionalen Grundton anerkennen. Die Gefänge find durchaus pocal, ohne Inftrumental-Begleitung, und werden vom Gantor theild allein, theil® gemeinfam mit dem Chor vorgetragen. Legterer ift ein gefchulter Sängerdhor von Männern und Knaben; die Nichtbetheiligung der Gemeinde, ſowie die Ausſchließung der Frauen vom Tempelgeſang fteht in ftrenger Weberein= ftimmung mit dem alten jalomonifchen Gottesdienft zu Jeru— falem. Bon jchöner, ergreifender Wirkung find die (an unjere fatholifhen Nefponforien mahnenden) MWechlelgefänge zwiichen dem Cantor und dem Chor; jener beginnt allein mit einem kräftigen Motiv die häufigen Intonationen vom Grundton in die Quinte geben ihm den Charakter des Aufenden, Empor: ihmwingenden der Chor erwidert in fürzeren oder längeren vierftimmigen Sätzen. Einige Chöre hat Sulzer mit Orgel- begleitung verjehen und damit thatſächlich gegen allzu orthodore Stimmen für dad Recht der Orgel in der Synagoge plaidirt. Sn großen Räumen ift dies Inftrument zur Unterftüßung und Ausfülung einer Vocalmuſik nahezu unentbehrlich; fein uni- verfal religiöfer Charakter eignet es für jeden monotheiftiichen Cultus. Hiltoriih dürfen die Juden überdies auf ihre »Ma- grepha« und »Mafchrofita« pochen, die, primitiv und bald überwunden, doch immerhin Orgeln waren. Dem dhriftlichen Abendlande verdankt die Orgel ihre Ausbildung, aber nicht ihre Herkunft. Das mufifalifche Verdienſt Sulzer's erjcheint in den Augen de Kenners geiteigert durch viele eigenthümliche, in der Sprade wie im Ritus begründete Schwierigkeiten. Die Melodie muß allezeit dominiren, die Stimme des Cantors dem Chor ſtets voraus und überlegen fein, fein Wort darf wieder: holt werden. Die Terte entbehren jeglicher Strophen-Architef- tonit und fügen fi jchwer dem mufifalifhen Takt und Periodenbau; dazu treten die ftrengften Anſprüche auf die Be- achtung der überaus ſchwierigen Proſodie des Hebräifchen. Der fi) immer weiter auöbreitende reformirende Einfluß dieſes Werkes (man benüßt es bereit3 in amerifanifchen Syna- gogen) verleiht ihm überdies eine culturhiftoriihe Bedeutung.

Waffenruhe am Glavier. Walzer von Brahms. 459

Baffenrube am Glavier. (Wien, im Auguft 1866.)

Wir Freunde hatten den ganzen Spaziergang hindurch Politik getrieben, Vergangenes und Künftiges erwägend, er: duldend. An der Hausthüre angelangt, war e3 und, als fönnten wir nicht fo ſcheiden. Faſt ſchüchtern regte fi die Frage, ob wir nicht ein wenig Mufit machen jollten? Es lag ein Paket Novitäten auf meinen Klavier, uneröffnet, wie feit geraumer Zeit dieſes ſelbſt. Nicht ohne freudige Bewegung gingen wir an die fleinen MWorbereitungen; der Cine öffnete das Paket, der Andere dad Piano. Es verftand fih von jelbit, daß mit vierhändigem Spiel der Anfang gemacht werde. Sit e8 doch die intimfte, die bequemfte und in ihrer Begrenzung vollitändigfte Form häuslichen Muficirend. Sie ift jünger, als unfere Gene: ration mwähnt, und verdanft der rapiden Werbreitung des Glavierjpieles8, der Erweiterung und Vervollkommnung der Pianofortes ihren Aufſchwung. Dad Streichquartett, Trio oder Quintett, das fonft in feinem gut mufifalifhen Haus fehlte, iſt dadurch verdrängt; ein Verluft ohne Zweifel, doch fein Nach— theil für die beftmögliche Kenntniß der Orceiter-Literatur auf der eigenen Stube. Wenn man die Muſikalien-Kataloge aus Haydn's und Mozart’3 Zeit biß über die Mitte von Beethoven's Wirk— ſamkeit durchblättert, fo begegnet man faum einem vierhändigen Arrangement auf Dußende von Bearbeitungen für drei, vier und fünf verſchiedene Inſtrumente. Auch Beethoven’ erſte Symphonien waren längft für Streidhquartett arrangirt, ehe man fie vierhändig zu feßen begann. Heutzutage bringen unfere Concerte feine Ouverture, feine Symphonie, die man nicht jofort im vierhändigen Arrangement verfoften oder nad) genießen kann. Eine Quelle von Vergnügen und Belehrung fließt den Mufitfreunden aus diefem bejcheidenen Gebiete zır. »Wer ift Ihr Vierhändiger?« fragte mic) einft ein paffionirter Dilettant. Seine fühne Wortbildung, fo ganz die Perſönlichkeit negirend und blos die muſikaliſche Nüslichkeit betonend, jchien

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mir jo übel nicht. Ein rechter »Vierhändiger« ift ein Inbegriff von foliden Eigenfchaften. Er fteigt im Werthe, je weniger er zweihändige Prätenfionen macht. Nicht Jedermann kann eine Frau, eine Geliebte, einen Herzens: und Geifteöfreund fein nennen, aber »einen Vierhändigen« follte jeder Sterbliche be— figen, gleichſam als engagirten Tänzer für die mufifalifche Lebenszeit.

Mein Vierhändiger alſo ergreift das Notenpaket, hebt ab wie im Kartenſpiel und lieſt überraſcht auf einem Hefte die Aufſchrift: »Walzer zu vier Händen von Johannes Brahms«, op. 39. Brahms und Walzer; die beiden Worte ſehen einander auf dem zierlichen Titelblatte förmlich erſtaunt an. Der ernfte, ſchweigſame Brahms, der echte Jünger Schumann’, norddeutſch, proteftantifh und unmeltlih mie diejer, fchreibt Walzer? Ein Wort löſt und das Räthſel, es heißt: Wien. Die Kaiferftadt hat Beethoven zwar nicht zum Tanzen, aber doch zum Tänzefchreiben gebracht, Shumann zu einem »Faſchingſchwank« verleitet, fie hätte vieleiht Bad jelber in eine ländleriihe Todfünde verftridt. Auch die Walzer von Brahms find eine Frucht jeines Wiener Aufenthaltes, und wahrlid von jüßefter Art. Nicht umfonft hat diejer feine Organismus fih Jahr und Tag der leichten, wohligen Luft Deiterreihd ausgelegt feine »Walzer« wiſſen nachträglich davon zu erzählen. Fern von Wien müflen ihm doch die Strauß’ihen Walzer und Schubert? Ländler, unfere Gftanzel und Sobdler, jelbit Farkas' Zigeunermufit nachgeklungen haben, dazu die hübſchen Mädchen, der feurige Wein, die waldgrünen Höhen und was ſonſt nod. Wer Antheil nimmt an der Ent: widlung dieſes echten und tiefen, bisher vielleicht einfeitigen Talente, der wird die »Malzer« als glüdliches Zeichen einer verjüngten und erfriichten Empfänglichkeit begrüßen, ala eine Art Belehrung zu dem poetifchen Hafisglauben Haydn’s, Mozart’3 und Schubert’3. Welch reizende, liebenswürdige Klänge! Wirkliche Tanzmufif wird natürlich niemand erwarten: Walzer: Melodie und Rhythmus find in künſtleriſch freier Form be- handelt und dur vornehmen Ausdruck gleihjfam mobilifirt. Trogdem ſtört darin feinerlei fünftelnde Affectation, fein raf-

Waffenruhe am Clavier. Walzer von Brahms 461

finirte®, den ZTotaleindrud überqualmendes Detail überall herricht eine schlichte Unbefangenheit, wie wir fie in dieſem Grade faum erwartet hätten. Die Walzer, fechzehn an der Zahl, wollen in feiner Weiſe großthun, fie find durchwegs furz und haben weder Einleitung noch Finale. Der Charafter der einzelnen Tänze nähert fich bald dem ſchwunghaften Wiener Walzer, häufiger dem behäbig wiegenden Ländler, mitunter tönt wie aus der Ferne ein Anklang an Schubert oder Schumann. Gegen Ende des Heftes Elingt e8 wie Sporengeflirr, erft leife und wie probirend, dann immer entjchiedener und feuriger Mir find, ohne Frage, auf ungariihem Boden. Im vorlegten Walzer tritt die8 maghariſche Temperament mit braufender Energie auf; der Dreivierteltaft erjcheint faſt als eine Sfurzze des raſchen Allabreveichrittes im Cſardas; als Begleitung erdröhnt nicht der ruhige Grundbaß des Strauß’fhen Or: cheiter8, jondern das leidenjchaftliche Geflatter des Cymbals. Dhne Zweifel Hätte dies Stüd den effectvolliten Abſchluß ge: bildet, allein e3 liegt ganz in dem Weſen Brahms', den feineren und tieferen Eindruck dem raufchenden vorzuziehen. Er jchließt, zum öſterreichiſchen Zändlertone zurückkehrend, mit einem furzen Stüde von bezauberndem Liebreiz: ein anmuthig tiegender Geſang über einer außdrudsvollen Mitteljtimme, welche im zweiten Theile unverändert ala Oberftimme erfcheint, während dazu die frühere Hauptmelodie nun die Mittelftimme bildet. Das Ganze in feiner durchſichtigen Klarheit zählt zu jenen echten Runftitüden, die Keinem auffallen und Jedermann entzüden. Das Brahms'ſche Heft erläßt dem Spieler jedwede Bravour oder Anftregung, appellirt aber an ein feines mufifalifches Ge— fühl. Die einzelnen Walzer find ſehr verjchiedenen Tem: perament3, der Spieler erräth dasfelbe mehr aus ihrem muſi— faliihen Inhalte, al3® aus den fparfamen Tempo: und Vor— trag&bezeichnungen,

Auch Schubert’3 »Ouverture im italieniichen Style« in C-dur (Partitur und vierhändiges Arrangement bei Spina) jpielten wir zum erjtenmale. Sie war nebft einer gleichbe- titelten zweiten (in D-dur) noch zu Lebzeiten des Componiften ein beliebtes Concertftüd in Wien, was befanntlich wenig

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Schubert'ſche Compofitionen von fich rühmen konnten. Während wir jeßt die früher verfannten oder ganz ungelannten Werke Schubert’3 hervorſuchen und hochſchätzen, find feine »Italie— niſchen Ouverturen« falt ſpurlos verihollen. Schubert Ichrieb fie zur Zeit des epidemifchen Roſſini-Fiebers in Wien, theil3 mit ironiſcher Abficht, theil® wirklich getroffen von der glänzenden Neuheit diefer Erjcheinung. Der Roſſini'ſche Einfluß wirkte zu Anfang der Zwanziger-Jahre mit der Inwiderftehlich- feit einer Naturgewalt. Vielleicht der merfwürdigfte Beleg dafür ift, daß in den Werfen Spohr’3, Weber’ und Schubert's, diefer drei leidenſchaftlichen Roſſini-Gegner, ſich deutliche Spuren dieſes Einfluffes erkennen, und durch eigene Ausſprüche Diefer Meifter biographiſch conftatiren laſſen. Die »Italieniſche Ouver— ture in Ce, gefällig erfunden und effectvoll inſtrumentirt, gibt freilih weder den echten Schubert noch den echten Rojfint. Schubert mußte feine beſte Cigenthümlichfeit verleugnen, um jene Roſſini's doch nicht zu erreichen.

Unfere vier Fäufte Hatten die beiten Stollen des Noten: gebirges allmälig ausgefchürft, nur ein unheimlich glimmerndes Geftein lag noch unberührt: NRihard Wagner. Mit etwas ängftliher Neugierde jchlugen wir den neuen »Huldigungs— marſch« auf, den Richard Wagner dem jungen Könige von Baiern widmete. Der Marſch beginnt mit einer jentimental: pathetiihen Einleitung, in welcher da unvermeibliche chroma— tiiche Gemwinfel wenigiten® auf langjame Noten vertheilt ift. Ein Trompetenftoß unterbricht diefe Meditationen, und die Huldigung marihirt nun etwas ftrafferen Schrittes, aber mit äußerſt alltäglihen Ideen weiter. Wir zweifeln feinen Augen: blid, daß Wagner, als er fich behufs dieſer Inſpiration »das Berzeihniß feiner Sclafröde« reichen ließ, den roth- jammtenen mit Goldquaften und Türkiſenbeſatz gewählt Habe. Uber leider kommt diefer Farben und Juwelenglanz jelbft in dem begeiftertiten Clavierauszug nicht zu Tage und bleibt nur der einfache muſikaliſche Schnitt. Wir können nicht dafür, daß diefer Schnitt uns überaus gewöhnlich und bürgerlich vor— fommt. Der »Huldigungdmarich« erinnert in vielen Wendungen an die Feſtzüge im »Tannhäufer« und »Lohengrin«, ohne dieje

Waffenruhe am Glavier. Schubert. R. Wagner. 463

auch nur entfernt zu erreihen. Wir wiflen nicht, was Alles die Eingeweihten in diefe Mufif etwa Hineingeheimniffen, be— zweifeln aber, daß fie jemand Anderem als dem damit be- grüßten freigebigen Souverän bejonders theuer jein werde. Sit da Arrangement des »Huldigungsmarjched« eine neue Probe von Bülomw’3 Gewandtheit, jo grenzt das Unternehmen feines Freunde® Taufig, die Dupertüre zu den »Meifterfingern von Nürnberg« für vier Hände zu fegen, hart and Unmögliche. Der Huldigungsmarih ift doch noch jedenfall königlich baterifche Mufit, aber in dem Spectafel der »Nürnberger« Wolfsſchlucht hört jeder Gedanke an Mufif auf. Das Wiener Bublicum hat dies blutrünftige Vorſpiel zu einer »fomifchen Oper« vor zwei Fahren im Original genofjen und erinnert fi, was es damals hörend erlebte. Was aber vollends Menichenhände spielend dabei erdulden, weiß nur, wer es ſelbſt verfucht. Uns war zu Muthe, als bahnten wir und mit bloßen Armen einen endlojen Weg durch Neflelgebüfh und Dornenheden, um zu einem Ziele zu gelangen, das faſt noch jchlimmer als der Weg dahin. Zu erfhöpft waren wir von dem mörbderifchen Handgemenge, um weiterzufpielen, zu ärgerlid aufgeregt, um jo den Abend zu befchließen, den wir dem Frieden und der Harmonie zugedadt. »Dieſe Muſik ift ja ärger als Krieg und Bolitif!« rief ent- rüfteft mein mir an die linfe Hand getrauter Kamerad. Was num anfangen? Wie eine Leuchtfugel ftieg uns der Gedanke auf, daß heute Strauß im Volksgarten fpiele, und ſporn— ſtreichs eilten wir Hin, als folgte und die Zunft der Meifterfinger auf den Ferſen. Im Volksgarten jchimmerte es fröhlih von Lichtern und Klängen, Strauß begann eben mit ſchwungvollem Geigenftrih jeine Walzer: »Auf den Bergen«. Die Opfer des Nürnberger Meiſtergeſangs aber ſanken aufathmend auf eine Gartenbanf und waren glüdjelig wie auf den Bergen.

Wir hatten am nächſten Abend nichts Neues zu vier Händen, fondern wechjelten einander einzeln am Glavier ab; ein Spieler, ein Hörer. Mehrere Clavier-Compofitionen aus Liſzt's neuefter geitlicher Periode erregten vorzugsweiſe unſer Intereſſe; kann doch Niemand, der je mit dem merfwürdigen Mann verkehrte,

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jelbit dem nachwirkenden Zauber feiner Perſönlichkeit fich ent: winden. Und eben Ddiefe Perjönlichkeit beſchäftigte uns aud heute lebhafter als deren mufifaliide Spenden. Die Hefte durchblätternd, erinnerten wir und eines Briefes von Mlerander v. Humboldt an Barnhagen, worin Erfterer ungefähr aus— fpricht, er fei alt genug geworden, um jelbit über das Un— gereimtefte nicht mehr zu eritaunen. »Nur«, fo fchließt Der Brief, »nur der ungariihe Ehrenmönch bleibt mir räthjelhaft«. Gene von Humboldt angejpi:lte Chrenaufnahme Liſzt's in den Status eined ungariihen Klofterd, das fih ihm äußerft gaftfrei erwiejen hatte, war nicht viel mehr als ein Act der Höflichkeit von beiden Seiten, ohne bindende Confequenzen. Warum follte der phantafievolle Metamorphofenmann, der in Jena im deutfchen Studentenwamms, in Peſt im verichnürten Magyarenrod mit Säbel und Sporen, anderwo wieder anders auftrat, nicht auch einmal den poetifchen Contraft des Klofter- habit3 empfinden und fih für einen Tag zum Gapuziner träumen? Al jedoch Liſzt vor etwa einem Jahre in Nom wirklich die MWeihen empfing, machte es mit Recht einige Sen: jation, denn nad jeinem Lebenslauf und Temperament jchien der berühmte Pianift nicht eben vorzugsweiſe zum Geiftlichen prädeſtinirt. Indeß mer vermödte in dad Innerſte eines Menichenherzend zu bliden! Mer wäre vermeffen genug, über einen Schritt zu urtheilen, der nur über einen Abgrund von Gemüthskämpfen hinweg denkbar ift und verläugnungdftarf ein Leben in zwei Hälften briht? Wir hatten ernftlich verjucht, uns diefen Schritt aus Liſzt's Weſen pſychologiſch zu erklären, und gelangten dahin, ihn auffallend zwar, aber nicht unbe: greiflich zu finden. Wäre e8 denn wirklich jo unnatürlih, daß ein leicht erregbarer, phantaftifher Menfch, der, feit feiner Kindheit von einem Triumph zum andern geworfen, in einem wildbewegten Leben alle Genüffe, Ehren und Aufregungen bis zum Uebermaß durchgefoftet hat, fih in jeinem 55. Jahre ſchmerzlich überfättigt und unbefriedigt fühle? Daß er von dem raufchendften MWeltgenuß in den Gegenſatz einer ascetiſchen Frömmigkeit verfale und den Blick von diefer ihm nur zu befannten Welt nach einer andern, ungefannten wende? Mir

Waffenruhe am Klavier. Lilzt. 465

glaubten in der That, Lilzt jehne fich, mit der weltlichen Tracht auch alles weltliche Trachten abzulegen, und werde, unbe- fiimmert um den Schmerzensjchrei der feinen Gejellihaft fortan in frommer Beichaulichkeit ausruhen. Was gejchah, war gerade das Umgefehrte. Liſzt, der fich vor feiner Priefterweihe eine zeitlang Hinter den Sixtiniſchen Weihrauchswolken verborgen gehalten, tritt raich und munter in die fündhafte Welt heraus. Er eilt von Rom nah Peſt ald König eines ihm vorbereiteten Mufikfeites, dirigirt dort im geiftlichen Kleid feine »Heilige Eliſabeth« und entzündet durch fein Clavierfpiel dag magyarijche Publicum. Hierauf ftürzt er fih in den fünftlerifchen Strudel von Paris, bringt jeine Feltmeffe niit großem Pomp zur Auf. führung und ſoll dort jogar wie mißig ijt das Leben! durch fein heilige® Clavierjpiel ein Frauenzimmer zur Tugend befehrt haben. Das Weltkind Liſzt Tpielte wunderbar, der Abbe jpielt Wunder.

Liſzt hat ſeit jeiner Prieſterweihe ziemlich viel Clavier⸗ ſtücke publicirt; Transſeriptionen aus Mozart's Requiem und aus Pergoleſe's geiſtlichen Melodien, eine Humne an den Papſt, endlich zwei »Legenden« für Clavier, die uns beſonders charakteriſtiſch erſcheinen. Sie behandeln ein Wunder des heiligen Franz von Aſſiſi (»La predieation aux oiseaux«) und eines vom heiligen Franz de Paula (»St. Francois de Paule marchant sur les flots«). Wie uns das franzöfiihe Vorwort ausführlih erzählt, traf Franz von Aſſiſi einſt auf der Heer: ftraße eine Menge Vögel und hielt ihnen eine Predigt. Die Vögel hörten aufmerfjam zu und rührten ſich nicht vom Flecke, obgleich der Heilige, unter ihnen wandelnd, fie mit dem Talar ftreifte; erit nachdem er ihnen den Segen ertheilt, flogen die Vögel genau in Kreuzesform nach den vier MWeltgegenden da: von. Dem heiligen Franz de Paula verjagten einjt in Meſſina einige Schiffer die Aufnahme in ihr Boot; der Heilige achtete nicht darauf und ging trodenen Fußes über das Meer. Zur eriten Legende bemerkt Lilzt gar befcheiden, daß feine geringe Geſchicklichkeit und vielleicht die engen Grenzen des muſi— falifichen Ausdrudes im Clavier ihn gemöthigt hätten, Hinter der munbderbaren MHeberfülle der Wogelpredigt ſehr zurückzu—

Hanslick. Aus dem Concertiaal. 2. Aufl. 30

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bleiben, weßhalb er »le glorieux pauvret du Christe um Ber: gebung anfleht.

Sieht man nah alledem die beiden Muſikſtücke ſelbſt an, fo findet man zwei gewöhnliche brillante Goncert-&tuden, deren eine als mufifaliiches Motiv dad WVogelgezwiticher, die andere dad Meeresbrauſen nachahmend fortipinnt. Die Stücke find dankbar für den Virtuofen und nicht ohne pifantes Dif- fonanzengewürz; natürlih forgt die Wogelpredigt für Die Bravour der rechten Hand, der MWogenfpaziergang für die Der Iinfen. Dieſe Compofitionen fönnen offenbar ebenjogut » Les amours des oiseaux« und »Souvenir des bains d’Östende« heißen und hätten vor zehn Jahren wahricheinlih auch jo ge- heißen. Wielleicht führt uns Lilzt nah und nah aud Die übrigen Heiligen in derjelben gefälligen Manier vor. Vorläufig müfjen wir befennen, daß dieſe Appretirung des Heiligenfcheins für den Concertſaal, diefe getrillerten und gehämmerten Mirafel und einen unfäglich Eindiichen Eindrud machen.

Wir waren, wie gejagt, wirfli der Meinung, der Abbe Liſzt werde feine Weltentjagung ernithaft nehmen und den mufttaliihen Salonbeftrebungen von ganzem Herzen Adieu jagen. Haben wir darin geirrt, jo war noch ein zweiter Weg denkbar: die vollftändige Trennung des Künftler® vom Geiſt— lihen. Manche feiner Freunde äußerten wiederholt die Meinung, Liſzt habe durch die neue Standeswahl hauptſächlich eine voll: ftändige materielle Unabhängigkeit erreihen wollen. So wenig wir diefer Motivirung beifallen möchten, welche zu Liſzt's all zeit nobler, uneigennüßiger Denfart nicht wohl ftimmt, fo wenig hätten wir, falls fie wahr ift, ein Recht, ohnemweiters darüber abzuurtheilen. Mannigfahe uns unbekannte, vielleicht jehr erhebliche Umftände mögen hier zujammengemwirft haben, und Umftände find, nad) Rahel, die Minifter der Götter. In diefem zweiten Fall (daß nämlih nicht Glaubensbedürfnif, fondern triftige äußere Motive Liſzt dem geiftlichen Stande zu: führten), wäre es uns nur natürlich erfchienen, wenn er als Componiſt der Kunftwelt gegenüber feine Geiftlichfeit gar nicht betont, Sondern als eine rein innere, häusliche An: gelegenheit ignorirt hätte. Er wäre für den Batican der neue

Waffenrube am Clavier. Liſzt. 467

Abbe, für die Muſikwelt der alte Liſzt geblieben, derfelbe Liizt, welcher mit feinen Symphonien Shalfpeare, Goethe und Byron, mit feinen Clavierftücen lediglich die moderne Virtuofität gefeiert hat. Wir hätten ihm den Muth zugetraut, feine Mufif un— tonfurirt zu laſſen. Gerade diefe Verquidung geiftlicher Titel mit weltlihem Inhalt, dieſes Abbe-Spielen und Lilzt-Sein, oder Lilzt-Spielen und Abbe-Sein, iſt es, was und an der neueſten Phaſe des ausgezeichneten Mannes nicht recht behagen will. Die Salon:Bigotterie der »Legenden«, zufammengehalten mit der Halt des Gomponiften, fih dem ungariihen, fran— zöfiihen, deutihen Publicum im Abbemäntelhen vorzuführen, und fo mit einem neuen Reiz auögeftattet die Tanggemiedene Deffentlichfeit wieder aufzufuchen, mußte die Vertheidiger feines wahren geiftlihen Berufes befremden, MWenn nicht daS Weſen, jo ift doch der Anjchein vorhanden, als pfropfe Liſzt weltliche Reiſer auf geiftlihen Stamm.

Sn dieſer jeltjamen Stellung und Thätigfeit hat Abbe Liſzt in der Mufitgefchichte einen Vorgänger bon frappanter Aehnlichkeit; den berühmten Abbe Vogler. Es nimmt uns Wunder, diefe Doppelgängerihaft noch nirgends hervorgehoben zu finden. Abbe Vogler (geboren 1749, F 1814) war ein Manı von umbeftreitbarer Genialität und glänzender Viel— jeitigfeit; eine Erjcheinung, mit der verglichen zu werden Liſzt ficher nicht zur Unehre gereicht. Berühmt als Schriftiteller und Componiſt, als Clavier- und Orgelvirtuofe, fpielte Vogler durch fein geiftreiches, originelles Weſen eine glänzende Rolle in der Geſellſchaft und übte auf feine Schüler und Verehrer eine Art Zauber. In der fchildernden, poetifirenden Tendenz feiner Muſik deutet er gewifjermaßen auf die Zufunftsmufif; er fpielte auf der Orgel den »Tod Herzogs Leopold’3 in den Fluthen«, die »Belagerung von Seriho« u. dgl. Seinen Verehrern war Vogler geradezu ein Wundermann, feinen Gegnern ein geift- reicher Charlatan. Vogler's Erfolge in Wien in den Jahren 1803 und 1804 repräfentirten für jene Zeit ungefähr den Liſzt-Enthuſiasmus unferer Tage Ein gewiſſes Maß von Charlatanerie fonnte Abbe Vogler in feinem feiner Fächer entbehren, namentlich, wußte er feinen künſtleriſchen Nimbus

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trefflich durch den geiltlichen zu erhöhen. Forkel's Almanach erzählt, wie Vogler, wenn er bei Jemandem fpielt, »zuvor fein Betbuch hinſchickt, und nachdem er eine Weile dageweſen ift, ‚plöglih aufiteht, in ein anderes Zimmer geht, wo er feine Geele neben fich leidet, und dba aus jeinem Buche betet«. Zu ſolch eitlem Comödienſpiel wird Liſzt unſeres Erachtens der aufrichtigere und bedeutendere Künſtler ganz gewiß nie herabſinken. Aber die äußere Aehnlichkeit und die innere Ver— wandtſchaft zwiſchen dieſen zwei merveilleuſen Naturen iſt un— verkennbar, und jo leiſten und beide Abbés gleicherweiſe den Dienft, einer den andern zu erflären.

1867. ÖOrchefter:Soncerte.

Der Heißler’ihe Orcheſterverein, dieſer verſchämte Veilchenſtrauß, erfreut uns diesmal mit einer in Wien noch unbekannten Ouverture von Mendelsſohn-Bartholdy. Es iſt dies die C-dur-Duverture op. 24 für Harmoniemuſik, deren Vorführung wir unjeren größeren Concert-Inftituten bereitö vor Jahren vergebens vorgeichlagen haben. Hervorragende Be: deutung, etwa neben den bier Concert:Duperturen, fann man diefer Compofition freilich nicht beilegen, aber jollte ein hier noch unbekanntes Orchefterwerf von Meudeldfohn nicht jchon aus diefem Titel allein den Verſuch einer Aufführung ver: dienen? Hat auch Mendelsjohn die C-dur-Duverture nicht mit dem vollen Aufgebot jeiner Phantafie, dem ganzen Reichthum feines Kunſtvermögens geichaffen, jo waltet doch unverkennbar feine Meifterhand in dem klaren, ftattlihen Bau und dem feinen Schliff des Ganzen. Mendelsſohn gab nichts aus der Hand, was nicht in feiner Art fertig und volllommen daftand. Die Ouverture mit ihrem füßen, ruhigen Wohllaut im Andante und der fröhlichen Lebendigkeit im Allegro muß jeden Hörer frifh und liebenswürdig anmuthen. Dieje beicheidene und doch wirfjame Modulation, diefe Klarheit und gefunde Fröhlichkeit erinnert manchmal an Mozart, der befanntlich auch nicht immer »bedeutend« ſchrieb. Nur für Blas-Inſtrumente geſetzt, iſt Die Duperture ſchon dadurd eine Specialität unter Mendelsſohn's Werfen und erichiene als folche in der Urgeftalt am intereſſan— teften. Im Orchefterverein war daran natürlich nicht zu denfen,

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er mußte fih mit einem von Heißler gearbeiteten Arrange- ment für ganzes Orcheſter behelfen. Dieje Bearbeitung ver- dient unbedingtes Lob, ja fie dürfte dem mufifaliihen Geſchmack des Concert-Publicums mehr zujagen, als das Original. Denn an fich verhält fih doch immer die Harmoniemufit zum vollen DOrcheiter wie das Fragment zum Ganzen, wie ein Behelf oder Arrangement zum reichen Original. Gewiß Klingen die rafchen Sechzehntel-Baflagen, die im Allegroſatz charafteriftiih vor: herrichen, edler und feiner in den Violinen, als von fchreienden F-Glarinetten vorgetragen, wie es das Original will.

Gehen wir von dem maderen Dilettanten-Concert und jeinen mehr vom beiten Geilt als vom reinften Ton bejeelten Spielern zu den aufs Feinfte geglätteten Productionen unserer Philharmoniker über, die gleichfalls eine noch nicht gehörte Mendelsſohn'ſche Duverture zur Aufführung braten.

Componiften, welche fih glüdlih auf eine anjehnliche Nuhmeshöhe Hinaufgearbeitet haben, pflegen dann außer dem Slanze ihrer Erfindung auch den mühelojeren ihres Namens zu nügen und ſchwächere Jugendwerke zu veröffentlichen, welche früher, ohne den Schuß einer berühmten Flagge, unbeachtet auf hoher See verjhollen wären. Das find Geiftesfinder, die nicht jowohl dem Namen ihres Erzeuger Ehre maden, als jelber durch diefen Namen zu Ehren fommen jollen. Selbit Beethoven, der doch zuerit der wahllojen PVieljchreiberei ein Ende gemacht, verichmähte es nicht, von feinem geficherten Throne herab zumeilen jugendliche Bagatellen (mit oder ohne diefen Titel) an bittende Verleger auszufolgen. In dieſem Punkte gab e8 faum ein fledenloferes Mufter von Selbitkritif und Selbitverleugnung, ala Felir Mendelsſohn. Früh ent- widelt und productiv wie er war, hatte Mendelsfohn viele größere Jugendarbeiten aufgeitapelt, um welche ihn jpäter bie Verleger beitürmten und deren günftige Aufnahme zu jener Zeit außer Zweifel ftand. Der Meifter widerftand aber heroiich; was jein künſtleriſches Gewiſſen nicht als reif uud vollgiltig erfannte, gab er nimmermehr an die Deffentlichkeitt. Die im zweiten Philharmonie-Concert zum eritenmale aufgeführte C-dur- Duverture ilt ein neuer Beleg für diefe Strenge Mendelsjohn’s

Duverture bon Mendelsiohn. Concert von Händel. 471

gegen ſich ſelbſt. Das Werk ſtammt aus Mendelsſohn's fieb- zehnten Lebensjahre und iſt erſt kürzlich von jeinen Erben unter der Opuszahl 101 veröffentliht worden. Die »Troms peten-Ouperture«e (aljo genannt nad dem dreimal aufrufenden C der Trompeten zu Anfang und im Verlaufe des Stiüdes) ijt ein intereffanter Beitrag zur Entwidlungsgeichichte Mendels— fohn’3 und eine freumdlich überrafchende Gabe für Jeden, der mit bejcheidenen Erwartungen berantritt. Neben der Klarheit und Logik des muſikaliſchen Gedankens, welche Mendelsſohn überall auszeichnen, weift die Duverture eine Beherrichung der Form und der Orcheltermittel auf, wie fie jo früh nur wenige Meiſter errungen haben. Sie raufht in einem ununterbrochenen Allegrozug ſchmuck und feitlih dahin. Was fie zu jagen hat, ift freilich nicht von bejonderer Neuheit oder Bedeutung, fie jagt es auch mit ziemlich vielen Morten. Mendelsſohn's harakteriftiihe Phyſiognomie findet fi hier noch nicht aus— geprägt, höchiten® daß der Anfang des Durhführungsiages it B-dur mit dem leifen Wogen der getheilten Violinen die Romantit der »Hebriden«e und der »Melufine« voraus: jpiegelt. Im Ganzen jcheint die ftarf von Mozart'ſchem Ein: fluffe zeugende Duverture mehr einer emfigen, ihr Wiflen und Können erprobenden Arbeit, ala dem Drange der Begeifterung zu entftammen; ja die contrapunftiichen Partien des Durd)- führungsfaßes mit ihrer matten Rhythmik und ihrem Roſalien— Veberfluffe haben etwas geradezu Trodened, Doctrinäres. An Friſche und Originalität der Erfindung ftehen die jugendliche »NRuy-Blad«-Duverture und jelbjt jene »für Harmonie-Mufif« entichieden höher. Immerhin gebührt Herrn Capellmeiiter Dej- joff aufrichtiger Dank für dieſe intereffante Neliquie, des— gleihen für eine noch viel ältere Novität, welche er unmittelbar darauf vorführte. Wir meinen Händel’3 G-moll-Concert für Streihordheiter mit zwei obligaten Violinen und einem Violon- cell. Inſoweit Händel's Inftrumentalwerfe und den in der Chor-Eompofition ungleih mächtigeren Meifter überhaupt zu repräjentiren vermögen, iſt das G-moll-Goncert ein echter und ganzer Händel. Ohne die Tiefe und den Combinations-Reichthum ähnlicher Suiten von Bach, beſitzt das Werk doch anmuthige

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und fräftige Ideen in effectvoller Faſſung. Es iſt das ſechſte bon zwölf großen Goncerten, die Händel ſämmtlich im Laufe eines Monats (October 1737), alſo ſehr raſch, geichrieben Hat und die in England bald größte Beliebtheit erlangten. Dünkt es unserem ernithaften philharmoniichen Bublicum nicht jeltiam, daß diefe Concerte zu Händels Zeit als Lieblingsnummern in den öffentlichen Concerten von Baurhall und Marylebone figurirten? Der erfte Sag de8 G-moll-Goncertes iſt ein ſehr ernfte8 Largo von Schöner Breite und Fülle. Es führt zu einem vierjtimmigen fugirten Allegro, deſſen chromatiſch an- hebendes, dann in wunderliche Intervalle gerathendes Thema wohl vorzüglih durch feine Eigenart und Schwierigfeit den Componiiten reizte. Der dritte Sag (der einzige, der die Haupt: tonart verläßt) ift eine Chaconne in Es-dur, mit leierartig fortichnurrendem Baß (»musette«), ein überaus wirkſames, populäres Stück von altfränkiſch graziöfer Haltung. Nah Bur— ney's Erzählung war dieſer Saß bei dem Gomponiften mie beim Bublicum bejtändig und vorzüglih in Gunft und wurde von Händel oft zwiichen die zwei Theile feiner Oratorien eingeihoben. Dem Wiener Bublicum gefiel wieder Erwarten das furze darauffolgende Allegro im Drei-Achtel-Takt noch befler, das zur Miederholung fam. Es wirft mehr dur die feinen Vortrags-Effecte, als durch befonderen Ideengehalt. Das Con— cert ſchließt mit einem energiſch einſetzenden Allegro, das mi ſeiner geringen Modulation und ſtereotypen Phraſen nicht über eine gewiſſe conventionelle Stimmung hinauskommt. Das Finale iſt von Ferdinand David mit einer Cadenz verſehen, die mehr wie ein Ueberbein als wie ein natürlicher Schmuck herauswächſt und ſehr ſchwächlich »händelt«, wo fie von dem Recht des Lebenden guten Gebrauch hätte machen fünnen, Sollte ed noch Jemand wagen, die bluttriefende »Medea« als Oper zır bearbeiten, jo müßte er wohl auch eine Duverture dazu erfinnen. Sich jedoch gerade diejen gräßlichen Stoff für eine Concert:Ouverture auszuwählen, wie Bargiel thut, dünft und minder nothwendig. Unfere neuen Componiften jcheinen unerfättlihd am Tragiihen wo fchreibt noch Jemand eine Duperture, iiber welche Frohfinn und Lebensfreude fih ſonnenhell

Bargield »Mebea«. 473

ergöffen? Unſere Vorfahren vermieden die düſterſten Schatten des Tragiſchen in der Mufik, jelbit wo der Gegenftand fie forderte: Gluck's Duperture zu »Orfeo«, die von Gimarofa zu den »SHoraziern und Guriaziern«e und Mehnliches könnte man füglid bor einer Opera buffa fpielen. Im Gegenfake dazu benügen wir die vollftändige ftoffliche Freiheit, welche die moderne Erfindung der Concert-Ouverture und dar: bietet, faft nımr für Nachtgemälde und Tragddien. Sollte wirklich das Heitere fich gar nicht mehr für den »biltinguirten« Ton: dichter ſchicken und nur den Tanzcomponilten überlaflen bleiben? Dann wird man allmälig Tanzmuſik in den Goncertiaal zichen und das Publicum wird jubeln, wie im le&ten Phil: harmonischen Goncerte, als nah Bargiel's foldifcher Kinder: mörderin Webers »Aufforderung zum Tanze« wiegenden Schrittes hereinfchwebte. Die Philharmoniker können dieſe Eompofition getroft in jedem Faſching wieder bringen fie ift auch gar zu beftricend in dem feligen Rauſch ihrer jungen, unter dem Tanzen aufblühenden Liebe. Die Inftrumentation von Berlioz wirft am jchönften in ihren einfachiten Intentionen : dem Alterniren der Geiger mit den Bläfern, dem Gejang der Oboe und des Cello, in der Tieblihen Monotonie der taft: weile nachfchlagenden Hörner; was und jedesmal mikfällt, ift nur das pfeifend herabgleitende Uniſono der Flöten und Harfen ein gemeiner Klang, wie von einer jener Miniatur: Drehorgelu, mit welchen man den Geſangsunterricht talentvoller Gimpel und Ganarienvögel zu unterftügen pflegt. Die Schluß- nummer großer Goncerte gilt als Ghrenplaß; die Philhar- monifer hatten ihm deßhalb Schumann’ »Sinfonetta« (Duper- ture, Scherzo und Finale) angewiejen. Trotzdem litt das poetiiche Helldunfel dieſes liebenswürdigen Bildchen unter der Nachwirkung der unjäglichen Helle, die Meber’3 »Aufforderung zum Tanze« verbreitet hatte.

63 folgte Mozart’ herrliche Clavierconcert in C-dur (Nr. 467 bei Köchel); Herr Epftein ilt der Einzige, welcher ſyſtematiſch durch eine Reihe von Jahren Mozart’iche Clavier— concerte zum öffentlichen Vortrag wählt und fie einer leider drohenden Vergeſſenheit entreißt. Won Mozart’3 Clavier-Com—

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pofitionen find unzählige rettungslos und nicht unverdient vom Zeitftrom fortgeſchwemmt; höchſtens der Elavierlehrer ımd der Geihichtsforicher fünmern fi noch darum, dad Publicum nimmermehr. Anders verhält es ſich aber mit den (Miener) Eoncerten Mozart's; fie bezeichnen den Höhenpunft jeines Clavierſtyles und übertreffen weit jeine übrigen Soloſtücke, mit einziger Ausnahme der wunderbaren C-moll-Bhantafie, welche direct auf Beethoven nit nur hinweiſt, ſondern geradezu wie ein Wunder in deffen zweite Periode hineinragt. Mit gutem Recht fann Mozart der Schöpfer der modernen Slavierconcerte heißen, wie ja dad Fortepiano jelbft erſt unter ihm zum concertfähigen Inftrument wurde.

Bollmann’3 neue B-dur-Symphonie, dad Eröffnungd- ftüd des dritten Philharmonie-Concertes, klingt wie eine Art mufifalifcher Ausgleich zwiichen Deutfchland und Ungarn. Der in Sachſen geborene Componift verleugnet ebenjomwenig fein deutjches Vaterland (oder gar die engere Landsmannſchaft Schu— mann’), als die maghariſche Luft, die er jeit einigen Jahren auf feiner teilen Refidenz in Ofen einathmet. Mit der größeren Verbreitung und Würdigung von Franz Schubert’3 Inſtru— mental-Gompofitionen bat fi auch deſſen Worliebe für uns gariihe National» Melodien verbreitet und jüngeren Compo— niften eingeprägt. Wir befiten ein ganzes »Ungariſches Con— cert« von Joachim, inmphonifhe und Kammermufifen von Liizt, Volkmann, Brahms, Herbed und Anderen, mworin magyariihe Rythmen und Melodien mit Entjchiedenheit auf: treten. Auch Robert Volkmann's B-dur-Symphonie (Nr. II, op. 35) iſt von ungarifchen Motiven durchzogen. Glüdlicher: weile hat der Componift von dieſen erotifchen Reizen feinen den Symphonie-Styl compromittirenden Gebrauch gemadt, er bleibt überall gemäßigt, ernft und deutfcher Form getreu. Am meilten verräth das energiihe Thema des erſten Sates (fünf: taftige Periode) ungarifches Blut; mit fanften, deutichen blauen Augen Stellt fi das zweite Thema bejänftigend dagegen. Es mahnt an Schumann, wie mander Zug im Verlauf der Symphonie. Was man dem eriteren Sag, ja mehr oder minder der ganzen Symphonie wünſchen möchte, ift eine größere

Volkmann's B-Symphonie. Schubert's »Rojamunbe«. 475

rhythmiſche Abwechsſslung. Diefe ungariſchen Synkopen haben die Eigenthümlichkeit, einen mit ihnen anbindenden Componiſten nicht ſobald wieder loszulaſſen. Volkmann hat mit vornehmer Zurückhaltung in der ganzen Symphonie keine Poſaunen ver— wendet; im erſten Satz vermißt man ihre dröhnende Kraft. Machte der erſte Satz auf die Verſammlung keinen tieferen Eindruck, ſo gefiel deſto mehr der zweite: ein Allegretto von gleichmäßiger graziöſer Bewegung, mit einem Stich ins Pikante. Das folgende Andantino im Sechsachteltakt beginnt wieder volksthümlich mit einem ärmlichen, klagenden Geſang der Oboe über monoton pizzikirten G-moll-Dreiklängen. Das Bild eines auf jeinem Schilfrohr blafenden, einſamen Bußtahirten ftellt fih bier von jelbft ein. Das Motiv wiederholt fich gegen den Schluß immer öfter und jchneller, im Unifono aller Streich» inftrumente anjchwellend, bis es £opfüber in das Finale ftürzt. Dieſes in punktirten Aditelnoten wie ein luſtiges Bergwaſſer herabfließende Allegro könnte »Tarantella« überfchrieben fein, - ließe nicht das Seitenmotiv mit feinem an den ſchlechten Taft: theil ſich klammernden Xccenten das Magyarenthbum jo ent: Ihieden durchleuchten. Der Sag iſt effeftvoll; für eine Sym— phonie in abstraeto mag jeine Sprache etwas befremdend fingen, zu dem Styl der Volkmannm'ſchen paßt fie vortrefflich. Die Symphonie fand lebhaften Beifall und verdient ihn durch ihre anziehende Eigenart, ihren rejoluten Ton und ihre von erfahrener Meiiterfchaft zeugende Arbeit. Epigonenwerk ift auch fie, wie jo vieles Andere, was unfere Zeit nicht entbehren kann und auch nicht entbehren möchte.

Das zweite Geſellſchafts-Concert beitand aus zwei muſikaliſchen Cyklen fehr verfchiedenen Charafterd: dem »Deutihen NRequiem« von Johanne® Brahms und der voll: ftändigen »Rofamunde«-Mufift von Schubert. »NRofamunde« war befanntlih ein im Theater an der Wien durchgefallenes Ritterftüd von Frau Helmine v. Chezy, demfelben raftloien Blauitrumpf, der auch die »Euryanthe« verfertigt hat, und jo auf Flügeln des Gefanges von Schubert und C. M. Weber als Ueberfracht in die Unsterblichkeit jpedirt wurde. Schubert hatte dad Stück verfchiwenderiih mit einer Muſik geſchmückt,

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welche jegt zum eritenmale vollftändig aufgeführt zu haben ein neues, Schönes Verdienſt des Hofcapellmeifterd Herbeck ift. Mehrere Nummern, die größeren und jelbititändigeren, waren bereit aus früheren Gejellichaft3:Eoncerten befannt. Bon den neuen gefiel am meilten eine marfchartige Balletmufif in G-dur, die man zu den liebenswürdigſten Genrebildern Schubert’3 zählen darf. Das gligert und duftet wie ein glüdlicher Früh: Iingamorgen. Auffallend genug erinnert das mwudtig auf- ftampfende G-moll-Unifono der Contrabäffe an den Zigeuner: tanz in den »Hugenottene. Dad ungemein graziöß gejpielte Stück mußte wiederholt werden wohl das erfte und einzige Beiſpiel einer Balletmuſik, welche ohne Mitwirkung der Scene und de8 Tanzes im Concertfaal ſolchen Erfolg errang! Auch die übrigen Nummern atmen in jedem Takte die Schu: bert eigenthHümliche anmuthige Romantik, doch bedürfen fie zu ihrer vollen Wirkung mehr oder minder des Theaters.

