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eutſche Aundfdan.

, Zr: 7 Herausgegeben * el

von

Julius Rodenberg.

(April Mai Jduni 1890.) u 3

3and LXIII.

= ——

Berlin. Derlag von Gebrüder Paetel.

Alexandrien, Ernſt Gimpel. Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. Athen, Karl Wilberg. Bafel, Lonis Jenke's Buchhandlung. Bofton, Karl Schoenhof. Brüffel, 6. Muquardt's Hofbuchhandlung. Budapeft, 6. Grill’ Hofbuhbandlung. Buenod-Wired, 2. Jacobjen & Go. Bulareft, Alexander Degen- mann. Sotſchek & Go. Chicago, Kölling & Klappenbach. Ehriftiania, Albert Gammermeyer. Cincinnati, Wilde & Co. Dorpat, Theodor Hoppe. &. 3. Karotw’s Univerfitäts-Buhhandlung. Hapftadt, A. Braun. KRonftantinopel, Lorenk & Seil, Hofbuchhandlung. Kopenhagen, Anbr. Fred. Hoeſt & Sohn, Hofbudj- handlung. Wilh. Prior Hofbuchhandlung. Liverpool, Scholl & MeGee. London, Dulau & Go, D. Rutt. a. Siegle. Trübner & Go. Williams & Norgate. Luzern, Dolefhal’s Buchhandlung. Lyon, H. Georg. Mailand, Ulrico Hoepli, Hofbuchhandlung. Mitau, Tr. Lucas. Montevideo, L, Jacobjen & Go. Mostau, 3. Deubner. Wlerander Lang. Sutthoff’fge Buchhandlung. Neapel, Heinrich Detten, Hofbud- banblung. F. Furchheim. New-PMort, Guftad E. Stedhert. E. Steiger & Go. B. Weftermann & Go. Odeſſa, 8. Rudolph's Budyhandlung. Paris, G. Fiſchbacher. Haar & Steinert. F. Vieweg. Betersburg, Aug. Deubner. Garl Rider. H. Schmitzbdorff's Hofbuchhandlung. Philadelphia, E. Schaefer & Korabi, PBifea, Ulrico Hoepli’s Filiale. Borto-Alegre, U. Mazeron. Meval, Kluge & Etröhm. Ferdinand Waflermann. Riga, I. Deubner. R. Kymmel's Buchhandlung. Rio de Janeiro, Laemmert & 60. Rom, Loeſcher & Go., Hofbuchhandlung. Rotterdam, W. J. van Hengel. San fFrancldco, Fr. Wilh. & D. Barkhaus. Santiago, G. Brandt. Stodholm, Samfon & Wallin. Tanunda (Süb-Auftralien), F. Bafedow. Tiflis, &. Baerenflamm Wie. Balparaifo, G. F. Niemeyer. Warſchau, E. Wende & Go. Wien, Wild. Braumäller & Sohn, Hof- & Univerfitäts-Budhhanblung. Wilhelm Fyrid, SHofbuähandlung. Manz’ihe E. k. Hofverlagd- & Univerfitäts-Buchhandlung. Holohama, H. Ahrens & Go. Rachf. Züri, 6. M. Ebel. Meher & Zeller. Orel Füßli & Go. Sortiment (Mibert Müller).

Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitichrift unterfagt. Meberfegungärechte vorbehalten.

Dnhalts-Derzeihniß

zum

Dreiundfechzigften Bande (April Juni 1890).

u

I. Unter dem Satalpenbaum. Erzählungen von Konrad

Mähly. IV/VII (Scluf. a a nd a a Der internationale Arbeiterichug. Bon Dr. Georg Adler, Docent der Nationalötonomie an der Univerfität Freiburg i Br. fi * = 4 4 a 4 4 42 4 4 = fi 4 2 fi fi 4 41 Ariſtokratiſcher Radikalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzſche. Von Georg Brandes j 52

IV. Franz Dingelftedt. Blätter aus feinem Acchieß. Mit Kand- bemerkungen von Iulius Rodenberg. VII. Der fosmopolitifche Nachtwächter und Geheime Rath (1841—-1851). II. Stuttgart

(1848 1861)........... . 90 V. Dr. Laurentius Scholz von Roſenau, ein Arzt und Bota-

nifer ber Renaiffance. Bon Ferdinand Cohn (Breslau). . . 109 VI. Zur Erinnerung an Andräffy . . 2 2 202... 127

143

Karl Frenzel . . » ee are

Yin,

153

Literarifche Neuigkeiten ; 160

Was Gottes Wille u. Sergei bon Frapan . . 161

XV. Joſeph in ———— Bon Beintig Brugfe) ae ce 8 XVI Aus dem modernen Stalien. Don P. D. Filder . . . 255 XVII. Zeitgendffiiche Gedantenftrömungen. Bon Lady Blenner-

279

(Fortfehung umftehend.)

IV Deutihe Rundſchau.

Seite XVIII. ranz Dingelſtedt. Blätter aus feinem Nachlaß. Mit Rand—

bemerkungen von Aulius Rodenberg. VII. Der kosmopolitiſche Nachtwächter und Geheime Rath (1841 -1851). IV. Der Ausgan

290

Neue Aetenjtüde zur Keuolntions eihihte . . . . 31 = Erinnerungen eine Schleswig-Holfteiners . XXU. Literari XXI. Literarifche Neuigkeiten ji gg XXIV. Zwiſchen Kirche und Bajtorat. Rovelle von Mite Aremni

XXV. GStammbucdhblätter aus Goethe's Nachlaß. Mitgetheilt

von Dr. Walther Bulpius . . ; XXVL. Beitgenöfjijche Gedantenfrömungen. Bon £ady

De. 3

XXVII. io. Bon £. Sie-

XVII. Heilige Bäume und Pilanzen.

XXIX Don Dnlzeitinn Novelle von Salvatore Farina. Erſter

T eil LIV.

XXXIV. Zur Geſchichte der deutſchen Goldſchmiedekunſt. Von Iulius Leſſing. 1

XXXV. Literari Er EEE EEE

XXXVI. Literarifche Neuigkeiten. > 2 2 2 2 een. 480

Unter dem Kafalpendaum.

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Graählungen don

Konrad Mähly. ESchluß.)

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Als es dämmerte, ſahen die Belagerten vor dem gegenüberliegenden Hauſe den alten Bettler wieder auf der Staffel Platz nehmen. Timotheus aber gebot, Frau Sophia ſolle ein helles Feuer in der Küche anzünden und daneben die Bündel der vier Kinder zurecht legen. „Ihr müßt über die niedere Mauer des Nachbars in den ſchmalen Durchgang entweichen, ſobald es dunkel iſt. Noch treibt ſich die ganze Schar der Arbeiter in den Gaſſen umher, um den Feier— abend zu genießen. Da werdet Ihr um ſo weniger auffallen. Sollte Euch aber etwas zuſtoßen, ſo kehrt denſelben Weg zurück. Einer der flinken Geſellen wird ja entwiſchen können, um mich zu Hülfe zu rufen.“ Noch ein banges Stündchen verftrich; in der Küche brannte ein helles Teuer, draußen wurde es Nacht, und in dem erleuchteten Fsenfter, dem Haufe gegenüber, lagen die Weiber und lauerten, während von der Staffel darunter die Augen des Kirchenbettler3 herüber glogten.

„Seht ift es Zeit,“ ſagte Timotheus. „Keinen Abjchied, keinen Händedruck. Gott befohlen! hr wartet in St. Goar. Die Heiligen fein mit Euch! So Euch mein Patron beihüßt, male ich ihm ein Bild in feine Capelle.“

Damit gingen fie in die Küche, deren Thüre Timotheus nur jo lange jhloß, bi3 die Seinen dur) die hintere Thüre entronnen waren, während er bie Docken um den Tiſch vor dem Herdfeuer aufftellte. Dann trat er wieder in die vordere Stube und ließ die Thüre weit Hinter fih offen. Mit dem Rüden an das Fenſter gelehnt, jah ex mit Wohlgefallen, welch' ſchöne Schatten feine Puppen in die Stube warfen, wie fie fi) in dem fladernden Feuerſcheine ganz natürlidy herüber- und hinüberneigten. Dann vief er ihnen fcherzende Worte zu, ging auf und ab zwiſchen Herd und Fenſter und legte zuweilen väterlich feine Hand auf Lutzens Kappe oder kniff Theodora jcherzend in ihre Wangen von weißer Wolle. Don Zeit zu Zeit warf er einen neuen Holzſcheit auf den Herd und ftellte ſich unter die Thüre und ſprach eifrig gegen feine ftille Familie. Als eine Stunde vergangen war, wurde er ruhiger. Nun mußten die Flüchtlinge dem Rheine

Deuiſche Rundſchau. XVI, 7.

2 Deutſche Rundſchau.

geborgen ſein, denn einer der ſchnellfüßigen Knaben Hätte ſich doch losgemacht, falls fie auf ein Hinderniß geftoßen wären. Triumphirend trat er ans Tyenfter und wünjchte den alten Vetteln drüben, indem ex die eichenen Läden ſchloß, eine laute quite Nacht. Dann ging er an die Hausthüre und jperrte fie mit eiferner Stange Noch eine Weile ſchritt er in der verfchloffenen Stube auf und nieder, die Hände auf dem Rüden und das Haupt gramvoll geneigt, da er mit einem ſchweren Entichluffe kämpfte. „Es muß fein,” jagte er dann; „möge mein Schuß- patron mir die Sünde verzeihen!“

Bei dem Kienſpan am Herbe hielt ex ftil und neftelte aus feinen Ge— mwändern eine Kleine Kapfel hervor, die er öffnete. Unter dem Glafe lag ein Stücken alten Tuches, wenige Wollfäden waren es. Timotheus aber betrachtete fie inbrünftig, denn fie ftammten aus dem Gewande ſeines Patrons, das diefer als Biſchof getragen. Ein Mönd aus Ephefus Hatte das Heilthum feinem Vater verkauft, und der Kölner Maler Hatte dafür ein großes Bild der drei Könige, auf drei Altarflügeln gegeben, um die Slofterkirche zu zieren und dazu nod einen Haufen Geldes. Den MWohlftand der Seinen hatte er durch dieſen Kauf beträchtlich verringert, aber er hatte ihn dennoch nie bereut, denn der Roc des Heiligen hatte ihn vor allem Unglück behütet und ihn gefund erhalten bi3 in fein hohes Alter. Innig haftete des Sohnes Auge jet auf dem Kleinod und er fagte: „Sp hilf mir, viellieber Herre, dag Alles wohl gerathe. Du jelbft weißt, daß ich mich ander3 nicht löſen kann von meinem harten Eidſchwur.“ Nachdem er feine Reliquie wieder forglich geborgen, nahm er jodann bedädhtig den brennenden Span vom Herde und Hetterte mit demjelben nad) dem Speicher, wo das Reifig und die Holzvorräthe der Frauen geichichtet tvaren. „Das Haus werde ich nicht verlaffen,“ fagte er mit einem bitteren Laden, „wenn e3 nicht einftürzt. Mehr habe ich nicht geſchworen. Alſo fahr Hin, altes Dad, deine Herren wollten es nicht anders.“ Und mit einem fräftigen Segen ftedte er feine Tadel zwiſchen die Reiſigbündel, in denen es fofort unheimlich zu kniſtern und zu prajjeln begann. Ein Paternoſter fprechend, blieb der Dialer mit gefalteten Händen vor dem roth züngelnden Elemente ftehen; ala ihm aber der Qualm die Augen beizte, ftieg ex eilig die Leiter twieder hinab nad) der Küche. Dort zog er unter wilden Flüchen die brennenden Späne aus dem Herdfeuer. „Hier,“ tief ex, indem er den erften unter Sophia’3 braunen Schrank fchleuderte, „brenne, alter Blunder! Friß, rother Hahn!“ rief er wieder mit wilder Luft, indem er einen neuen Span in Theodora’3 Lade warf. „Brennt, ihr Holztafeln, die ich bemalen wollte! Brennt, ihr Rollen, die mir jo manche Abendjtunde verkürzt!“

„Meiſter Timotheus,“ kreiſchte es jebt draußen auf der Straße, „Meifter Zimotheus, e3 brennt!“ Schwere Schläge jchmetterten gegen das gefperrte Thor und aus dem Dachfenfter Freifchten die alten Weiber: „rau Nachbarin! Jungfer Dora! E3 brennt in Eurem Speicher. Teuer! Teuer!" In der Straße entftand ein wildes Laufen, und Timotheus jah ein, daß e3 Zeit fer, zu enttweichen. Mit fejter Hand nahm er die Leiter, deren er fich vorhin bedient Hatte und jchritt nad) dem Hofraume. Dort erklomm er mitteljt derjelben eine Mauer, durch einen Vorſprung gegen die Flammen gededt, die bereit3 heil lodernd zwischen den Sparten de3 Daches hervorſchlugen. Ein friiher Abendwind pfiff ihm hier

Unter bem Ratalpenbaum. 3

um die Ohren, der das Teuer anfadhte, aber auch den qualmenden Rauch von ihm twegjagte. „Feuer! Feuer!“ tönte es draußen von Straße zu Straße. Man hörte die Leute drängen und rufen. Hufe Klapperten, und wirres Schreien über: tönte das unheimliche Kniftern und Zanken der Lohe, deren rothe Fahne herüber- und hinüberſchwankte. Mehr ala einmal ſchien die Flamme, um die Ede züngelnd, den Dealer verjengen zu tollen, aber jofort fprang fie twieder ab, und der Wind führte die rothen Funken und ftreute die brennenden Schindeln nad) der anderen Seite. Zog der Rauch vorüber, jo konnte Timotheus durch das Henfter der Küche feine Puppen fiten ſehen. Faſt graute e3 ihm felbft, wie fie ftarr und unbeweglid Stand hielten. Hell beleuchtet erftrahlte Theodora's wohl: befanntes blaues Gewand und die Haube Sophien3 wehte unheimlich in dem Feuerſcheine. Draußen bildeten die Leute jeßt eine Kette nach dem Rheine und reichten fi die Eimer. Gerichtädiener wollten eindringen, aber bie gefperrte Thüre wehrte ihnen den Zugang. Auch an den Trenfterläden arbeiteten fie ver- geblich, als bereit3 krachend der Dachſtuhl zufammenftürzte und die unberufenen Helfer mit brennendem Sparrwerk überfchüttete. „O Jeſus, Maria und Joſeph,“ jammerte eine der alten Vetteln, „die ganze Familie ift verbrannt. Dort ſitzen fie erftict in der Küche.“

„Nein,“ rief der Bettler, „ich jehe den Meifter auf der Mauer. Helft ihm herab.“ In diefem Augenblide ftürzte vor Timotheus Füßen die verjengte Dede ein, und die Flammen ſchlugen nun auch aus den unteren Tyenftern. Nur bie vier Wände ftanden noch. Taghell beleuchtet jah Timotheus drüben die Menge, von deren Gefichtern der Widerſchein der rothen Flammen glänzte. Auf feiner Treppe kauerte noch ber Kirchenbettler, der da3 Haus bewacht hatte. Neben ihm ftand der weljche Mönch Scipio, deſſen weiße Kutte von der Flamme ver= fengt war. Ihm zur Seite ftand der bleiche Subdiacon, fein Angeſicht mit einem Ausdrud büfterer Verzweiflung nad ihm hinüber richtend. „Ehriwürdiger Herr!“ rief ihm Timotheus mit mädtiger Stimme zu. „Euch meine ich, Herr Diacon, Euere Ziehmutter ift todt, Euere Milhbrüder find todt, Theodora ift todt! Verlangt Ihr auch jet noch, daß ich das Haus nicht verlaffe? Bedenkt doch, in einem Aſchenhaufen zu bleiben, habe ich nicht gelobt. ch fagte: „Ach bleibe im Haufe, wenn es nicht einftürzt! Sprecht mid) los, oder joll ich den Leuten bier verkünden, warum Euch die Kanones auf einmal einfielen ?“

Marcus ftarrte nur bleich und wild herüber. Er betete im Herzen, auch dieien Lebten der Familie möge die Flamme erreichen, damit Schutt und Aſche das ganze Geheimniß feiner ſchwarzen Seele begrabe! Aber Bruder Scipio, der Predigermönd, antwortete in lautem Zuruf: „Die mächtige Hand des Herrn Hat Euere läfterliche Ehe gelöft. Nun mögt Jhr Euer Haus verlaffen, da der Greuel ausgetilgt ift aus der Gemeinde.“

Drüben aber lachte der Meifter gleih einem Wahnfinnigen heil auf. „Sehabt Euch wohl, Ihr Herren!” rief er. „Komme id in das ewige Teuer, fo jehen wir uns wieder! Ginge e3 aber recht zu auf Erden, jo ftrafte man mit Hälsling, Strid und Schnüren den Pfaffen, der den Vater verdirbt, damit er an der Tochter jein Gelüfte geboße. Das Hag’ ih Dir, Du fromme Chriſten—

heit!” Damit jprang er hinab zur Erde. 1*

4 Deutihe Rundicdhau.

„Er bat ſich ins Feuer geftürzt,“ jchricen die Frauen. Timotheus aber fchmiegte fi) an der Mauer nad) dem Pförtchen, da3 in den Nachbarhof führte, und fi recht3 und links zwiſchen Scheunen und Ställen hindurchwindend, ge: langte er in eine Seitenftraße, durch die er raſch nach dem Rheine hinabging. Dort bewegte fi eine erregte Volksmaſſe durcheinander. Nachen lagen unbe: wacht am Ufer, die die Neugierigen in die Nähe der Brandftätte getragen hatten. Ruhig Löfte der Meifter die Kette des nächften, nahm die Ruderftange und ftieß hinaus in den Strom, ber feurig roth dahinfloß, die Lohe wideripiegelnd, die nun aud) das Dad der nädhften Scheune ergriffen Hatte. Timotheus aber arbeitete jo eilig ex konnte mit jeiner Stange vorwärts, und bald lagen die Brüde und die Stadt Hinter ihm. Noch lange ſchaute er nach der lodernden Flamme zurüc bi3 ihm das höher werdende Ufer die Ausficht verdedtte. Nur noch ein ſchwacher gelber Schein ftand über der Stelle, nad) der der Maler blidte, jo oft er mit der Stange fi) wenden mußte. Haftig arbeitete er vorwärts auf dem dunfeln Strome, der unheimlich mit ihm dahin ſchoß. Nach einiger Zeit jah er einen großen Kaufmannskahn, wie eine Schwarze Laft Hinter ſich auftauchen. Da hielt er ein und ließ das Schiff an fi herankommen und legte dann mit feinem feihten Boote raſch an demſelben an: „Darf ich mein Scifflein an das Euere binden?“ fragte er den Schiffer.

„Werft mir die Kette zu, jo will ih Euch anhängen,“ fagte der Mann.

„Gott vergelt’ es,“ erwiderte der Maler, indem er dem Schiffer die Kette reichte. Nun ging e8 ruhig den Strom hinab. In feinem Nacden fand der Maler einen groben Schiffermantel, den der Beſitzer Hinterlaffen hatte, al3 er zum Brande eilte. Behaglich hüllte Timotheus ſich in denjelben, ſchob einen Bündel alten Segeltuchs unter fein Haupt und jchaute in den hellen Sternen» himmel, bi8 des Mondes lauterer Schein die Berge vor ihm erhellte und nad jo vielen Mühen dem Meifter die Augen zufielen und das einförmige Raufchen der Welle ihn in den Schlaf wiegte. Als dev Morgen anbrach, fröftelte ihn. Er erhob fi und reckte die Glieder. „Kommt berüber, Herr,“ rief der Schiffer ihm zu, „und wärmt Euch beim Feuer. Ein Glas heißen Würzweins ift Euch auch gegönnt. Was war da3 für ein Teuer, das geftern in Mainz aufleuchtete?“

„Es muß bei der Krahnengaſſe geweſen jein,“ ſprach Timotheus Faltblütig, indem er die fteifen Glieder redte. Mit Dank nahm ex den heißen Wein und fragte, wann fie in St. Goar anfommen würden. „Um Mittag,“ war die Antwort. Froh Jette fich der Meifter nun neben den Fergen und ließ dieſen erzählen, wie er Thal auf und Thal ab fahre das ganze Jahr. Timotheus jagte ihm, daß ihn in St. Goar die Seinen erwarteten, und ob der Mann gegen Geld und gute Worte fie mitnehmen wolle nad) Köln. Der Handel war bald geſchloſſen, und auch dazu war der freundliche Schiffer bereit, wenn er nad) Mainz zurüdtomme, das geliehene Schifflein am Krahnen anzubinden, wo es der Be— ſitzer ſchon abholen werde. Als die Thürme von St. Goar auftaudhten, fah Zimotheus ſchon von Weiten feine ganze Familie am Landungsplatze ftehen. Da ward jein Herz fröhlich, und er wehte ihnen zu mit der Mütze, fie aber ftedten die Köpfe zufammen und ſchauten wieder und wieder, bis fie ihn erkannten. Sobald er nahe genug war, rief er ihnen zu: „Frei, freil Mein Wort habe

Unter bem Ratalpenbaum. 5

ih gelöft. Der Gejandte de3 Papſtes ſprach mich los, und jelbft der hochwürdige Subdiafon Hatte nicht3 zu erwidern.“ Da fprangen fie jauchzend zu ihm ins Schiff und Halften und koſten ſich einander. Gr aber jagte, fie jollten ihre Sadıen in der Herberge an fi nehmen, denn der Schiffer wolle weiter nad) Köln. Nachdem fie dann noch Mundvorrath eingekauft, jaßen fie froh auf dem Verdeck beiſammen. Bon dem Brande aber ſchwieg Timotheus, damit da3 ängit- liche Herz feines Weibes ſich nicht darob befümmere. Da der Wind günftig war, jeßte der Schiffer noch etliche Segel auf und wie ein Pfeil flog jein Kahn an den Ufern vorüber. Al3 der Maler jo mit den Seinen der Heimath entgegen- fuhr, wurde ihm fein Herze leicht und fröhlich. An den Ufern erhoben fich ftatt- liche Thürme und glänzende Schlöffer. Die Auen glänzten im erften Grün de3 Frühlings, und der Rhein erzählte ihm murmelnd alte Gejchichten aus feiner Jugend, wie diefelbe grüngoldene Welle ihn auf bewimpeltem Schiffen zu mandem frohen Feſte getragen hatte. Der einförmige Ruderſchlag und das Schaufeln des Fahrzeugs wiegte feine Sorge ein, und er wähnte, daß nun alles Schwere hinter ihnen Liege. So jchaute er de3 Tags in die ſmaragdnen Wellen, durch die das Schiff jeine krauſen Furchen 309 und blickte in der Naht nad) den Lichtern, die body oben am Berge aus den Schloßfenftern herabjtrahlten. Als am dritten Tage die Sonne ſich jenkte, da erhoben am goldenen Abendhimmel fi) die ftumpfen Thürme des heiligen Köln vor ihren frohen Bliden und jchieden fi) wie ein dunkles Schattenjpiel von dem lichten Glanze ab. Mit fundiger Hand Ienkte der Schiffer feinen Rheinfahn dur) das Gewirre beflaggter Maſten und legte an einem Staden an, wo zahllofe Matrojen beichäftigt waren mit dem Ausladen von Kiften, Ballen und Fäſſern, die über luftige Brüden nad) dem Ufer gerollt wurden. Die Knaben aber begannen zu fingen: „Daheim, Daheim ift do Daheim,“ und nachdem fie dem wackern Schiffer die ſchwielige Rechte geihüttelt Hatten, nahmen fie ihre Kleinen "Päckchen in die Hand und fprangen ans Ufer.

„Aermer kommen toir wieder,“ fagte Timotheus, „al3 wir ausgezogen find, aber die Knaben haben vet: Daheim, Daheim ift do Daheim!“ Fröhlich drängten fie fih durch das Menichengewimmel der Straßen, in denen ein Kauf: manndladen neben dem andern fich öffnete. In den großen Lauben, die das Erdgeſchoß der Häufer bildeten, brannten bereit Lichter und beftrahlten rothe Apfelfinen und Feigen aus Welſchland, oder gefpickte Gänje und pralle Würfte, bier goldene Armſpangen und Kleinodien, dort Seidenftoffe und Sammettücher, fo daß die Heimfehrenden ordentlich ſtolz wurden auf ihre Vaterftadt; denn mit foldem Reihthum konnte fich Feine der Städte am Rheine meffen, die fie gejehen. Endlich ftanden fie vor dem hohen Giebelhaufe, in dem ſchon des Malers Eltern und UÜreltern gewohnt Hatten. Der Klopfer fiel laut auf das Thor, und bie greife Sabina, die Beichließerin, raffelte drinnen mit einem Sclüffelbunde. Das Thor fprang auf, und mit frohem Erftaunen begrüßte die Schaffnerin ihre unerwartet zurückkehrende Herrſchaft. Die Kinder aber waren fröhlich, die ge- liebten Stuben und die vertrauten Eden wiederzufehen, und jauchzten ob ber glücklichen Heimkehr.

6 Deutſche Rundſchau.

Am folgenden Morgen ſprach Timotheus zu den Seinen: „Es geziemt ſich, daß unſer erſter Gang nach der Kirche ſich richte, in der einſt die Ehe einge— ſegnet ward, die fie heute für ungültig erklären wollen.” So befahlen fie der alten Sabina das Haus, und wanderten in Eintracht der Gereonskirche zu, wo die Meſſe eben begann, als fie eintraten. Sie fanden da3 Gotteshaus ſchwarz außgeichlagen, und unheimlich bewegte fih darin die ftille Gemeinde, al3 ob fie eine Todtenfeier begehe und den Entjchlafenen nicht erwecken wolle duch Tautes Gebahren. Timotheus nahm zur Seite mit jeinen Söhnen Aufftellung, während Frau und Tochter in der Mitte des Schiffe niederfnieten.

Die Chöre langen dumpf und fchauerlid:

Inter oves locum praesta Et ab hoedis me sequestra, Statuens in parte dextra.

„Bei den Frommen und Gerechten ftelle mich zu deiner Rechten“, wiederholte ſich Timotheus die lateinischen Worte und der Schauer des cantus firmus ging ihm durch Mark und Bein. Der Priefter hatte inzwiſchen die gemweihte Hoftie in einen goldenen Sarg auf dem Altar gelegt, deffen Dedel von ſelbſt ſich ſchloß. Zimotheus wußte, daß am dritten Tage, am Morgen des Ofterfeftes, diefer Dedel ebenjo wieder fich öffnen und die Hoftie von jelbft emporfteigen werde ala Symbol der Auferftehung. Inzwiſchen aber hielten zwei wächſerne Engel Wacht an dem heiligen Grabe, der eine zu Häupten des Sarges, der andere zu feinen Füßen. Darauf beflieg ein Mönch der neuen Bruderſchaft des heiligen Franciscus in brauner Kutte die Kanzel und redete bewegliche Worte über das Leiden des Herrn und feine fünf Wunden, und was eine jede bedeute. Der Meifter jah wohl, wie inbrünftig und heftig der Prediger oben fich erging. Auch die Bewegung blieb ihm nicht verborgen, die die Hörer ringgum ergriff. Er hörte feufzen und ichluchzen, und oft war e3 fo ftill, daß Timotheus feine eigenen Athemzüge ver— nehmen konnte. Aber de3 Malers Herz war noch allzu voll von dem Aufregen- den, da3 hinter ihm lag, als daß er den Worten des fremden Mönche hätte folgen können. Er ſchaute faft immer nad den Bänken der Frauen, wo Theo- doras reined Profil fi) wie ein Lichtes Engelstöpfchen von dem ſchwarz um- mwundenen Pfeiler abhob. Fiel dann der rothe Schein des Fenſters auf fie, fo ſchienen es ihm die Flammen des Hauſes zu Mainz zu fein, aus denen er auch ihr Glüd gerettet; tauchte fie in dem bleichen bläulichen Schimmer, jo war «8 ihm, als ob er fie todt aus dem Strome ziehe, in den fie fi aus einem der Klofterfenfter getvorfen. Dann aber richtete fie fi) auf, und der goldene Licht— ſchein verklärte ihr ſchönes blondes Haupt mit einem Heiligenfcheine der trium— phirenden Kirche. Da plötlich jah der Maler jein Kind ftarr in eine Ede blicken. Sie fing an zu zittern und zu erbleichen. Blaß wie der Tod fiel fie ſchließlich an die Schulter ihrer Mutter, und al3 dieje die Augen nad) der gleichen Seite richtete, jah der Maler aud) Frau Sophia die Farbe wechjeln. Beunrubigt trat Timotheus einen Schritt vor, um zu jehen, was die Urſache dieſes Schreckens jei. Da gewahrte er an eine Säule gelehnt die lange ſchwarze Geftalt des Sub- dDiaconen Marcus, der mit jeinen dunfeln Augen unverwandt nad) den beiden Frauen ftarrte. „Der Elende,“ murmelte der Maler. „Er ift ung mit einem

Unter dem Katalpenbaum. 7

Schnellſchiffe hierher gefolgt. Wir werden keinen Frieden vor ihm haben, bis ich ihn zur Hölle heimſende, die ihn ausgeſpieen hat. Auch der Dominicaner iſt bei ihm, ſagte er dann erſchreckt, denn jetzt erſt erblickte er die weiße Kutte des Predigermönchs, der ſein energiſch geſchnittenes Profil aufmerkſam der Kanzel zuwendete. „Er hat ſeinen Spürhund mitgebracht,” ſagte der Maler in ſtiller Ver— zweiflung. „Ich fürchte, wir find verloren.“ Finſtere Gedanken zogen an dieſer Stätte des Friedens durch fein Herz, wie er ſich des Buben erwehren könne, der im Bunde mit einer übermädtigen Gewalt nad) feinem Liebften die unreinen Hände ausftrede.

Don dem, was in der Kirche noch weiter fidh zutrug, vernahm er nichts mehr. Er jah nur, wie fein Kind ſchwach, gleich einer Sterbenden, in den Armen der Mutter lag, die da3 Mädchen, jobald der Barfühermönd feinen Segen gejpenbet, Hinausführte. Eilig folgte er durch die nächfte Seitenthüre und fand die Tochter jchluchgend, in einem heftigen Weinkrampfe mitten unter den Leuten, jo daß er fie ernftlih bedrohte und fo raſch als möglih in eine Seitengajje führte, von wo fie langfam und traurig den Heimweg antraten. Die ganze Freude über ihre Heimkehr war von ihnen genommen. Ihnen allen war, ala ob der eine Mann Macht habe, ihnen die Heimath zur Fremde zu machen und den Sonnenjhein am Himmel auszulöſchen. Sobald fie aber in ihren vertrauten Wänden war, ſchien Theodora ſich zu beruhigen. „Berzeiht, Vater,” ſprach fie. „Aber die Predigt des Mönchs hatte mich erregt, und der Schreden war zu jäh. Die ſchwarz ausgefchlagene Kirche, die Lichter, die dumpfe Luft, das Alles drang auf mic) ein, und al3 nun plößlich dev Abjcheuliche vor mir ftand, nicht wie ein Menſch, jchattenhaft, übergroß, mit dräuenden Blicken, da verließen mich meine Kräfte. Aber Hier im Haufe fürchte ich ihn nicht. Hier jehe ich ihn ala Knaben und habe das Geficht vor Augen, das er machte, wenn er log und Dinge ab» leugnete, von denen doch Jeder wußte, er habe fie verübt und Niemand fonft. Ich will ihm die Fenſter zeigen, durch die er nmächtlicher Weile hinausftieg zu den lodern Zeifigen, mit denen er lieber verkehrte, al3 mit den Brüdern] und da3 Kämmerchen, wo ich ihn erwiſchte als er die Kaffe beftahl." Sie’ lachte aufgeregt, indem fie noch einmal die feuchten Augen trodnete. Auch die, Brüder traten jeßt ein. „Er ift hier!“ rief Mlerius ſchon unter der Thüre. „Habt Ihr ihn gejehen, Vater?” Der Meifter nidte traurig mit dem Haupte,

„Wer weiß,“ begann Frau Sophia tröſtend. „Vielleicht hat Marcus eine andere Sendung. Auch fein eigen Vermögen ift hier angelegt, und möglicher- weiſe hat er ganz andere Geſchäfte. Laſſet jet dieſe weltlichen Sorgen! Mix flingt die Seele noch von den Worten de3 heiligen Mannes, der die fünf Wunden jo herrlich deutete, und ich fühle, daß ich noch Feine diefer Schmerzen über mich genommen habe, wie einem Chriſtenmenſchen doch Pflicht ift. Den bleichen Ver— jucher hat und Gott gejendet, damit aud) wir ung an das Kreuz jehlagen laſſen, vor dem wir al3 feige Jünger geflohen find.“ In ihren Augen lag ein dem Gatten unbefannter Glanz, und ein Geift redete aus ihren Worten, der den Maler erſchreckte. „Iſt der Feind Schon in die Feſte eingedrungen?“ fragte er ſich. Aber er ſchwieg, während die Mutter nicht müde wurde, den Klang der Stimme, die edlen Gebärden des fremden Mönches zu preifen und zu wiederholen,

8 Deutſche Rundſchau.

was der Barfüßer von der Pflicht zu leiden geſagt habe. „Dich ſelbſt ſollſt Du tödten“, habe er gerufen. „Dich hungert, ſo faſte; dein Fleiſch gelüſtet, ſo gib ihm die Geißel; Dein Auge ärgert Dich, ſo reiße es aus.“ Dora ſchien, mit ſich ſelbſt beſchäftigt, wenig auf das zu achten, was die Mutter ſprach; die Söhne aber wurden gerade ſo, wie der Vater, verſtimmt von der Aufregung der wackern Frau, die ſonſt niemals ſo viel Worte gemacht hatte.

„Ich habe gelobt, dem heiligen Timotheus ein Bild zu ſtiften,“ ſagte nun der Vater, um die Rede auf andere Dinge zu bringen, „und ich denke, ich male ihn, wie er, dem Brande der Stadt Rom glücklich entronnen, das Schiff beſteigt, das ihn zu ſeiner Gemeinde in Epheſus zurückführt. Wir wollen morgen gleich unſere alten Vorräthe muſtern, um eine tadelloſe Tafel zu finden. Ihr aber meldet dem Zunftmeiſter Eure Rückkehr, damit Ihr in den Liſten nicht geſtrichen werdet; denn mit dev Malerjchule, die wir in Mainz errichten wollten, ift es nun nichts. Auch den Vergilius werden fie mir wohl ſchwerlich nachſchicken.“

„Wir aber,“ jagte Frau Sophie, und e3 lag eine ungewohnte Schärfe in ihrer Stimme, „wollen das Heil unferer Seele bedenken. Noch haben wir unfere Diterbeichte nicht abgelegt. Der Heilige Mann, der heute gepredigt hat, wird morgen Beichte hören. Bift Du bereit, Theodora, mit mir zu ihm zu gehen? w- wollen wir den ganzen Zuftand unferer Seele und alle ihre Noth offen-

aren.“

Dem Meiſter war es unlieb, daß ſein Kind, das kaum erſt ſich beruhigt hatte, neuen Aufregungen überliefert werden ſolle. Er wies darauf hin, wie bleich Theodora ausſehe, die durch die lange Oſterfaſten geſchwächt und die Schrecken des Morgens noch immer erregt ſei. Aber Theodora ſelbſt hatte der Mutter zugenickt mit ihrem ernſten, reinen Auge, und Timotheus wagte nicht, die Tochter an etwas zu hindern, was auch ihm eine heilige Pflicht war.