Das Gejellihafts:-Concert bradte ferner (gleihfalls unter Herbed’3 Direction) ein noch ungedrudtes »Deutſches Requieme« von Joh. Brahms für Chor und Ordeiter. Es war nit die ganze, aus ſechs Sätzen beitehende Compofition, jondern nur deren erfte Hälfte, die aufgeführt wurde. Den Tert bilden Bibelftellen, welche die Vergänglichkeit des Irdiſchen und die Hoffnung auf ein Jenſeits ausſprechen; die Gompofition ift als eine großartige muſikaliſche Todtenfeier mehr noch für die Kirche als den Goncertfaal gedadt. Das »Deutſche Re— quiem« ift ein Werk von ungewöhnlicher Bedeutung und großer Meiſterſchaft. Es dünkt uns als eine der reifiten Früchte, welche aus dem Styl der legten Beethoven'ſchen Werke auf- dem Felde geistlicher Muſik hervorgewachſen. Seit den Todten: meſſen und Trauercantaten unferer Glaffifer hat faum eine Mufit die Schauer des Todes, den Ernit der Vergänglichkeit mit folcher Gewalt dargeftellt. Die harmonifhe und contra= punktiſche Kunſt, die Brahms in der Schule Sebaftian Bach's erwarb und mit dem lebendigen Athem unferer Zeit Durhhaudht, tritt für den Hörer ganz zurüd hinter dem von rührender Klage bis zum vernichtenden Todesgrauen fich fteigernden Ausdruck. Wie ergreifend erhebt fich der erfte Sat Selig,

Brahm's »Deutfches Requiem«. 477

die da Leid tragen«) auf ſeinen ruhigen und doch ſo über— raſchenden Harmonien, bald getragen von tiefem Violoncell- und Poſaunenklang, bald von leiſen Harfentönen wie von Geiſter— Erſcheinungen durchweht. Und doch iſt dies nur ein Vorſpiel zu der gewaltigen Tragödie des zweiten Satzes in B-moll (»denn alles Fleiſch ift wie Gras«), in welchem das Grauen der Verweſung nur von dem verflärten Lächeln eines brechenden Auges erhellt wird. Es iſt der bedeutenite bon den drei Süßen und würde und nod größer dünfen, wenn er mit der legten dröhnenden Wiederholung ded Hauptthema’z in B-moll ihlöfle; das angefügte B-dur-Allegro: »Die Grlöften des Herrn« ericheint mehr wie ein Außerlicher Anhang, als wie ein organifcher Abjchluß. An Größe der Conception fteht der dritte Sat den beiden eriten nicht nad, an contrapunftifcher Kunft übertrifft er fie. Dennoch wirft er nicht fo flar und harmonisch wie jene, er beitürmt den Hörer mit Eindrüden von mitunter ſehr gemwaltjamer Art, demen nad) der vorhergegan- genen Aufregung und Anjpannung Schwer Stand zu halten ift. Der Sat hebt mit einem Bariton-Solo an (»Herr, lehre mid) doch, daß es ein Ende mit mir haben muß«), welches vom Chore bald beantwortet, bald unterftüßt wird; Alles im Tone tieffter Trauer. Das D-moll-Andante geht ſchließlich in die Dur- Tonart über und bringt über dem Orgelpunkt der Tonica einen vier: ftimmigen fugirten Sag: »Der Gerechten Seelen find in Gottes Hand«. Diejer Orgelpunft hat die unbarmherzige Länge von 72 Vierviertel-Takten (tempo moderato) und mwird von den (nad) D herabftinmmenden) Gontrabäffen, Hörnern, Poſaunen und einer ununterbrochen in Sertolen ſchlagenden (mit mir: belnden) Pauke ausgehalten. Der Componiſt hat diefe in der Partitur imponirende Stelle in ihrer äußeren Wirkung kaum richtig berechnet. Einmal verjchlingt der dröhnende Orgelpunkt das Geflechte der Singitimmen, welches man nicht mehr zu er- fennen vermag, ſodann verſetzt das unaufhörlihe Paukenge— hämmer auf Einem Ton den Zuhörer in eine nervöſe Aufregung, die jede äſthetiſche Aufnahme vereitelt. Jemand verglich die Wirkung dieſes Orgelpunktes mit der beängſtigenden Empfindung, die man beim Eiſenbahn-Fahren durch einen ſehr langen Tunnel

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hat. Vom DOrgelpedal gehalten, würde die Stelle wahr: ſcheinlich dieſe alarmirende Wirkung verlieren, weldhe hier dem Erfolg des dritten Sabes fo ſehr jchadete, Während die beiden eriten Sätze des »Nequiem« troß ihre büfteren Ernites mit einhelligem Beifall aufgenommen wurden, war dad Schidjal des dritten Satzes ein fehr zweifelhaft. Brahms braucht fi darob nicht zu grämen, er kann warten. Daß eine jo fchwerfaßlihe, nur in Todesgedanken webende Gompofition feinen populären Grfolg erwartet und viele Elemente eines großen Publicums unbefriebigt laſſen wird, ift begreiflich. Aber jelbit dem MWiderftreben, jo glaubten wir, müßte ſich eine Ahnung von der Größe und dem Ernite des Werkes bei- miichen und Reſpect auferlegen. Died jcheint nicht der Fall bei einem Halbdugend grauer Fanatifer alter Schule, welche die Unart begingen, die applaudirende Majorität und den vor— tretenden Gomponiften mit anhaltendem Ziichen zu begrüßen, ein »Nequiem«e auf den Anftand und die gute Sitte in einem Wiener Concertfaale, da® und auf das bedauerlichite überraicht hat.

Kammermufik.

Endlih in ihrer fiebenten Soirée brachte auch die Hell: mesberger'ſche QDuartettgejellihaft eine Nopität: ein GSertett für zwei Violinen, zwei Bratfhen und zwei Cellos (G-dur) von Sohanne® Brahms. Das Werk fand eine fehr ehrenvolle Aufnahme, wenn e3 gleich beimweitem nicht jo une mittelbar anſprach und erwärmte, wie Brahms’ älteres B-dur-Sertett, deſſen Klarheit und blühende Frifhe daß neue Werk verdunkelt. Lebteres beginnt mit einem überaus fchönen und für alle Metamorphofen der Durchführung Außerft verwend— baren Thema. Der ganze erite Satz (der bedeutendfte des Werkes, ganz wie im B-dur-Sertett) verdient den Namen einer genialen Arbeit in echt Beethoven'ſchem Geiſte. Edel, wahr und über: zeugend fließt dies Stüd, durchhaucht von ruhiger, aber tiefer Empfindung, in einem überfihtlihen Zuge dahin. Einige har:

Sertett von Brahms. Sonate von Raff. 479

moniſche Härten gegen den Schluß Hin können unjere Freude nicht ftören. Das Scherzo bewegt fi) anfangs ohne hervor: ragend originelle Melodie in jenem leicht monoton werdenden furzen Zweier-Rhythmus gleich langer Noten, welhen Schu: mann To häufig cultivirte, Ein raufchendes Trio in Walzer: tempo bringt aber zu rechter Zeit rhythmiſches Leben, Glanz und Heiterkeit in den Sag. Die beiden folgenden Säße Stehen als Producte geiftreicher, ja tieffinniger Combination hinter den früheren nicht zurüd; nur eine über alle Geheimniffe der Har- monie und alle Sunftgriffe des Contrapunftes verfügender Mufifer vermag Aehnliches mit ſolcher Sicherheit zu geftalten. Aber in ihrer unmittelbaren Wirkung auf den Hörer, der ſich faft nur auf den anfirengenden Genuß mufifaliihen Mit- und Nachdenkens gewieſen fieht, find beide Stüde etwas ermüdend und erfältend. In diefem Mangel an finnliher Schönheit, zunädhit - an rhythmiſchem Leben und melodiihem Schmelz, erinnert die Finale an manches recht unerquidlihe Stück aus Schu: mann's legter Epoche. Wir geben den erften Eindrud, mie wir ihn empfingen. Zu groß und aufrichtig iſt jedoch unſer Re— ipect vor Brahms, den wir für daS bebeutendite Talent der mufifalifchen Gegenwart halten, als daß wir dem erften Eindrud auch das letzte Wort zugeitehen jollten. Es iſt ſehr möglich, daß ein wiederholtes Hören und ein Einblick in die Partitur (wir konnten keine auftreiben) uns die beiden legten Sätze des G-dur-Sextetts in einem richtigeren und gün— ſtigeren Lichte zeigen würde.

In der achten Quartett-Soirée der Herren Hell— mesberger, Dobyhal, Röver und Krancewits hörten wir eine neue Violin-Sonate in A-dur von J. Raff. Es wird uns eigenthümlich ſchwer, zu Raff's Muſik ein intimes VBerhältniß zu gewinnen. Alles, was wir von diefem gewanbten, fruchtbaren Gomponiften fennen gelernt, hat und mehr oder minder intereffirt, nichts davon vermochte und aber das Gefühl reiner Befriedigung und äfthetiichen Behagens zu ge währen. Genau jo erging ed uns wieder mit der neuen Sonate, die eine Art mufifalifcher Wüfte mit fleinen Dafen repräfentirt. alt alle vier Süße beginnen hübſch, der erfte

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und vierte jogar mit einem Feuer, dad man für echt hinnähme, verlöjchte es nicht gar jo ſchnell. An interefjanten Einzelnheiten herricht fein Mangel: glüdlihe Anfänge, die nirgends hin— führen, effectvolle Schlüffe, die von nirgends herkommen, da— zwiichen eine Meute von Paſſagen, die raitlos wie Jagdhunde ihrem eigenen Schatten nachlaufen. Es fehlt dem ganzen die eigentliche Triebfraft. Das jchöpferiiche Unvermögen des Wiges kann über diefen Mangel nicht täufchen, geichweige denn hin weghelfen.

Virtuoſen.

Camillo Sivori hat nach länger als zwei Decennien Wien wieder beſucht und ſein Concert im Muſikvereinsſaal ge— geben. Als vollwichtiger Virtuoſe in beiden Welttheilen aner— kannt, genießt Sivori bekanntlich noch das beſondere Preſtige, von Paganini perſönlich unterrichtet zu ſein. Nur noch ein Violinſpieler, Apollinar von Kontski theilt es mit ihm. Obwohl eine von Paganini ganz verſchiedene Individualität, hat Sivori ſich doch vieles von der Technik ſeines Meiſters mit Erfolg angeeignet. Was Paganini eine ſo dämoniſche Gewalt über ſeine Zuhörer verlieh, das freilich läßt ſich nicht aneignen. »Der düſtere Mann in Märchen eingehüllt« (wie ihn Holtei einſt beſang), verſetzte überall, wo er hinkam, das Publicum in eine fieberhafte Aufregung. Es wird uns ſchwer, beim Anblick Sivori's an Paganini zu denken. Letzterer war eine geniale Perſönlichkeit mit einer ſtarken Beigabe von Char: latanerie. Herr Sivori treibt feine Charlatanerie, wir haben aber auch nichts Geniales an ihm entdedt. Er iſt durchaus Virtuoſe, zunächft italienischer Wirtuofe.. Die Schönheit des Tones, fodann die Schönheit der einzelnen Paſſage oder Phraie ift fein Hauptaugenmerf, Sivori's Ton ift in der That von einfhmeichelnder Süßigfeit und Rundung, ohne die impofante Größe Soahim’s oder Laub's zu erreihen. Sein Spiel ilt rein, nett und audgefeilt, die linfe Hand ungemein virtuos der rechte Arm von mäßiger Behendigfeit. Er fpielt an Bravour—

Camillo Sivori. 481

ſtücken die gar nicht melandholiiche, aber unfäglih fade »Dte- lancole« von Prume und Paganinifhe Pariationen für die G-Saite allein. Bei aller darauf verwendeten Runitfertigfeit machen derlei Compofitionen feine Wirkung mehr. Wie Paga— nini's Kunſtſtück, ſo bat die Paganiniſche Schule überhaupt fich bereit3 ausgelebt; zwei ihrer talentvollften Anhänger, Baz- zini und Dle Bull, mußten das fchlieklich an fich erfahren. Diefe Einfiht hat Herr Sivori wahrſcheinlich veranlagt, aud) zwei deutiche, claſſiſche Eompofitionen (ein Haydn’sches Duartett und Beethoven's Kreußer-Sonate) in jein Programm auf: zunehmen, die er mit Eleganz, aber ohne Wärme und Schwung borfrug.

Savori’s zweites Concert hatte einen borherrichend italieniihen Charakter. Nicht nur ließ das Programm diesmal die Glaififer beifeite md erging fih in Sivori und Paga: nini, in »Qucia« und »Moie«, auch die Phyfiognomie des Bublicums, das dröhnende Klatihen und Rufen, vereint mit der unerträglichiten Hige im Saale, rüdten und um einige Breiten: grade ſüdlicher. Der Erfolg übertraf beiweitem jenen des eriten Concertes. Sivori bewegte fi ausſchließlich auf feinem eigenften Territorium, fpielte, was er jeit 25 Jahren mit Erfolg zu fpielen gewohnt it, was er am beiten und am fiebiten fpielt. Was und auch diesmal wieder volle mufi- faliiche Befriedigung gewährt hat, war Sivori’3 unjäglich ſüßer und weicher Ton im getragenen Gelang. Wunderbar ein jchmeichelnd floffen die einfahen Melodien Lucia's von jeiner Geige. Das war die reine Schönheit des Klanges, ohne jede ftörende Erinnerung an Roßhaar oder Darmjeiten. Won nod durchſchlagenderem Effect erwieſen fich freilich Sivori’3 Brabour— ftüicfe, unter welchem wir dem »Movimento perpetuo« den Bor: zug einräumen, einer in rafcheiten Sechzehnteln jcheinbar endlos hinftrömenden Etude, die troß des vorſchlagenden Bravour— zwedes doch muſikaliſch gedacht ift. Sivori bezwang die Auf: gabe mit unermüdlicher Ausdauer. Hingegen haben wir weder den Paganini-Stücden, welche die ernite G-Saite zum Turnplag halöbrecheriichen Unfugs machen, nod den Späfjen des »Car— neval von Venedig« einiges Vergnügen abzwingen fünnen. Das

Hanslid, Aus dem Eoncertiaale. 2. Aufl. 31

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ift nicht Virtuoſität im ftrengen oder gar im beiten Sinne, fondern £indiih und läppiſch gewordene Virtuoſität. Winſeln, Scharren, Brummen und Pfeifen, allerlei Thierlaute und Marionettengequief bildeten den Hauptinhalt dieſes ⸗Carnevals«, deſſen längſt fadenſcheiniger Stoff leider von Jahr zu Jahr grelleren Aufputz braucht. Derlei Geigentwige find älter als man glaubt und wurden in Deutichland ſchon 1780 von einem verjoffenen Genie, Scheller, colportirt, welcher die Deviſe: »ein Gott, ein Sceller« führte und dem die Zeitungen nahrühmten, »er ipiele über alles natürlich das alte Weib, wie es zanft und bor Zorn fingt; auch weine er ſehr natürlih« u. f. mw. Den »Garneval von Venedig« betrachten wir als unſeren perſön— fihen Todfeind. Bor 20 Jahren ſchon genügte der bloße An: fang des mit eingefnidten Knien herabftolpernden Themas, uns troſtlos zu machen, und wir hätten in den demofratiicheiten Tagen des Jahres 1848 jede Zwangsmaßregel mit Jubel begrüßt, die irgend eine abjolute Regierung gegen obgenannten Garneval uud feine Geichäftsreiienden verfügen mochte. Und jeither wie viele taufendmal hat die angebliche Iuftige Une geheuer ung in allen Geftalten gefoltert! Im Vergleich damit it e8 eine Erholung anzuhören, wie Paganini die Juden auf der G-Saite jäuberlich durchs Rothe Meer führt, und gleihjlam aus Freude über die erhörte »Preghiera« einige Inftige Variationen daran fügt, deren Kunftftücde dem Spieler und Hörer über den Kopf zufammenfchlagen. Um den natür: tihen Tonumfang der G-Saite zu erweitern, muß der Virtuoſe fortwährend zum Flageolet und den jogenannten harmonischen Tönen feine Zuflucht nehmen, welche, ganze Wariationen hin durch und in rafhem Tempo, jelbit dem beften Geiger nie mit vollfommener Sicherheit zu Gebote ftehen. Wir haben dieje Flautato-fünfte auf der G-Saite nie jo virtuos aus: führen gehört, und Sivori mag hierin vielleicht feinen Rivalen haben. Troßdem wird jeder muſikaliſche Zuhörer bezeugen, daß jelbft unter Sivori's Bogen mitunter Töne zum Vorſchein famen, die das Ohr maltraitirten, wie ed auch nicht anders möglih it, wenn man fi abmüht, auf der Geige Piccolo zu blafen und auf einer Saite mangelhaft herborzubringen,

Virtuoiert. Sipori. Epftein. 483

was vier Saiten leicht und vollfommen geben. Der Unnatur folgt die Strafe auf dem Fuße; mag der Birtuofe noch fo ehr auf feiner einen Saite glänzen, die drei andern glänzen daneben noch ftärfer durch ihre Abweſenheit.

Herr Epitein fpielte in feinem Concert ausschließlich Compoſitionen, die jehr felten gehört und dennoch jehr hörens- werth find. Welche Wohlthat für den Mufiker, den Eritifiren- den zumal, aus dem inerlei des gewöhnlichen Clavier— Nepertoireg herauszukommen! Da präientirte ſich gleih als Einleitung ein Clavier-Trio von Haydn. Nicht allzu Viele der Anmefenden dürften von der Exiſtenz Haydn'ſcher Clavier-Trios gewußt und jehr Wenige eines derjelben gehört haben, Und doch find allein bei Breitfopf 31 folder Trios erfchienen. Der Eindrud, den wir von dem E-dur-Trio (Nr. 4 der Breitfopf: Ihen Sammlung) empfingen, reicht über das blos hiſtoriſche Intereſſe entichieden hinaus. Auffallend ift zunächſt der ge: haltene, ernfte, ja pathetiiche Ausdrud, der da® Ganze durch— zteht und es troß aller Kürze der Form und aller Einfachheit der Motive bon den meiſten Quartetten und Sonaten Haydn's untericheidet. Der erite Sak erhält durch die bei Haydn feltene Verwendung der Chromatif einen Anflug edler Sentimentalität. Das Allegretto in E-moll fteht an der Stelle eines Andante; feine zierlih gekräuſelte Melodie ſtützt fi auf einen erniten Basso continuo, der jpäter in die redhte Hand über das Thema verlegt iſt. Menuett oder Scherzo fehlt gänzlich. Der legte Sag beginnt zwar heiter, in mäßigem Dreiviertel-Tatt, hält fi aber fern von der firchweihartigen Popularität der meilten Haydn'ſchen Finalfäge; der Mittelfag in Moll, ein kla— gender Gefang der Violine, nimmt jfogar einen ungewöhnlichen Raum ein. Die Vorführung des Haydn'ſchen Trio war ein danfenöwerther Einfall, fie zeigte uns den Meifter in einer uns neuen Form und mit neuen Nuancen feine Charakters.

Das »Andante für Piano und Streichquartett« von Field ift eines feiner zarteiten, ftimmungsvolliten Notturnos. Sohn Field kannte nur ein fehr Eleines Feld mufifaliichen Ausdrucks, aber diejes beherichte er als wahrer Poet. Das von Epftein gewählte As-dur-Andante beitätigt dies. Die Stimmung

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des Ganzen und mancher vereinzelte Klang mahnt ſchon un: verfennbar an Chopin, wie denn überhaupt Field im Der merkwürdigen llebergangöbrüde vom claffiichen zum romanti- ihen Clavierſtyl einen weientlihen Bogen daritellt. Ein drittes Stüf war Schubert’3 »Phantafie-Sonate« in G-dur (op. 78). MWarım verfällt jo felten ein Concertipieler auf dieſe Idylle in Tönen, über welcher ein blauer Himmel fait wolkenlos träumt, während unten fein Zug weder des Mißmuths noch der derben Luſtigkeit den Teligen Frieden trübt! Schumann preift fie unter allen Schubert'ſchen Sonaten als die »vollendetite in Form und Geiſt« mit einiger Vorliebe vielleicht, denn die größere Meiiterihaft und Genialität der A-moll-Sonate düukt uns evident. Aber an innerer Harmonie der Stimmung und feinem Geſchmack mag die G-dur-Phantafie obenan stehen. Diejer Einheit zuliebe vermeidet es Schubert ſogar, die vier Säße in dem gewöhnlichen Kontraft gegen einander abzuheben, er mil: dert durch einen gemeinfamen Zug von fanfter Beichaulichkeit ihre Gegenfäße, jo daß dad Ganze in der That nur ein großes Stimmungsbild abgibt. Wenige Mufitftüde Schubert’3 drängen deſſen Verwandtichaft mit Beethoven jo ftarf an Licht und zugleich auch wieder die VBerjchiedenheit ihrer Naturen. Darüber iſt längit Treffendes gejagt worden, und Beſſeres als mir zu bringen vermöchten. Warum jollte man aber nicht auch ein- mal kurz jagen dürfen: Schubert ift Beethoven’? Frau?

Noch ein viertes großes Stück bradte Herr Epftein als Schlußnummer: Beethoven's Quintett für Clavier und Blas— inftrumente (op. 16). Dad Quintett ift in feiner Klangichönheit und Abrundung eine freundlich anſprechende Compofition, aber in dem Lorbeerfranze Beethoven’d doch nur ein ſchwaches Reis. Wir find gewohnt, bei dem Namen Beethoven an ganz andere Muſik zu denken. Der junge Beethoven ftand damals noch im Schadte Haydn's und Mozart’3, ja er hatte für fein Quintett jogar eine beitimmte Compofition Mozart’3, deſſen föftliches Es-dur-Quintett, jichtlich zum WBorbilde genommen. Das Mo- zart'ſche Quintett ift zweifellos genialer und bedeutender, es jtect eben der vollfommene, der ganze Mozart darin, in der Nachbildung nur der beginnende Beethoven. Und doch jtanden

Helene Magnus. 485

beide Meilter genau im jelben Alter: Mozart fchrieb fein Duintett (1784) mit 28 Jahren, Beethoven das feinige (1798) ebenfald. Welchen enormen Unterfchied begründete aber die ungewöhnlich frühzeitige Entwidlung Mozart’! Der Componift des »Don Juan« Stand mit 28 Jahren auf der Höhe feiner Kunft und feines Genies, leider auch fchon tief am Abhange feines Lebens. Beethoven war als angehender Dreißiger noch nit einmal Er felbft. Später erit führte er auf eigenftem Grund und Boden jene MWunderbauten auf, die uns den wahren Maßitab für feinen Genius an die Hand gegeben.

Eine neue Eriheinung in Herrn Epſtein's Concert war die von Stockhausen gebildete Sängerin Fräulein Helene Magnus aus Hamburg. Der große Erfolg dieſer Künftlerin gereicht nicht bloß ihr, fondern au dem Publicum zur Ehre, welches hier weder durch den Reiz der Stimme, noch durd) irgend welche Bravour beitochen wurde. Als Fräulein Magnus zu dem eriten Lied: »Mignon« von Schubert, den Mund öffnete, erjchten ihre Stimme ald ein ſchwacher Silberfaden. Aber dieſer Silberfaden ſpann allmälig ein ergreifendes Seelen: gemälde und hielt bald die ganze Hörerſchaft umftridt. Fräu— fein Magnus befißt einen Me330-Sopran von geringem Körper und Umfang, die Tiefe und Mittellage find verjchleiert, etwa von D oder E an wird das Organ heller und fräftiger, findet aber bald feine Grenzen, wenigiten® verriethen das hohe G und As Schon einige Anftrengung. Materiell jomit wenig De: günftigt, übt diefe Stimme dennoch einen ummwiderftehlichen, faft umerffärbaren Zauber. Sie ſcheint eben alle grob Irdiſche abgeftreift zu haben und nur der legten, feiniten Verkörperung des Fühlen: und Denkens fi zu affimiliren. Klänge es nicht affectirt, wir möchten den Gefang der Magnus ein muſi— faliiches Athemholen der Seele nennen. Der Gindrud, den Fräulein Magnus mit dem erften Liede herborgebradit, be= feitigte und erhöhte fih noch durch die folgenden; Fräulein Magnus hatte Schon mehr Muth und Stimme gewonnen und fang die drei eriten Nummern aus Schumann’3 »Frauenliebe« mit jo tiefem Verſtändniß und fo zarter, inniger Empfindung, wie wir fie faum zuvor gehört. Mit den ficherften Anfchlagen

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der Grunditimmung eines jeden Liedes ging die feinſte, durch trefflihe Ausiprahe unterjtüste Zeihnung des Detaild Hand in Hand.

Nnton Rubinſtein.

Wir Haben ihn im Laufe der letzten Tage dreimal ge hört: Wir finden denfelben Rubinftein wieder, der uns 1857 verfaifen, und das will gewiß nicht wenig jagen. Rubinitein ward als Künſtler ſehr früh felbititändig ; fein kräftiges eigen: thümliche® Talent hatte fich bald formirt und eine gewiſſe an ſehnliche Höhe erreiht, von der es nicht weiter aufitieg und über die es im Großen und Ganzen fi auch jchwerlich mehr erheben wird. Seine Individualität ift noch lange nicht erichöpft, aber, wie uns dünkt, fertig und abgeſchloſſen. Am gewinnenditen erichten der Componift Rubinftein in dem Clavier-&oncerte (D-moll, op. 70), mit welchem er fi Sonntags hier einführte. Es it die gelungenite größere Compofition, die wir von Rubinitein fennen. Obwohl nicht ganz frei von Anklängen an Beethoven, Mendelsiohn und namentlich Schumann, iſt dad Concert , doh von überwiegend origineller, fräftiger Erfindung, meifterhaft gebaut und inftrumentirt, reih an geiit- vollen Cinzelnheiten. Durch den eriten Sat (er iſt uns Der liebite) geht ein ſtarker Zug von Pathos und männlicher Energie; Sehr wirkſam hebt fih davon das F-dur-Adagio mit jeinem nicht ſowohl tiefen als anmuthig-fentimentalen breiten Sejang ab. Der legte Sat, ein troßig wildes Allegro molto, iſt als Ganzes weniger abgerundet, hingegen am reidhiten an überraichenden, wirkſamen Cinfällen. Den Clavierpart hat Ru— binstein mit Bravour reich bedacht, jedoch nicht in ungebühr- lihem Mißverhältniß gegen das Orcelter. Das D-moll-Eoneert hat mehr innerer Zufammenhang und Einheit des Styls, als ähnliche mehrſätzige Compofitionen Rubinftein’s, und hält Ans fang, Mitte und Ende ziemlich auf gleicher Höhe der jchöpferi- fhen Kraft. Was den meilten größeren Werfen Rubinjtein’g fo, empfindlich zu Schaden pflegte, it ihre Ungleichheit in ſich

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jelbit. In der Regel war der günstige Eindrud des eriten Sates im Verlaufe des legten jo gut wie vertilgt. Wir er: innern beiſpielsweiſe an die »DOcean-Symphonie« oder das Glavier-Quartett in C-dur (op. 66), das vor zwei Jahren Herr Dachs und jeßt der Componiſt jelbit vortrug. Das Quartett eine der neueften Arbeiten Rubinſtein's bricht mit einem präch— tigen Thema wie ein heller Morgen an. Der erite Sag, welcher auf diefem Hauptthema allerdings einen ungleich jtolzeren Bau führen konnte, bildet gleichwohl einen jehr jtattlichen, vielverheißenden Anfang. Es folgt ein leichtgeichürztes, ballet- mäßiges Scherzo, das nicht mehr recht zu den Früheren ftimmt, aber doch pifant und effectvoll heißen muß. Der folgende Saß, ein wüftenartig langgeſtrecktes ſonnen- und blüthenlofes Adagio, befremdet und veritimmt den Hörer, welcher jchließlich von dem rohen, bizarren Finale mit einem peinlichen Eindrud Tcheidet. Es freut und, von dem Clavier-Concert ein Gleiches nicht jagen zu müſſen. In leßterem, wie überhaupt in Rubinſtein's befieren Inſpirationen herrſcht eine gewiſſe finnliche Naturfraft und Frifche, eine energiihe Wirkfamfeit nach Außen, die in der nachbeethoven'ſchen Muſik jelten zu werden beginnt. Ohne Zweifel ift Aubinitein in diefem Punkte feinem ruffiichen Vater: lande verpflichtet. Wir fennen und anerfennen in der Kunſt— geihichte allerdings nur zwei große Völkerraçen: die germanijche und die romaniihe. Was von anderen Nationen fih in der. Tonfunft bemerkbar machte, Schloß ſich dieſen beiden an (tie Rubinftein der deutſchen Muſik), oder blieb als eine Art Natur: product an der Scholle des Wolfäliedes haften. Der Zukunft wollen wir nicht vorgreifen. Ganz abgejehen von den jpeciell nıufifaliichen Naturanlagen der Slaven, ſteckt in ihnen ein Sapital von unverbrauchter Lebenskraft und derber, noch nicht zu Tod cultivirter Sinnlichkeit. Etwas von dieſer Vollkraft und diefem WVolltroß der ſlaviſchen Natur wogt in Aubinftein’3 Blut und fommt im feiner Compofition wie in feinen Spiel zu Tage. Man weiß, daß der deutiche Geiſt allen überlegen iſt, wo er fich den Tiefen des Lebens zumendet; daöfelbe an der Oberfläche ſchön und wirkſam zu geitalten, bleibt ihm defto häufiger verjagt. Rubinstein, dem beiten unferer muſikaliſchen

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Zeitgenoffen (Brahms, Joahim, Rob. Franz, Kirchner) an Tiefe des Gedankens und Gefühles nicht ebenbürtig, fteht Doch bon Haus aus durch jene finnliche Kraft und Wirkfamkeit na Außen wieder im Vortheil. Dieje Eigenihaft hat uns längft zu Der Heberzeugung geleitet, daß die dramatiiche Compofition, Die Mufit auf dem Theater, das günftigfte Feld für NAubinftein abgeben müßte. Gr ift zwar and auf diefem Felde bei glän- zenden Anläufen ftehen geblieben, ohne einen bleibenden Cr: folg, aber diefe Anläufe reichen Hin, unſere Heberzeugung zu befeftigen. Die erſten Acte der »Kinder der Haide« (der legte führt wieder ſelbſt den Todesitreih) enthalten Scenen bon ungemeiner Energie und Farbenpracht, und wir müßten ge: genwärtig feinen deutichen Componiiten, der im Stande wäre, etwas Nehnliches für die Oper zu fchreiben, wie der erite Act von Rubinſtein's »Feramors«.

Außer ſeinem Concert und Clavier-Quartett ſpielte Ru— binſtein noch eine Anzahl kleinerer Stücke eigener Compoſition. Unſere vor zehn Jahren gemachte Wahrnehmung, daß Rubin— ſtein in kleinen Formen leicht dem Flachen, Unbedeutenden, ja Trivialen verfällt, haben dieſe neuen Concert:Nummern nur beitätigt. »Nocturnee, »Scherzo«, »Barearole« find äußerlich und gemüthlos; die »Contredanse«, anfangs brillant angelegt, nähert fi gegen da8 Ende dem Niveau der Gartenınufif und geräth in ein von allen Grazien verlaffene® Toben. Die C-dur-Gtude, ein aus fühniten Sprüngen und Arpeggien geflochtene® Bravourftüd, erfüllt ihren Zweck als blendende Kraftprobe, die Schönheit hat nichts damit zu thun. Als Glavierspieler war Nubinftein bereit3 vor zehn und zwanzig Jahren mit Necht berühmt und bewundert. Ueber jeitte erſtaun— lihe PVirtuofität bleibt faum etwas Neues zu jagen übrig. Er hat die ganze jaftige Fülle feines unvergleihlichen Anſchlags beibehalten, die Titanenfraft im Forte neben der Zartheit - eined bis an die Grenze des Hörbaren ftreifenden Pianiſſimo. Ja in der Ausführung von Terzen- und Sertenfcalen (D-moll- Concert) und in den gewagteiten Sprüngen (C-dur-Etude) ent: widelte er jüngſt eine Meifterichaft, die unfere Erinnerung und Erwartung noch übertraf. In der »Etude« und »Condredanse«

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producirt er ein ſolches Wogen von Tönen, ſolchen Umfang durhbraufend, daß den Zuhörer ein wahrer Schwindel des Gehörs erfaßt und das Auge nachhelfen muß, das Unerklärliche zu faſſen. Bei alledem bleibt die Haltung Rubinſtein's worauf wir einigen Werth legen immer ruhig, unaffectirt und männlid. Fremde Compofitionen gibt Nubinftein fehr verichieden, wie er denn auch als reprobucirender Kiünftler ungleihd und dem Einfluß der Laune unterworfen ift: in jeinem erften Concert fpielte er weit fchöner als im zweiten, in der eriten Abtheilung des »Gejellichafts-Concertes« viel bejier ald in den folgenden. Am fjchönften fpielt Rubinftein unſeres Erachtens die flare, zu feinen llebertreibungen ver: leitende Muſik Mendelsſohn's und Mozart’. Sein Bor: trag de8 Mozart’ihen D-moll-Eoncert® (das er mit zwei effectvollen, wenngleich etwas jelbitftändig hervortretenden Ca— denzen verfah) war meifterhaft. Daß Rubinftein die fchwierigiten Aufgaben von Beethoven, Schumann und Chopin tehnifch vollendet löft, bedarf feiner WVerficherung, doch läßt er in Auf: fajjung und Ausführung das virtuoſe Clement mitunter zu ftarf vorwalten. Wir hatten gehofft, die Jahre würden diefen Hauch auf dem reinen Spiegel der Kunft tilgen. Leider fanden wir au jegt no) den Hauptaccent auf die Bravour gelegt; bei aller äußerer Lebendigkeit war Rubinftein’® Vortrag der Beeth oven'ſchen C-moll-Sonate (op. 111) und der ⸗»Sym— phonifhen Etuden« von Schumann innerlih fühl, ja, was noch Schlimmer für einen Poeten, nüchtern. In den »Etuden« bon Schumann entfaltete Aubinftein eine außerordentliche Bravour, aber uns ftörte das Selbitiüchtige diefer Bravour, daS Webertreiben des Tempos und des SKraftaufwandes, der Mangel an fein nachfühlender Empfindung, an Liebe zum Gegenftand. Clara Schumann und Brahms (Gritere au Kraft, Letzterer an Schliff der Technik hinter Rubinftein zurück— ftehend) haben mit den »Symphonifchen Etuden« eine unver: gleichlich tiefere Wirkung erzielt, weil fie verwandten Geiftes fih in die GCompofition hineingelebt hatten und nur den Ton: dichter ſelbſt ſprechen ließen. Das pracdtvolle Finale fam durch die Meberftürzung des Tempos nicht nur völlig um den ihm

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jo eigenthümlichen Feitglanz, e3 wurde beinahe zum unentwirr— baren Getöſe. Gleichfall® zu Schnell ſpielte Rubinftein Die Chopin’she Asdur-Polonaiſe; die Ichlanfe, ritterlihe Hal: tung, diefer Haupt-Charakterzug der Polonaiſe, war mit den vier eriten Taften unrettbar dahin. Wir hatten die Bravour Rubinſtein's auf Koften der Moejie Chopin’. Liſzt's »Don-Juan«-Phantaſie, ein Virtuojenftüd, aber ein geijtreiches, hofften wir von Rubinftein vollendet zu hören. Er begann e3 ehr schön, gerieth aber bereit bei den Variationen (La ei darem la mano) in eine fliegende Haft und endigte mit einem jolchen Auf: und Niederraien über die Taiten, daß das Rein: jpielen aufhören mußte, geichtveige denn das Schönfpielen. In diejer Production war die Bravour jo empfindlic” mit Rohheit veriegt, daß jelbit das große Publicum ftugte und am Schluſſe deutliche Ziſchlaute fich in den Applaus einjchlichen. Bei reinen Virtuojenftüden mag ein Zuviel an Brapour immerhin noch am leichtejten Hinzunehmen ſein. Wenn fich aber dieje virtuoſe Ueberkraft auch in den edeliten Tondichtungen Beethoven’, Schumann’, Chopin’s nicht zu verleugnen weiß; wenn wir jo beneidenswerthe Kräfte für jo bedenkliche Wirkungen auf: geboten jehen; wenn wir fühlen, wie gerade Rubinſtein das Alles jo viel beiler und jchöner geben könnte, als er es gibt, dann mischt jich ein Gefühl der Trauer in unfere Bewunderung und wir möchten mit Corneille ausrufen: »0 ciel, que de vertus vous me faites hair

Joachim und Börabnıs.

Die Concertjaifon fliegt mit vollen Segeln und koſtbarer Ladung. Unmittelbar nah Rubinſtein Hat fie und Joachim und Brahms gebradt. Joſeph Joachim, dem jelbit der Neid den allereriten Platz unter den PViolinipielern nicht bejtreitet, iſt für ung die Verförperung der außerordentlichften und zu— gleich künſtleriſch verflärteften VBirtuofität. Techniſch kommt er der abfoluten Vollfommenheit jo nahe, daß unſer Auge dieſe legte, unmerflihe Diltanz nicht mehr wahrnimmt. Dabei tritt

Joachim und Brahms. 491

der Adel fünftlerifcher Weihe und Weberzeugung bei Joachim mit folder Macht auf, daß man erit hinterher an die Würdi— gung jeiner großartigen Technik dent. Wie jüß und mühelos genießt fi das Vollkommene; wie jchwer bejichreibt es ſich! Der entzüdendite Ton, der ſüßeſte und ftolzeite zugleich, der je einer Geige entjtrömte; eine wunderbare und doch niemals wunderfühtige Technik; ein Vortrag voll Adel, Geift und Empfindung dad wären ungefähr die Grundzüge diefer muſi— faliihen Erfcheinung. Charakteriftiih für Joachim jcheint mir vor Allem der ausgeprägte Zug von ruhiger Größe, der jede jeiner Productionen durchzieht, die Strenge und Reinheit des Styls, welche die üppigen Reize der PVirtuofität eher zu ver— ſchleiern als vorzudrängen trachtet. Es iſt nicht möglich, Größeres einfacher hervorzubringen. In ſeinem erſten Concert ſpielte Joachim zwei Soli, die zu den höchſten Aufgaben der Violin— Virtuoſität gehören, die »Teufelsſonate« von Tartini und Sebaſtian Bach's E-moll-Suite. Das erſtere Stück glänzte zu— nächſt durch die Meiſterſchaft des Trillers, der Sprünge und des Staccato; das letztere durch eine bisher unerreichte Rein— heit und Gebundenheit des mehrſtimmigen Spieles. Ich bekenne gern meine geringe Neigung für längere Violin-Soli, ohne alle Begleitung, welche das Ohr nach einem ſtützenden und füllen— den Grundbaß ſchmachten laſſen. Die Geige iſt einmal ihrer Natur nach fein polyphones Inſtrument, und jo reizend fich in einem größeren Violin-Concert einzelne Terzen- und Serten: gänge herausheben (mie in dem zweiten Thema von Joahim’s »Ungarifhem Concert«, in Spohr’3 Geſangsſcene u. ſ. w.), To unbefriedigend wirkt ein anhaltend mehrfiimmiges Violinfpiel, das in dreis oder vierftimmigen Accorden fi) mit Arpeg— given behelfen muß. Wenn unter Joahimd Bogen derlei Soli ihre gewöhnliche ängftliche und gezwungene Phyſiognomie ver- lieren, jo danken wir dies eben der ganz unvergleichlichen Ausbildung feines polyphonen Spiele. Joachim gab dies erite Concert gemeinichaftlih mit Brahms, der mit ihm die Beethoven'ſche As-dur-Sonate und Schubert's lieblich blü- hende »Phantaſie in C-dur« ausführte. Kein dritter jtand neben oder zwifchen den beiden, durch Fünftleriiche Verwandt:

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ſchaſt wie durch Langiährige, innigfte Freundſchaft verbundenen KRünftlern, welche Deutichland mit Freude zu feinen beiten Söhnen zählt. Leider präfentirte fi Brahms an diefen Abend nicht als Componift und ſchien als Spieler weniger gut dis— ponirt. Das eigenthümlih Beihaulide und Zurüdhaltende, das Nichtzanzdie-Oberflähemwollen feines Spieles machte fich ftärfer bemerkbar. Die Furdt vor dem »DBirtuojenhaften« icheint fich oft wie ein Schleier dämpfend zwiſchen jeine Finger und die Taften zu legen. Wir kennen Brahms Technik als eine enorme, aber es fehlte ihr an diefem Abend mehr als ſonſt der legte Schliff und Glanz, ſowie der volle, fingende Anichlag, der den ganzen Ton gleichſam mit der Wurzel auß dem In— ftrumente zieht. In diefem Punkte ift Rubinftein mujftergiltig und Brahms entichieden überlegen. Seine eigenthümlichen hohen Vorzüge entfaltete Brahms dafür in dem Vortrag der Schu: mann'ſchen Fis-moll-Sonate (op. 11), die unſeres Wiſſens noch nirgends öffentlich geipielt wurde. Kaum dürfte ein zweiter Künstler jie mit jo tiefem und feinem Verſtändniß interpretiren wie Brahms. Diefe Dichtung voll jugendliher Gluth und Gentalität, dabei auch von fchwärmerifcher Ercentricität und Ungebundenheit gehört zu den merfwürdigiten Dentmälern aus Schumann’ »Sturm und Drange. Bon dämonifher Ans ztehungöfraft für jeden damit näher PVertrauten wirft die Fis-moll-Sonate auf den unvorbereiteten Hörer allerdings etwas umnficher und befremdend.

Bon Joachim hörten wir ein Violin-Concert von Viotti (A-moll Nr. 22), das in etwa veralteter Hülle einen tüchtigen mufifaliichen Kern und namentlih im Schlußſatz viel Geiit und Leben geltend macht. Johann Baptift Viotti (geboren 1753 im Piemonteftichen) hat durch fein grandiofes Spiel wie dur feine epochemachenden Gompofitionen einen außerordent- lihen Einfluß auf die Entwidlung des Violinſpieles geübt. Es bot ein befonderes Intereffe, eines feiner Concerte gerade von Joachim vorgetragen zu hören, deflen Styl in gerader Descendenz von Viotti abitammt. Sit doch Joachim's Meiiter, der treffliche Joſef Böhm, ein Schüler Rode's, der jeinerzeit, von Viotti gebildet, der vornehmfte Apoſtel dieſer

Joachim. 493

Schule wurde. Viele der charakteriſtiſchen Vorzüge Viotti's, die Größe und Nobleſſe des Vortrags, die kühne Technik bei Vermeidung aller Eleinlihen Effecte, finden wir in Joachim auf modernerer Stufe wieder. Joachim's feelenvoller Vortrag eine Spohr'ſchen Adagio (aus deſſen neuntem Goncert) machte auf die Zuhörer den tiefiten Gindrud. Schöner und überzeugender als Joahim kann man nicht zeigen, daß wahre und tiefe Empfindung nicht des Affectirend und Kofettirens bedarf. Es verftieß leider gegen die muſikaliſche Deconomie, unmittelbar auf Spohr’3 Adagio einen zweiten langjamen Sat folgen zu laflen: das »Abendlied aus Schumann’ vierhändigen Clavierſtücken, op. 85. Dieſes gemüthvolle Lied ohne Worte, von Joachim fehr ftimmungsvoll inftrumentirt und feelenvoll vorgetragen, hätte in einer anderen Zus jammenftellung weit mehr Wirkung erzielt. Den Beihluß mahte Joachim's »Goncert in ungarischer Weile« das wir im Sabre 1861 vom Gomponiften und jpäter von Laub gehört Haben. Das Bublicum jcheint fich bei jeder Miederholung mehr mit diejer bedeutenden und glänzenden Eompofition zu befreunden. Der erite Sag iſt von wahrhaft Beethoven'ſchem Wuchs. Was Joachim's zweites (noch un— gedrucktes) Violin-Concert in G-dur betrifft, jo wäre es vor— Schnell, über die ernfte und reich ausgeftattete Werk nach dem eriten Hören zu urtheilen; fiher find wir aber des Total-Ein- drudes, daß es an Erfindungdfraft und Schwung das »Un— gariiche Concert« des Componiſten nicht erreicht. In Joachim's Schaffen iſt die Reflexion von Haus aus ſtark vorwaltend, jeine jchöpferifche Ader fließt weder rafch noch reich, feine Er— findung iſt ernft, vornehm, aber von geringer Sinnlichkeit und elementarer Kraft. In feinem »Ungarifchen Concert«, deſſen eriten Satz wir jehr hoch ftellen, jcheint er den Gipfel feiner Begabung erreicht zu haben. In dem G-dur-Goncert fteuert er mit noch ftrengerem Bemwußtjein zu noch höheren fünftlerifchen Sutentionen, aber das Schiff läuft nur mit haldgeipannten Segeln aus, Joachim's reformatoriiche Abficht: die frühere, mehr oder minder ftrenge Scheidung der Solo-Violine vom Orcheſter aufzuheben und beide zu einer jymphonifchen Einheit zu ver:

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ihmelzen, liegt Elar vor Augen. Das Eraffeite der älteren Goncert:Schablone, deren Orceiter entweder nur unterthänigft begleitete oder in lärmendem »Tutti« das Signal zum Applaus gab, haben ſchon Beethoven, Mendelsfohn und Joachim ſelbſt (in feinem erften Goncerte) bejeitigt. Diesmal geht Joahim fo weit, daß im erſten Sat die Solo-Bioline nicht einmal jelbft= ftändig einſetzt und ſchließt, ſondern fich gleichſam unterwegs dem Geſang des Orcheſters anſchließt, ihn mit reihen Gängen umjpielt und unmerflich wieder verfiegt. Selbit die Cadenz (wenn der Name hier noch zutrifft) wird discret vom Orcheiter begleitet. Das ganze Werk ift echt muſikaliſch gedacht und voll geiftreicher Detaild; in der Verwendung der hohen und höchſten Lagen fowie der Doppelgriffe (jogar die Melodie erjcheint gerne in Octaven) dünft uns jedoch zu viel des Guten gethan. Am intereffanteften wirkt durch die Neuheit der Form (nicht der Gedanken) der erite Sag, am wohlthuendften das ſtimmungs— volle, edle Andante in Ö-moll. Der äußerlich brillantefte Satz, das Finale, dünft uns in feinem bdecimenfpringenden Thema etwas banal: auch die Durhführung hat mehr Geſchwindigkeit als wirkliches pulfirendes Leben. Die Aufnahme des Werkes fonnte nicht glänzender fein, und wenn wir fie zur guten Hälfte dem Spieler vindiciren, fo fommt Joachim dabei menigitens nicht zu kurz.

Joachim fpielte mit Brahms das »Rondo brillant« in H-moll von Schubert, da& nad) einer fehr ftattlichen Ein- leitung ſich ziemlich ungleich Fortjeßt und uns weniger be: friedigt, ald das jüngft gehörte C-dur-Duo. Ferner Beethoven's G-dur-Sonate op. 96. Diele Tondihtung, von allen Biolin- Sonaten des Meifterö gewiß die tiefite und eigenthümlichite, hat den Beethoven-Auslegern viel zu jchaffen gemadt. Lenz, der daraus einen fabelhaften Staub aufwirbelt, legt den größten Nahdrud auf den »magyariſchen Charafter« des Finale. »Der große Hierophant des Humord« habe diefe Melodie wahricheinlih auf dem Schloffe der Gräfin Erdödy in Ungarn gehört u. f. w. ES wundert uns, noch in feinem. Winfel der labyrinthiihen Beethoven-Literatur die Bemerkung gefunden zu haben, daß dieſes Thema identifh ift mit dem Liede des

Soahim und Brahms, 495

Sobien: »Der Knieriem bleibt meiner Treu’« aus dem »Luftigen Schuiter«e von Adam Hiller. Wiffentlid hat es Beethoven hier faum verwendet, denn er ändert den ziveiten Theil vollitändig; aber unbewußt Hang in ihm die Erinnerung an jene Operette nach, die in feiner Jugendzeit ein Lieblings— ſtück aller deutichen Bühnen war. Es find den Ungarn bereits fo viele Eonceffionen gemacht, daß wir den »Luftigen Schufter« unmöglich noch dazu geben können.

Wie herrlich jpielte Joachim hierauf »Barcarole und Scherzo« von Spohr und dad Abendlied von Schumann! Dad war ein Singen, tu deſſen reiner, vollendeter Schönheit man ſchwelgen konnte. Die von Teiler Wehmuth angehauchte, liebliche »Barcarole« von Spohr Klang unter JZoahim’s Bogen zauberhaft. Das »Scherzo« desſelben Meiſters bemegte ſich edler und natürlicher als bei andern Virtuoſeun, die mit ge— waltiamem Mohlwollen mehr Humor in das mwunderliche Ding bringen möchten, als darin ftedt und als der Gomponift über: haupt beſaß. Kaum hatte ein zweiter deuticher Componiſt fo wenig Anlage zu Scherz und Heiterkeit, wie Spohr. Seine Scherzos gleihen dem Hofnarren Nigoletto, der ſich zu Poſſen zwingt, während ihm jämmerlih zu Muthe ift. Das von Joachim geipielte Scherzo hat etwas noch realiltiicher Schneidendes, Leibſchneidendes. So quirlt die forcirte Luſtig— feit auf dem Antlitze eines Unglüdlichen, in deſſen Eingeweide der Teufel gerade eine Tartini'ſche Sonate unterm Steg jpielt. Nächſt der »WBarcarole» war e8 das Schumann'ſche Abend- lied (Joachim mußte es wiederholen), was den tiefiten Eindrud hervorbradte. Es waren die ſchönſten Vorträge Joachim's, ob- wohl die darauf folgenden »Gapricene von PBaganini hundertmal jchwerer find. Paganini hat und auf dem Pro— gramm Joachim's ein wenig überraicht, da Letzterer dieſen Schöpfer und Schußheiligen des ercentriichen Virtuoſenthums ſonſt nicht Öffentlich vorzuführen pflegt. Wem nicht die per: fönlide Grinnerung an Paganini's Spiel einen verflärenden Schimmer für deffen Compofitionen mitgibt, der fann darin nur das Extrem der abiolut gewordenen Brabour erbliden. Das Bedenklihe diefer und anderer PBaganini = Stücke Tiegt

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darin, daß fie jelbft von größten Meiftern nur beiläufig be: wältigt, aber nimmermehr ganz vein, gejchweige denn wahrhaft ihön vorgetragen werden fünnen. Zu viel ift darin gegen den Charakter des Inftrumentes gelündigt, ald daß es nicht unter dem Bogen jeine® Bändigers winjeln und kreiſchen müßte. Die Bewunderung für den BVirtuofen und dad phyſiſche Un— behagen über die jchrillen Töne ftreiten im Hörer, jo daß diefer mandhmal mit den zum Slatichen erhobenen Händen unwillkürlich nach den Ohren fährt. Seine immenfe Technif bewährte Joachim am glänzenditen in der Pizzicato-Variation und in jener der Terzen- und Septenjcalen, die Niemand ihm nachſpielt. Die Hebjagd mit den dreis und vierjtimmigen Accor- den gegen den Schluß gehört zwar ohne Frage in den Bereich des MWunderbaren, aber vom Wunder verlangen wir, daß es unfehlbar jet.

Das FPatti:Soncert im Garfltbeater.

Nicht ohne Eritaunen gewahrten geftern (am 11. Sep- tember) die Bewohner Wiens eine verfrühte Kette mufifalijcher Zugvögel, welche jich an einem der wärmſten Septembertage plöglih in Aſcher's Mujentempel niederließ, um am folgenden Morgen mit Windedeile wieder fortzuziehen. Diefe Wander: und Wundervögel ericheinen dicht geihaart um einen Anführer von unfcheinbarem Gefieder und großer Weisheit, den fie Ullman rufen; fie jelbjt nennen fih Carlotta Patti, Ze: fort, Auer, Bopper und Willmers.

Carlotta Patti, die jchmetternde Lerche der Gejellichaft, iſt hier aus einer langen Reihe von Concerten wohlbekannt. Sie hat ſich unverändert beibehalten, was dem Bublicum ficht- ih lieb war weniger uns Recenjenten, die wir Neues über die vielbeiprochene Sängerin faum vorzutragen müßten. Wie vor zwei Jahren, jo erregte auch diesmal das Eleine Silberglödchen ihrer in jchwindelnder Höhe jo reinen und jiheren Stimme Bewunderung; wie damals glißerten ihre Triller, Staccatos und Paſſagen; wie damals, jo ſpricht auch

Das Patti-Concert im Carltheater. 497

jeßt ihr Gefang zum Ohr, nicht zum Herzen recht eigentlich ein glänzend heiteres Spielwerf der Kunft.

Bon den mitwirfenden Künftlern gebührt dem Pianiften Herrn Willmerd aus dem Titel der Anciennetät die Nennung an eriter Stelle. Als er vor eiwa 25 Jahren zuerft in Deiterreich er: jchienen war, umgab ein gewijjer xotiſcher Echimmer das blond umwallte Haupt des jungen Dänen, der mit feiner Transſcription: „Flieg', Vogel, flieg’!« und anderen Süßigkeiten viel Glück machte. Bei aller Anerfenung jeiner eleganten Technik, insbeſon— dere jeines berühmten Trillers, haben wir Willmer’3 Spiel damals ſchon nur in den mäßigiten Gaben vertragen fünnen. Es lag eine ungemeine Leere und Mattſeligkeit in diefem Spiel, wie in feinen einander auf's Haar ähnlichen Compoſitionen. Wie dürftig der muſikaliſche Gehalt diefer Productionen war, er: fannte man deutlich, ald Willmers nad) einigen Jahren wieder und wieder fam, in ſtets gleicher Weiſe trillerte und den »Vogel« zum Fliegen einlud. Als der Componift ſich eines Morgen? vergeblih nah einem Hahn umfchaute, der noch nad dieſem »Vogel« frähe, warf er ſich auf größere, ernitere Come pofitionen, ohne damit mehr zu reuffiren, als fein gleichmäßig vorangegangener College Evers. Es war jedenfall mohl- gethan, wieder zu den eleganten fleineren Salonformen zurück— zufehren, in welchen ſich Willmers freier und gewandter bewegt. Dffen geftanden, hätten wir aber feine alten Trillerſtückchen noch immer lieber gehört, ala die neue »Steieriihe Phantaſie« und »Ungariſche Epifode« (eine Art »Flieg’, Cſardas, flieg’!«), womit Herr Willmerd fih in dem Batti-Concerte produeirte. Men intereffiren noch derlei mit Paſſagen plump überladene, durh und durch veraltete Transfcriptionen ohne Geift und ohne Ende? Herrn Willmers’ Technik hat übrigend nicht von ihrer ehemaligen Geläufigfeit eingebüßt, und fo nahm denn das PBublicum den alten Bekannten mit großer Freundlichkeit auf.

Ein zweiter von Herrn Ullman bier vorgeführter Künftler, der Sänger Jules Lefort aus Paris, bietet und wenig Stoff zum Erzählen. Er gehört zu jenen jtimmlofen Baritoniften, deren verftändig und geihmadvoll accentuirter Gefang cine Art verichämtes Declamiren in franzöfiichen Salons beliebt

Hanalid. Aus dem Goncertfaal. 2. Aufl. 32

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it. Seine Stimme entbehrt zu jehr der Fülle und des Wohl— flangd, um in größeren Räumen zu wirken; jein Vortrag, dem eine gejchictte Verwendung des Faljet3 und eine deutliche Aus— ſprache zu ftatten kommt, ift durchwegs anftändig. Die An: ftändigfeit ift aber befanntlich nicht? Zündended, am wenigſten in der Mufif. Ueberdies war Gounod's gedehnte und fraft: loſe Melodie »Le Vallon« feine glüdliche Wahl.

Bon den gegenwärtig bei Ullman engagirten Künftlern find die zwei jüngften ohne Frage die bedeutendſten: Bopper und Auer. Grfterer, uns bereit3 als einer der tüchtigiten Gelliften befannt, hat jeinem Rufe dur) den virtuoſen Vor: trag eines (leider ſehr gehaltlofen) Goltermann’shen Con: certes neuerdings Ehre gemadt. Sein jchöner, gefangvoller Ton konnte fih am beiten in dem »Adagio« von Molique geltend machen, jeine Geläufigfeit und Ausdauer in einer Etude eigener GCompofition, welche »Le papillon« betitelt und in ihrer ununterbrochenen Sechzehntel-Bewegung dem » Perpetuum mobile« von Baganini nachgebildet ift. Leopold Auer, Concertmeifter in Düffeldorf, erfreut fi) bereit3 jeit mehreren Jahren der glänzenditen Erfolge in Deutfchland und England. Deutich- Ungar von Geburt, iſt er ein Landsmann Joachim's und war zulegt dejien Schüler. In dem Vortrage der befannten »Ballade und Bolonatjee von VBieurtemps, eine Spohr: ihen Andante und eine Gapricio von Paganini entfaltete Auer ebenſo jolide als glänzende Eigenfchaften: gefangreichen Ton und reine Intonation, bedeutende Bravour in allen Strich: arten und Lagen, ruhigen, edlen Ausdrud im Adagio, Kraft und Ausdauer im Allegro.

Der wahrhaft überraihende Erfolg von Ullman’s Goncert, dad der jchönen Jahreszeit zum Troß dad Haus über und über füllte, hat die Geſchicklichkeit dieſes raftloien Goncertslinternehmer® neuerdingd bewährt. Die Concerte, die er unmittelbar zuvor in Linz, Salzburg, Laibach, Graz und Preßburg gegeben, jollen 40.000 Gulden eingetragen haben ; Brünn, Olmüß, Troppau, Krakau, Lemberg und Czernowitz, die nunmehr an die Reihe fommen, verjprehen ähnliche Er: folge. Nur eine jo geſchickte Combination und Adminiftration

Das Patti-Concert im Garltheater. 499

machen es möglich, mittleren und fleinen Städten, die fonft jahrelang feinen berühmten Birtuofen zu Gefiht befommen, dieſes Vergnügen reichlich und wohlfeil zu verjchaffen und den Künftlern jelbit im Laufe weniger Wochen beträchtliche, fichere Einnahmen zuzumenden. Dies geht freilih nur die induftrielle Seite der Kunſt an, nicht die Kunſt ſelbſt; aber einmal zuge: ftanden, daß das geichäftliche Intereife bei Virtuoſen-Reiſen mehr als je im WVordergrunde fteht, muß man die dee der Ullman'ſchen Aſſociations-Concerte modern und praftiich finden.

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1368. Orchefter-Eoncerte.

Dom Eiſe befreit find Strom und Bäche durd des Frühlings Holden, belebenden Blid« wem klingen fie nicht jegt im Ohr, die Worte Fauſt's, aus welchen die ganze Freu digkeit der Ofterftimmung quillt, wie Sonnenwärme und junges Grün? An fie darf nicht denken, wer Schubert'3 »Oſter— Cantate« (»Lazarıd«) hören geht. »Charfreitags-Cantate« wäre die treffende Bezeichnung für ein geiftlihes Drama, das zur Hälfte am Sterbebett Spielt, zur Hälfte am Begräbnißplage. Der erjte Theil ift eine fortgefegte Auflöfung des Lazarus, der jih freut, zu fterben. Der zweite bringt den Sadducäer Simon, der fih fürchtet, zu Iterben. Die Beltattung Lazarus' ſchließt fich an. Den dritten Theil des Niemaher'ſchen Gedichte, welcher mit der Erwedung des Lazarus triumphirend abſchließt, hat Schubert, bisherigen Nachforichungen zufolge, nit come ponirt. Gin ſchwerer Berluft; denn Schubert 5 Muſik, dem Leben befreundeter als dem Tode, hätte, ähnlich dem driftlichen Mythus, welcher in der Auferftehung des todten Lazarus die Auferstehung Aller am jüngiten Tage vorbildete, in der Wieder: belebung diejes Einzelnen das Leben jelbit und feine Herrlich: feit gefeiert. Dad »Lazarıae- Fragment, im Jahre 1863 durch das Verdienſt Herbeck's zum erjtenmale zu Gehör gebradt, erlebte nun feine zweite Aufführung am Chardienftag in dem »Außerordentlichen Goncert der Gefellichaft der Mufiffreunde«. Dieje reicher ausgeftattete und feiner ausgearbeitete Wiederholung ließ uns die hohen Schönheiten der Tondihtung noch viel

Schubert’® Gantate »Lazarus«. 501

tiefer fühlen. »Lazarus« bejigt die ganze Innigkeit der Empfin— dung, den melodifchen Reichthum und die dramatiiche Lebendig— feit, deren Vereinigung den Genius Schubert's charakterifirt. Mie rührend und fchönheitsverflärt ſchwebt die erite Arie der Maria empor, wie überirdifch Klingt die Erzählung Jemina’s von ihrer Auferwedung, wie leidenjchaftlich-dramatiih die Arie des verzweifelnden Simon! Gefänge, wie dieſe, gehören zu dem Schönften, was Schubert geichaffen hat. Es gehört die ganze innere Freudigfeit und Klarheit Schubert’iher Muſik dazu, um den Verweſungsgeruch, der diefe Dichtung durchzieht, fait alle® Beflemmende zu nehmen. »Faſt«, denn gänzlich ver: modte Schubert's Genius die unheilvolle Einförmigteit des Tertes nicht zu befiegen. Der Tondichter hätte zu feiner melo— didien Blüthenfülle auch noch Beethoven's einfchneidende Kraft und Bach’ contrapunftiiche Meiſterſchaft befigen müſſen, um der thränenfeligen Monotonie diefes Gegenitandes völlig Herr zu werben. Das ununterbrochene Feithalten derjelben Stim- mung, mufifaliih potenzirt durch dad ſtete Vorherrichen der langjamen Tempi im ?/,Taft, die langen ariofen Recitative, das Fehlen der Baß- und Altitimme im erjten Theil u. dal. wirt am Ende erfchlaffend. Am empfindlichiten vermißt man das Gegengewicht polyphon gearbeiteter, ja auch nur figurirter Säße und fräftiger Chöre. Der Chor iſt nur am Schluffe jeder Abtheilung, beidemal als langſamer Klagegefang, verwendet. Dieſe Eigenheiten geben dem Ganzen einen faft liederjpielartigen Charakter, der von dem ftrengeren Begriff des Oratorien-Styls (auch abgejehen von dem gänzlichen Ab— gang des epifchen Elements) feitab fteht. Zwiſchen ergreifend Ihönen Nummern dehnen fich im »Lazarus« bedeutende Streden, die nicht freizufprechen find von rhythmiſcher und harmonifcher Monotonie, von meichlicher, hie und da an ältere Opern- Componiſten erinnernder Empfindfamfeit. An jenen Wunder: blüthen des muſikaliſchen Todtenkfranzes wird fich der Hörer jeder Zeit erquiden; er wird ftaunen, bis zu welchem Grade Schubert es vermocht habe, Leben in died Sterben zu bringen. Aber der Total-Eindrud des ganzen Werkes wird niemals ein ungemiſchter, wahrhaft befreiender fein, jo lange nicht

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eine kundige und vorurtheilsfreie Hand daran zu Fürzen ich entichließt.

Was wir zu der ſchmerzerfüllten Schönheit des » Lazarıız« noch hinzuwünſchen mochten, das bradte am jelben Abende im reihen Maße das »Kyrie« aus Bach’ H-moll-Mefje: mann hafte Energie in der Klage und jene Gewalt der Polyphonie, welhe das mufifalifche Denken hinreichend beichäftigt, um die zeriegende Macht wehmüthigen Empfindend zu paralyfiren. Am jelben Tage des vorigen Jahres hatte Hofcapellmeifter Her: bed die »Hohe Meſſe« von Bah mit Ausnahme des »Fyrie« und »Gloria« aufgeführt. Aeußere Hinderniffe vereitelten dies— mal die Aufführung des »Gloriae, des einzigen Satzes, der uns jomit zur vollftändigen Bekanntſchaft diefer großen Ton: ihöpfung noch fehlt.) Aus diefem Grunde und wegen des impofanten Gegenfaßes, welchen gerade der trompetenjchmet- ternde Triumph des »Gloria«e gegen das düſtere »Syrie« bildet, bedauern wir den Ausfall diefes (allerdings jehr aus: gedehnten) Meßtheiles im legten Concert. »Kyrie« und »Sloria«e der Bah’ihen Meſſe gehören überdies auch nod hiftoriich zufammen, indem diefe beiden (im Jahre 1733 von Bah an Friedrih Auguft I. von Sachen jelbititändig über: ſchickten) Süße den urfprüngliden Kern des ganzen Werkes bilden, dem der Autor erſt jpäter und allmälig die anderen Theile, mit Benügung älterer Cantaten, hinzufügte. Was Sebaltian Bad, den eifrigen, ftrengen Proteſtanten, zur Com: pofition der ganzen katholiſchen Meſſe veranlaßt haben mag, hat man fih oft gefragt. Die einfadhite Erklärung dünkt uns, daß Bach von der Größe und dem Neichthume des Tateinifchen Mebtertes, welcher in kurzen Süßen die ganze firdliche Ge: danfen- und Empfindungswelt umfaßt und dem Componiften eine der bedeutenditen und dankbarſten Aufgaben bietet, ſich mächtig angezogen und aufgefordert fühlte ES fehlt feiner Gompofition die fatholiihe Färbung, der confeffionelle Accent, ja die praftiiche Eignung für den Gotteödienft, allein an Tiefe *) Eine vollitändige Aufführung von Bach's H-moll-Mefje fand in Wien erit im März 1885 ftatt.

Bach's hohe Meife. »Wallenfteine v. Nheinberger. 503

und Fülle der religiöjen Empfindung, an Größe des Gedanken? und der Kunftvollendung fteht fie mit der unſerer modernen Anſchauung Iympathiicheren, aber faum großartigeren Felt: mefje von Beethoven zu oberit aller muſikaliſchen Meſſen. Das »Kyrie«, welches wir im leßten Goncerte hörten, befteht aus drei Nummern: einem im größten Style fugirten Chor, dejien Thema zu den merfwürdigiten Erfindungen und deſſen Durhführung zu den großartigften Gontrapunfktirungen ſelbſt bei Bah gehört. Es folgt daS »Christe eleyson« al® Duett für zwei Sopranftimmen, blo8 von zwei Inftrumentalftimmen (erite und zweite Violine unisono und Grundbaß) begleitet, ein Tonftüd, in welchem der Bach'ſche Genius, wie jo manch— mal in Arien und Diuetten, fih zur Bah’ihen Manier, zum Formalismus verengt und deshalb eine tiefere Wirkung auf den Hörer nicht hervorbringt. Um fo gewaltiger erbrauft der folgende fürzere, ſtreng fugirte Alla-breve-Chor »Kyrie eleyson«, welcher dieſen Meßtheil in erhabener Weile abichliept.

Mir hörten im Philharmoniſchen Concert als Novität ein ſymphoniſches Tongemälde »Wallenſteins« betitelt, von Joſef NRheinberger. Der Beifall, den diefe Compoſition in München und Xeipzig errang, bot hinreichenden Anlaß, fie auch dem Miener Publicum vorzuführen. Auf dem Gebiete der ſympho— niihen Muſik wird überdies jo wenig producirt, daß felbit das Halbgelungene Anfpruh auf Beachtung und freundliche Gr: munterung erheben darf. ES ilt kaum mwohlgethan, wenn die Kritit in ſolchem Falle durch allzu fchneidige Strenge zugleich den Producenten abichredt und die Goncert-Inftitute, welche ohne— hin meist die Tendenz zu claffiicher Verfteinerung haben. Rhein: berger ilt ein ernſt ftrebender, gebildeter Künftler und eine namentlih im Contrapunkt tüchtig gefchulte Kraft. Gar Vieles in feiner »Mallenfteine- Symphonie berechtigt zu jchönen Hoff: nungen für feine weitere Laufbahn. In diefer Symphonie leidet fein Talent zunächſt durch den unausbleiblichen Conflict zwijchen den ſelbſtſtändigen Formgeſetzen reiner Inftrumentalmufit und den Anforderungen der beitimmten poetiichen Aufgabe Der Muſiker, der fi mit einem poetiihen Programme einläßt, erfährt nur zu bald, daß es ihm mit der linfen Hand eben:

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foviel entzieht, ald es ihm mit der rechten gegeben. Der Iodende Vortheil ift augenfällig: ein Stück von dem bunten, theatra- liichen Realismus des Nheinberger’ihen »Scherzo« würde man in einer Symphonie jchwerlich gelten laffen, in einem » Wallen- ftein-Gemälde« läßt man e3 nicht blos gelten, jondern zeichnet ed vorzugsweiſe aus, weil der Titel »Wallenſtein's Lager und Kapuzinerpredigt«e darüber fteht und uns zu ber lebhaften Muſik fertige, beitimmte Bilder entgegenbringt. Dieſer Satz iſt der gelungenfte der Symphonie, er hat friſche, prägnante Themen, lebhaften Zug und fügt durd die Einführung des alten Soldatenliedes »Wilhelm von Nuffau« zu der glüdlichen Localfärbung auch noch eine hiftoriiche. Minder günftig waren dem Gomponiften die drei anderen Sätze; hier ftellt fih ihm der Nachtheil des poetifchen Programmes entgegen. Säge mit der Ueberſchrift »Mallenftein«, »Thekla«, »Wallenftein’® Tod« bedingen eine gewiſſe mufitaliihe Allgemeinheit, welde den Hörer bald zu verdrießen beginnt, wenn er darin nicht Directe Anknüpfungspunfte an jene Schiller’ihen Charaktere vor: findet. Der Componijt müht ſich abwechſelnd, mufifaliih unab— bängig und danı wieder dramatisch illuftrirend zu fchreiben, und geräth dadurh in eine Unen.jchiedenheit und rhapſodiſche Unruhe, welche weder der » Symphonie«, nocd dem »Wallenſtein« gedeihlih werden kann. So treten und im Finale jtarfe, muſi— kaliſch unerflärbare Gegenjäge entgegen, eingeſchobene Sätze von contraftirender Ton- und Taktart, Rhythmik und Inſtru— mentirung. Was habe ich mir da zu denken? fragt der Hörer unwillkürlich. Was bedeutet das? Da ihm Niemand antwortet, verliert er die Stimmung. Abgejehen von dem Verhältniß zum Programme, trifft die Symphonie zumächit der Vorwurf einer zu großen Länge aller Sätze. Ferner find die Motive mehr moſaikartig zuſammengeſetzt, als organisch aus fich heraus ent- widelt. Eine Reihe von Motiven löſt fih ab, um zu verlöfchen, ehe fich eines davon im Hörer feſtgeſetzt hat; man vermißt den Eindruck des Nothwendigen, Logiſchen. Dies und die muſi— faliihe Schwähe mancher Themen find die Mängel der »Mallenftein«- Symphonie. Es Fehlt ihr an Bollendung des fiinftlerifchen Baues, wenn auch keineswegs au glüdlichen Ein:

Chopin's F-moll-Goncert. 505

füllen, und fein gearbeiteten trefflih contrapunftirten Partien. Wie die Symphonie vorliegt, halten wir für eigentlich lebens— fühig daran nur das Scerzo, daß fih auch iſolirt als wirk— jame Goncertnunmer empfiehlt. Für vielveriprechend Halten wir jedoh das Talent des Componiften, der auf richtigerem Wege auch zu ſchönerem Ziele gelangen wird.

Die »Phildarmonifhe Gejellichaft« führte uns in ihrem legten Concerte zwei Gäſte guten Namens vor: Die Bianiftin Fräulein Mehlig aus Stuttgart und die Hanno ver’ihe Kammerjängerin Fräulein Ubrich. Fräulein Anna Mehlig fpielte Chopin’® F-moll-Eoncert (op. 21) mit jehr günftigem Erfolg. In der That befigt die junge Dame eine üußerft elegante, fein und ficher ausgebildete Technik, die namentlich in behenden Paſſagen, Trillern und Verzierungen an Sauberkeit nichts zu wünſchen läßt. Ihr Anfchlag ift zart und fingend, wenn er auch felten den ganzen, vollen Ton aus dent Inftrumente zieht oder durch ftirmiiche Kraft imponirt. Mer das Chopin'ſche Concert genauer kennt, wird Fräulein Mehlig’s Leiftung nur um jo höher ſchätzen, denn die Com: pofition bürdet dem Spieler eine Maffe von Schwierigkeiten auf, welche der Hörer mitunter kaum bemerkt, geichtweige denn auszeichnet. Nicht fo rühmenswerth wie die brillante technifche Durchführung ſchien uns die geiftige Auffaffung und Interpre— tation des Stüdes. Ein Concert, ſei's auch ein Chopin'ſches, will anders gejpielt fein, als ein Notturno. Schon die Größe der Form und der Kımftmittel verlangt einen größeren ob: jectiveren Styl des Vortrages. Anftatt den lojen Zufanımen: hang dieſes lyriſchen Monologes ftraffer zufammenzuziehen, foderte ihn Fräulein Mehlig durch alles erdenkliche jentimen: tale und gepugte Detail. Es ging dur) den ganzen Vortrag ein Dehnen und Schmadten, welches die jpärliden und der Nachhilfe bedürftigen Fräftigen Stellen der Compofition nod) abſchwächte. Das erfte Allegro (vom Orcheſter in richtigem Tempo indroducirt) nahm Fräulein Mehlig ſofort zögernd und zerfloffen auf; deögleichen Tieß fie die energiichen Anhalts— punkte, welche das Finale durch mazurfasartige Rhythmen bietet, völlig unbenügt. Fräulein Mehlig darf fich rühmen, daß jehr

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wenig Frauen ihr das Chopin’she Concert nachſpielen werden, aber ein Mann würde es anders fpielen. Die Compofition jelbft, anregend durch zahlreihe feine Details, zündete an feiner Stelle. Intereffant ift fie und ſchon durch die Perſön— lichkeit des Autors, die freilih im ungleihen Kampfe mit großen, ſymphoniſchen Formen ihre beite Eigenthümlichkeit einbüßt. Chopin ift eine Aeolsharfe, welche, von einem Lüft- chen berührt, die wunderbarften Klänge aushaucht, aber niemals hat ein beftändiger Wind fie angeweht. Dieſe zauberijch ver- Elingenden Mccorde, fie fügen fich zu feinem ftolzen Bau; aus al dem duftigen Nocturnen und Mazurfad erwädit feine Sym- phonie, feine Sonate. Das E-dur-Eoncert und die B-moll- Sonate, an Gehalt und formeller Geſchloſſenheit entichieden über dem F-moll-Goncert ftehend, verrathen dennoch fchon deutlih die Schwäche des im Kleinen jo mächtigen, im Großen aber hilflofen Troubadours. Sntereflant iſt uns daß F-moll- Concert ferner, indem es ganz vorzugsweiſe den ftarfen Ein: fluß Chopin’ auf Schumann verräth. Wie Chopin jelbit, fein Ahnherr Field und feine Nahfommen Henjelt, Stephen Heller und Kirchner, jo ſchien auh Schumann Anfangs jein originelles® Talent in fleinen Formen ausgeben zu wollen. Aber er blieb nicht wie Jene in dem engen Sauberfreije ge: bannt; ein kräftiger Durchbruch, und Schumann war mit feinen Symphonien, feinen QDuartetten aus der Reihe der großen Talente in jene der großen Meifter aufgeftiegen. Minder glücklich als ihre Eollegin am Glavier war dad zweite Mäd— chen ans der Fremde, Fräulein Ubrich, mit dem nicht un: romantiihen Vornamen Aſsminde. Fräulein Ubrih hat eine weiche, namentlich in der Mittellage klangvolle Stimme, die fih aber monoton, phlegmatiih, auch um einige Distoniren unbefümmert, fortbewegt. Bon Goloratur nad ihrem Rollen: fahe zu schließen, Fräulein UÜbrich's Hauptitärfe befamen wir blos einen hübſchen, gleichen Triller zu hören. Als Lieder: jängerin verrietb Fräulein Ubrih einen auffallenden Mangel an Wärme und poetiicher Individualifirung. Welch bequeme MWohlbeleibtheit des Vortrages, die ſich mitten im Liede auf irgend eine Note niederjegt, um da beliebig auszuruhen! In

Asminde Ubrich. Beethoven's C-dur-Goncert. 507

allen Vorträgen Fräulein UÜbrich's herrichte Kälte, ja ſchlimmer als dies: Schläfrigkeit. Und Schubert, Mendelsſohn, Schu— mann das find dod, follte man glauben, muſikaliſche Weder von ziemlicher Kraft. Eine Arie des gefrönten Schäfer? Aminta aus Mozart's Feſtoper: »Il re pastore« eignete fih jedenfalls viel beſſer für die friedliche Bolitif der hanno— ver’ishen Sängerin. Der neunzehnjährige Mozart componirte diejes Feſtſpiel befanntlih für ein Hoffeft in Salzburz (1775), alio zu einer Zeit und unter Verhältnifien, welche das Ge- leiftete relativ bedeutend erfcheinen laſſen. An und für fi fann una aber diefe Mifchung von phyfiognomielofer Idealität und veraltetem Schmucwerf unmöglich erwärmen, weder in der Partitur no in dem Vortrage Fräulein Ubrich's. Bon AU. W. Schlegel haben wir längit den Begriff der »gefrorenen Muſik«; nun fernen wir aus eigener Wahrnehmung auch den gejungenen Schnee.

Die legte Production der »Geſellſchaft der Mufikfrennde« begann mit Beethoven's erftem Clapier-Eoncert in C-dur (op. 15), das man nach vielen Jahren mit Necht wieder ein- mal in Grinnerung brachte. Freilich erjcheint hier Beethoven noch in jehr homdopatiiher Verdünnung, und das Concert jelbjt jteht jo weit von den fpäteren ab, wie die erite Sym— phonie von ihren acht Nachfolgerinnen. Aber das Eoncert und diefe Symphonie, fie waren doch eben die »erften« einer un: jterblihen Reihe und bilden ſchon aus diefem Grunde ein Kunſtvermächtniß, das feine mufifaliiche Stadt der Vergeſſen— heit überliefern darf, am wenigſten die Hauptitadt Dejterreichs, in welcher und für welche der junge Beethoven diejes Concert gleihfan als feine mufifaliihe Promotions Mufit geichrieben bat. Er fpielte es am 29. März 1795 in der Akademie der »Miener Tonkfünftler-Societät«; die erfte befannte Aufführung eines Beethoven’schen Concertes. In dem füßen, feelenvollen und Doch nicht meichlichen Adagio Elinat unverkennbar ſchon Zon und Stimmung mander jpäteren Beethoven’shen Adagio an. Der erite und legte Satz berühren uns heute, 73 Jahre nad jener erſten Aufführung, freilich nur ſchwach und mehr in einzelnen, von uns durch hiſtoriſche Neflerion (bewußt oder

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unbewußt) verwertheten Zügen, als in ihrem Total-Eindrude. Man kennt die Zartheit und Noblejfe, mit welcher Herr Ep— jtein Mozart'ſche Compofitionen fpielt, und Dies Beethoven'ſche Concert ift beinahe eine.

Das zweite Finale aus Cherubini's »Medeas« ift eine jtol3 aufgebaute, charaktervolle Compofition. Dad Scenifche, das diefes Finale auf der Bühne mit großem und bedeutjamen Prunke umgibt, ſchien indeffen dem Auditorium doch mehr, als man vermuthete, abzugeben, fo daß die Nummer nicht die gehoffte Wirkung machte. Als zweite Nummer hörten wir ein Violoncell-Concert, componirt und gejpielt von Herrn Davidoff aus Petersburg. Sein Ton ift groß und edel, fein Vortrag, im Andante von fchöner Weichheit und Breite, glänzt im Allegro durch virtuofe Bewältigung fehwieriger Paſ— jagen, namentlich in Octaven, Terzen- und Sertengängen. Das Nublicum würdigte Herrn Davidoff's Kunft durch wieder holten Hervorruf, nur bedauernd, daß fie nicht eine gehalt- vollere, originellere Gompofition zum Gegenjtand hatte. Ueberdies beichäftigt dieſes herzlich unintereffante Concert die Bravour des Spielers zu oft und anhaltend in den höchſten Lagen, wo das Violoncell bekanntlich für den Virtuoſen wie für den Hörer leicht gefährlich wird.

Der Roſe Pilgerfabrt von Robert Schumann.

Es iſt Herren Herbeck's Verdienft, diefes in Wien biöher nur bei Glavierbegleitung aufgeführte Werk zum erftenmale mit ganzem Orcheiter gebracht zu haben. Ein wahres Verdienst um die Compofition ſelbſt, welche in dieſer reicheren Geftalt weit lebhafter anſprach als je zuvor. Es verfchlägt nichts, daß Schumann urfprünglic jelbit nur eine Clavierbegleitung be— abjichtigte, Hat er doch bald das Ungenügende derjelben gefühlt und die Inſtrumentirung veröffentlicht. Ganz abgejehen von dem kräftigeren Total-Eindrud, gewannen mande auf beftimmte

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Ter Roſe Pilgerfahrt von Rob. Schumann. 509

Orcheſterfarben wie von ſelbſt hinweiſende Nummern jett erft ihren eigentlihen Charakter und vollen, durch Inftrumentale Gegenſätze bedingten Effect. Wie ganz anders winken jeßt die Elfenhöre inmitten des feinen, gligernden Gejpinnftes der Geigen, und die Friedhoföfcene, getragen von dem ſchwer— müthigen Klang der tiefen Bläfer! Mer Hat fie nicht biöher fchmerzlich vermißt, die vier Maldhörner in dem Chore: »Bilt du im Mald gewandelt«e, und Trompeten und Baufen bei dem ländlichen Hochzeitsfeite? Der beitechende Eindrud der Inftrumentirung hat uns trogßdem nicht von unſerer urjprüng: lichen Meinung über ein Werk abzubringen vermodt, das als Ganze® uns von ſchwächlicher Erfindung und bedenklicher Richtung eriheint. Wir geftehen unjere Antipathie gegen das Gedicht, dieſes »Märchen« im Geſchmacke der jentimentalen Putlitz-Redwitz'ſchen Goldſchnitt-Poeſie, welche, unfähig, die echte, eigene Sprade der Natur zu entfeffeln, Hinter jeden Baum und jede Blume einen redenden Automaten ftedt. Die Heldin des Gedihtes ift eine Roſe, welche »Jungfrau werden wille, dabei aber ſchon als Roſe, vor der Verwandlung, alle menſchlichen Begriffe und Empfindungen hat. Diele verjungferte Roſe, niht Menſch, nicht Pflanze, eine ind Botanifche überfeßte »Peri«, bildet nun den Mittelpunkt des Ganzen und foll unfere tieffte menfhlihe Theilnahme erweden. Wer für diefe Art Poeſie ſchwärmt, dem empfehlen wir dazu noch den Anblick der Titelvignette, wo eine wohlgenährte Bauerndirne im Unterrod jhwerfälig aus einer Rieſen-Centifolie (Röschen«) fteigt, während von links ein fleiner Cupido Haufen von Blättern oder Bienen ihr entgegenbläft. Die eigentliche Abficht des Dichters iſt freilich eine zugleich praftifche: er ſchickt die Roſe auf eine »PBilgerihaft« aus, um fie in alle erdenklichen mu— fifaliich-dankbaren Verhältniſſe zu bringen. Das Kaleidojkop, das num ziemlich raſch vor unferem Blick gedreht wird, reicht bon der Wiege bis zum Grabe, oder auch vom Begräbniß bis zur Wiege. Das Schlimmfte tft, daß dieſe unnatürliche, gezierte Poefie mit ihrer bis zur Blumenſprache jublimirten Senti- mentalitätt Schumann's bereit3 etwas fraufhaftes Gemüth vollftändig gefangen nahm und nothwendig auch den Charakter

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feiner Muſik beftimmte. Wenn wir einige anmuthigsfrifche Nummern herausnehmen, jo befinden wir uns in einer trüben Dämmerung, in einer Atmofphäre von entnervender MWeichlich- feit und Schwüle. Lange Streden hindurch ſammeln fich die Töne zu feiner feften Zeichnung, zu feiner plaftiichen Geftalt; die Umriffe fließen unbeftimmt ineinander. Wie in der »Peri«, jo ift auch in der »Roſe« (ihrem blaffen Abbild) leider das Recitativ verbannt, Died trefflihe Mittel, blos erzählende Stellen von den geichlofjenen Iyrifchen und dramatiichen Formen zu jondern und dadurd Beides zu heben. Wo (wie in der »Roſe«) das Necitativ als Arioſo behandelt wird und Die Arie recitativifh, da verſchwimmt Teicht beides in eine graue Monotonie. Die Nummern von geichlofiener, ftrophiicher Form, die liedmäßigen Stüde (Jägerchor, Hochzeitächor, Duett »von der Mühle« u. f. mw.) bilden deßhalb auch die Lichtjeite des Werkes, während alles Erzählende und Dramatifhe der plafti- ſchen Feltigfeit ermangelt, heimatlo3 zwifchen Epos und Drama ſchwankend. In der erjten Abtheilung ragt die ſtimmungsvolle, tteffinnig concipirte Friedhofsjcene gewaltig aus allem Webrigen hervor; die Perlen des ganzen Werkes finden ſich aber im zweiten Theile, wo der Glfene und Blumen-Myſticismus einem blühenderen, realen Leben Pla macht. Der einzelnen Schönheiten gibt e8 in diefem zweiten Theile fo viele, daß fie das ganze Werf vor der Vergänglichfeit wohl zu retten im Stande find oder wenigſtens fich felbft als felbftändige Muſik— ftüde daraud erretten werden.

Bon der Hochzeit ab geht ſowohl die Geihichte ala die Mufit einem traurigen Ende zu. »Wie ein Jahr verronnen ift, jein Snöjplein zart, Schön Nöslein küßte. Diejes Kind (das alſo von väterlicher Seite Förfter, von mütterlicher Seite Blume ijt) beſchließt Röschen jammt dem Gatten wohlgemuth zu verlaffen, und zu den »Schweitern zurüdzufehren«, weil fie ja genoffen »der Erde Seligfeit«. Die Elfenkönigin beſchließt aber, die Roſe zum Lohn für jo edle Gefinnung nicht unter die Elfen, fondern unter die Engel zu reihen, welche denn auch, dieſer wunderlichen Hierarchie fich fügend, Roſa zu »höherem Licht« aufnehmen! Muſikaliſch ift dieſer legte

Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergeſang-Vereines. 511

Abſchnitt des zweiten Theiles durchaus unbedeutend. Der poe— tiſche und muſikaliſche Fall des Werkes zum Schluß mag Schuld ſein, daß der Beifall des Publicums, der während der Aufführung ſehr lebhaft war, nach derſelben beinahe ver— ſtummte.

Einen großen und nachhaltigen Total-Eindruck dürfte der »Roſe Pilgerfahrt« nirgends hervorbringen; zu raſch wird uns die Reihe bunter Bilder vorgeführt, welche ſehr loſe und überdies nur durch eine höchſt abgeſchmackte Märchenerfindung zu— ſammenhängen. Hätte doch Schumann, ſo vertraut mit den reinſten Klängen des menſchlichen Herzens, ein rein menſch— liches Idyll daraus gemacht! Das Leben eines Landmädchens, ohne die Maſchinerie des Wunders, hätte uns tiefer gerührt, als dieſe Fata Morgana der Mädchenroſe, welche in ihrer Doppel— natur und ihrem Ausgang eine beinahe humoriſtiſche Ver— wandtſchaft mit »Lohengrin« hat. Wenn man nicht den hohen Mapitab an die »Roſe« legt, welhen Schumann jelbit in feinen beiten Werfen ung an die Hand gibt, jo wird man fich des vielen arten und Anmuthigen darin allzeit erfreuen, ja, mehr als eine Nummer mit Entzüden genießen. Darüber wird man zeitweije vergefjen fönnen, wie jelten dies Werk in feinem Berlauf und zu einer freien, fräftigenden Stimmung erhebt. Die Aufführung verdiente alles Lob. Fräulein Helene Magnus für zarte, poetifche Aufgaben, wie Schumann’3 »Roſe« wie geichaffen, wußte durch fein nitancirten Vortrag und vortrefflihe Decla- mation zu erjegen, was ihrer Stimme an Kraft und Metall abgeht. Ihre pilgernde ⸗»Roſe« wirkte wie der janfte vor: nehme Duft einer Rosa thea.

Steftconcert und Jubiläum des Wiener Männergelang: Vereines.

Der Wiener Männergejang:Berein beging (October 1868) die eier ſeines 25jährigen Beſtehens. Dieſe Feier, drei Tage umfafjend, manifejtirte fich in dreifacher Eigenſchaft: als geiſt—

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liche (Stiftungsmefje in der Auguftinerfirche), als künſtleriſche (Adendeoncert im Redoutenfaal) und als gejellige (in der Feſt— fiedertafel). Sie ſchloß überdied mit einem ſchönen Act künſt— leriicher Pietät, mit der Grundfteinlegung zu Schubert’ Denfmal. Fünfundzwanzig Jahre! Ein langer Zeitraum für die Thätigfeit des Einzelnen, ein faum merflicher für die der Kunſtgeſchichte Manchem dünkt Diefe Spanne Zeit zu kurz, um ein pomphaftes Jubiläum zu rechtfertigen. Sonft feierte man Jubiläen nah 100 Jahren, wie ed bald der Tonkünſtler— Societät »Haydn« gegönnt fein wird, oder doch nad) 50 Jahren, wie 1862 die »Gejellihaft der Mufikfreunde« that. Wir find, offen geitanden, auch nicht eingenommen für die Furzen Ju— biläumd-Termine; fie haben zur Folge, Daß bei der großen Zahl von Hunftvereinen alle Augenblide ein Jubiläum jtatt- findet und die Gewohnheit den weihevollen Ernſt der Feit- ftimmung abſchwächt und entwerthet. Werth und Würde eines Jubiläums wachen mit der Zahl feiner Sahresringe, und Feite, die man der eigenen Genugthung gibt, müffen vor Allem felten fein. Nichtsdeſtoweniger fpricht manch’ gewichtiger Umftand zu Gunſten der ſchon jetzt, nah 25 Jahren, anberaumten Jubel: feier des Männergeſang-Vereins. Lebt unfere Zeit doch raicher, verzehrt fie doch ihre Kräfte fchonungslofer, ala die gemäch— (icher arbeitende Vergangenheit. Bon den Mitgliedern, welche den Verein vor einem Vierteljahrhundert aus der Taufe hoben und feine erften Schritte leiteten, find gar mandhe ſchon hin— übergegangen, und den Weberlebenden bleiht fih das Haar. Wir wollen nicht weitere 25 Jahre warten, die Zeit hat Eile und wie Lenau mahnt »unfere Gräber find ſchon un— geduldig«. Eine kunftgefhichtlihe Erwägung tritt obendrein zu diefer rein menjchlichen. Die Kunftgattung, welche der Wiener Verein jo rühmlich repräfentirt, der mehrjtimmige Männergejang, ift jelbft noch jungen Datums, ift ein Kind unſeres Jahrhun— derts, und die Stiftung der Liedertafeln und Männergeiang- Vereine reicht nicht weit über ein Menjchenalter.

An Kränzen und Medaillen reich it der Verein aus diejer anftrengenten Feſtwoche mit neuen Ehren hervorgegangen. Bor Allem gab das Concert im Redoutenſaal vollauf zu

Feftconcert und Jubiläum des Wiener Männergejangs Vereines, 513

ſehen und zu hören. In der Zufammenftellung des Brogramma hatte man ed vorzugsweiſe auf Novitäten abgelehen, auf große und ftarfe Stüde von modernen Componiſten. Jede dieſer Novitäten fand ehrenvollen Beifall, wie es nicht anders zu er: warten war bei Werfen von namhaften Tondichtern, welche überdied durch perſönliches Mitwirken den Abend verichönten. Daß troßdem die Stimmung des Publicums dabei mehr rejpectvoll als begeiftert fich Eundgab, fonnte Niemandem ent— gehen. Der Gedanfe wurde hie und da laut, ob es nicht doch zwecdmäßiger, die allgemeine Begeilterung fürdernder geweſen wäre, das Feitconcert blos aus den jchönften Perlen des Ne: pertoires zufammenzufeßen.