So ging der Tag ſtill dahin. Der Maler traf mit den Söhnen alle Zu— rüftungen, um fein Bild beginnen zu können. Die Frauen ſaßen in der Kammer und Sprachen die Gebete, mit denen man fich für die Beichte zu bereiten pflegte. Am folgenden Morgen verließen Mutter und Tochter in aller Frühe dad Haus, ohne gefrühftüct zu haben, da es Pfliht war, die Ofterbeichte nüchtern abzu— legen. Auch die Söhne verabichiedeten fih bald, um ihre Anerkennung ala Ges nofjen der Innung bei dem Zunftmeifter nachzuſuchen. Zimotheus blieb allein bei feiner Staffelei zuräd und verfuchte die Umriſſe feines neuen Bildes auf die Tafel zu bringen. Aber e8 wollte ihm nicht gelingen, dern allerlei Erinnerungen und irrende Gedanken trieben ihr Spiel mit jeiner Seele. „Sanct Timotheus war ein Biſchof von Epheſus; ob wohl auch er ſchon von verbotenen Ehegraden wußte? Sollte er ihn mit einer Tonſur malen, wie jeinen Lehrer Paulus? Iſt auch er fol ein Mönch geweſen, der das Heirathen ungern ſah?“ Als der Meifter das brennende Rom mit Strichen von rother Kreide jkizzirte, da fiel ihm ein, daß ber verfluchte Nero es angezündet habe und eine ſeltſame Be— Hemmung befiel ihn, wie wenn er fich ſelbſt als Brandftifter vor aller Welt anflage, indem ex dieſes Bild den Leuten vor die Augen bringe. Dennoch malte er lange und eifrig weiter. Es überraſchte ihn faft, ald alle Gloden der Stadt die Mittagsftunde verkündeten. Wo die rauen nur blieben? Nun waren fie

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ſchon ſieben Stunden in der Kirche und die zarte Theodora ungeſpeiſt und un— getränkt! Ihn ſelbſt hungerte nach ſo emſiger Arbeit, und er befahl der Magd— ihm Brot und Fiſch zu bringen, indem er ſich freute, daß mit dieſem Tage die Faſten zu Ende ſeien. Kaum aber hatte er feine Mahlzeit beendet, jo ſtand ſein Gheweib vor ihm. Sie jah feltjam falt und feindjelig aus, ala ob fie ſich inner- lid gegen ihm verhärten tolle. „Ich komme, Abjchied zu nehmen, Timotheus,“ fagte fie in ſchroffem Tone. „Es ift die letzte Gunst, die mir der Pater gewährte. Unjere Ehe ift verboten; ich will nicht das ewige Feuer erwählen, ftatt zeitlicher Noth. Was die Kirche geordnet, ift gut, auch wenn wir es nicht einjehen. Lebe wohl!“ Es Elang, al3 ob fie eine erlernte Lection aufſage. Der Maler aber ftarrte fie an, als verjtehe er ihre Sprache nicht. War fie plößlich irre geworben in Folge der Reden de3 fremden Mönchs?

„Wohl ift e3 jauer,“ jagte Frau Sophia dann in weicherem Tone, als fie das verftörte Antli ihres treuen Gefponjen jah, darinnen fie jede Runzel und jedes Fältchen kannte. „Aber ſoll ich viel kleine Freude Hier nehmen auf dem Erdreih und dort die ewige Dual? Die haben übel gekauft, die fo übergroße Freude des Paradieſes geben um ein jo furzes Freudelein in diefer Welt. Die fahren übel, denn fie haben tweder hier noch dort nichts. Welcher Todfünde auf ih Hat und ohne Reue damit von diefer Welt fährt..." Aber Timotheus ließ fein Weib nicht ausreden. „Bift Du unter die Bequinen gegangen, jo predige im Leuthaus,“ unterbra er fie rauf. „Wo ift Theodora?” Sophia erblaßte, aber fie ſchwieg.

„Wo ift unjere Tochter?“ wiederholte der Maler, indem er fich zornig erhob. Ihm ſchwante Unheil.

„Ich darf e8 Dir nicht fagen!” erwiderte ſie leiſe.

„Haben Di die Pfaffen völlig verwirrt gemacht?” ſchrie jet der unglück— liche Vater. „Du darfjt mir nicht jagen, wo mein Kind ijt?“

„Rein,“ antwortete fie hartnädig.

„Weib,“ rief der empörte Gatte, „mache mich nicht rajend. Sieben Stunden ſchleppſt Du da3 zarte Mädchen in die kalte Kirche, Du ſahſt geftern jelbft, wie fie frank ift nad) der langen Faftenzeit. Und nun fommft Du und ſagſt, Du darfſt dem Vater nicht jagen, two feine Tochter fich befinde?“

„Ich darf nicht, ich habe es gelobt!” ſagte fie in eifigem Tone.

„Du haft fie ausgeliefert, dem Marcus ins Garn gejagt, daß er jeine Luft büße. Ich weiß, fie hüpfen vor Freude, indeffen wir in Schande ſtecken. Ver— rückte, gehe, daß ich nicht thue, was mir leid iſt!“

„Sie ift wohl geborgen,“ erwiderte Frau Sophia ruhig.

„Im Kloſter?“ rief er. Wiederum blieb fie ihm die Antwort jchuldig. „So fahre hin,” rief ex ergrimmt. „ch danke es Deinen Pfaffen, daß fie mich von Dir befreien! Gehe mit ihnen zur Hölle!“

„Lebe wohl, Zimotheus,” verjegte fie janft. Als er aufblicdte von dem Tiſche, auf den er verzweifelt fein Angeficht gelegt, war fie verſchwunden. „Willen muß ich, wo fie fie verbergen,“ rief er dann. Er ergriff feine Mütze und ftürzte ihr nad. Draußen jah er fie eben noch um die nächſte Ecke biegen. Borfihtig folgte er ihr. Sophia ſchien nad der Gereonskirche zurückzukehren.

10 Deutſche Rundſchau.

Dann aber ſchlug fie ſich links. „Alſo zu den Karthäuſern Haben fie fie ge— bracht?“ Aber auch jetzt lenkte ſie ab und bog in die Straße ein, die zu den Dominikanernonnen führte. Dort vor dem Kloſterthore ſtand fie ſtill. Der Maler beichleunigte feine Schritte, um gleichzeitig mit ihr vor dem Thore ein— zutreffen, ſonſt konnte er nur mit Hülfe des Raths den Gingang erzwingen. Dann aber war es zu jpät; denn bi3 die Obrigkeit einfchritt, hatten die Nonnen jein Kind, Gott weiß wohin, geflüchtet. Jebt jah er, wie fein Weib am Thore klopfte. In fliegender Haft ftürzte er vorwärts. Schon ſah er dad Thor ſich aufthun. Sein Weib trat ein. Er ſah, wie fie mit dem Pförtner noch unter der Thüre ſprach. Dann verſchwand fie. Mit letztem Aufgebot aller Kräfte iprang er auf da3 Klofter zu. Noch Hatte der Pförtner die Thüre nicht ge— ſchloſſen. Mit der ganzen Wucht feines jchiweren Körperd ftürzte der Maler gegen diefelbe, jo daß der Thürhüter zur Seite flog, die Thüre aber rückwärts an die Wand der Hausflur ſchmetterte. Sprachlos fanden die Dreie fi gegen- über. Der Pförtner ſuchte erboft nad einer Waffe, Timotheus war außer Athem und rang vergeblid nad Worten; Sophia zitterte vor Schred, doch war fie e8, die zuerft ſich faßte.

„Thue ihm nichts,“ ſagte fie zu dem erzürnten Kloſterknechte; „er ift mein Mann und will mich zurüdfordern. Aber freiwillig bin ich hierher gekommen, und freitwillig bleibe ih. Ih will ein pönitenzlich ehrſam Leben führen, daß ih jeine Sünden büße.“

„Ihue, wozu Deine Bosheit Dich treibt,” jagte Timotheus ingrimmig; „aber Theodora will ich haben. Du jollft mir das Kind nicht an die Pfaffen verkaufen.“

„Laßt ihn ins Sprechzimmer,“ bat jet die Frau den Pförtner. „Es hat feine Gefahr. Meine Tochter folgt ihm nicht zurüd in die Welt.“

„Da3 wollen wir doch erſt jehen,“ erwiderte Timotheus, der ſich nun gefaßt hatte. „Verzeiht, quter Freund, daß ich jo unſänftiglich Euch beinahe über den Haufen rannte. Aber ich hatte Eile; hier, nehmt das als Schmerzensgeld und laßt Euern Groll fahren,“ damit drüdte er ein Silberftüd in die Hand des Schließers, der dasſelbe willig annahm.

„Komme mit mir,“ winkte Sophia. „Ich will der Aebtiſſin ſelbſt Deine Bitte vortragen.“ Schweigend folgte er jeinem Weibe. Aljo bitten follte er bier, wo er zu befehlen ein Recht hatte! Sie ließ ihn in eine fahle Stube ein- treten, in der einige Bänke ftanden und ein vergittertes Fenſter ſich aufthat. Da hinter dem Gitter ein Vorhang berabhing, konnte fein Bli ins Innere dringen. „Warte bier,” fagte fein Weib, „bis ich der Oberin Deinen Wunſch gemeldet.” Timotheus jeßte fich nieder, da ihm vor Erregung die Kniee anein» ander jchlugen und die Füße faum mehr die Laft jeines Körpers tragen wollten. Nur langjam beruhigten fich fein feuchender Athem und feine Elopfenden Schläfen. Endlid hörte er eine fremde Frauenſtimme hinter dem Vorhang, dann zog eine magere braune Hand da3 Tuch zurüd. Eine Nonne ftand hinter demfelben ; als aber der Maler genau in das von der Stappe beichattete Geficht jah, erkannte er die zarten bleichen Züge jeiner Theodora. Mit einem Schritte war er an dem Gitter: „Mein Kind, mein Kind,“ rief er ſchmerzlich und ftredte feine

Unter dem Ratalpenbaum. 11

Arme durch das Gitter, um ihr Haupt an fich zu ziehen. Stille weinend ließ fie e8 gefchehen. „Herzer Vater,“ fagte fie dann leiſe, nachdem fie hinausgeſchaut, ob auch Niemand ihre Worte höre, „glaubt mir, die Heiligen twollen e3 jo.“

„Slaube ihnen nicht," raunte der Alte „Gott hätte die Welt nicht fo ſchön gemacht, wenn er gewollt, daß feine Menjchenkinder fi) vor ihr ver- ichließen.”

„Ach,“ rief Theodora, der die Seele von Thränen bebte, „ih war jo glück— lich in diefer Welt voll Licht, und ich wußte, daß der himmlische Vater auch für mid noch Sonnenjchein übrig habe da 0, herzer Vater, warum habt hr das getan? Nun muß ich bitten und beten mein Leben lang für alle die Seelen, die durch Euch unvorbereitet Hinübergegangen find in die ewige Dual.“

„Was rebeft Du?“ rief Timotheus erftaunt. „Was hat man Dir in den Kopf geſetzt?“

Sie ſchaute ihn ſtarr mit großen Augen an. „Ahr wißt e8 nicht?” ſagte fie. „Sollten fie mid) betrogen haben? Nein, das ift ja unmöglich,“ ſetzte fie dann fanft Hinzu. „ch wollte e8 nicht ausjprechen, um Euch nicht zu kränken. Es iſt des Kindes Pflicht, des Vater Sünden gut zu machen, nicht fie ihm vorzuhalten.“

„Du redeft in Räthſeln, Theodora,“ ertwiderte der Meifter.

„Habt Ihr den Brand in Mainz angeftiftet oder nicht?“ fragte jet Theodora angftvoll.

„Den Brand?“ verjehte Timotheus. „Ya, unfer leeres Haus zündete ich an, da ich gelobt Hatte, es nicht zu verlaffen, wenn e3 nicht einftürze. Den Schaden will ich qut machen, wenn es nur das ift, was Dich hält.“

„O Bater, warum wolltet Ihr mit Teufelswerk die Heiligen betrügen ? Eo wißt Ihr nicht, daß die Häufer der Nachbarn abbrannten, daß Menſchen in den Flammen umfamen, daß eine ganze Familie im Rauch erftichte?“

„Mädchen,“ rief der Meifter überlaut, „mache Deinen Vater nicht zum Mörder. Wer fagte Dir diefe Greuel?“

„Botihaft aus Mainz ift angefommen,“ flüfterte Theodora. „Man fahndet nach Dir, bleibe nicht hier, fie werden Did) greifen. Um die Geiftlichkeit zu verjöhnen, der das Haus gehörte und die Dich hart verklagt, haben die Mutter und ich den Schleier genommen. Du aber wirft al3 armer gebannter Dann in die Fremde ziehen.” Timotheus ftand ftumm; ihm war, al3 ob die ganze Welt mit ihm ſich im Kreiſe drehe.

„Einen lebten Wunſch, Vater!“ hörte er feine Tochter flüftern. „Ziehe ins heilige Land! Verſöhne die Heiligen. Nicht ich allein kann das Entſetzliche ab- büßen, daß arme Mitchriften ungefpeift und ohne die heilige Delung binüber- gegangen find in die ewige Qual und Tag und Nacht weinen und jchreien um Erlöfung. Du jelbjt mußt auch das Deine thun. Hole Dir Ablaß, wo er zu finden ift, am Grabe Chrifti. Dort bete auch für mid), die die unfchuldige Urfache alles Unheil wurde. Ohne mich wäreſt Du ja nie in diefe Sünde ge- fallen.” Und fie jchluchzte.

12 Deutſche Rundſchau.

„Schweſter Urſula!“ hörte Timotheus jetzt eine harte Stimme rufen. Dora ſtreckte die Hand durchs Gitter und ſagte: „Lebet wohl, lieber Vater. Gott rechne Euch an alle Liebe und Sorge, die Ihr für mich gehabt habt.“

„Biſt Du es, die ſie rufen?“ fragte Timotheus erſtaunt.

„Ich habe den neuen Namen erhalten,“ erwiderte Dora. „Lebe wohl!“

Der Vorhang fiel zurück, und Timotheus ſtand allein in der leeren Stube. Wie ein Träumender taumelte er nach unten. Er ſah undeutlich den Pförtner aufſchließen. Dann war er vor dem Thore, und laut mit ſich ſelbſt redend ſchritt er durch die Menſchen, die ihn ſeltſam anſchauten. Endlich war er zu Hauſe. Die alte Sabine ſagte, ſeine Söhne ſeien dageweſen und wieder weg— gegangen. Er beachtete es nicht. Es war ihm unmöglich, Jemanden zu ſehen oder mit den Knaben zu reden. Still ſchlich er in ſeine Kammer, verriegelte ſie von innen und warf fich auf ſein Lager. In ſtummem Brüten brachte er die Stunden hin. Als es dunkel wurde, ſchlief er ein. Dann wachte er wieder in dumpfem Grame und ſchlief wieder bis in den Morgen. Klopfen an der Thüre weckte ihn. Als er auf den Flur hinaustrat, ſtanden ſeine beiden Söhne reifefertig mit Zwerchſäcken über der Schulter vor ihm. Er fchaute fie fragend an.

„Derzeiht, Vater,” ſprach Alerius, „wenn Euch kränkt, was wir Euch zu fagen haben. Wir waren geftern, wie Ihr befahlt, bei dem Zunftmeifter. Der aber weigerte fi, unjere Namen in da3 Buch zu fchreiben. ‚Nur guter Leute eheliche Söhne könne die Gilde unter ſich dulden‘, fagte er. ‚Wir aber feien nicht in rechter Ehe geboren, wie zwei geiftliche Boten, der Subdiacon Marcus und der Predigermönd Scipiv aus Mainz, dem Rathe bereit3 vermeldet hätten ; auch ruhe ſeit etlichen Tagen großer Schimpf auf unferem Namen. Welcher, das wiſſet Ihr ſelbſt, und der Sohn joll nicht ausfprechen, was die grauen Haare de3 Vaters verumehrt.‘ Als wir troß vieler Worte und Bitten einen befferen Beſcheid nicht erlangen konnten, gingen wir umher bei den Rathsver— wandten, beim Aldermann, ja beim geftrengen Herrn Bürgermeifter felbft find wir geweſen. Aber e8 war Alles vergeblid. Schließlich fielen harte Worte, Baftarde, Brandftifter, Mordbrennerbrut und andere Kränkungen haben fie uns nachgerufen. Da famen wir zu dem Entſchluß, unfere Heimath zu verlaffen. Wir danken Euch für alle Liebe, die Ihr an uns gethan habt, für den Inter: riet in der Kunft, die uns auch in der Fremde erhalten wird. Wir wollen nad) Gent in den Niederlanden, denn der Aldermann, der uns wohl will, meinte, dort frage man nicht viel nad) den Gejeßen der Pfaffen.“

Verlegen und zögernd ftanden die Yünglinge vor ihm. Timotheus aber war innerlich gebunden. Nichts regte ſich in ihm von der Liebe, mit der er do in feinem tiefften Innern an dieſen Anaben hing. „Auch fie verlaffen mich im Elend,” dachte er bitter. Aber er nidte nur ftumm. „Sa, ja,“ fagte er dann. „Hier könnt Ihr nicht bleiben. Mögen die Heiligen Euch behüten, daß Ihr feine Kanones verletzt, die Ihr nicht kennt.“

„Lebt wohl, Vater,“ ſagte Lutz gepreßt. Man ſah, daß er mit den Thränen fämpfte. Timotheus gab beiden Söhnen die Rechte, aber fie lag bleiern zwiſchen ihren zitternden Händen. Dann fehrte er in feine Kammer zurüd und warf ſich wieder auf fein Lager.

Unter bem Katalpenbaum. 13

Um Mittag erhob er fi. „Jetzt beginnt die Kreuzpredigt,“ fagte er. „Aber der Herr Papft hat ja geboten, feine alten und kranken Leute mehr zur Kreuzfahrt zuzulaffen. Sie jollen ftatt deffen jo viel Geld einlegen, daß ein Gejunder dafür ausziehen kann oder die Koften gedeckt werden für die Reifen der Mönche. Geld ift ihnen Lieber als Buße Das fteht wohl auch in den ſtanones.“ Und er lachte bitter auf, aber er ftülpte feine Mütze über feine ver— worrenen Haare, um fi) auf den Weg zu machen nad) der Kirche der Johanniter, wo an jedem Feſttag für das Heilige Mreuz getvorben wurde. Als ex unter bie Thüre trat, fam ihm die alte Sabina mit Weinen und Schluchzen entgegen. „Meifter,” xief fie, „was thut Ahr noch hier? So ſchnell Euch Eure Füße tragen, lauft in die nächfte Kirche und ruft: Aſyl! Aſyl! Der Büttel felbit läßt Euch jagen, die Mainzer Pfaffen verlangten Eure Auslieferung. Der Rath aber, um Euch Zeit zu laffen zur Flucht, habe den Beſcheid bis nach dem Feſte vertagt.“ Gleichgültig hörte Timotheus die Warnungen der Alten.

„Was glaubft Du,” fagte er, „daß mein Leben noch werth fei, nachdem mih Weib und Kinder verlaffen haben?“

„Herre, Herre,“ warnte die alte Frau, „das Leben ift nicht viel werth, aber der Tod ijt bitter. Hu, wenn Ihr's einmal gejehen hättet, wie fie mit rothen Eijen brennen, ehe der Henker gnädig mit der glühenden Zange bem armen Sünder den Reft gibt, Ihr nähmet lieber das Kreuz, ald daß Ihr das erduldetet.”

„Das eben wollte ich,” erwiderte der Maler.

„Dank jei der Mutter Gottes, die Euch erleuchtet,” rief die Alte haftig. „Ich dachte ſchon, Ahr mwolltet Euch ausliefern, wie Ahr jo redetet. Aber eilt, eilt, daß Ahr das Aſyl erreicht, ehe der böfe Bube Euch feftnimmt." Timotheus gab der Alten ftumm die Hand und trat hinaus auf die Strafe. Mit trüben Gedanken ſchritt er durch die feſtlich geſchmückte Menge, die Oftern feierte. Für ihn gab es fortan fein Oftern mehr; von heute an war ihm jeder Tag ein Charfreitag. Das fröhlihe Schwaben der Leute that ihm weh, und er war froh, al3 da3 Dämmerlicht der Kleinen KHicdhe ihn aufnahm. Noch war fie völlig leer. Die Stunde der Kreugpredigt mußte noch nicht gefommen fein. Gleichviel, er war hier fo gut wie zu Haufe. In trüben Gedanken ſank er auf einen Schemel nieder und ſchaute längs des Gewölbes nad den Fenſtern des Chors, von wo das rothe Gewand und der goldene Heiligenichein über den gelben Locken des Apoſtels Johannes ihm entgegenglänzten. „Er fol ein guter Mann geweien fein,“ dachte Timotheus, „gerade wie Lucas, der Schubpatron der Maler und Schreiber.” Warum hatten Beide ihm nicht beigeftanden und waren jäumig gewejen, ihn zu warnen? Wber freilich, fie hatten auch Kanones gefchrieben. Da zürnten fie ihm, daß er diejelben übertreten. Ihr Zorn hatte auf ihm gelegen, ohne daß er es wußte. So war er ein Brandftifter geworden, ein Mörder, ein Verfluchter. Drüben im Fegfeuer Frümmien und quälten fi) nun die Seelen, bie ohne Segen, ohne Abjolution, ohne Wegzehrung, ohne Teßte Delung binübergegangen waren durch feine Schuld. „Kain, Kain!“ ſchrieen fie. Ihre Engel im Himmel weinten, und jelbft fein Patron wandte ſich zürnend von ihm ab und wollte das Bild nicht haben, da3 er für ihn gemalt hatte. Ohne

14 Deutſche Rundſchau.

Hülfe oben im Himmelsſaal, ohne Stütze hienieden blieb er allein auf der dunkeln Erbe zurück. Alles, Alles hatte er verloren. Sein Eigenthum mußte er weg— geben. Die Knaben irrten in der Ferne. Seine Frau machten fie doch höchſtens zur Kloftermagd, und jeine Tochter, wozu machten fie die? Gr fing an zu weinen. Ein großes Mitleid mit fich ſelbſt überfam ihn, und er fühlte, wie auch der Heilige Johannes anfing, ihn zu bedauern. Deutlich jah er, wie der freundliche Jüngling fein ſchönes Angeficht ihm zumendete. Jetzt löſte dev ſanfte Heilige fi) langſam [los aus feinem blauen Grunde, und e8 war, al3 ob er zu ihm herüberſchwebe. Leije fing die Orgel an zu tönen, und ſüßer Wohlgerud) wehte dem Scläfer entgegen. „Sei getroft, Timotheus,“ ſprach der Heilige lächelnd. „Niemand ift dur) Dich zu Schaden gefommen al3 die e3 verdienten. Einige leere Scheunen der Pfaffen wurden vom Feuer ergriffen, die Familie aber, die verbrannte, waren nur Deine Puppen.“ „O,“ feufzte Timotheus, und e3 war ihm, als ob ein ſchwerer Stein von feinem Herzen falle. Der Heilige aber legte feine milde, weiche Hand auf die Stine des kranken Mannes, und die Zöne der Orgel wurden immer deutlicher und kamen näher. Seht konnte Zimotheus auch Worte vernehmen: „Feſt fteht und treu die Wacht am Rhein.“ Da ſchlug er die Augen auf und ſchaute in das frijche Antlig feiner Theodora, die ſich bejorgt über ihn gebeugt hatte.

„Was ift das!“ fragte er verftört.

„Ei, fie bringen dem Herrn Rollmops ein Ständen,“ erwiderte Theodora. „Es ift qut, daß fie Dich weckten, denn Du Haft twieder jo lange geichlafen, daß Mutter ganz ängftlich wurde.“

Timotheus jah an fich herab. Der Pelzrod war verſchwunden. Keine Farbe lebte an feinen Händen. Er jchaute bejorgt nad Theodora, aber fie trug fein Nonnenhabit, jondern ein blaues Wollkleid, das ihr reizend ftand. „Tolle Ge- ſchichte,“ murmelte er, „mit diefen Träumen. Kind, ich meinte wirklich, Du wäreſt ind Kloſter.“

Theodora lachte laut und rief: „Glaubſt Du, mein Fritz würde das leiden ?“

V.

Die nächſten Tage verfloſſen dem Emeritus im Verkehre mit der lang ent— behrten Tochter und im Genuſſe ihrer kindlichen Zärtlichkeit ſo angenehm, daß er alles Andere darüber vergaß, nichts aber ſo gern und ſo völlig wie die politiſchen Wahlen. Zwar hatte Herr Paſtor Marcus ihn einmal auf der Straße angeiprocdhen und dabei den neulichen Austauſch von beleidigenden Neben ins Komiſche ziehen wollen, um dann den Heren Rector mit aufgehobenem Zeige finger zu mahnen, daß man bei der Stichwahl ſicher auf ihn rechne; Timotheus aber hatte dem jungen Eiferer mit einem falten Gruße den Rücken gemwenbet und war fürbaß gezogen. Der Wahltag war ohnehin der Tag der Abreije feiner Dora, bie von ihrem Fritz feine Verlängerung ihres Urlaubs hatte erwirken fönnen, jo jehr auch Eltern und Brüder nedten und drängten. So kam denn der Abſchied. Der für die Familie jo unwillkommene Morgen tvar feierlich mit Böllerfchüffen eingeleitet worden; denn die Wahlcomite3 hatten beichloffen, heute alle zwei Stunden ihre Salven ertönen zu laffen, um die ſäumigen Wähler an

Unter dem Ratalpenbaum. 15

ihre Pflicht zu erinnern. Die perfönlicden Mahnungen wollte mar dagegen unter- laſſen, denn dieſelben Hatten nicht nur im Haufe des Herrn Rector Verdruß hervorgerufen, fondern auch anderwärt3 war e3 zu unliebjamen Zufammenftößen gefommen. So geihah «8, daß, ald Theodora’3 Wagen nah Tiſch vorfuhr, und Herr Timotheus feiner Tochter eben einen langen und innigen Abſchiedskuß auf den rofigen Mund drüdte, die Lippen der Beiden plößlich auseinanderflogen, denn gerade dieſen feierlichen Augenblick Hatte fich der tückiſche Kammerjäger gewählt, um einen Schuß abzugeben, und in der folgenden Kanonade gingen alle die herz- lichen Abſchiedsworte verloren, die daB liebe Kind den Eltern noch zurief. Die Brüder iprangen mit Dora in den Wagen, und als derjelbe außer Geſicht war, kehrten die alten Leute zu ihrem gewohnten Platze unter den grünen Katalpen zurück, die nunmehr im Abblühen waren und Tiſch und Bänke mit ihren welfen Blüthen überftreuten. Frau Sophia, an deren Wimpern nod eine Abjchiedsthräne hing, nahm ihr Striczeug heraus, und die Gatten jagen ftumm beieinander, indem fie den Summen der Bienen laufchten, die die leßten Blüthen des Baumes um- ſchwärmten und tief in die weißen Kelche jchlüpften. Der Rector zog nad) einer Weile feinen gewöhnlichen Tröfter, die geliebte alte Ausgabe des Phädon, aus der tiefen Roctafche und begann zu lejen. Zuweilen machte er einen leichten Strich am Rande, wenn ihm eine Tertverbefferung des würdigen Herausgebers befonderer Beachtung werth ſchien. Inzwiſchen nahte die wadere Sabine und begann leiſe den Tiſch abzuräumen. „Willft Du den Kaffee um vier Uhr wieder im Garten trinken?“ fragte Frau Sophia. Der Rector jchlug langjam fein Buch zu, dann fagte er: „Die Kinder lieben es jo, und ich bin fein Spielverberber. Der Blüthenduft ift freilich, jeit die ganze Erde mit dem Zeuge überftreut iſt, ftärfer ala je. Ein wahrer Dtanzanillenbaum, dieſe Katalpa! Als ich geftern auf dem bequemen Bänkchen droben einnickte, träumte ich wieder die tollften Dinge und hatte beim Erwachen ftarfen Kopfjchmerz.“

„Mir ift’8 auch Lieb,“ erwiderte die Rectorin, „daß der Baum bald verblüht haben wird. Bis in die fernften Räume erfüllt er das Haus mit feinem be= Hemmenden Geruche. Es ift entjchieden des Guten zu viel, und Alerander, unfer Mediciner, meint fogar, der Blüthenftaub ſei die Urſache Deiner jchweren Träume.” Die jungen Leute waren inzwilchen von dem Bahnhofe zurückgekommen, wohin fie die Schwefter begleitet hatten, und während Alerander die lekten Ab- ſchiedsgrüße des Lieben Kindes berichtete, ergriff Luß die auf dem Tiſche Liegende Phädonausgabe, und nachdem er eine Weile in derjelben geblättert hatte, fagte er: „Wie die Leute hübſch drudten vor drei Jahrhunderten und auf welch' ſchönes feſtes Papier!”

„Ja, mein Junge,” jagte der alte Schulmann mwohlgefällig. „Jede diejer ihön gejchnittenen Lettern ift ein Zeugniß der Tüchtigkeit unferer Voreltern, während unfere heutigen mageren und fehlerhaft gejeßten Ausgaben ein trauriges Denkmal unferer Flüchtigkeit fein werden.” Zub lächelte. Er kannte des Vaters Stedenpferd und hütete fich, zu widerſprechen.

„a, ja,“ beftätigte Frau Sophia, „es ift traurig, wie man heut’ zu Tage den Kindern mit gelbem Papier und Kleiner Schrift die Augen verdirbt, und das beißen fie die Kinder ausbilden.“

16 Deutiche Rundſchau.

„Und was dag Schlimmfte ift,“ fuhr der alte Schulmann fort, indem er entrüftet mit jeiner Hand auf feinen Phädon ſchlug, „das Holzpapier, das fie jeit den lebten dreißig Jahren maden, vermag dem Einfluß der Luft nicht dauernd zu twiderftehen. Wenn ich in der Regiftratur die alten Jahrgänge der Gymnafialzeugniffe nachſchlug, wehten mir die Teen ber zerbrödelnden Blätter entgegen. Das jchlechte Papier zerjegt fih und zerfällt zu Staub. In fünf- hundert Jahren wird die ganze Literatur aus der zweiten Hälfte unſeres Säculums Staub und Afche fein.”

„Gott jei Dank!” entgegnete die alte Frau. „Da werden die Kinder wenigftend mit diefen Geſchichten nicht mehr genubdelt.“

„Sage das nicht!“ erwiderte der Rector ftrafend. „Es find fchöne Werke darunter. Denke an Böckh, an Haupt, an Curtius ...“

„Dich jelbft nicht zu vergeffen ..“ lachte die Nectorin.

„Ach, hätten fie im Altertfum doch auch auf Holzpapier geſchrieben,“ jeufzte Zub, „dann hätten wir feine unregelmäßigen Verba zu lernen und fein griechiiches Scriptum.“ x

„So, fo, Du unnüßer Junge!” fagte der Rector entrüftet. „Das alfo ift Deine Dankbarkeit gegen das Gymnafium und die claffiichen Studien!“

„Ja,“ rief Lu eifrig, „wenn das Gymnafium noch wäre, was es in den claijischen Zeiten war! Hui! was wollte ich gern dort meine Tage zubringen. Neulich mußten wir die ganze Einrichtung de Gymnafiums zu Elis aus Paufaniad auswendig lernen. Statt der engen Schuljtuben, in denen wir zufammengepfercht find wie Schafe, die des Metzgers warten, ſchöne Platanen— gänge in der Nähe eines Fluffes, in dem man den Schulftaub fid) abwuſch, und was für Schulftaub! Keinen Bücherftaub, auch nicht den von Holzpapier, ſondern den edlen Staub der Rennbahn. Unſer Gymnaſiarch meint, Sicherheit in der griechiſchen Grammatif, da3 ſei der Zweck bes Lebens; da waren die alten Gymnaſiarchen andere Kerle. Uh, wenn unfer Gymnafialplan jo lautete: Bon acht bis neun Uhr Wettlauf, von neun bis zehn Uhr Singen, von zehn bis zwölf Ahr Discoawerfen, von zwölf bis ein Uhr Schwimmen und Mittags Ringen, Yauftfämpfe, Wettfahren. Aber mit diefem ſchönen Gymnafium hat da umfere leider jo wenig Nehnlichkeit, daß ich zweifle, ob der Name über- haupt daher ftammt. Biel wahrjcheinlicher Ieitet man ihn von gymnazein, ſchinden ....“

„Willſt Du ſchweigen, Du ruchloſer Knabe,“ rief der Rector, indem er in komiſcher Entrüſtung die langen Arme in die Luft warf. „Solch' frevelhafte Tempelfhänder habe ich in meinem eigenen Haufe erzogen! Wenn das am grünen Holze vorflommt! Ei, ei, ei!“

Er ſchien doch innerlich jo erboft nicht zu fein, ala er fich ftellte, und die beiden jungen Leute fahen wohl, daß er mühſam fein Geficht beherriche, während ein Lächeln um die alten faltigen Lippen zudte. Darauf nahm er würdig feinen Phädon, Elappte mit demfelben dem tempelſchänderiſchen Lub väterlich auf fein rebelliſches Haupt und zog fich, behaglich mit dem Kopfe nidend, nad) dem Wäldchen zurüd, um auf feiner geliebten Traumbant fein Mittagsichläfchen zu halten. Aber Morpheus jäumte Heute. Die Spöttereien des jungen Mannes

Unter dem Katalpenbaum. 17

hatten dem Vater doch einen tieferen Eindruck gemacht, als ex fich felbft zugeben wollte. War nicht, mit der antiken Bildung verglichen, die heutige wirklich eher eine Unterdrüdung als eine Ausbildung der natürlichen Anlagen zu nennen? Gewiß, e3 lebte ſich leichter unter den Platanen Plato’3 als in den dumpfen Eorridoren und niederen Schuljtuben des Gymnafiums, in denen er jein halbes Leben zugebracht hatte. Vor zwei Jahrtaufenden wurde der Unterricht, den er jein halbes Leben lang immer wieder von vorn hatte ertheilen müſſen, meift dur Sklaven bejorgt; aber jene Sklaverei, fo jagte er ſich, war doch faum drüdender geweſen al3 das harte Leben, auf das er jelbit zurüdjchaute. Vom Morgen bis Abend in der dumpfen Schulftube ftehen und Jahr für Jahr die- jelben Elemente der alten Sprachen einüben, zu Haufe Schulhefte corrigiren und wieder Schulhefte und dann die jparfamen Ferien athemlos ausnützen für eigene Arbeiten war dad etwa fein Stlavenleben? Eine große Bitterfeit überkam ihn. a, der tolle Knabe hatte ganz recht. Vor zwei Jahrtaujenden hätte er leben mögen, ehe dieje ganze gothiiche Cultur mit ihrem noch nicht übertwundenen Mönchsgeiſt über die Welt kam, die die Menjchen in die Zellen fperrte und den Buchſtaben anbeten lehrte ftatt der Natur. Er ſah den grünen Raſen am Geftade der Sirenen; über dem Ufer erhoben ſich die Tempel von Päftum mit ihren ſchweren Dorerjäulen; und drüben rauſchte das blaue Meer die ewige Melodie, der ſchon Heſiod's und Homer's Ohr ihren Rhythmus abaelaufcht. So viel Licht drang in diefer hellen Welt der Antike auf ihn ein, daß er die Augen ichliegen mußte. Um jo deutlicher ftiegen die Bilder vom Golfe von Neapel, die alten Städte, deren heilige Trümmer er in den Tagen feiner Jugend auf einer Ferienreiſe befucht hatte, vor ihm auf. Er ſah die Efje des Vulcan, die mit ihrer Rauchfäule gleich einer Pinie den ſchöngeformten blauen Berg krönte; er wanderte dur die engen Straßen von Pompeji und jaß auf den Trümmern von Puteoli und Bajä. Leber Erwarten enge und nahe aneinander gerüdt fand er Alles, aber wo eine fefte, fenjterlofe Mauer das Haus von dem Lärme der Straße jcheidet und dev Menſch nicht nur das Stück Erde unter fi, fondern auch ein Stück Himmel über ſich zu eigen hat, da3 auf fein VBiridarium, den vom Säulengang umgebenen Innengarten, herabblidt, dba befift man feine ver- trauliche Welt für fi, auch mitten in dem Ameijengewwimmel einer engen Stadt. 63 fam ihm doch wohnlich und heimisch hier vor, und jein Auge ruhte mit MWohlgefallen auf dem umhegten Garten, in dem unter dem Marmorbilde der Flora eine Duelle hervorjprang, während die auf dem ziegelrothen Wänden in hellen Farben gemalten Tänzerinnen ihm fröhlich zulachten.

VI Sn diefem Garten, neben dem plätfchernden Brunnen, ſaß Timotheus auf der Treppe des Periftyl und las aus einer ſchönen Handichrift des Phädon einem vornehmen Greife vor, der, auf dem Ruhebette ausgeſtreckt, fich fröftelnd in feine Toga hüllte „Laß jetzt den Philoſophen,“ jagte der alte Mucius. „Ob die Seele fortdauere oder nicht, das Sterben iſt eine häßliche Sache und nicht die Ausfiht auf ein jchöneres Leben im Elyfium macht fie mir erträglid, die un— gewiß it, jondern das Eine, was gewiß ift, daß fie mich von der unheilbaren Deutſche Rundſchau. XVI, 7. 2

18 Deutſche Rundſchau.

Krankheit des Greiſenthums erlöſt. Doch reden wir von der Gegenwart. Du wollteſt mir heute Morgen, ehe der Anfall mich ergriff, erzählen, daß es Deinem Lucian geglückt ſei, den jungen Rappen wieder in meinen Stall zurückzubringen, den Scipio mir entführte.“

„Wenn es Dich zerſtreut, Herr,“ erwiderte Timotheus, „will ich den Knaben rufen. Er wird es Dir beſſer berichten als ich, der ich nur mit halbem Ohre ſeiner Erzählung zuhörte, während ich das Pergament für Dein Vermächtniß mit Bimsſtein glättete.“

Der Kranke nickte, und Timotheus ſchlug auf eine ſilberne Cymbel, die auf dem kunſtreichen Tiſchchen vor dem Polſter des ſterbenden Herrn ſtand. Sofort erſchien vom Veſtibulum her ein in eine weiße Tunica gekleideter, hochgewachſener Knabe mit fchönen hellen Augen, der, die Hände über der Bruft Freuzend, fich vor dem Dominus verneigte.

„Erzähle, wie Du den Rappen geftern einfingft!” jagte Mucius.

„Wie Du befahlft,“ erwiderte der Knabe, „erwartete ich die Stunde der Diebe, ehe ich zur Pferdeweide hinausſchlich. ch wußte, daß Scipio’3 Wagenlenter, der uns den Rappen von der Weide weggeführt hatte, ihn in feinen Pferch geſperrt, damit er dort an feine Stuten fi) gewöhne. Aber Bucephalus kennt meinen Pfiff, darauf vertraute ih. Es war etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang, al3 ic) an dem Gehöfte anfam. Die Pferde lagen am Boden ausgeftredt, unferen Bucephalus aber mochten die anderen Hengfte mit Biffen und Schlägen tractixt haben, denn ex lag allein für ſich abfjeit3 von der Herde. Um jo leichter konnte ich mid an ihn machen. Ich ſah, wie der Schtwarze das Haupt erhob und ſchnupperte, al3 er meine Schritte hörte. Mit gekrümmtem Rebmeſſer Löfte ic) nun bie Stangen des loder gefügten Gehegs, jo daß eine Lücke entftand, aber weislich nicht in der Richtung auf Deine Höfe, jondern nad) der Villa des Marcus zu, des hageren Geizhaljes, dem die Nachbarn jede Schalfheit zutrauen, damit auf ihn der Verdacht des Diebftahles falle. Als ich die Arbeit beendet, pfiff ich Leife den Triller, an den ich Deine Rofje gewöhnt habe. Wenn der Wächter es hörte, modte er denfen, daß einer der Hirten ſich die Nachtwache mit der Syrinx verfürze. Der Nappe aber ſchoß alsbald in die Höhe und fprang herüber an meine Seite. Die übrigen Mähren redten nur müde die Köpfe und wurden jofort wieder ruhig. Ich aber ſchwang mic auf des Thieres Rüden, und nad: dem ich ihn eine Weile am Hag Hin» und hergeführt, ließ ic) den Rappen, wie er gelehrt ift, rückwärts gehen, jo daß im Sande die hinteren Hufen zuerft ſich abprägten, und es jo jchien, al3 ob die Spuren von de Scipio Gehöfte in de3 Marcus’ Gehege hineinführten. Sobald wir jo die gepflafterte Straße erreicht hatten, wendete id) um und jagte heimmwärts. Wenn fie nun heute den Spuren nachgehen, werden fie im Gehege de3 Marcus Umschau Halten und dann in dem der folgenden Nachbarn, an und aber werden fie ſchwerlich denken.“

„Und bat Did Niemand gejehen auf Deiner Diebesfahrt ?” fragte der Herr mit miüden Lächeln.

„Wohl Jah ich,“ erwiderte der Knabe, „als ich die nadhterleuchteten Pfade dahinritt, umferen Nachbarn, den greifen Glaucus, vor Anbrud des Morgens bereit3 nad) jeinem Weinberge hinausgehen, und er ſchaute mißtrauiſch auf den

Unter dem Katalpenbaum. 19

nächtlichen Reiter. Ich aber ftellte den Rappen und jagte: ‚Höre, Greis, wenn Du gebüdt Rebſtöcke gräbft, kannſt Du nicht jehen, ob Hinter Div ein Pferd oder ein Reiter vorbeifam, und Deine Jahre machten Dich ſchwerhörig, jo daß Du auch hellen Ton des Pferdehufes nicht vernehmen kannſt. Diefes anttworte, wenn man Dich fragt, jonft könnten eines Morgens Deine Reben abgejchnitten fein und Deine Kelter häßliche Löcher de3 Bohrers zeigen. Verſtehſt Du® Er aber nidte mit dem Kopfe. ‚Schweigen,‘ ſagte er, ‚it die Weisheit des Schwaden. Vieles verfteht der Fuchs. Der Jgel nur Eines, doch frommt es ihm. Gr rollt fih zujammen. Dies ift auch Glaucus Waffe‘ Da warf ich ihm ein Geldftüd zu und trabte weiter, damit der die Menjchen zur Arbeit er- werdende Morgen mich nicht überfalle. Auch kam ich unbeläftigt nad) dem Ge— höfte, und al3 Bucephalus die gewohnte prangende Grasflur gejehen und die ſchimmernde Tränfe, da wieherte er fröhlich. Ich aber führte ihn in den inneren Hof und jagte Stephanus, er jolle ihm Dein Zeichen fofort einbrennen, um Scipio’3 diebiſchen Hirten den Pferdefang zu verleiden.“

Mit Wohlgefallen Hatte der Franke Muciud dem Berichte jeines Sklaven zugehört. „Du gleichft dem liftenerfinnenden Hermes,“ jagte er lächelnd, „der von Pieria's jchattigen Bergen die unfterblichen Ninder der Seligen entführte. Gehe, mein Huger Knabe, ich werde Deiner gedenken, und wenn Alerander mit den Geſchäften des Gartens geendet hat, mag er Dich ablöfen ar der Pforte, damit Du nad) Bucephal fiehft und mir wieder berichteft.“

Lucian verbeugte ſich und kehrte nad) feinem Pförtnerftübchen zurüd. Der Kranke aber ſchaute ihm mit einem wehmüthigen Blide nad). „In diefem Alter jtände nun mein Enfel Evenos, wäre er nicht gleich meiner Tochter der räthſel— haften Krankheit erlegen, die fie aus Marcus Bechern tranfen, und nun exbt Scipio Alles. Der Uebermüthige aber kann nicht einmal warten, bis ich in Charon's Nahen ſchaukle. Noch im letzten Augenblide fängt er mir die Rofje von der Weide.“

„Er dachte nicht,“ erwiderte Timotheus, „daß Du Dich) noch fümmerft um Deine Habe.“

„sa, er beeilt ji,“ jagte der Greis. „Er beerbt mic) bei lebendigem Leibe.“

„Und warum läſſeſt Du ihn erben, Herr?“ fragte der Sklave vorwurfsvoll.

„Er hat mir die Schlinge feſt um den Hals gelegt,“ antwortete der Kranke leiſe, „und wenn ich auch bald das Haupt herausziehe, die Rache würde auf Lebende fallen, die mir werth ſind. O, wie ich mich ſehne, allen dieſen Er— innerungen zu entfliehen, auszuruhen von der langen Krankheit des Lebens und traumlo3 dort unten zu jchlafen, two ich das Grabmal mir baute, nahe dem Etrande Pojeidon’3, von des Meeres ewiger Klage gewiegt!“

Zimotheus jah finnend auf die Handſchrift des Phädon, die vor ihm lag; er hätte jo gern den Sterbenden an da3 Tejtament erinnert, deſſen Abfafjung Mucius immer und immer wieder hinausſchob.

„Die Gemeinheit ſchwelgt,“ begann er darum aufs Neue, „und es darben die Edeln. Deshalb gaben die Geſetze dem Greiſe das Recht, die Ungleichheit der Looſe zu mildern, indem ex einen Theil feines Reichthums den erprobten Freunden

*

20 Deutihe Rundſchau.

und Dienern hinterlafien darf. Noch lange jpinne die Parze Deinen Lebensfaden, und Zeus mehre Deine Jahre von den unferen. Täglich bitten wir die Oberen darum mit erhobenen Händen; aber wie e3 ihnen gefällt, fügen die Götter den Schluß. Darum wäre e3 weile, Herr, wenn Du heute das Vermächtniß jchreiben wollteft, wofür Du mi das Pergament jchon geflern glätten ließeſt. Zögere nicht, denn Deine Erben lauern. Im Umſehen werden fie da jein, oder es täufcht mid) ein Gott. Ich zweifle, ob fie auch nur Deinen legten Odemzug abwarten. Du fiehit es ja; jchon jebt fangen jie Div die Pferde von der Weide.”

„Morgen, Timotheus,“ fagte der Kranke mit matter Stimme. „Meine Hand ift Heute ſchwach. Ach kann nicht jchreiben.”

Timotheus ſeufzte. „Zögern wird er und zögern, bis es zu jpät ift.“ Eorgenvoll prüfte der Sklave die Züge feines kranken Heren, die ihm heute noch weniger als geftern gefallen wollten. Die Augen de3 Kranken ruhten müde auf den zitternden Waſſern de8 Springquell3 und den dunfeln Blättern der Lorber- büſche. Plögli aber ging ein Lächeln über das Geficht des Greiſes: „roh wie Flora,“ fagte er leife, „in der Hand ein Myrthenreis und friſche Rosen, tritt fie herein, und bejchattend fällt um Bruft und Naden die ambrofifche Locke.“ Timotheus jah hinüber und entdedte Hinter den Büjchen das belle Gewand feiner Tochter, die in dünnem Frauengewande gleich einer lieblichen Viſion von den roth getünchten Wänden ſich abhob. „WVielleiht, daß fie den Herrn geneigter jtimmt,” dachte er und winkte feinem Mädchen. „ſtomm' Theodora,“ rief er, „bringe dem Herrn Deine Roſen.“ Gleich Artemis, in eine kurze Tunica gekleidet, fam die junge Sklavin zwiſchen ihren Blumenbüjchen hervor, und des Greifes erlöfchendes Auge hing wohlgefällig an der finnberidenden Schönheit der jugend lichen Formen. Mit einem freundlichen Lächeln nahın er einzeln die Roſen, die fie ihm reichte, und legte fie neben fi) auf das Tiſchchen. „Dein Bruder Alerander,“ jagte er, „verfteht Blumen zu ziehen wie feiner vor ihm. Aber was ſoll diefer Epheufranz? Die Zeit der Gelage ift vorüber für Deinen armen Herrn.“

„Die Mutter meinte,“ ſagte das junge Mädchen zutraulich, „Eppich Kühle fieberheiße Schläfen. Soll ih den Kranz Dir aufjegen, Herr?”

Mucius nickte ihr Freundlich zu und neigte das alte Haupt ihr entgegen. Da trat fie näher, beugte ihre jugendwarme Geftalt über den fterbenden Dann und drücte mit ihren zarten Händen den Kranz auf das jpärliche weiße Haar des Greiſes. Diefer aber legte die welken Hände um die vollen Hüften der üppigen Sklavin und jagte: „Küffe mid, Theodora.“ Sie hauchte einen Kuß auf die faltige Wange und richtete fih) dann Lächelnd empor. Er aber hielt fie feft und fagte ſcherzend: „Ya, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, Tieße ich Did nicht los, bis Du die ganze Schuld entrichtet Hätteft. Nun bim ich welk, und Du wünjcheft wohl jelbft, ein Jüngerer als Mucius hätte Eu) aus dem Nachlaß des Kreon gekauft?“

„Bielleicht, Herr,“ erwiderte die junge Sklavin. „Einem jungen Herrn hätte ich meine freiheit ſchon lange abgeihmeichelt.“ Als fie aber einen forjchenden Blick ihrem feden Worte nachſchickte, ſah fie, wie die Mlienen des Greifes ſich ver- düfterten. „Du trägft,“ jagte er bitter, „da3 Schwert verhüllt in Myrthen und

Unter dem Ratalpenbaum. 21

Roſen wie Harmodius und Ariſtogeiton. Kein Tag verſtreicht mehr, daß ihr mich nicht mahnt. Laß das, Kind, mein Verſprechen könnte mich ſonſt gereuen.“

Gekränkt zog ſich das Mädchen zurück, doch langſam und öfter umblickend, ob er ſie nicht zurückrufe. Aber Mucius hatte ſich wieder in ſeine Polſter fallen laſſen und verglich die Farben der Roſen, die ſie ihm gebracht hatte. Düſter und ſorgenvoll ſaß Timotheus neben ihm und ſchaute finſter in ſeinen Phädon. Der Kranke ſah es, und trotz ſeiner uneingeſchränkten Gewalt von dem Diener abhängig, auf deſſen guten Willen er angewieſen war, begann er begütigend: „Deine Tran räth gut. Der kühle Kranz, den Sophia mir ſchickte, lindert die Hitze. Sie mat ihrem Namen Ehre. Nicht das erfte Mal ift e8, daß ihre Weisheit findet, was mein Leiden erleichtert.”

„Möchte e3 ihr noch lange gelingen, Herr,” verjeßte Timotheus, „den dünner werdenden Lebensfaden zu neben, daß er nicht abreißt; denn die Parze, die ihn durchichneidet, zerichneidet auch unſer Glück,“ und er feufzte.

„Du fürchteſt Dih vor Scipio,” fragte der Kranke.

„Er iſt ein harter Herr,“ entgegnete Timotheus traurig; „aber mehr ala den befannten Deſpoten fürchte ich die unbefannten. Du wareft gütig und mild. Meder nad) der Jugendblüthe meiner Tochter noch nad) der meiner Söhne ftredteft Du begehrlihe Hände. Du vermwendeteft mein Wiffen und Können auf Die Büherfammlung, die ich verdreifacht habe, Du jeßteft Sophia über die Köche und ihrer Sorgfalt und Eugen Wahl der Speijen verdanken wir es, daß das achtzigſte Jahr hinter Dir Liegt. Lucian vertrauteft Du die Hut der Pferde und Alerander den Dienft in Garten und Haus, wie ed den Neigungen und Gaben eines Jeden entiprad. So blieben wir beifammen, während viele Knechte nicht wiſſen, welches Land ihre Kinder bewohnen, wie fie ſelbſt nicht zu jagen ver- mögen, wer ihnen Vater und Mutter geweſen ift. Nun wird das Alles anders. Scipio bringt jeine Sklaven mit herüber in Dein Haus. Was foll der Soldat mit Büchern? Er wird mid) verlaufen, ob an einen Buchhändler, ob in die Waltmühle, wer weiß es? Sophia wird vielleicht im Weinberge baden und jäten müfjen oder Wafler fchleppen mit den alten Schultern. Die Knaben ver- ihadert er an einen Wüſtling in Rom, und wen Theodora zufällt, da3 mag Aphrodite wiſſen. Vielleicht werden wir aud) Alle am Lebten des Monats nackt auf dem Markte zum Verkaufe ftehen, Alte und Junge” Ex jeufzte wiederum und twartete dann, ob fein Herr irgend Etwas erwidern werde. Als aber feine Antwort erfolgte, fuhr ex fort: „Ich weiß, Herr, was Dich abhält, uns vor Deinem Tode noch frei zu laſſen; darf ich es ausſprechen?“ Der alte Mann hatte mit finfterer Miene zugehört. Seht erhob er das Haupt, und indem er dem Sklaven einen forjchenden Blick zufendete, der doch bereits der eines Sterben- den war, ſprach er mit ſchwacher Stimme: „Rede!“

„Du glaubft," jagte Timotheus janft, „Du würdeſt dann minder qut be- dient fein. Du fürdteft Did, wir könnten jofort unfere Freiheit antreten und bangft vor neuen Gefichtern. Das einzige Hinderniß unferer Freiheit iſt Dein Verlangen, e3 möchte bi3 zu Deinem lebten Athemzuge Alles hier bleiben, wie es iſt. Darum vertröfteit Du uns auf Dein Teftament, das doc niemals zu Stande kommt.”

22 Deutiche Rundſchau.

Der Kranke nickte leife mit dem Haupte. Da erhob Timotheus feierlich beide Hände zum Himmel und rief: „So höret mich, Yhr Götter der Unterwelt, und lafjet mein Mark verdorren, wenn ich den Schwur breche. Nichts ſoll fich hier ändern, jo lange der edle Mucius Leben und Odem hat. Läßt er uns frei, jo wollen twir dem Patronus noch eifriger und forgjamer dienen als jetzt dem Dominus. Jedes Haar feines Hauptes ſoll uns heilig fein, jo wahr id die Oberen ehre und den alltwaltenden Zeus!” Nachdem er jo geiprocdhen, verhüllte er fein Angefiht und warf fi vor dem Bette feines Heren flad auf die Erbe.

„Stehe auf!” ſagte der Kranke. „Rufe die Deinen. Ich will fie befragen, ob fie Dein Verſprechen befräftigen ?“

„DO, Herr, jei gejegnet für diefes gute Wort,“ rief Timotheus. „Ich eile, ich fliege!” Damit verließ er raſch das Periftyl und lief zu den Frauen. Beide fand er an dem Herde, wo Sophia den Koch anwies, gehadtes Fleiſch jo zu tochen, daß alle Kraft in einer Heinen Brühe ſich jammle, und diefe dann durch alten Wein jhmadhaft zu machen. Theodora aber war bejchäftigt, ein Tiſchchen mit Speifen zu rüften und mit Blumen zu zieren, damit e3 jo geſchmückt in das Triklinium getragen werde. Als aber Timotheus an der Thüre erichien und mit eifrigem Kopfniden ihnen zuwinkte, verjtanden ſie feine Blicke fofort, ließen die Arbeit und kamen zu ihm heraus. „Endlich ift ex bereit,“ ſagte Timotheus, „tommt eilig. Wo it Lucianus?“

„Ah!“ rief Sophia, „nun ift ex nad) der Pferdeweide, damit der Herr nicht argwöhniſch werde. Alerander ſoll ihm raſch nachſetzen und ihn zurücholen.“ Damit eilte fie hinaus ins Veftibulum, um Alerander dem Lucianus nachzu— ſenden. „Diefer Verzug ift widrig,“ ſagte Timotheus unwillig. „Do nützen wir ihn. Gehe Du, Dora, zum Lictor und bitte ihn, Zeuge unferer Freilaſſung zu fein. Unſer eigenes Zeugniß würde nicht gelten in ſolcher Sache, und die anderen Knechte werden fich hüten, Zeugniß zu geben, da ein Sklave jedes gericht- liche Zeugniß auf der Folter erhärten muß. Alſo laufe zu dem nächſten Lictor, den Du trifft. Verſprich ihm Alles, Wein, Gold, Dich jeldft, nur jchaffe ihn ber, daß nicht unfere ganze Arbeit vergeblich geweſen jei. Eine ſchmucke Sklavin wird ihn leichter herein loden, als id) es könnte. Auch darf ich das Haus nicht verlaffen. Mucius könnte rufen, und wehe ung, tvenn ich nicht hier wäre.“

Die junge Sklavin ftrih mit ihren beiden jchmalen Händen die Haare zurück und ordnete die Falten ihre Gewandes, dann ging fie, indem fie den Kopf herausfordernd in den Naden warf, zur Ihüre, während die Eltern in dag Haus zurückkehrten.

Da der Kranke fi fill verhielt, jehten fich die beiden Alten auf eine Bank in dem dem Periftyl benadhbarten Tablinum, und Sophia ließ fich leiſe erzählen, wie Timotheus den Kranken endlich zu feinem Entſchluſſe gebracht habe.

„Das Märchen von dem entführten Rappen hat gewirkt,“ jagte ex vorſichtig umblicend. „Ach wußte, daß ihn eine ſolche Geichichte grimmig gegen Scipio aufregen werde. Hörte er, daß fein Erbe ſchon jetzt anfange, jein Eigenthum an fich zu reißen, jo mußte ihn das antreiben, ein Teftament zu machen, das nur zu unferen Gunften ausfallen Fann.“

„Ach,“ ſeufzte Sophia, „wenn nur die Lüge nicht entdedt wird.“

Unter dem Katalpenbaum. 23

„Wie wäre das möglich,“ erwiderte Timotheus. „Unjere Knaben allein haben die Pferde unter jih. Niemand kann wiffen, ob der Rappe einen Tag fehlte oder nicht. Selbft wenn er Scipio den Diebftahl vorrüden follte, jo Tann e3 ihm nicht auffallen, daß diejer die Sache leugnete. Zugeftehen würde er fie ja natürlich niemal3, auch wenn fie wahr wäre. Uebrigens erzählte Lucian jo Ihön, daß nicht der Schatten eines Verdachtes in Mucius' Seele aufftieg.”

„Aber Du jagteft,“ frug Sophia, „er wolle uns jet jchon freigeben?“

„Das eben ift es, was ich erreicht habe,“ fagte Timotheus triumphirend. „Er geftand, daß Ecipio ihn völlig in der Hand habe. Kürze er ihm das Exbe, jo werde Scipio an feinen Freunden ſich rächen. Jupiter wird willen, was fie gemeinfam verübt haben, daß er fich in die Hände diefes Tyrannen gab. Sobald er uns aber frei gelafjen hat, gehören wir nicht mehr zu dem Inventar, und Scipio, der lange feine Augen auf Theodora richtete, hat das Nachſehen.“

„Maja's Sohn ftehe Dir bei, daß Deine Ränke glücen,” rief Sophia. „Mir ift bange bis Mucius das Wort vor dem Lictor geſprochen hat, das er nicht zurücdnehmen fann.“

„Ganz recht,“ jagte Timotheus. „Sind wir erft frei, dann tollen wir icon noch das Teſtament erzwingen. Dann fönnen toir ganz ander auftreten als jebt, da ein ungeſchicktes Wort Alles verderben würde.“ Sophia jeufzte, und in banger Stille jaßen die Gatten beijammen und warteten mit £lopfendem Herzen in zitternder Unruhe auf die Rückkehr ihrer Kinder. Als Freigelafjener, berechnete ſich Timotheus inzwiſchen, werde er ein geborgener Mann fein. Er hatte bei ficheren Leuten angelegt, wa3 er im Haufe und was Sophia in der Küche erübrigt hatte. Auch die Knaben hatten ihre Ausjtände, wie er wußte, Alexander für verkaufte Pflanzen, Lucian für verheimlichte Füllen. Selbft Theodora hatte für Hoffnungen, die fie den Stußern von Neapolis und Bajä machte, manchen Silberdenar heimgebradt. „Und Wort gehalten hat fie nie, da3 tugendhafte Kind,” dachte der alte Sklave gerührt. Endlich hörte er draußen Schritte. Sophia flog nad der Piorte und öffnete. Timotheus ſah, tie Theodora mit einem Gerichtäbeamten eintrat, der jeine Hand fühn um ihre Hüfte gelegt hatte, und jobald fie im Schatten des Atrium angefommen waren, drückte er jogar einen Kuß auf die blühende Wange, die fie lächelnd gewährte. Aber frau Sophia ſchloß die Thüre nit. Das deutete darauf, daß aud) die Söhne bereit3 nahe feien, und in der That ſah Timotheus Beide eilig eintreten. Nun erhob aud er fih. Er ging dem Lictor ehrerbietig entgegen und ſetzte ihm augeinander, der Herr habe bereit3 jeine ganze Familie frei gegeben und wolle jein Wort in Gegenwart des Gerichtäbeamten befräftigen, damit fein Zweifel an feinem Willen beftehen bleibe. Der Lictor, ein ftattlicher Kriegamann, hörte mit halbem Ohre die Erzählung des Sklaven, während er feinen Bli von der ihönen Theodora verwendete. „Wir wollen leiſe eintreten,“ ſagte Timotheus, „von Dir aber, Lictor, erbitte ih die Gunft, daß, falls Mucius eingenict ſein jollte, Du in Geduld warteft, bis er wieder erwacht ift. Dauert es Dir zu lange, jo kann Theodora durch die leifen Klänge ihrer Zither ihn wecken, jonft fönnte er zürnen über die Störung jeines Sclafes.”

24 Deutiche Rundſchau.

Vorfihtig und geräufchlos traten darauf die Anweſenden in dad Viridarium., deſſen Sand unter ihren Sandalen knirſchte. Sie jahen den Kranken auf feinem Polſter ausgeftredt, jo daß das weiße Haupthaar mit dem Gpheufranze ihnen zugefchrt war. Still ſchlich Timotheus ihm näher und beugte vorjichtig ſich über ihn hinab. Plötzlich aber ftieß er ein wildes Klagegeheul aud. „O, ihr Götter des Hades,“ rief er. „Er ift todt, todt!” Schreiend, klagend, das Haar raufend, ftürzten nun aud die Anderen zum Lager und faßten den todten Herrn an den Händen. Sophia nebte ihm da3 Haupt mit Wafler, Theodora brachte Mein, um ihm denjelben einzuflößen. Aber es war Alles vergeblid. Mucius war todt und blieb es. Während die Anderen aufs Neue wilde Hlagerufe zum Himmel emporjdidten, jo daß das Haus widerhallte von dem gellenden Gejchrei, lehnte Timotheud gebrochen an einem Pfeiler des Periftyl. „Ach erkenne euch, rächende Götter,“ ſprach er leife. „Ohne da3 Märchen von dem Pferde, das ich ihm aufband, wären die Söhne zur Stelle gewejen, und fein Odem hätte noch gereicht, das Löjende Wort zu ſprechen. An meiner Lüge gehen wir zu Grunde. D Zeus, allwiffendes Auge der Welt, wie ftrafjt Du ftreng, Du vergeltender Dämon!“

Die nächſten Tage bradte Timotheus in ftarrem Brüten über feine ge— ſcheiterten Hoffnungen bin. „Mein Lebensichifflein neigt fich zur Seite,“ dachte er. „Bereits füllt die Woge den Boden des Kahns, und von dem zerbrocdhenen Maſte hängen die zerriffenen Segel in eben. Aber haft Du denn je auf ein anderes Ende der Fahrt gerechnet, Sklave? Mag ein freundliches Geſchick dem Knechte vergönnen, eine Meile ſich des Familienlebens zu freuen gleid) dem Freien, am Ende reißen fie und doch immer wieder auseinander!" Schmwer- müthig nidte ex mit dem grauen Haupte. Er mußte ja noch froh fein, daß der jchlimme Tag jo lange gezögert hatte. Seine Kinder waren doch twenigjtens gereift und mochten nun jehen, mit welchen Mitteln fie die Gunft ihrer neuen Herren erfaufen würden. Was wollte eine joldhe Trennung heißen gegen andere, die er erlebt, bei denen man zarte Kinder ihren verzweifelten Müttern entriffen oder hülflofe Greifinnen an rohe Bauern verfauft hatte. Faſt mußte er fich ſchelten, wenn er es hart fand, daß Sophia und er auf ihre alten Tage jcheiden jollten. Kannte er doch das 2008 feiner eigenen Vorfahren! Hatte etwa ihnen eine liebende Hand die Augen zugedrüdt, als fie ftarben? Seinen Water hatte der Prätor foltern und freuzigen laffen, weil er für die Verſchwörung des Panja Botengänge gemacht hatte. Hätte er diefen Dienft veriveigert, To hätte freilich fein Herr die Muränen im Filchteiche mit feinen Gliedern gefüttert. Der Prätor erkannte da3 an, aber freuzigen lieh er ihn dennod. Gr war ja nur ein Sklave, und e3 geichah wegen des Beifpield. Auch fein Großvater war gefreuzigt worden, weil einer der Sklaven den gemeinfamen Herrn ermordet hatte und ſich dann der Strafe durch Flucht entzog. Natürlicdy mußten da die Anderen büßen. Mit ihrem Schidjal verglichen, war fein Loos bis jet ein beneidenswerthes geweſen, und warum follte jein Glück ihm nicht treu bleiben? Alles fam darauf an, an wen ihn Scivio verkaufte? Die Irennung von feinem Weibe blieb ihm freilich ein herber Schmerz, allein er wußte zum Voraus, da nur das Leid nicht zu überwinden fei, das ſich am eigenen Leibe täglich erneuert. Aehnlich ſchienen

Unter dem Katalpenbaum. 2

Söhne und Tochter zu empfinden, bie in Erwartung der unvermeidlichen Trennung ſchon jeßt ihre eigenen Wege gingen. Die jchöne Theodora ſaß oft Stunden lang ruhig im Biridarium, legte die Hände in den Schoß und ſchien von einer glänzen- den Zukunft zu träumen, denn fie war offenbar dev Meinung, daß fie in der Hauptjache gewonnen habe, indem fie aus dem Befite de3 welken Greijes in die Hände eines feurigen Soldaten übergegangen fei, und fie traute fich zu, für ihre Mutter wenigftens ein freundliches Loos zu erwirken.

In jo getheilter Stimmung fand der Begräbniktag die Sklavenfamilie, ala die Nachbarn aus den Villen und die Fiſcher vom Strande fich verfammelten, um der fterblihen Hülle ihres Herrn die letzte Ehre zu erweilen. Da ber neue Herr Timotheus geboten hatte. in der Villa zurüczubleiben, jah dieſer vom flachen Dade aus zu, wie der Leichenzug ſich entwidelte. Die üblichen Leichenordner und ſchwarz gefleidete Lictoren eröfineten den Zug. Ihnen folgten zehn Flöten- bläfer, deren Trauermarſch dem betrübten Sklaven ſchmerzlich durch die Seele Ichnitt. Gedungene Klagefrauen ftiehen ihr Zetergeichrei aus. Ein Mime, in der treu nachgebildeten Maske des Verftorbenen, jchritt im purpurgeftreifter Toga, am Stode geftüßt, wie man Muciu3 in den legten Jahren gejehen, in würdigem Abftand Hinter ihnen her; aber während die zufchauende Menge pries, wie treu die Maske die Züge und ihr Träger die Haltung deö wohlbekannten Greifes twiedergab, wendete Timotheus jchmerzlich das Haupt. Ihn verlehte es, den von einem Schaufpieler nachgeäfft zu ſehen, um den feine Seele trauerte. An den Einen ſchloſſen andere Hiftrionen fih an, welche die Bilder von Mucius' Ahnen in langer Reihe vergegenwärtigten. Dann folgte ein Wagen, geſchmückt mit Trophäen, die der verdiente Mann in feinen Tyeldzügen erbeutet hatte. Mit geſenkten Fascen ſchritten Lictoren neben demſelben. Endlich aber erſchien, um- dampft von Räucherpfannen, die Todtenbahre und auf derſelben die Leiche ſelbſt, etwas aufgerichtet über einem Polſter, das mit verſchwenderiſcher Pracht aus— geſtattet war. Das Paradebett wurde durch geringe Leute getragen, deren Patronus der Verſtorbene geweſen. Nun erſt folgten in grauen und ſchwarzen ZTrauergewändern die Bertvandten und Freunde und die große Schar Derer, die, dem Heroldörufe gehorchend, dem Zuge ſich anichloffen. So bewegte der Conduct fih nad) dem Strande hinunter, wo Scipio die Rede auf den Hingeſchiedenen halten jollte, um ihn dann, wie der Geichiedene angeordnet, unverbrannt in der Gruft, die er ſich gebaut, beizujeßen.

Während diefe Dinge ſich abipielten, ſaß Timotheus traurig auf dem flachen Dache der Villa und ſchaute hinunter nad) dem Strande, wo die Schar der Leidtragenden und Neugierigen das thurmartige Grabmal umgab. Die blaue See dahinter war ftill und dunkel, und jelbjt die Rauchwolke des Veſupv, die ſich ſchwer herabjenkte, dem Meere zu, jchien die Trauer zu theilen, die durch das Herz des alten Sklaven zog. „Auch ein glückliches Sklavenloos, wie es mir gefallen,“ jeufzte Timotheus, „endet Schließlich in Trauer. Wer nicht auf fich fteht, jteht überhaupt nicht. Nie kann er wiljen, wann er zur Erde geichleudert wird! Darum nenne ich die Knechtichaft der Uebel größtes. So oft jah id die Sonne drüben hinter den Anfeln im Purpur verfinten und fühlte den Abend—

26 Deutſche Rundſchau.

wind friſcher von der See herüberwehen nach unſeren Gärten, aber noch nie war mir der Farben Spiel und der Lüfte Kühlung ſo widrig wie heute.“

Einige Stunden ſpäter, als der Abend bereits hereingebrochen war, kam der neue Herr mit den beiden nächſten Anwohnern ſeines Erbes in die Villa, um zum erſten Male hier ſeine Mahlzeit einzunehmen. Er ſelbſt machte auch in der Toga den Eindruck eines tapferen Soldaten. Sein Geſicht war von den Feld— zügen im Orient gebräunt, und die energiſche Römernaſe, die funkelnden dunkeln Augen, das ſtark hervorſpringende Kinn deuteten auf einen feſten Charakter. Mit ihm kamen die zwei nächſten Nachbarn, Marcus und Pollio. Der Erſtere, ein hagerer, hoch aufgeſchoſſener Grieche, deſſen Alter ſchwer zu beſtimmen war, galt für einen Wucherer und Geizhals. Dennoch weilte er viel in den Tempeln und hatte die Weihen zahlreicher Myſterien empfangen. War er als Provinziale nur durch ſein Geld bedeutend und durch ſeinen Einfluß bei den Prieſtercollegien, ſo that ſich dagegen Pollio viel auf ſein altes Geſchlecht zu gut und ſprach gern von der großen Rolle, die er im Senate, nicht als Redner, wohl aber als Unter— händler und Vermittler fpiele.

„Ih muß geſtehen,“ jagte Marcus, indem er mit ſachkundigem Blicke den Werth der Villa und ihrer Einrichtung abſchätzte, „daß unferem Scipio da ein unvergleichlicher Beſitz zufiel. E3 gibt an unferer Küfte größere Paläfte, aber ſchwerlich einen, der jo wohnlid) und jo geihmadvoll ausgeftattet ift. Ich glaube, Pollio, unfere Grundftüde zufammen haben nicht den Werth, der für das des Mucius erzielt werden wird, falls Scipio jein neues Erbe verkaufen follte.“

„Nehmt Platz, Ihr Herren,“ jagte Scipio, indem ev mit der Hand nad) dem Speijezimmer deutete, wo um einen Tiſch drei Polfter aufgeftelt waren. Die Genoffen folgten der Einladung, und auf ein Zeichen, das der die Bedienung leitende Timotheus gab, brachten Alerander und Lucian filberne Becken mit wohlriehendem Waller und weichen purpurgeränderten Tüchern, worauf die Säfte ihre Hände wuſchen, während Timotheus in gleicher Weiſe dem Herrn die Scale hielt.

„Ich will Unglüd haben im Würfeljpiel,“ ſagte Marcus, „wenn ich je ſchönere Beden und feinere Tücher gebraucht habe.“

„Ja,“ ermwiderte Scipio troden, „Muciuß liebte die Pracht. Ich glaube aber, daß ich den ganzen Kram verkaufen werde. Was ſoll ein Soldat mit diefen perfifchen Apparaten? ch Liebe es, meinen Falerner ohne viele Umftände hinabzugießen.“

„Da muß ich vorſichtig ſein im Loben,“ erwiderte Marcus, „damit ich mir die Preife nicht felbjt vertheuere, denn unter den Käufern wirft Du auch mid finden.“

„Sei und günftig, o Bacchus!“ jagte der alte Pollio, indem er fich gegen eine Statuette des Gottes verneigte, die auf dem Tiiche ftand und dann den Wein: becher ergriff, den Alerander ihm darreichte. Marcus folgte feinem Beiſpiel, in» dem er unter tiefer Neverenz einen Tropfen feines Weines gegen das Idol fprengte.

„Immer der Gottesfürdhtige,” jpottete Scipiv. „Doc halte es Jeder wie er will. ch meinerjeits vertraue auf nichts al3 auf meine eigenen Augen und mein gutes Schwert.“

Unter dem Katalpenbaum. 27

„Deine Trauben follen fauer werden,“ jagte Marcus ablehnend, „wenn diefer Falerner nicht der ſchönſte ift, den ich jemals getrunfen habe. Ihn darf ich wohl loben, denn die Weinvorräthe wird Scipio ſchwerlich veräußern wollen.”

„So thöriht wird meines Vaters Sohn nicht fein, wie ich ihn fenne,“ entgegnete Scipio. „Alles kann man wieder erjegen, nur nicht alten Wein.”

„Und wie hältft Du es mit dem lebendigen Anventar?“ forſchte Pollio, indem er, ohne auf Timotheus zu achten, mit dem Daumen nad dem jungen Alerander deutete, der eben die Schüfjeln hinaustrug.