Die Literatur des Männergelanges ift befanntlih eine jehr junge und keineswegs reichhaltige. Die nmerbittlichen natürlihen Grenzen dieſer Muſikgattung (Beichränttheit der Stimmenbewegung, Monotonie des langes u. ſ. w.) ftellen fih einer weiteren bedeutenden Entfaltung ihrer Literatur entgegen. Haydn, Mozart, Beethoven defjen Gefangenen: Chor in »Fidelio«, eine der früheften und mächtigiten Com— pofitionen diefer Gattung, von der Bühne untrennbar iſt eriftiren nicht für die Männergefangd:Eoncerte Mir müſſen von Weber, Marſchner und Spohr datiren, die zuerit den bieritimmigen Männerhor im modernen Sinne wirkſam behandelten, leider nur in allzu wenigen jelbitändigen Com— pojitionen. Selbit als die Liedertafeln zur mufifalifchen Macht wurden, haben die großen Meifter nur jelten ſich ihnen zuge— wendet, wie man aus den Katalogen von Mendelsſohn's und Schumann’: Werken entnehmen fann, in welchen die reinen Männerhöre als etwas Ausnahmsweiſes gegen ihre zahlreichen gemischten Chöre zurücditehen. Hingegen ergoſſen fich bald die Mittelmäßigkeit und der Dilettantigmus in breiten Fluthen über dieſes leichte ımd dankbare Gebiet, die Verlegenheit eines ftreng fünftleriich vorgehenden Goncertleiterd eher mehrend ala bejeitigend. Herbeck hat durch Herborfuchen älterer Com— pofitionen, Aufnahme von Opernfragmenten, treffliches Arran— gement von Volksliedern, endlih durch feine Entdeckungen vergrabener Schubert’icher Sumelen mit ungemeinem Eifer

Hanzlid. Aus dem Goncertiaal. 2, Aufl. 33

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dafür gewirkt, die Concerte des Männergeſang-Vereines über das Niveau des blos Gejelligen und Gefälligen zu erheben. Er hat das reichfte und werthvollſte Nepertoire zu Stande gebracht, deſſen fih irgend ein Männergefang:VBerein rühmen fann. Troßdem wird neben und nad all diefen Anftrengungen, den Männergefang zu höchſten Zielen und jelbitändiger Kunſt— bedeutung emporzuziehen, derſelbe dod immer wieder mit eigener Schwerkraft in jene harmlofere Region zurüdfallen, die ihm von Haus aus behaglicher und natürlicher ift. Ja, natür— liher denn Wefen und Wirkung des mehritimmigen Männer gefanges wurzeln tiefer in den begrenzten Formen einer edleren Geſelligkeit, als in der Deffentlichfeit des großen Eoncertjaales. "Ein unvergleihliches Element, ja ein jelbjtändiger Organismus als fünftleriichegejellige Thätigfeit, bleibt der Männergefang al3 reine Runftgattung immer nur ein Nebenzweig und Theil eines größeren Ganzen. Mit und neben dem gemiſchten Chore und als Beitandtheil großer chkliſcher Tondichtungen findet er feine vollgiltige, rein fünftlerifche Verwendung. Die Stimmen der Publiciftif haben, wie dies anläßlich einer Feſtfeier begreiflich, faft ausnahmslos den Ton enthufiaftiiher Gratulation feit- gehalten. Eine nachträgliche, beruhigtere Kritif wird deßhalb nicht griegrämig heißen dürfen, wenn fie die Thatſache er: wähnt, daß die unerfättlihde Schwärmerei für Männergejang2- Productionen, wie fie in den Vierziger-Jahren allenthalben herrichte, fih auf ein vernünftigere® Maß befänftigt hat. Iener entzüdte Cultus erfchien begreiflih zu einer Zeit und in einer Stadt, welchen der jcharfe, ſüße Zufammenklang von Männer jtimmen neu war und welche überdied der ungleich höheritehenden Gattung de8 gemischten Chores noch feine Aufmerkjamfeit ſchenkten. Im Charakter der gegenwärtigen Runftperiode liegt es nicht, dem Männergefang eine noch höhere jelbftitändige Geltung im Goncertjaale zu vindiciren, fondern im Gegentheile ihn allmälig wieder mehr feiner Heimat, dem engeren Sreije einer poetifchen Sejelligkeit zu überlaffen und als ein Ganzes nicht zu über: Ihägen, was in echter Kunſt immer nur ein Theil fein fann.

Herbed hat den feitlichen Anlaß nahdrüdlich für die Bereicherung ſeines Repertoirs benüßt, indem er nit blos

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nah neuen Gompofitionen fjuchte, ſondern folche pofitiv her: borrief. E3 wurden weislich mit Ausſchließung jeder Breis- coneurrenz Nopitäten bei verichiedenen namhaften Ton: dichtern eigens beitelt. Man Hat zunächſt von deutichen Meiftern F. Lachner, Eier, Wagner und Liſzt anges, gangen. Letzteren kann man gewiß ebenfo gut als Deutschen nehmen wie als Ungarn, Franzofen u. ſ. w. Liſzt ift von überall ber, ungefähr wie feine Muſik. Nicht To gefällig wie Liſzt Hat ſich Richard Wagner erwiejen, twelder in einem ſtark inftrumentirten Schreibebrief ablehnte und dieſe Ab- lehnung mit der feindieligen Stimmung der Wiener Kritif motivirte. Wie mag es ſich doch reimen, daß gerade Kiünfiler, die nur für die »Idee« und die »IUnfterblichkeit« arbeiten, fo empfindlich gegen den möglihen Widerſpruch einiger Kritiker find? Wagner Hat fih damit wahrfcheinlich jelbit um einen Erfolg gebracht, denn er ift ein Meijter des Effects und das Wiener Publicum befanntlich jehr eingenommen für feine Mufik. Daß die Wiener ihn »verftehen«e, hat der Meifter auch wieder— holt bier außgeiprochen, jedesmal wenn ihm eine Ovation gebracht wurde. Der Männergejang-Berein hat fih ferner aud) an Berlioz uud Gounod in Paris gewendet, welche jedoch danfend ſich entichuldigten. Wielleicht fühlten fie richtiger mit diefer Ablehnung, als der Verein, indem er fie zur Concurrenz aufforderte. Berlioz und Gounod find berühmte Namen und geiftvolle Componiſten, aber als franzöfiihe Componiften haben fie mil der eminent deutichen Gattung des mehritimmigen Männergefanges nichts zu Schaffen. Tondichter nichtdeuticher Zunge find bei einem deutichen Liedertafelfeft mufifalifch fremde Säfte. Ueberdies zählen Berlioz und Gounod, auch abgejehen von dem nationalen Moment, in der Literatur des Männer: gefangs überhaupt nicht mit, fie haben ihren Auf nicht durch Männerchöre erlangt, wenn fie auch Kleine Stücdchen davon in großen Werken ſporadiſch anbrachten, ungefähr wie man ein Geigenfolo in einer Oper anbringt, ohne deshalb zu den eigent- lihen Biolin-Componiften gezählt zu fein. Weit eher hätte von franzöfifhen Tondichtern Felicien David, der Gomponift der »Wüſte« Anjpruch auf die cehrenvolle Ginladung eines Männer: 33%

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chor-Vereines gehabt. Näher jedoch als irgend ein Franzoſe wären Hiller, ARubinftein, Brahms, Volkmann dem Vereine geftanden, von öſterreichiſchen Componiften älteren und jüngeren Namens nicht zu fprechen, welche ihr Talent in dieſem ‚Sache bereit3 erprobt haben.

Unter den Gomponilten, welche dem Vereine ein Feſt— angebinde fendeten, ift Liſzt mit feinem »18. Pfalm« am wenigften glüdlich gewejen. Die Anlage ded Stüdes ift jehr einfach, der Chor fingt die größere Hälfte der Compofition hindurch blos unisono. Der Charakter des Ganzen wird dadurch ein vorwiegend rhetorifcher, erit gegen dad Ende Hin nimmt er mufifaliihe Fülle und Hommenartigen Schwung an, aller: ding3 unter betäubenditer Mitwirkung von dröhnenden Bofaunen- und Baufenwirbel. Außer diefen materiellen ſoll der ſpiri— tualiftiihe Effect unvermittelter Dreiflangfolgen dem etwas mageren $deengehalte aufhelfen als »Paleſtrina des 19. Jahr: hundert3« (wie Papſt Pius ihn gerne nannte) gefällt fih Lilzt natürlich in Dreiflang-Fortichreitungen, wie A-dur, G-dur, C-dur, B-dur; fogar Es-dur, F-dur, G-moll, A-dur, Des-dur in einer Reihe! Der »Pſalm« ift übrigen nicht lang und fchließt mit blendendem Pomp. Ungleih mehr Anklang fand der neue Chor von Franz Lachner: »Abendfriede«. Der verehrte Veteran, bei jeinem Erjcheinen mit ftürmifchen Beifall begrüßt, dirigirte die klar und maßvoll aufgebaute, ſchönklingende, mit techniſcher Meifterichaft ausgeführte Compofition, die in einem Satze un: unterbrochen dahinfließt. Die Wahl des Lenau'ſchen Gedichtes it, ganz abgejehen von dem jchwierigen Metrum, der Com: pofition nicht günftig. Zu kurz für einen außgedehnteren Chor, veranlaßt jie jehr viele Wortwiederholungen, welche (wie das oft repetirte: »lächelt die Holde«) ermüdend wirken. Die ge— fünftelte Empfindung des Gedichtes es feiert den Abend al3 »ein jchlummernd Kind in Vater Armen, der voll Liebe zu ihm fich neigt«e mag überdies etwas erfältend auf Die Stimmung des Componiften gewirkt haben. Auch Goethe’3 tieffinniger »Gefang Mahomed’3«, den fih Eſſer zur Com: pofition gewählt, jcheint und vielleiht verlodend für den eriten Augenblidt im Grunde bedenklich für mufifalifche

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Behandlung. Das Symboliſche, das dem Gedichte zu Grunde liegt, findet in der Mufik feinen Ausdrud; diefe muß fih an da Neußerlihe halten, an die Schilderung des Baches, der fh zum Fluß außbreitet, in welchen raufhend alle Quellen von den Höhen hinabjtürzen u. ſ. f. Eſſer hat diefe unaus— weihlihe Tonmaleri nicht nur mit glänzendem Effect, fondern in grandiofem, alles Stleinlihe verichmähenden Styl ausge— führt. Gin männliher Ernft und meifterhafte Bewältigung der Technik zeichnen die umfangreihe Compofition aus, der wir nur eine Jparfamere Verwendung der den Gefang Schonung? los überfluthenden Orcheftermittel gewünſcht hätten. Eſſers Chor iſt eine der fchwierigften und anftrengendften Aufgaben; unfer Männergeſang-Verein hat fie ruhmvoll beitanden. Der neue Chor, melden Herbed geipendet (»MWaldicene«), bewegt fih gleihfalla. in den breiteften Dimenfionen und nimmt alle Kräfte des Orcheſters in ausgedehntefter Weile zu Hilfe Man fönnte dieſe »Waldſcene« eine Miniatur-Oper nennen; ihr Vorſpiel wählt beinahe zur Ouvertüre, ihre Ritornell3 zu kleinen Zwifchenacten. Es waltet viel Romantik und ein un gewöhnlicher Klangzauber in diefer Compofition, namentlich in dem ftimmungsvollen Vorfpiel. Die Inftrumentirung, mit Ber: lioz'ſcher Runft, mitunter auh mit Berlioz'ſchem Kaffine- ment ausgeführt, entrollt einen Reichthum von Farben und Beleuchtungsarten, für die Wirkung des Ganzen wohl einen zu großen Reihthum. Wie alle jpeciell geiltreihen Componiften verweilt Herbed mit Vorliebe bei dem Detail, häuft einen cha= rafterifirenden feinen Zug auf den andern und malt die ⸗Stim— mung« jorgjam mit jo vielen und verichiedenartigen Mitteln aus, daß das Ganze unruhig wird und blendet, anftatt zu leuchten.

Alle bisher genannten GCompofitionen (am wenigſten noch die Lachner'ſche) ſuchten die Wirkung . des Männerchor in breiter, grandiofer Entfaltung bei anftrengender Mitwirkung des Orcheſters. Derlei große, complicirte Aufgaben erproben die Kunſt des Tondichters; die Wirkung des Männergejanges neigt fih aber gern mit bejonderer Gunſt zum Einfachen und Kleinen. Zum erſtenmal fam an diefem Abend ein » Winzer: hor« aus Mendelsſohn's unvollendeter Oper »Loreley«

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zur Aufführung, der auf der Bühne jelbit jedenfalld noch beſſer wirfen mag. Ein einfaches Chorlied (zwei Strophen) mit ſchal— meiartig brummender Begleitung, friih und munter, in den Schlußacten furz und fräftig fih aufſchwingend. Noch eine andere unvollendete Oper fpendete ihren Beitrag zu dem Felt: concerte: »Der Graf von Gleidhen«e Schubert componirte fie im Sahre 1827 auf einen Text, welchem der geijtreiche Berfafler, Bauernfeld, feinen Ruhm gewiß nicht verdantt. Bon Schubert’3 Compofitionen ift ein Anzahl flüchtiger Skizzen, weldhe blos die Singitimmen, den Grundbaß und einige Be: gleitungöfiguren, aber feine Andeutung der Inſtrumentation enthalten, in Herbeck's Beſitz, alſo an den rechten Dann ge— fommen. Herbed hat zwei Nummern daraus inftrumtentirt und in dem Feitconcerte zur Aufführung gebradt. Es waren von allen vorgetragenen Gejangsftüden die einfachiten, ans ipruchlofeften, und doch die genialften, am unmittelbarften ergreifenden. Kann man mit den befcheideniten Mitteln in der fnappiten Form etwas Zarteres, Wärmeres hervorbringen, als diefe Ariette Suleifa’s, und vollends das Quintett Sulei- fa’3, ded Sultans und der drei Freier? Wir zählen Ießteres zu den jchönften Gejängen Schubert. Nur die jcenifche, alſo im Goncertiaale jchwerer faßliche Bedeutung dieſes auf einen größeren Zufammenhang hinweiſenden Stücdes, das obendrein mehr verklingt als eigentlich abichließt, mag e3 einigermaßen erklären, daß der Beifall des Publicums durchaus nicht im Berhältniß zu dem MWerthe diefer Muſik ftand.

Auch die beiden Schubert’ihen Chöre: »Rüdiger's Heimkehr« und »Sehnfuht«e fand Hofcapellmeifter Herbed unter einem Wuſt unbeachteter Skizzen und Papierſchnitzel aus Schubert 3 Nachlaß. Mit dem Finden allein war die Arbeit aber keineswegs abgethan. Das und vorliegende Original: Manufeript von Schubert's »Rüdiger« (vom Jahre 1823) enthält 3. B. den Geſang vollitändig, die Inftrumentirung aber nur auf der eriten Seite, mit Ausnahme einiger ſpäter angedeuteten Eintritte der Bläfer; Herbed mußte demnach aus der Phyfiognomie diefer eriten Seite die ganze Orcheſterpartie gleichjam errathen und hHerausconftruiren. Nah Schubert’s

Quärtettproditctionen. 519

Ueberſchrift des Stüdes: »Introduction Nr. 1. Rüdiger, Ritter und Reiſige«, ſollte dasjelbe offenbar die Einleitungs- fcene einer Oper bilden. Welches Libretto ihm vorlag und ob er mehr davon componirt habe, können toir nicht einmal mit Bermuthungen beantworten. Der einleitende Männerchor: »Auf der Weichjel Silberwogen«, klingt friſch und tüchtig, wenn: gleich nicht bedeutend; meiterhin befommt der Weichſelchor einen Zopf, nämlich das in ziemlich verblichenem Theaterſtyl jich ergebende Tenorjolo, nad) welchem die Chorftrophe wieder fräftig abichließt. Der zweite Schubert:Chor (fünfſtimmig): Nur wer die Sehnſucht fennt«, beginnt mit einem warmen, ftimmung3vollen Thema, das nad einem weniger dharakterifti- ſchen Mittelfag wiederkehrt, jchließlih eiwas zu oft die Ans fangsworte wiederholend.

Zwei Chöre von R. Schumann (au op. 33) waren bon geringer Bedeutung; um dieſe »Lotosblume« und den »Träumenden See« zu jchreiben, bedurfte es keines Schumann. Nah Dihtung und Mufit gehören beide Chöre überdies zu jener Gattung zitternder Senfitiven-Lyrif, die aus dem Mund von 160 bärtigen Männern ftet3 unnatürlich Klingt. Die drei umfangreicheren Chöre mit großem Orcheſter: »Der Morgen«, von Rubinftein, »Salamis«, von Mar Bruch, und »Wächter— lied«, von F. Gernsheim, kann man beinahe mit derjelben Charakteriſtik erledigen: breite Anlage, fleißiges Detail, größtes Aufgebot von Orcelter- und Stimm:Effecten und in alldem doch ein geringer mufifaliicher Kerı. Alle drei Componiſten von denen Gernöheim an dritter Stelle jteht breiten eine viel zır lange und reiche Dede über ihre furze Erfindung. Das Publicum, von diefen anſpruchsvollen Arbeiten innerlich unbe: rührt, verfagte ihnen übrigens nicht die äußeren Zeichen der »Achtung«.

Quartettproöuctionen.

Held des Tages iſt gegenwärtig der »Florentiner Duartettverein« beftehend aus den Herren Jean Beder, Maſi, Ehioftri ımd Hilpert. Florenz übt dad Recht der

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Taufe eigentlih) nur al die Stätte der erften Vereinigung Diejer vier Muſiker. Das Weſentlichſte: höchſte und tiefite Stimme, alfjo Kopf und Fuß des Quartetts, iſt deutſch: Beder au Mannheim, Hilpert aus Nürnberg. Den beiden Stalienern in der Mitte gebührt daS nicht geringe Ver— dient vollftändiger Aſſimilirung. Am Morgen nah der eriten, ſchwach bejuchten Production des Beder’ihen Ouar— tett3 zeigte fih in allen Wiener Blättern eine jo erfreu= lihe Uebereinſtimmung bezüglih der MWortrefflichkeit dieſer Leiftungen, daß die zweite und dritte Soirée bei gedrängt vollem Saale ftattfanden. Und wahrlid, ein jo volllommener Mufifgenuß zählt zu den feltenen Feiten. Was da Floren= tiner Quartett auch immer vortrage, es iſt in den reinen. goldenen Strom der Schönheit getaudt. Zunächſt frappirt den Hörer der Zauber des MWohllautes, die »materielle«e Schönheit ded Tones möchten wir jagen, beitände fie nicht gerade in Dem gänzlichen Abftreifen alles Materiellen. Wir hören den reinen, abjolut ſchönen Ton, ohne an feinen Entjtehungsjammer durch Roßhaar, Holz und Darmfaiten gemahnt zu werden. »Klang— Schönheit! Iſt denn das gar fo viel? Verſteht ſich die nicht von jelbit hören wir mitunter fragen. Dan follte es glauben, und Doch iſt diefer Vorzug bei einem Saitenquartett nicht viel häufiger, ald die VBollfommenheit der Stimme und Intonation beim Sänger. Vorerſt befigen die vier Künſtler wunderſchöne Stimmen, und zwar aus den geheimnißvollen Werkftätten von Joſeph Guarneri, Amati und Maggini; jodann veritehen fie aber auch zu fingen. Der Zuſammenklang diejer vier In— jtrumente, der im leijeften Geflüfter wie im Sturme des For— tiffimo wie aus einem Bogen quillt, hat etwas Zauberhaites. Man denke dabei nicht an irgend ein kokettes Raffinement; wir hören durchweg einen reifen, gefunden, männlichen Ton, einen reifen, gefunden, männlichen Vortrag. Die »Florentiner« liefern den beiten Beweis und man hält ihn leider nod hie und da für nothwendig daß man mit Geift und Em: pfindung vortragen fönne, ohne jemals zu jcharren oder zu winjeln. Wie für ihre Tonbildung das erite Princip Schön: heit ift, jo für ihren Vortrag Klarheit. Beethoven's legte

Das Florentiner-Duartett. 521

Duartette find und niemal® jo durdfichtig und verftändlich entgegengetreten wie in der Beder’ihen Ausführung. Das ver: wirrende Geflecht diefer Bolyphonie, das unbequeme Duntel diefer oft Jabyrinthifchen Weriodifirung und Rhythmik, bier ericheinen fie wie von mildem Sonnenlicht durchleuchtet. Durch ein Studium und Zufammenüben von wahrhaft aufopfernden Fleiße haben die vier Künstler fich dieſe jchwierigen Compofi- tionen jo vollfommen zu eigen gemacht, daß ftet3 an rechter Stelle diefe oder jene Stimme, ˖dieſes oder jened Motiv her: bortritt und das Zufammenfpiel Aller mit der Empfindlichkeit einer Goldwage arbeitet. Es verſteht fich, daß wir die demo: fratiiche Gleichberechtigung der vier Spieler, von denen feiner fih ungebührlih vordrängt oder fich demüthig verfriecht, ala Gardinaltugend ſchätzen. Am fchwerften mag fie dem Primgeiger, Herrn Beder, gefallen jein, welcher (ein Schüler von Alard und Ernſt und bedeutender Birtuofe) feine arriere als Eoncert- jpieler mit ſtarker Hinneigung zum Bravourfpiel begonnen hatte. Er hat es rühmlich erreicht, fi im ntereffe des Ganzen zu verleugnen, unterzuordnen. Trotz diefer Gleichheit liegt es in der Natur des Quartett, daß die erite Violine und das Gello fih am meilten geltend maden: Sean Beder und Hil- pert find auch die bedeutendften unter den vier Collegen.

Am dritten Abend trugen drei Eleinere Nummern bei: nahe den Preis davon. Zuerft eine Serenade von Haydn, aus einem feiner früheiten Quartette (G-dur ?/,) gezogen, ein zärt- fiher Gejang der Violine, durchgehend von den drei tieferen Snftrumenten pizzicato begleitet. Died Pizzicato, dad mand): mal wie der leilefte Guitarrenton klang, war bewunderungs— würdig im Tone wie in der feinen Anjchmiegung an den Gejang. Das liebenswürdige, hier ganz unbefannte Stüd mußte wiederholt werden und darf in einer der nächſten Broductionen nicht fehlen. Es folgt ein Scherzo von Cherubini (au dem Es-dur-Quartett Nr. 2), worin der in feinen Quartetten an Haydn anknüpfende Altmeifter wahrhaft prophetiih auf Men: delsjfohn hHinübergreift. Endlih erregte eine Biolinjonate von Ruft, von Herrn Beder virtuos vorgetragen, großes Interreſſe. Friedrih Wilhelm Ruft (geboren 1739 in Wörlig,

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+ 1796 in Deſſau) war als Biolinfpieler ein Schüler Franz Benda’s, ald Componift von mehr als vierzig Clavier- und ebenfoviel Biolin-Sonaten eine Art modernifirter, mitunter auch verzopfter Sebaltian Bad. Die von Beder vorgetragene (zweiägige) Sonate, ein ernites, tüchtiges Stüd, iſt merk— würdig durch ihre vorgejchrittene Violintechnik. Es kommen Tlageoletftellen und Bizzicato-Begleitungen mit der linken Hand vor, die wir bei S. Bad und manchem jeiner Nadhfolger noch nicht antreffen faſt Ichöpften wir Zweifel, wüßten wir nicht, daß Beder die Sonate ohne Zuthat, genau nad) dem Origi— tale ipielt. Die Aufnahme des Florentiner Quartett? von Seite de3 Publicums war geradezu enthuftaftiih. Und nichts als 2ob? wird mander Leſer fragen. Wo bleibt der Tadel, ohne welchen eine ordentliche Kritik fich nicht wohl ſehen laffen kann? Auf die Gefahr Hin, den Tadel auf uns jelbit zu lenken wir haben feinen für das Beder’ihe Duartett. Daß wir ein Tempo um einen Gedanken fchneller oder langſamer gewünjcht, irgend einen Ginfag oder lebergang ein bischen anders uns gedacht haben was will da3 jagen gegen den reinen, hohen Genuß, den die Kunitvollendung dieſes Quartett8 und Durch drei Abende gewährt hat? Wir wollen auch gerne einräumen, daß unter Joachim's Bogen mande Beethoven'ſche Stelle ergreifender, pathetiicher flang, bei Hellmesberger irgend welche elegante Phraſe noch zierlicher und verbindlicher lautete. Da3 Beder’ihe Quartett bleibt troßdem das vollfommenfte, da3 wir gehört, und das legte, dem wir entjagen möchten. Wenn dem Florentiner Quartett vielleicht eine äſthetiſche Ge: fahr droht, jo liegt fie in dem möglichen Webertreiben feines größten Vorzuges: der formalen Schönheit. In der Natur dieſes Princips liegt e8, daß es ſich leicht ijolirt, verengt und der Schönheit zuliebe die harakteriftiichen Gegenfäge abſchwächt, die Leidenſchaft zähmt, ja die koſtbarſten Diamantjpigen der Genialität abichleift. Bis jet bemerften wir höchitens leiſe Andeutungen dazu, die zu feinem Tadel berechtigen, aber vielleicht zu einem freundichaftlichen Yingerzeig.

Indem dieſe vier Künftler fih ausichlieglih den Quarz: tettipiel widmen, feit einigen Jahren mit erftaunlichem Fleiß

Quartett von Volkmann. 523

tagtäglih zufammen jpielend, hat -ihr Vortrag eine technifche Sicherheit nnd ruhige Continuität erlangt, wie fie gewöhnlich nur älteren Künjtlern eigen ift. Anderſeits befigen fie aber al3 junge Leute jene Wärme und frifhe Sinnlichkeit, welche vor Pedanterie und Formalismus bewahrt. Wir haben Com— pofitionen der verfchiedeniten Meilter und von verjchiedeniter Stylgattung von ihnen gleich trefflich interpretiren hören. Wer das Bederihe Quartett mit andern vergleichen will, wird bilfigerweife die jchwierigeren Verhältniffe diefer andern Quar— tettipielevr hervorheben, welche durch regelmäßigen Theater-, Concert: und Kirchendienft angeftrengt, unmöglih mit jo fleißigen und frifchen Kräften täglich üben fünnen; er wird dergeftalt theilweije zu erklären juchen, warum fie die Meiſter— ſchaft des Becker'ſchen Quartett nicht erreihen. Wenn aber der Localpatriotismus jo weit geht, das leßtere Factum über: haupt zu leugnen und zu behaupten, wir hätten, was Beder und feine Genofjen Ieiften, längſt ebenjo gut und befjer zu Haufe, dann jchlägt die »Gerechtigfeit« für das Gute in crafie Ungerechtigkeit gegen da Beſſere und Belle über. Dad Wiener Publicum Hat bei aller Pietät für das Einheimiſche fi von joldem mufifaliihen Chauvinismus freigehalten, der wahrlich feinem Theil zum Nußen gedeiht.

In Herrn Hellmesberger’3 Quartett-Soirée fam ein neues Streichquartett von Volkmann in Es-dur zur Auffüh- rung. Wie alle Compofitionen dieſes Tondichterd, athmet das— ielbe einen erniten, felbitändigen Geift, welcher den Hörer in— terejfirt und zum Nachdenken zwingt. Was wir zumeift an ihm vermiffen, iſt finnliche Friiche und frei pulfirendes Leben. Er neigt zur Grübelei, zu einen gewiſſen grämlichen Myſticismus, für welchen das mufifalifche junge Deutfchland in dem jpäteren Beethoven nur zu viele Anfnüpfungspunkte fand. An Klarheit und Logik läßt dad neue Quartett kaum etwas zu winjchen, aber der Duell der Erfindung fließt etwas jpärlich und inter: mittirend. Der erite Sat hat bei durchaus männlicher Haltung nicht genug Schwerkraft der Themen; bei jo geringem Einſatze it im Spiel kaum viel zu gewinnen. Dasjelbe gilt von dem langen, Grau in Grau gemalten Adagio. Intereſſant iſt das

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Scherzo, als die confequentefte und klarſte Durdhführung des Fünfvierteltaftes, die wir biöher fennen. Ein geiltreihes Er: periment, aber von zweifelhafter Wirkung; das Ohr des um: vorbereiteten Hörer3 wird nur zu oft ärgerlich nad dem ihm fehlenden ſechſten Achtel haſchen, anftatt befriedigt zu cone ftatiren, daß der Takt ſchon mit dem fünften abſchließt. Das Finale erreicht durch feine rafche Triolenfluht die meifte Le- bendigfeit. Volkmann's Duartett ſprach an, ohne jedod einen tieferen Eindruck zu Hinterlaffen. Wir hörten ferner Beet: hoven's Es-dur-Trio op. 3. Ein größerer Gegenjaß zu Der am jelben Tage vorgeführten Sonate op. 111 läßt ih faum denken. Wir haben nicht? gegen die Wahl des Trios zu be: merken, das lange nicht gehört und äußerſt geihmadvoll ge— jpielt wurde. Allein eigenthümlich harmlos klingt dies tonjelig mweitichweifige Stüd heutzutage doch ſchon. In feinem aus fechs Sätzen aufgeführten Bau an die ältere Serenadenform Iehnend, im Ausdruck faft völlig mit Haydn und Mozart identiich, Täßt dies Streichtrio faum begreifen, daß es nur durch drei bis bier Jahre von den Duartetten op. 18 geichieden it. Welch ein Rieſenſchritt liegt zwiſchen dieſen beiden, noch in dieſelbe Periode Beethoven’3 fallenden Werken; welch noch gewaltigerer Abſtand zwiſchen diefer und der zweiten, zwilchen der zweiten und dritten Periode! Man hat Sebaftian Bad häufig »eine Melt für fih« genannt, und mit Recht. In einem vielleicht noch größeren Sinn fann man dies Wort auf Beethoven ans wenden. Wenn Bach eine unermeßlid) reiche, aber feit be— grenzte, unmwandelbar fertige Welt des Beharrens daritellt, jo haben wir in Beethoven’ incommenfurablen und doch jo or— ganiſchen Entwidlungen und Neubildungen eine wahrhafte Welt des Werdens.

Virtuoſenconcerte.

Der feine, verſtändnißvolle Liedervortrag der Sängerin Helene Magnus errang großen Erfolg in einem Concerte, deſſen Programm eigenthümliche Schwierigkeiten darbot. Die

Helene Magnus, Frl. Mehlig, Zarzycki. 525

ganze »Dichterliebe« von Schumann durchzuſingen, ift ein verlodendes Erperiment; e8 war ein gelungenes, wie die Auf: nahme zeigte, dennoch möchten mir es nicht gerade gutheißen. Eigenartig, fein und geiftvoll, wie fie ift, webt die Muſik dieſes Liederfreijes doch in einem zu dämmerigen, gebrochenen Lichte, um nicht als Ganzes ſchließlich etwas abzuftumpfen. Seine Kothwendigkeit, nicht einmal eine ftarfe innere Nöthiqung zwingt uns aber, dieje 15 Lieder ala ein Ganzes aufzufaffen und vorzutragen. Sie hängen nicht durch den Faden erzählen: den oder piychologiichen Fortichreitens feſt aneinander, wie die »Schöne Müllerine oder »Die Winterreife«e von Schubert, »Frauenliebe und-Leben« von Shumann, EChflen, die Schon vom Dichter ald ein Ganzes, eine Einheit concipirt waren. Heine hat an einen angeblihen Cyklus »Dichterliebe« nicht gedadit; wa3 Schumann jo nennt, ift eine von ihm beliebig getroffene Auswahl aus dem »Buch der Lieder«e, welcher er den Ges jammttitel »Dichterliebe« gab, wie einer ähnlichen Lieber: jammlung (op. 25) den Namen »Myrthen«. Zwiſchen dei ein- zelmen Liedern der »Dichterliebe« herrſcht ein nothwendiger Zufammenhang weder poetifch noch muſikaliſch, wie denn der GComponift zwar manchmal zwei aufeinanderfolgende Lieder duch verwandte Tonarten einander nähert, aber noch öfter dur ganz entfernte fie von einander trennt (3. B. gleich an- fangs Nr. 2 und 3, 4 und 5, 5 und 6 u. ſ. w.). Selbit Cyklen wie die »Müllerliedere, welche den doppelten Wortheil eines ftrengeren Zuſammenhanges mit einer reicheren muſi— kaliſchen Abwechslung befigen, bilden trogdem jchon für zus jammenhängenden Vortrag eine jchwierige Aufgabe. Sie voll- ftändig zu löſen, wird nicht jedem trefflichen Liederlänger gelingen, jondern nur den wenigen daraus, die, wie Stod- haufen über einen reichen Wechſel von Stimmungs- und Ausdrudsfchattirung verfügen. Fräulein Dragnus hat einige jehr ausdrudsvolle, überzeugende Farben auf ihrer Palette, aber fie hat deren nur eine ſehr fleine Zahl. Da wird die Gefahr des Cyklusſingens ſchon größer. Nun fam aber noch dazu, daß Fräulein Magnus nah den 13 »Dichter-Liebesliedern« noch drei andere Lieder, abermal? von Schumann, jang und da-

526 1868.

zwiihen Herr Brüll Slavierftüde, ebenfalld von Schumann, vortrug. Das iſt etwas zu viel ded Guten und ſei es felbit vom Beiten.

Screiten wir weiter in dem dichten, vor Bäumen faum mehr fichtbaren Mufitwald der letzten Woche. Von concertiren: den Birtuofen ift vornehmlich Fräulein Mehlig zu nennen. Die Künftlerin konnte die Achtung nur befeftigen, welche Pu— blicum und Kritik ihr ob der Gorrectheit, Sicherheit und Ele— ganz ihrer Technik bereit reichlich gezollt Haben. Einen be- deutenden Eindruck hat fie auch diesmal nicht hervorgebracht. Selbit vom einfeitig virtuofen Standpunkt vermiffen wir an der Bravour Fräulein Mehlig's jenen freien, fühnen Wurf, jene Siegeöfrende an techniichen Abenteuern, welche die Poefie des Virtuoſenthums bilden und und momentan für ein tieferes Gefühlsleben entihädigen mögen. Wir erinnern (um bei den Starken des ſchwachen Gejchlechtes zu bleiben) an Mary Krebs, welche in diefer Richtung weit über Fräulein Mehlig hinaus: flog. Der tiefere Zauber, welcher, feſſelnd und entfefjelnd, die Schleuſen unſeres Herzen? in der Hand hält, der ift Fräulein Mehlig vollends verfagt. Die Eleinen poetifchen Stüde bon Chopin und Schumann (die Concertgeberin fpielte fie wie alles Andere aus dem Notenheft, was den Eindrud des Un— freien noch) verftärft) entließen den Hörer nüchtern und nur der janberen Ausführung gedenfend. Am bejten gelang Fräulein Mehlig das ihrem Naturell wahricheinlich verwandtere C-moll- Trio von Mendelsfohn, welches fie ſehr hübſch fpielte, ohne und troßdem für das ftark außgefühlte Stück neu in: terefliren zu können.

Kaum hatte Anton Rubinftein und verlafjen, als ſchon ein neuer Virtuoſe, der Pianift Zarzycki aus Warſchau, ans gerücdt fam. In Barid und London gut angejchrieben, hätte der junge Pole zu günftigerem Zeitpunfe vielleicht auch bier mehr durchgegriffen, als es jeßt der Fall war. Kann man es aber ımjerer Zeit und unserem Bublicum verdenfen, daß fie auf dem Felde der Virtuofität wirklich nır mehr dad Auge: zeichnetfte, das künſtleriſch Individuelle und zugleich techniſch Vollendete mit Wärme begrüßen und hegen? Herr Barzydi be—

Helene Magnus, Frl, Mehlig, Zarzycki. 527

ſitzt als Componiſt wie als Virtuoſe Talent, aber dies Talent ſteht nicht auf eigenen Füßen, überhaupt noch nicht auf feſten Füßen; es iſt ſchwankend, unfertig. Als Componiſt betreibt er ein fleißiges, reinliches Graſen auf aller Herren Wieſen; als Spieler gibt er Seb. Bach matt und marklos, Schumann wie Chopin haſtig und verſchwommen wieder. Und doch verfügt Herr Zarzycki über eine reſpectable Bravour, zu deren rechter Entfaltung nur die geklärte, künſtleriſche Perſönlichkeit noch zu fehlen ſcheint.

Anhang.

Il Muſikaliſches aus der Schweiz. (1857.)

Fin freundliches Gegenitüd zu der »böjen Gorge«, welche hartnädig hinter dem Reifenden zu Pferde fitt, ift das Intereſſe an einer Lieblingskunft, das uns jelbft gegen Wiffen und Willen allüberall hin begleitet. Der Mufifer, der den Poftwagen befteigt, um in grüner Ferne Luft und Erholung zu ſuchen, thut e8 wohl jelten mit der Abficht, Muſik aufzu— juhen; weit eher glaube ich, daß ihn die entgegengefeßte Empfindung treibe, Allein unvdermuthet, wenn in fernem Land irgendwo ein Lied erjchallt, oder ein Hornruf lodt, fühlt er fih wie von wohlbefannter warmer Hand angefaßt, er hält jeinen Schritt an und lauſcht jorgjam den fremden Klängen.

Sp erging’® aud mir auf einer furzen Erholungsreije, welche nicht3 weniger als muſikaliſche Ziwede hatte Wer mit ſolchen die Schweiz beſuchen wollte, wäre aufrichtig zu be- dauern. Diefe Schatzkammer von Naturfchönheiten iſt im Ver: gleih zu ihren übrigen europätfhen Nachbarn ein jehr ton- arme Land. Schon der ganz auf's Praktiſche und Reelle gerichtete Charakter des Schweizerd erweiſt fih von vornherein als fein der Muſik beſonders günftiger. Dem ftrammen Alpen: john steht die Büchſe weit näher al3 die Leier. Naturell und Erziehung weijen ihn vor allem auf Arbeit und prak— tische Tüchtigkeit Hin, und verbannen frühzeitig jenes ſüße, träumerifhe Dämmerlicht, in welchem die Tonkunſt von jeher ihre liebiten Kinder hegte. Hand in Hand mit der praftifchen

3. G. Nägeli. Gejangöfeite. j 529

Sinnesrihtung des Schweizer? geht die ftaatlihe Einrichtung feines Landes. Die Republik ift befanntlich jelten ein Lieb— lingsaufenthalt der Mufen. Sie find zu üppig, und vor allem zu theuer. Der Zuftand der Theater gibt jelbjt für den Touriften den augenfälligiten Beleg für die beicheideneren Anz forderungen eines republifaniichen Bublicung. Im Sommer find alle Theater, jelbit in den Städten erften Ranges, wie Zürich, Bern u. a., geichloffen. Höchftens daß hie und da ein winziges Sommertheater fein Kinderjpielzeug aufſchlägt (Falkenburg bei Züri), oder ein halb Dugend abgemwirthichafteter deutſcher Sänger die Tugenden der »Martha« verfündigen, wie e8 eben in Genf der Fall war. Auh im Winter jollen die Theater der Schweizer Städte fehr mittelmäßig fein, und Tamentlich die Opernporftellungen mehr den Charakter ſchüchterner Aus— nahmsverſuche tragen, als künſtleriſcher Leiftungen. Alles was in der Schweiz für die Pflege der Tonkunft gefchieht, fommt dem Gejang, und zwar dem Chorgefang, zugute, auf den mir gleich näher zu fprehen fommen. Die Inftrumentalmufit ift das Stieffind der Schweizer Mufif und befindet fi, ſowohl was die Virtuofität als was das Orcheiterfpiel betrifft, auf einer unbedeutenden Stufe. Am meiften jcheint fie no in den reihen Städten Baſel und Bern, namentlich der erjteren, gepflegt zu fein, wo die Programme der Orcefter-Eoncerte einen hervorftechend deutichen, claſſiſchen Geſchmack verrathen. Das Concert im Berner Münfter hingegen bei dem letzten großen Eidgenoffenfeit konnte in feinen inftrumentalen Theil felbit vor wohlwollenden Berichteritattern (mie dem der A. A. Ztg.) nicht beftehen. Nicht ein einziger namhafter Componift hat jeinen MWohnfig in der Schweiz, der proviſoriſche und jehr unfreiwillige Aufenthalt Rihard Wagner’ in Zürih kann natürlich hier nicht in Betracht fommen.

Die Schweiz, welche bekanntlich in der Entwidlung un— jerer NationalsLiteratur zu verjchiedenenmalen eine große und einflußreihe Rolle gejpielt hat, macht fih in der Geichichte der Muſik fo gut wie gar nicht bemerkbar. Es iſt höchſt be- zeichnend, daß der einzige Schweizer Tonfünftler, der in feinen Verdieniten und in dem Andenken feiner Landsleute noch fort:

Hanslick. Aus dem Eoncertfaal. 2. Aufl. 34

530 Mufitalifches aus der Schweiz (1857).

lebt, nicht fowohl als Componiſt gefeiert ift, denn ala Pädagoge: wir meinen Hans Georg Nägeli*). Diefer tüchtige und geilt- reihe Mufifer knüpfte feine Thätigfeit unmittelbar an die große pädagogifhe Bewegung, welche die Schweizer Humaniften zu Ende des vorigen Jahrhunderts über Deutichland verbreiteten. Die neuen Segnungen der Peftalozzi’ihen Methode follten auch dem Mufikunterriht zu ftatten kommen: Nägeli gründete im Sinne derjelben eine Gejangfchule in Züri und veröffent- lichte 1812 feine »Gefangbildungslehre nah Peſtalozzi'ſchen Grundſätzen«. Durh die Gründung diejer erften großen Geſang— ſchule, die fich bald von zahlreihen Töchterfhulen im ganzen Lande umringt fah, hat Nägeli den ſegensreichſten Einfluß auf die Kunſt— bildung ſeines VBaterlandes genommen. Als thätiger Mufifalien- händler und Verleger, als theoretifcher Schriftiteller, endlich ala fruchtbarer Liedercomponift war er im Stande, feinem Ziel, der mufifalifhen Bildung der Schweizer, mit verdreifachten Kräften zuzuftreben. Von Nägeli's Gompofitionen, melde fh durch Sangbarkeit und Anmut auszeichneten, haben jih wenige erhalten; eine jedoch erflang und erklingt noch, fo weit europäiſche Gultur reicht, das Lied: »Freut euch Des Lebens!« Es mar zuerft 1794 in Zürich erfchienen, und iſt feither nicht nur in ganz Deufchland, fondern mit über- festem Tert auch in Frankreih, Italien, England, Schweden und Dänemark populär geworden. Sogar die Griechen fingen ihr Nationallied nad diefer Melodie. Indem Nägeli die mu— fitaliiche Bildung mit aller Macht auf jenen Punkt hindrängte, two die Kunſt mit dem Leben zufammengeht, die Gemeinjamteit fräftigt, die Arbeit belebt, den häuslichen Herd verichönt, zeigte er fih al® echter Schweizer. Als 1808 von Luzern aus ein Aufruf an alle Mufiffreunde der gefammten Schweiz erging, zu einem gemeinfamen Bunde zufammenzutreten, fand diejer in der energiihen Theilnahme Nägeli's die wirkſamſte Stüße. »Die

*) Die muſikaliſche Thätigfeit des großen Genfers 3. 3. Rouſ— jeau hängt jo wenig mit Schweizer Boden zuſammen, und erjcheint den jchriftitelleriihen Schöpfungen desjelben jo dilettantiich nebenge- ordnet, daß fein Name in dDiefem Zujammenhang nicht wohl genannt werden konnte.

3. ©. Nägeli. Gelangsfefte. 531

ſchweizeriſche Muſikgeſellſchaft«, welche fi »die For: derung der Kunſt durch größeres, gemeinſames Wirken« zur Aufgabe ftellt, zählte bald nad Nägeli’3 Tod über 1000 Mit: glieder und begann jährlih mit ſtets vervollfommteren Mitteln bald in diefer, bald in jener großen Stadt ein Mufikfeft zu veranftalten. Faſt alles, was in der Schweiz fingen oder geigen fann, ift dabei thätig. Nachdem dieſer Verein einen der mäch— tigiten Einigungspunfte jchmweizeriiher Gefinnung und Ber: brüderung bildet, erkennt auch die Regierung jeine jtaatlihe Wich- tigkeit und forgt gern für fein VBeftehen und Aufblühen. In jedem Canton, ja in jeder Gemeinde haben fih Gefangdvereine gebildet, und diefen hat e8 die Schweiz zu danfen, wenn fie aus dem Volke verhältnigmäßig weit mehr gefchulte Sänger zu ftellen vermag, als irgend ein andere® Land. So trägt Nägeli's reblihe und mühevolle Arbeit jegt ihre goldenen Früchte Daß die Schweizer wohl wiſſen, wem vor allem fie dDiefe verdanken, zeigt und Nägeli’3 Denkmal auf der Züricher »Bromenade«. Diele herrliche, hochgelegene Anlage, von welcher man einen weiten Ausblid auf den See und feine belebten Ufer hat, ift mit einer jchön gearbeiteten Mtarmorbüfte geziert, unter welcher die ſchlichte Widmung Steht: »Ihrem Vater Nägeli die Schweizer Gejangvereine.«

Leider war ed mir nicht gegönnt, die Leiftungen eines der Gejangvereine fennen zu lernen; nur das ſchöne gejellige Kleid ihre Zufammenmwirfend jollte mein Auge erfreuen. In Mün— fingen, einem fleinen Orte zwijchen Thun und Bern, war eben eines jener zahlreihen Gefangfeite im Anzug, zu welchen oft 15 big 20 kleinere Vereine aus der Umgebung zufammen: treten. Es war ein heller, Schöner Sonntagdmorgen. Die Häufer grüßten im Schmudf von Blumen, Bändern und Reiſig. Eine (uftige, geräumige Halle, raſch gezimmert, mit Laub und Reifig ausgekleidet, wies zwei lange Reihen von gededten Tiichen auf. An den Wänden hingen buntgemalte und vergoldete Schilder mit den Namen der einzelnen Wereine, denen damit zugleich ihre Pläße beim Male angewiefen waren. Die ungemeine Sauberkeit und Nettigkeit, welche den Neifenden in der Schweiz überall jo freundlich anblict, ſchien hier verdoppelt zu fein,

34*

532 Diufifalifches aus ber Schweiz (1857).

und fand ihre ſchönſte Spiegelung in den vergnügten Gefihtern, welche eifrig, doch ohne Halt den Tiſch ordnend beftellten. Die Sänger, welche in buntgefjhmücdten offenen Wagen meiſt jchon Tags vorher angelangt waren, ordneten fih nun zum Feſtzug in die Kirche. Unter den gutgemeinten Klängen einer Kleinen Blehmufit, umweht von bunten Fahnen, feßte der Zug »3 Mann hoch.« erit die Mädchen, dann die Männer fi in Be— wegung. Es waren durhaus Leute aus dem Volke, wenn man in der Schweiz fi) diefer Unterfcheidung bedienen darf, Die Mädchen faft alle gleih in dem kleidſamen Berner Coſtüme, mit breiten, neubebänderten Strohhüten, die Sänger in den verſchiedenſten Modificationen unjerer philitröjeiten Männer tradt. Das Ganze hatte etwas ungemein Feſtliches, dabei aber Ungejuchtes, Zwanglofes, Heitered. Der erite Theil eines ſolchen Feſtes beiteht in der Negel aus geiftlichen, wenigſtens ernften Geſängen, welche in der Kirche gejungen werden. Dann folgt dad Mahl und die weltlichen Chöre im Freien.

Obwohl e8 auch einzelne Männergelangvereine gibt, jo beiteht das Eigenthümliche der Schweizer Gejangfeite doch in der Zuziehung des weiblichen Geſchlechts. Daß Frauen und Mädchen fih an den Gejangübungen ernitlich betheiligen, daß fie beim Zug ordentlich in Reih und Glied mit aufmarjdhiren, das verleiht diefen Schweizer Selten nicht blos eine ganz eigen= thümlihe Phyſiognomie, es madht fie zu etwad wahrhaft All- gemeinem, Vollſtändigem, Nationalem! Der fünjtleriihe Gewinn, der durch die Erweiterung ded engen Männerquartett3S zum vollen »gemijchten« Chor erwächſt, dürfte nicht weniger ein leuchtend fein, als der ethiiche, fittigende, welcher durch die Theilmahme von Frauen den Männergefangvereinen zu Theil wird. Ohne die vortrefflihen Seiten der deutſchen Liedertafeln zu unterfchägen, muß man doc zugeftehen, daß fie zu der Ab- ſonderungs- und Poculirluft des ſtarken Geſchlechts wenigſtens redlich beittagen. Ob unter andern ſtaatlichen und ſocialen Verhältniſſen, als gerade den ſchweizeriſchen, eine ſolche Theil— nahme der Frauen an Geſangvereinen und Feſten überhaupt möglich wäre, müfjen wir freilich; unentſchieden laſſen. Ueber: die wären ſolche Schweizer Gejangfeite nicht ohne Gefahr,

Ein Beſuch bei Roffini. 533

wo man nicht zugleih auch der Schweizer Sittenftrenge gewiß: ift.

Auf diefe Gefangfeite, welche im Sommer und Herbit ſehr häufig find, reducirt fi) jedoh das Muſikleben der Schweiz, jomeit es eigenthümlich und bemerfenöwerth heißen kann. Bon den mufifaliihen Naturftimmen Helvetiend war noch menig wach. Am Eingang des Lauterbrunner-Thales ftand ein Schäfer: bengel und blies in ein mit der Krümmung auf den Boden aufgeitemmtes etwa 6 Fuß hohes Alphorn. Die Töne, die er jehr mühſam und unrein (natürlich gegen ein Trinkgeld) hervor- bradte, mahnten in ihrer Sraft und Tiefe an die Poſaune. Singen hörte ich gar nicht, Sodeln auffallend wenig und nicht fo gut als in unferen Salzburger und Tiroler Alpen; da je doch die eigentliche Almenwirthſchaft noch nicht begonnen Hatte, fo ftanden wir noch außer der »Saiſon«. Die Glocden der zahlreichen Heerden, die wir auf Wiefen und Triften begeg- neten, waren zwar hell und jchön, aber nicht im Dreiflang ge— ftimmt, wie es in Thüringen üblich, wo dieſe Harmonie, be— fonder8 aus einiger Entfernung, den wunderbarſten Eindrud madt. Ich wüßte Fein civilifirtes Land, wo dem Reiſenden jo wenig Muſik entgegenklänge, als in der Schweiz, aber wahrlih auch feines, wo er die Kunſt Leichter und froher entbehrt!

II. Wufikalifche Erinnerungen aus „Paris. (1860.)

Ein Beſuch bei Rofftni.

Es war an einem warmen, fonnenhellen Septembermorgen, als ich den Weg nah Paſſy einichlug. Der freundliche Ort, deſſen grüne Pfade unmittelbar an das Boulogner Hölzchen führen, ift von der Stadt aus bald erreicht. Von jeher die bes borzugte »Sommerfrifhe« berühmter Gelehrten und Künftler, ihließt Baffy in dem Kranz feiner jchinmernden Villen nun: mehr auch Roſſini's Tusculum ein. Ein elegantes einftödiges

534 Mufitalifhe Erinnerungen aus Paris (1860).

Landhaus, mitten in wohlgepflegtem Garten, mit eifernen Stäben umfriedet. Ueber dem Gitterthor eine goldene Lyra fie jagt mir, daß ich nicht weiter zu ſuchen brauche.

Eigentlich hatte ich jeden Gedanken an mufifaliihe Studien und Belanntichaften zu Haufe gelajfen. Wer in einigen Wochen Paris fennen lernen will, muß darauf verzichten. Wann erichöpft man auch nur die eine und erite Merkfwürdigfeit in Paris Paris ſelbſt, die Phyfiognomie der Stadt! Indeß, den Zus jammenhang mit einer Lieblingsfunft wird man nirgends los. Die Namen Rofjini und Auber fielen mir immer öfter und gewichtiger ein. Bewunderte ich die Beiden doch aufridtig als glänzende und maßgebende Gricheinungen in der Geſchichte der modernen Oper; jah ich fie doch alljährlih wachſen durch die Kleinheit ihrer Nahahmer, und endlid der Gedanke Tieß fih nicht abwehren ich wußte fie alt, jehr alt geworden. Halb Furcht, Halb Gemwiffensscrupel war ed, was mir zuflüfterte, daß vielleicht die nächſte Zukunft ſchon vergebens nach diejen befräuzten Häuptern bliden würde, und ich durch eigene Schuld fie niemal® jah. Offen geltanden waren Roſſini und Auber für mich weit größere Merkwürdigkeiten als das Hotel de Ville oder die Galerie im Lurembourg, ohne deren Befanntichaft fich doch Jedermann jhämen würde, Paris zu verlaffen. So zögerte ich denn nicht länger, die Briefe zu mir zu fteden, die mir bei beiden Meiftern freundliche Aufnahme ficherten. Rojfini fand ih in feinem fleinen Arbeitszimmer im eriten Stocdwerf jeiner Billa zu Paſſy. Eben mit Notenjchreiben beichäftigt, erhob er jih bei meinem Gintritt mit einiger Schwerfälligfeit, für welche das freundlihe Wohlwollen der Züge und die herzlich entgegen- geitredte Hand gleihjam um Entihuldigung baten. Roſſini's Kopf, jo wenig er jegt den befannten Bildniffen aus feiner Slanzperiode gleicht, macht noch immer den Eindrud des Be— deutenden und Anmuthigen. Unter der philiftröjen braunen Perrücke wölbt fi) noch immer eine heitere, klare Stirn; geiſt— voll und freundlich glänzen die braunen Augen; die etwas lange, aber jchön modellirte Naſe, der feine, finnlihe Mund, das runde Kinn ſprechen noch von der einstigen Schönheit des alten Stalienerd. Man ftellt ſich Roſſini nach deffen Porträts größer

Ein Beſuch bei Roffint. 535

vor, als er ift, und allerdings ließe fein mächtiger Kopf einen höheren Körperbau vermuthen. Durch Corpulenz und zunehmende MWideripänftigfeit der Füße etwas gehindert, ließ Roſſini es ſich trogdem nicht nehmen, mich in feinen Salon Hinabzuführen. Auf jeinen Stod geftügt, ging er langjam die Treppe hinab und machte mit fichtlicher Freude an feinem Befigthum die Honneurs. „In fünfzehn Monatene, jagte er, »iſt die ganze Villa gebaut und eingerichtet worden; vor anderthalb Jahren noch war alles ein leerer Fleck« Mände und Plafond des Salons find mit hübſchen Fresken geſchmückt, deren durchweg mufifalifhe Sujets Roſſini felbit angegeben und durch italienische Künitler hat ausführen lafjen. Da zeigt uns ein Bild, wie Kaiſer Jojeph I. nach der Vorftellung von »Figaro’3 Hoczeit« Mozart in die Hofloge fommen läßt; ein anderes bringt ung PBaleftrina im Kreiſe feiner Schüler u. dgl. Zwiſchen den größeren Bildern ruht das Auge auf Vorträtmedaillons von Haydn, Gimarofa, Bailiello, Weber und Boieldieu, »mon tres bon ami Boieldieu!« wie der Hausherr wiederholt auörief. Die Wand: gemälde gaben Roſſini den natürlichiten Anlaß, feine Bewunde— rung der älteren großen Meijter, in3bejondere der deutſchen, zu äußern. Seine begeifterte Verehrung für Mozart ift be— fannt. Sie ift durchaus wahr und ungefünftelt. Den »Barbier«, der doch an fprudelndem Muthwillen, an eigentlich luſtſpiel— mäßigen Temperament »Figaro's Hochzeit« übertrifft, mill Roffini neben Diefer nur als muſikaliſche Poſſe gelten laſſen. Mozart’ komiſche Opern, erklärt er, jeien wahre »dramme giocose«, während Alles, was er jelbit nach dem Vorgang der Neapolitaner componirt habe, im engiten Sinne »opera bufla« jei. Man kann nicht bejcheidener von feiner eigenen, nicht rühmender von Anderer Thätigfeit iprechen, ala Roſſini es thut.

Der Maeftro war ungemein wohlgelaunt und geiprädig- Ih Fam gar nicht in die häßliche Verfuhung jo mancher Reifen: den, welche jeden berühmten Mann wie eine Citrone für ihren PBrivatgebraud) auspreifen. Die Erinnerung an Wien, daß er jeit 1822 nicht wiedergejehen, ſchien den greifen Maeitro freudig zu beleben; ausnahmsweiſe erwähnte er einer eigenen Oper, der »Zelmira«, die er damals für Wien gejchrieben. »In

536 Mufitaliiche Erinnerungen aus Paris (1860).

Wien,« rühmte Roffini, »hatte ich zum erjtenmal ein Bublicum gefunden, dad zuzuhören verftand. Diefer aufmerffame Antheil war mir etwa ganz Heberrajchendes, denn in Italien plaudert das Bublicum mwährend der Mufif und wird erft ruhig, wenn das Ballet anfängt.«

Eine authentiihe Erklärung über Roſſini's Verhältniß zu jeinem begeifterten Biographen Stendhal (Henry Beyle) war mir zu wichtig, als daß ich eine bejcheidene Frage hätte ver— meiden follen. Roſſini ermwiderte, daß er diejen feinen ent- züdteften WVerehrer ein einzigesmal, und zwar in Stalien, bei der Sängerin Paſta gejehen, aber niemal® geiprocdhen habe. Man Hatte Roſſini (wahrfcheinlih in gehäſſig übertreibender Weife) gejagt, daß Stendhal ſich feiner genauen Bekanntſchaft rühme, und »von einem folchen Lügner wolle er nichts wiſſen«. Ich brauche faum zu fagen, daß diefer verfchmähte Liebhaber mich im Grabe dauerte, und ich eine wohlgemeinte »Rettung« desjelben nicht unverſucht ließ.

Wir hatten und auf einen Divan gejeßt, der eine freund: liche Ausfiht auf die bunten, fonnbeglänzten Blumenbeete des Gartens freiließ. Vor ung ftand ein Tiſchchen, das mit Mufikalien bededt war. Es waren faſt durchaus neue Arrangement? aus der »Semiramid«, Potpourrig, Impromptus, Duadrillen und ähnliche Sudelfüche, welche die Verleger dem geplünderten Com: poniften artig zugefendet hatten. » Semiramid« war feit einigen Monaten in franzöfiider Bearbeitung an der Großen Oper aufgeführt und wieder Mode geworden. Ich hatte Tags zuvor die Oper gehört und rühmte deren pradtvolle Austattung. Etwas anderes hätte ich mit beitem Willen daran nicht [oben fönnen, denn die Sänger famen mir jo ungenügend, die Mufif jelbjt fam mir jo leer, langweilig und abgejtorben vor, daß ih mitten in der Vorftellung das Theater verließ. Roſſini jelbft wußte nur vom Hörenfagen davon. Seit ſechzehn Jahren hat er fein Theater bejucht, »und jo lange ift es zum mindeften here, fügte er bei, »daß man nit mehr zu fingen veriteht. Man jchreit, man heult, man bort!«

Mehr als die »Bretter, die die Welt bedeuten« ſchien ihn die Welt jelbit in ihrem neueſten politiihen Drama zu inter:

Ein Beſuch bei Roffini. 537

effiren. Bei allem bewundernden Vertrauen auf Garibaldi wollte Roffini der italienischen Bewegung fein günftiges Horoſkop ftellen. »Ich kenne meine Landsleute«, ſagte er kopfſchüttelnd, »fie wollen immer mehr und find niemals zufrieden.« »Stalien ift zu Klein für feine vielen großen .Städte, deren wechſelſeitige Eiferfuht niemals aufhören und freiwilliger Unterordnung plaß- machen mwird.«

Während Roſſini fo in heiterer Mittheilfamfeit fortſprach, freute ich mich, das lebendige Mechielipiel von Intelligenz und Herzlichkeit in feinen Zügen zu betrachten. Aus Wort und Blicd drang jene Kindlichkeit und Naivetät, die wir mehr oder minder an genialen Menſchen immer wahrnehmen. Dem leiſen, gleihmäßigen Wellenfchlag einer geficherten Muße hin- gegeben, nicht alternd in der Freude an der Natur, Kunft und Gejelligkeit, feines Ehrgeizes fähig, lebt der alte Maeſtro feit dreißig Jahren das Leben eines epifuräifchen Weilen. Da er an feine eigene Kunſt nicht mehr denkt und die auch von niemand anderem erwartet, begreift man die gemüthliche Dbjectivität, auß welcher Roſſini die mufifalifche Bewegung der Gegenwart als unbetheiligter Zuichauer, ohne Neid, ohne Ver: bitterung, wenn auch nicht immer ohne Sronie betrachtet.

Selten hat ein berühmter Kiünftler jo bald Feierabend gemacht, wie Roſſini. Mit 21 Jahren fchrieb er den »Tancred« (1813) und ‚war plößlich der gefetertfte Operncomponift in Europa; mit 37 Jahren (1829) jchloß der gefeierte Mann für immer feine Thätigfeit ab. Er that es mit einem Merfe, das ihn auf dem Höhepunkt feiner Schöpferfraft und jeiner Kunſt darstellte, mit »Wilhelm Telle. Wielleiht hat man ihn allzu jtreng getadelt ob diejes fchnellen Rückzugs vom Felde fünftle: riſcher Thaten. Die echt italienifche Arbeitsſcheu Roſſini's hat gewiß theilweiſe dieſen Entichluß herbeigeführt. Ganz und gar aber jchwerlid. Der einfiht3volle Mann, der jein Talent nie: mals überichäßte, mag gefühlt haben, daß er von der über: mäßigen Broductivität früh erfchöpft und nicht mehr im Stande jei, eine Reihe von Werfen wie »Tell«e zu jchaffen, oder dies eine je zu übertreffen. Der Umſchwung, der um das Jahr 1830 auch in den äfthetiihen Anichauungen und Bedürfniſſen eintrat,

538 Mufifaliihe Erinnerungen aus Paris (1860).

fonnte Rojfini nicht verborgen bleiben, daß immer rajchere Ber: welfen feiner älteren italieniichen Opern ihm nicht entgangen jein. Hatte er jo großes Unrecht, ſich nad feinem beiten Werfe zu einer Zeit zurüdzuziehen, wo dies Verſtummen nod laut und allgemein beflagt wurde? Zehn Jahre fpäter hätte man wahrfcheinlich feine Schwach gewordenen Selbitcopien läftig ges funden und den Meiſter mit feinen früheren Lorbeeren gezüchtigt. Vielleiht ift Roſſini's frühzeitige Abdication nicht jo ganz ohne inneren Kampf vor ſich gegangen, al3 man annimmt, umd pon der heitern Stirne des Greiſes abzulejen glaubt. Seit den dreißig Jahren feiner behaglidhen Ruhe ift er freilich dahin ge— fommen, fih wie einen längſt Abgeſchiedenen anzujehen, ber aus Wolkenhöhen auf die vielen Mufifer herablädelt, die noch große Mühe haben, zu ftreben und zu arbeiten,

Große mufifaliihe Streitfragen und Wendepunfte, wie 3.3. die »Zufunftsmufif«, haben für den Componijten des »Barbier«e durchaus fein anderes Intereſſe ald das der Neugier. 65 war vor einem Jahre, daß Roſſini die Bäder in Kiffingen gebrauchte. Sobald er in der Trinfhalle erichien, fpielte das Orcheſter Stile aus jeinen Opern. »Sie fönnen fih kaum vorftellen, wie langweilig mir dad war. Ich dankte dem Capell- meilter und bat ihn, doc lieber eiwas zu jpielen, was ich noch nicht kenne, 3. B. von Rihard Wagner.« Da hörte er denn den Feſtmarſch aus »Tannhäufer«e, der ihm recht wohl- gefiel, und noch ein anderes Stüd, das er nicht mehr zu nennen wußte; jeine ganze Kenntnig Wagner's. Roſſini wünſchte etwas von dem Sujet des »Lohengrin« zu wiſſen. Nachdem ih jo furz und deutlich als möglich erzählt hatte, rief er jehr lebhaft mit drolligem Accent auß: »Ah, je eomprends! C'est un Garibaldi qui s’en va aux nues!« Rihard Wagner hatte den alten Herrn furz vorher bejucht, und war ihm »gar nicht wie ein Revolutionär« vorgefommen, was jedermann gern be— jtätigen wird, der dem kleinen, zierlichen, unermüdlich und geift- reich converfirenden Dann kennt. Wagner fo erzählte Rojjini weiter habe ſich ihm gleich mit der beruhigenden Verficherung vorgeitellt, er jei mweit entfernt, die bisherige Muſik umftürzen zu wollen, wie man ihm nachſage: »Beſter Herr«, unterbricht

Ein Beſuch bei Auber. 539

ihn Rojfini, »daran liegt ja gar niht3; wenn Sie mit dem Umfturz reuffiren, dann waren Sie im vollen Rechte; fallen Sie aber dur, dann haben Sie fih in jedem Fall verrechnet, mit oder ohne Umfturz.« Bon dem boshaften Vergleid Wagner: iher Mufif mit »Fiſchſauce ohne Fiſch«, der eben in Paris cireulirte, wollte Roſſini durchaus nichts wiſſen, und ich glaubte ihm aufd Wort, hätte er nicht mit einer drolligen SFeierlichkeit beigefeßt: »Je ne dis jamais de telles choses.« Nun fennt man aber »de telles choses« von Roſſini in jolcher Zahl und von jo origineller Art, daß jeine Neigung zur Ironie über jedem Zweifel fteht. So ſoll er kürzlich nad der Durdficht einer Berlioz’ihen Partitur ausgerufen haben: »Welches Glüd, daß die feine Muſik iſt!«

Der liebenswürdige Dann war jo unermüdlich im Sprechen und Hören, daß ich jelbjt daran denken mußte, ihn jeiner ruhigen Beichäftigung zurüdzugeben. So führte ich ihn denn wieder die Treppe hinauf in jein Arbeitszimmer, wo er im herzlichen Ton Abichied von mir nahm. Nicht unbewegten Herzend jeßte ich meinen Weg fort, war doch der berühmte Meifter mir als Menſch lieb und werth geworden. Die ftattlichen Alleen entlang an Shimmernden Landhäufern vorbei wanderte ich gegen St. Cloud. Aus einem geöffneten Fenſter quollen wie Roſendüfte die ſüßeſten Melodien aus »Wilhelm Tele. Unmwillfürlic griff ich an den Hut und grüßte gegen die Billa zurüd, deren vergoldete Leier nod wie ein kleiner Stern herüberglängzte.

Ein Befud; bei Anber.

Man kann ſich nicht leiht etwas Verſchiedenartigeres denfen, als es die beiden berühmteften Gomponiften von Paris in Griheinung, Stimmung und Lebensweiſe find. Während Roſſini nur ſchwer fih von feinen Blumen und Wiejen zu trennen bermag, bringt Auber auch den heißeiten Sommer mitten in Paris zu. Er liebt Paris über Alles und verläßt es niemald. Zu jeder Zeit finden wir ihn in feiner eleganten Wohnung, Rue St. Georges. Haus und Straße haben etwas

540 Mufitalifhe Erinnerungen aus Paris (1860).

ruhig Vornehmes, fie präludiren entiprechend der ariftofratifchen fühlen Eleganz, welche und im Innern erwartet. Wir finden den berühmten Tonjeßer im bequemen Sclafrod, zuſammen— gefauert auf einem niedrigen Fauteuil. Ein fchneeweißer Kopf erhebt fih von der Partitur; es grüßt und eine Eleine, dürre Geftalt. Das faltige Gefiht jcheint fait zu verfohlen unter der Gluth zweier tiefihwarzer, leidenihaftlicher Augen. Wie unftät und durhdringend hießen diefe Falfenaugen aus dem Verſteck der dichtbufchigen Brauen hervor! Auber's Kopf iſt nit? weniger als edel; mit feiner unfertigen Nafe, den vordrängenden Backenknochen, dem breiten Mund erinnert er an Scelling. Aber diefe merkwürdigen Augen geben ihm einen Ausdrud un— gewöhnlicher Intelligenz. Sie lächeln dich nicht groß und freundlih an, wie Roſſini's braune Sterne; bligichnell paden fie Did, Shen, meuchleriſch. So mußte der Mann außjehen, der die Verſchwörung der neapolitanifhen Fiſcher wieder lebendig machte. Den Sänger der heiterften, moufjirenditen Melodien von Paris hingegen wirde man in dem ernften Greife nicht vermuthen. Ich jah ihn nicht lächeln, defjen Mufit zu lächeln faum aufhört.

Auber’3 Geipräch bewegte fih in feinen, knappen, etwas geihäftsmäßigen Formen, freigebig mit Höflichkeiten, ſparſam in allem Uebrigen. Er glich mehr einem Diplomaten oder Banguier, al3 einem Mufifer. Mir fiel ein, daß Auber ur: fprünglid für die faufmännifhe Garriere gebildet war. Die Umgebung ftimmt dazu. Das Arbeitszimmer athmet eleganten und geihmadvollen Comfort, aber nicht die laufchige Heim: lichkeit einer Poetenwerkitatt. An den Wänden zahlreiche Bilder: ihöne Frauenföpfe zwiſchen Eoftbaren Kupferftichen nad Le Brun’d »Alexanderſchlacht«. »Die Kunft ift Eind,« erklärte der Herr des Haufes, »und unverftändlich bleibt mir ein Künftler, der nicht zugleich die übrigen Künfte Tiebt.« Dabei jah er viel ihmwächer, abgejtorbener aus, ald er in Wirklichkeit ift. Eine beneidenswerthe Spannkraft ftedt noch dieſen jcheinbar ver: fallenen Leib. An den Falten Tagen des vorjährigen Herbftes fonnte man den alten Herrn in leichtem einfachen Rock über die Boulevard3 eilen fehen. Frühmorgend, während Paris nod

Ein Befuch bei Auber. 541

in den Betten liegt, reitet er fpazieren. Auber, der be- fanntlic feine friſcheſten Melodien zu Pferde erdacht, ift diefem jugendlihen Vergnügen noch nicht untreu geworden. Ja, als echter Franzoje jol er auch fein Herz merkwürdig conjervirt und noch keineswegs vergeflen haben, »was«, nah Spohr’3 Berfiherung, »den Waidmann in den Wald treibt«.

Während der (faft ein Jahrzehnt jüngere) Roſſini ſeit 30 Jahren einer unerjchütterlichen Ruhe pflegt, hat Auber feinen Augenblid aufgehört, mit Eifer und Ehrgeiz zu arbeiten. Die Notenblätter, über welche ich beim Eintreten das weiße Haupt gebeugt fand, gehörten zu Auber’3 neueiter Oper, deren Auf: führung noch in dieſer Saifon bevorfteht. »C’est une imprudence dans mon äge,« flüfierte der 77jährige Componift, indem er auf die Partitur deutete, Ich wünſche nichts fehnlicher, als daß der Erfolg diefer Winterfruht das Wort »imprudence« wo möglih in »miracle« umändere. Denn Auber’3 Berdienite um da3 franzöfifhe Theater find jo groß und glänzend, daß ein Mißerfolg des greifen Meifters fait einem National-Undant gleichfäme. Mit weit befferem Recht ſtände Auber’s Standbild im Atrium der Opera comique, als Roſſini's Statue im Treppenhaus der großen Oper fteht. Außer »Guillaume Tell« hat Rofiini für die Pariſer Oper jo gut wie nichts geichaffen; das Wenige, was fie fonit noch von ihm vorführt, find Be arbeitungen aus dem Stalienifchen. Die Verdienſte Roſſini's und jelbjt jene Meyerbeer's um die Pariſer Oper erjcheinen aus dem Gefichtspunft franzöfiiher Kunft von jenen Auber’3 überftrahlt. Wir legen hiebei nicht einmal bejonderen Nachdruck auf Auber's Arbeiten für die große Oper, obwohl darunter die epochemahende »Stumme von Bortici«, Die glänzende »Ballnadt« und ähnliches fich befindet. Auber's Bedeutung ruht in der fomifchen Oper, alſo in der echteiten, duftigften Blüthe der franzöfiihen Muſik. Von allem Anfang an, ſeit Philidor, Monfigny, Gretry die Gultur der fomifhen Oper begründeten, blieb jie dasjenige mufikalifche Genre, in welchem die franzöfiiche Nation fih am natürlichiten, feinsten und geiftreichiten bewegt.

542 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860).

Die komiſche Oper repräſentirt alle anmuthigen, liebens— würdigen Seiten des franzöſiſchen National-Charakters, während die ⸗Große« deſſen Maßloſigkeiten und Grimaſſen im Hohl: ſpiegel zeigt. Allerdings find die Talente, welche für die Opera eomique jchreiben, an Zahl und Bedeutung ſehr gefunfen, allein noch immer behauptet dies Genre eine von andern Nationen zu beneidende Höhe, bei einer Stetigfeit der geichichtlichen Ent: widlung, wie fie faum eine zweite Theatergattung aufweilt. Zur Tebendigften Weberzeugung wird Einem dieſe Thatſache, wenn man die komischen Opern der Franzofen in Paris jelbit ipielen fieht. Ich müßte von allen Kunftgenüffen, die mir dort zu Theil wurden, feinen, der fo vollfommen, rein und lebhaft auf mich gewirkt hätte, als die Vorftellung des »Fra Diapolo« in der Opera eomique. Nachdem ich furz vorher an der Großen Dper die »Hugenotten«e nur mit Unbehagen, die »Semiramis« gar nicht zu Ende gehört, hätte ich hier nur Souverän zu fein gebraucht, um mir wie Kaiſer Leopold in Wien den »Matrimonio segreto«e in der Komifhen Oper den »FFra Diavolo« von Anfang bis zu Ende noch einmal vorfpielen zu laſſen. Großmüthig wünſchte ih mir alle die Landsleute zu Nachbarn, die im Paterland das große Talent Auber’3 mit jo nahlichtiger Protection abfertigen. Hier auf ihrer Geburtsftätte muß man dieje geiftreichen, feinen, lebensvollen Spiele fehen und hören, um ihren ganzen Neiz zu erkennen und zu be wundern. Die beiten deutichen Sänger find für das Eigenthüm- liche diejer Aufgaben größtentheild unbrauchbar. Die gegen: twärtigen Sünftler der Opera eomique wirfen mit ſehr beſcheidenen Mitteln; allein diefe Mittel find auf das feinjte ausgebildet, auf das intelligentefte verwendet. Nicht eine glänzende Stimme, nit eine beftechende Schönheit, aber in der anfchmiegenden Feinheit des Ausdrucks fcheinen alle Stimmen, in der Grazie der Bewegung alle Geitalten verichönt.

Die komiſche Oper der Franzofen verhält ſich zur großen ungefähr wie ihre Zuitipiele zur Tragödie. Ich befenne, Na: cine’3 »Britannieus« im Theätre francais nit außgehalten zu haben, fo widernatürlich, prahleriih, hohl erfchien mir Spiel und Sprade dieſer Mlerandriner:Stentoren. Als aber un

Gin Beſuch bei Auber. 543

mittelbar darauf ein Scribe’iches Auftipiel folgte, waren in meinen Augen die Franzoſen die eriten Schauspieler der Welt. Ich bin weit entfernt, den Ruhm der Parifer Großen Oper geradezu unverdient zu nennen. Vortrefflih it an ihr alles Heußerliche. Das Decorationsweſen ift umübertrefflih, und nicht blos im Sinne leerer Pracht, ſondern wirklich künſtleriſcher, dramatischer Verwendung. Unterftüßt von einer beneidenswerthen Tiefe der Bühne, auf deren Vorder:, Mittel- und Hintergrund fih mafjenhafte Gruppen formiren und frei bewegen fünnen, erzielt diefe Decorationzkunft nahezu vollftändige Illuſion des Zuſchauers. Auh das Orcefter und die Chöre ließen in den PVorftellungen, denen ich beimohnte faum etwas zu wünschen übrig. Was Hingegen den Fremden enttäufcht, find die Solofänger, darunter großartig auspoſaunte und noch groß: artiger bezahlte Namen. Mit ganz wenigen Ausnahmen erjcheinen mir die Leiftungen diefer Sänger mit ihren enormen Gagen und mit der Weltftellung der Parijer Großen Oper jchwer zu reimen, und ich glaube, daß die eriten Kräfte unferer Opern bühne, falls es ihnen gelänge, ſich des Franzöfiichen voll: fommen zu bemädhtigen, in Paris glänzend durchdringen würden. Mit der fomifchen Oper verhält es fich gerade umgefehrt. Die beiten deutichen Vorftellungen diefer Gattung werden im Total-Eindrudf die ſchwächſten der Pariſer Opera comique nicht erreichen. Wenn es hoch kommt, hat jede befjere deutiche Bühne zwei biß drei gute Mitglieder für die komiſche Oper, feine einzige aber eine Ahnung von einem vollendeten Enſemble. Notabilitäten der deutichen Oper fünnen von untergeordneten Künſtlern der Opera eomique lernen, wie man fpricht, jpielt, fih fleidet, ja wie man gerade im mufifaliichen Luftjpiel zu fingen hat. Da iſt niemand, der jchreit, jchleppt, ſich vordrängt; alle bewegt fich raſch, zwanglos und natürlich, und will auch mancher für fich nicht viel bedeuten, zufammen find fie Meiſter.

Wir find nur Scheinbar von Auber abgefommen. Wenn man die Komiſche Oper rühmt, rühmt man Auber. Ohne ihn würde die gegenwärtige Opera eomique nur begetiren; er ift ihre Hauptjtüge, und ziert wöchentlih ein biß zweimal das Repertoire. Mit den beiten feiner Werke hat ſich Auber längft

544 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860),

neben Iſouard und Boieldieu geitellt; mit feinen ſchwächſten überragt er wenigſtens noch immer die meilten feiner zahllojen Nahahmer.

Auber gab mir in meinem Lobe der Opera comique nur theilweije Recht; lebt doch in feiner Erinnerung eine viel voll fonnmenere Blüthe diejes Inſtituts. Sowohl die Geſangskunſt als die Darftellung findet er gejunfen ſeit der Zeit, wo er den Schwarzen Domino« für die Ginti-Damoreau jchrieb. »C'etait une artistee wiederholte er, um den Gegenjag zu der gefeierten Ugalde und ihren Golleginnen zu bezeichnen, welche ihm blos als »geſchickte Sängerinnen« gelten. Hingegen jprah) er von Montaubry, dem würdigen Nachfolger Roger's und trefflichiten aller Fra Diavolos, mit großer Achtung.

Ganz verſchieden von Roffini, blieb Auber im Sprechen farg und gemejjen, dabei in Miene nnd Haltung unbemweglid). Hingegen ſchien er mit Interejje zu hören, was ich ihm von deutschen Theaterzuftänden, namentlich in Bezug auf jeine Opern, mitzutheilen wußte. Er jelbft war, fonderbar genug, nie in Deufhland, nie in Stalien geweſen. Bon der neuen mufifalifchen Bewegung wußte er nur vom Hörenjagen. Sobald ih Wagner erwähnte, begann Auber von den Gonjervatoir-Eoncerten zu iprehen. Als ich mich empfahl, hatte ich die ganze Höflichkeit de3 berühmten Mannes noch nicht fennen gelernt. Er überrajchte mich am folgenden Tag mit der YZufendung eine liebens— würdigen Briefchens. Die Hand, welche den »Fra Diavolo« geichrieben, hatte es nicht verſchmäht, mir durch einige nie erwartete Schriftzüge ein werthvolles Erinnerungzeichen zu

ſchaffen. Berlioz.

Berlioz bringt alljährlich einen Theil des Sommers in Baden-Baden zu. Erſt am Tage vor meiner Abreiſe gelang es mir, den eben nad) Paris Zurücgefehrten begrüßen zu können. Berlioz war mir fein Fremder, ich hatte in lebhaften Verkehr mit ihm eine Spanne Zeit durchlebt, von der ic) wußte, er werde gern daran erinnert fein. Es war die Zeit feiner Prager

Berlioz. 545

Eoncerte im Jahre 1846. Ort und Zeit fonnten damals für Berlioz faum günftiger fein. Durch das Mufikfeben der Moldau: ſtadt mwehte ein friicher, jugendlicher Hauch, brach ein begeiftertes Streben, Empfangen und Erkennen. Der Bann eines engherzigen Claſſicismus Hatte anhaltend genug auf den Pragern ge— faftet, während ihr berühmteites und einflußreichites Muſik— Inftitut, dad Conſervatorium, unter der Leitung eines Mannes (Dionys Weber) geltanden, mwelder Beethoven nur bis zur dritten Symphonie gelten ließ. Die Prager Hatten ſich in Haydn, Mozart, Spohr und Onslomw feitgefaugt, und waren im Bewußtſein des Mozart’ihen Ritterſchlags (»die Prager verftehen mich«) beinahe adelöftolz und reactionär ge— worden. Mit der Hebernahme des Conjervatoriums durch den jungen, ftrebenden Kittl brad) dies Eis. Beethoven’ jpätefte Werke, Mendelsſohn's Orcdefter-Dichtungen zündeten im Publicum; von Gade und Hiller nahm man raſch Kenntniß, wagte es mit Schumann’3 »Peri« und jogar mit der »Lear«— Duverture von Berlioz. Einige junge Mufiffreunde hatten bereit8? Schumann’: »Neue Zeitjchrift« zu ihrem Brevier ge— macht und fich unter dem Vorſitz des geiftreihen Ambros zu einer bejcheidenen »Davidsbündlerihaft« vereinigt. Mit Be— geifterung fpielten wir Schumann und Berlioz zu einer Zeit, wo man in größeren Städten den erjteren nur als »Mann der Clara Wieck« fannte und leßteren mit Bériot verwechſelte. Schumann hatte einige $ahre zuvor auf den genialen Sonder- ling Berlioz enthufiaftiich hingemwiefen und ihn mit dem ſchönen Worte eingeführt: »Iſt feine Mufit ein flammendes Schwert, jo jei mein Wort die verwahrende Scheide!« Deutjchland be— gann das Unreht gutzumachen, das Frankreich gegen Berlioz verübte. Der große Unbekannte rüdte und endlich auch perjönlid) näher. Die zündende Wirkung feiner Eoncerte auf dad Wiener Publicum lief gleichfam auf den Schienen der Nordbahn elektriſch bi zu uns; die heftigen Scharmügel der Wiener Journaliftif er— höhten die Bedeutung des Streitobjectes, umfomehr als ja Die ge= wichtige Stimme des geiftreihen Becher für und den Ausſchlag gab. Alfo vorbereitet und aufgeregt traf Berlioz die Prager Mufitwelt im Jänner 1846. Ein glüdlicher Zufall a mich

Hanslick. Aus dem Goncertjaal. 2. Aufl.

546 Mufitalifche Erinnerungen aus Paris (1860).

bald mit dem verehrten Manne in dauernden Verkehr. Die Mufit ift bekanntlich allgemeine Weltiprache, aber die fie treiben, beharren gerne um fo hartnädiger auf ihrem vaterländiſchen Idiom. Berlioz veritand feine Silbe Deutſch und Hatte dod viel Mufifaliiches mit Leuten zu bejprechen, von denen die Kenntniß des Franzöfiichen nicht zu fordern war. Indem id da häufig als Dolmetih fungirte, trat ich zu dem berühmten Gomponiften bald in eine Nähe, die mir fonft micht zu: geitanden hätte.

Mas unfere Bewunderung für Berlioz noch befeltigte und vertiefte, war der Eindrud feiner liebenswürdigen, geiit: vollen, durch und durch Fünftleriichen Perſönlichkeit. Sein fünftlerifches Ideal erfüllte ihn ganz, die Verwirklihung deſſen, was er in glühendem, nie befriedigtem Drang als ſchön und groß empfunden, bildete jein einzig Ziel und Streben. In feiner Kunft, mag man fie nun abjihägen wie man wolle, lag eine großartige Nedlichkeit. Alles Eigennüßige, berechnend Praktiſche lag dem Manne mit dem Jupiterfopf fern. Dafür hatte er in der Perſon einer intereffanten Spanierin (feiner jegigen Frau) eine treffliche Ergänzung gefunden. Sefiora Mariquita beforgte die Eoncerte, prüfte die Rechnungen, ermäßigte unerbittlich den Preis von Triangel und Beden. Sie war eine Art weltlicher Vorjehung, die irdiſche Roſe im himmliſchen Leben, ein Glavierauszug aus Madame Vieurtemps. »Ein Glüd für Hector, daß ich feine Frau bin«, lilpelte fie nach mand heißem Rechnungsabſchluß und mwahrlid, nicht mit Unrecht. Ohne diefen Shwarzaugigen Finanzminifter hätte >»Hector«, arglos und großmüthig wie ein geborener König, bald feine Barjchaft zu: gejegt und wäre vielleicht eine8 Morgen? ohne die nöthigen Kleidungsftüde als Bergſchotte auf der Probe erjchienen.

Dieje kräftig aufrechte Geftalt, dies föniglihe Haupt, dies Goethe'ſche Auge ich jollte fie jehr verändert wiederfinden. Berlioz ijt jo leidend, daß ihn das Niederfchreiben einiger Seiten oft tagelange Anftrengung koſtet. Schlafloſe Nädte theilen fich mit nervenquälenden Tagen in die Ruhe ded Meijters. Hand in Hand mit feinem förperlichen Leiden geht eine tiefe Berjtimmung ded Gemüths, eine immer zunehmende Verbitterung

Berlioz. 547

und Bereinfamung. Wie jehr diefe Verdüfterung jein phyſiſches Leiden vermehrt und umgekehrt, deffen ift ſich Berlioz nur zu deutlich bewußt.

Für Berlioz’ Richtung und Streben ift Paris ein hoff: nungslofer Boden. Won jeinen Land3leuten war er ftetß un: verftanden und wird es bleiben. Die Achtung, mit welcher man in Paris jeinen Namen nennt, verdankt er ausſchließlich feinem glänzenden Wirken als Sritifer. Den Componiften Berlioz ignorirt man nod immer, ja man würde ihn wahrſcheinlich auslachen, hielte nicht fein journaliftiiher Ruhm und Einfluß die Leutchen im Zaume. Mit aller Mühe bringt er es nur jelten dahin, eines feiner Werke in Paris aufgeführt zu hören. Die Orcheſter fürchten feine Symphonien, die Theater feine Opern. Die koloſſale Partitur, die ich vor Berlioz aufgeſchlagen fand, ift fein lebte großes Wert jein bedeutendftes, wie er meint die Oper: »Die Trojaner.«e Seit mehr ald zwei Jahren vollendet, war dies Werk an der »Großer Oper« beinahe ſchon angenommen, zu Gunften anderer Novitäten aber wieder remittirt. Nun hofft Berlioz auf eine Annahme in dem neuen Iyrifchen Theater, das in der Nähe des Boulevard Sebaſtopol erit gebaut mwird.*)

Wenn Berlioz jeine Compofitionen aufführen will, muß er nach) Deutichland gehen. Da findet er Tiebevolles Entgegen: kommen, Verftändniß, Anerkennung. Deutichland ift das Adoptiv- Baterland feines Herzens, und welch’ anderes Land vermöchte das geiftige Aſyl eines Snftrumental-Componiften zu werden, der in rein ibealem Drang auf den Spuren Beethoven's weiter zu dringen verſuchte. Berlioz' Sommeraudflug nad) Baden-Baden hängt damit zufammen; er hat Benazet’s Engagement angenommen, dort in jeder Saiſon ein großes Concert zu dirigiren. Abgejehen von dem anjehnlichen firen Honorar, welches der wenig bemittelte Componiſt dafür bezieht, findet er hier die einzige Gelegenheit, jeine Werke einem großen gebildeteren Bublicum vorzuführen. Das Vorbereiten und Aus—

*) »Le Trojens à Carthages in 5 Xcten fam in Paris 1863 zur Aufführung. 35*

548 Muſikaliſche Erinnerungen aus Paris (1860).

führen dieſes Monftreconcerts ift für Berlioz mit unfäglicher Mühe verbunden, aber leuchtenden Auges erzählt er, wie ber Ihöne Erfolg ihn jedesmal entſchädige und tröfte. Nach Paris zurüdgefehrt, fühlt er fi durch den Fünftlerifchen Gegenjat doppelt gedrüdt. Die Hoffnung aus früherer Zeit fcheint ihn verlaffen zu haben, er nimmt feinen Zuſpruch an, der an eine doch zu erwartende Veredlung und Vertiefung der franzöfifchen Muſik appellirt. »J’ai pris mon parti.e Dieſer Seufzer ſchmerz— lichfter Refignation haucht einen trüben Fleck auf den patriotifchen und fünftleriihen Ruhm der Franzoſen. Iſt doch Berlioz der einzige franzöftfche Inftrumental-Componift, von dem überhaupt in der Gefhichte der muſikaliſchen Entwidlung die Rede fein fan. Es bleibt höchſt charakteriftifch für die franzöſiſche Kunſt, daß ihre Anftrumental-Somponiften an Zahl und Bedeutung beinahe Null find. Der franzöfifhe Mufikgeift ift fo eng mit dem Wort verbunden, daß er abgetrennt davon nur kümmerlich nach Luft fchnappt, wie der Fiſch auf trodenem Lande.

Der erjte und für lange hinaus einzige Symphonien— Dichter der Franzofen war Goffec (F 1829), dem feine Lands— leute fogar die Erfindung der Symphonien und die Priorität vor Haydn pindiciren wollen. Ganz abgefehen davon, daß fie mit diefem Anſpruch factiſch im Unrecht find, ftehen Goſſec's Sym— phonien neben denen Haydn's wie Armliche Dilettanten-Arbeiten und find für alle Zeit vergeffen. Seitdem hat erft in neuefter Zeit (1844) ein Franzofe im fymphoniihen Fach Aufiehen erregt, Felicien David, mit feiner »Wüſte«. Die exotilche Form, die frifhe Localfärbung verliehen dem Werke einen un: [eugbaren Reiz, ähnlih dem Eindrud mander Freiligrath’ichen Gedichte. Sobald der Schmelz der Neuheit von diefem einen Merfe David's abgeftreift war, fiel der ganze Componiſt jo ziemlich in Verichollenheit. Erwähnen wir noch einiger Eleinerer Snftrumentalfahen von Charles Gounod, fo haben wir bei- läufig die ganze armjelige Ausbeute der franzöſiſchen Orcheiter: muſik. Diefen Symphonifern, welche uns eher wie injtrumenti- rende Lieder: und Arienfänger vorfommen, fteht wie ein Rieſe Berlioz mit feiner befremdenden Eigenart und Großheit, mit feiner Bizarrerie und Romantik, mit feinen phantaftifh aus—

Bon ber Londoner Auaftellung. 549

gerecten Formen und vollendeter orcheitraler Meiſterſchaft gegen: über. Daß die neuejte mufifalifche Bewegung ihre wichtigfte Anregung durch Berlioz erhielt und ihre glänzenditen Effecte ihm verdantt, ift zweifellos. Wenn aber die » Zufunftämufifer « Berlioz ohneweiter® ald einen der Ihrigen dußen und ihr zweifelhafte® Gut mit jeiner Flagge deden, jo erlauben fie fich mehr, als ihnen zufteht. Ich kann verfichern, daß es Berlidz' größter Schmerz ift, mit den Fahnenträgern der »Zukunfts— mufif« zufammengemworfen und für deren Experimente verant- wortlich gemacht zu werden. Sein Urtheil über die namhafteſten diefer Componiſten erlaube ih mir nicht mitzutheilen, weil Berlioz vielleicht in freundſchaftlichen perfönlichen Beziehungen zu ihnen ftehen mag. Im Vergleich mit feinen diplomatifch ge- glätteten Urtheilen im Journal des Debats langen dieje mind- lihen Auslaffungen allerdingd fehr draftiih. Berlioz' Ber: bitterung über feine künſtleriſche Ohnmacht in Paris madt es begreiflich, daß er auch perjönlich mit den gefeierten Componiſten der Weltitadt feinen Verkehr pflegt. Roſſini hat er nie ge ſprochen. Der Einzige vielleicht, dem er mit herzlicher Achtung zugethan iſt und den er häufig aufiucht, ift der geiltreiche und liebenswürdige Componift Stephen Heller, der, jeit ziwanzig Jahren in Paris eingebürgert, dennoch fein echt deutſches Ge— müth und deutſches Talent fi) unverjehrt erhalten hat. Im Vaterlande zurücdgelegt und mißperftanden, lauſcht Berlioz doppelt begierig, wo ihm aus der Ferne ein Liebeszeichen herübertöne. Mit Sehnfucht denkt er an Wien und Prag, und die dort verlebten Tage dünken ihm ein goldener Traum.*)

Wufikalifches aus LCondon. (1862.)

Von der Ausftellung.

Hätte Dante lange genug gelebt, um als italienijcher Ausſtellungs-Commiſſär im Induftriepalaft zu fungiren, feine »Hölle« wäre ohne Zweifel um ein ergreifendes Bild reicher

*) Berlioz jtarb am 9. März 1869 zu Paris.