„Kommt Zeit, fommt Rath,“ erwiderte Scipiv. „Erft will ich die Leute mir näher bejehen. Vielleicht jchlage ich drüben Etliche los und Einige Bier, denn Alle kann ich natürlich nicht behalten. Mit Ausnahme der Familie diejes Alten habe ich die Leute des Mucius einftweilen in meine Weinberge genommen, two es heuer an Arbeitern fehlt. Verkaufe ih die Billa, jo fommen natürlich auch fie unter den Hammer.“

Mit innerem Grimme vernahm Zimotheus diefe herzlofen Worte. „Die Frevler praſſen,“ dachte er, „indefjen ich elend und nadt gleich einem Schlacht: thiere zu Markte gebracht werde. Wird denn fein vergeltender Dämon auffteigen, die Armen zu rächen?“

Inzwiſchen hatten die Knaben Auftern und einen neuen Wein herumgegeben, und nachdem der bleiche Marcus die feinen gierig ausgeſchlürft hatte, begann er aufs Neue: „Nur Eines fage mir, mein tapferer Scipio, wie fommt e8, daß der fonft jo wunderliche Mucius fein großes Vermögen ruhig den Erbgang gehen lieg? Wir wußten Alle, daß er Dich eher hafje als Liebe; warum machte er fein Teftament zu Gunften feiner Freunde?“

„Du denkſt,“ jpottete Pollio, „der Alte hätte jo trefflichen Nachbarn wie und doch auch ein paar Mebberge zuwenden können zur Abrundung unferer Güter?“

„O, daran Hätte er ganz wohlgethan,“ lachte der Hagere, indem er den großen Mund häßlich verzog. „Zunächſt aber intereffirt mich die Frage ala Piyholog. Man macht doch jonft nicht feine Feinde zu feinen Erben?”

„Das hängt mit gewiſſen Geſchichten zuſammen,“ ſagte Scipio mit einem eigenthümlichen Lächeln.

„Spanne una nicht auf die Folter, Freund,” erwiderte Pollio, indem er bon dem weichen Lammfleiſche auf feinen Teller häufte, das Lucian ihm anbot. „Der Braten ſchmeckt mir nit, wenn man mir den Becher des Geheimnifjes an die Lippen hält, ohne meinen Durft zu Löjchen.“

Der Wirth machte ein Zeichen nad) dem jungen Sklaven hin. Als Lucian aber das Speiſezimmer verlaifen hatte, jagte er leife: „Ach Habe die Lifte ber Mitverſchworenen des Panja und alle ihre geheimen Aufzeichnungen.“ Die zwei Säfte fuhren mit einem Rufe des Schredens vom Polfter empor. Scipio lächelte aufs Neue in fich hinein. „Diejes geheime Archiv,“ fuhr ex fort, „zeigte ich ihm und verſprach dabei, ihn nie zu beläftigen, falls er in mein Erbrecht nicht eingreife. Mache er ein Teftament, jo werde ich e3 erfahren, denn ex ftehe unter guter Aufficht; aber jelbft wenn er mich täufche, jolle meine Rache auf feine Geſellen niederfallen, unter denen ex Freunde hatte, für die er zärtlich beforgt war.“

28 Deutfche Rundſchau.

Die beiden Anderen waren ganz ftill geworben und beichäftigten ſich eifrig mit ihrem Lammfleiſch, doch jchien ihnen der Biffen im Halſe zu quellen, denn fie fchütteten reihlih Wein den Speiſen nad), um fie hinabzumwürgen. So leife Scipio geiprocdhen hatte, dennoch war Timotheus fein Wort entgangen. Zur Hälfte kannte er ja das Geheimniß jchon aus Mucius’ eigenem Munde. Das aljo war der Grund, warum der Alte nie wagte, das Vermächtniß zu maden, von dem er doch ftet3 redete. Ein grimmer Zorn gegen den neuen Her überfiel ihn, der mit jeiner ſchnöden Drohung ben ſchwachen Greis gehindert hatte, ihm und den Seinen die Freiheit zu gewähren. „Ich will Dir es gedenken,“ ging es durch feine rachedürftende Sklavenſeele. Das Schweigen in der Stube wurde endlich peinlich, und als Timotheus den bleihen Marcus anfah, erſchrak er fait vor dem Ausdrucd verhaltener Wuth, mit dem diejer feinen Lammbraten in Eleine Stüde zerfehte. „Dumm war e3 doch don dem Tapferen, fo zu drohen,“ dachte er bei diefem Anblid. „Marcus ijt nicht Mucius. Sieh’ Di vor, Scipio, diefer magere Wolf könnte den Arm zerfleifchen, der ihn an der Kette hält.“

„Ih habe Euch den Appetit verdorben, meine trefflihen Freunde!“ jagte Scipio endlih, „aber Ahr ängftigt Euch ohne Noth. Mucius hatte nicht den geringften Schaden von dem köſtlichen Schaf, den ich ficher geborgen habe, und ich hatte den Vortheil, daß er meine Intereſſen noch jorgliher wahrnahm als die feinen. Alſo auf diejelbe herzliche Nachbarschaft! ch bin ein gerader Soldat, und jo wißt nun aud Ihr, woran Ihr mit mix feid. Nochmals rufe ih: Auf angenehme Nachbarſchaft!“ Er trank ihnen zu, und fie thaten ihm ſchweigend Beicheid. Marcus verfuchte auch zu lächeln, aber fein mageres Geſicht glih dabei einem Todtenſchädel. „Eine verfluchte Fratze,“ dachte nun auch Scipio. „Vielleiht war es doch unklug, ihm zu drohen.“ Dann jagte er laut: „Aber ih bin ein ſchlechter Wirth, meine Gäfte mit Staatögeheimniffen zu unterhalten. Sie ftören unferem Senator feinen guten Humor; das ift mir leid. Timotheus, reiche Du uns die gebratenen Vögel und die Früchte, die Knaben aber ſollen die Flöte fpielen und die ſchöne Theodora mag dazu die Zither ſchlagen.“ Timotheus zögerte. Als ihm aber Scipio einen jcharfen Blick zu- warf, verbeugte er fi in Demuth und ging, um Theodora zu beftellen. „In einem Haufe, in dem der Tod eingefehrt ift, aus dem fie den Herrn vor wenig Stunden tweggetragen, joll meine Tochter die Zither ſchlagen,“ Eagte er. „Werden fie ihn nicht aufftören aus feinem kaum gejchloffenen Grabe, wenn er hört, wie Flötenton und Zitherklang herüberfchallt zu feiner Ruheſtätte?“ Mit diefen Morten entjendete er Lucian nach der Schweiter. Doc die ſchöne Theodora war gern bereit, fi zur Schau zu ftellen. Zwiſchen ihren Brüdern erichien fie, ge— Heidet in das lange, dünne Gewand der Tänzerinnen, die Zither im Linken Arm und an den Knöcheln rothe Ketten mit Gaftagnetten. Zum hellen Schall der Flöten fpielte fie eine fröhliche Weife, die fie mit einem halb geiprochenen, halb gefungenen Liede begleitete. Timotheus reichte inzwiichen neue Becher herum, und die qute Stimmung fchien der verftörten Geſellſchaft beim Klange der Flöten wiederzufehren. Nach dem Tacte der Muſik bewegte der alte Pollio jene Gabel, und jein Geſicht glühte von dem genofienen Weine, mit dem er jeine Aufregung und feine Sorge hatte niedertämpfen wollen. Die jchöne Theodora

Unter dem Katalpenbaum. 29

aber legte ihre Lyra zur Seite und begann zu tanzen. Zierlih und langſam bewegte fie fi) wenige Schritte ridtwärt3 und vorwärts. Raſſelnd rührte fie dabei die hölzernen Klappern, mit denen fie den Tact der Flötenbläfer begleitete; bald jank fie zufammen in die Kniee und ließ ihr reiches Haar und da3 blühende Köpfchen bewundern, bald gab fie, rückwärts fich werfend, alle ihre üppigen Formen preis. Schließlich drehte fie fi in wilden Wirbel um fi) und ver: ſchwand dann raſch durch die Thüre.

„Eu, eu!“ rief Marcus, auf defien fahlen Wangen zum erſten Male ein röthlicher Schimmer zu jehen war.

„Herrlich, wundervoll!” ſagte Pollio.

Scipio aber jah mit einem verlangenden Blicke der Entſchwundenen nad), die jein Eigenthum war.

„Diejfe Sklavin ift eine ganze Billa werth!” rief nın Marcus aus, indem er ſich mit jeiner knöchernen Hand über den rundgejchorenen Kopf fuhr.

„Gr bleibt ſich immer glei!” erwiderte Scipiv. „Schließlich tarirt er mir auch noch den Werth meiner Ausfiht auf Capreä und Nefio nad) Sefterzen und Allen.“

„sch Ipreche in vollem Ernfte,” jagte Marcus, indem er feine langen, fpinnen- artigen Hände ineinander verſchränkte. „Du kennſt meine Meierei zum Granat- apfel; ich jeße fie gegen Deine Tänzerin. Wir wollen um fie würfeln.”

Thorheit,“ erwiderte Scipiv. „Ich mwürfle nicht um meine Leute,”

„So,“ jagte der Andere jvöttiih; „aber im Würfelſpiel des Krieges, tie ihr Soldaten jagt, haft Du da niemal3 um Menſchen gejpielt ?“

„Du bift ein Sophift,“ entgegnete Scipiv. „Aber ich jehe, Du willft würfeln. Ein ſchlechter Wirth, der feinen Gäften nicht den Willen thut. Keine Speifen mehr, Timotheus! Räume das weg. Wein jtelle auf und bringe die Würfel. Zünde aber den großen Leuchter an, daß wir auch fehen, was Wir werfen, denn es dämmert.“ Damit jprang er auf und ging nad) dem Periftyl, wohin ihm Pollio folgte. Timotheus brachte den Miſchkrug, um den Wein zu bereiten; aber Marcus jchob ihn zur Seite. „Ih bin Sympofiarh, Sklave,“ jagte er, „ich will jelbft meines Amtes warten.” Alsbald fing ex an, den diden rothen Maffiker mit lauem Waifer zu mijchen. Mehrmals probirte er und griff mit jeinen jpinnenartigen Armen hier hin und dort hin. Zimotheus fiel auf, daß er den Platz wechsle und ihm den Rüden zufehre, jo daß der Sklave nicht jehen konnte, was er trieb. Doc war es diejem, als laffe Marcus Etwas in dem Bauſche jeiner Toga verſchwinden. Erſt ala die beiden Anderen eins traten, ſchenkte er alle Becher in deren Gegenwart voll. „Er hat Etwas vor,” jagte fi) der alte Stlave. „Soll ich den neuen Herrn warnen? Aber Scipio verfauft und ja,“ zürnte er dann, „verkauft uns Alle, Theodora nur etwas fpäter al? uns Anderen. Hörte ic) es doc mit eigenen Ohren. Selbſt feine Hart— berzigfeit vor mir noch eine Weile zu bergen, war ihm nicht der Mühe werth. Was geht der Herr von heute mid) an, wenn ich nicht weiß, wer der Herr des Morgen fein wird? Mögen fie ihre Fehden untereinander ausmachen. Was brauchte der Thor diefem Scorpion mit der Verſchwörung des Panja zu drohen! Diefelbe Drohung war es, durch die er uns in Sklaventetten fet hielt. Möge

30 Deutiche Rundichau.

er verderben.“ So preßte der alte Diener bie Lippen feft zufammen und jchwieg, ja er empfand eine grimmige Freude, daß die Drohung, durch die Scipio ihr Glüc verhindert, nun ihm jelbjt zum Verderben gereiche. Als ex ſah, wie diejer den Becher ergriff, um den Trank zu prüfen, twendete er fi) dem Gandelaber in der Ede zu, den ex entflammte und mit defjen Docht fich feine zitternden Hände nod eine Weile zu jchaffen machten. Inzwiſchen brachte Lucian den Würfel» becher und ftellte fih dann beicheiden neben den Bruder in das dunkle Neben= gemach, two fie warteten, ob man ihrer Dienfte bedürfe.

„Bene vobis,* jagte der Wirth und trank feinen Gäften zu. Pollio dankte und tranf, während Marcus eifrig die Würfelbecher jchüttelte. „Um was würfeln wir?“ fragte er.

„Harpagon!“ erwiderte Scipio. „Eilt e8 Dir jo, mich wieder zu plündern ?“

„Wer nad) dem dritten Wurf die meiften Augen hat, gewinnt eine Mine,“ Ihlug Marcus vor.

„Ich bin dabei!” jagte Scipio und nahm den MWürfelbecher, den ihm jein bagerer Partner zuſchob. „Sieh' da, Pollio ift eingenickt,“ ſcherzte ex dabei. „Kein Wunder, er kann fein volles Glas vor fich jehen und bat das feine ſchon twieder ausgetrunken.“ Lachend fchüttelte er die Würfel und rief: „Nun fei mir gnädig, holde Venus.“

Er warf und zählte die Augen. „Nur ſechs, das ift wenig.“

Marcus nahm die Würfel, einen nad) dem anderen vom Tiſche und ftedte fie bedächtig einen nach dem anderen in den Becher, den er in jeinem Schoße hielt. Dann warf er.

„Achtzehn,“ rief Scipio betroffen. „Was Venus nur an Dir liebt, mein magerer Marcus? Ihr bauft Du doch ficher feine Tempel?“

Damit ftürzte er feinen Wein zornig hinab. Als er das Glas wieder füllte, jah er, daß Mareus gar nicht getrumfen hatte.

„Du faſteſt?“ fagte er ſpöttiſch.

„So lange ih würfle, trinke ich feinen Tropfen,“ erwiderte Marcus. „Dionyſos und Tyche waren niemals qute Freunde. Doc fahren wir fort.“

„Fahren wir fort,“ wiederholte Ecipio lallend, indem feine Augen gläfern wurden. Das Spiel ward erneuert. Scipio warf zwölf, Marcus fünfzehn. Als der dritte Wurf gethan war, hatte Scipio feine Mine verloren. Marcus jchob ihm ein Wachstäfelchen hin, auf das er jeine Schuld eintragen mußte. „Auch das führft Du bei Dir,” ſagte Scipio höhniſch. „In der That, Du bift Die eiferne Zange, wie fie Dich nennen.”

„Ich ſchulde Dir Erfah,“ jagte Marcus gleihmüthig. „Würfeln wir um zwei Minen, jo kannſt Du Alles einbringen.“

„Mteinethalben,” lachte Scipio und griff nad) den Würfeln. Zweimal hatte er einen Kleinen Vorſprung. Das dritte Mal warf Marcus fünfzehn und gewann jo die dritte Mine.

„Ich ſpiele nicht weiter,“ jagte Scipio, indem ex feine neue Schuld gebucht hatte. „Du brächteft mich um Haus und Hof.“

„Ich komme nicht gen mit dem Gelde meines Wirthes nad) Haufe,“ er- widerte der Andere treuherzig. „Dein Alerander gefällt mir. Mehr ala eine

Unter dem Katalpenbaum. 31

Mine iſt er nicht werth. Ich aber ſetze Deinen ganzen Verluft gegen dieſen Burſchen.“

„Meinethalben,“ gab Scipio zurück. „Ihn habe ich minder nöthig als meine drei Minen.“ Und fie begannen aufs Neue zu würfeln, während von der Thüre angftvolle Blicke nad) den getworfenen Augen fchielten. „Er vertaufcht die Würfel,” flüfterte Lucian dem Bruder zu. „Siehft Du, wie er die Hand geballt hat.“ Alexander zitterte nur. Mit brennenden Augen jchaute er nad) dem Tiſche, auf dem über feine Zukunft gewürfelt wurde. „Wieder verloren,” ſchrie Scipio grimmig. Und er jchrieb einen neuen Vermerk in die Tafel des Marcus. „So fpielen wir um Lucian,“ fuhr der hagere Verfucher fort. Alerander wollte feinem Bruder die Hand drüden. „Dann blieben wir ja beifammen,” flüfterte er; aber der Ainabe war im Dunkel verfhtwunden. Cine Weile darauf ſah er ihn am Brunnen des Viridarium ftehen, wo er jeine Hände in dem Falten Waſſer fühlte. „Lucian ift unwohl,“ dachte er. War doc auch er jelbit einer Ohnmacht nahe.

Dreimal wanderten drinnen die Becher herüber und hinüber zwiſchen dem trunkenen Scipio, deffen Antli wie im Fieber glühte, zu dem bleichen Marcus, der nun völlig einem ZTodtenfopfe gli. Zweimal gewann Scipiv. Zum dritten Male aber ergriff Marcus den Becher, er jchüttelte ihn auffallend lange und hielt ihn dan, um fi an Scipio’3 Angft zu weiden, verdedt auf dem Tijche. Da plötzlich legte fich eine kalte Hand auf die feine und al3 er aufblidte, fiel er mit einem Schrei in fein Polfter zurüd. Vor ihm ftand der geftorbene Mucius. Stumm, mit erhobener Rechten, hielt die Truggeftalt Stand. Selbit der tapfere Scipio erbleihte. „Wehe uns, daß wir tanzten in dem Haufe, das er erſt heute verließ,“ ertönte eine Stimme aus dem Hintergrunde „Euere Flöten haben ihn herübergelodt aus feinem Grabmal,“ Der abergläubiſche Marcus ächzte und wand ſich, während Scipio ſich aufraffte, um dem Spuf zu Leibe zu gehen. Aber in demjelben Augenblide verlöjchte die Flamme des Leuchters, und in dem ungewilfen Scheine, der von draußen Hereinfiel, jah man nur nod) die dämmernde Geftalt de3 Geipenftes, die fid) drohend über den zitternden Marcus beugte.

„Die Larven gehen um,“ fluchte Scipio und wich zurüd. Die eiferne Hand des wiedergefehrten Mucius ergriff num auch die zitternde Linke des Marcus, die diejer Feitgeichloffen hielt. Sie jchiener miteinander zu ringen. Aber die Kraft de3 falichen Spieler3 war gelähmt. „Gnade,“ wimmerte er Häglih, „noch Kann ih Alles wieder gut machen.“ Nun lief auch Scipio ein Fröſteln über den Rüden. Die Sklaven ſchwiegen, und der fchlafende Pollio fing an zu röcheln und zu zuden, al3 ob er in Todeskrämpfen läge.

Das Gejpenft Hatte ſich inzwiichen der Witrfel bemächtigt, und nun extönte eine fröhliche Stimme: „Water, mache wieder hell! Der Betrüger ift überführt!”

Auch Timotheus war zuerſt heftig erichroden, als er in düſtere Gedanken verloren und bedrüdt von der Mitwifjerichaft des Verbrechens, das ſich vor jeinen Augen begab und das er nicht verhinderte, plötzlich unter der Thüre die Gejtalt feines gejtorbenen Huerr erblidte. Einen Augenblid meinte ex fi zu täuſchen, aber die Erſcheinung wollte nicht weichen, obwohl er ben Daumen ein= ſchlug und ein Stoßgebet murmelte. Greifbar deutlich ftand fie dort und jchaute

32. Deutiche Rundſchau.

unverwandt nach den Händen des hageren Marcus. Da gewahrte Timotheus unter dem Gewande der Truggeftalt die ihm mwohlbetannten rothen Sandalen ſeines Lucian, die verrätheriich unter der grauen Toga hervorglänzten. Alsbald ward ihm die ganze Ericheinung Har. Der kecke Knabe Hatte ſich zu feinem Spufe der Maske und Kleidung des Mimen bedient, der heute bei dem Trauer: zuge den todten Mucius jo geſchickt nachgeahmt Hatte, und indem ex Humpelnden Schrittes auf den Tiſch zuichritt, blieb er in nichts Hinter feinem Vorbilde zurüd. Sobald Timotheus begriffen, was fein jchlauer Knabe beabfichtige, ver- dunkelte er im rechten Augenblide die Flamme und unterftüßte jo aufs Beſte die geipenftiiche Wirkung. igentlih wollte er dadurch nur feinem Sohne den Rüdzug erleihtern, ehe Scipio fih auf ihn werfe; Lucian aber nahm, nachdem Zimotheus den Dedel von der Lampe wieder entfernt hatte, weil es der Knabe jo gebot, die Maske ab, und während er Marcus noch immer mit dem Arme vom Tiſche fernhielt, rief er: „Er hat Dich betrogen, Herr, ſieh' hier den falfchen Würfel!“

Die Stube war wieder hell. Marcus lag, feiner Glieder nicht mächtig, in feinen Kiffen. Scipio lachte ftumpf. Gr nahm den vierten Würfel und jpielte mit ihm. Bei jedem Wurfe zeigte er ſechs. Aber die Entdedung ſchien ihm feinen rechten Eindrud zu machen. Seine Bewegungen waren müde. Da begriff Zimotheuß die Sachlage. „Auch vergiftet hat er Di,“ rief er dem Trunkenen zu. „Ich jah, wie er Etwas in den Miſchkrug goß.“

Langſam wälzte Scipio jeine ftieren Augen nad Marcus hinüber. Dann ſchien er plößlich zu begreifen. Er erhob fich ſchwer mit jeinem mächtigen Körper und faßte den dürren Giftmiicher an den Schultern. „Trinke!“ fagte ex, indem er auf den unberührten Becher deutete.

Marcus zögerte.

„Zrinfe!” donnerte Scipio nochmals, „oder ich erwürge Dich.“ Da zudte der Magere mit feinen Schultern und trank den Becher aus. Scipio fchaute ihn verwundert an.

„Du fiehit, daß Deine Sklaven lügen,“ krächzte Marcus.

„Er hat vorher ein Gegengift genommen,“ xief Timotheus. „Siehe, Pollio ift ſchon todt.“ Als die Blide dev Verfammelten nad dem zurücdliegenden Polſter ſchauten, jahen fie auf demfelben den Scläfer von vorhin ala ftarre Leiche, mit fahlem Antlif. Noch einmal raffte Scipio fih auf. „Gerechte Götter,“ rief ex, während ihn jelbft bereit3 Todesſchauer jhüttelten. Marcus wollte den Augenblict des Schredens benützen, um zu entweichen; aber die beiden Knaben hielten den fih Sträubenden feſt. In dem Ringen entfiel dag Wachs— täfelchen feiner Toga, und Lucian zerftampfte es an der Erde, um die Schuld- urkunde zu vernichten.

„Bindet ihn!“ rief Ecipio, der bleicher und bleicher wurde, „und führt ihn, falls ich fterbe, zum Richter.” Dann jeßte er fich nieder, denn die Beine wurden ihm ſchwer. Die beiden jungen Sklaven aber fefjelten den drohenden und fluchenden Giftmifcher mit den Gürteln, die fie von ihrer Tunica löften, und führten den Scheltenden hinaus, um ihn im Sklavenkerker zu bergen, bet

Unter dem Ratalpenbaum. 33

feiner Billa fehlte. Als fie zurüdfamen, fanden fie Timotheus ftarr zwischen zwei Zeichen, die er mit finfterer Miene betrachtete.

Pollio lag mit bläulichem Angefihte auf feinem Polfter, und feine Augen waren weit auß dem Kopfe gequollen, während Scipio, mit dem Haupte auf dem Gredenztifhe, einem Schlafenden glich. Dem jungen Sklaven jchauberte. Er bededte die Leichen mit ihrer eigenen Toga und murmelte ein Gebet; ala er aber nad) dem Vater aufblicte, erichraf er aufs Neue. „Was ift Dir?“ rief er entjeßt. „Haft auch Du von dem tödtlichen Tranke genoffen oder ängfteft Du Did wegen des Ausganges? Wird man und bejchuldigen?" Timotheus aber ftarrte noch immer, ald ob er die Medufe gejehen hätte, ins Leere. Dann brad) er in die Worte des Sklaven bei Plautuß aus: „Ich weiß e8, daß ein Kreuz mein hart. Dort ruhen meine Väter!“

„Laß es harren, mein Vater,“ rief Lucian entſchloſſen. „In diefem Augen- blicke find wir die Herren ber Villa. Falls der Giftmifcher fein eigen Gebräu überlebt, können twir doc, bis er frei wird, in Neapolis fein. Dort verbergen wir und, bis wir ein Schiff finden, daß uns nad Afrika oder Hilpanien trägt. Alfo voran, Alerander, rüfte den Wagen! Vater, rufe die Frauen. Ich aber plündere die Billa.“

„Der Entjchloffenfte ift Führer in folder Stunde,” dachte Timotheus und ging, um Sophia dad Vorgefallene zu berichten. „Bleiben wir,“ jagte er ihr, als fie in Klagen ausbrach, „jo wartet unfer erft die Folter, dann das Kreuz, Thue alfo, was die Knaben rathen. Höre, Alerander jchirrt jchon die Roſſe an. Kaffe Alles zufammen, was ſich bergen und mit Wortheil verkaufen läßt. In einer Stunde müffen wir fliehen, ehe der Dämon einen WVerräther hierher führt. Wie leicht können die Leute des Pollio oder Marcus nad ihren Herren fragen, wenn fie finden, daß fie zu lange in diefem gaftlichen Haufe weilen. Hu, mid) ſchauert, bis wir hinaus find.“

„D, Eybele, gnadenreihe Mutter,“ rief die alte Frau, „wie kann ic) fliehen ! Meine Glieder find vom Schreden wie gebrochen. Gleich am Morgen, ein Zeichen ſchlimmer VBorbedeutung, ftrauchelte ich über meine Schwelle. Nun ift das Un— glüd da.“

Seines Weibes Klagen gaben Timotheus die eigene Faffung zurüd. „Jammere jet nicht,“ ſagte er ftreng. „Raffe zufammen, was wir brauchen können und den Wagen nicht allzu jehr belaftet. Theodora Eleide als vornehme Dame, die uns al3 ihre Sklaven mit fich führt.“

Als er gejehen, daß Sophia ihre naffen Augen getrodnet hatte, ging er hinaus, um Alerander bei dem Beladen ded Wagen? zu unterftüßen. Als er durch das Bilderzimmer ging, fand er Lucian über der Geldfifte, die der muthige, liſtenkundige Knabe aufgebrochen hatte, im Begriffe die Geldſäcke herauszunehmen. „Schön, mein Lucian,” fagte der Vater billigend. „Die Schuldurkunden Lafie bier, ihr Verſchwinden würde nur den Nachbarn zu quite fommen. Das baare Geld wollen wir zufammen nad) dem Wagen tragen. Mit diefem Golde, das der Greis aufhäufte, find wir geborgen. Sorge, daß die Frauen uns nicht mit verrätheriichen Dingen befchweren und unnüßen Ballaft meiden.“

Deutſche Rundſchau. XVI, 7. 3

34 Deutſche Rundſchau.

Lucian legte die Beutel mit Silber in einen Korb, den er dem Vater über— lieferte. Den mit Gold aber ließ er in die eigene Buſentaſche gleiten und ging dann, Mutter und Schweſter zu unterweiſen. Als Timotheus mit ſeinem Korbe in die Finſterniß hinaustrat, ſah er einen ſechsſitzigen Wagen und vor demſelben Alexander, der die feurigen Roſſe beruhigte. Nachdem er ſeinen Korb geborgen, nahm er auf der vorderen Bank Pla und ſagte Alexander, ex ſolle die Straße am Mteeresrande Hin fahren, doch nicht allzu jchnell, damit fie fein Aufjehen erregten. In Puteoli, wo ftet3 viele Fremde einfehrten, jolle er halten und bie Pferde füttern. Dann könnten fie noch immer vor Anbruch des Morgens in Neapolis eintreffen, eine Wohnung miethen und den Wagen abladen, den man dann am beften durch einen unbekannten Boten nad) einem fernen Orte an eine erfundene Perſönlichkeit jchieke, da der Verkauf zu gefährlich jei. „Der erfindungs- reiche Lucian,“ tröftete ex fich, „wird das Alles ſchon ordnen. Aber fie ſäumen,“ fagte er ungeduldig. „Willen fie doch, was und bevorfteht, falls wir gefangen werden. Am Circus aufzutreten vor den wilden Thieren, dürfte doch auch Theodora wenig gefallen, jo gerne jie ihre Schönheit zur Schau ftellt.“ Endlich erfchienen die Frauen, jede einen hochbepadten Korb auf dem Kopfe. Hinter ihnen trug Lucian eine Reihe von Kiſten heraus und ſchloß dann ſorglich die Thüre. Sobald Alles aufgeladen und unter den Bänken und Decken verborgen war, jebte ſich Timotheus neben Alexander; auf der zweiten Bank jaßen die rauen; auf der dritten nahm rittlings Lucian Pla, um nad) allen Seiten jpähen zu können, ob Gefahr in Sicht fer. Frau Sophia zitterte an allen Gliedern und brach in ein frampfhaftes Schluchzen aus, während ihre Tochter fie vergeblich zu beruhigen ſuchte. Alexander ſchlug auf die Pferde, und in ſcharfem Trabe ging e8 hinaus auf die Straße, die ein Schimmer vom Meere ber und ber weiße Sand des Uferd genugjam beleuchteten. Schwermüthig blickte Timotheus zu den Sternen empor, den filbernen Rindern Apollo’3, die Hesperus ihm Hütete. Die alte Frau ftöhnte zuweilen und verlangte nah) Wafler. AUlerander aber trieb die Pferde um jo eifriger vorwärts, und der Wagen flog unaufhaltiam weiter. Bald aber wurde es Timotheus bei dem Stoßen bes Wagens auf der gepflafterten Straße jo unwohl, daß der Schweiß ihm aus— brach, und von der dunfeln See her fam ein kühler Wind, der ihm Trröfteln erregte. Mühſam befam er unter den Körben der rauen eine Dede frei, in die er fih hüllte, um feiner Krankheit zur Beute zu fallen. Auch Lucian jchien der Falte Luftzug nicht zu gefallen, und er öffnete einen Korb, den er in feiner Nähe geborgen Hatte, und brachte eine Flaſche zum Vorſchein, die ex geſchickt entkorfte. Nachdem er daraus getrunken, reichte er fie der Mutter, die ruhiger wurde, nachdem fie einige Eräftige Züge aus dem bauchigen Gefäße gethan hatte. Auch dem Water ftellte dev edle bitterfühße Trank vom Abhange des Veſuv die Kräfte wieder her, und nachdem der Knabe, der an Alles dachte, auch noch einen Korb mit Eßwaaren umhergereicht hatte, jchien die Furcht der rauen fich zu mindern, und in fejterer Stimmung jeßten fie ihre Reife fort.

„War e3 denn nöthig zu fliehen?“ fragte Theodora, die gewohnt war, ihren Kopf für fi) zu haben. „Wir hatten ja nicht verbrodhen, was konnten fie ums denn anhaben ?“

Unter dem Katalpenbaum. 35

„Kind,“ erwiderte der Water ernft, „Du weißt nicht, was Du redeft. Vor den Richter hätte man und unter allen Umftänden gezogen, und Marcus hätte dann mich, den Tafelordner, des Giftmordes beſchuldigt. Dann wäre das GErite geweſen, daß der Richter una Alle der Folter unterworfen hätte. Wer weiß, was Du Alles bekannt Hätteft, wenn fie Deinen Schönen Fuß in den Block ipannten? Flehe zu den Göttern, daß fie una günftig geleiten,; nod find wir nicht ficher vor den Fascen de3 Lictors und den Beſtien der Arena.“

An diefem Augenblide, als ob die Warnung das Unheil herbeigezogen hätte, tourde Lucian auf feinem Nüdfige unruhig. Er ſpähte in die Nacht hinaus und befahl dann Alerander, er jolle einen Augenblick halten. Als die Pferde ftanden, hörte man in der Ferne den hellen Hufichlag von Roſſen. „Wir werden ver— folgt,” ſagte Lucian. Jetzt hörten auch die Anderen Pferdegetrappel, das näher und näher fam. Es war fein Zweifel, daß fie es waren, denen man nachſetzte. Auch mußten die Verfolger fie bereit3 wahrgenommen haben; denn deutlich hörten fie in der Ferne das fchredliche „Halt, Halt!” Lucian aber rief: „Wir haben feine Ausficht, zu entrinnen, wenn wir auf der Straße bleiben. Lenke alfo hinter die nächfte Zorbeerhede oder den erjten dunfelnden Vorſprung. Vielleicht jagen fie dann vorüber.“

Zum Glüd wendete ſich der Weg gerade jet um eine jcharfe Ecke. Einige ſchattige Kaftanien mit dichtem Interholze ftanden am Wege. Des Bruders Befehlen gehoriam, führte Alerander den Wagen auf diefen rafigen Grund, wo das Geräusch der Näder fi) dämpite und das Gebüjch ſchützend über ihnen fich audbreitete. Jebt kam der Hufichlag näher. Lucian jprang vom Wagen, durfte ſich unter die Büſche und kroch hinüber an die Straße. Nach einer bangen Taufe jprengte ein Trupp Reiter eilig vorüber. Der Weg zog ich Hier fort- während an der Felswand Kin, jo daß die Verfolger ftet3 glaubten, hinter ber nädjten Ede den fliehenden Wagen erreichen zu müſſen. „Sie find vorbei,“ jagte jeßt Lucian, indem er aus den Büſchen auftaudjte. „Es waren Drei, an ber Spitze der Lictor, der jeit dem Todestage des Mucius das Haus umjchleicht.“

„Ach, wir Unglücjeligen, was jollen wir thun?“ jammerte Sophia.

„Stille jein,“ erwiderte Lucian ſchroff. „Sehen wir den Weg fort, jo laufen wir ihnen unfehlbar in die Hände, denn bereit3 einige Hundert Schritte von bier können fie den Weg abwärts überjehen, und wenn fie feinen Wagen erblicken, Tehren fie um. Wir warten aljo bier, bis fie zurücdkehren. Sobald fie vorüber find, fahren wir nach Puteoli weiter. Bei dem phöniciichen Schent- wirth laffen wir den Wagen und bergen die Saden. Der Mann ift zuverläffig, fal3 man ihm ein Drittel der Waare opfert. Dann aber trennen wir uns. Wer kann und mag, findet mic) morgen Abend am Gingange der Billa des Pollio zu Neapel.“

Timotheus wollte diefer Trennung widersprechen, aber Lucian machte ihm ein Zeichen zu ſchweigen und deutete nad) der Straße. Die Reiter famen zurüd.

„Sie müfjen irgendwo verftecft fein,” jagte der Lictor, „Falls fie nicht vom Felſen ftürzten und die Nacht des Avernus Roſſe und Wagen verichlang.” Timotheus ftand der Herzichlag ftill, als er den Verfolger jo reden hörte; aber die

Reiter zogen ruhig ihre Straße. 3*

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„Ich danfe Dir, Pallas,“ dachte der alte Sklave, „Du legteft ihnen die Binde vor die Augen. Nun find wir gerettet.“ Die beiden Anaben jprangen nad) dem Wege, um zu jehen, ob Alles ficher jei. Dann kehrte Alexander zurück und zog die Roſſe vorfihtig aus den Büſchen. „Wo ift Lucian?” fragte Timotheus.

„Erwarte ihn nicht,“ antwortete Alerander düfter. „Er bat uns verlaffen.“

„O,“ rief der Vater bitter. „Alſo dazu ftedte er den Beutel mit Gold zu fih. Sohn, Sohn, das aljo ift dein Dank und deine Liebe!“

Aber es war feine Zeit zu Klagen. Alexander ſchlug auf die Pferde, und nachdem fie noch aufwärts um einige Felsnaſen gefahren waren, rollte der Wagen luſtig Puteoli entgegen. Auf einer Seitenftraße gelangten fie dann ohne weiteres Abenteuer, an dunfeln Gehöften vorbei, zu der Schenke des Phönicierd, und Alexander ging, um für die Pferde Sorge zu tragen. Auch Theodora ſprang herab und half ihrer Mutter vom Wagen. Nach einer Weile erfchien ein Sklave mit einer Laterne, um den Pferden eine volle Krippe und Waſſer zu bringen. Dann wurde die Thüre geöffnet, und ein häßliches altes Weib kam zum Vorſchein, das die Frauen zum Eintritt in die Schenke nöthigte. Bald jah Timotheus durch die offene Thüre, wie fie ein Feuer am Herde entflammte und fi in eifrige Verhandlungen mit Sophia und ihrer Tochter einließ. Als die Pferde ihre Krippe leer gefreſſen und die Waflereimer ausgetrunfen hatten, knallte Alerander mit der Peitiche, und Timotheus rief in da3 Haus: „Kommt jebt!“ Aber nur Sophia trat hervor.

„Zrautefter,” begann fie verlegen, „wir haben una überlegt, daß es am ficherften fei, des Elugen Lucian Rath zu befolgen. Fahren wir weiter, jo wird der Morgen uns überraſchen. Schon lichtet es ſich am öftlien Himmel. Darum ift e8 beffer, wir Frauen bleiben. Yadet uns unfere Körbe ab und gib uns von dem Silber. Die Phönicierin wird und nicht verrathen.“

Timotheus ſah traurig in die Augen feines Weibes. Aber Alexander jagte: „Sie haben recht. Wir müfjen und trennen oder untergehen.“

„Theodora ift noch jung,“ entjchuldigte die Mutter. „Zürne ihr nidt- Süß ift die Jugend und der Tod entjeßlidh.“

„So lebet denn,” vief Timotheus bitter. „Aber ich forge, wenn fie am Abend fich niederlegt und der Schlaf die müden Glieder löſt, dann naht fidh ihrem Lager biuttriefenden Hauptes ein furchtbarer Drade, die Larve ihres Vaters, den fie faltblütig verließ, al3 die Feinde nad) ihm zielten.“

Sophia jchluchzte. Aber Alerander hatte bereits die Körbe der Frauen auf die Erde gejtellt und einen Sad mit Silber hinzugefügt.

„Auch meinen Sad mit dem Gelde begehre ich,“ ließ fich jeht die Stimme der Tochter vernehmen, die nunmehr unter der Thüre zum Vorſchein kam.

„Sehe zum Styr!“ rief Mlerander, ſchwang fi auf den Sit und trieb bie Pferde zum Laufen. So fuhren die Beiden, Vater und Sohn, aufs Neue in die Nacht hinaus. Timotheus war es jchwer ums Herz. Vergeblich juchte er fein Kind zu entichuldigen. Kalt, herzlos, gefalljüchtig war fie geworden in ihrem Stlavenleben. Wie hätte da3 auch anders fein jollen im Kampfe um die Gunft des Herrn. Aber er hatte geglaubt, daß fie an ihm jo gut hänge wie an der Mutter. Oder hielt fie auch an diejer nur feft, weil fie fie brauchte? Er weigerte

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fih, das zu glauben. „Furt um das Leben, Aufregung, Hunger und Durft ſtacheln fie jetzt,“ jo entjchuldigte er fie in feinem weichen Waterherzen. „Ihre Selbftfucht wird ſich wieder beihmwichtigen, wenn Ruhe und Vernunft die Angft geftillt haben. Liebe verreift wohl einmal, aber fie wandert nicht aus.“ Damit tröftete ex fich ſelbſt, jo gut er es vermochte und legte zärtlich dem treuen Alerander den Arm um den Naden, während fie auf der mit jedem Augenblicde Helleren Straße dahinfuhren. Noch lagen die Anjeln dunkel wie ſchwimmende Särge in dem ftahlblauen Meere. Da jprang ein Strahl im Dften empor, ein Kranz von Strahlen. Rofig leuchteten die Eilande Prochyte und Gapreä auf, violett färbten fich die Inſeln Pithecuſa und Nefio, die adelige, vor— nehm gebogene Linie des Veſuvius Fam über dem finkenden Nebel zum Vorſchein, und tiefblau erglänzte der Golf von Neapolid. Die Straße wand fich hart am Rande des lichten Kalkfteinfelfens empor, und Timotheus jah unter fich die hellblaue Fluth und die weißen Kämme der Brandung. „Groß bift Du, Pojeidon,“ rief er, „und berrlih Dein Reich, und Fühler ruhte es fih in Deinem Schoße als in des Lorbeerhaines Schattendunfel. Nur Hier oben ift Hitze und Streit und Leidenschaft, bei Dir ift Friede! Sie jchelten Dich treulos, Okeanos, und ſchmähen Deine Ungeheuer, und doc) las ich von Delphinen, die dankbar den Sänger durch die Wellen trugen, in denen Menſchen ihn ertränfen wollten, und von jenem Seevogel, der gealtert und flugmüde von jeinem Weibchen auf die Flügel ge= nommen wird, damit er nicht verderbe. O, Sophia, o, Theodora, wie thatet ihr mir!“ Schmerzli gedachte ex der Fühlen Trennung von dem Finde, das jein Augapfel gewejen war, und der trauernden Gattin. „Ac,” ſeufzte er, „Sophia, noch immer fliegt mein thörichtes Herz Dir wie ein Vögelchen zu.“ In diefem Augenblicde erhob ſich Alerander von feinem Site und ſchaute rückwärts. „Sie kommen,“ ſprach er erbleichend. „Ah kann den Wagen bergauf nicht jo raſch vorwärts treiben ala fie auf ihren Roſſen traben. Hier, Vater, nimm die Zügel.“ Mit diefen Worten warf der Knabe dem Vater die Zügel zu, griff unter die Bank und ließ die beiden Teßten Beutel in feinen Buſen gleiten. Dann fprang er vom Wagen und Eletterte den Abhang empor, wo er bald in dem dornigen Geftrüppe von Aloe und Cactus verihwand. Timotheus jah ihm trübe nad. „Auch er,” jagte er ſchmerzlich. Traurig ließ er die Pferde vor- wärt3 gehen, wie fie mochten, und ſchaute mit ſtumpfem Gleichmuth zurüd, wie der Abftand zwiſchen ihm und den Reitern mit jedem Augenblicde geringer wurde. Das Leben jchien ihm gleichgültig geworden zu fein, ſeit er erkannt hatte, daß in diefer Welt der Verfolgten und Geheßten feine Treue zu finden jei, jondern Jeder nur auf fich ſelbſt ſtehe. Dann erhob er fi von feinem Sike und ſchaute in die ſchwindelnde Tiefe hinab. „Wäre ich da unten,“ feufzte er, „da würdeſt du jchlafen, o Herz, ichlafen würde der ewige Lärm und all’ das un— ermefjene Leid!“

Als er zurüdichaute, waren die drei Reiter ihm wieder näher gelommen. Dffenbar fpornten fie ihre Roſſe. Sie fuchten ihn. Und was bedeutete ed, wenn fie ihn fingen? Er wußte es zu gut. „Es find nicht mehr ald Dreie,“ jagte er bitter. „Hätten die Knaben ausgeharrt, vielleicht hätten wir und ihrer er— wehrt. Aber fie find Sklaven, und nicht twie Freie gelehrt, auf der Feinde

38 Deutſche Rundſchau.

Lanzen ſelbſtvertrauend zuzuſchreiten. Ich aber will auch allein mein Leben theuer verkaufen!“ Er lenkte den Wagen um. „Lebendig ſollen ſie mich nicht greifen und mindeſtens Zweie mir folgen zum Avernus.“ Ruhig wartete er, bis die Verfolger die letzte Biegung des Weges nahezu erreicht hatten. Bereits hörte er das Keuchen ihrer abgetriebenen Roffe, während feine Pferde verichnauften. Dann, als nur noch eine jehnurgerade Straße zwiſchen ihm und den Reitern lag, ſchwang er die Peitſche und pfeiljchnell flog jein Wagen die teile Steigung abwärts. Die Räder ſchoſſen dahin und ftießen an die Füße ber Pferde, jo daß diefe in mwahnfinnigen Sätzen ausgriffen. Die Reiter jahen das tolle Gefpann ſich entgegenjagen. Der Vorderſte trieb fein Rob Hart an den Felshang, um den Zufammenftoß zu vermeiden. Der Lictor wollte ummenden und jo dem Magen entfliehen. Da faßte ihn bereits die Deichiel des bergabſchießenden Ge- ipannes in der Seite. Timotheus jah, wie das Roß des Verhaßten zur Seite iprang und mit dem Reiter den Abhang hinabſchlug. Aber ihm nad) jchofjen jeine eigenen Pferde über die Krümmung der Straße in den Abgrund. Ein Kraden, Wirbeln, Brauſen umgab ihn. Hart jchlug er auf der Erde auf und ftieß jein Haupt auf dem feften Grunde und er erwachte.

VII.

Als er um ſich ſchaute, lag ex wirklich umd wahrhaftig an der Erde. Die Alveftengel und Gactusheden waren verſchwunden, dagegen hing der wohlbetannte Hollunderbufh mit jeinen Blättern über ihm, und die Epheuranfen fnifterten unter der Laft feines Körpers. Jetzt befann er fih, wo er war. Die Traum: bank mußte unter dev Wucht feiner lebten Bewegungen zufammengebroden fein, denn fie lag wie ein verendetes Pferd mit ausgeftrecten Füßen unter feinem Leibe. Mühfam arbeitete der alte Herr fi empor. Ihm war wirr und weh' zu Muthe. Sein Haupt jchmerzte, und in feinen Ohren braufte noch der Golf von Neapel. Tiefſinnig ftarrte er auf die Trümmer feines Sites und dachte: „Irgend ein Geheimniß muß dabei fein, daß ich hier immer in eine andere Welt entrüctt werde. Da liegt «3, das Polfter des Asklepios, ich aber danke fiir weitere Ancubationen. Es ift wohl am beften, ic} lafje die Planke jpalten, und Sabina verwendet fie in der Küche. Merkwürdig,“ fagte er, indem er die Trümmer zuſammenlas, um fie hinunter zu tragen, „noch geftern war ich in Folge meines böjen Pfaffentraumes geneigt, die ganze mittelalterlihe Cultur für eine Krank— heitöperiode zu halten, in der die Menſchheit verkümmerte; heute muß ich doc jagen, e3 war qut, daß diefe Chriftianer dazwiichen famen. Das war ja eine ganz verfluchte Gejellichaft, al3 die Naturgottheiten noch die Schöne Welt regierten.“

rau Sophia und ihre Söhne waren nicht wenig verwundert, ala Her Zimotheus heute, ein Brett unter dem einen Arme und vier Bankfüße unter dem anderen, aus dem MWäldchen hervortrat. „O weh, die Traumbank,“ rief Lutz betrübt. „Mein Werk hat freilich jchon drei Sommer gehalten.”

„Alſo Du haft diefes geheimnigvolle Weſen geyimmert,“ ſagte der Vater und legte da3 Brett jäuberlih auf den Tiſch.

„Es iſt Sykomorenholz,“ belehrte Alerander die Anderen. „Luk nahm zu jeinem Meifterftüce den Deckel der Ktifte, in der die Mumie für das Echulmufeum

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angefommen ift, die der Schuldiener in dem Klofter zu Memmingen faufte. Sol’ rothes Holz kennen wir hier nicht.”

„Und fieh’,“ fügte die Frau Rector Hinzu, „welche ſeltſame Figuren Hier eingepreßt find.”

In der That kamen, wenn man das Brett in gleicher Höhe mit dem Auge hielt, ſchwache reliefartige Vertiefungen zum Vorſchein.

„Du warft ja ein wahrer Vandale, Lub, daß Du diejes Altertum in jolcher Weiſe vermöbelteft!" rief Alerander.

„Bapa wollte eine Bank,” entjchuldigte ſich der Geicholtene, „und ich fand nicht Anderes.“

„Nun begreife ich meine jeltfamen Träume,“ rief der Nector lächelnd. „Diejes Brett mag viertaufend Jahre alt fein und hat die Luft der verjchiedenen Culturepochen eingejogen, die es bei dieſer Julihitze geheimnigvoll wieder aus» haucht. Darum träumte ich jolche alte Gejchichten.“ In guter Stimmung erzählte er nun den Knaben kurz den Anhalt feiner drei Träume,

„Aber das ift ja höchſt merkwürdig,“ rief Lu. „Da will ih die Banf jofort wieder herjtellen, vielleicht mit drei Beinen macht ſich die Sache nod) beifer. Auf einem pythifchen Dreifug wirft Du am Ende noch merkiwürdigere Aufichlüffe erhalten.

„Rein, ich danke,“ jagte der Emeritus. „Nun kämen bie tieferen ägyptiſchen Schichten an die Reihe, und wenn die erſt frei werden, unter dem Einfluß der tropischen Hitze, jehe ih mid) am Ende noch als ägyptiſcher Priefter und füttere mit verhältnigmäßiger Heiterkeit meine heiligen Krofodile mit den Armen und Beinen meiner Gattin. Drei Stationen der Geſchichte bin ich zurücdgefahren ; jchon auf der erften war ed entjchieden ungemüthlich, die zweite war traurig, die dritte abſcheulich; da begehre ich die Grenzen der Menfchheit nimmer zu ſchauen.“

„Aber was ſollen wir mit dem ehrwürdigen Brette anfangen?” fragte die Mutter lachend.

„Gib e3 der alten Sabine, fte ſoll unfern Kaffee damit kochen,“ entichied der Rector.

„Ich finde aber, Vater,” jagte Lu mit einem Nafenrümpfen, „daß wir keineswegs eine jehr erbauliche Rolle jpielen in Deinen Träumen.“

„Da3 haben mir Deine vorwißigen Zwiichenrufe mährend meiner Erzählung bereit3 jattfam gejagt,“ erwiderte der Nector. „Dennoch hatte mein Traum vollfommen vet. So und nicht beifer hätten wir uns unter den damaligen Verhältniffen entwickelt. Was wir heute find, find wir nicht aus eigener Kraft, jondern Hundert und Hundert Generationen mußten ringen, fämpfen, Leiden, bis nur der mäßige Zuftand des Nechtsgefühl® und der Sittlichkeit erreicht ward, defjen wir uns heute erfreuen. Ach jchöpfe daraus den Troft, daß auch die, die nad) uns fommen, befjer jein werden, al3 wir e3 find und werden fonnten. Schauen fie dann auf die Rohheit unferer Kämpfe mit dem gleichen Abjcheu zurück, wie wir heute auf die Junkerwirthſchaft und den Werberunfug des patri— ardaliichen Regiments, auf Hexenproceſſe und Ketzerrichter des Mittelalters, auf den Sklavenjammer und die allgemeine Zreulofigkeit der antiken Welt

40 Deutihe Rundſchau.

ſchauen, um jo beffer! Dieſer Abfcheu vor uns wird nur einen weiteren Fort— ſchritt des menschlichen Gejchlechtes bedeuten. Aber Eines habe ih erkannt. Wir müfjen kämpfen, wir müffen thätig jein. Der eigentliche Feind alles Fort— Ichritts ift doch immer die Selbftjucht der Mächtigen, die Tyrannei der Starken gegen die Schwachen. Nur die Gleichheit der Rechte ſchützt vor gefährlicher Ge— waltherrfchaft und ſchmählichem Sklavenfinne.“

In diefem Augenblid ertönte über der Billa wieder ein Böllerſchuß, der die Stimmberehtigten mahnen follte, ihrer Wahlpflicht eingedene zu fein. „Sa, Du haft ganz recht, trefflicher Kammerjäger,” rief der Emeritus fröhlich. „Wären unjere Vorfahren zu Haufe geblieben, wenn e3 galt, zu kämpfen um die Frei— heit, jo wäreft Du noch ein Sklave, und ich wäre ein Sklave, und Qumpe wären wir beide. Raſch, Lutz, hole mir meinen Hut! Noch ift e8 Zeit, meine Pflicht al3 Bürger unjeres glücklichen Jahrhunderts zu erfüllen. Gib mir einen Zettel, Uler. Es lebe das allgemeine Wahlreht! Auch ich ftimme für Rollmops.“

der internationale Arbeiterſchutz.

Don

Dr. Georg Adler, Docent ber Nationaldlonomie an der Univerfität Freiburg i. Br.

nn

I.

Die denkwürdigen Erlaſſe des deutjchen Kaiſers vom 4. Februar, duch welche er die Löjung der Trage des Arbeiterfhußes in feine mächtige Hand ges nommen hat, bezeichnen wie mit Flammenjchrift den Beginn einer neuen Aera der europätichen Wirthſchafts- und Socialpolitil. Denn wahrlich, bedentt man, wie vor hundert Jahren nur durch den Sturz von Thronen und durch ein Meer von Blut die franzöfifche Revolution die politische Befreiung des dritten Standes zu erwirfen vermochte, jo kann es für den wahren Mtenjchenfreund fein erhabe- nere3 Schaufpiel geben, ala jet zu jehen, wie die mwirthichaftlicde Emancipation de3 vierten Standes, welche einen noch weit greuelvolleren Weltenbrand zu entfachen drohte, duch dieſe zielbewußten und wahrhaft volfsfreundlichen Maßnahmen auf dem Wege friedlicher und vernünftiger Neformen ind Werk gejeht wird.

Die dee, durch internationale Vereinbarungen dem Arbeiter ausreichenderen Schub zu gemwährleiften, als e3 eine bloß nationale Gejeßgebung vermag, ift durchaus nicht neu, jondern ſchon faft ein halbes Jahrhundert alt, und, was nicht überjehen werden darf, dieje dee ift nicht doctrinärer Buchgelehrfamkeit ent- iprungen, jondern unmittelbar aus der Erfahrung des ſocialen Lebens, aus einer rationellen Betrachtung der praftifchen Verhältniffe hat fie fich ergeben. Ein elſäſſiſcher Fabrikant, Daniel Legrand, ift es geweſen, der (1841) durch die Be— rathungen der franzöfiichen Kammern über Maßregeln zum Beften der Arbeiter auf den Gedanken gebracht worden ift, eine internationale Berftändigung über das, was hier zu gejchehen habe, vorzuſchlagen. Bon den geräuſchvollen Wellen der politiichen Bewegung in den vierziger Jahren verſchlungen, tauchte 1855 diefer Gedante wieder auf, als der Canton Glarus ſich mit der gejeglichen Fürſorge für die Arbeiter der Baummollipinnereien zu beichäftigen hatte.

Beide Male ging man von der Erfenntniß aus: daß der Arbeiterihuß für die Induſtrie meift eine Vertheuerung der Productionskoften zur folge Haben, mithin die inländiichen Gewerbe in ihrem Goncurrenzlampfe mit dem Auslande

42 Deutſche Rundſchau.

ſo lange ungünſtiger ſtellen müſſe, als nicht auch das Letztere ſeinen Arbeitern die gleiche ſtaatliche Hülfe gewähre und damit feiner Production die gleiche Be— laftung auferlege. Dieje Wendung, welche bis heute das Hauptargument bei der Befürwortung des internationalen Arbeiterfchußes geblieben ift und auch in dem Erlaß des Kaiſers wiederfehrt, bedarf einer eingehenderen Charakteriftik.

Mit dem gejeglichen Arbeiterihug will man vor Allem erreichen, daß in gewerblichen Etablifjement3 Kinder in einem allzu jugendlichen Alter (3. B- unter zwölf Jahren) überhaupt nicht zur Arbeit zugelaffen werben, und daß bie beichäftigten jungen Perjonen jowie die weiblichen Arbeitäkräfte nur eine gewiſſe beſchränkte Zahl von Stunden täglih (3. B. zehn Stunden höchſtens) und niemal3 während der Nachtzeit in Anspruch genommen werden. Man hat nämlich in allen Ländern die Erfahrung gemacht, daß, jo lange der Staat nicht intervenirt, Kinder und Frauen troß ihrer ſchwächeren Conftitution erbarmungs- los in ganz derſelben Weife wie die Männer zu anftrengender, harter und über: langer Arbeit herangezogen werben !).

'ı) Man ift neuerdings auch auf deutſchem Boden über die Heimfuchungen be3 Arbeiterftandes einigermaßen orientirt, feitdem eine Anzahl jüngerer Gelehrter in verichiedenen Induftriebezirten verläßliche und genaue Generalftabätarten der focialen Noth aufgenommen hat. Sie brauchten den Gapitaliamus und fein Verhalten gegen bie Proletarier nur einfach zu Schildern, um fi ala feine gefährlichften fyeinde zu erweifen. Hier müffen natürlich einige Daten zur allgemeinen Kennzeichnung genügen. Tas Mühlhaufener Gebiet galt noch bi3 vor Kurzem ala ein wahres Mufterland väterlicher Fürſorge der Fabrikanten für ihre Arbeiter, bis Heinrich Herfner in feinem gründlichen Werte über die obereljäjfiiche Baummwollinduftrie (1837) die Wahrheit an den Tag bradte. Danach fehte diefe Induftrie damals 49 000 Perfonen in Thätigkeit, unter ihnen 26.000 Grauen und 6700 Kinder; bie Kinder von 12—14 Jahren arbeiteten 10-11 Stunden pro Tag; alle anderen Kinder, fowie die Frauen und Männer mußten gleihmäßig täglich 12’. Stunden Ihaffen, ja bei flottem Geſchäftsgange noch länger, fo namentlid an ben Samftagen während der Winterfaifon 15/s—17’/. Stunden! (Bei allen Zahlenangaben über die Arbeitäzeit find bie Paufen nicht mitgerechnet.) In anderen Branchen, befonderd in ben landwirthichaftlichen Induftriezweigen (3. B. Zuder: und Stärlefabrifen, Ziegeleien und Mühlen) haben es die Arbeiter faft im ganzen Deutfchen Reihe laut ben amtlichen Mitteilungen ber Fabrikinſpectoren noch ſchlimmer. Hier wird im ehr vielen Fällen von einer regelmähigen täglichen effectiven Arbeitäzeit von 14—21 Stunden berichtet. Da kann es natürlich nicht Wunder nehmen, daß ein Fabrikinſpector ala Wirkung der harten Arbeit 3. B. bei den Ziegelftreichern conftatirt: „Im Frühjahr beginnen fie Eräftig, und im Herbft find fie wahre Schattengeftalten.“ In mandıen anderen Ländern, wie 3. B. in Italien, ift die Lage des Proletariat3 noch eine weit traurigere. Dort find nämlid wie Werner Sombart (in feinen „Lohnftatiftiichen Studien“, 1889) auf Grund amtlicher Erhebungen berichtet unter zehn Zertilarbeitern neun Frauen; von 1332000 in dieſer Induſtrie thätigen Erwachlenen find männlichen Geſchlechts nur: 136 000. Ebenfo erfreut fich dort auch die Kinderarbeit bei den Fabrikanten einer allgemeinen Beliebtheit: fo find in dem genannten Gewerbe 100000 Kinder unter 14 Jahren befgäftigt! In ben Schweiel: gruben Siciliend arbeiten gar 9000 Kinder neben 19600 Erwachjenen.

Die Mebelftände, welche fi als folge ber Kinder-, der übermäßigen Frauen» und ber allzu lang währenden Männerarbeit ergeben, laſſen fi kurz, wie folgt, zufammenfaflen. Die regel: mähige gewerbliche Arbeit des Kindes greift feine Gefundheit an; das Wachsthum und bie normale Entwidlung desfelben wird durch den Aufenthalt in dem mit jchlechter Luft angefüllten Arbeits: ftätten und durch die angeftrengte Thätigfeit, welche meift gewifle Glieder ausſchließlich in Anſpruch nimmt, geichädigt; ſchon frühzeitig nimmt das wenig widerftandsfähige Kind ben Keim von Gewerbefranfheiten im fich auf; die dem Kinde verfagte Ausbildung feiner geiftigen Fähigkeiten in Verbindung mit der eintönigen gewerblichen Beichäftigung bewirkt geiftige Werddung und

Der internationale Arbeiterichup. 43

Im nun joldden Zuftänden, deren lebte Conſequenz unfehlbar die Degenera- tion des Arbeiterjtandes fein muß, ein Ende zu machen, werden durch Geſetz Schranken für die Verwendung von Kindern, jungen Perjonen und Frauen zur induftriellen Arbeit gefeßt. Diejer Eingriff geht aber gegen das Intereſſe des Fabrikanten, da er ihn nöthigt, die theurere Arbeitskraft de8 Mannes zu be- nußen. Der Fabrikant hat alfo mehr Koften als früher, Wenn nun bloß ein Land fich zur Einführung der in Rede ftehenden Geſetze entichloß, während das Ausland nichts dergleichen that, jo hatte der ausländiſche Fabrikant bei feiner Production offenbar weniger Koften aufzuwenden. Letzterer hatte daher, unter ſonſt gleichen Umftänden, bei dem internationalen Concurrenzlampfe eine um jo feftere Pofition inne: er konnte, wenn aus irgend einem Grunde der Abſatz der MWaaren zum alten hohen Preiſe ins Stoden gerieth, leichter einen Preisnachlaß gewähren, als der durch den Arbeiterfhug mit außergewöhnlichen Koften be— laftete Anduftrielle.

Dies ift mithin die inhärente Schwierigkeit aller Arbeitsgejege, ſoweit fie nur bei einer Nation und nicht auch bei den anderen Eulturftaaten in Geltung treten. Freilich ſoll damit nicht gejagt jein, daß jedes bloß nationale Geſetz diefer Art ſchon deshalb ſchädlich wirken müßte und abzumeifen wäre. Denn wenn 3. B. ein Geſetz die gewerblide Ausnugung von Kindern unter zwölf Jahren verbot, dagegen die Arbeit von Perjonen über zwölf Jahren unein- geſchränkt geftattete, jo konnte dies Vorgehen nur eine ganz Eleine Erhöhung der Productionskoften zur Folge haben; eine jo geringe Belaftung vermochte aber num und nimmer die davon betroffene Induſtrie concurrenzunfähig zu machen. Doch jelbjt eine exrheblichere Belaftung kann von den Induſtriellen eines Landes ohne Schaden getragen werden, wenn jene nur durch Vortheile in den übrigen Pro: ductionsbedingungen dem Auslande gegenüber twieder wett gemacht wird (4. B. durch billigere Erlangung der Rohſtoffe oder durch befondere Tüchtigkeit der Arbeiter). Schließlich aber konnten die für den einheimiſchen Arbeiterftand ge— ichaffenen Woblthaten gegen etwaige Behinderungen der Induſtrie jo bedeutend ins Gewicht fallen, daß man troß alledem ſich Lieber für den bloß nationalen

Stumpffinn; enblidy wird durch das Zufammenfein mit den Erwachfenen während ber Arbeit und durch den Mangel bed Familienlebens die moraliiche Entwidlung der Kinder ſchwer geichädigt. Die übermäßige Arbeit der Frauen gereicht benjelben zum ganz befonderen Nachtheil, weil fie viel [hwädlidyer ala bie Männer find; das Zufammenarbeiten mit Männern führt zur Un: moral und Unfittlichleit: die Zodtgeburten nehmen jehr zu, und ebenjo wächſt die Säuglings: fterblichteit; die verheiratheten Arbeiterinnen können fi) wenig um ihre Familie und ihr Hausweſen fümmern; bie Folge ift Berwahrlofung der Kinder und Gefährdung des häuslichen Friedens und der Moralität des Mannes, deſſen Heim fo fehr vernadhläffigt ift. Endlich ein zu langer Arbeitätag des Mannes untergräbt feine Gefundheit, feine Lebens: und Arbeitskraft; fein Körper wird um jo empfänglicher für fpecifiiche Gewerbefrantheiten; fein Familienleben wird zerftört; fein ganzes Dafein wird im MWefentlichen auf Arbeit und den zur Erhaltung bes Daſeins gerabe nothwendigen Schlaf reducitt, während Alles, was den Zuftand des Menichen über den: jenigen eines thierifchen Vegetirens erhebt Gejfelligkeit, VBethätigung und freie? Spiel ber geiftigen Kräfte, Beſchäftigung mit den Angelegenheiten von Staat und Geſellſchaft, überhaupt Zheilnahme an entwidelter Cultur und Givilifation auf ein Minimum beſchränkt wird. (Bergl. die ausführliche Begründung. diefer Thefen in Georg Adler's „Frage des inter: nationalen Arbeiterſchutzes“. München, 1888.)

44 Deutihe Rundſchau.

Arbeiterſchutz entichied, ald daß man unthätig zuſah, wie der Arbeiterftand, hülf- los preiögegeben der Ausbeutung durch gewiſſenloſe Unternehmer, immer mehr der Entartung anheimfiel.

Die fociale Gejchichte des neunzehnten Jahrhunderts liefert für alle dieſe Behauptungen reihlih Belege. So hat 3. B. die deutſche Arbeiterverfiherung die Concurrenzfähigkeit der heimifchen Anduftrie auf dem Weltmarfte bis jeßt nicht beeinträchtigt. Und das leuchtet auch ohne Weiteres ein, jobald wir von der Statiftit darüber belehrt werden, daß 3. B. die Krankenverſicherung den Unternehmer für jeden von ihm beſchäftigten Arbeiter durchſchnittlich nur vier Mark jährlich koſtet. Laften diefer Art können natürlich höchſtens in gewiſſen jpecielen Fällen drüdend empfunden werden. Wenn indeß der weitere Aus— bau des deutjchen Arbeiterverficherungsiyftems verfucht, vor Allem wenn auch für die Arbeitälofen ausreichend geforgt werden ſoll, kann e3 fich vielleicht heraus— ftellen,, daß alle die Laften der verjchiedenen Arten der Arbeiterverfiherung zu = fammengenommen eine erhebliche Kürzung der gefhäftlichen Profite bewirken und daher thatjähli eine Schädigung der inländiichen Erportinduftrieen zur Folge haben.

Ein weitere Beiſpiel bietet England, das zuerft in der Culturwelt das Vorbild einer ausreichenden gejeßlichen Einſchränkung der Kinder- und Frauen— arbeit gegeben und doc) bis hinein in die Mitte der fiebziger Jahre Teinerlei Schädigung feiner Goncurrenzfähigkeit erfahren hat, troßdem lange Zeit fein Land mit auch nur entfernt vergleichbarer Energie den Weg der focialen Reform be- fchritten hatte. Die britijche Jnduftrie glich) eben die Erhöhung der Productiond- foften durch Kapitalreichthum, techniſche Entwicklung und Tüchtigleit ihrer Ar— beiter bei Weitem wieder aud. Neuerdings ift das freilich anders geworden. Das continentale Gewerbe hat ſich nah und nad die Vorzüge der britifchen Induſtrie größtentheil3 anzueignen gewußt und macht ihr nunmehr eine um jo empfindlichere Concurrenz, al3 dasjelbe in Folge einer mangelhaften Arbeits- gejeßgebung eine günftigere Pofition einnimmt. Wenngleih dies Rejultat durch eine umfafjende Enquöte amtlich feftgeftellt ift, wird man doch nicht an den engliſchen Gejegen zum Schutze der Arbeiterklaffe mäfeln dürfen: denn ihnen allein verdankt England, daß Millionen von Vroletariern ſich in befriedigen— den wirthſchaftlichen Verhältniſſen befinden.

In Belgien iſt die ſociale Situation genau die umgekehrte, wie in England: für den Arbeiterſtand iſt gar nichts gethan worden, und dadurch hat die In— duſtrie des Landes unzweifelhaft an Concurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkte ge— wonnen. Durch ſeine rückſichtsloſe Ausbeutung der Arbeitskräfte iſt Belgien in den Stand geſetzt, alle concurrirenden Nationen und, wie amtlich feſtgeſtellt iſt, nicht zum mindeſten auch die deutſche ſchwer zu ſchädigen. Aber die ſo— mit erreichte „Blüthe“ der belgiſchen Induſtrie iſt durch namenloſes, unbeſchreib— liches Elend der Arbeiterklaſſe, durch Ausſchluß derſelben von allen Segnungen der Cultur viel zu theuer erkauft worden. Mit Geſetzen, wie ſie in England zum Schutze der Arbeiterklaſſe eingeführt worden ſind, hätte ſicherlich die In— duſtrie Belgiens nicht eine ſolche Exportfähigkeit erlangt, aber die Lage des Haupt- theils der Arbeiterklaſſe wäre eine leidlich befriedigende geweſen, und die Letztere,

Der internationale Arbeiterichuß. 45

felber theilnehmend an den Gütern der modernen Givilifation, würde nicht, wie fie e3 jet thut, auf Mittel zu deren Vernichtung und Untergang finnen. Dur da3 Beifpiel Belgiend wird mithin nur eine neue Beftätigung des Sabe3 ge= liefert, daß der Arbeiterſchutz, ſelbſt bloß national durchgeführt, eine unab— mweisbare Nothwendigkeit ift, auch twenn er die Goncurrenzfähigkeit der nationalen Induſtrie behindert.

Alfo: die nationale Arbeiterfchußgefehgebung ift bis zu einer getoiffen Grenze möglid; und nothiwendig. Die Weite diefer Grenze wird aber mejentlich durch die Goncurrenzfähigkeit des betreffenden Landes auf dem Weltmarfte be- ftimmt. Wa3 lag mithin näher, als daß immer wieder von Neuem auf den internationalen Arbeiterfhuß hingewieſen wurde al3 auf das einzige Mittel, der Arbeiterflaffe nahdrüdlih und wirkſam zu helfen, weil dann dieſe befonderen Laften alle concurrirenden Anduftrieftaaten gleichmäßig trafen, und jo der status quo wieder hergeftellt war?

Noch nothwendiger ift eine internationale Ordnung, wenn es fih um ba3 Verbot gefundheitsgefährlider Fabrikationsmethoden, etwa ber Verivendung von Blei, Quedfilber, Phosphor und Arjenik handelt. Wenn durch den Gebrauch diejer giftigen Stoffe bei der Fabrikation das Product that- ſächlich vorzüglicher oder beliebter wird, jo ift im Falle eines bloß nationalen Verbots zu befürchten, daß das conjumirende Publitum zumal de3 Aus— landes die Artikel in der gewünjchten Form von der, feiner Beichräntung untertoorfenen fremden Induſtrie bezieht. So klagen 3. B. die deutſchen Fabrik: infpectoren, daß das Verbot der Verwendung de3 arjenikhaltigen Schweinfurter Grün zum Färben von Papieren nicht durchzuführen fei, weil die franzöfischen und engliſchen Abnehmer der Buntpapierfabritate den deutſchen Producenten mit Entziehung der Kundjchaft gedroht hätten, wenn ihnen nicht das grüne Papier der Beftellung gemäß geliefert würde.

Somit ijt es nicht bloß rückſichtsloſer Egoismus der Fabrikanten, wenn fie fih der weiteren Ausbildung der nationalen Schußgejfeße mit allen Mitteln widerſetzen, jondern fie fämpfen oft thatjählih nur um ihr Dafein. Und diefe Erkenntniß ift es, welche auch die nicht ummittelbar interejfirten Kreiſe der Nation, wie Beamte, Gelehrte u. U. m. die ein offenes Auge und Gerz für die Wohlfahrt ihrer Mitbürger haben, mit dem gejchädigten Fabrikanten gemeinfame Sache maden läßt, und deren vereinigte Oppofition dann an und für fi) wohl: thätige umd oft jogar nothwendige Schußgefege zu Falle bringt. Werden dieſe Beichränkungen der Yabrikation aber auf die Producenten aller Jnduftrieftaaten ausgedehnt, werden alfo dur internationale Gejeßgebung 3. B. die geſund— heit3gefährdenden TFabrifationsmethoden überhaupt aufgehoben oder nur in ganz beftimmter Modification zugelaffen, dann fallen die früheren gegentheiligen Argu— mente in fi) zufammen, und der Widerftand aller unintereffirten Elemente muß aufhören, weil er feine Berechtigung mehr hat: nur einige Fabrikanten mögen noch ein leiſes Alpdrücden bei dem Gedanken jpüren, daß die beabjichtigte ftaat- liche Intervention die industriellen Profite ſchmälern könnte.

So läßt ih Schritt für Schritt verfolgen, wie dem einzelnen Staate eine wahrhaft eriprießliche und nothmwendige weitere Ausbildung feiner Maß—

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nahmen zum Schuße der arbeitenden Klaſſen nicht bloß erſchwert, jondern oft geradezu unmöglich gemacht wird. a, noch mehr! Bei dem exrbitterten Bett: fampfe der AInduftrieen auf dem Weltmarkte, der jeden Staat zwingt, feinen Producenten alle nur möglichen Vortheile und Erleichterungen zu gewährleiften, wird nicht nur ein größerer Schub des Proletariats verhindert, jondern ſelbſt alles Da3, was bisher diefem allein ein menschliches Dafein noch ficherte, ge— fährdet.