550 Mufitaliiches aus London. (1862.)

geworden. Er hätte und mit lebhafter Genugthuung gejchildert, wie moraliihe Ungeheuer in einem langen jenfeitigen Leben verurtheilt find, Inftrumente in einer Induſtrie-Ausſtellung zu prüfen, Die Phantafie der Alten Hatte für die Qual nie erreichten Strebend, ewig neu unterbrodenen Bemühen? fein grelleres® Bild gefunden, als Tantalus, SIrion und Die Danaiden. Falls diefe vornehmen Dulder Hinreihend muſi— kaliſch find, follte man fie ohneweiters als Berichterftatter hieherjenden; fie würden für die Dauer der Saiſon Leicht freiwillige Eriagmänner nad) dem Tartarus finden. Oder it es nicht eine Ixionsqual, fih zmwanzigmal an ein Piano zu jegen, um nad den erſten Noten ftet3 von den Ton: lawinen der großen Walker'ſchen Orgel überfchüttet zu mer: den? Der Organift er fpielt natürlich den »Propheten«— Marih von Meyerbeer iſt faum bei dem As-dur-Triv ans gelangt, als ihm auch ſchon eine Hull’ihe Orgel die grellen C-dur-Fanfaren von Mendelsſohn's Hochzeitsmarſch wie Heulen hinüberwirft. Du fuchft zu entfliehen ; kann man dem Zorn einer Drgel entfliehen? Da fiehft du dich eingefeilt in einen Menſchen— blod, der zwifchen den engliihen und den Zollvereind-Clavieren ftille fteht. Denn merfwürdigerweife braucht fih blos Jemand an ein Piano zu fegen, und darauf frech herumzutrommeln, fo hat er auch Thon ein kleines Publicum, das ihm andächtig laufcht. Dilettanten und Dilettantinnen, die natürlich niemals eitel find, produciren fih den ganzen Tag hindurch auf den verfchiedenen Pianos, jedesmal beim Aufſtehen äußerft über: rafcht, daß ihnen Leute zuhören. Eben jeßt hatten wir eine unvergeßlide Stunde. Ein ruppiger Süngling aderte einen Broadwood’ihen Flügel mit dem »Tannhäuſer«-Marſch; Dicht neben ihm auf‘ einem Pianino von Collard zimperte eine ſchmachtlockige Lady Schulhoff’3 »Chant du berger«, während ſchräg gegenüber ihre Gouvernante ein Poutpourri oder fo etwas Aehnliches außleerte. Ein zehnjähriges Mädchen befommt durch diejen Anblick den Muth, an einem billigen Pianino den »young countryman« zu jpielen, einen hier allerwärtö er— £lingenden Gaſſenhauer, auf den eine mufilfreundliche Regierung mindeftens fünf bis zehn Jahre ſchweren Kerkers ſetzen würde.

Bon der Ausftellung. 551

Da3 Charivari iſt allgemein und erftredt fich durch den ganzen Tranjept. Du drängft dich durch und eilft in ein Seitenſchiff, das dir als clavierfrei dunkel vorichwebt. Armer Flüchtling ! Du bilt in dem Bereich der franzöfiihen Blasinftrumente ge— rathen. Die Ausfteller jcheinen eben Käufer zu wittern, und langen ihre theuerften Stüde hervor.

Ein blonder, badenbärtiger Gentleman ſpuckt in eine Flöte, ein zweiter ift bemüht, eine Clarinette auszujaugen, während drei rothrödige Leibgardiſten in Riefen-Ophifleiden ihre (hoffentlich unsterblichen) Seelen aushauchen. Es gelingt dir, aus diefer Blechfammer herauszufommen ; deine Leiden find aber darum nod nicht erſchöpft. Du biſt höchſtens den reißenden Thieren des Orcheſters, den Vierfüßlern und Schlangen, entfommen; aber die fleineren, bösartigen Inſecten harren noch dein; hörst du das Gewinſel der heimtückiſchen Physharmonikas und Melodicons? Fühlft du den Stih der Heinen Zithern, die eifige böje Zugluft aus den Bälgen der Harmonifas ? Genug, genug! Sit dir noch einige Kraft geblieben, jo ſchleppſt du dich nach der öſterreichiſchen Abtheilung und vergräbit dih in dem kleinen, traulichen Verſchlag unjeres »Office«. Die Wiener Blätter find wieder einmal alle vergriffen was bleibt dir übrig, ald dich deinen Gedanken hinzugeben?

Börne verglich einmal jeine Gedanfen mit Nudeln. Ich zehrte an folgenden vergifteten Nudeln, Wenn die oft beflagte Eigenfhaft der Muſik, zudringlid zu fein, irgendwo in ihrer raffinirteften Scheußlichfeit ſyſtematiſch gepflegt wird, jo ge: ichieht dies gewiß im Londoner Induftriepalaite. Das ift ein mufifaliiche® Babel, eine concertgewordene Arche Noe Eine jolhe Muſik paßt für Völker, die zum Frühftüd ihre Tanten auffreifen, und nicht für gebildete Beſucher der Globe-Reſtau— ration oder des »Thomas-Hotels«. Daß e3 noch nirgends eine Spur mufifalifcher Polizei gibt, und das menſchliche Ohr ruhig jedweder Dual und Verhöhnung preisgegeben wird, verräth eine barbariiche Züde in unferer Eultur. Wenn aber unmuſi— kaliſche Barbaren, nicht zufrieden, jolche Hexenküche zu beichügen, auch noch verlangen, man follte darin die Feinheiten der In— jtrumente foften ımd vergleichen, dann geht der Menſch zu

552 Mufitaliiches aus London. (1862.)

Ende. Könnte die feinfte Nafe über Wohlgerühe Recht fprechen mitten in einem chemijchen Laboratorium, wo Jod- und Chlor: dänıpfe ihr Weſen treiben? Oder in trübem Keller über da3 Golorit von Bildern urtheilen?

Etwas ſpät fam die Jury, wenigſtens theilmweije, zu ähnlichen Empfindungen. Die Blasinftrumente werden zu großem Theil, die Violinen durchaus in einem eigenen abgeichloffenen Local geprüft. E83 war died ein zum Auöftellungögebäude ge höriger hoher, weiter, leerer Saal. Er gab jeden erflingenden Ton mit lächerliher Großmuth viermal jo ftark zurüd. Traf man im Ausftellungsgebäude faum Ein Clavier, das gut flang, jo gab es im Gegentheil in diefen Saal feine Violine von ſchlechtem Ton. Die Geige ilt zwar ein ungleich einfacdheres Snftrument als dad Clavier; dennoch bietet die Prüfung der: jelben eigenthümlihe Schwierigkeiten. So bildet die Violine in einer jehr wichtigen Eigenschaft, der Dauerhaftigfeit nämlich), einen directen Gegenjag zum Glavier, Eine gute Violine wird mit der Zeit immer befjer, das beite Clavier raſch immer Ihlechter. Kein größeres Entzücden für den Geiger, als eine hundertjährige Cremonefer Violine; fein troftloferes Möbel, als ein zehnjähriges Clavier. Diefe Kurzlebigfeit des Klavier fteht in einem jo abnormen PVerhältniß zu der Größe der Arbeit und der Höhe des Preiſes, fie jeßt das Piaro in einer erheb: lihen Eigenſchaft fo tief unter die Streich» und Bladinftrumente, daß der erfinderiiche Geilt der Pianofortemacher nach dieſer Nihtung gewiß noch die glänzendfte und wichtigite Aufgabe vor fih hat. Ein Ideal von muſikaliſchem Juror ſollte eigent- lich in die Zufunft hören können. Manch brillante neues Piano würde durch ein trauriges Horoffop vielleicht die Hälfte jeined Werthes verlieren, während aus dem füßen, aber etwa? jungen, unreifen Ton einer guten Geige deren fpätere Voll: fommenheit fih herausfühlen ließe, wie aus dem Moſt der Wein.

Der ausgeitellten Streih:Inftrumente waren nicht über: mäßig viele; allein e& gab fehr gute darımter. Von neuen Er: findungen in diefem Fach können wir höchften® die flachge- bauten Violinen des Amerikaner? Hulsfamp erwähnen, melde

Bon ber Austellung. 553

eine commtercielle Zukunft haben, da fie in großer Zahl fehr billig fabricirt werden fönnen. Im allgemeinen war die er: freulihe Wahrnehmung zu machen, daß die Geigenbauer das rihtige Princip: den alten Stalienern nachzufolgen, allmälig in einer vernünftigen Auffaffung anwenden. Noch der officielle Beriht Schebeck's von der Pariſer Weltausjtellung (1852) durfte über die Charlatanerie lagen, mit welcher Geigenmader durch Fünftlihe Austrodnung ded Holzes, Abſchabung des Lackes 2c. alte Cremoneſer Geigen, oder richtiger: das Alter der Gremonejer Geigen copirten. Das Streben eines tiihtigen Geigenbauers foll und kann doch immer nur dahin gehen, feine Snftrumente jo zu machen, wie Guarneri oder Straduarius fie zu ihrer Zeit gemadt haben, nicht aber neuen Geigen durch bedenkliche Kunſtgriffe dad Anjehen Hundertjährigen Alters und Gebrauchs zu geben.

Die Ausstellung von Blasinftrumenten ift jehr reich, fie dürfte über 1000 Stüf in Metall, über 600 in Holz betragen. Die Franzojen haben ihre Inſtrumente in theils flachen, theils rondelartigen Glaskäſten am netteften ausgeſtellt. Der Eindrud, den wir vor den großen, hellpolirten Blech: Inftrumenten Beſſon's, Gautrot3 und Sax' empfingen, war bewunderndeg Grauen. Oder wie jonft fünnte man dieſe riefigen, vielfah gemwundenen, flappenbededten Ungeheuer an: fehen; diefe Armftrongfanonen der Tonkunft, die drohend ihre weite Mündung gegen uns richten? Zum Glüd findet ſich jelten ein Liebhaber, der fie auf der Ausjtellung probirte. Als wenn alle diefe Sprößlinge des Ophikleidengeſchlechts noch nicht für die zarten Bedürfniſſe einer Militärmuſik ausreichten und wenigftens die Phantafie da weiter fortjegen müßte, mo die praktiſche Möglichkeit endet, hat Sar eine Metalltuba ver: fertigt, die gar feine mufilalifche Verwendung zuläßt. Nur ein: zelne Töne vermöchte ein Nibelungen-Hornift aus dieſer De: tallihluhht hervorzuholen, in deren Innerem der gewaltige Bläfer zugleich fi) bequem verſtecken kann. Das Inſtrument von Sar hat für den Mufifer feine andere Bedeutung, als für den Raucher die unermeßliden Meerichaumföpfe haben, welche man hie und da in Auslagfäften paradiren ſieht. Die Fran—

554 Mufifalifcher aus London. (1862. )

zoien würden beides »tours de force« nennen. Neun und höchſt intereffant ift die zum erftenmal verjuhte Verwendung des Aluminiums für Blasinftrument. Gin aus dieſem Metall verfertigtes Flügelhorn von Beſſon iſt ſo leicht wie Pappen— deckel. Vier ſolche Inſtrumente erreichen zuſammen erſt das Gewicht eines gewöhnlichen Blechflügelhorns von gleicher Größe und Dicke. Im Preiſe ſtellt ſich Aluminium dem Silber gleich, und dieſe Koſtſpieligkeit bildet natürlich das größte Hinderniß für die Verbreitung jenes Verſuches. Sollte man aber künftig dahin gelangen, Aluminium billiger zu erzeugen, jo wird deſſen Verwendung für Blasinſtrumente als größte Wohlthat für die blaſende Menſchheit eine enorme Ausdeh— nung gewinnen.

Die Flöten von Meiſter Ziegler in Wien haben durch Schönheit und Solidität der Arbeit und ihre verhältnißmäßige Billigkeit verdientes Aufſehen erregt. Trotzdem kann man ſich nicht mehr darüber täuſchen, daß die ſogenannte »alte« Flöte, die gegenwärtig in Wien nach ausschließlich herricht, von dem neuen Syſtem des Münchner Theobald Böhm täglih mehr verdrängt wird. In allen engliihen und franzöſiſchen Orcheſtern berriht die Böhm'ſche Flöte, und wird fhon dur den einen Vorzug allein, daß fie die Lunge des Spielers fchont, überall: hin ihren Weg finden. Die Anhänger der einfacheren, billigeren, gemüthlihen Wiener Flöte mögen noch fo gereizt auf die neue Erfindung bliden, diefer allein gehört die Zukunft, ja zum großen Theil ſchon die Gegenwart. Die Anhänger der alten Flöte werden mit demjelben gerechten Herzeleid ihr Lieb: lingsinftrument verichtwinden ſehen, wie unfere Großeltern die gemüthlihe Poftkutihe vor den Dampfmalhinen einer nenen Zeit verſchwinden ſahen. Wir ehren den Schmerz um muſi— faliiche und fonftige Boftkutichen; allein nimmermehr möchten wir den Leuten abrathen, auf der Eifenbahn zu fahren.

Wenn der Saal ruhig und die Zuft rein ift, hören wir jeltfame Scharfe, Tanggezogene Töne. Sie Klingen füß, unſäglich rein, dabei aber eigenthümlich durchichneidend, gläfern, wie mit geifter- haft jtieren Augen geradezu auf unjere Nerven losſchreitend. Die fremdartigen Klänge fommen aus einer Glasharmonifa,

Bon ber Ausftellung. 555

und der blonde, freundlide Mann, der fie dem Inſtrument entlodt, it Herr Bohl aus Wien. Die Glasharmonika ift mehr eine mufifalifche Guriofität, ald ein Inftrument. Auf ein meit engered Feld mufifaliicher Entfaltung beichränft, als die Phys— harmonika, überbietet fie dieſe noch an ätherifcher Reinheit und nıervenaufregender Schärfe des Tones. Es wird wohl zunädjit das Intereſſe des mufifaliihen Hiſtorikers, oder aber das Bedürfniß einer übermäßig geiteigerten Empfindſamkeit fein, was fich diefem Inftrumente inniger befreundet. Für unfere Empfindung hat die Glasharmonika etwas krankhaft Gereiztes, fie gehört zu den pathologiichen Ericheinungen, die hin und wieder in jeder Kunſt auftauchen, um bald wieder zu ver: Ihwinden. Das Beitridende diejes pathologiichen Neizes erklärt pollfommen, daß gewilje Stimmungen und Gemüthsrichtungen fich daran beraufchen, daß ein Jean Baul md F. D. Schubart dafür ſchwärmen fonnten.

Ein anderer Theil des Publicums, der ftärfere Koſt liebt, umſteht fleißig die großen Spieluhren und Orcheſtrions, Die zu beitimmten Tageszeiten mit halber oder ganzer Orcheiter- fraft ihre Stüde aborgeln. Das größte und vollfommenite diejer Automaten ift eine Schwarzwälder Arbeit von Welte im GroßherzogthHum Baden. Es iſt um die Kleinigkeit von 2000 Bid. St. käuſlich. Dies Orcheſtrion ift ein fürmlicher mufifaliiher Hochofen. Alle Stunden wird die eiſerne Thüre unten geöffnet, einige Mufitwalzen, wie große Blöde Holz, hineingeichoben. Nun fängt e8 an zu £niftern, die mufifalifche 2ohe ſchlägt auf und prafjelt mächtig, bis die Feuerung auf: gezehrt ift und der Ofen mit einer neuen Duverture geheizt wird.

Die Ausstellung im Induſtriepalaſt ift bekanntlich nicht nad) Gegenftänden, fondern nah Nationen geordnet. Wer daher die mufikaliichen Inftrumente nah ihren Hauptelaffen durchgehen und vergleihen will, muß fih auf lange Kreuz— und Querzüge, auf fortwährende Abitecher aus Franfreih nad Deutihland, aus England nah Nordamerifa u. ſ. f. gefaßt machen.

Die Jury begann ihre Prüfungsarbeiten mit den Cla— vieren, den »MVornehmen«e und »Gebildeten« der tönenden

556 Mufifaliiches aus Lonbon. (1862.)

Gefelihaft. Die Franzoſen verdienen hier wie überall als jorgfältige Ausfteller Nacheiferung. Ihre Inſtrumente find zwedmäßig und gefällig geordnet und durchaus in guter Stimmung. Alle franzöfiihen Inftrumentenmaher haben für Virtuojen aller Gattung gejorgt, weldhe ihre Inftrumente in der Erhibition vorführen. Auch fanden wir in der Qualität ihrer auögeitellten Yabrifate ein gemilles Niveau der Ans jtändigfeit, unter welches jelbit die geringfügigften nicht ſanken. Bon den Glavieren Pleyel's und Herz’ biß zu dem legten franzöfiihen Piano der Ausftellung iſt feine fo große Kluft, wie zwiſchen dem Beiten und dem Schlechteſten der deutjchen Abtheilung oder der engliihen. In letzterer fteht die Firma Broadwood obenan. Ein fremder Herr öffnet ‚und zupor= fommend die Broadwood’ihen Flügel, zieht mit kräftiger Hand die Mechanik heraus und gibt und Aufichluß über jedes Detail der Fabrication. Seine Perſönlichkeit hat etwas TFeflelndes dur) die eigenthümliche Verſchmelzung von Intelligenz und Mohlwollen. Das leuchtende braune Auge, die jugendlich ela= tiihe Haltung contraftiren ſchön zu dem grauen Haar und der ernitgefurdhten Stirn. So, meint mein Nachbar, fünnte ein Premierminifter ausjehen. In Wirklichkeit ift e& der Clavier— fabrifant Henry Broadmwood. Mer verbindet nicht mit diefem Namen fogleih die Vorftellung einer impojanten Ge: werbs- und Handelsthätigkeit? Das Land ilt ftolz auf die Leitungen und den Ruhm der Firma; die Nation darf ftolz fein auf Männer wie Henry Broadwood. Der Mann, deſſen Seither fehr vermehrte® Vermögen ſchon zur Zeit der erſten Londoner Ausstellung über zwei Millionen Pfund betrug (alſo über 20 Millionen Silbergulden), fit um ſechs Uhr Morgens arbeitend an feinen Clavieren. Ein große Herr, wie nur irgend einer, iſt er doch ftolz darauf, Arbeiter zu fein. An feiner Fabrit fie gleicht einer kleinen Stadt kennt er jeden Gehilfen, jeden Winkel, jede Verrichtung. Mit einer Liberalität ohnegleihen macht Broadwood fremden lavier: madhern den Führer und Erklärer in feinem riefigen Inftitut, fern von der Kleinlichkeit auch nur des geringſten Geheimniſſes, der Hleinften Brahlerei. Ebenfo eifrig wie wir Broadiwood fanden,

Bon ber Ausftelung. 557

Andere zu belehren, ſahen wir ihn auch ſelbſt lernen und beobachten. Mit der gewiſſenhaften Aufmerkſamkeit eines Auf: ftrebenden prüfte er die Gigenthümlichkeiten der ausländifchen Snftrumente, und jelten hörte man neiblofere Anerkennung jedes fremden Verdienſtes. Sieht man vollends Broadwood als Haupt feiner Familie von einer trefflihen Frau und vier Ihönen Töchtern umgeben, in einem Haus, das, ohne allen prahleriſchen Flitter, von Aufgeräumtheit und Behagen glänzt, dann kann man fich die freudige Empfindung nicht verhehlen, ein ideales Bild engliihen Bürgerthums, engliihen Familien: leben geſchaut zu Haben.

Der Deutiche kann die Bemerkung nicht unterbrücden, wie jehr derlei große engliiche Unternehmungen durch die riefigen Dimenfionen ihres Capitals, Verkehrs, ihrer Arbeitöfraft und Speculation vor ähnlihen Fabricationen des Continents be— günftigt find. Die Broadwood'ſche Fabrik beiteht eigentlich aus zwei großen Gtabliffements, deren eines fih in der Great Pultney Street, dad andere, größere, bei Weſtminſter befindet. Regtered bebedt einen Flächenraum von mehr als einer halben Meile im Umfang und befteht aus vier parallel laufenden Reihen von Gebäuden, welche drei große Höfe bilden. Die Gebäude, durchgehend Doppeltracte, find 300 Fuß lang und enthalten durch drei Stodwerfe eine Doppelte Reihe von Werk— ftätten, in denen an 400 Berfonen ſich mit der Ausführung aller jener Arbeiten beichäftigen, welche nothwendig find, um vom erften Sägeichnitt bis zum feinjten mechanischen Detail ein vollendetes Piano herzuftellen. Die jährlichen Auslagen der Broadwood’shen Fabrik betragen in runder Summte 100.000 Pfd. St. oder eine Million Silbergulden. Jährlich liefert die Fabrik circa 2300 Claviere, alfo nicht viel weniger als alle Wiener Pianofortemacher zufammengenommen. Mit ſolchen Dimenfionen kann nun freilich der genialite Clavier— macher Deutfchlands nicht concurriren. Neben England iſt es vorzüglich Nordamerifa, wo derlei Fabricationen fich koloſſal entwickeln können, wo Talent und Arbeitöfraft den üppigiten Boden und felbit bei mangelndem Capital die Hilfe ausgiebigen Gredit3 finden.

558 Mufifaliihes aus London. (1862.)

Die Familie Steinway aus Braunſchweig jcheint für Amerika werden zu wollen, wad® Broadwood für England, Erard für Frankreich. Aljo in allen drei Fällen Deutihe von Abſtammung. Steinway’s Jnftrumente auf der Austellung zwei Flügel und ein Zafelclavier ftehen obenan unter den Glavieren, welche das meifte Auffehen erregt haben. Dieie Anftrumente beitechen durch ihren vollen, runden Ton, inter: ejfiren überdies durch finnreiche mechanifche Neuerungen. Es find darin (im gleichen Intereffe der Raumerjparnig wie der Tonfülle) die Baßfaiten überquer gejpannt; der Metallrahmen befteht aus einem einzigen Stüd gegofjenen Eiſens u. ſ. w. Bon allen mechaniſchen Verbeſſerungen ſchien uns die Methode Stein way’s, jo jung und wenig erprobt fie auch noch ſei, doch am meilten Gntwiclungsfähigfeit und Zukunft zu haben.

Die Oper.

Wenn von der »Dper in London« gejprocdhen wird, hat man immer an die italienijche zu denfen. Seit einigen Jahren ift zwar der Verſuch einer »engliihen National:Oper« wieder: holt gewagt worden, allein diefe ſchwächliche Schöpfung wird von den eigenen Landöleuten als Aichenbrödel behandelt und darf fih nur »hors de saison«, in den Wintermonaten bliden lafjen. Während der »Sailon« ein Begriff, der in London mehr als irgendivo auch in künſtleriſchen Dingen enticheidet gibt es nur eine italienijche Oper, und dieſe obendrein doppelt vertreten duch zwei rivalifirende Opern-Geſellſchaften im Gonventgarden und in Her Majelty’3 Theatre. Eine fo un— erhörte Ausdehnung italieniiher Opernmufit in fremdem Land muß heutzutage nicht wenig auffallen. Dies Feitfigen auf einem antiquirten Standpunkt charakteriſirt nicht nur die Hiftorijch ge: wordene Zähigkeit der Engländer auch in fünftleriichen Dingen, es beweilt eben jo ſehr ihre Verlegenheit, der Alleinherrichaft der wälfchen Oper eine ebenbürtige nationale Production ent— gegenzujegen. Seit den zweihundert Jahren, al3 die italienische Dper allmälig von Europa Belig zu nehmen begann, um ihn

Die Oper. 559

lange Zeit unbeftritten zu behaupten, hat fi in Deutichland und Frankreich längſt eine eigenthümliche nationale Kunſt ent: faltet und jene importirte wieder heraußgedrängt. In Paris be: fteht zwar noch die Gewohnheit einer furzen »italienischen Saiſon«, allein neben dieſer jegen rührig und umbeirrt zwei bis drei franzöfiihe Bühnen die Pflege der nationalen Oper fort. Weit entfernt, in der Saijon auf das Gaſtſpiel »aux Italiens« angewiejen zu jein, erbliden die Parijer faum mehr etwas anderes darin, al3 einen ariftofratiichen Lederbiffen. In Deutichland Haben nicht nur die ehemaligen Hauptfige der italienifchen Oper, Dresden, Minden, Berlin, die deutſche Dper längit vollſtändig an die Stelle der wälſchen treten laſſen, auch Wien hat den letten Nachklang derjelben, die dreimonat: liche Stagione im Kärntnerthor:Theater, als antiquirt aufgegeben. In London hingegen vertreten noch immer das gefammte große Kunitgebiet der dramatiihen Mufit zwei italienifche Gefell- ichaften. Sie herrichen während der ganzen Zeit allein, wo in Rondon überhaupt von Theater und Mufit die Rede ift, denn die ärmliche Comöddie, die unter dem prunfenden Namen »new royal Operetta-Housa« ihr dunkles Weſen treibt, iſt in Wahr: heit nicht3 anderes als ein ſchlechtes Waudeville-Theater.

Der künſtleriſche Einfluß der italienischen Oper in London ift im Vergleich zu ihrer Breite und Koftipieligkeit jehr gering. Wenn irgendwo die Oper den Kainsſtempel ihrer Entitehung, den Charakter höfiſcher leerer Grgöglichkeit noch aufweilt, jo ift dies der Fal in London. Dies Inſtitut, das fabelhafte Summen verihlingt, fteht mit der Nation nicht in dem leifeiten inneren Zujfammenhang. Es hat gar fein Verhältniß zu dem Boll. Nur die Geld- und Geburt3:Ariftofratie, verftärkt durch die neugierige Touriſtenſchaar, nimmt Antheil daran. Die ita- lienijche Oper zu bejuchen ift Mode, fie gehört zu den Saßungen des bon ton. Von dem innerlich erregten Antheil, mit welchen: in Deutſchland und Franfreih das Erfcheinen einer neuen oder die Wiederbelebung einer clafiiichen Dper aufgenommen wird, ilt hier feine Nede. Damit ſoll nicht etwa die Theilnahmölofig- feit des engliſchen Publicums denuncirt fein, ſondern zumächit die unausfüllbare natürliche Kluft zwijchen demjelben und der

560 Muſikaliſches aus London. (1862.)

italieniihen Oper. Kein Volk hat einen jo geringen fünftlerifchen Zufammenhang mit Stalien, dem Mutterland des Schönen, als das britiihe. Wenn wir heute eine italienische Oper in Wien organifiren wollten, wa® faum einem Wernünftigen mehr ein- fällt, jo Eönnten wir noch immer auf die künſtleriſche Bluts— verwandtihaft pochen. Unſer eriter Tondichter Mozart iſt ein Adoptivfohn Italiens, vor und neben ihm war es ber aller: größte Theil der »MWiener Schuler. Getränkt mit italienischen Kunftelementen, fteht Defterreich durch feinen italieniichen Länder: befig und das lebhafte finnliche Temperament des eigenen Volkes in fortwährendem räumlichen und geiftigen Zufammenhang mit dem Baterlande Cimaroja’s und Roſſini's. In den gebildeten Kreiſen Wiens ijt die Kenntniß der italienischen Sprache fo ver— breitet, daß das Publicum in der italienifhen Oper nichts weniger als ein mwildfremdes Idiom hört. In Paris herrſcht ein ähnliches Verhältniß. Die Franzojen, an fih ſchon den Ktalienern blutöverwandt, haben ihre nationale Oper auß der italienifchen herausgebildet, fie haben ihre beften Componiſten und alle beiferen Sänger in die Schule Italiens geſchickt. Aber England! Was hat England mit der italienifchen Oper zu Ihaffen? Außer einigen Gelehrten und Kaufleuten verfteht dort fein Menih Italieniſch. Es war in Her Majeity’3 Theatre, wo ic eines Abends den »Barbier von Sevilla« hörte. Ich war eritaunt, Zuchini, der in Wien als Doctor Bartolo von Laune förmlich überfprudelte, hier fo wirkungslos und unauf- gelegt zu finden. Ein Blid auf die fteinerne Miene des Publicums flärte mich raſch auf. Die Leute verftanden ja nicht eine Silbe vom Dialog und nahmen diejelben Späffe, die in Wien jhallendes Gelächter hervorrufen, fo feierlich ernfthaft auf, als ſpräche der fteinerne Gaft im »Don Juan«. Fremd, wie die Sprache, bleibt dem Engländer auh das Phantafier und Gemüthsleben des Italienerd. Jedermann weiß fich diefen Gegenjaß ſelbſt aus— zumalen. In feiner ganzen Wucht fühlt man ihn aber dennoch erft, wenn man London gefehen hat und feine ſchweigſam raſt— [ofen Bewohner, wie fie unter verdrießlich grauem Himmel und naßfalter Luft im »Geſchäft« des Lebens arbeiten. Man blide auf den Molo von Neapel und dann in irgend eine Cityſtraße

Die Oper. 561

von London, um zu millen, was eim äfthetiiches Volk und was ein praftiiches ift.

Sp, dem Wefen der italienischen Kunft fremd, muſikaliſch nicht hinreichend empfänglich noch. geichult, um jelbft im zwei— deutigen Sinn Feinfchmeder zu fein, ſucht der Engländer in der Oper nichts als eine glänzende Zerftreuung. Er läßt für feinen mufifalifchen Appetit, ohne viel Wahl, anrichten, »was gut und theuer« iſt. Theuer, das muß man einräumen, find die zwei italienischen Opern-Gefelliehaften, und »gut« genug jeden- falls, um ein PBublicum, das von der Kunſt nur Abjpannung, nie Anitrengung der Geiftesthätigfeit erwartet, leidlich zu amüfiren.

Zwei italienifche Opern-Geſellſchaften ſcheinen uns ſelbſt für London zu viel, Nicht für die Größe der Stadt, aber für die Qualität ihres äfthetiihen Bedarfed. Troß des enormen Fremdenzudrangs zur Weltausstellung jahen wir die italienischen Dpernhäufer an mehr ald einem Abend recht jchütter bejegt. Bon Händel bis auf Lumley Haben fih in London Die Banferotte der Opernpäcdhter nur zu oft wiederholt, und auch unter dem Nachfolger des letzteren joll der Mechanismus des Gagenzahlens mitunter jchon bedenklich geitört fein. Wären nicht manche Verſuche bereitö gefcheitert, man müßte glauben, daß in London neben einer italienischen Opern-Geſellſchaft eine deutiche und eine franzöfiiche befier am Plage wären. Nicht blos mit Rüdficht auf die zahlreihen Fremden und die vielen in London anfäjfigen Deutihen und Franzojen, fondern weil auch dem Engländer fih damit der einzige Weg öffnete, das Beite der gejammten Opern-Literatur fennen zu lernen. Die italienifhe Oper iſt in ihrem Horizont befanntlich weitaus die engite, ſowie die deutſche die am meilten kosmopolitiſche iſt. Mit ihren zwei großen italienifchen Gejellichaften entbehren die Engländer dennoch die Kenntniß der meiften deutichen und franzöfiihen Opern. Ganze Stylrichtungen und Kunftgattungen wie die franzöfiihe Opera Comique find ihnen verichlofjen; von deutſchen Opern fennen fie in italienifcher Zurichtung »Fidelio«, dann »Freifhüg« und »Martha«. Nur Meyer: beer haben ſich die Staliener begreiflichermweiie nn affi-

Handlid. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl.

562 Mufifaliiches aus London. (1862.)

milirt, er ift neben Verdi der eigentliche theatraliiche Regent in London.

Die Unternehmer der beiden italienifchen Opern im Co— ventgarden und Her Majeſth's find natürlich vor allen befeelt von dem Gefühle der Rivalität. Schade nur, daß fie dieſe Rivalität nicht dahin verftehen, fich jeder ein eigenes Repertoire, ein beſonderes Genre zu bilden, fondern im Gegentheil dahin, einander auf demjelben jchmalen Pfade fortwährend auf die Ferſe zu treten. Wenn Goventgarden anzeigt, e8 werde dieſe oder jene Novität in acht Tagen aufführen, jo fanı man Tags darauf mit Sicherheit die Annonce erwarten, Her Majeſty's Theatre werde die Ehre haben, diejelbe Oper jchon übermorgen zu geben. Während meines Aufenthaltes in London Hat jich dies buchftäblih mit den »Hugenotten«, »Don PBasquale« und »Robert der Teufel« zugetragen. Letztere Oper war in London jeit at Jahren nicht aufgeführt worden, aljo fo gut wie eine Nopität. Herr She kündigt fie für die nächſte Woche an, natür— (ih mit höchſt impojanter Bejeßung« und »beijpiellofer Voll— endung und Ausftattung«.*) Was thut fein Nival, Herr Mapplefon? Er jest die Oper auf übermorgen an und gibt fie mit zwei Proben. Die zweite Probe (am Tage vor der Aufführung) begann um 10 Uhr Vormittags und mwährte bis halb 3 Uhr Morgens. Zur Mittagszeit wurde dem Chor=, Ballet: und Orcheſter-Perſonale das Eſſen ind Theater gebracht damit fih Niemand aus dem Haufe entferne und nad einer furzen Raft die Probe bis zum Morgengrauen fortgefegt. Was lag an dem mangelhaften Enjemble einer todimüden

*) Man weiß nicht, ob man die marktjchreieriihe Faflung oder den Sprachwirrwarr der engliihen Theaterzettel mehr bewundern joll. Her Majeſty's Theatre zeigt z. B. wörtlich an:

»Thursday will be repeated (with unexampled completeness and effect) Meyerbeer’s chef-d’oeuvre Robert le Diable. With the following powerful cast: (folgt die Bejegung). Wir lefen in den Perjonen-Berzeichniffen u. A.: Signor Tamberlid, Madame PBenco, Mr. Faure, Herr Formes. Jeder Theaterzettel der beiden Herren ift ein Kauderwälſch aus drei Sprachen. Ja aus vieren jogar, denn iiber dem Perſonen-Verzeichniß heißt es in den fleineren Anzeigen noch mie zu Shafeipeare’3 Zeiten »Dramatis personaee«!

Die Oper. 563

Künftlerichaft; der Director hatte den »Robert« gegeben und wiederholt, ehe jein Rivale denjelben brachte, und ſomit all right!

Das Fünftleriihe Princip, wenn man es fo nennen mag, ift in beiden Theatern das jogenannte » Starfyitem«. Es werden nämlich einige »Sterne« (stars) als Mittelpuntt des Ganzen engagirt, um welche dann alles Mebrige in eiliger Mittelmäßig- feit gruppirt wird. Goventgarden, das in befjeren Gefchäften und in größerem Anfehen fteht, hat mehr Sterne und ein ge— ordneteres Planetenſyſtem; Her Majefty’3 wenig Sterne bei überdied dunflerem und unverläßlichem Himmel.

Ihrer Majeftät Theater auf dem Haymarfet, die— ſelbe erinnerungsreihe Bühne, für welde Händel die meilten feiner Opern gefchrieben, ilt eines der größten Opernhäufer.*) Für die unäfthetifche, wenngleich praftiihe Hufeilenform des Zuſchanerraums und defjen ardhiteftonische Dürftigkeit entfchädigt die vortreffliche Akuftit des Bares. Die leiſeſte Geſangsver— zierung hört man vollftändig flar auf den entfernteften Pläßen dieſes Haufes. Aeußerſt ftörend ift Hingegen das unverhältniß— mäßig große Profcenium. Drei Logen auf jeder Seite befinden ſich vollftändig auf der Bühne, jo weit ragt dieje ins Publicum hinein. Die Einrichtung Tchreibt fih aus den Zeiten eines enthufiaftifchen Balletcultus Her, wo jie den humanen Zmed hatte, gewiſſen Menſchen Menjchliches näher zu bringen. Für die dramatiihe Illuſion ift eine ſolche Bühne das Allerverderb- lichfte. Der Sänger, der gehört werden will, tritt fortwährend aus dem Rahmen der Handlung heraus und jteht mitten im Publicum. Was nüßt die ſchönſte Kirhhof-Decoration im Hinter: grund, wenn die Sänger zur Rechten und Linken feine Leichen: fteine, fondern Logen voll gepußter Herren und Damen haben? Die Wirkung der trefflichſten Decorationen, der geſchickteſten

*) Es iſt größer al3 Eoventgarden und gibt dem inneren Raum der Scala in Mailand nicht viel nach. Die Breite des Bühnenraumes beträgt beinahe 80, die Tiefe 62 Fuß. Die 5 Logenränge (210 Logen enthaltend), von denen die 3 eriten faft ausſchließlich im Befig der nobility find und für die Saiſon à 150-400 Guineen koſten, fafjen 1000 Berjonen, Barterre (pit) und Galerie zuſammen an 1600.

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564 Mufitalifches aus London. (1862.)

Scenirung geht an der Barbarei eines ſolchen Profceniums zu Grunde. Sie macht die große Tiefe der beiden Londoner Opern— bühnen zu einem Dritttheil illuſoriſch. Dieſe Tiefe der Bühne it unſchätzbar für die große Ausftattungsoper, Hingegen ein arges Hemmmiß für die komiſche und Gonverfation?-Oper. Im »Barbiere oder »Don Pasquale« wiſſen die drei bi vier fingenden Berfonen kaum, was in dem unheinlich weiten Raum anzufangen. Wenn Rofina vom Brofcenium an ihren Schreib: tiih oder gar zum Fenfter geht, jo Iegt fie eine fleine Reiſe zurüd. In Goventgarden, wo vor dem Brand (1856) der Vorderraum der Bühne noch größer war, fpielte man damals den »Barbier« vollftändig auf dem Profcenium, und ftellte un— mittelbar hinter die erite Goulifie den Hintergrund. Obwohl ein Nothbehelf, zeugte diefe Anordnung doch von der richtigen Einficht, daß alle Feinheit des Converſations-Stücks in fo weiten Räumen verloren geht. Das Beſte bleibt überall, die komiſche Oper, wie in Paris, in ein eigenes Eleinereg Haus zu retten.

Geiſtliche Muſik.

Wie die Oper der äußerlichſte Beſtandtheil des Muſik— lebens in England, ſo iſt deſſen echteſter und volksthümlichſter das Oratorium. Dieſe ſeltſame Seitenbildung der Oper hat ſich in England zum glänzenden Gegenpol derſelben aus— gearbeitet und eine Stellung errungen, die ſie in gar keinem anderen Lande einnimmt. Während in England die Oper als künſtlich gezogenes Gewächs ein gleißendes Scheinleben führt, der Nation fremd und gleichgiltig, ein Zeitvertreib den Reichen und den Fremden, blüht dort das Oratorium ſeit Händel's Zeiten in geſunder, zweigtreibender Kraft. Von allen größeren Kunſt— formen in der Muſik iſt das Oratorium die einzig populäre in England, die einzige, welche, mit den Anſchauungen und Ge— fühlen des Volkes tief verwächlen, eine ethiſche Macht über dasjelbe ausübt. In England ſelbſt wurde es uns erit recht ar, wie Händel gerade in diefem Land umd für diejes Volt ein Kunſtgenre ſchuf, das man die biblifche Concert-Oper nennen

Geiftlihe Muiif. 565

fönnte.*) Dem Geſchmack des Engländers entipricht darin ebenfofehr die Verkörperung biblifcher Geftalten, als muſikaliſch das ruhige, kräftige Pathos, der gleihmäßige, große Styl. Es ift gewiß nicht Lediglich das mufifalifhe Moment, was den Engländer in Händel’3 Oratorien die Vollendung aller Kunft, in Spohr's und Mendelsjohn’s Oratorien die Spiten der modernen Runft preifen läßt, der religiöſe Inhalt fpielt in dieſe Vorliebe mit hinein; doch nur ſchroffe Ungerechtigkeit vermöchte das größte und befte Theil der Händel:Verehrung in England auf das geiftlihe Fundament allein zurüdführen wollen.

Händel ift in feinem Vaterland beiweitem nicht jo populär, wie in England. Dabei ift fein Humbug. Das englifche Volk, foweit es überhaupt der Muſik zugänglich ift, fennt den »Meffiad« jo genau, wie etwa ein deutſches Publicum den »Freifhüß« oder die »Zauberflöte«. Wie wäre es auch fonft möglich, daß die Taufende von Sängern (Dilettanten), welche aus ganz England zu dem Händelfeft zufammenftrömen, den »Meſſias«, »Iſrael« u. dgl. mit Einer Gefammtprobe fingen! Lichtenberg jchrieb einmal aus London an Boye, Shafe jpeare werde in England nicht wie ein großer Schriftiteller verehrt, jondern wie ein Heiliger. Dies gilt weit unbedingter von Händel. Der Händelcultus ift die eigentliche muſikaliſche Religion in England. Als oberites Conſiſtorium dieſes Cultus fungirt die Sacred harmonie soeiety Geſellſchaft für geift- fihe Mufit) in London. Dieſes berühmte Snjtitut man darf e3 wohl die erſte muſikaliſche Gejellfhaft der Welt nennen verdient etwas näher betrachtet zu werden.

Es war in den legten Tagen des Jahres 1832, daß in London ein Kreis mufifliebender Dilettanten die Gründung einer Gejellihaft beihloß, welche ausichließlih der Pflege geiſtlicher Mufif gewidmet fein follte. Die ausübenden Mufik:

*) Für den Schöpfer der modernen Oratorienform müffen wir Händel troß der vielen älteren »Oratorien« halten. Den erften äußeren Anitoß zu feinen Oratorien gab bekanntlich das von der eng: liſchen Geiitlichfeit erlaffene Verbot, eine biblifche Oper »Either« auf dem Theater aufzuführen, worauf fie dann Händel in der noch heute üblichen Concertform (in still life) vorführte.

566 Muſikaliſches aus London. (1862.)

freunde (»Amateurs practitioners of music«), welche diefe Ge— jellihaft bildeten, hatten anfangs weniger die Veranftaltung großer Goncerte, als die eigene Hebung und Erbauung im Auge. Sie verfammelten ſich wöchentlih einmal des Abends, und zwar anfangd in einer Gapelle in Lincoln’: Inns Field (Gate Street). Da hatten fie die Benügung der Localität und der Orgel unentgeltlih. Als ihr aber diefe Erlaubniß bald wieder entzogen wurde, war die junge »Sacred harmonie soeiety« in großer Lebensgefahr, denn es fehlte ihr an Geld. Dennoch ftanden die 31 Mitglieder, aus welchen damals Die Gejellihaft beftand, unerichroden zufammen, errangen ſich zus nächſt die Benügung einer Capelle in der Henriettenftraße, und mietheten endlich für ein halbes Jahr einen Saal in Ereter Hal. Nachdem fie im Jahre 1833 zwei Concerte gegeben, hatten fie Ende December ein Deficit von 20 Pfund Sterling. Dies betrübende Endrejultat wiederholte fih nod bis ins Jahr 1836, ein Beweis, daß die Gejellihaft redlich zu fämpfen hatte. Sie verlor aber nicht den Muth, vermehrte 1836 die Zahl ihrer Eoncerte auf acht und 1838 auf eilf. Ihr endlihes Aufblühen datirt von dem Zeitpunkt, wo Die berühmten geiftlihen Concerte in der MWeltminfterabtei jeltener wurden und endlich (1840) ganz eingingen. Ihre Erbſchaft ward gleichjfam von der Sacred harmonie society angetreten, und zwar mit ungleich außgebildeteren Kunftmitteln. Im teten Wachsthum entwidelte ſich die Gefellichaft, bis fie durch Die Veranftaltung des großen »Hänbelfeites« im Jahre 1859 den Gipfel ihres Anfehens eritieg. Die eier des Hundertiten Zahrestages von Händel’ Geburt, in Deutſchland beinahe ignorirt, wurde damals befanntlih in London durch ein drei: tägiges impoſantes Mufiffeft gefeiert. Der immenfe Erfolg desſelben veranlaßte den Entſchluß der Gejellihaft, alle drei Sahre ein folches »Händelfeit« im Keryftallpalaft zu Sydenham unter Mitwirkung aller mufifaliichen Kräfte des ganzen Reiches abzuhalten. Bon dem NReinertrag des Händelfeftes 1859 hat die Sacred harmonie soeiety nicht weniger als taufend Pfund Sterling in ihren Unterſtützungsfonds eingelegt. Diejer Wohlthätigkeitsfonds ift eine trefflihe Einrichtung. Durch frei-

Geiſtliche Muſit. 567

willige Beiträge, dann durch die Ueberſchüſſe der Subſcriptions— gelder gegründet, gewährt dieſer, gegenwärtig ſchon ſehr an— ſehnliche Fonds jedem Künſtler oder Dilettanten, der irgend einmal mit der Gejellihaft in Verbindung ftand, den Anſpruch auf eine augenblidliche oder periodifche Unterftügung für den Fall der Hilflofigkeit. Diefer Fonds, welcher gegenwärtig bereits ein gefichertes jährliche Ein: fommen von 100 Pfund Sterling ausweiſt, unterftüßt manchen verarmten oder erfranften Mufifer, der vielleicht drei- oder viermal in den Goncerten der Gejellfihaft mitgewirkt Hatte; ja die Nechenichaftsberichte erzählen von regelmäßigen wöchent— Iihen Aushilfen, welhe an arme Witwen verftorbener Mit: glieder verabfolgt werden. Wie jchön bewährt fich hier die mild und mohlthätig ftimmende Macht der Mufit, und wie tüchtig hat der engliiche Affociationsgeift es verftanden, die edle Negung gleich praftifch zu organifiren !

Gleich dem Unterftügungsfonds der Gejellihaft ift auch deren werthvolle Bibliothek vorzüglich durch freiwillige Bei— träge und größere Schenfungen entjtanden. Dieje in Ereter Hall trefflih aufgeftellte Sammlung fann von den Mitgliedern an Ort und Stelle oder dur Entlehnung von Werfen benützt werden. Sie enthält 2324 Nummern, von höchſt werthoollen Antiquitäten bis zu den neueſten mufifaliichen Büchern und Gompofitionen herauf, an der Spige natürlich alle eriftirenden Händel-Ausgaben, Sammlungen und Arrangements. Dieje Bibliothek kann fich Freilich mit der zehnfach ftärferen unferer »Geſellſchaft der Mufikfreunde« nicht meſſen, noch weniger mit den mufilaliichen Schäßen der Wiener Hofbibliothef. Allein ein Buch befißt die engliiche Gefellichaft, um das die Wiener Bibliotheken fie bemeiden fünnen: einen gedrudten pollftändigen Katalog ihrer Werke. Die Mitglieder der Sacred harmonie society (gegenwärtig iiber 800) find meiſtens Dilettanten aus den arbeitenden Mittelclaffen Londons, Kaufleute, Beamte, - Handwerker mit ihren Frauen und Töchtern. Die zu den Gone certen beigezogenen Fachmufifer bilden einen verichwindend Heinen Theil. Aus der eigenthümlichen Zuſammenſetzung der Sejellichaft und ihrer Direction läßt ſich ſchon herausleſen,

568 Muftfaliiches aus London. (1862.)

daß das Inftitut vollitändig im Wolfe wurzelt und von wahrer Liebe zur Sache gehalten ift.*) Das find andere Namen als in »Her Majeſty's Theatre«e. Die Oper in London ift ariſto— frattich, ihr Befuh Modeſache; die Oratorien-Muſik ift demo— fratiich, und der Antheil daran Herzensſache.