In England find bekanntlich die Löhne einer, mehrere Millionen induftrieller Arbeiter umfafjenden Volksſchicht durch die Gewerkvereine und die (indirect) von der Arbeiterſchutzgeſetzgebung gewährte Unterftütung jehr hoch im Vergleiche zu den continentalen Berhältniffen. Wenn nun, wie ſicher anzunehmen ift, die gewerbliche Goncurrenz des Gontinent3 fi immer mehr fteigert, wenn von den mit billigen Arbeitstoften producirenden continentalen nduftriellen die Waaren zu niedrigen Preifen auf den Markt getvorfen werden, jo werden die englifchen Tabrifanten fi) vor die Wahl geftellt jehen: entweder ihre Production einzus ſchränken, unter Umftänden auch diefelbe ganz einzuftellen, oder aber die Arbeits- foften ebenfall3 herabzuſetzen. Da zur Erreichung des leßteren Ziele eine Ber: längerung der Arbeitäzeit (vor Allem mit Rückſicht auf die geltenden Geſetze) meift nicht ftatthaft jein wird, jo wird ald einziges anwendbares Mittel zur Erhaltung der englijden Anduftrieen die Herabſetzung der relativ hohen Löhne übrig bleiben; eine Nivellivung des zur Zeit jehr be- deutenden Interjchiedes im Lohne zwischen England einerjeit3, Deutjchland, Frankreich und Belgien andererjeitS wird unausbleibli fein. Eine traurige Perſpective, die leider nicht ein theoretifches Phantom ift, jondern al3 untvider- legliches Refultat aus den engliſchen „Reports of the Royal Commission appointed to inquire into the Depression of Trade and Industry®* (1885—1887) fich er- gibt wie auch der jüngft verftorbene Naſſe in feiner gründlichen Abhand- lung über diefe Engquöte conftatirt hat. Ja, Nafje meint jogar mit Recht, diefer Proceß der Kürzung der Löhne habe in England bereit3 begonnen.

Nun, das einzige Mittel, um ſolchen traurigen Conjequenzen vorzubeugen, ift: der internationale Arbeiterſchutz. Indem dadurch auch auf dem Gontinent direct eine Verkürzung der Arbeitäzeit und indirect eine Erhöhung des Lohnes bewirkt und jomit eine Vergrößerung der Arbeitskoften der Production herbei: geführt wird, kann die continentale Anduftrie nit mehr bloß wegen der ſchlechteren Griftenz ihrer Arbeiter eine rapide Entwicklung nehmen und bie englijche Induſtrie von ihren bisherigen Abjagmärkten verdrängen. Dann aber wird die lehtere fich behaupten können, ohne zu dem beffagenswerthen Mittel der Herabdrüdung des Lohnes greifen zu müſſen. So, und nur jo, kann verhindert werden, daß die Koncurrenz mit Hungerlöhnen und mit Nacdhtarbeit producitt, und daß dasjenige Land fiegt, welches es Hierin am weiteſten gebradjt hat.

Uber alle jene traurigen Urſachen, welche den Niedergang der englifchen Löhne herbeiführen müffen, treffen ebenjo qut die Erportinduftrie jedes anderen Landes, welche einen erheblich höheren Lohn zahlt als anderswo, wo längere Arbeitszeit oder rückichtälofere Erploitation der Kinder: und Frauenarbeit üblich it. Auch hier kann einmal der Augenblic eintreten, wo die Jnduftriellen durch

Der internationale Arbeiterſchutz. 47

die mit billigeren Arbeitsfoften arbeitende Concurrenz jo jehr in ihrem Gewinn beeinträchtigt werden, daß fie fid für einen Theil des Verluftes durch Verkürzung der Löhne ſchadlos zu halten ſuchen. So kann es recht wohl noch einmal dahin tommen, daß der Kohn des deutſchen Arbeiter auf das niedrige Maß des Lohnes eines Italieners oder ſchließlich gar eines Kuli finft. Mit Recht gab daher auch vor der erwähnten königlichen Commiſſion ein al3 Zeuge vernommener Baumwoll— fabrifant aus Lancajhire fein Gutachten dahin ab: „Die frage entjteht, wird der britiiche Arbeiter durch die Goncurrenz auf das Niveau des continentalen Arbeiter herumtergebradht werden und dann allmälig auch auf das des aſiatiſchen?“

Eine internationale Regelung der fragliden Materie wird aber nicht bloß folche, Jedermann in die Augen jpringenden Vortheile ergeben, fondern ihr Segen wird ein noch viel veicherer jein. Denn dadurd; wäre ferner wonach man bisher jo lange vergebli gejtrebt ein fefter Damm gefchaffen, an welchem fih die verheerende Sturmfluth der Krijen zwar nicht bredyen, aber doch er- heblich abftumpfen würde,

Iſt internationales Arbeitsrecht da, jo kann der Fabrikant über feine Arbeiter nicht mehr in unbeichränttem Umfange disponiren, jondern diejes hindert ihn jest, in den Zeiten der jogenannten „auffteigenden” oder günftigen Conjuncturen feine Production nad Belieben zu erweitern und Waarenmafjfen über Waaren- mafjen auf den Weltmarkt zu werfen. Daher würde die durch die meiften günftigen Gonjuncturen eintretende leberproduction jehr in Schranken gehalten werden. Die Folge hiervon müßte aber fein, daß auch der nothmwendige Rück— ichlag , die Krije, um jo viel gelinder auftrete, al3 es jonft der Fall geweſen wäre. Denn wenn in Folge des Arbeiterfhußes die producirten Waarenquantitäten nicht jo bedeutend anwachſen können wie früher, jo find aud) die in einem ge— gebenen Augenblide auf dem Markt befindlichen Waarenmengen deren Vor: bandenfein bei nachlaſſender Nachfrage den Preis jo jehr drüdt minder be— deutend. Bedenft man mun, welche furchtbaren Wunden die Abjabkrifen der Volkswirthſchaft Ichlagen, jo wird man gerade die eben beſprochene Wirkung der internationalen Arbeitsgejeggebung als eine höchſt jegensreiche bezeichnen und zwar fegensreich auch ganz jpeciell vom Standpunkte der Unternehmerclaffe aus, welche von den Kriſen ebenjo ſchwer betroffen wird oder oft noch jchwerer ala ihre Arbeiter. Alſo auch das ſpecifiſche Fabrikantenintereſſe und nicht bloß da3 humane Mitgefühl mit den Leiden von Millionen armer Menſchenweſen und die jociale Gerechtigkeit fprechen laut und eindringlich für das hier vertretene Poftulat.

Nur mit einem Worte braucht ferner an das hohe politiſche Anterefje erinnert zu werden, da3 fi an die Erfüllung der alten und berechtigten Arbeiter: forderungen durch eine von der ganzen Culturwelt acceptirte Gejehgebung knüpfen müßte. Die Proletarier, joweit fie objectiver Erwägung zugänglid und noch nicht von blindem Haffe gegen alles Beftehende erfüllt find, werden fich über: zeugen laſſen, daß auch auf dem Boden der heutigen Eigenthumsordnung ihr Scidjal verbeffert umd ihnen eine Zukunft gefichert werden kann, welche de3 Dajeins Mühſal lohnt und ihnen die Freuden verschafft, auf welche alle Menjchen ein Recht Haben. Und e3 wäre nicht unmöglich, daß hierdurch der Anlaß ge-

48 Deutiche Rundſchau.

geben würde, daß die bis jeßt immer noch weſentlich revolutionär und ertrem gearteten continentalen Arbeiterparteien ſich principiel und tactiſch zu maß— vollerem Verhalten bequemten und ihren Beftrebungen die Form einer verfafjungs- mäßigen Agitation verliehen; wie ja thatjählih in England, unter dem Regime der Arbeiterfchußgejege, der völlige Niedergang des revolutionär: focialiftifchen „Chartismus“ und die Herausbildung einer großartigen jocial= reformatorifchen Arbeiterbewegung erfolgt ift. II.

Die Erkenntniß der jegensreichen Folgen des internationalen Arbeiterſchutzes führte den Verfaſſer des vorliegenden Aufjages jchon Anfang 1888 zu dem Schluſſe: daß dieſes Poftulat „bei fortjchreitendem Entwidlungsgange der capi- taliſtiſchen Volkswirthſchaft fi von jelbft zur Realifirung aufdrängen müffe“. Unſere ſocialwiſſenſchaftliche Anſchauungsweiſe mußte diejes Reſultat als noth— wendig erſcheinen laſſen. Denn die ſtaatlich nicht reglementirte, capitaliſtiſche Productionsweiſe hat die Tendenz, den Proletarier in eine möglichſt ſchlechte und daher unhaltbare Lage zu verjeßen. Und bier ergibt fi) dann die Alter- native: entweder, befolgt der Staat nad) wie vor in der ſocialen Praxis das unjelige Princip des laisser faire, wirklich und wahrhaftig der Verfall der mo— dernen Gultur; oder aber, der Staat entwidelt eine entjchieden zugreifende fociale Reformthätigkeit, welche den internationalen Arbeiterſchutz einjchließt, dann jegensreicher Fyortichritt der Menfchheit zu immer höherer Cultur und Givilifation, Es ift nicht theoretifcher Uebereifer, der dieje Alternative erfindet, jondern es ift der fociale Naturproceß jelber, welcher feft und beftimmt die Menjchheit zwingt, auf die eine oder andere Werje ihren Weg zu nehmen. Darum ift internationaler Schub des Arbeiterftandes nicht bloß wünſchens- und erftrebenswerth, ſondern er ergibt fich geradezu al3 unabweisbar nothivendige Conſequenz. Und deshalb muß er ji früher oder ſpäter Allen, die in der capitaliftifchen Volkswirthſchaft leiden, Allen, die mit diefen leidenden Glafien Sympathie empfinden, Allen, die unabhängig objectiver Forſchung obliegen, al3 Poftulat aufdrängen, an defjen Realifirung mit Aufbietung aller Kräfte gearbeitet werden muß. „Daraus aljo“ bemerkte der Berfafjer bereit3 damald „ſchöpfen wir die fefte Zuverficht, daß dieſer Gedanke in der joctalen Geſchichte der Menſchheit obfiegen wird; er wird fiegen, weil er fiegen muß”’).

Die vielen, ſchwerwiegenden Gründe, welche für das Postulat ſprechen, Haben e3 auch bewirkt, daß jeit einigen Jahren eine literariihde Bewegung zu feinen Gunften entjtanden ift, daß ein Arbeitercongreß nach dem anderen für dasjelbe votirt hat, daß eine illuftre Verfammlung wie der „internationale Congreß für Hygiene und Demographie” entjchieden dafür eingetreten ift, ja daß ſchließlich die ſchweizeriſche Regierung die ſchon 1881 die verfchiedenen Staaten vergeblich für dieje Frage zu intereffiren verjucht hatte neuerdings die europäijchen Re— gierungen zur Betheiligung an einer internationalen Gonferenz in Sachen bes Arbeiterihußes eingeladen hat.

Die dee hat das jeltene Glüd gehabt, Perfonen und Parteien für ſich zu gewinnen, die jonft jehr wenig miteinander gemein haben. Die Arbeiterparteien

1, Georg Adler, „Die Frage des internationalen Arbeiterſchutzes“ (1888), ©. 97 ff.

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aller Nationen, die Ehriftlih-Socialen evangelifcher und Fatholijcher Richtung in den verjchiedenen Ländern, die Glericalen in Deutichland, Frankreich, Defterreich und der Schweiz, die Demokraten in den Ländern deutfcher Zunge, die Führer unſerer liberalen Fractionen (Miguel, Dechelhäufer, Barth u, A.), ja viele Ver— bände von Unternehmern find dem Gedanken warm zugethan?), Auch bie deutjche Gelehrtenmwelt der gegenwärtig in der Nationalöfonomie die führende Rolle zugefallen ift faft ganz gewonnen: Adolf Wagner und Gujtav Schönberg haben ſchon 1871, als fie durch ihre Brochüren über die „jociale Frage“ reſp. die „Arbeitsänter” die „Latheder-jocialiftiiche" Aera einläuteten, energiih für internationale Vereinbarungen plädirt; ſeitdem haben fich nach— einander L. v. Stein, W. Leris, F. J. Neumann, NR. Friedberg, %. Kleinwädter, A.v. Miaskowski, J. Wolf u. A. öffentlich zu jener Idee befannt; ja, ſchließlich hat jelbit ein jo vorfichtiger Gelehrter wie Roſcher, der angefehenfte aller lebenden Nationalöfonomen, ſich im Anfchluffe an die Beſprechung meiner Monographie über diejes Thema unumwunden dafür ausgeſprochen?).

Der jo mächtig fortichreitenden Berwegung zu Gunften des internationalen Arbeiterſchutzes konnten auch die Regierungen fich nicht mehr entziehen, und ſchließlich haben felbft der deutjche Kaifer und der Papft ihre Autorität zu feinen Gunften in die Wagjchale geworfen.

Immerhin darf nicht verhehlt werden, daß auch Bedenken von fachmänniſcher Seite geltend gemacht worden find. Ich führe die Anfiht Paul Leroy— Beaulieu’3 an, des berühmteften franzöfiichen Nationalöfonomen.

‚Für die Theſe des Dr. Adler (betr. die internationale Arbeitsgefeßgebung) bemerft Leroys Beaulieu in ber „Revue des deux mondes“ find die praftifchen Schwierigfeiten ala un- überwindlich anzufehen. Die Urtheile über dieſen Gegenftanb tragen feine Rechnung dem Unter: ichiede von Kraft und von Frühreife ber menjchlichen Weſen in ben verjchiebenen Ländern und unter den verſchiedenen Klimaten. Der junge Hindu in einer Spinnerei in Bombay, ber an feinem Zeppichwebftuhl von Morgen bis Abend geduldig figende junge Perfer, ber in ber Seiden— oder Baumwollipinnerei verwandte jugendliche italienifche Arbeiter, ber gründliche, etwas ſchwer⸗ fällige Anabe in Rouen, ber feurige Kleine Yankee mit feiner ruhelofen, immer gefpannten Auf: merkjamfeit, ber junge, in harter Arbeit aufgewachjene Engländer, alle biefe Menichenarten und

!) Manche Arbeitgeber machen bad Verlangen nad) internationalen Berträgen offenbar nur geltend, um bie unbequeme Angelegenheit bes Arbeiterichubes wenn möglich ad calendas graecas zu vertagen, wie dies Kleinwächter für Defterreih, Bücher für Deutichland und Herkner für Belgien conftatirt haben. Ganz befonders verdächtig bemerft Herkner mit Recht in feiner intereffanten Studie über die belgiiche Arbeiterenguöte müfle es erfcheinen, daß bie Schwärmerei für „internationale“ Fabrifgefeßgebung gerade unter den FFabritanten Belgiens, bes einzigen induftriell entwidelten Landes ohne Arbeiterfchuß, jo verbreitet fei, da man ja bort zur Zeit nicht einmal beabfichtige, fo viel zu ihun, als in den großen concurrirenden Nacbars reichen bereits gefchehen fei. Immerhin darf nicht überfehen werden, daß jenes Poftulat auch gerabe in Belgien von ben fiherlicy unintereffirten Gelehrten jehr warm empfohlen wird, fo früher von Ducpetiaur und neuerdings von Laveleye (in der Brüſſeler „Bazette“), von Denis (vor ber focialen Enquötecommiffion und in der Brüffeler „Reforme*), von Mahaim (in einer jpeciellen Abhandlung in ber „Revue d’&conomie politique‘, 1888) und von bem uns ermüdlichen Boghaert-Vaché in verfchiedenen Brochüren und zahllojen Journalartikeln.

) Ausführlich ift die Gefchichte der Idee dargeftellt in ©. Adler’3 „Frage bes inter nationalen Arbeiterſchutzes“, S. 65—97. Vergl. au Karl Bücher’s werthvolle Abhandlung „Zur Geſchichte der internationalen Fabrilgeſetzgebung“ (1888).

Deutihe Rundihau. XVI, 7. 4

90 Deutiche Rundſchau.

noch taufend andere neben ihnen, können unmöglich einer gemeinfamen Arbeitsmaßnahme unter: mworfen werden.“

Herr Profeffor Leroy-Beaulieu vergißt nur, daß es fi nicht um eine genau gleihlautende Arbeitägejeßgebung für die verjchiedenen Nationen handelt, fondern nur um ein gleichmäßige Minimum.

„Wo foll ferner fährt Leroy-Beaulieu fort die Controle in einer fo verwidelten und jo jchweren Materie fein? Wer fteht dafür ein, daß die von jedem Lande übernommenen Verpflichtungen gehalten werden? Sind internationale Gontroleure möglih? Welche Staats: gewalt würde eine foldhe Kürzung ihrer Unabhängigkeit, welche bis in ihr innerftes Tagesleben eingriffe, annehmen? Gejeßt den Fall, ben wir für unmöglich halten, dieſe gemeinfame Gejeh: gebung käme wirklich zu Stande, fo könnte fie bo) nur ein Trug fein.“

Das ift der einzige Einwand von Bedeutung, der gegen die dee erhoben werden kann. Denn e3 jcheint allerdings unzweifelhaft, daß die gleichen Arbeits— gefeße in verichiedenen Ländern zunächft in verfchiedener Weiſe befolgt werden würden; ſelbſt wenn man was höchſt wünſchenswerth vorjchreibt, daß die Fabrikinſpectoren aller Staaten von Zeit zu Zeit Congreſſe abhalten, um fich über die Anwendung (und etwaige Fortbildung) diejer Geſetze zu berathen und zu ver: ftändigen, Ein Land, in dem ein tüchtiges Fabrikaufſichts- und Beamtenperjonal vorhanden ift und das fociale Gewiſſen lauter jchlägt, wird dem Guerillafriege eines einfeitigen capitaliftiichen Intereſſes gegen die fraglichen Geſetze recht bald zu Gunften der lebteren ein Ende machen. Aber bei andern Nationen, deren Beamtenthum nicht jo energiſch und zuverläffig ift, würde der Widerftand egoifti- icher Fabrikanten nicht jo leicht gebrochen twerden, und e3 könnte ſich möglicher weije ein Zuftand herausbilden, der durch ſtillſchweigende obrigkeitlihe Duldung regelmäßiger Uebertretungen jener Gejege von Seiten der Intereſſenten charakteri— firt wäre, in welchem Falle aljo hier nur eine Socialreform nad) dem Mufter Potemkin's geleiftet worden wäre.

Indeß folgt hieraus noch lange nicht, daß dann der Arbeiterfhuß in einigen Ländern auch auf die Dauer unausgeführt bleiben müßte. Denn es gibt ein Mittel, dem entgegen zu treten, das ift: in allen Ländern die Öffentliche Meinung über den wahren Stand der Sache zu unterrichten und über die nothiwendigen Folgen aufzuklären. Zu diefem Zweck hat man nur nöthig, eine internationale Commiſſion einzujeßen, welche das Recht hat, directe Mittheilungen über die Handhabung der Geſetze von Betheiligten (Ynduftriellen und Arbeitern) und Un— betheiligten entgegenzunehmen und diefe Mittheilungen in ihre amtliden Publi— cationen aufzunehmen; ferner die etwa betheiligten auffichtführenden Behörden zur Berichterftattung über die betreffenden Fälle aufzufordern und darüber da3 Urtheil zu publiciren. Inwieweit dann die Regierung de3 in Betracht fommenden Landes ſich diefem Gutachten anjchließt und fich daher zu einem Einſchreiten veranlaßt fieht, da3 kann man getroft als Sache des be: treffenden Staates anjehen. Denn auf die Dauer muß dies Mittel gerade im vorliegenden Falle unmiderftehli wirken, wo es ſich um ein von der ganzen Gulturwelt ala höchſt fegensreich anerkanntes Werk von eminent civilifatorischer Tragweite handelt. Regelmäßig wird jede einzelne Regierung und vor Allem die Öffentliche Mleinung jedes Landes erfahren, wie e8 um die wirkliche An wendung der internationalen Gefeße fteht; die Behörden werden wiſſen, daß etwaige Unterlaffungsfünden dem Urtheile oder richtiger der Verurtheilung von

Der internationale Arbeiterſchutz. 5

Seiten der öffentliden Meinung unterliegen, und fie werden in Folge deffen im Laufe der Zeit achtſam und unnachſichtlich werden, wenn fie es nicht jchon von vornherein find. Dann aber wird fi auch an die Fyeititellungen jener Central» commiſſion unzweifelhaft eine reiche internationale Literatur Enüpfen, welche mit der Fackel der rüdjichtslofen Wahrheitsliebe die Thatſachen auf dem Gebiete de3 Arbeiterſchutzes beleuchten wird.

Auf diefe Weiſe wird eine internationale öffentliche Meinung entftehen, eine Meinung zunächft der intereffirten Klaſſen, dann der nicht direct intereffirten Kreiſe, der Parteien, der Beamten, der wiſſenſchaftlichen Welt, und bieje öftentlide Meinung wird es fein, twelche die Regierungen antreiben wird, ent» ichieden fortzufahren auf der einmal betretenen Bahn. Gewiſſe VBerichiedenheiten in der Handhabung der Gejeße werden ja nad) wie vor beftehen bleiben: aber fo lange fie fih in mäßigen Grenzen halten, hat das nicht viel zu bedeuten. Werden doch Heutzutage jelbft die bloß nationalen Arbeitsgefege in ver- fchiedenen Theilen desjelben Landes auch nicht gleihmäßig angewvendet, ohne daß biäher Jemand darin ein Argument gegen die Nütlichkeit dieſer Geſetze hätte erbliden wollen.

Daß troß alledem Schwierigkeiten der mannigfadhften Art fich ergeben, daß vielfache Hinderniffe fi aufthürmen werden, daß die Durchführung der inter- nationalen Gejege in diefem oder jenem Lande zunächft noch mancherlei wird zu wünſchen übrig laflen, ijt zweifellos. Aber wie der Schulzwang tro Allem, was fi ihm entgegengeftellt hat, heute allgemein ala eine ſegensreiche Inſtitution anerkannt ift, jo wird auch in jpäteren Zeiten die internationale Arbeiterſchutz— Geſetzgebung, troß aller Mängel in der Durchführung, gerühmt werden al3 ein Werk von gewaltiger Tragweite, ala ein Werk, das die Degeneration der Arbeiter: bevölferung verhindert und die Volkskraft geftärkt hat.

So jehr wir nun aud) die gewaltige Bedeutung der internationalen Arbeitsgefeßgebung für die Gegenwart und alle Zukunft haben hervorheben müſſen, jo jehr muß auf der anderen Seite davor gewarnt werden, die na= tionalen Gejeße in allzugroße Abhängigkeit von internationalen Verträgen zu ſetzen. Letztere jollen immer nur ein Minimum für alle Culturſtaaten ver: bürgen. Niemals aber darf eine durch den Einzelftaat wohl ausführbare Reform zu Gunften des Proletariat3 aus Rückſicht auf die internationale Schußgefeh: gebung vereitelt werden. Die Parole ift vielmehr: möglichſt viel Arbeiterfchuß auf nationaler oder internationaler Bafi3! Gedanken, die ganz vornehmlid) von Miguel energiſch und mit Recht betont worden find.

Wird auf diefe Werfe vorgegangen, und hat die fühne Jnitiative des deutjchen Kaiferd den verdienten und gebührenden Erfolg, jo wird e3 unzweifelhaft im Laufe der Zeit gelingen, die Sphinx der focialen Frage in den Abgrund zu ftürzen und die ſchweren Gebreften der modernen Gejellihaft zu heilen. Zwar wird alle wirthichaftliche Unzufriedenheit nicht verſchwinden: aber fie wird dem Schaume des Meeres nur gleichen, der von Tag zu Tag verrinnt, und nicht feinen gewwaltigen Wogen. Eine neue Epoche wird eingeleitet werden, eine Epoche der friedlichen Reformarbeit und der Ausföhnung der focialen Klaſſen unter der Aegide und nad) der Norm des ftrahlenden Suum euique.

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Kriftokratifher Radicalismus.

Eine Abhandlung über Friedrih Niektzſche. Don

Georg Brandes.

In der Literatur des gegenwärtigen Deutichlands ſcheint Friedrich Niekiche mir einer der intereffanteften Schriftfteller zu jein. Obgleich jelbft in feinem Paterlande wenig gekannt, ift er ein Geift von bedeutendem Rang, der es vollauf verdient, daß man ihn ftudirt, erörtert, befämpft und ſich aneignet. Unter anderen quten Eigenjchaften befitt er die, Stimmung mitzutheilen und Gedanken in Bewegung zu jeßen.

Während achtzehn Jahren bat Nieiche eine lange Reihe Bücher und Hefte geichrieben. Die meiften diefer Bände beftehen aus Aphorismen, und die meiften und neueften diefer Sprüche beihäftigen fi) mit den moraliſchen Vorurtheilen. Seine bleibende Bedeutung liegt auf diefem Gebiete. Im Uebrigen aber Bat er die verichiedenartigften Fragen behandelt und über Cultur und Geſchichte, Kunft und Frauen, gejelliges und einfames Leben, Staat und Geſellſchaft, Lebenstampf und Tod gejchrieben.

Er wurde am 15. October 1844 auf dem Schlachtfeld von Lützen geboren. Der erfte fremde Name, den er al3 Kind hörte, war der Name Guftav Abdolf's, Seine Vorfahren waren polnische Edelleute (Niezky), und es ſcheint, ala hätte fih der polnische Typus an diefem ihrem Nachkommen erhalten troß dreier Generationen deuticher Mütter; denn im Auslande ift ex oft für einen Polen angejehen worden. Seine Großmutter gehörte dem Goethe'ſchen Kreiſe in Meimar an.

Er hatte ald Kind das Glüd, in eine vortreffliche Schule gegeben zu erben das Inſtitut Schulpforta in Preußen, aus dem mehrere ausgezeichnete Männer der deutſchen Literatur (Klopſtock, J. E. Schlegel, Fichte, Ranke u. f. w.) hervor gegangen find. Die Lehrer an diefer Schule hätten nad) Nietzſche's Zeugniß jeder Univerfität Ehre gemacht. Er ftudirte zuerft in Bonn, dann in Leipzig, wo der alte Ritihl, damals der erfte Philologe Deutſchland's, ihn früh auszeichnete. feinem 22. Jahre an war er Mitarbeiter des „Literariichen Gentralblatts“.

indete den philologischen Verein in Leipzig, der noch befteht.

Ariftofratiicher Radicalismus. 53

Im Jahre 1868 bot die Univerfität Bafel ihm eine Profeffur der Philologie an. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt und noch nicht Doctor. Später gab die Univerfität Leipzig ihm den Doctorgrad ohne vorhergehende Disputation. Er unterbrach feine Lehrthätigkeit, um am franzöfifch-deutichen Kriege theil- zunehmen. |

Bon 1869 bi3 1879 war Niebiche Profeffor in Baſel. Er wurde indeſſen gezwungen, feine deutſche Nationalität aufzugeben, da ex als Offizier (in der reitenden Artillerie) zu oft einberufen und dadurch in feiner afademifchen Arbeit geftört wurde. „ch verftehe mich,” jchrieb er eines Tages in einem Privat: briefe, „auf zweierlei Waffen, Säbel und Kanone, und vielleicht noch auf eine dritte .... Es ging Nietzſche ſehr gut in Baſel, trotz feiner Jugend, die es mit ſich brachte, daß die Examinanden oft älter waren als der Examinator. Unter den hervorragenden Perjönlichkeiten, mit denen ex in Verbindung fam, war der aus— gezeichnete Gulturhiftorifer der Renaiffance Jakob Burkhardt und Richard Wagner, der mit jeiner Gattin Gofima damals in einem Landhaufe bei Luzern wohnte, nachdem er die Brücke mit feinem ganzen früheren Umgangskreis abgebrochen hatte. Für Burkhardt hat Nietzſche's Bewunderung und GErgebenheit ſich er- Halten. In feiner Stimmung Wagner gegenüber ift dagegen im Laufe ber Jahre ein vollftändiger Umfchlag eingetreten, Nachdem ev Wagner's Verkündiger ges weſen, enttwidelte ex ſich zu feinem leidenſchaftlichſten Bekämpfer. Nietzſche war immer mit Leib und Seele Mufiter; er Hat fich jogar in feinem Hymnus an das Leben (ein Chorwerf mit Orxchefter 1888) als Gomponift verfucht, und der Verkehr mit Wagner hat tiefe Spuren in feinen früheften Schriften hinter— lafjen. Aber die Oper Parjifal mit ihrer Fatholifirenden Tendenz und ihrer Ver— herrlichung der asketiſchen Ideale, die Wagner früher am allerfernten gelegen, ließ Nietiche in dem großen Componiften eine Gefahr, einen Feind, ein Krankheits- phänomen erbliden, indem jenes lebte Werk in feinen Augen über alle die früheren Opern ein neues Licht warf.

Während ſeines Schweizer Aufenthalts lernte Nietzſche einen Flor intereffan: ter Menjchen kennen, „viel und mancherlei von dem Beften, was zwiſchen Paris und St. Petersburg wächſt“.

Im Jahre 1876 fing es an, mit feiner Gejundheit rückwärts zu gehen. Er fuchte vergebens Linderung in einem Winteraufenthalt in Sorrent. Ein äußerft ſchmerzhaftes Kopfleiden, jo beharrlih, daß e3 ihm ungefähr Hundert Tage des Jahres raubte, marterte ihn während der nächften ſechs Jahre und brachte ihn an den Rand des Grabes; 1879 gab er feine Brofeffur auf. Won 1882 bis 1888 befjerte fich fein Gejundheitäzuftand ftetig, wenn auch äußerft langſam. Seine Augen waren ſo ſchwach, daß er ftet3 mit Blindheit bedroht war. Er war zur äußerften VBorficht in feiner Lebensweiſe und in der Wahl feines Aufenthaltsortes gezwungen. Meiftend brachte er die Winter in Nizza, die Sommer in Sils- Maria im Dber- Engadin zu. In den Jahren 1887 und 1888 war feine Productivität erjftaunlid. In ihnen wurden Hervorragende Arbeiten von jehr verjchiedener Art herausgegeben und eine ganze Reihe neuer Werke vor— bereitet. Dann erfolgte, gegen Schluß dieſes Jahres, vielleiht als Folge

54 Deutſche Rundichau.

von Weberanftrengung, ein heftiger Krankheitsanfall, von dem Nietzſche noch nicht genejen ift.

Als Denker ift er von Schopenhauer ausgegangen; er ift in jeinen exften Schriften geradezu fein Schüler. Aber da er nach mehrjährigem Schtweigen, während deffen ex feine exfte geiftige Krife durchlebt, wieder auftritt, iſt er von jedem Schülerverhältnif befreit. Er madt nun eine jo ftarfe und raſche Ent- widlung durch weniger im Gedantenleben jelbit, als im Muth, feine Gedanken auszuſprechen daß Schrift auf Schrift ein neues Stadium bezeichnet, bis er nad) und nad) fich auf eine einzige Grundfrage concentrirt, der Frage nad) den moraliihen Werthen. Er hatte jchon in feinen erften Anfängen al3 Denker und Shhriftfteller David Strauß gegenüber twider jede moraliiche Ausdeutung vom Weſen des Alls proteftirt und unſerer Moral ihren Pla in der Welt der Erſcheinungen angewieſen, „bald als Schein und Frehlariff, bald al3 Zurechtlegung und Kunft“. Und jeine literariſche Thätigkeit hat bisher ihre Höhe in einer Unterfuhung vom Entftehen der Moralbegriffe erreicht, wie es jeine Hoffnung und Abjicht war, eine durchgeführte Kritik der moraliichen Werthe, eine Unterfuchung des Werths diefer (al3 gegeben betrachteten) Werthe zu liefern. Das erfte Buch feines Werkes „Umwerthung aller Werthe“ war fertig, al3 ex frank wurde?).

J.

Nietzſche wurde zum erſten Male oft genannt, wenn auch nicht viel gerühmt, wegen einer biſſigen, jugendlichen Streitſchrift gegen David Strauß, von deſſen Buch „Der alte und der neue Glaube“ hervorgerufen. Nicht gegen den erſten kriegeriſchen Abſchnitt des Werks, ſondern gegen den ergänzenden, aufbauenden Theil desſelben iſt hier ein in ſeinem Tone pietätloſer Angriff gerichtet. Dieſer Angriff galt jedoch weniger der letzten Kraftanſtrengung des einſt ſo großen Kritikers als jener Mittelmäßigkeit, für welche dieſes ſein letztes Wort als das letzte Wort der Bildung überhaupt daftand.

63 war anderthalb Jahre nad) dem Abſchluß des deutjch-Franzöfiichen Krieges. Der ſtürmiſche Siegesjubel war noch nicht verftummt. Niemal® waren die MWogen des deutichen Selbftgefühld jo hoch gegangen. Nach ber allgemeinen Auf: faffung in Deutjchland und den mit Deutichland befreundeten Ländern waren es nicht die deutjchen Heere allein, welche die franzöfiichen gejchlagen hatten, fondern die deutiche Cultur habe die franzöfifche bejtegt. Da erhob fich dieje Stimme und jagte:

Geſetzt hier Hätten wirklich zwei Gulturen mit einander getämpft, jo wäre das noch fein Grund, die fiegende Cultur zu bekränzen; man müßte erft wiſſen, was die unterliegende werth war; ift ihr Werth ſehr gering gewwejen und das jagt man ja von der franzöfiichen jo war die Ehre nicht groß. Aber es

) Nietzſche's Schriften find folgende: Unzeitgemäße Betrachtungen, I-IV. Die Geburt ber Tragddie, oder Griehenthum und Pelfimiamus. Menfchliches, Allzumenjchlicher, I und I. Morgenröthe, Gedanken über die moralifchen Vorurteile Die fröhliche Wifjenihaft (Ta gaya scienza). Jenſeits don Gut und Böſe. Zur Genealogie der Moral. Alſo ſprach Zara: thuſtra, I—IV. Der Fall Wagner, ein Mufilantenproblem. Gökendämmerung, ober wie man mit dem Hammer philofophirt.

Ariſtokratiſcher Radicalismus. 55

kann in dieſem Fall überhaupt nicht die Rede von einem Sieg der deutſchen Cultur ſein, theils weil die franzöſiſche noch beſteht, theils weil die Teutſchen jetzt wie früher noch von ihr abhängig ſind. Es war Kriegszucht, natürliche Tapferkeit, Ausdauer, die Ueberlegenheit der Führer, der Gehorſam der Geführten, „kurz Elemente, die nichts mit der Cultur zu thun haben“, was Deutſchland zum Sieg verhalf. Und ſchließlich hat die deutſche Cultur beſonders aus dem guten Grunde nicht geſiegt, weil in Deutſchland der reine Begriff von Cultur verloren gegangen iſt.

Es war erſt ein Jahr her, daß Nietzſche ſelbſt die größten Erwartungen an die Zukunft Deutichlands geknüpft, auf deſſen nahe bevorjtehende Befreiung vom Gängelband der romanijchen Givilifation gehofft und die günftigften Weis» fagungen aus der deutichen Mufit herausgehört hatte!). Der geiftige Verfall, der ihm von der Aufrichtung des Reichs unzweifelhaft zu beginnen ſchien, ver— anlaßte ihn jeßt, der herrſchenden Volksſtimmung mit vüdfichtslofem Trotz zu begegnen.

Er behauptet, daß Cultur fich zuerft und vor Allem als künſtleriſche Stil- einheit durch alle Lebensäußerungen eines Volkes offenbare. Viel gelernt zu haben und viel zu wiſſen dagegen, ift, wie er zeigt, weder ein nothiwendiges Mittel zur Cultur nod ein Zeichen von Gultur; beides kann vortrefflih mit Barbarei zu— fammengeben , das heißt mit Stillojigfeit, oder mit einem bunten Miſchmaſch von Stilarten. Und feine einfache Behauptung ift: mit einer Cultur, die aus Miſchmaſch befteht, kann man feinen Feind beziwingen, am wenigften einen Feind wie die Franzoſen, die lange eine wirkliche, fruchtbare Cultur beſeſſen, man lege ihr num größeren oder geringeren Werth bei.

Er beruft fi) auf ein Wort Goethe'3 an Edermann: „Wir Deutjchen find von geftern. Wir haben zwar jeit einem Jahrhundert ganz tücdhtig cultivirt, allein e3 können noch ein paar Jahrhunderte Hingehen, ehe bei unferen Lands» leuten jo viel Geift und höhere Cultur cindringe und allgemein werde, daß man von ihnen wird jagen können, es ſei lange her, daß fie Barbaren geweſen.“

Für Nietzſche deden, wie man fieht, die Begriffe Cultur und einheitliche Gultur einander. Um einheitlich zu fein, muß eine Cultur ein gewiſſes Alter erreicht haben und in ihrer Eigenthümlichkeit jo ftark geworden fein, daß fie alle Lebensformen durchdrungen hat. Einheitliche Cultur ift aber natürlicher: weije nicht dasjelbe, wie eingeborene Gultur. ine einheitliche Gultur hatte das alte Hellas, aber fie war die Frucht ägyptiicher und aſiatiſcher Einflüffe,; eine einheitliche Gultur hatte das alte Island, obgleich ihre Blüthe gerade durch den lebendigen Verkehr mit Europa herbeigeführt ward; eine einheitliche Cultur hatte Italien unter der Renaiffance, England im jechzehnten, Frankreich im fiebzehnten und actzehnten Jahrhundert, obgleih Italien feine Cultur aus griechiſchen, römischen und ſpaniſchen Eindrüden aufbaute, Frankreich die jeinige aus antiken, feltiichen, ſpaniſchen und italienischen Elementen und obgleich die Engländer vor allen ein Miſchvolk find. Es ıjt zwar nur anderthalb Jahrhunderte Her, jeit die Deutichen anfingen, ſich von der franzöfiichen Eultur freizumadhen, und kaum

) Die Geburt der Tragödie, ©. 112 fi.

56 Deutiche Rundſchau.

mehr als hundert Jahre, jeit fie der Schule der Franzoſen entrannen, deren Einwirkung gleihwohl noch heutzutage zu jpüren ift; aber doch wird Niemand die Eriftenz einer deutjchen Gultur leugnen können, wenn fie auch verhältniß- mäßig jung und im Werben ift. Ebenſowenig wird der, welder Sinn für die Uebereinftimmung zwijchen deutſcher Muſik und deutfcher Philofophie, Gehör für die Uebereinftimmung zwiſchen deutſcher Muſik und deutſcher lyriſcher Poefie, Auge für die Vorzüge und Mängel der deutſchen bildenden Kunſt hat, die Er— gebniß desſelben Grundhanges find, der in dem ganzen deutſchen Gedanken- und Gefühlsleben erfcheint, geneigt fein, Deutjchland von vornherein einheitliche Cultur abzuſprechen. Bedenklicher wird das Verhältni für ſolche Eleineren Länder, wo die Abhängigkeit vom Ausland nicht jelten Abhängigkeit in zweiter Potenz ift.

Für Nietzſche iſt indeffen diefer Punkt der verhältnigmäßig umwichtigere. Er ift überzeugt, daß die Stunde der nationalen Culturen bald ſchlagen wird, da die Zeit nit mehr fern jei, wo überhaupt nur noch von einer europäifchen oder europäiſch amerikanischen Gultur geredet werden könne. Er geht von der Thatſache aus, daß die entwidelten Menfchen aller Länder fich bereits jetzt ſchon al3 Europäer, als Landöleute, ja, als Bundesgenofjen fühlen, und von dem Glauben, dat jchon das nächſte Jahrhundert den Krieg um die Herrihaft über die Erde bringen werde.

Wenn dann aus dem Nefultat dieſes Krieges ein biegenber, brechender Sturmmwind über alle nationalen Eitelfeiten Hinfährt, worauf wird es dann antommen ?

63 gilt dann, meint Nießfche, ganz in Uebereinſtimmung mit den hervor— ragenditen Franzoſen unferer Zeit, ob e3 bis dahın gelungen fein wird, eine Art Raſſe hervorragender Geifter aufzuzüchten und zu erziehen, welche die centrale Macht ergreifen können.

Das Grundunglüd ift daher nicht, daß ein Land noch feine echte, einheit- liche und durchgeführte Cultur habe, jondern, daß man fidh cultivirt glaubt. Und den Blick auf Deutjchland gerichtet, Fragt Nietzſche, wie es zugegangen ift, daß ein fo ungeheurer Gegenſatz wie der zwifchen dem Mangel an wahrer Gultur und dem jelbftzufriedenen Glauben, gerade die einzig wahre zu bejigen, entftehen konnte, und ex findet die Antwort in dem Umſtande, daß eine Claſſe Menſchen zur Macht gefommen ift, die fein früheres Jahrhundert gekannt bat und die er (1873) auf den Namen Bildungsphilifter taufte.

Der Bildungsphilifter hält feine unperfönlide Bildung für die eigentliche Gultur; wenn er davon hat reden hören, Gultur jehe ein einheitliches Geiftes- gepräge voraus, jo beftärft ihn das in jeiner guten Meinung von ſich jelbft, da er überall Gebildete von feiner Art findet und da Schulen, Hochſchulen und Kunftanftalten nach feinen Bedürfniffen und einem feiner Bildung entiprechenden Mufter eingerichtet find. Da er fozufagen überall denjelben ſtillſchweigenden Gonvenienzen hinſichtlich Religion, Moral und Literatur, hinſichtlich Ehe, Familie, Gemeinde und Staat begegnet, jo Scheint ihm bewieſen, dieſe imponirende Gleich— artigfeit jei Eultur. Er ahnt nicht, daß dieje wohlgeordnete und wohlzuſammen— hängende Philifterei, die an Echreibtifchen und auf Ehrenpläßen fit, keineswegs deswegen Gultur geworden ift, weil ein Zuſammenwirken zwijchen ihren Organen

Ariftofratifcher Radicaliamus. 57

ftattfindet. Das ift, jagt Nietzſche, nicht einmal ſchlechte Cultur; das iſt nad) Bermögen jolid verfchangte Barbarei, nur ganz ohne die Friſche und wilde Kraft der urfprünglichen Barbarei; und er Hat viele malende Ausdrüde, um das Bildungsphilifterium ala den Moraft zu jchildern, in dem alle Müdigkeit ſtecken bleibt und in beffen giftigem Nebel alles Streben dahinſiecht.

In die Gejelihaft der Bildungsphilifter werden wir in der Regel Alle hineingeboren, und in ihr wachſen wir auf. Sie empfängt una mit herrichenben Meinungen, die wir unbewußt annchmen, und jelbft wenn die Meinungen ge: theilt find, fo find fie doch bloß in Parteimeinungen getheilt in öffentliche Meinungen.

Ein Aphorismus von Nietzſche lautet: „Was find öffentliche Meinungen ? Es find private Faulheiten.“ Der Saß ift nicht unbedingt wahr. Es gibt einzelne Fälle, wo die öffentliche Meinung etwas werth fein kann. Hohn Morley hat ein gutes Buch darüber gejchrieben. Gegenüber gewiſſen groben Fällen, wo Treu und Glauben gebrochen tverden, und gewiſſen grob niederträchtigen Kränkungen von Menſchenrecht kann die öffentlide Meinung ein feltenes Mal fi) wie eine Macht erheben, die e8 verdient, daß man ihr folgt. Sonft ift fie in der Regel ein Fabrikat, das im Dienft des Bildungsphilifteriums hergeftellt wird.

Bei ihrem Eintreten ins Leben begegnet die Jugend aljo verfchiedenen etwas mehr oder weniger philiftröjfen Gruppenmeinungen. Ye mehr der Einzelne zu einem wirklichen Menjchen veranlagt ift, defto mehr Widerftand Leiftet er dagegen, mit der Herde zu gehen. Aber jelbft wenn eine innere Stimme zu ihm jagt: Bleibe dir jelbft treu! Sei du felbft! jo Hört er mit Mißmuth diefen Zuruf. Hat er ein Selbft ? er weiß es nicht, er kennt es noch nicht.

Er fieht ih nad) einem Lehrer um, einem Erzieher, Einem, der ihn nicht etwas Fremdes lehren will, jondern ihn lehren will, ex jelbft zu werden, diejer Einzelne.

Es gab in Dänemark einen großen Mann, der mit eindringlicher Kraft die Zumuthung an jeine Zeitgenoffen richtete, fie jollten Einzelne werden. Aber die Aufforderung war von Seiten Sören Hierfegaard’3 nicht jo unbedingt gemeint, wie fie auögejprochen wurde. Denn da3 Ziel war gegeben. Sie follten Einzelne werden, nicht um ſich zu freien Perjönlichkeiten zu entwideln, ſondern um auf diefem Wege wahre Chriften zu werden. Sie wurden nur anjcheinend frei ge— ftelft, über ihnen ſchwebte ein: Du jollft glauben! und ein: Du jollft gehorchen ! Sie Hatten jelbft al3 Einzelne eine Schlinge um den Hals und an der anderen Seite des Engpafjes der Einzelheit, durch den die Herde getrieben wurde, wartete wieder die Herde: ein Hirt, eine Herde!).

Es ift nicht, um feine Perſönlichkeit jofort wieder aufzugeben, daß der Jüng— ling unjerer Tage danach ftrebt, ex jelbjt zu werden und einen Erzieher jucht. Er will fi fein Dogma vormalen laffen, in dem er wieder landen fol. Und er fühlt mit Unruhe, daß er mit Dogmen angefült ift. Wie ich jelbft in ſich jelber finden, wie ſich jelbft aus fich jelber ausgraben? Dazu jollte der Erzieher ihm helfen. Ein Erzieher Tann nur ein Befreier fein.

) Sören Kierkegaard. Gin literarisches Charakterbild von Georg Brandes. Leipzig. 1879.

58 Deutiche Rundichau.

Einen ſolchen befreienden Erzieher ſuchte Nietzſche al Jüngling und fand ihn in Schopenhauer. Ginen ſolchen findet Jeder, der danach juht, in der Perjönlichkeit, die in feiner Entwidlungszeit am tiefften befreiend auf ihn wirft. Nietzſche jagt: nachdem er die erfte Seite von Schopenhauer gelejen, wußte er, daß er jede Seite von ihm leſen und auf jedes Wort Acht geben würde, ſelbſt auf die Irrthümer, die bei diefem Echriftfteller ihm begegnen könnten. Jeder geiftig Strebende wird? Männer nennen fönnen, die er auf diejelbe Art gelejen.

Allerdings blieb für Niegjche, wie im Allgemeinen für jeden Strebenden, nod ein Schritt übrig fih von dem Befreier zu befreien. Wir finden in feinen älteften Schriften gewiſſe Schopenhauer'iche Lieblingsausdrüde, die jpäter nicht mehr bei ihm vorflommen. Aber die Befreiung ift hier eine ruhige Ent» wicklung zur Selbftändigfeit, während welcher die tiefe Dankbarkeit fich erhält, nicht wie im Verhältnig zu Wagner ein gewaltfamer Umſchlag, der ihn ver: anlaßte, den Werfen allen Werth abzuſprechen, die ihm früher die werthvolliten von allen geweſen.

Er rühmt an Schopenhauer jeine hohe Ehrlichkeit, neben die er nur diejenige Montaigne'3 ftellen kann, jeine Klarheit, jeine Beftändigkeit, jein veinliches Ver: hältniß zu Gejelihaft, Staat und Staatäreligion. Bei Schopenhauer nie cine Einräumung, nie ein Liebäugeln.

Und Nietzſche erftaunt über den Umftand, daß Schopenhauer überhaupt das Leben in Deutichland aushielt. Ein neuerer Engländer bat gejagt: „Shelley hätte nicht in England Ieben fünnen, und eine Raſſe von Shelley’3 würde un- möglich gewejen ſein!“ Dieſe Art Geifter werden geiftig gebrochen, dann ſchwer— müthig, zulegt Krank oder irrſinnig. Die Geſellſchaft der Bildimgsphilifter madht den ungewöhnlichen Menſchen das Leben ſauer. Beiſpiele finden fid mafienhaft in der Literatur aller Yänder, und die Gegenprobe läßt fi beftändig maden. Dan braucht nur an die zahlreichen Talente zu denken, die früher oder jpäter um Pardon gebeten und dem Philifterium Ginräumungen gemadt haben, um zu exiftiren. Aber felbft an den Stärkften verräth der unnüß auf reibende Kampf ſich in Zügen und Runzeln. Nietzſche citirt das Wort eines ge- übten Diplomaten, der Goethe nur oberflächlich geiehen und geſprochen: „Voilà un homme qui a eu de grands chagrins,“ und Goethe'3 Zuſatz, ala er es feinen Freunden erzählt: „Wenn jih nun in unjeren Gefichtäzügen die Spur über- ftandenen Leidens, durchgeführter Thätigkeit nicht auslöjchen läßt, jo ift es Fein Wunder, wenn Alles, wa3 von uns und unſerem Beſtreben übrig bleibt, diefelben Spuren trägt.“ Und das ift Goethe, commentirt Nießiche, auf den unjere Bildunasphilifter als auf den glüdlichften Deutjchen hinzeigen.

Schopenhauer war bekanntlich bis in jeine letzten Lebensjahre ein ganz ein— jamer Mann. Keiner verftand ihn, feiner la3 ihn. Der größte Theil der erften Auflage feines Werks: „Die Welt als Wille und Vorftellung“ mußte al Macu— latur verkauft werden. Das Buch erſchien 1819 und blieb dreißig Jahre lang unbeadhtet. Noch 1837 iſt Schopenhauer’s Perfönlichkeit in Dänemark jo wenig befannt, daß Poul Möller, ein dänischer Dichter und Denter, der ihn früh ge ſen tte, ihn für einen Profeffor in Berlin hält, und 1841 widerfährt der

Ariftokratifcher Radicalismus. 59

„Sejellichaft dev Wiffenjchaften“ in Kopenhagen das bekannte Unglüd, daß fie ihm ihre Prämie für eine feiner berühmteſten Arbeiten verweigert.

In umferen Tagen ift die Taine'ſche Anſchauung ftark verbreitet worden, daß der große Dann ganz und gar durch das Zeitalter beftimmt wird, deffen Kind er ift, es unbewußt refumirt und ihm mit Bewußtfein Ausdrud zu geben beftrebt jein jol. Aber obgleich der große Mann jelbftverftändlich nicht außer: halb des Gangs der Geſchichte fteht und immer auf Vorgängern fußt, jo keimt eine ‘dee doch ftet3 in einem Einzelnen, oder in einigen Einzelnen auf, und dieje Einzelne find nicht zerftreute Punkte in der niedrigftchenden Menge, fondern Hochbegabte, welche die Menge an ich ziehen und nicht von ihr gezogen werden. Das, was man den Zeitgeift nennt, entfteht zuerft in ganz wenigen Gehirnen.

Nietiche, der von Anfang an, wohl meift durch Schopenhauer’3 Einwirkung, ftark von dem Sat erfüllt war, der große Mann jei nicht das Kind, jondern das Stieflind der Zeit, fordert von dem hervorragenden Erzieher, daß er die Jungen gegen die Zeit erziehe eine, jo im Allgemeinen formulirt, recht un— gereimte Forderung, aber für ihren Urheber jehr bezeichnend.

Es jcheint ihm, daß die neuere Zeit beſonders drei Menſchentypen nad) ein= ander zur Nahahmung und Nachfolge hervorgebracht Hat. Zuerft den Mtenjchen Rouſſeau's, den Titanen, der, von den höheren Kaften gedrüdt und gebunden, fi) erhebt und in feiner Noth die heilige Natur anruft. Dann den Goethe’jchen Menſchen. Nicht Werther und die verwandten revolutionären Geftalten, die noch von Roufjeau abftammen, nicht die uriprüngliche Fauftfigur, fondern Fauſt, wie er fih nach und nach entwickelt. Er ift kein MWeltbefreier, jondern ein Welt: beſchauer. Er ift nicht der wirkende Menſch. Nietiche erinnert an Jarno's Wort gegen Wilhelm Meifter: „Sie find verdrießlich und bitter, das ift recht ſchön und gut. Wenn Sie nur erſt einmal recht böje werden, wird e3 noch beffer fein.“

Einmal recht zornig zu werden, damit es befjer werde, dazu will nad) der Meinung des dreißigiährigen Niebiche der Schopenhauer'ſche Menſch aufmuntern. Diefer Menſch nimmt freiwillig das Leiden auf ſich, die Wahrheit zu jagen. Sein Grundgedante ift der: Ein glückliches Leben ift unmöglich); das Höchfte, was der Menſch erreichen kann, ijt ein heroisches Leben, d. h. ein Leben, in dem unter den größten Schwierigkeiten für Etwas gefämpft wird, was auf die eine oder andere Art Allen zu Gute fommt. Zu dem wahrhaft Menichlichen heben nur die wahren Menſchen ung empor, die, twelche durd) einen Sprung in der Natur ges worden zu fein fcheinen, die Denker und Entdecker, die Künftler und Hervor- bringer und die, welche mehr durch ihr Wejen wirken, als duch ihr Wirken: die Edlen, die im großen Stil Guten, Die, in denen der Genius de3 Guten wirft.

Diefe Menjchen find der Zweck der Geichichte.

Niebiche Formulirt den Sa: „Die Menichheit ſoll fortwährend daran ar» beiten, einzelne große Menjchen zu erzeugen und dies und nicht? Anderes jonft ift ihre Aufgabe”). Das ift diejelbe Formel, zu der mehrere ariftokratiiche Geifter der Gegenwart gelangt find. So heißt e8 bei Renan faft gleichlautend: „In Summa ift dev Zwed der Menſchheit die Erzeugung großer Menſchen ....

!) Ungeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stüd, ©. 60.

60 Deutſche Rundſchau.

nichts als große Menſchen; die Rettung wird durch große Menſchen kommen !).“ Und man fieht aus Flaubert's Briefen an George Sand, wie überzeugt auch er davon war. Er jagt 3. B. „Das einzige Vernünftige ift und bleibt eine Regie: rung von Mandarinen, vorausgeießt, daß die DMandarinen etwas können, ober richtiger, daß fie viel können .... Es hat wenig zu bedeuten, ob einige Bauern mehr oder weniger leſen können und ihren Paftor nicht hören, aber es ift unendlich wichtig, daß viele Menfchen wie Renan und Littr& leben fönnen und gehört werden. Unfere Rettung liegt jet in einer wirklichen Ariftotratie?).“ Sowohl Renan wie Flaubert würden Nietzſche's Grumdidee unterichreiben, daß ein Volk der Umweg tft, den die Natur macht, um ein Dubend großer Männer herborzubringen.

Aber obgleich es diefem Grundgedanfen nit an Fürſprechern fehlt, ſoll damit nicht gejagt werden, daß er in der europäiichen Philoſophie der herrjchende it. In Deutichland denkt 3. B. Eduard von Hartmann ſehr verichieden über da3 Ziel der Geſchichte. Ihm kommt es unzweifelhaft vor, daß die Geichichte, oder, mit einem größeren Wort, der Weltprozeß ein Ziel haben müſſe und daß diefes Ziel nur negativ fein fünne, da ein goldenes Zeitalter in feinen Augen nur ein dummes Hirngeipinft ift. Daher feine Phantafien über einen, von den höchſt— begabten Menſchen freiwillig herbeigeführten Weltuntergang. Und im Zufammene bang damit fteht jeine Lehre, daß die Menſchheit nun in das Mannesalter ein- getreten zu fein fcheine, aljo über die Entwidlungöftufe hinaus fei, wo Genies nothwendig waren.

Diefem Gedanken gegenüber vom Weltprozeß, deffen Ziel Vernichtung oder Erlöfung ift, Erlöfung der leidenden Gottheit vom Dafein, ericheint Nietiche nüchtern und rationell mit feinem einfachen Glauben, daß das Ziel der Menſch— heit fein in da3 Unendliche hinausgefchobenes jei, jondern in ihren höchſten Eremplaren Liegen müſſe, obwohl er dabei die Hauptfrage offen läßt, ob denn diefe größten Menfchen nicht wiederum Ziele haben, die fi) ja nicht auf ihre Selbfterhaltung beichränfen.

Hiermit hat er jedoch feine Ächliekliche Beantwortung der Frage erreicht: Was ift Cultur? Denn auf jenem Berhältnig beruhen der Grundgedanke der Eultur und die Pflichten, die fie auferlegt. Sie erlegt mir die Pfliht auf, mich jelbft: thätig in ein Verhältniß zu den großen Menfchenidealen zu ſetzen. Ihr Grund: gedanfe ift der: fie weiſt jedem Einzelnen, der für fie arbeiten und an ihr theil- nehmen will, die Aufgabe zu: in fih und außer fi auf die Erzeugung des Denkers und Künftler?, des wahrheit3: und jchönheitsliebenden Menſchen, der reinen und guten Perjönlichkeit und damit auf die Vollendung der Natur hin— auarbeiten, aljo nach) dem Ziel hin: vollendete Natur.

Wann Herricht Gulturzuftand? Wenn die Menfchen einer Gejellichaft be: ftändig darauf hinarbeiten, die Eriftenz großer Menfchen zu fördern Aus diefem höchften Ziel folgen alle anderen. Und welcher Zuftand ift am weiteften vom Gulturzuftand entfernt? Der, in welchem die Menjchen inftinctiv und mit ver:

’) Renan, Dialogues et fragments philosophiques, ©. 103. 2) Flaubert, Lettres à George Sand, &. 139 ff.

Ariftokratiicher Radicaliamus. 61

einten Kräften da3 Auflommen großer Menfchen erſchweren, indem fie theils das Aufadern des Erdbodens verhindern, der erforderlich ift, damit das Geniale emporwachſen kann, theil3 hartnäckig alles Geniale befämpfen, das fich unter ihnen erhebt. Ein ſolcher Zuftand ift weiter von Cultur entfernt, als die reine Barbarei.

Aber gibt es einen jolchen? wird vielleicht der Eine oder Andere fragen. Die meiften Heineren Völker könnten fi) die Antwort aus der Geſchichte ihres Vaterlandes herauslefen. Man wird da, in dem Grade, wie die „Bildung“ fleigt, das Bildungsklima fidy verbreiten fehen, in dem das Genie nicht gedeihen fan. Und das ift um jo bedenklicher, da es jcheint, daß in den modernen Zeiten und unter den Raffen, die jet die Macht über die Erde unter fich getheilt haben, Staatöverbände von ein paar, oder einigen paar Millionen jelten zahl« reich genug find, um Geifter vom allererften Rang hervorzubringen. Es ſcheint, al3 würden die Genies erſt aus dreißig oder vierzig Millionen herausdeſtillirt. Um jo mehr Grund für die Fleineren Genoffenichaften, aus allen Kräften auf Cultur Binzuaxbeiten.

Man ift in neuerer Zeit mit dem Gedanken vertraut, das Ziel, auf das es hin— zuarbeiten gelte, ſei das Glüd: das Glück Aller, oder doch der Meiften. Worin das Glück befteht, wird feltener ertvogen, und doch läht die Trage fich nicht ab» weifen, ob nicht ein Jahr, ein Tag, eine Stunde im Paradiefe mehr Glück ent- hält, ala ein Leben in der Ofenede. Aber gleichviel. So vertraut man aud) mit dem Gedanken ift, einem ganzen Land, einer Menſchenmenge Opfer zu bringen, fo unfinnig ſcheint e8, daß ein Menſch um einzelner anderer Menjchen willen da fein jollte, die Pflicht haben fünnte, ihnen fein Leben zu mweihen, um damit die Cultur zu fördern. Aber vielleicht läßt jenes größtmögliche Glück, welches e8 der Bentham-Mill'ſchen Moral zufolge gilt der größtmöglichen Zahl zu fichern, fich überhaupt nur von den einzelnen großen Perfönlichkeiten erlangen, und auf die Gulturfrage, wie das einzelne Menfchenleben den höchften Werth und die größte Bedeutung erhalte, muß doch die Antwort lauten: dadurd, daß e3 zum Vortheil der jeltenften und werthvollften Eremplare des Menjchen- geichlecht3 gelebt wird. So richtet der Einzelne auch am meiften dafür aus, daß das Leben der Meiften werthvoller werde.

In unjeren Tagen bedeutet eine jogenannte Culturinftitution nur zu oft eine Einrichtung, kraft welcher die Gebildeten in geichlofjener Reihe vorgehen und alle Einfamen und Wibderfpenftigen, deren Streben auf höhere Ziele gerichtet ift, zur Seite drängen; auch den Gelehrten fehlt daher in der Regel aller Sinn für den werdenden Genius und jedes Gefühl für den Werth des gleichzeitigen und ftrebenden Genie. Darım haben, troß des unbeftreitbaren und raftlofen Fort— fchrittes auf allen technijchen und fahwilfenschaftlichen Gebieten, die Bedingungen für die Entftehung des Großen ſich jo wenig verbeſſert, daß der Widertille gegen das Geniale eher zu: al3 abgenommen hat.

Dom Staate können die hervorragenden Andividuen nicht viel erwarten. Gr nützt ihnen jelten, indem ex fie in feinen Dienft nimmt, er nüßt ihnen mit Sicherheit nur, indem er ihnen volle Unabhängigkeit ſchenkt. Nur twirkliche Gultur kann dem entgegenarbeiten, daß fie zu frühe müde oder erichöpft werden, und fie vor dem aufreibenden Kampf mit dem Bildungsphilifterium bewahren.

62 Deutſche Rundſchau.

Nietzſche's Werth beruht darauf, daß er ein ſolcher Culturträger iſt: ein Geiſt, der, ſelbſt unabhängig, Unabhängigkeit mittheilt und der für Andere jene befreiende Macht werden kann, die Schopenhauer in ſeiner Jugend für ihn geworden.

II.

Vier von Nietzſche's Jugendſchriften führen den gemeinſamen Titel: „Unzeit— gemäße Betrachtungen“, ein Titel, der bezeichnend für ſeinen früh gefaßten Vor— ſatz iſt, gegen den Strom zu gehen.

Eins der Gebiete, auf dem er ſich gegen den Zeitgeiſt in Deutſchland gekehrt hat, iſt das der Erziehung, indem er auf unbändige Art die ganze hiſtoriſche Erziehung, auf die Deutſchland ſtolz iſt und die man in der Regel überall als wünſchenswerth betrachtet, verurtheilt hat.

Sein Grundgedanke iſt der: Was das Geſchlecht frei zu athmen und kühn zu wollen verhindert, iſt die allzu lange Vorzeit, die es hinter ſich, wie eine Kugel am Bein herſchleppt. Er meint, die hiſtoriſche Erziehung verhindere das Geſchlecht ſowohl daran zu handeln, wie zu genießen, da Der, welcher ſich nicht ganz im Augenblick ſammeln und in ihm leben kann, weder ſelbſt Glück zu fühlen noch etwas auszurichten vermag, das Andere glücklich macht. Ohne die Fähigkeit, unhiſtoriſch zu fühlen, kein Glück. Und ebenſo gehört zu allem Handeln Vergeſſen, oder richtiger Nichtwiſſen des Vergangenen. Das Vergeſſen, das Unhiſtoriſche iſt, wie die einhüllende Luft, der Dunſtkreis, in dem allein Leben entſtehen kann. Man denke, um das zu verſtehen, ſagt Nietzſche, an einen Jüngling, der von Leidenſchaft für ein Weib, oder an einen Mann, der von Leidenſchaft für eine Aufgabe ergriffen wird. Für beide exiſtirt, was hinter ihnen liegt, nicht mehr, und doch iſt dieſer Zuftand, der völlig unhiſtoriſche, der⸗ jenige, in dem jede Handlung, jede Großthat erfonnen und vollbracht wird. Dem analog aber gibt es, wie Nietzſche meint, einen gewiffen Grab Hiftorifchen Wiſſens, der vernichtend für die menjchliche Thatkraft und verderblich für die ſchöpferiſche Kraft eines Volkes ift.

Man hört den gelehrten Philologen, deffen Beobachtungen meift auf deutjche Gelehrte und Kiünftler gerichtet gewejen, aus diefem Raiſonnement heran. Denn daß der deutiche Kaufmannzftand oder Bauernftand, das deutſche Mrilitär oder die deutichen Jnduftriellen unter einem Uebermaß von Hiftorischer Bildung leiden jollten, wäre e8 ungereimt anzunehmen. Indeſſen dürfte jelbft für deutfche Dichter, Forſcher und Künftler das llebel, worauf hier hingetviefen wird, von der Art jein, daß ihm nicht durch bloße Abſchaffung des hiftorifchen Unterrichts beizutommen ift. Die, deren Schaffenstrieb durch das Hiftoriiche Willen ge hemmt und getödtet werden kann, waren ſicher von vornherein jo ohnmächtig und thatunfräftig, daß die Welt duch ihre Production nicht bereichert worden wäre, Und was da lähmt, ift ja außerdem nicht fo ſehr die ungleichartige Mafje von todten hiſtoriſchen Kenntniſſen (über Regierungshandlungen, politifche Schachzüge, Kriegsthaten, künſtleriſche Stilarten u. f. w.), wie die Bekannt— ichaft mit einzelnen großen Geiftern der Vergangenheit, mit deren Thaten ver: lichen Alles, was der Menſch noch leiften kann, von jo verichtwindender Be—

Uriftofratifcher Radicalismus. 63

deutung zu fein fcheint, daß es gleichgültig wird, ob feine Arbeit zur Welt komme oder nicht. Goethe allein Tann einen beginnenden deutſchen Dichter zur Ver— zweiflung bringen. Aber ein Heldenverehrer wie Nietzſche Tann conjequenter MWeije die Belanntichaft mit den Größten nicht verringert wünjchen.

Der Mangel an künſtleriſchem Muth und geiftiger Kühnheit hat gewiß tiefer liegende Urſachen, vor Allem das Zerbrödeln der Perfönlichteit, da8 die moderne Geſellſchaftsordnung mit fih führt. Starte Menſchen vertragen eine große Summe Gejdichte, ohne zum Leben ungeeignet zu werden.

Was indeffen intereffant und bezeichnend für Nietzſche's geiftigen Stand- punkt ift, das find feine Unterfuchungen darüber, in welchem Grade da8 Leben überhaupt für die Gefchichte Gebrauch) Hat. Die Geichichte gehört nad) feiner Auffaffung dem, der einen großen Kampf kämpft und Vorbilder, Lehrer Tröfter nöthig hat, die er unter feinen Zeitgenoffen nicht findet. Ohne die Ge— Ihichte würde der Höhenzug von großen Augenblicken großer Menſchen, der ſich durch die Jahrtaufende erſtreckt, nicht lebendig und Klar vor mir ftehen können. Einer, der Sieht, daß ungefähr faum hundert Menjchen die Gultur der Renaij- ſance herbeiführten, wird 3.3. zu der Ueberzeugung gelangen können, daß hundert produftive Menichen, in einem neuen Geift erzogen, dem Bildungsphilifterium ein Ende maden könnten. Werderblich dagegen Tann die Geihichte wirken in der Hand unfruchtbarer Menſchen. Mean jagt 3.8. die jungen Künftler in bie Galerien, ftatt in die Natur hinaus, fendet fie mit noch unbefeftigtem Sinn in Kunjtjtädte, wo jie den Muth verlieren. Und in allen ihren Formen kann, feiner Anfiht nad), die Geihichte zum Leben untauglich machen: als monumentale, indem fie den Irrthum hervorruft, daß es beſtimmte, immer wiederkehrende Con— itellationen gäbe, jo daß, was einmal möglich war, jet unter ganz veränderten Umftänden wieder möglich jei; ald antiquarifche dur Erwecken der Pietät für da3 Alte und Vergangene, welche den Handelnden lähmt, der immer die eine oder andere Pietät kränken muß; endlich ala Eritifche Gefchichte durch das nieder- ſchlagende Gefühl, das fie hervorruft, daß wir gerade die Irrthümer der Ver: gangenheit, über die wir ung zu erheben jtreben, als Erbſchaft und Kindheits- eindrüde in unſerem Blut tragen, jo daß wir beftändig in einem inneren Streit zwiſchen unferer alten und neuen Natur leben.

Auf diefem Punkt, wie auf anderen früher berührten, will Nietzſche in leßter Jnftanz der Kreuzlahmheit der modernen Bildung zu Leibe. Daß „gebildet“ und „hiſtoriſch gebildet“ in unſerer Zeit faft gleiche Begriffe find, iſt ihm ein trauriges Symptom. Es ift, jagt er, ſpurlos vergeffen, daß Bildung fein jollte, was fie bei den Griechen war: Beweggrund, Fähigkeit zum Entſchluß; heutzutage wird Bildung als Innerlichkeit bezeichnet, da fie ein todter inmwendiger Klumpen ift, der jeinen Befiger nicht bewegt. Die am meiften „Gebildeten” find Converſations— lerifond. Wenn fie handeln, ift e8 fraft einer allgemeinen anerkannten Gonventenz oder aus der flachen Rohheit heraus,

An diefe auf den allgemeinen Zuftand zielenden Betrachtung knüpft ſich dann eine Klage, die vielleicht bejonder8 in dem modernen Deutichland entjpringen mußte, die Klage darüber, wie drüdend die Hiftoriiche Größe in dem Epigonen— bewußtjein der Nachgeborenen wirke, in jener Ueberzeugung, ein Spätling, eine

64 Deutiche Rundſchau.

Nachgeburt einer größeren Zeit zu fein, Einer, der wohl Geſchichte lernen, aber nie Geſchichte hervorbringen könne,

Sogar die Philoſophie, klagt Nietzſche, mit einem Seitenblid auf die deutjchen Univerfitäten, jei mehr und mehr zu einer Geſchichte der Philofophie geworben, zu einer Mittheilung darüber, wa3 alle Welt über alles Mögliche gemeint. Dan betont in den verjchiedenen Yändern wie eine Ehrenjfadhe, daß man Gedanken freiheit habe. In Wirklichkeit ſei das nur eine dürftige Freiheit. Man darf auf Hundert Arten denken handeln dagegen darf man nur auf eine einzige Art, und diefer Zuftand ift es, der als Zuftand der Bildung bezeichnet wird und in Wirklichkeit nur eine Form, „und zudem eine ſchlechte Form, Uniform ift“.

Niejche greift jene Auffaffung an, nad; welcher die Hiftorifche Bildung vor unferem Bewußtjein al3 die vor allen anderen gerecht urtheilende ſteht. Man liebt den Hiftorifer, welcher der reinen Erkenntniß zuſtrebt, aus welcher nichts folgt. Aber es gibt viele gleichgültige Wahrheiten, und e3 ift ein Unglüd, wenn ganze Bataillone von Forſchern fi) darüber hermachen, jelbft wenn dieje engen Geifter ehrliche Charaktere find. Man hält den Hiftoriker für objectiv,, der die Vergangenheit an den Lieblingsmeinungen jeiner Zeitgenoffen mißt und den für fubjectiv, der diefe Meinungen nicht ala Mufter betrachtet. Man hält den für am meiften berufen, ein Moment der Vergangenheit darzuftellen, dem diefe ganz gleihgültig ift. Aber nur wer an der Zukunft mitbaut, verfteht die Vergangen— heit, und nur zum Kunſtwerk umgebildet fann die Gejhichte Inſtincte aufrecht erhalten oder erwecken.

Wie die Hiftoriiche Erziehung jet betrieben wird, vermittelt man eine jolche Fülle von Eindrüden, daß Stumpfheit, ein Gefühl, alt in einem alten Wolf geboren zu jein, die Folge ift obgleich uns nicht dreigig Menſchenleben, jedes auf fiebzig Jahr berechnet, vom Beginn unferer Zeitrechnung trennen, Ind hiermit verbunden ift der ungeheure Aberglaube an den Werth der Weltgeſchichte. Unaufhörlich wird der Schiller'ſche Satz: „Die Weltgeſchichte ift das Weltgericht“ wiederholt, als könnte es ein anderes hiſtoriſches Gericht geben als den Gedanken; und hartnäckig hat ſich die Hegel'ſche Auffaſſung von der Weltgeſchichte als der immer deutlicheren Selbſtoffenbarung der Gotiheit gehalten, bloß daß fie nach und nad) in reine Bewunderung für den Erfolg, in Billigung eine jeden Factums, ſei e8 auch noch jo brutal, übergegangen ift. Aber Größe hat nichts mit dem Reſultat zu Schaffen und nichts mit dem glüclichen Aus— gang. Demofthenes, der umfonft redete, ift größer, als Philipp, dev immer fiegte. Alles ſcheint, behauptet Nießjche, in unferen Tagen in der Ordnung, jobald e3 eine fertige Thatſache ift; jelbjt wenn ein Genie in feinem blühenden Alter ftirbt, findet man Beweiſe dafür, daß es zur rechten Zeit geftorben ift. Und das bischen Geichichte, das wir haben, nennt man den „Weltprogeß”; man zer- bricht fich den Kopf über den Urjprung und das Endziel desjelben was doch ein Zeitverluft fein dürfte. Weshalb du da bift, denkt Nietzſche wie S. Kierke— gaard, das kann dir Niemand in der Welt im Voraus jagen; aber da du num einmal da bift, jo ſuche deinem Dajein einen Sinn zu geben, indem bu dir ein fo hohes und edles Ziel ſteckſt, wie du fannit.