Ihre regelmäßigen Concerte gibt die Gejellihaft in Der impojanten Ereter Hall in der City, Im Sahre 1860 fanden vierzehn ſolche Concerte ftatt; neun Abende entfielen auf Hän— del’iche Oratorien, worunter dreimal der »Meſſias« Haydn’s »Schöpfung«“, Mendelsſohn's «Eliad« und »Lobgejang« theilten fi in den Reit.

Ich hörte Haydn's »Schöpfung« in Ereter Hall. Es ge— hört zu den überrafchenditen Anbliden, wie fih vor dem Zufeher in fchroffer Steigung ein Gewirr von Notenpulten und Injtrumenten aufbaut, dahinter breite, weite Flächen, hier weiß, dort ſchwarz die Sänger und Sängerinnen und hinter alldem die blinfenden Pfeifen der gemaltigen Orgel! Der Saal er faßt 3000 Menichen erjcheint zwar wie ein Kinderjpiel gegen den Kryſtallpalaſt, allein er iſt doch gleihfall3 nur für Maffenwirkfungen geeignet, für die diden Pinjelftrihe gewaltiger Chor: und Orcheſterfresken. Die Eolo- ftimmen fämpfen fi) mühſam aus diefer Umgebung heraus. Frau Jenny Lind-Goldihmidt fang die Sopranpartie, Mir Alle haben einst für dieſe fingende Fee geihwärmt; warum ſoll ichs nicht vor Allen eingeitehen, daß ich mit Bewegung dem Moment entgegenfah, wo fie heraustreten follte! Sch erfenne die Stimme, wie man ein halbverwittertes Bild nad

*) Die von der Geiellihaft gewählte, unentgeltlih fungirende Direction beiteht gegenwärtig aus folgenden Herren: Carmichael (Baumteijter), Ford (Commis), Hanhart (Buchdruder), Hill (Com: mis), Kitcat (Kaufmann), Milliar (Kaufmann), Beacod (Wedel: mäller), Puttik (Muctionär), Sherrarel (Schneider), Sims (Mechjelmäkler), Stewart (Schneider), Whitehorn (Commis), Will cocks (Commis), Withall (Mdvocat), Husk (ANdvocat), Taylor (Zinugießer), Brewer (Schullehrer), Bowley (Scuiter). Leßterem gebührt das große Verdienſt, die Händelfefte im Kryſtallpalaſt organtlirt Zu haben! Präſident der Geiellichaft iſt der Tabakhändler Harriſon.

Geiftlide Muſit. 569

Sahren wieder erkennt. Die Töne kommen ſchwach und ver— chleiert, in hohen fräftigen Stellen mit Anftrengung. Ich will e3 glauben, daß es im traulichen Familienzimmer noch immer entzüdend fei, fie Lieder fingen zu hören. Allein die unbarme berzigen Concertjäle Londons jollte unfere Nachtigall fliehen. An dem Beifall des Publicums wird fie freilich lange nicht gewahr werden, daß ihre Stimme am Anfang des Endes ift. Das engliiche Publicum ift beilpiellos in Sachen der Pietät, und in Jenny Lind Hat e3 die doppelte Virtuofität zu ehren: der Kunſt und der Mohlthätigkeit.

Bei aller Großartigfeit der Concerte in Ereter Hall ver: halten ſich dieje Doch zu einem »Händelfeſt« im Kryftallpalaft wie ein Streichquartett zur großen Symphonie. Diefe Händel: feite (das erite fand im Sahre 1857, daS zweite im Jahre 1859, das dritte im verfloffenen Juni ftatt) verdanken ihren Uriprung der »Sacred harmonie soeiety«, melde, den rein muſikaliſchen Theil bejorgend, fich wegen des übrigen Arran— gement3 mit der ⸗Kryſtallpalaſt-Compagnie« afjociirt. Dies oft geichilderte Mufikfeit bier abermals jchildern zu wollen es wäre ein eitel Unternehmen. Wer diefen unermeßlichen Glas: palaft betritt, der glaubt, auch ohne jedes Mufikfeft, fich in ein koloſſales Feenmärchen verfegt. Nun füllen fich die gloriofen Räume ded Palaftes von Glas. »Man denke fiche, ruft ein älterer Berichterftatter aus, »diefen 40 Millionen Kubikfuß fonnigen, kunſt- und naturverflärten Raums einjfchließenden kryſtallnen Palaſt mit 30.000 Köpfen neben und in fünf (uftigen Galerien übereinander gefüllt. Dazwiſchen ragen Tau: jende von Statuen und Büſten, leuchtend zwiſchen Palmen und Platanen, Bannern und Orangen, riefigen Schlinggewächſen und hängenden Gärten, mit Hiftorifhen und industriellen Court, foloffalen Neiterftatuen, beichwingten Wictorien u. j. w. Bor uns viertaufend fingende, geigende und blajende Mufifer unter der großen Orgel verfammelt zu fehen, ringsumher das farben- bunte, umabfehbare Publicum, und überall die erftaunliche Arrangement, welches jedermann Leicht feinen Sit finden ließ und Allen geitattete, fih in den Pauſen beliebig im ganzen Palaft zu ergehen. Das allein, ehe noch ein Ton Mufif

570 Mufitaliiches aus London. (1862).

erklang, war ein Gindrud von bezwingender Großartigfeit ! Kein Land der Welt vermöchte Aehnliches hervorzurufen.e Diele Neigung für das Koloffal-Große, zugleih aber das kühne Geſchick, es praftiich zu geitalten, charakteriſirt auf künſtleriſchem Felde den Engländer. *)

Dem Sundigen braucht nicht erft verfichert zu werden, daß der eigentlich mufifalifhe Genuß dabei ein fehr bedingter und beſchränkter ift. Bon feiner Schattirung und Belebung fan bei einem ſolchen Tonförper feine Rede fein.**) Wo Die Mufit den Charakter impofanter Kraft und Feierlichkeit an: nimmt, da iſt die Wirkung unbeichreiblid. Niemand, der den »Meſſias« im Kryitallpalaft gehört, wird jemals den Ausruf: »Wonderful!« vergefjen, der in dem großartigen F-dur-Chor mit der höchiten Kraft des ganzen Chors und Orcheſters die Räume durchichmettert. Das ift ein Donnerſchlag in Harmonie gebracht. Derlei Mafjen-Effecte, unterftügt von den eigens für den Kryſtallpalaſt verfertigten Niefenpaufen und einer vor— weltlih großen Trommel, wirken ungeheuer. Alles Uebrige fällt dagegen ab, oder hat Mühe, fich überhaupt vernehmbar zu machen. Wenn einer der Solojänger fein Recitativ beginnt, jo iſt's als käme das fleine Stimmen von 50 Meilen weit ber. Das gleichzeitige, haarſcharfe Zufammentreffen der Chor: einfäge mit dem Taftirftab des Dirigenten ift bei einem ſolchen Körper nicht möglich; man fieht den Gapellmeiiter ſtets um etwa eine Achtelnote vorausſchlagen. Coſta dirigirt diefe Muſik—

*) Einige Zahlen dürften die Dimenfionen dieſes Feſtes un— gefähr anschaulich mahen. Im Sahre 1859 war während der Haupt: probe und der drei Feſttage der Kryſtallpalaſt im ganzen beiudht von 81.309 Berfonen. Die Brutto-Einnahme betrug 35.000 Pfund Sterling. Bon den NReinertrag (20.000 Pfund Sterling) erhielt ein Drittel die »Sacred harmonie society« und zwei Drittel die Actionäre des Kryſtall— palaſtes.

**) Das Orcheſter beſtand aus 98 erſten, 96 zweiten Violinen, 75 Violas, 75 Cellos, 75 Contrabäſſen, 86 Blas- und Schlag— Inſtrumenten: zuſammen 499 Spieler. Den Chor bildeten 810 So— prani, 810 Alti, 750 Tenöre, 750 Bäſſe: zuſammen 3120 Stimmen. Die Soloſänger, Dirigenten, Organiſten ꝛc. dazugezählt, gibt eine Summe von nahezu 4000 Perſonen.

Geiſtliche Mufit. Händel-Feſte. 571

ſchlacht mit der nöthigen Kraft und Kaltblütigkeit; manche Willkürlichkeiten, wie das häufige Verſtärken der Bäſſe durch Ophykleiden, wird ihm kaum ernſtlich verdenken, wer je »bei Sydenham« dabei war.

Daß ein Feſt von ſolchen Dimenſionen nicht lediglich ein Ausbruch von Händel-Enthuſiasmus, ſondern gleicherweiſe Gegenſtand einer großen kaufmänniſchen Speculation iſt, ver— ſteht ſich. Mehr vielleicht als irgendwo klammern ſich in England mercantile Antereffen an f£inftlerifhe Unternehmungen, Wir haben hierüber manch wunderliche Thatſache in petto, die fein Künftler vom Kontinent vertheidigen wird. Allein gegenüber dem Händelfeft fcheint uns das einfeitige Betonen der Spe- culationen ungerecht. Es ift wahr, die Crystal Palace Company denft dabei nur an ihre Bilanz; fie macht ein Geihäft in »Hündel«. wie fie Tags darauf ein Geichäft in Kohlen mad. Allein die künſtleriſche Feier Teidet nicht darunter, daß das Gomite fih darauf verfteht, Taufende von Beſuchern anzu— Ioden. Zu Ehren eine großen Tondichters 10.000 Pfund riöfiren, damit das Dreifache gewinnen und am Ende Das impofantefte Mufikfejt des Jahrhunderts hergeitellt haben, das mag man bei uns »echt englifch« nennen, gewiß aber nur im rühmenden Sinne. Zeugniß für das ehrfurchtsvolle mufifaliiche Intereſſe der Hörerichaft geben dieſe drei, ausſchließlich Hän— del’ihe Mufif bringenden Feſttage. Sch ſah manch deutichen Händelfreund und Händelfenner dabei ungeduldig werden, den engliihen nicht. Sit es nicht die großartigite Huldigung für Händel, wenn fich bei den erften Tönen des gewaltigen »Halle- Iuja!« Alles von den Sißen erhebt! Diefer Ehor ift nebit der Volkshymne (God save the Queen) die einzige Mufik, die in England jederzeit ftehenden Fußes und mit entblößtem Haupt angehört wird. Ein merfwürdiges Zeichen von dem ernten und intimen Verhalten des engliſchen Publicums zu Händel find die billigen Ausgaben feiner Oratorien, Die um ein Spottgeld ausgeboten, und maſſenhaft bei jeder Aufführung gekauft werden. Im Kryftallpalaft wurde eine nee Ausgabe des »Meſſias« (volljtändige Geſangspartitur mit Clavierbeglei: tung) um den unglaublichen Preis von 16 Pence verkauft;

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eine größere, ſchönere Ausgabe um zwei Scillinge! In dem: jelben bequemen Großoctavformat im netteften Typendruck hat der Verleger Novello nicht nur alle Händel’ichen, ſondern auh die Dratorien von Haydn, Mendelsjohn, Spohr, die Meflen von Beethoven und Mozart u. ſ. w. erfcheinen laſſen. Wie ungemein wird dadurch die Kenntniß der beiten Meiiterwwerfe verbreitet! Für eine Bagatelle, um wenige Prennige theurer als die Tertbücher im Opern-Theater, Fauft man in London am Gingang zum Concertfaal den »Clavier— auszug mit Tert« eines großen Oratoriums. Der größte Theil der Zuhörer hat auch denſelben während der Production zur Hand und Lielt aufmerkffam mit. Bedenkt man nun, daß bei jeder Aufführung in Ereter Hall Hunderte, und im Kryitallpalaft Tausende von Exemplaren des betreffenden Oratoriums ver- fauft find, welche nah dem Concert im Yamilienfreife durch genojfen, und für lange Zeit Gegenftand der Ergögung und des Stubiumd werden, jo muß man die Engländer um dieſe Seite ihres Mufiflebensd beneiden. Der Einwurf, daß Novello mit diefen billigen Ausgaben ohne Zweifel nur jeinen eigenen Nugen bezwede, berührt und natürlich auch hier nicht im ent: fernteften. Novello muß, wie wir auß guter Quelle erfuhren, etwa 30.000 Eremplare feiner billigen DOratorien verkaufen, um die Koften vollitändig gedeckt zu Sehen, dann erit beginnt jein Profit. Wir können ihm denſelben nicht Hoc genug wünſchen. Für den Vertrieb diefer Dratorien-Außgaben iſt aud) echt engliich gelorgt. Nicht nur colportiren in London Hunderte von Händen Diele Ausgaben und Hunderte von Kehlen rufen fie aus, auch auf aller Eifenbahn-Stationen im ganzen Reich werden fie wochenlang vor einer Aufführung feilgeboten. Uns würde es allerdings in namenlojes Staunen verjegen, wenn wir im Liefinger Bahnhof Beethoven’3 D-Mefje würden feil- bieten oder in Baden die Paſſagiere mit dem »Sirael in Egypten« in die Waggons fteigen ſähen. Es iſt dies einer jener englifchen Einfälle, die zwar nad) Geld ausgehen, aber auf dem langen Wege dahin fortwährend Gutes wirken. Mag immerhin Merkur ſäen, wenn nur Minerva miterntet.

Vereine. Concerte. 573

Vereine. Concerte.

Der Zug don Großartigfeit, welcher die gefammte Kunſt— pflege in England charakterifirt, Fehlt auch dem eigentlichen Goncertwejen nicht. Er äußert fi zunächſt in der Maſſen— haftigfeit des Gebotenen ; tiefer ruht er in der vielverichlungenen Affociation der Kräfte. Als merfwürdigftes Beiſpiel der letzteren fchilderten wir bereit3 die »Saered harmonie Society« und ihre Verbindung mit der Kryftallpalaft:-Compagnie zur Durchführung der Händelfeſte. Außerdem iſt die Zahl der muſikaliſchen Geſell— ihaften in England erftaunlih. Ein interefjfanter Wegweiſer darin ift der jährlich in London erjcheinende mufifaliiche Adrep- falender (»Musical Direetory«). Das Verzeichniß ſämmtlicher Mufilvereine und die Adreſſen aller engliihen Tonkünſtler, Muſiklehrer und Verleger bededt in diefem Kalender 112 eng— gedrudte, doppelipaltige Seiten. Indem wir den Jahrgang 1862 durchblättern, zählen wir jehzig Mufifvereine in London und deren 170 außerhalb London. Davon entfallen auf Birming: ham 6, Ganterbury 4, Dublin 7, Mancheſter 8, u. ſ. w. Seit mehr als AO Jahren haben diefe Städte, dann Gloueeſter, Morceiter, Hereford, Norwich, Vork ꝛc. 2c., ihre periodiich twiederfehrenden Mufikfefte, meilt zur Zeit der jährlichen Gerichts: Sejjionen.*) Die mufifaliihe Centralijation in Zondon ijt dem: nach feine jo egoiſtiſche und ftraffe, daß fie das Land gleichſam mufifalifch veröden würde. Obendrein kommt der lleberfluß der Hauptftadt hier den Provinzftädten in regelmäßigen Sreislauf zugute. Gegen Ende ımd nad Ablauf der »Saiſon« in London veranstalten die eriten Künftler, einzeln oder zu Kleinen Gruppen vereinigt, Gaftreifen in die Provinz. Sie finden dort häufig mehr Theilmahme, äſthetiſche und finanzielle, als in der mufi- falifch erdrüdten Hauptitadt. Die Städte der vereinigten König: reiche erfreuen fich bedeutenden Wohlſtandes und bringen der Kunst gern ihren Zehent.

*) Intereffant ift die »Mufikaliiche Gefellihafte in Cambridge, die (Chor und Orcheſter) ausichließlih aus Univerſitäts-Mit— gliedern beiteht.

574 Muſitaliſches aus London. (1862.)

Die Mufitvereine in den Städten beitehen größtentheils aus Dilettanten, die zu regelmäßigen Uebungen und Produc— tionen im Chorgefang oder Orcheiterjpiel fich vereinigen. Zu ihren größten Aufführungen, namentlih Oratorien, laſſen fie für die Solopartien berühmte Künftler aus London kommen. Dieſe künſtleriſche Hilfeleiltung iſt mechielfeitig, denn Die PBrovinzftädte find es, die wieder ihrerſeits dad Hauptcontingent zu den großen Händelfeften nach London jenden. Die Vor: bereitung dafür bildet das Jahr hindurch eine Hauptaufgabe der meilten Landvereinee In vorzügliher Achtung ftehen namentlich die Musical Soeiety in Mancheſter (mo deutiches Element ſtark einwirkt) und die Oratorien-Geſellſchaft von Liverpool. In Liverpool zahlen 400 überzählige Mitglieder eine halbe Guinee für das Vorrecht, Concertbillete in den jeltenen Fällen faufen zu Dürfen, wo durch Abweſenheit oder Erkrankung von Abonnenten ein Sit disponibel wird. Bon der »Provinze fpriht daher der engliihe Muſiker mit mehr Rejpect, als der deutsche oder franzöfiiche es thun dürfte.

In London behauptet unter den Orchefter-Vereinen die »Philharmonie Soeciety« hiſtoriſch wie künſtleriſch den erſten Rang. Sie ift die oberfte Behörde für die Inftrumentalmufi, ungefähr wie die Sacred Soeiety für dad Oratorium. In der Bortrefflichfeit der Leitungen fteht fie allerdings unter ber legteren. Bon jeher Hatten die Engländer weniger Sinn für die Inftrumentalmufif, al3 für den Geſang. Die Bildung tücdh- tiger Orcefter und ftehender Vereine dafür hat fih darum in England verhältnigmäßig ſpät entwidelt. Die Philharmonie Soeiety tft genau fo alt wie unfere »Gejellihaft der Muſik— freunde«, und feiert demnächſt mit diejer zugleih ihr fünfzig: jährige® Jubiläum. Cine fleine Anzahl von Fahmufifern gründete die Gejellihaft, Hauptfählih, »um die Meiftermwerfe Haydn’3, Mozart’ und Beethoven's, bisher dad Eigenthum eine beſchränkten Kreiſes von Kennern, endlih dem großen Publicum bekannt und werth zu macen«.* Zwanzig Sahre

*) »The philharmonice Society of London«e. By George Ho- garth. London 1862.

Vereine. Goncerte. 575

vorher hatten freilich Haydn’ Koncerte der Inſtrumental— muſik in London einen großen Aufihwung gegeben, allein er war nit nachhaltig. Die Unternehmung des trefflihen Salo— mon fand Feine Nahahmung, und Haydn’ Symphonien wurden nicht mehr gehört. Herr G. Hogarth conitatirt, daß- zur Zeit der Gründung der Philharmoniſchen Geſellſchaft nicht ein Orcheſter in London beſtand, das fähig oder geneigt gewejen wäre, reine Anftrumentalwerfe aufzuführen. Die Opern-Orcheſter beichränften ſich auf ihren Theaterdienft, und die »Ancients eoncerts« ſchloſſen ftatutenmäßig die Werke aller Componiften aus, die nicht feit wenigſtens dreißig Jahren veritorben waren. Da beſchloſſen die Gründer der Philharmoniſchen Gejellihaft, diefe Lücke durh Aufführung von Orcefter- und Kammermuſik zu füllen. Soloftüde und Duos follten ausgeſchloſſen, Geſang nur mit Orchefter-Beglei- tung zugelaflen ſein. Die Gejellihaft, beitehend aus 30 Mit: gliedern und einer unbeichräntten Zahl von Theilnehmern, machte feine geringen Anſprüche an deren Kunfteifer. Jedes Mitglied und jeder Theilnehmer hatte jährlih drei Guineen einzuzahlen, und erhielt nicht das mindeite Entgeld für feine Mitwirkung. Die Einnahmen wurden blos für die fünftlerifchen Zwecke der Gejellichaft verwendet. Das Orcheſter, gebildet aus den beiten Mufifern jener Zeit, wurde in den Concerten ganz eigenthümlich, nämlich wie das alte Rom von zwei Conjuln regiert. Der eine, der »Orcdefter-Director« (Salomon), mußte als erjter Geiger feinen Part jpielen und gleichzeitig dem Orcheſter die Tempi angeben. Der zweite (Clementi) jaß am Clavier, die Bartitur vor fih, und »überwachte« die Richtigkeit der Ausführung Es begreift fih, daß auf Diefe Weile feiner der beiden Dirigenten feine Aufgabe vollftändig löſen founte. Die eigenthümliche Zähigkeit der Engländer hielt indeß diejen Gebrauch feſt, bis Spohr nad) England fam und den Muth hatte, das Directiond:Clavier zu befeitigen, und jeine Sym— phonien aus der Partitur mit dem Taktſtock zu dirigiren. Zu— erft ſprachlos vor Entjegen, erfannten Hörer und Spieler dennoh bald das Zweckmäßige dieſer Ketzerei, und ſeither dirigiren die Engländer wie andere Menſchen.

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Kammermuſik bildete anfangs einen weſentlichen Beſtand— theil der philharmonifhen Concerte, denn wo hätte das Pu: blicum Haydn’ und Mozart's Quartette fonft hören jollen? Erjt ala mit der Zeit eigene Duartettvereine fich bildeten, concen- trirte fih die Gejellichaft immer mehr auf ſymphoniſche Muſik. Ihr Concertfaal (urfprünglih Argyll-Rooms, jpäter der Opern: ſaal, endlich, feit 1833, die eleganten und geräumigen »Han— nover-Square-Rooms«) wurde der Boden, auf dem Alles, mas im Bereih der Inftrumentalmufit für England denfwürdig. ift, fi) zutrug. Hier dirigirte Cherubini feine Duverturen ; bier jpielten Gramer, Kalfbrenner, Hummel, Moſcheles ihre Goncerte; bier feierte Spohr (1820) fein erſtes Auftreten in England, um für alle Zukunft einer der gefeiertiten Lieb: linge des Landes zu bleiben. Die Philharmonifche Gejellichaft begründete die Popularität der Beethoven'ſchen Symphonien in England, gab ſchon im Fahre 1825 die Neunte Sym: phonie*), und fendete, ohne einen Moment des Befinnens, Dem fernen Meifter ein Geſchenk von 100 Guineen, als diejer frant und ſchwach genug war, es anzuſuchen.

Als Dirigent in den philharmoniichen Concerten (1826) genoß Karl Maria Weber feinen eriten Triumph auf dem Boden, der ihm bald fo verhängnißvoll werden folltee Men— delsſohn's früher Ruhm als Birtuofe und Tondichter datirt nicht zum Hleinften Theile von feinen Auftreten in der Phil: harmonischen Gejellihaft. Hier geihah die erfte Aufführung der Duverture zum » Sommernadhtätraum« und der »Hebriden«. Die A-dur-Symphonie und vieles Andere von Mendels— John ift in Folge ausdrüdlicher Beitellung für die » Gefell- ſchaft« gefchrieben; ebenio Spohr’s fünfte und feine »hiſto— riſche Symphonie. Dieſe Thätigkeit der Philharmoniſchen Geſellſchaft, nämlich die unausgeſetzte Anregung ausgezeichneter Zeitgenoffen zu neuen, großen Orcheiterwerfen, kann man nit

*) Im Concertprogramm war das Werk angeführt als: »Neue große, charakteriltiiche Symphonie mit Vocalfinale; Manuſcript, eigens für dieſe Gejellihaft componirte. Der Erfolg war freilih ein so zweifelhafter, daß die Gejellihaft zwölf Jahre vergehen ließ, ehe fie eine Wiederholung des Wertes wagte.

Bereine. Concerte. 577

riihmend genug anerkennen. Unter den Millionen eines mufi- faliihen Vereins gibt es vielleicht Feine ſchönere. Die Libe— ralität und noch mehr die würdige, den Genius ehrende Weife, in welcher die Philharmonie Society derlei »Beltellungen« machte, haben und oft mit Freude und zugleich mit Trauer darüber erfüllt, daß wir Mehnliches in unferem Vaterlande faum fennen.

Bei Mendelsſohn's Werfen hat die Philharmonifche Sejellihaft Halt gemadt. Sie bilden neben Beethoven und Spohr das Hauptcapital diefer Concerte, die befanntlic) Mendelsſohn's Schüler und Stylverwandterr Sterndale Benett leitet. Schumann’ erſte Symphonie und feine »auf Jenny Lind's Befehl« gegebene »Peri« befremdeten und verihmwanden. Berlioz erregte Unbehagen, Richard Wagner Abihen. ES dürfte eine Weile dauern, ehe das klaſſiſche Directorium der »Philharmonifer« fi wieder an Schumann wagt; Berlioz und Wagner dürften es überhaupt nicht erleben. Der Engländer ift in der Muſik conjervativ, wie überall. Er hegt mit Liebe und Pietät, was er alß trefflich überfommen und fich ajftmilirt hat. Allein äußerſt jelten ge— lingt es ihm, den Genius zu erkennen und zu begrüßen, fo lange diejer noch Incognito reift. Hat einmal die Zeit dem Genius: den Stempel der Clajfficität aufgebrüdt, dann wird er fih über das engliihe Publicum nicht zu beklagen haben.

Was wir von Aufführungen der Philharmonie Society gehört, hat uns mäßig befriedigt. Es fehlte nicht an Kraft und Energie, wohl aber an Feinheit der Scattirung. Trefflic) wirken die grellen Lichter, die breiten Grescendos, der Sturm der Paſſagen; allein die zarten, halbverfchleierten Züge, aus denen des Dichter Seele am rührenditen fpridt nur eben nicht zu jedermann fie werden in diejer entjeglichen Deut- lichkeit und Solidität erdrüdt. Die Violinen find trefflich, die Bläſer etwas roh und nicht rein in der Stimmung. Mit den Aufführungen der »Gefellichaftöconcerte« oder der »Philhar— moniihen«e in Wien tft das Belte, was London in dieſem Fach bietet, nicht entfernt zu vergleihen. Das liebevolle, detaillirte, durch viele Proben fich verfeinernde Einjtudiren fennt

Sanslid. Aus dem Goncertiaale. 2. Aufl. 37

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der Engländer nicht. Die Philharmonie Soeiety macht zu jedem ihrer Concerte nur eine Probe. Ihr Dirigent, Benett, fommt lectionenmüde und gelangweilt an das Dirigirpult; Gründe genug für die Gefellihaft, um nicht ohne große Noth von dem alten bewährten Repertoire abzugehen.

Ausſchließlich claſſiſche Concerte gerathen mit der Zeit in die Gefahr bequemen Schlendriand. Zu Anfang der Fünf: zigerjahre war die Philharmoniſche Geſellſchaft fo bedenklich im Sinfen, daß eine Partei von Unzufriedenen audtrat und eine »Neue Philharmoniſche Gefelihaft«e gleiher Tendenz ftiftete. Vielverſprechend unter ihrem erften Dirigenten, Ber: lioz, leiftet fie gegenwärtig, hinter ihrer älteren Rivalin zurüdbleibend, höchftens Anftändiges. Ihr Dirigent, Dr. Wylde, macht ebenfalls für jedes Concert nur eine Probe, und dieſe ift überdies öffentlih. Das Publicum hat zu halbem Preis uneingeſchränkten Zutritt. Wo aber die Probe wie ein Concert behandelt wird, da ift es fein Wunder, daß das Concert genau einer Probe ähnlich fieht. Sowohl die »alte« als die »neue« Philharmoniſche Gejelihaft verleihen ihren Pro— grammen durch die Mitwirkung der beiten in London an— weienden Birtuofen und Geſangskünſtler eine immer erneute Anziehungskraft.

Noch einen dritten Orchefterverein müflen mir nennen, weniger feinen Leiftungen als feiner charakteriftiihen Tendenz wegen. Es ift die (1858 gegründete) »Musical society of Londone. @eleitet von dem apellmeifter der engliichen National:Oper, Herrn Alfred Mellon, ift diefe Gejellihaft vornehmlich im Intereſſe der englifhen Tondichter thätig. Die Programme beginnen allerdings mit Mozart oder Beethoven, allein nach dieſem »salvavi animam folgen die unfterblichen Meifterwerfe der Herren Wallace, Lindjay, Balfe, Macfarren, Davifon, Horsley, Frank: Mori u. ſ. w. Gomponiften, deren Namen man nur zum Kleinsten Theil außerhalb Englands kennt, die aber daheim als »engliihe Componijten« nicht übel ge: feiert werden. Diefe Geiellichaft, die jährlid vier Orcheſter— Goncerte in S. James Hal gibt, und fich eines Beſtandes von 1000 Köpfen rühmt, bildet mit der »British society of

Dereine. Concerte. 579

Musieians« den Tummelplag der nationalen Partei (»nationals«) unter den engliihen Mufitern. Sie jchwören auf das von Sterndale Benett einmal in öffentlicher Vorlefung abgelegte Glaubensbekenntniß: daß die engliihe Mufit der deutichen, franzöfifchen, italienifchen ebenbürtig, daß fie groß, felbitändig und genial fei. Wie viele von den engliihen Mufikfreunden es mit der Zeit dahin bringen, diefen Irrthum wirklich zu glauben, ift unbefannt. Genug, daß man mittelft dieſes Stichwortes eine Partei bildet und jeine eigene fleine Perſönlichkeit in den Vordergrund ſchwingt. Es verhält fih mit dem Cultus eng- liſcher Componiſten ähnlih wie mit andern uns naheliegenden Nationalitäts-Beſtrebungen. Wer in Defterreich nicht die geiftigen Mittel hat, fi) vor einem PBublicum von Gulturvölfern zur Geltung zu bringen, der greift zu dem Coſtume irgend eines zurüdgebliebenen oder beifeitegedrängten Volksſtammes und darf num darauf zählen, als großer »nationaler« Künftler gefeiert zu werden.

Die theueren Preiſe fait aller Concerte (eine Guinee der Sig) führten vor furzem zur Gründung der »Bopulären Montagd:Eoncerte« in London. Sie find gleihfam eine Schillinggausgabe der Philharmoniſchen. Der Gedanke, aud dem Minderbemittelten den Genuß guter Mufit zu verichaffen und damit den mufilalifchen Meifterwerfen ein neues, großes, empfängliches Publicum zuzuführen, ift ein erjprießlicher. Die engliihen Monday Popular Concerts haben freilich nicht jene große Ausdehnung und Bopularität, melde Padeloup’s Orcheſter-Concerte in Paris erreichten (wir haben in Wien nicht? Aehnliches); allein für einen Schilling den Abend hin- durh gute Mufit und gute Virtuofen zu hören, dad will in London Schon etwas jagen. Rühmliche Erwähnung verdienen die von Herrn Manns geleiteten Orcheiter-PBroductionen im Kryitallpalaft, da fie faſt das einzige Organ für die Werke neuerer deuticher Componiften, namentlich Schumann’, find.

Zu den beiten, zugleich den faſhionabelſten Concerten gehören die der »Musical Union« ded Herrn Ella. Vor: zugsweiſe dem Streichquartett und Trio gewidmet, nehmen fie in London ungefähr die Stelle der Hellmesberger'ſchen Pro—

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ductionen ein. Sie finden in Jameshall beinahe jeden Dienftag um halb 4 Uhr ftatt, find alſo Morgenconcerte. Nicht blos die Zuhörer, jondern ſehr vernünftigerweife auch die Spieler ericheinen in Morgentoilette. Der ſchwarze Frad und die weiße Halabinde wären bier ein ebenfo ſchweres Vergehen, ala 4 Stunden fpäter der Gehrod und die bunte Cravatte.*) Bei diefen QUuartetten befinden fi) die Spieler nicht (mie bei Ordelter-Concerten) am oberen Ende des Saales, fondern inmitten desſelben, auf einem erhöhten Podium. Dadurch ift dad rings um die Spieler verfamntelte Publicum dem Zon allenthalben näher gerüdt. Joachim (etlihemale auch Laub) bildeten mit Ries, Blagrove und Piatti das Streichquartett; am Glaviere wechlelten Jaell, Halle, Stephen Heller u. U.; lauter treffliche Mufifer, die hier zu einem längſt vertrauten claffiichen Repertoire fich meiften® ohne vorhergegangene Probe zufammenfinden. Zu Proben braucht man Zeit, und das ift etwas ſehr Koitpieliges in London. Der glüdliche Director und unbedingte Beherrfher der »Musical Union« ift Herr Ella, ein eitler alter Herr, der in einer lächerlich bunten Xoilette umher geichäftelt, den Künftlern die Hände drüdt, den Damen zulächelt, im Nothfall am Klavier das Blatt wendet, und was folder Kunftleiftungen mehr find. Dafür bezieht er den reich: lihen Ertrag diefer Eoncerte. »Ella's Matinéen« find eben eine accrebitirte Firma, die in ihrem 18jährigen Beltand ein feites Publicum fich gebildet hat, und für Herrn Ella ein »Gigenthum« ift, wie irgend ein andere. Die berühmteiten Künstler Taffen fi gern dafür engagiren, und jüngere Talente Deutichlands und Frankreichs ſchätzen fih, auch ohne jedes Honorar, glücklich, fih vor diefem Kreiſe produeiren zu Dürfen, Sie werden an accreditirter Stelle befannt und überdied im Programm als neue Erjfcheinungen dem hohen Adel und ver- ehrlichen Publicum biographiich erplicirt. Da iſt natürlich jeder Fremde ein »in Deutichland ſehr gefeierter« Tonkünſtler,

*) Wenn die blonde, dicke Louiſa Pyne in ſolchen Morgen: concerten ihre Lieder in Hut und Mantille abſingt, jo iſt der Anblick doch gar zu komiſch.

Bereine. Goncerte. 581

meiſtens auch intimer Freund Chopin’s, Lieblingsſchüler Men- delsſohn's u. dal.

Joſeph Joachim, der herrliche deutihe Künftler, ift meine® Wiſſens der Einzige, der ſich bei Ella diefe biogra- phiſche Reclame vorhinein verbeten hatte, wie er auch der ein: zige Virtuoſe in London ift, welcher nicht bei hohen Herrichaften für Geld fpielt, fondern diefe zwingt, zu ihm zu fommen. Das einzige, was Joachim nicht abftellen kann, find die wandelnden Annoncen. Das find Männer, welche, vor- und rückwärts mit einer großen Tafel behängt, langſam, oft ſechs Mann hoch, durh die Straßen jchreiten, und im Volfamund recht mwißig »Sandwiches« heißen. Joachim ſchämte fi regelmäßig, wenn fein eigener Name in folofjalen Lettern ihm auf der Straße leibhaft entgegengewadelt fam, eine Empfindung, die ich jcherz- haft noch reizte, indem ich) vor den jpazierenden Joachim: Tafeln jedesmal ehrehrbietig den Hut zog. Es ift faum ein zweiter Kinftler in London, der das Publicum ausnahmslos zu jo warmem, herzlichem Beifall hinriffe, als Joachim. Un— wandelbar in feiner fünftlerifchen Strenge, beherricht er die Engländer, die ihn unter allen Umftänden lieben und ehren. Dem Bublicum Gonceffionen zu maden, fällt ihm nicht bei, wie denn überhaupt »Conceſſionen« meiſtens ſolche Gemein— heiten ſind, die jemand der eigenen Eitelkeit zulieb begeht, ohne es geſtehen zu wollen. Außer Joachim fand ich in London nur noch Thalberg, der ebenfalls in feiner Weiſe feine Conceſſionen madte: er heuchelte nämlich weder Bach noch Beethoven. Thalberg ſpielt unbeirrt feine alten Opern: Phantafien und Etuden, und ift weit entfernt, in dem, was er am beiten Ieiftet, bloße »Conceifionen« zu ſehen. Thalberg hat ſich nicht verändert; er ift, etwas verblüht, noch immer die »Comteſſ' mit der Männernaje«, wie ihn Schumanı nannte, und noch immer der erite Salonfpieler der Welt. Bei der Lectüre feiner Concertzettel glaubte ih unter Mumien gerathen zu fein; den Hörern wurden es blühende Roſen, und ihm ſelbſt ſchweres, jchweres Gold. Die Stelle unferer Männer: geſang-Vereine und Liedertafeln vertreten in England, die jo- genannten »Cateh- and Glee-Clubs«e, welche gefellige Freuden

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mit dem Vortrag Humoriftiiher Rundgefänge und Canons würzen. Wer an die bejjeren deutſchen Liedertafeln gewöhnt ift, dürfte dieſen Clubiften feine Zorbeeren winden. Mande ihrer Gejellichaftslieder reichen bi8 an Shafefpeare’3 Zeit, und der mufifalifhe Geihmad mitunter an Shakeſpeare's jungen Schäfer im »Wintermärchen«, der und verfidert: »Eine Ballade lieb’ ich über Alles, wenn e3 eine traurige Geihichte ift zu einer Iuftigen Melodie, oder ein recht fpaßhaftes Ding und fläglih abgejungen«. |

Waturanlage. Seltfamkeiten. Speculation und Humbug.

»Man hat im Norden wunderliche Bräuche, Denn wie die Berge wilder werden, wie

Die munt’ren Eichen düft'ren Tannen weichen, So wird der Menſch auch finft’rer, biß er endlich Sich ganz verliert und nur das Thier noch hauſt. Erit fommt ein Volk, das nicht mehr fingen kann, An diejes grenzt ein and’res, das nicht lacht, Dann folgt ein ſtummes, und jo geht es fort«.

Dies tieffinnige Wort aus Hebbel's »Nibelungen« fam mir in England oft in den Sinn. Noch häufiger, wenn ih auf deutichem Boden die Frage wiederholen hörte: Sind die Engländer muſikaliſch? Die Frage trifft einen zu großen und complicirten Organismus, al® daß man fie ohnemweiters mit Ja oder Nein löſen könnte, Der Engländer ift noch lange nicht der »finft’re«, der »ftunme« Menih, allein auf dem langen Weg von dem blühenden Melodiengarten Stalien bis zu dem »Volk, dad nicht mehr fingen kann«, liegt England doc) bereitö jtarf vorgeneigt gegen das leßtere. Für die Muſik ift England ſchon eine llebergangszone: der Arbeiter jchafft noch eifrig, er jchäßt die Frucht, doch Erdreih und Sonne find jpröder gegen ihn.

In England bethätigt ſich fo viel Eifer und Liebe zur Mufit, daß nur albernes Vorurtheil dies ganze Verhalten für falihden Schein und eitle DOftentation erklären fann. Es ge ichieht hier jo Vernünftiges, Andauerndes, Großes für die Ton:

Naturanlage. 583

funft, daß der Deutiche zur höchften Anerkennung mitunter den Neid fügen darf. Unſere früheren Deittheilungen haben dieſe Lichtjeiten im engliſchen Mufikleben hervorzukehren geſucht. Ob die Natur den Engländer zum Mufifer geichaffen, ob jeine Liebe zur Tonkunſt vollftändig erwidert wird, ift eine andere Frage. Wir werden vom Bofitiven hier unmerklich zur Negation hingedrängt. Daß England feine nationale Muſik befigt, ift Thatfahe. Es hat feine Componiſten hervorgebracht, die, mit den Genie anderer Völker verglichen, bedeutend und eigen: thümlich heißen dürften. Von feinen wenigen Componiften lehnen fih die älteren an Händel, die modernen an Mendels— john (Benett), an die franzöfiihe oder italienische Oper (Mal: face, Balfe). Die Sänger und Birtuojen Englands find an Zahl und Bedeutung faum nennenöwerth. Die engliiche Nation befigt einen jehr mäßigen mufifaliihen Schag in ihren Volks— liedern, und was nicht minder entjcheidend ift feinen eigentlichen Nationaltanz. Was von mufifalifchen Kräften ein- flußreich und bedeutend ift, gehört der Fremde an. Deutiche Componiſten, Virtuoſen und Lehrer, italieniihe Sänger, fran— zöſiſche Tänzer Herrichen in London. Die muſikaliſche Einfuhr in diefem Lande ift enorm, feine Ausfuhr Nul. Allein, von dem jchöpferifchen Vermögen ganz abgejehen, auh die Ems pfänglichkeit des Engländer macht ihn zu einem Stieffind der Muſik. Wir möchten die nächſte Erklärung diefer in ihrem Grunde freilih noch unerforſchten Erſcheinung, in körperlichen Bedingungen, in den feiniten Organismen der Phyſis juchen. Nur ein zart und reizbar organifirtes Nervenſyſtem empfindet muſikaliſch. Wenn e8 nicht vom leiſeſten Hauch erzittert, wie die NeolSharfe, ift es fein mufikalifches Inftrument. Daß nun der Engländer mufifaliichen Eindrücden gegenüber weit jchwer: lebiger, Iangjamer, allgemeiner ſich verhält, al8 wir, wird jedem länger Beobachtenden zur zweifellojen Thatſache.

Dem Engländer fehlt zunächſt rhythmiſche Empfindung. Es fallt ihm jchwer, im Takt zu tanzen oder zu fingen: der Unterschied zwiſchen */, und ?/, pflegt ihm zu verichwinden. Das derbe Hervorheben der rhythmiichen Accente und erften Takttheile, das ung im Opern-Orcheſter auffiel, gefällt den

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Engländern, während es ein feineres, ohne ſolche Krücken rhythmiſch Folgendes Ohr, als eine Aufdringlichkeit verleßt. Der Engländer verjegt die beiten Meifterwerfe mit Poſaunen und Bombardond, gerade wie er die beiten Weine mit Brannt- wein verjegt. Zunge und Ohr jcheinen hier derfelben Nachhilfe zu bedürfen. Im Falichlingen oder -Spielen muß fih ſchon ganz SKräftiges ereignen, jol es einem engliichen Publicum mißliebig auffallen. Bloße Zmweideutigfeiten verfangen nicht. Allein nicht blos das unmittelbare Organ des Hörend, Der ganze geiftige Proceß, Muſik aufzufaflen, arbeitet im Engländer jhwerfälliger und umficherer. Nur gemiffe Kategorien des Schönen ſprechen ihn jofort an. So hat der Engländer eine fehr einfeitige Neigung für das Bathetiihe. Man ftaunt, wie einfeitig das WBublicum daS Pathetiſche aus Shakſpeare's Stüden fih affimilirt und gegen die ftarfen Daritellungen irgend eines reinen Leidens die feinften, lieblichiten Partien follen läßt. Das grelle Pathos der italieniichen Oper bewegt den Engländer, während ihm für die feine Teichtgejchürzte Grazie des franzöfiihen Singſpiels jedes Organ fehlt. An claſſiſcher Muſik Tiebt er zumeiſt Entichiedenheit, Rundung und den Ausdrud einer gewiſſen großartigen Tüchtigfeit, wie bei Händel. Wir bemerfen jedoch bei den ehrfurdtspollen Zuhörern des »Meifiad« oder »Samfon« feine Unterfheidungs: fraft für das Schwächere und Schwache, wa3 in diefen Dra- torien mit dem Großartigen wechjelt. Zu der Inſtrumental— muſik bleiben wohl noch lange Haydn, der frühere Beet- boven und die formglatten Orcheiterwerfe Spohr’3 und Mendelsſohn's das Brevier der englifhen Concerte. Das unerbittliche Verlangen nad Klarheit und Weberfichtlichkeit ver: bindet fih in den Engländern mit ihrer confervativen Tendenz überhaupt, um Compofitionen, die von unferen Programmen fo gut wie verſchwunden find, als tägliche Koft zu genießen. Wir wollen Hummel und Ondlom nicht geringichägen, auch niht das Verdienſt Kalkbrenner's jchmälern (es bliebe da— bon gar zu wenig), allein räthielhaft bleibt doch die Andacht, womit die abgeftandenften Salonftüde diefer Componiften in London Öffentlich eingenommen werden. Der fichere, durch feine

Naturanlage. Seltſamkeiten. 585

Gontroverjen geftörte Befiß irgend eines überlebten Techniker it dem Engländer theuerer als das Erringen eined noch halb: wegs ftreitigen neuen Genied. AS heuer Shumann’s Glapier: Quintett bei Ella gegeben wurde, bemerkte das Programm, gleichſam rechtfertigend, daß die auf ausdrüdliches Verlangen des Herrn Jaell geſchehe.

Werfen wir einen Blick auf ein engliihes Concert— Bublicum. Die Aufmerkjamkeit und Ruhe der Hörer ift mufter: haft. Sie wird durch die Lectüre £leiner Broſchüren unterftügt, in welchen Herren und Damen emfig nachleſen. Dies find die fritiichen Erläuterungen, die den Eintretenden mit der Unfehlbar— feit von Tanzordnungen höflich überreicht werden. Diefe muſi— kaliſchen Wegmweifer find unferes Wiſſens zuerft von Ella unter dem jchauderhaften Titel: »Synoptical Analysis« eingeführt worden, und enthalten neben biographiichen und hiſtoriſchen Notizen eine mit Notenbeifpielen audgeftattete Ber: gliederung der größeren vorzuführenden Werke. Bon der droligen Geſchwätzigkeit ſolcher »Führer« abgejehen (regelmäßig haben fie die Frechheit, Beethoven zu loben !), möchten wir doch die ganze Idee nicht verwerfen. Es ift ein treffender Aus— ſpruch von Baillot, den Ella’3 Brogramme als Motto an der Stirne tragen: »Il ne suffit pas que l’artiste soit bien prepar& pour le publie, il faut aussi que le publie le soit ä ce qu’on va lui faire entendre«e. Die Auffaffung ſchwerfaß— licher, no nicht Gemeingut gewordener Gompofitionen, wie Die jpäteren von Beethoven, Bad, Schumann, wird durch eine mit Notenbeiſpielen verjehene Zergliederung entichieden erleichtert und haftet tiefer im Gedächtniß. Gejchwellt von um: nügem Lobe, find die englifchen Programme doch frei von mufifalifcher Bilder: und Deutungsfucht. Weber eine poetifirende Erklärung, wie R. Wagners Brogramm zur »Neunten Symphonie«, würde der Engländer nicht mit Unrecht lächeln. Derlei hat noch feinem Publicum auch nur entfernt die Hilfe gebracht, die eine englifhe »Analysis« wirklich Teiftet. Der Deutjche bedarf freilich der Führerihaft nicht in dem Grade, wie der Engländer fie liebt, am wenigsten will er fich fein Urtheil vorſchreiben laſſen. Das ift Jenem gerade recht; umficher, wie

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er fih im äjfthetiihen Dingen einmal fühlt, liebt der Eng— länder directe Belehrung. Wie er die Rheingegenden nicht ohne feinen Murray, jo genießt er auch Beethoven nicht vollitändig ohne »Synoptical Analysis«.

Kehren wir zu unferem PBublicum zurück. Das Stüd ift zu Ende Es wird applaudirt, wenngleich) fühler als bei uns. Nicht der laute Beifall, etwad Anderes, ſchwer zu Definirendes it es, war wir vermiffen: der ftille, inwendige Applaus der Hörer während des Stüdes. Bei einem genialen Mebergang, einer ergreifenden Melodie, welch bewegtes Murmeln des Verſtänd— niffes, welch leiſes MWetterleuchten der Empfindung in einem deutſchen Goncertfaal! In England nit davon. Wenn mir in den beſten englifchen Goncerten oft etwas abging, jo erklärte ich's mir damit, daß die Atmofphäre nicht die gewohnte Menge fünftlerifchen Sauerftoff3 enthielt.

Für daS Verletzende, was in einer unichidlihen Zu: fammenftellung von Muſikſtücken Tiegt, fehlt den Engländern die fünftleriihe Empfindlichkeit. Sie finden e8 ganz in der Ord— nung, wenn nach der Fidelio-Duverture »Mädle rud, rud, rud« oder dad Papataci-Terzett von Roſſini gelungen wird, darauf ein Concert von Sebaftian Bach und ein Divertiffement von Henri Herz folgt.

Was ic) von deutſchen Muſiklehrern in London über die mufitaliihe Jugend erfahren fonnte, ging übereinstimmend dahin, daß diefe oft mit dem correcteften Eifer über eine gewiffe natürlide Stumpfheit der mufifalifhen Empfindung niht hinauskomme.*) Ob an diejer, für die Muſik jo ent: jcheidenden Stumpfheit der Nerven der durch Generationen fortgejeßte, vor fünfzig Jahren noh ganz unmäßige Genuß geiftiger Getränke in allen Claffen der engliihen Gejellichaft mitſchuldig fei, wagen wir nicht zu beurtheilen. In England jelbit hörten wir von Künſtlern diefe Anficht vertheidigen. Der

*) In dem föftlihen Sittenbild »Hanns Ibeles« erzählte Johanna Kinkel die tragisfomijchen Erfahrungen eines Clavierlehrers in England. Gottfried Kinkel verficherte mir, daß diefe Mittheilungen vollftändig aus den eigenen Erlebniffen jeiner verftorbenen Frau geihöpft und in feinem Zuge erfunden oder übertrieben find.

Naturanlage, Speculation und Humbug. 587

Mangel an feinem Zonfinn iſt nicht ohne Analogie auf an- deren Kunftgebieten. Neuere Unterfuhungen jollen dargethan haben, daß ein auffallend großes Percent der engliichen Bes pölferung »farbenblind« iſt, d. 5. gewiſſe Farben nicht von einander unterfcheide. Unglüdsfälle auf engliihen Eifenbahnen, dadurch) hervorgerufen, daß ſonſt achtſame Bahnwächter die rothen von den grünen Signalen nicht zu unterfcheiden ver: mochten, gaben Weranlaffung, dies Phänomen näher zu unter: juhen. Das Eijenbahnperjonal wird nunmehr darauf Hin ge- prüft, ob es nicht von Natur »farbenblind« je. Won dem Londoner Concertpublicum find immer einige Bänfe zuverläſſig tonblind. in gebildeter englifcher Gentleman verficherte einen meiner Freunde, daß es ihm unmöglich jei, die Melodien der beiden englischen Volkshymnen (»God save the Queen« und »Rule Britannia«) von einander zu untericheiden. Ein ähn— liches Bekenntniß legte vor einigen Sahren jehr unmillfürlich die Bevölkerung einer bedeutenden engliihen Fabriksſtadt ab. Man gab die dort noch wenig befannte C-moll-Symphonie von Beethoven. Bei dem glänzend feierlichen Hereinbrechen der drei C-dur-Xccorde im Finale erhoben fih einige Zuhörer in der Meinung, es fei der Anfang der Volkshymne, und fiehe da das halbe Bublicum erhob fi ehrfurchtsvoll mit, und hörte den Saß ftehend zu Ende.

Wie übel die englifhe Sprache mit ihren Zilchlauten und gequetichten Gaumenvocalen den Geſang unterjtüßt, be— darf faum der Auseinanderfegung. Der engliide Sänger Hat fortwährend nur die Wahl, ob er richtig, echt engliich aus— iprechen, oder ob er einen jchönen Ton bilden wolle. Eines von beiden muß jeden Augenblid geopfert werden. Der lyriſche Geſang findet obendrein in der englifchen Proſodie eine Schranfe, die unſeres Erachtens noch zu wenig Beadhtung fand: mir meinen den großen Mangel an weiblihen Endungen und namentlich weiblichen Reimen im Englifchen.*) Die jchöniten

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*) Das vielcomponirte Heine'ſche Gedicht: »Auf ihrem Grab da fteht eine Linde, Da pfeifen die Vögel im Abendwinde« lautet 3. B. in einer der getreueften Leberjegungen (von Julian Fane):

588 Mufikaliiches aus London. (1862.)

Lieder von. Shumann, Mendelsfohn, Robert Franz, fönnen ohne empfindliche Alterirung der Mufik nicht ins Eng— lifche übertragen werden, und fo dürfte auch dieſes poetiſche Gebiet der deutichen Kunſt den Briten ein unbekanntes bleiben.

Außer der geringeren Naturbegabung für Muſik ift es aber noch ein zweiter künſtleriſcher Factor, der dem englifchen Mufikleben jo oft die echte Weihe nimmt. Das ift der faufmännifch praftiihe Geilt, der jih in England auch an die flüchtigen Sohlen der Kunſt Hefte. Von feiner großartigen Seite haben wir dies Zuſammenwirken mufilalifher und kaufmän— niſcher Anftrengung in den Händelfeften fennen gelernt. Das eigentliche Goncertwejen bringt Schon Bedenkliches. Da find zuerft die jogenannten Monftres&oncerte (eigentlich Benefice— Eoncerte), gegen die Mancher mit Necht loszieht, ohne deren wahren Grund zu fennen. Die Deonftre-Goncerte find mejentlich eine auf die Provinzbewohner berechnete Speculation. Die Abgeſchmacktheit, volle fünf Stunden lang das buntefte Durch— einander von Mufif zu machen, 25 bis 35 verfchiedene Num— mern und Namen, ift nicht etwa eine nothwendige Conceſſion an den Geihmad des Londoner Publicums (da allerdings eine derbe Tracht Muſik verträgt), jondern eine muſikaliſche Abfütterung von Provinzialiften, welche für ihre Guinee Alles beijammen haben wollen, was London. an mufifalifchen Nota— bilitäten bietet. Wenn der Pächter Smith aus MWorcefter oder der Fabrifant Black aus Mancheſter für zwei Tage mit Frau und Töchtern nad) London kommt, jo will er in Ginem Goncerte Joahim, Bauer, Piatti, Formes, Trebelli 2c., er will Orcheſter und Glavier, Glaffifches und Modernes in größten Portionen genießen. Der Mann hat unftreitig etwas vom Karaiben, mit dem Unterſchiede, daß er baar zahlt. Die Monjtre-Eoncerte oder Eoncerte für Ungeheuer, wie fie 3. 2. die Jubilar-Pianiftin Frau Anderfon oder der Componiſt J. Benedict alljährlih veranitaltet, werden mehrere Wochen

»Above their grave a Linden grows, Birds sing, and through it the balm-breeze blo ws.« Sp werden von den weiblihen Endreimen mindeitens die Hälfte männlich durch die englijche Ueberfegung.

Naturanlage, Epeculation und Humbug. 589

zuvor in den Zeitungen annoncirt. Aber nicht etwa einmal in jedem Blatt, jondern meilten® in fünf bis ſechs Inſeraten hintereinander. Das erfte Inferat lautet 3. B.: »Mr. Bene: diet's Morgenconcert findet am fo und fo vielten unter Mit- wirkung von Joachim, Jaell, Trebelli, Tietjend 2c. ꝛc. ftatt«. Gleich darunter als zweites Inferat: »Herr Joachim wird in Benedict’3 Morgenconcert 2c. 2c.e Drittes Inferat: »Signora Trebelli wird in Benedict's Morgenconcert 2c. ꝛc.« Kurz es wird nichts verfäumt, daß man zu rechter Zeit den Kopf von Mt. Benedict’3 Morgenconcert gehörig voll habe. Für die Sänger find die Londoner Goncerte eine reihe Einnahmsquelle; Die fremden werden vom Goncertgeber, die einheimifchen außerdem von den Verlegern befoldet. Dies Berfahren ift ganz eigen: thümlid. Hat der Verleger N. N. eine neue Romanze ver- öffentlicht, jo ftellt er fie unter die Protection einer beliebten Eoncertfängerin. Diejer zahlt er nicht nur für den jedesmaligen öffentlihen Vortrag der Romanze ein beftimmtes Honorar, er gibt ihr auch gewiſſe Percente von jedem Eremplar, das er abjegt. Meift find es zwei Pence, die von jedem ver- fauften Eremplar für den Sänger oder die Sängerin abfallen. Miß Sainton-Dolby, welde jogar einen Sirpence erhält, joll im Laufe einer Saifon gegen 800 Pd. St. von den ver: Ihiedenen Berlegern eingenommen haben. Um noch mehr zum Ankauf zu locken, läßt der Verleger jedes Eremplar eines »Favourite song«e mit dem eigenhändigen Namendzug des Sänger? oder der Sängerin jchmüden, die es mufifaliich in die Koft genommen. Manche Sänger find von einem Verleger förmlich gemiethet, fie dürfen nur feine Verlagdartifel fingen und feine anderen. Der Künftler ift in diefem Fall der fingende Dienitmann feines Verlegers.

Ich Habe Hallé's Beethoven-Matinéen erwähnt, denen ein echt künſtleriſches Beſtreben zu Grunde liegt. Allein Herr Halle hat nebenbei eine »revidirte Ausgabe« der Beethoven: ihen Sonaten publicirt, welcher nicht das geringfte eigene Berdienft zu ftatten fommt. In diefer Ausgabe werden num ſämmtliche von Halle vorzutragenden Sonaten an der Caſſe und im Concertjaal feilgeboten, und da Gelegenheit nicht blos

590 Muſikaliſches aus London. (1862.)

Diebe, fondern auch Kunftkenner macht, fo verfauft man eine Maſſe von Exemplaren. Ob nun Herr Halle oder fein Ver— leger der eigentlihe Weranftalter diefer Concerte jei: beide haben ein Doppeltes Geſchäft gemacht. Solde und viel ſchlimmere Mesalliancen zwiſchen Kunft und Schader find in England an der Tagesordnung und gelten nicht für anftößig. Wir wollen lieber nicht allzuviel davon erzählen. Da der Künftler in England ſchnell und reichlich verdienen kann, fo geräth er in eine Haft des Erwerbes, welche feine poetiſche Glorie traurig abſchwächt. Wo das Publicum der Muſik überwiegend äußerlich gegenüberjteht, da kann es auch nicht ausbleiben, daß der Virtuofe, der. Verleger, der Lehrer, ur Kunſt als Geihäft anſehen und betreiben.

Ein geſuchter Clavierlehrer in erhält in der Regel eine Guinee für die Lection, ein Einkommen, wovon ſeine Collegen in Deutſchland keine Ahnung haben. Dafür haben ſie auch kaum eine Vorſtellung von der Mühſal, die es koſtet, ſich in London ſo hoch emporzuſchwingen, und dann auf der Höhe zu erhalten. An einem Londoner Claviervirtuoſen kann man erfahren, was arbeiten heißt. Hat er feine acht bis zehn Lectionen im Tage gegeben, jo kann ihm wohl die Freude an der Mufif vergehen. Dennoch darf er fih zu Haufe nod feine Ruhe gönnen, denn will er nicht außer Mode kommen, muß er häufig in Öffentlihen Concerten auftreten. Durch melde Hererei dieſe Herren noch Zeit zum Ueben finden, wiſſen wir nicht; daß aber wiffen wir, daß jeder falhionable Künftler, der jahrelang in London weilt, in dem technifchen und wohl auch in dem beſſeren Theil feiner Kunſt zurüdgeht. Wir kennen einen ſehr gejuchten deutfchen Glavierlehrer in London, einen liebenswürdigen, gebildeten Mann, der und jelbit geftand, daß er nach einem zehnjährigen Aufenthalt in London noch nit dazır gefonmmen jei, die MWeftminfter-Abtei zu befuchen. Daß io etwas auch nur möglich ift, wirft ein jeltfam trübes Licht auf das Künjtlerleben in London.

Ungern fchließe ich meine »engliſchen Suiten« mit einem Blide in den kranken Kern dieſes äußerlich jo großartigen Organismus. Allein England wäre eben nicht mehr England,

Muftfaliihe Briefe aus Baris. 591

hörte es in irgend einem Lebenzzweige auf, das Land der Widerſprüche und Gegenſätze zu fein.

Wufikalifche Zöriefe aus Yaris (1867). Die mufikalifdre Fury.

Paris, 4 Mai.

Es war in den eriten Nachmittagdftunden, den belebteften und eleganteften der Ausstellung, als jüngit aus einem Seiten- gang der franzöfiichen Bildergalerie ein rajender Trommel: wirbel erfholl und die Beſucher des Ausitellungspalaftes weithin in Aufregung verjegte. Mit dem Rufe: »Was tft ge- ihehen? Was bedeutet das?« ftürzten die Maſſen dem Trommel: Shall entgegen, nad) der etwas verſteckt Tiegenden Zeitengallerie. Hier ſahen fih die erregten Gemüther plößlih durch zwei ausgeipannte Stride und zwei aufrechte Sergents de Pille von einer kleinen SHerrengejellihaft abgetrennt, welche, die Trommler vor fih umd die Notizbücher zur Hand, ruhig um ein Tiſchchen herumſaß. Es war unfere mufifalifhe Jury, vor welcher Trommel-Erfinder und Trommel:Verbefjerer ihre raj- jelnden Inftrumente producirten. Das Publicum aber ftand eritaunt dahinter und mochte entnehmen, wie der Kampf um eine Bronce-Medaille den Tambour genau fo heftig begeiftern fann, wie der Sturmlauf gegen eine Feltung. Es war ohne Zweifel der populärite Moment in dem öffentlichen Lebenslauf unjerer Jury. Allerdingd Hatten wir einiges Aufjehen und viele Theilnahme jchon an den vorhergehenden Tagen erregt, wo und jedesmal von 10 bis 4 Uhr nur Blech-Inſtrumente vor— geblafen wurden. Dean wollte bemerken, daß damals die Jury: Mitglieder noch lange nah Schluß der Sikung auffallend laut ſprachen; die Pofaunen hatten Jedem von md eine leichte Taubheit als Andenken hinterlaffen. Die Tage der Violinen und Guitarren trugen einen milderen, gebildeteren Charakter, welcher in der folgenden Periode der Flöten und Glarinetten

592 Muſikaliſche Briefe aus Paris, (1867.)

jogar einen Zug ländlicher Zufriedenheit und Lebensweisheit annahın. Namenloje Wehmuth bemädhtigte fich Hingegen unjeres Kreiies nah Anhörung von 40 bis 50 Harmoniumd; Die Gefühlvolleren von uns zerdrüdten beim Abjchied eine Thräne im Auge, die Anderen ballten frampfhaft die Fauſt in der Taſche. Es war vielleicht der fchlimmfte Tag.

Kehren wir für einen Augenblid an das grüne Tifchchen zurüd, zu welchem uns die rebelliihen Trommeln gelodt, und betrachten wir ung die Perjönlichfeiten der Jury. Als Präfident fungirt der Senator und General der Nationalgarde, Mel— linet. Ein wahrer Charafterfopf, diefer 64jährige Haudegen mit dem Jugendfeuer in Blick und Bewegung, das der grauen Haare wie der tiefen Narben zu fpotten jcheint, die fein Ge— fiht entitellen. Der higige General, der bei Magenta fi) mit 3000 Mann jtundenlang gegen den dreis bis vierfad über: legenen Feind behauptete und noch feinen Schritt wid, ala ihm bereits ziwei Pferde unter dem Leibe erichoffen waren, er ift im Umgang die Herzlichkeit, Güte und Beicheidenheit jelbft. Nom Friegerftand Hat er im Frieden nur die Geradheit und Energie beibehalten, nicht3 von jenem Uniformdünfel, der in anderen Staaten eine jo empfindlihe Scheidewand zwiſchen Militär und Civil aufrichtet. Was den General, der jeinen mufitaliihen Dilettantismus offen eingefteht, in die Jury brachte, find feine großen Berdienfte um die Organifirung der franzöfiihen Militärmufif; jeine Wahl zum Vorfigenden war vom Anfang her mit Rüdfiht auf feinen hohen Rang und jein großes perfönliches Anſehen beichloffen mir hatten fie nie zu bereuen.

Einen eigenthümlichen Gegenjat zu dem hageren, un: geftümen General bildet die unterjegte, behaglich gerumdete Figur und das fröhlich lächelnde Antlig de8 Dr. Georg KRaftner, Mitglied des Inſtitutes und zahllofer gelehrter Ge- jellichaften. Straßburger von Geburt, ift Kaftner doch Deutſcher von Ausfehen, Bildung und Temperament geblieben. Nur feine Bücher jchrieb er alle franzöfiih. Obwohl vorzugsweiſe Poly: biftor und muſikaliſcher Archöolog, iſt Kastner doch keineswegs der praftifchen Seite der Tonkunſt fern geblieben. Als Componift

Die muſikaliſche Jury. 593

und außübender Künstler früher jehr thätig, hat Kaſtner oben- drein für jedes eriftirende Orcheſter-Inſtrument eine Schule (Methode) geichrieben, jogar für die Baufen! Dies allein ftempelt den Mann zum gelehrten Original; wer ihn näher kennt, weiß überdies, daß dies Original nebſt den eritaunlichiten Kenntniffen auch das redlichite, wohlmwollendfte, uneigennüßigite Herz befigt.*)

Die Künftlernatur par excellenee tft in unferer Jury durh den Gomponiften Ambroife Thomas vertreten. Cine poetifche, nervöſe Natur, meilt ernit und ſchweigſam, leicht ge: reizt, jchnell ermüdet, fein Freund der Gejelligkeit und Feind der Complimente, itt Thoma keineswegs, was man im Salon einen torzügliden Gejellihafter Heißt. Mit Unrecht nennen ihn Mande einen Mifanthropen, ihn, »der fich ohne Groll vor der Welt verfchließt«, nur feiner Kunft und wenigen Freunden lebend. Sein hageres, ausdrucksvolles Gefiht, von grauem Haar und Bart fräftig umrahmt, erzählt von über: ftandenem Leid und Kämpfen, es erzählt auch von einem liebebedürftigen und liebenswerthen Herzen, das nicht geichaffen war, einfam und hageſtolz zu vergrämen. Ambroife Thomas, längit ein Lieblingscomponiſt feiner Nation, hat eben jeinen größten Succeß mit feiner neuejten Oper »Mignon« errungen. Dies höchſt anmuthige Werk ift bereit? gegen actzigmal nacheinander gegeben, ohne daß der Andrang des Publicums nahläßt. Won »Mignone Hörte ih Thomas während der vier Wochen unſeres täglichen Verkehrs ebenfomwenig die leifefte Erwähnung machen, als von irgend einem anderen feiner Werke. Wie jehr unterfcheidet ſich diefe wahre Beſcheiden— heit von ihrer Stiefichweiter, jener unter Rünftlern und Ge: lehrten zumeift cultivirten eitlen Beſcheidenheit!

Den größten Einfluß in der Jury hat Fetis, der gelehrte Mufikhiftorifer au Brüffel. Man kennt die zahlreichen Arbeiten diefes nun 84 Jahre alten Profeſſors; er ift damit noch niht am Ende. Cine »Geichichte der Mufit« in ſechs Bänden ift unter der Preſſe, Anderes in Vorbereitung. Das

*) G. Kater ftarb leider noch im felben Jahre. Hanslick. Aus dem Goncertiaal. 2. Aufl. 38

594 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.)

hohe Alter und gelehrte Anfehen des vielerfahrenen, mitunter etwas eigenfinnigen und leider nicht unparteiifchen Mannes erflären das llebergewicht, das die übrigen Jurors, die frane zöfiichen namentlich, ihm in den Berathungen zugeftehen.

Roſſini. Paris, 18. Juli 1867.

Als ich vor ſieben Jahren in Paris mich von Roſſini und Auber verabſchiedete, that ich es mit der wehmüthigen Empfindung, die beiden Altmeiſter unſerer modernen Oper wahrſcheinlich zum letztenmal geſehen zu haben. Ragten ſie doch Beide ſchon in jene winterlichen Lebenshöhen, wo wir jedes weitere Jahr als ein Almoſen anzuſehen haben. Wie groß war daher meine Freude, beide Männer rüſtig und munter, ja gänzlich unverändert wiederzufinden! Die gewichtige Scala von fieben Jahren Hat ihnen wenig angehabt; faum unter- iheiden wir die Octave vom Grundton.

Ein befonderd angenehmer Anlaß führte mich vor wenigen Tagen zu Roffini. Ich follte, ein muſikaliſcher Feuillet de Conches, einen fremden Gefandten an dem kleinen Muſenhof von Paſſh einführen. Hauptmann v. Arbter Hatte nämlich im Auftrage Schwind's für Roffini eine Photsgraphie des Freskobildes mitgebracht, welches eine der Liinetten im netten Wiener Opernhaufe zu Ehren Roſſini's ausfüllt. Ein berühmter Landamann und fpecieller Liebling Rofjini’s, Julius Schul: hoff, Hatte fih als Dritter unſerer Erpedition nad Paſſh angeichloffen. So ftand ich denn wieder vor der wohlbefannten goldenen Lyra an dem Gartenthor der gaftlihen Villa! Wie damals, jaß der freundliche alte Herr am Schreibtiih in feinem feinen Arbeit3zimmer, erhob fi) etwas jchwerfälligen Leibes, aber mit gewinnenditer Herzlichkeit, umd ftredte ung die Hand entgegen. Wir drüdten ihn bald wieder in den Zehn: ftuhl und breiteten dad Bild von Schwind vor ihm aus. Es gehört zu den anmuthigiten Gompofitionen unfere® phantaſie— vollen Meiſters. Das große Mittelfeld des Halbbogens enthält

Roſſini. 595

die drollige Rafiricene aus dem »Barbier von Sevilla«s: Figaro, den alten Bartolo einjeifend, hinter ihnen Almaviva mit Roſine am Clavier in verftohlener Umarmung, und feit- wärts als boshafter Beobachter der dürre Don Baſilio. Auf dem fleineren Felde zur Rechten diefes Hauptbildes, durch zierliche Arabesfen und Figuren davon getrennt, ſehen wir Aſchen— brödel, das mit rührender Demuth die zum Ball geichmücdkten Schweſtern betradtet. Das correfpondirende Linke Seitenbild gehört der Ftalienerin in Algier: die reizende Abenteurerin präludirt träumerifh auf der Laute, während der Türke mit andächtiger Lüfternheit an der halboffenen Thür laufcht. Die ihönfte Harmonie verbindet dieſe drei durch maßvollen Gegen: ja einander hebenden Bildchen. Der künſtleriſche Scharfblid Schwind's vermied weislich heroiſche und tragiihe Opern— icenen (»Dthello«, »Wilhelm Tell«), welche die Einheit der Stimmung geftört hätten. Das eigentlich pofienhafte Element, das der »DBarbier von Sevilla« im Mittelbilde voll über: müthigen Humors verfinnlicht, befänftigt fi) zu beiden Seiten in den halbidealen Figuren Cenerentola’3 ımd Iſabella's zu dem mezzo-carattere des feinen mufifalifchen Luſtſpiels. Ein Ton fchalkhafter Anmuth und Liebesluft Klingt aus dem Ganzen, das fi) wie Roſſini'ſche Mufit beinahe anhört, möcht’ ich jagen.

Zange und mit fichtlihen Vergnügen betrachtete der greife Maeftro das Bild; ſowohl dad Kunſtwerk felbit, als die ichmeichelhafte Aufmerkſamkeit Schwind's freuten ihn offenbar noch viel mehr, als er zeigte. Aber plöglich, als wollte er abjichtlih an Höheres erinnern, fragte er, ob denn Mozart's Dentmal in Wien fchon vollendet fei? Und Beethovens? Wir drei Defterreicher ſahen etwas verlegen drein. »Ich erinnere mich jehr genau an Beethoven«, fuhr Roffini nad einer Pauſe fort, »obwohl es bald ein halbes Jahrhundert her iſt. Bei meinem Aufenthalt in Wien babe ich mich beeilt, ihn aufzufuchen.e »Und er hat Sie nicht vorgelaffen, wie Schindler und andere Biographen verfihern.«e »Im Gegentheil«, corrigirte mich NRoffini, »ich ließ mid durch Gars pani, den italienischen Dichter, mit dem ich zuvor auch Salieri

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596 Muftaliiche Briefe aus Paris. (1867.)

befucht, bei Beethoven einführen, und diefer empfing uns fofort und fehr artig. freilich währte der Beſuch nicht lange, denn die Converfation mit Beethoven war gerade zu peinlich. Cr hörte an dem Tage beionders fchleht und verftand mich nicht troß des Jauteften Sprechens; obendrein mag feine geringe Hebung im Stalienifhen ihm das Geſpräch noch erjchwert haben.« Ich befenne, daß dieſe Mittheilung Roſſini's, deren Treue durch mancherlei Detail noch zweifellofer hervortrat, mich wie ein unerwartete Gefchent erfreute. Stet3 Hatte mich diefer Zug in Beethoven’3 Biographie verdrofien und der mufifaliiche Jacobiner-Club dazu, welcher die brutale germanifche Tugend, einen Roffini von der Schwelle zu weiſen, verherrliht. Alſo die ganze Gefchichte nicht wahr. Wieder ein Beifpiel, mit welcher Sorglofigkeit falſche Thatfahen hingeſtellt und nachgeſchrieben werden, welche dann mit unglaublicher Schnelligfeit zur hiſto— riihen Wahrheit verhärten. Und dies Alles, während man noh mit leichter Mühe von den lebenden Hauptperfonen authentiihe Aufklärungen erlangen fonnte !

Gerne folgten wir Roffini’3 Einladung, una hinab in’s Erdgeſchoß zu führen Wir treten in den lichten, geräumigen Salon mit dem fresfengefhmüdten Plafond und den hohen Fenitern, zu welchen Rofenbüjche hereinniden. In der Mitte ded Salon? ein Pleyel’iher Flügel. Roffini hat bekanntlich in den letten Jahren mit Worliebe das Klavier cultivirt, und Dies veripätete Virtuoſenthum gibt ihm Stoff zu fort: währenden Scherzen (worunter viele ftereotype). Er begann glei zu lagen, daß Schulhoff ihn ald Pianiften nicht wolle auffommen laffen. »Freilich übe ich nicht täglich Scalen, wie ihre jungen Leute denn wenn ich Tonleitern über das ganze Clavier mache, fo falle ich entweder rechts vom Seſſel herab oder links.« Auf Schulhoff's Bitten fpielte und Roſ— fini einen feiner Clavierſpäſſe, das »Offenbach-Capriccio«. Ein Staliener fo lautet die Genefis diefes Stückes äußerte einmal bei Roffini, Offenbach habe den böfen Blick, und man müſſe das Gettatore-Zeichen (Ausftreden des zweiten und fünften Fingers) vor ihm machen. »Alfo follte man vor Offen: bad) auch folgenderweiſe ſpielen,« ſcherzte Roffini und impro-

Noffini. 597

pifirte am Piano eine äußerſt nedifche Kleinigkeit, deren Melodie er mit gabelförmig ausgeftredten zwei Fingern der rechten Hand vortrefflih ausführt. Ich bemerkte einige feine, originelle Modulationen, worauf Roffini jo gefällig war, mir jeine Har- monifirung des alten Marlborough-Liedes vorzufpielen. Es ift eritaunlich, wie gerade Roffini, dem modulatoriſche Spikfindig- feiten ftet3 jo fern lagen, dies Volkslied mit einem Reichthum geiftreiher Harmonien und enharmoniicher Ueberraſchungen ausgeftattet hat. Auch in einigen anderen Geſangs- und Clavier— jtüden, die ich in einer feiner Soireen hörte, iſt mir die neue Borliebe Roffini’3 für diftinguirte Bäfje und Tebhaftere Modus lationen aufgefallen. Weit entfernt, diefem niedlichen Nach— funfeln einer im Grunde längſt erlofchenen Flamme ungebühr: lihen Werth beizulegen, fcheint es mir doch interefjant, daß der Styl des Tbjährigen Sänger? von Pejaro überhaupt noch einer neuen charakteriftiihen Wendung fähig war.

Im Laufe des Winter gibt Roſſini ſechs bis adt mufitaliiche Soireen in jeiner Stadbtwohnung, Chauſſée d’Antin Nr. 2. Für einen Künftler von jo eminentem Scönheitsfinne in der Muſik ift die Ausihmüdung feiner Wohnung auffallend: jtyllos, mit einem Stid ins Barode. Neben einem Kupferftich der Madonna della Sedia hängt irgend ein Decolletirtes Pariſer deal, daneben deden die Wand entlang broncene Schüffeln mit Heiligengefchichten in getriebener Arbeit. Auf der Commode erhebt fich ein Crucifix auß einem Gewühl japanefiicher Figür- hen und chinefiicher Bilder, für welche Roſſini fehr einge- nommen scheint. Won Porträts bemerkte ih nur auf dem Kaminfims die fleinen Photographien des Königs von Por: tugal und der Adelina Batti. Von Lebterer ſpricht der Maeſtro mit bewundernder Hohihägung und nimmt fie immer aus, wenn er das gänzliche Ausfterben der großen Geſangs— fünftler beklagt. »Sehen fie da«, fagte er, nach) dem neuen Dpernhaufe zeigend, das fi gerüftumfleidet vor feinen Senitern erhebt, »wir merden bald ein neue Theater haben, aber Sänger haben wir jegt ſchon nicht mehr. Wird es Ihnen beifer ergehen, wenn einmal das neue Opernhaus in Wien fertig it

598 Muſitaliſche Briefe aus Paris. (1867.)

Die Soireen des berühmten Maeftro find in Paris Gegenstand allgemeinen Ehrgeizes. Die ausgezeichnetiten Perſonen bemühen fih darım oft mehr, als um eine Einladung in die Tuilerien, und die Journale verfäumen nit, am folgenden Tage davon zu berichten. Ich habe dem letzten dieſer Muſik— abende noch beiwohnen fönnen.

Das Programm des Eoncertes (faft ausſchließlich Roſ— ſini'ſche Mufik, wie begreiflich) bildeten italienische und franzöfiiche Geſangsſtücke, von den erjten Kräften der Oper: Mad. Sar, Mad. Battu, Faure und anderen vorgetragen. Zwei neue Roſſini'ſche Clavierſtücke (von einem jungen Virtuojen Diemer gejpielt) fielen weniger durch originellen Gehalt als durch ihre gehäuften Schwierigkeiten auf. Sie führten die ſeltſamen Titel: »Tiefer Schlaf und plögliches Aufwachen«, »Tatariſcher Bolero«. Die Gefangsftüde find ernithafter und ſchöner, nicht jelten originell, immer mufterhaft in der Behandlung der Stimme. Zwei feiner Geſangsſtücke begleitete der Hausherr jelbft am Glavier mit entzüdender Delicateffe.. Sonſt figt er an ſolchen Abenden meilt jchweigiam und ermüdet in dem fleinen Gintrittäzimmer mit feinem alten Collegen Garaffa oder irgend einem anderen Hausfreund und ift froh, wenn ihn die Vergdtterungömente ein Meilen in Ruhe Täßt.

Ich bedauere, Roſſini's neue Meſſe nicht kennen gelernt zu haben; e& foll dies Werk (dad wie die übrigen vom Come ponijten gehütet und der Veröffentlihung entzogen ift) bebeu- tende Schönheiten enthalten. »Das ift feine Kirchenmuſik für euch Deutſche«, meinte Roffini ablehnend, »meine heiligite Muſik ift doch mur immer semi-seria.« Seine Napoleons-Hymne (für die Preisvertheilung am 1. Juli) nennt er »Sneipenmufife, feine Opern »veraltetes Zeuge. Es ilt überhaupt mit dem berühmten Maeftro nicht ernithaft zu reden; er fühlt fi nur behaglih in gemächlichem Scherz und leichten Nedereien, und wenn er über feine Compofitionen fpottet, jo bleibt e& immer zweifelhaft, ob er mehr fich oder die Anderen zum Beften habe. Man mag das Mebertriebene dieſer grotesfen Selbitverleug- nung tabeln, es liegt ihr aber unftreitig ein Motiv oder Gefühl zu Grunde, das man bei näherem Einblick in die Ver:

Roffini. 599

hältniffe anerkennen muß. Roſſini lebt nämlich inmitten einer ununterbrochenen Bergötterung und Verhätſchelung. Es gibt wenig Männer auf Erden, denen in folder Weile gehuldigt und nur gehuldigt wird. Sein Zimmer ift nie leer von Be— juhern; die höchſten Notabilitäten des Adels, des Reich— thumes, der Kunſt fommen und gehen. Er wird überhäuft mit koſtbaren Gejchenken und zarten Aufmerkjamfeiten; von 100 Menſchen glauben 99 ihm Schmeicheleien jagen zu müfjen. Würde Roſſini alle diefe beivundernden Worte mit jenem geitreichelten, eitel-bejcheidenen Lächeln hinnehmen, das jo vielen Gelebritäten eigen ift, die gleichlam mit einer Hand abwehren, und mit der andern einfafliren, fo wäre in feinem Haufe nicht eine Biertelitunde lang zu eriltiren. Man müßte vor Weih- rauch erftiden. Ernſthaftes Mißbilligen oder Creifern liegt nicht in Roſſini's Charakter; er jchlägt alfo lieber mit einer gutmüthigen Selbitbefpöttelung dem Anbeter das Weih— rauchfaß aus der Hand und ergößt fih an deſſen Ber: legenheit. »Wie foll ih Sie nur nennene, hauchte ihn jüngft eine jchöne Dame an, »großer Meifter? oder Fürft der Tonkunſt? oder göttlihes Genie?« »Am Tiebiten wäre mir«, erwiderte Roffint zutraulich ſchmunzelnd, »Sie nennten mid: mon petit lapin!« (»Mein Deauferl« auf gut MWienerifch.)

Roſſini macht feine Beſuche, bringt feinen Abend außer Hauſe zu, war jeit zwanzig Jahren nicht im Theater und hat natürlich auch die Ausstellung nicht gejehen. Spazierenfahren, Bejuhe empfangen und ein wenig Mufif bilden feine ganze Beihäftigung Zum »Chrenpräfidenten« der großen muſi— faliihen Jury über die Preiscantaten md Friedenshymnen ließ er fih willig wählen, unter der außdrüdlichen Bedingung, daß er nie zu erjcheinen und nicht das Mindelte zu thun brauche. Er erklärte ſich fcherzend bereit, unter denjelben Be— dingungen auch noch in andere Comités gewählt zu werben. Ganz ernithaft nimmt der heitere Maeftro vielleicht gar nichts, als die Pflege feiner Geſundheit. Er ſchont ſich auf's Zärtlichite und hegte großen Abſcheu vor dem Sterben. Wehe, wenn ihm ein Beſucher feine Siefta oder ſonſt einen wichtigen

600 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.)

Leibesact verzögert! »Allez vous-en«, rief er jüngſt jo einem Unglüdlichen zu, »ma eelebritE m’embete!«

Auber. Paris, 7. Auguſt.

Die beiden mufifaliihen Großmeiiter von Paris machen einander in ihrer Lebensweife die vollftändigite Oppofition. Während Roſſini feine Tage durch olympiiches Ausruhen genießt, bedarf Auber fortwährende Thätigfeit. Der Eine vermeidet jede Anftrengung, als etwas da3 Uhrwerk jeines Lebens Abnütendes, der Andere jcheint im Gegentheil zu fürchten, e8 fönnte die Mafchine durch Unthätigfeit einroften und ftehen bleiben. Roſſini, ein heiteres Symbol des ita= lienifhen dolce far niente, hält fih die Welt vom Xeibe, ihre Geſchäfte wie ihre Genüffe, und über die Ruhe in der Stadt geht ihm mur die noch ruhigere auf feinem Landfik. Auber, die Verförperung franzöfiicher Rührigkeit, würde hin— gegen ohne den fteten Contact mit der Gefellihaft ver: fommen; jelbit in der Sommerhige iſt ihm das bewegte Baris inmpathifcher al& die monotone Idylle des Landlebens. Auber zählt 85 Jahre; es it faum anzunehmen, daß feine Thätigfeit derzeit der Kunſt noch großen Wortheil bringe, aber Dieje Thütigfeit jelbit ift ein Phänomen. Der greife Meifter legt fih um 1 Uhr Nachts zu Bett und fteht täglihd um 5 Uhr Morgens auf. Eine Taffe Thee zum Frühftüd muß als einzige Nahrung bis um 7 Uhr Abends vorhalten, wo er ein gediegenes und ausführliches Diner tapfer bewältigt. Um 9 Uhr Morgens leidet e8 ihn jelten mehr zu Haufe; da wird ins Conſer— vatorium gegangen, in den Senat oder ind Inftitut, auf den Boulevard3 flanirt, jpazieren gefahren. Im eigenen Haufe ift Auber nicht geiellig wie Roffini, obwohl jein glänzender Wohl— ftand ihm die Gaftfreundichaft leicht machte. Wielleiht weil er unverheiratet it? Es fehlt doch nicht an einer feinen, jtattlihen Dame, der man beinahe die Ehren einer Hausfrau erweilt. Der im Frauencultus großgewachiene und noch immer

Auber. 601

empfindſame Componiſt des »Fra Diavolo« würde es ohne weibliche Umgebung ja doch nicht aushalten. Auber empfängt ungleich weniger Beſuche als Roſſini. Es hat nicht Jedermann Luſt und Muth, einen berühmten Mann vor 8 Uhr Morgens zu beſuchen, obendrein wenn dieſer von ſeinem Hausgeſinde mit furchtbarem Eifer bewacht wird. Die Baſis dieſer Auber'ſchen Feſtungswerke bildet eine wüſte, alte Hausmeiſterin, welche ſeit 40 Jahren ſein Hausthor in der Aue St. Georges mit Mort und That vertheidigt. Diefer berühmte weibliche Dämon nimmt jeden ihrem Gebieter zugedachten Beſuch als eine per: jöhnliche Beleidigung auf und ift im Stande, fi mir aus: gebreiteten Armen dem erjchredten Fremdling in den Meg zu werfen. Glüdlicherweife hatte ich im Laufe diejer vier Monate reihlihe Gelegenheit, Auber ſowohl von feiner gejelligen Seite al3 in feinem fünftlerifhen und geichäftlihen Wirfen näher fernen zu lernen.

Daß der 85jährige Mann es mehrmals in jeder Woche über jih bringt, um 10 Uhr Nachts dem bequemen Fauteuil zu entjagen, Toilette zu machen und fich dem Drangial einer großen Soirée zu überliefern ich Habe ihn noch mehr darım bewundert, ald ob der »Stummen von Portici«. Die Journale mögen ihn deßhalb immerhin mit den ftereotypen Beinamen »unverwüſtlicher Jüngling«, »jugendlicher Greis« u. dgl. be— -ehren, nur muß der Leſer von dieſen Ausdrücken jeglichen. Beigeſchmack von Gedenhaftigfeit oder Gefalljucht ablöfen. Er würde ſonſt Schweres Unrecht thun. Man kann fih nicht ernit- bafter und einfacher benehmen, als Auber. Die Luft an Späffen, die ewig fcherzende Laune Roſſini's liegt ihm fern, nod ferner die Geziertheit und jungthuende Koketterie eines A. W. Schlegel. Auber’3 ernjthafte Miene enthält durch den fcharfen, unter dichten Augenbraunen wie aus dem Buſch hervorſchießen— den Blick jogar etwas Finfteres. Wie Roſſini offen und redfelig, jo ift Auber zugefnöpft, wortfarg, förmlich. Man wird ihn jelten lächeln jehen, vielleicht nur im Geſpräch mit Damen. Sein Geihmad für glänzende Gejfelligkeit fand in diejer Saijon ein ergiebiges Feld. Ich ſah Auber gleich unermüdlich in den prachtvollen Soiréen, welche der Kaijer, der Marſchall

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Vaillant, die Minifter Rouher und Forcade gaben, dann bei der Preisvertheilung, endlich zu wiederholtenmalen in der Oper. Bei den Italienern fehlte er felten, wenn Adelina Patti jang, die er als die erſte lebende Opernfängerin ſchätzt. Man ſah ihn da vorn in der zweiten Sperrfigreihe ganz begeiftert applaudiren; für ihr Abſchieds-Benefice hatte er ein prachtvolles Bouquet aus Nizza fommen laſſen. Wenn eine feiner Opern gegeben wird, zeigt fih Auber niemals im Saale, fommt aber gern auf die Bühne. Ich traf ihn da mitten unter den Fifchern von Bortici, in einer unglücdjeligen Vorftellung der » Stummen«, die traurige Bergleiche in feiner Erinnerung erwedt haben muß. Aber auch er ſelbſt, der Componift diejer hinreißenden Oper, gab und Anlaß, die Verheerungen der Zeit zu beflagen: eine große Balletmufif, für die Markticene des dritten Actes von ihm neu componirt, war fo überaus ſchwach und banal, daß man fi fürmlic zwingen mußte, an die Autorfchaft Auber’s zu glauben. Ungleich hübſcher, wenngleich nicht hervorragend, ift ein Eleines einfaches Andante, dad Auber hier für die Patti componirt hat und das fie ald Einlage im »Barbier von Se: villa« vorzutragen pflegt.

In der großen Jury über die Preis-Cantaten und Friedenshymnen war Auber unfer PBräfident fein Bräfident auf dem Anichlagzettel, wie Roffini, fondern ein jehr wirklicher. Die erjte rohe Arbeit des Durchſpielens aller 200 Eantaten und 800 Hymnen machte er allerdingd nicht mit der ent- menschtefte Barbar hätte ihm das nicht zugemuthet aber den zwei langen letten Sigungen, in welchen die beiten der eingelaufenen Compofitionen gehört wurden, wohnte er aufmerf: jam bei. Leider betheiligte er fih an den Urtheilen und Bor: Ihlägen mit feiner Sylbe, fondern beichränkte fih darauf, Die Abftimmung in präciier Weife zu leiten und das Rejultat fund: zugeben. Unſere oben erwähnten Vorarbeiten fanden im Conſer— batorium neben dem Arbeitszimmer Auber’3 ftatt, in welches er nur durch unſeren Saal gelangte. So konnten wir ihn denn täglich in feiner vollen Thätigfeit beobachten. Bald kam er von den Prüfungen in der Geſangs- oder Declamationd-Clafje, um fih fofort zu jenen der Geiger oder Pianiften zu begeben;

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bald conferirte er mit Lehrern oder Beamten der Anjtalt furz, er war unermüdlich. Nur wer dies große und complicirte Snftitut kennt, macht fi einen Begriff von der Thätigfeit, Die es dem Director, jei e8 auch nur in formeller Hinfiht, auf: erlegt. Zu einer der Glafjenprüfungen nahm mich Auber freund: ih mit; er ſaß da mit vier Profefforen am grünen Tifch, hörte ein Dutzend Schülerinnen ihre Stüde vorfpielen und zeichnete nach jeder Production feinen Calcül ind große Bud).

Eine der wenigen Aeußerungen über Muſik, die ich von Auber vernahm, zeugte von feinem Studium und feiner Ver: ehrung der Gluck'ſchen Muſik. Gevaert hatte ihm eben mit: getheilt, daß er Gluck's »Armida« für die Große Oper vor: bereite. Auber lobte die Mahl dieſes Werkes, dad er der »Alceſte« vorzieht, und citirte gleich die herporragenditen Stüde daraus. »Aber«, fügte er lebhaft hinzu, »wie viel hat auch der Tertdichter dazu gethan! Welche Verſe, welche Situationen! Man muß Gluf um fo ein Libretto beneiden«. Iſt es nicht harakteriftiich für den franzöſiſchen Componiſten, dies Hochſtellen des Tertdichter *) und neidvolle Rühmen eines faſt 200jährigen Librettos?

Welche Zeiten ſind über dies weiße Haupt hinweggezogen! Als Knabe hatte Auber noch oft Ludwig XVI. geſehen, deſſen Caroſſen ſein Vater bemalte und vergoldete. Die erſten Ro— manzen des zwölfjährigen Auber wurden von galanten Damen des Directoriums in den Salons von Barras geſungen. Vor 62 Jahren ward feine erſte kleine Oper von einer Dilettanten— Gejellihaft bei Doyen in Paris gefpielt. Dann ging er als »Handlungäbefliffener« in ein Bankierhaus nach London, fehrte, dieſes Berufes bald überdrüffig, nach Paris zurück und entſchloß fih, feine muſikaliſchen Studien bei Cherubini von Grumd aus neu zu beginnen. Seine zwei erjten Opern im Theätre Feydeau fielen durch. Adolphe Adam, der Componift des »Poſtillon«, bat ſich in ſpäteren Jahren die Partituren derjelben aus. »Was, um Himmelöwillen, wollen fie damit anfangen?« fragte Auber. »Es find milerable Verfuche.e »Deſto befier«,

V Oninault. ar End

604 Muſikaliſche Briefe aus Paris. (1867.)

entgegnete Adam, »ich will fie meinen Schülern zeigen, jo oft fie muthlo8 werden.«

Mit Entzüden habe ih die »Stumme« und »Fra Diavolo« hier wieder gehört, die jeit vierzig Jahren nichts an Friſche und Glanz eingebüßt. Es ftimmte mid glüdlih, den Mann zu fehen, der dies einft gejchaffen und jegt in feinem hoben Alter mit ungebrochener Lebensluſt fortarbeite. Er fühlt fi eben innerlich jung, was kümmert ihn das Datum feines Tauf- ſcheins? »Der arme Garaffa! wie er alt wird«, flüfterte Auber, als jein jüngerer College in ber Juryfigung erſchien. Mir fiel unwillkürlich unfer Heldengreis Radetzky ein Und jein Bedenken gegen den »zu alten« Windiſchgrätz. Auber hängt feſt, aber ohne Aengſtlichkeit am Leben, mitunter fogar nicht ohne Humor. »Der Tod fcheint wirklich unter den alten Opern— Gomponiften aufräumen zu wollen«, jagte er, von Meyerbeer’s Zodtenfeier heimfehrend, zu einem Freunde »jegt kommt die Reihe an Roſſini.«*)

*) Die Prophezeiung traf unerwarteter Weife ein: Roffini

(zehn Jahre jünger ala Auber) ftarb im folgenden Sahr, den 14. No— vember 1868,

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