Bezeihnend für Nietzſche's ſpäter jo ausgeprägt ariftofratiihe Tendenz ift

Ariftofratifcher Radicalismus. 65

fein Eifern gegen den Refpect der modernen Geſchichtſchreibung vor den Maſſen. Ehemals, raijonnirt er, jhrieb man Geſchichte aus dem Geſichtspunkt der Negenten und verweilte ausfchliehlich bei ihnen, wie mittelmäßig oder ſchlecht fie auch waren. Nun ift man dazu übergegangen, fie aus dem Gefichtspunft der Mafjen zu fchreiben. Für Nietzſche ift die Maſſe nicht II + 1..... (bi3 die Zahl derjelben herauskommt), ſondern IH1I + 1..... + xdb. bh. die Beitialität, die in den Einzelnen dadurch entwicelt wird, daß fie Maſſe werden. So aufgefaßt find ihm denn die Mafjen entweder Gopien großer Perjönlichkeiten, ſchlechte Copien, verwiſchte Copien aus ſchlechtem Material, oder fie find Wider- ftand gegen die Großen, oder fie find Werkzeuge der Großen. Im llebrigen find fie etwa3 für die Statiftif, die in den Mafjentrieben: Nahäffen, Faulheit, Hunger und Geſchlechtstrieb jogenannte hiſtoriſche Gejee findet. Groß nennt man dann, was während langer Zeit eine ſolche Maſſe in Bewegung gejett Hat. Und man tauft e3 hiſtoriſche Macht. Wenn 3.3. die plumpe Maffe fi den einen oder anderen Religionsgedanten angeeignet, oder ihren Bedürfniffen angepaßt, ihm! mit Zähigfeit vertheidigt und dur Jahrhunderte mit fich geichleppt Hat, jo nennt man den Erfinder diejes Gedanken? groß. Das Zeugniß von Jahrtaufenden jpricht dafür, heißt e8. Aber das iſt Niebiche'3 und Kierkegaard's gemeinfamer Gedanfe das Ebdelfte, Höchfte wirkt überhaupt gar nicht auf die Maffen, weder glei) noch jpäter. Darum ſpricht das hiſtoriſche Glück, die Zähigkeit und Dauerhaftigkeit einer Religion eher gegen die Größe ihres Stifters, ala für fie.

Will man eins der hiftoriichen Ereigniffe nennen, die vollftändig geglückt find, fo nennt man gerne die Reformation. Nietzſche macht gegen die Bedeutung dieſes Erfolgs nicht die gewöhnlich angeführten Thatjachen geltend: Luther's frühzeitige Verweltlichung derjelben,, feine Compromiſſe mit den Machthabern, da3 Intereſſe der Fürften, ſich von der Obermacht der Kirche zu befreien und fich zugleich des Kirchengutes und einer unterthänigen, abhängigen Geiftlichfeit zu verfidhern, an Stelle der ehemaligen freien und von der Staatögewalt unab- hängigen. Er erblidt die Haupturſache de3 Gelingens der Reformation in ben Mangel der Eultur der nordeuropäiſchen Volksſtämme. Der Verſuch, im Altertfum neue griehiiche Religionen zu ftiften, fcheiterte wiederholt. Ob— gleih Männer wie Pythagoras, Plato, vielleiht Empedokles Eigenſchaften von Religionsftiftern befaßen, waren die Jndividualitäten zu verichiedenartig, als daß ihnen mit einer Durchſchnittsanweiſung auf Glauben und Hoffnung hätte geholfen werden können. Daß Luther's Reformation im Norden gelang, war dementiprechend ein Zeichen, daß die Cultur des Nordens hinter der Südeuropa's zurüdftand. Entweder gehorcdhte man blind, wie im fkandinavifchen Norden, der Lofung von oben, oder, wo der Umjchlag eine Gewiffensjadhe war, offenbarte diefe, wie wenig individualifirt die Bevölkerung war, wie eindartig in ihren geiftigen Bedürfniffen. Solchermaßen war auch urſprünglich die Belehrung des heidniſchen Alterthums nur wegen der reichlichen Vermiſchung von römischen Blut mit Barbarenblut gelungen, die ftattgefunden hatte. Die neue Lehre wurde von Barbaren und Sklaven den MWeltherrichern aufgezwungen.

Hier hat nun der Lefer Proben der Argumente, mit denen Niebfche jeine

Behauptung begründet, die Geſchichte als Geſchichte gäbe nicht das A und Deutſche Rundbihan. XVI, 7.

66 Deutſche Rundichan.

jtärkende Erziehungselement für die jungen Generationen ab, wie man glaubt: nur der, welcher da8 Leben fennen gelernt habe und zum Handeln gerüftet jei, brauche die Geſchichte und veritehe fie anzuwenden. Die Anderen drüde fie, made fie unfrucdhtbar, indem fie ihnen das Epigonengefühl mittheile und fie veranlafle, auf allen Gebieten dem Erfolg zu huldigen.

Nietzſche's Polemik in diefer Sache ift eine Polemik gegen jeden hiſtoriſchen Hptimismus, aber er wendet ſich energiich von dem gewöhnlichen Peſſimismus ab, der feiner Anfiht nad aus dem Verfall, aus entarteten oder geſchwächten Inſtincten, entipringt. Er ſchwärmt jugendlich für die fiegreihe Durchführung einer „tragiſchen“ Cultur, getragen von einem aufwachjenden Geſchlecht mit uner— ſchrockenem Sinn, in dem das griechiſche Altertum wiedergeboren werden könne. Er verwirft den Schopenhauer’ihen Peſſimismus, denn er verabjcheut früh jede Askeſe; aber er ſucht einen Peſſimismus der Gefundheit, der aus der Stärke, der überftrömenden Kraft Herftammt, und er glaubt ihn bei den Griechen zu finden. Er hat dieje feine Auffaffung in feiner gelehrten und tiefjinnigen Augendichrift: „Die Geburt der Tragödie oder Griechenthum und Peſſimismus“ entwickelt, in der er zwei neue Bezeichnungen „apolliniſch“ und „dionyſiſch“ ein- führte: Die beiden Kunftgottheiten der Griechen, Apollo und Dionyjos, deuten den Gegenſatz zwiſchen der bildenden Kunſt umd der Muſik an. Der erftere entſpricht dem Traum, der andere dem Rauſch. Im Traum traten die Götter: geftalten zuerft vor die Menjchen hin; der Traum ift die Welt des fchönen Scheins. Sehen wir dagegen in den tiefften Grund der Menjchen unter der Sphäre des Gedanfens und der Phantajie hinab, jo begegnen wir einer Welt von Grauen und Entzüden, dem Reid) des Dionyjos. Oben herrſcht Schönheit, Maß und Grenze, drunter aber wogt frei das Uebermaß der Natur in Luft und Qual. Bon einer jpäteren Entwidelungsftufe Nietzſche's betrachtet, offenbart fich das tiefere Motiv diejer forjchenden, jpürenden Verſenkung in das griechiiche Altertum. Schon auf jenem Zeitpunkt findet er in dem, was für Moral gilt, ein Verfleinerungsprinceip der Natur gegenüber, ſucht den principiellen Gegenjat davon und findet ihn in dem rein künſtleriſchen, vom Chriftenthum entfernteften Princip, das er das „dionyſiſche“ tauft.

Pſychologiſch gejehen, treten jchon hier die Grundzüge diejes Schriftftellers deutlich hervor. Was für eine Natur ift es, die mit einem fo wilden Haß das Philiſterthum bis hinauf zu David Strauß verfolgt? Eine Künftlernatur augen: iheinlih. Was für ein Schriftfteller ift e8, der mit jo tiefer Ueberzeugung vor den Gefahren der Hiftoriihen Bildung warnt? Ein Philolog augenjcheinlich, der fie an ſich ſelbſt erlebt Hat, fich jelbft davon bedroht gefühlt hat, Epigone zu werden, und nahe daran gewefen ift, den Hiftorifchen Erfolg zu verehren. Was für ein Wejen ift e8, das jo leidenſchaftlich Cultur als Geniecultus definirt? Gewiß fein Edermann-Naturell, aber ein Schwärmer, der anfangs willig war zu ge horchen, wo er nicht befehlen fonnte, dem bald aber fein eigener Herrſchertrieb flar wurde, und der früh begriff, daß die Menjchheit noch weit davon entfernt ift, über den alten Gegenjaß: gehorchen und befehlen, hinausgefommen zu fein. Napoleons Auftreten ift ihm, wie vielen Anderen, ein Beweis davon: die Freude, die Taufende ergriff, daR endlich wieder Einer gefommen war, ber zu befehlen verftand.

Ariftofratiicher Radicalismus. 67

Aber er ift nicht dazu angelangt, auf dem Gebiete der Moral Gehorfam zu predigen. Im Gegentheil, wie er veranlagt ift, leitet er die Schlaffheit und Niedrigkeit unferer modernen Moral davon ab, daß fie noch immer ala höchites Gebot Gehorjam jet, anjtatt der Fähigkeit, fich ſelbſt feine Moral zu jchreiben.

Die militärische Schule und die Theilnahme am Krieg haben ihn wahrſchein— lich in fich jelbft etwas Hartes und Männliches entdecen laffen, und ihm einen weitgehenden Abſcheu vor Weichlichkeit und Feminimus beigebracht. Er wendete fich mit Unwillen von der Mitleidsmoral in Schopenhauer's Philoſophie ab und ebenſo von dem Romantiſch-Katholiſchen in Wagner's Muſik, denen er früher beiden gehuldigt. Er ſah ein, daß er in ſeiner Phantaſie beide Meiſter nach ſeinen Bedürfniſſen umgebildet, und er verſtand recht wohl den Inſtinct der Selbfterhaltung, der ſich darin geltend gemacht hatte. Der ſtrebende Geiſt formt ſich die Helfer zurecht, deren er bedarf. So widmete er ſpäter ſein Buch: „Menjch- liches, Allzumenſchliches“, das zum Hundertjährigen Gedächtnißtage Voltaire's herausgegeben wurde, den „freien Geiftern” unter feinen Zeitgenoffen; ex träumte fi die Bundesgenoffen zu, die er im Leben noch nicht getroffen hatte.

Die ſchwere, jchmerzvolle Krankheit, die mit feinem zweiunddreißigſten Jahre beginnt und ihn für lange Zeiten zum Ginfiedler madt, löſt ihn von aller Romantik und befreit jeinen Geift von allen Banden der Pietät. Sie führt ihn weit weg vom Peſſimismus, kraft feines ftolgen Gedankens: „Ein Leidender hat fein Recht zum Peſſimismus.“ Diefe Krankheit macht ihn in ftrengem Sinne zum Philofophen. Sein Gedanke jchleicht Frageluftig auf verbotenen Wegen: dies gilt für einen Werth. Kann man ihn nicht umfehren? Dies wird für ein Gutes gehalten. Iſt es nicht eher ein Böſes? Iſt Gott nicht widerlegt? Aber kann man jagen, daß der Teufel es ift? Sind wir nicht Betrogene? Und betrogene Betrüger, Alle? ....

Und jo fteigt aus langer Kränklichkeit eine leidenſchaftliche Begierde nad Gefundheit, die Freude des Genejenden am Leben, am Licht, an Wärme, an Leichtigkeit und Freiheit des Geiftes, ar dem Ueberblick und den weiten Hori— zonten des Gedankens, am Schauen „neuer Morgenröthen“, an der Geftaltungs- fähigkeit, an der dichteriſchen Kraft empor. Und er tritt in das hohe Selbft- gefühl und den Entzüdungszuftand einer langen ununterbrochenen Production hinein.

II.

Es iſt weder möglich noch nothwendig, die ganze lange Reihe feiner Schriften hier durchzugehen. Um was e3 ſich für den handelt, der das Intereſſe auf einen noch wenig gelefenen Schriftfteller hinleiten will, das ift, feine eigenthümlichften Gedanken und Ausdrücde in Relief zu ſetzen, jo daß der Leſer ſich mit geringer Mühe eine Vorftellung über feine Art und Weife als Denker und Geift bilden kann. Die Arbeit wird in diefem Fall dadurch erſchwert, dat Nietzſche in Apho— rismen denkt, und dadurch erleichtert, daß er jedem Gedanken einen Hochdruck zu geben pflegt, der ihm eine paradorale Phyſiognomie verleiht.

Die engliiche Wohlfahrtsmoral hat in Deutſchland nicht angeſchlagen; unter den lebenden Dentern find wohl Eugen Dühring und Friedrich Pauljen ihre

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68 Deutfche Rundſchau.

hervorragenditen Vertreter. Eduard von Hartmann hat fih in feiner „PBhäno- menologie des fittlihen Bewußtſeins“ beftrebt, die Unmöglichkeit darzulegen, zu— gleich für den Gulturfortfchritt und für das Menfchenglüd zu arbeiten. Nietzſche findet neue Schwierigkeiten bei einer Unterſuchung des Begriff? Glück. Das Ziel der Wohlfahrtsmoral ift, den Menschen fo viel Luft und fo wenig Unluft wie möglich zu fchaffen. Aber wie, wenn Luft und Schmerz fo verknüpft find, daß Der, welcher jo viel Luft wie möglih haben will, aud eine entjprechende Summe Unluft mit in den Kauf nehmen muß? 63 heißt in Clärchens Lied: „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt.“ Wer weiß, ob das Lebtere nicht die Bedingung für das Erftere ift? Die Stoifer glaubten e3 und verlangten, um ber Qual zu entgehen, jo wenig Luft wie möglich vom Leben. Offenbar muß man daher auch in umferen Tagen dem Menſchen feine ftarken Freuden verfprechen, wenn man fie vor großen Leiden bewahren will.

Man fieht, Nietzſche jpielt die Frage auf das höchfte geiftige Gebiet hin— über, ohne Rüdficht darauf, daß da3 niedrigfte und verbreitetfte Unglüd: Hunger, körperliche Verkümmerung, überanftrengende, die Gefundheit zerftörende Arbeit feinen Erſatz in heftigen Freuden bietet. Selbſt wenn aller Genuß theuer erfauft wird, ift damit noch nicht gefagt, daß jegliche Dual durch Heftigen Genuß unterbrochen und aufgewogen wird.

Sin Uebereinftimmung mit feiner ariſtokratiſchen Geiftesrihtung greift er demnächft die Bentham’jche Formel: „Das größtmögliche Glüd für die größt- mögliche Anzahl“ an. Das Ideal war urſprünglich, das Glück aller Menjchen zu ſchaffen. Da ſich das nicht thun läßt, erhält das Princip die angeführte Begrenzung. Aber warım Glüd für die größte Anzahl? man könnte fi denken für die Beten, die Edelften, die Genialjten, und es muß erlaubt fein, zu fragen, ob dürftiger MWohlftand und dürftiges Wohljein wirklich jener Ungleichheit der Lebensbedingungen vorzuziehen find, deren Stachel die Cultur zu ftetigem Steigen zwingt.

Nietzſche mag hierin Recht haben, ohne deshalb mit dieſem Angriff Ent— ſcheidendes gegen das Wohlfahrtsprincip in der Moral vorgebracht zu Haben. Er faßt die Begriffe Luſt und Glück zu eng. Wenn der Culturfortſchritt auch manchmal auf ſeiner Bahn das Glück der Individuen vernichtet, ſo zielt es doch in letzter Inſtanz darauf, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. Das ſogenannte Glück des Wilden iſt nicht nur nicht das höchſte, ſondern kein echtes. Man nenne den höheren Zuſtand Glück, oder man gebe ihm einen anderen Namen: das Entſcheidende iſt, daß die höhere Empfänglichkeit auch für den Schmerz kein zu theurer Preis iſt für die Steigerung des ganzen Lebensinhalts.

Und ebenſo wenig ſtreitet die Anſicht Nietzſche's von der großen Perſönlichkeit als geſchichtlichen Zweck principiell gegen das Moralprincip der Wohlfahrt. Ich huldige zwar durchaus nicht der Betrachtungsweiſe, nach welcher die große Perſönlichkeit nur als Mittel zum Zweck oder als Diener der Menſchheit auf— gefaßt wird. Der große Menſch iſt inſofern Selbſtzweck, als er (wie Leonardo oder Goethe) vor Allem ſich ſelbſt befriedigen will und muß. Aber nicht deſto weniger bringt er eben dadurch etwas hervor, das auf irgend eine Weiſe un— zähligen Geſchlechtern zu Gute kommt.

Ariftofratifcher Rabicaliamus. 69

Gewichtiger ift Nietzſche's Polemik gegen die Entſagungsmoral. Es wird Selbſtloſigkeit gelehrt. Moraliſch ſein, heißt uneigennützig ſein. Es iſt gut, ſelbſtlos zu ſein, heißt es. Aber was heißt das: gut? gut für wen? Nicht für den ſich ſelbſt Aufopfernden, aber für ſeinen Nächſten. Wer die Tugend der Selbſt— loſigkeit preiſt, preiſt Etwas, was der Geſellſchaft zu Gute kommt, aber dem Einzelnen zum Schaden gereicht. Und der Nächſte, der uneigennützig geliebt werden will, iſt ſelbſt nicht uneigennützig. Der Grundwiderſpruch in dieſer Moral iſt, daß ſie ein Verzichtleiſten auf das Wohl des Ich fordert und empfiehlt, welches zum Beſten eines anderen Ichs ſtattfindet.

Der weſentliche und unſchätzbare Werth aller Moral beſteht für Nietzſche urſprünglich nur darin, daß fie ein langwieriger Zwang iſt. Wie die Sprache durch den metriishen Zwang Kraft und Freiheit gewinnt, wie Alles, was in der bildenden Kunſt, dev Muſik, dem Tanz u. ſ. w. von Freiheit und Feinheit fi findet, kraft willfürlicher Gefege geworben ift, jo gelangt auch die Menjchen- natur nur duch Zwang zur Entwidlung. Damit wird der Natur nicht Gewalt angethan; das ift jelbjt Natur.

Das MWejentliche ift, daß gehorcht werde, lange und in einer Richtung. Du folft geboren, irgendwem und lange, ſonſt gehft du zu Grunde, das fcheint das moraliſche Gebot der Natur zu fein, das zwar nicht kategoriſch ift (tie Sant meinte), auch nicht ſich an den Einzelnen wendet (die Natur bekümmert fih nit um den Einzelnen), ſondern das an Völker, Stände, Zeitalter, Raffen, ja an die Menfchheit gerichtet zu fein fcheint. Alle Moral dagegen, die fih an den Einzelnen zu feinem eigenen Beften, um feines Wohlergehen3 willen wendet, ift, aus diefem Gefichtspunft betrachtet, nichts Anderes als Klugheitsregel, Recept gegen Leidenfchaften, und al diefe Moral ift in ihrer Form ungereimt, da fie fi an Alle wendet und verallgemeinert, was fich nicht verallgemeinern läßt. Kant gab mit feinem fategorifchen Imperativ eine Richtſchnur. Aber diefe Richt- Schnur ift in unferen Händen geborſten. Es nübt nichts, uns zu jagen: „Handle, tie Andere in diefem Falle handeln ſollten.“ Denn wir wiffen, daß es Feine gleichen Handlungen gibt oder geben kann, fondern, daß jede Handlung einzig in ihrer Art ift, jo daß alle Vorichriften fi) nur auf die grobe Außenfeite der Handlung beziehen.

Aber die Stimme und da3 Urtheil des Gewiffens? Die Schwierigkeit ift nur, daß wir ein Getoiffen hinter unferem Gewiſſen haben, ein intellectuelles hinter dem moralifhen. Wir haben entdedt, daß das Urtheil von N. N.'s Gewiſſen eine Vorgefhichte in feinen Trieben, Sympathien, Antipathien, Erfahrungen, oder Mangel an Erfahrungen hat. Wir fehen vecht wohl ein, daß unfere An— fihten über das Rechte und Gute, unfere moralischen WertHbeftimmungen Fräftige Hebel find, wo es fih um Thaten Handelt; aber wir müſſen damit anfangen, unsere Anfichten zu läutern und uns jelbftändig neue Werthtafeln zu jchaffen.

Und was das Moralpredigen für Alle angeht, jo ift es ganz ebenſo leer wie das moralifche Geklatſch der gejelligen Perfönlichkeiten über einander. Kiegiche gibt den Morallehrern den quten Rath, daß fie, anftatt fich mit der Erziehung des Menfchengeichlehts zu bemühen, lieber wie die Pädagogen im fiebzehnten und adhtzehnten Jahrhundert thun follten, die ihre ganze Kraft darauf

70 Deutſche Rundſchau.

concentrirten, einen einzelnen Menſchen zu erziehen. Aber in der Regel ſind die moraliſchen Schreihälſe ſelbſt ganz unerzogene Menſchen und ihre Kinder erheben ſich ſelten über die moraliſche Mittelmäßigkeit.

Wer da fühlt, daß er in ſeinem innerſten Weſen mit Anderen außer Ver— gleich iſt, der will ſein eigener Geſetzgeber ſein. Denn eins iſt vonnöthen: ſeinem Charakter Stil geben. Dieſe Kunſt wird von dem geübt, der mit Blick für die ſtarken und ſchwachen Seiten ſeiner Natur dies und jenes aus ſeinem Weſen entfernt, demnächſt durch tägliche Uebung und erkämpfte Gewohnheit Neues hinzufügt, das ihm zur zweiten Natur wird, ſich alſo einem Zwang unterwirft, um nad und nach fein Weſen unter fein eigenes Geſetz zu beugen. Nur jo er— langt ein Menſch Zufriedenheit mit fich jelbft, und nur jo wird er erträglich für Andere. Die Unzufriedenen und Mißglückten rächen fi nämlich in der Regel immer an Anderen. Selbſt jaugen fie Gift aus Allem, aus ihren ſchwachen Fähigkeiten, twie aus ihren geringen Mitteln, und leben mit einem beftändigen Durft nad) Rache gegen Die, in deren Wejen fie Harmonie ahnen. Jmmer führen folche Menfchen die Moralworte im Munde, die ganze Janiticharenmufit: Sitt- lichkeit, Ernft, Keujchheit, die Forderungen des deal; immer raft in ihrem Herzen der Neid gegen Die, welche Gleichgewicht erlangt haben und deswegen genießen können.

Jahrtauſende hindurch war Sittlichfeit Gehorfam gegen die herrjchende Sitte, Ehrfurcht vor den ererbten Gewohnheiten. Der freie, vriginale Menſch war unfittlich, weil er mit der leberlieferung brach, vor der die Anderen eine abergläubiiche Furcht hegten. Häufig ſah er ſich jelbft auch dafür an und wurde jelbft von dem Schauder ergriffen, den ex erweckte. Unbewußt wurde dann eine folhe Voltsmoral der Gemwohnheitsfittlichkeit von allen Denen ausgearbeitet, die zum Stamm gehörten, indem man bejtändig neue Beifpiele und Beweije dafür fand, daß das angebliche Verhältniß zwiſchen Schuld und Strafe vorhanden war: Führt man fi jo und fo auf, jo geht es Einem jchleht. Da es Einem nun häufig fchlecht geht, wurde die Behauptung nie entkräftet und die Volksmoral immer aufs Neue beftätigt.

Sitte und Gebrauch repräfentirten die Erfahrungen früherer Gefchlechter hinfichtlich des vermeintlih Nützlichen oder Schädlichen; aber das Gefühl für das Sittliche fteht in feinem Verhältniß zu diefen Erfahrungen als folchen, fondern zu ihrem Alter, ihrer Ehrwürdigfeit und ihrer daraus folgenden Un— beftreitbarfeit.

In dem Kriegäzuftand, in dem ein von allen Seiten bedrohter Stamm im Altertfum lebte, war unter der Herrſchaft der ftrengften Gemwohnheitsfittlichkeit fein Genuß größer als Graufamteit. Grauſamkeit gehört zu den älteften Feſt— und Siegeöfreuden dev Menſchheit. Dian dachte ich auch die Götter ergößt und feftlich geftimmt, wenn man ihnen das Schaufpiel von Graufamkeiten bot, und jo jchlich Fich die Vorftellung in die Welt ein, daß auch freiwillige Selbit- plagerei, Kafteiung, Askeſe von großem Werth feien, nicht als Zucht, ſondern al ein jüßer Geruch in der Naſe des Herrn.

Das Chriſtenthum Hat als Religion des Alterthums ununterbrochen Seelen- qual gepredigt und angewendet. Man denke fich den Zuftand eines Chriften des

Ariftokratifcher Radicalismus. 71

Mittelalterd, der vorausſetzt, daß er der ewigen Qual nicht mehr entrinnen fan. Gros und Aphrodite waren in jeinen Augen Höllenmächte und ber, Tod Entjeßen.

Der Graujamfeitämoral ift die Mitleidsmoral gefolgt. Das Mitleid wird al3 unegoiftiich gepriejen, jo 3. B. ganz beſonders von Schopenhauer.

Schon Eduard von Hartmann Hat in feinem gedanfenreichen Werfe „Die Phänomenologie des ſittlichen Bewußtſeins“ (217—240) die Unmöglichkeit nach— gewieſen, im Mitgefühl die wichtigfte moralifche Triebfeder zu ſehen, geichtveige denn die einzige, wie Schopenhauer will. Nietzſche greift die Mitleidsmoral aus anderen Gefichtäpunften an. Er beweift, daß jie nichts weniger als unegoiſtiſch ift. Das Unglück des Anderen peinigt uns, kränkt uns, ftempelt uns vielleicht als feige, wenn wir nicht Hülfe bringen. Oder es liegt in ihr ein Fingerzeig einer möglichen Gefahr für uns felbft, wir fühlen außerdem Luft, wenn wir unjeren eigenen Zuftand mit dem des Unglüclichen vergleichen, und Luft, wenn wir als die Mächtigen, die Helfenden auftreten können. Die Hülfe, die wir bringen, wird bon uns ſelbſt als ein Glück empfunden, oder entreißt und vielleicht nur der Langeweile.

Das Mitleid als wirkliches Mitleiden wäre eine Schwäche, ja ein Unglück, denn e3 würde die Leiden in der Welt vermehren. Der, welcher fih im Exnft dem Mitleid mit der Qual, welche ihn umgibt, ergeben wollte, würde einfach dadurch zu Grunde gehen.

Unter den Wilden hat man ein Grauen davor, Mitleid zu erwecken. Der, welcher es thut, gilt ala verächtlich. Mitleid mit Einem zu fühlen, bedeutet im Gedankfengang ber Wilden, daß man ihn veradhtet. Aber man findet kein Ver— gnügen daran, ein verächtliches Geſchöpf leiden zu jehen. Dagegen einen Tyeind leiden zu jehen, der unter Qualen feinen Stolz nicht aufgibt, das ift ein Genuß; das erwedt Bewunderung.

Man predigt gern die Mitleidsmoral unter der Formel: „Liebe deinen Nächſten!“

Nietzſche klammert ſich im Intereſſe ſeines Angriffs an das Wort der Nächfte. Er betont nicht bloß, was Kierkegaard „eine teleologiſche Suspenfion des Ethi— ſchen“ nannte, ſondern er fühlt ſich dadurch gereizt, daß das wahre Weſen des Moraliſchen darin Liegen follte, daß wir ben Bli auf die nächften Folgen unjerer Handlungen richteten und die zur Richtſchuur nähmen. Dem Engen, Spießbürgerlichen in diefer Moral ftellt ex diejenige gegenüber, die über die nächften Folgen wegſieht und fogar durch Mittel, die dem Nächften Qual verurjachen, ferneren Zielen zuftrebt, 3. B. Einfiht fürdert, obgleich dieſelbe Sorge und Zweifel und böfe Leidenſchaften beim Nächſten erweckt. Wir brauchen deswegen nicht ohne Mitleid zu fein, aber wir können unfer Mitleid um des Ziels willen gefangen nehmen.

Und jo ungereimt es ift, das Mitleid als unegoiftiich zu bezeichnen und es heilig zu ſprechen, jo ungereimt ift e8, eine Reihe Handlungen in die Gewalt des böfen Gewiffens zu geben, bloß weil fie als egoiftiich gebrandmarkt find, Und was anders ift in leßterer Zeit geichehen, al dat man den Selbftverleug-

72 Deutſche Rundſchau.

nungs- und Selbſtaufopferungsinſtinct und Alles, was unegoiftifch iſt, verherr- licht hat, als wären das die wahren moraliſchen Werthe.

Die engliſchen Moraliſten, die zur Zeit Europa beherrſchen, erklären den Urſprung der Moral auf folgende Weiſe: unegoiſtiſche Handlungen wurden ur— ſprünglich gute von Denen genannt, denen ſie erwieſen wurden und zum Nutzen gereichten; ſpäter hat man die urſprüngliche Urſache, weshalb ſie gelobt wurden, vergeſſen und die unegoiſtiſchen Handlungen an und für ſich als etwas Gutes betrachtet.

Es war nach Nietzſche's eigener Ausſage die Schrift eines der engliſchen Richtung angehörenden deutſchen Schriftſtellers: „Der Urſprung der moraliſchen Empfindungen“ (Chemnitz 1877) von Dr. Paul Rée, die ihn zu einem ſo leiden— ſchaftlichen Widerſpruch Punkt für Punkt aufſtachelte, daß er durch dieſe Schrift den Stoß empfing, ſeine eigenen Gedanken darüber zu klären und zu entwickeln.

Was indeſſen verwundert, iſt Folgendes: mißvergnügt mit jener erſten Schrift arbeitete Nee ein anderes und weit bedeutenderes Buch über dasſelbe Thema aus: „Die Entftehung des Gewiſſens“ (Berlin 1885), in dem der Stand- punkt, an welchem Nietzſche Nergerniß nahm, verlaffen ift und mehrere der Grund- gedanfen, die diefer gegen Rée geltend madt, mit einer Menge Beweisftellen aus verfchiedenen Schriftftellern und Völkern angeführt werden.

Die beiden Philofophen haben einander gefannt und perfönlich mit einander verkehrt. Es ift mir aber unmöglich zu ſehen, wer von den Beiden den Anderen beeinflußt hat, und warum Nietzſche 1887 feinen Unwillen gegen Rée's 1877 ausgeiprochene Anſchauungen berührt, ohne zu erwähnen, wie nahe diejer jeiner Auffaffung in dem ein paar Jahre vor feinem eigenen herausgegebenen Wert geftanden,

Schon Rée hat eine Menge Beifpiele dafür angeführt, daß die verfchiedenften alten Völker feine andere moraliiche Glafjification der Menfchen kannten, als die in Vornehme und Geringe, Mächtige und Schwache, jo daß die ältefte Be— deutung von gut ſowohl in Griechenland wie auf Island vornehm, mächtig, reich war.

Nietzſche baut jeine ganze Lehre auf diefer Grundlage auf. Sein Gedanfen: gang ift folgender:

Die Bezeihnung „gut“ rührt nicht von dem her, dem Güte erwieſen wurde. Die ältefte Werthbeftimmung war folgende: Die Vornehmen, Mächtigen, Hoch: geftellten, Hochgefinnten hielten fich jelbft und ihr Thun und Laffen für „gut“ erften Ranges im Gegenfat zu allen Niedrigen und Niedriggelinnten. Vornehm, edel im Sinne de3 Standesgefühls einer höheren Kafte ift der Grund» begriff, woraus „gut“ fi als ſeeliſch Hochgeboren entwickelt. Die Niedrig: jtehenden werben als „ſchlecht“ (nicht als böje) bezeichnet. Schlecht erhält erft ſpät jeine unbedingt hevabjegende Bedeutung. E3 ift von Seiten des gemeinen Mannes ein lobendes Wort: jchlecht und recht.

Die herrſchende Kafte nennt die ihr Angehörigen zuweilen bloß die Mäch— tigen, zuweilen die Wahrhaftigen; jo der griechiſche Adel, deffen Organ Theognis ift. Bei ihm hat ſchön, gut, edel immer die Bedeutung adlig. Die vornehme

Ariftofratifcher Rabicaliamus. 73

Moral: WertHbeftimmung geht von einem triumphirenden Bejahen aus, wie wir e3 bei den homerifchen Helden finden: wir VBornehmen, Schönen, Tapfern wir find die Guten, die von den Göttern Geliebten. E3 find ftarfe, mit Kraft geladene Menſchen, deren Luft e8 ift, zu handeln und ftreiten, für die da3 Glüd mit anderen Worten etwas Aktives ift.

Es war jelbftverjtändlich unvermeidlich, daß diefe Vornehmen die gemeine Schar verfannten und veradhteten , die von ihnen beherricht wurde. Doc jpürt man in der Regel bei ihnen Beflagen der unterjochten Kafte von Arbeitsſklaven und Laftthieren, eine Nahficht mit Denen, für die das Glüd ein Ausruhen, ein Sabbath, etwas Paſſives ift.

In den Niedrigftchenden lebt nothwendigerweiſe umgekehrt ein durch Haß und Neid entjtelltes Bild der Herrenkafte. In diefer Entftehung ift Rache!).

Im Gegenjaß zu der ariftofratiichen Werthſchätzung (qut = vornehm, ſchön, glücklich, gottbegnadet) formulirt fih die Sklavenmoral folgendermaßen: bie Elenden allein find die „Guten“; die, welche leiden und beichwert find, die Kranken, die Häßlichen, die find die einzigen Frommen. Dagegen ihr, ihr Vornehmen und Reichen, ihr ſeid in alle Ewigkeit die „Böfen“, die Graufamen, die Unerjättlichen, die Gottlofen und nach dem Tode die Verdammten. Während die dornehme Moral dev Ausſchlag des großen Selbſtgefühls war, ein beftändiges Bejahen, ift die Sklavenmoral ein beftändiges Nein gegen etwas Anderes, ein „Du follſt nicht“, eine Negation.

Dem gut ſchlecht (ſchlecht werthlos) der vernefimen Werthſchätzung ent- fpricht die Gegenüberftellung der Sklavenmoral: gut böfe. Und wer find die Böfen für diefe Moral der Unterdrüdten? Eben diejelben, die für die andere Moral die Guten waren.

Man leje die isländiſchen Sagen, vertiefe fi in die Moral der alten Nord» länder und ftelle ihr die Klagen über die Unthaten der Wikinger gegenüber. Und man wird jehen, daß dieje Ariftofraten, deren Sittlichkeit in vielen Punkten hoch ftand, ihren Feinden gegenüber nicht beffer waren, als losgelaſſene Raub— thiere. Sie jchlugen nieder auf die Bewohner der riftlichen Küftenländer, wie Adler auf Lämmer. Man kann jagen, fie folgten einem Adlerideal. Aber man wird fi dann auch nicht darüber verwundern, daß die, welche diejen fürchter— lichen Uebergriffen ausgeſetzt waren, fi um ein ganz entgegengefeßtes moralijches Ideal jcharten, nämlich das des Lammes.

Im dritten Kapitel feiner Nüblichkeitsmoral verſucht Stuart Mill zu be- weifen, wie das Gerechtigfeitsgefühl fi aus der thieriichen Begierde, einen Schaden oder einen Verluſt zu vergelten, entwidelt hat. In einer Abhandlung

1) Nietzſche unterftügt feine Hypotheſe mit einigen Giymologien. Das lateinifche malus, neben das er uelus ſchwarz ftellt, geht auf die vorarischen Bewohner von Italiens Erde im Gegenfaß zu ber blonden, ariichen Erobererraſſe. Im Gälifchen bedeutet fin (Mdelamann, Fingal) urfprünglich Blondkopf, fpäter der Gute, Edle, Reine im Gegenfap zu den fchwarzhaarigen Dreinwohnern. Er faßt bonus als Krieger auf, von einem älteren duonus (bellum duellum duenlum). Alſo bonus, der Mann des Kriegs, des Zwifte. Virtus ift ja zuerft Tapferkeit, fpäter Zugend. Seine Etymologie gut von gothiich ift unrichtig. Got ift Hengſt, Mann.

74 Deutſche Rundſchau.

über „die transcendente Befriedigung des Rachegefühls“ (Anhang zur erſten Ausgabe vom „Werth des Lebens“) hat Eugen Dühring nad ihm verfucht, Die ganze Strafrechtslchre auf dem Wiedervergeltungstrieb zu begründen. In feiner „Phänomenologie“ hat Ed. von Hartmann nachgewiefen, wie dieſer Trieb, ftreng genommen, immer nur ein neues Leiden, eine neue Kränkung Herbeiführt, um Genugthuung für die ältere zu gewinnen, jo daß das Vergeltungsprincip nie zu einem fittlien Princip werden Fann.

Nietzſche macht einen gewaltfamen, leidenſchaftlichen Verſuch, die Haupt- fumme faljcher moderner Moral nicht auf den Wiedervergeltungstrieb , oder das Rachegefühl im Allgemeinen, fondern auf eine engere Form derjelben: Groll, Neid, „Rancune“ zurücdzuführen. Für ihn ift, was er Sklavenmoral nennt, die reine Neidmoral. Und dieſe Neidmoral hat alle Ideale umgeprägt: Ohnmacht, die nicht vergilt, wurde Güte; ängftliche Niedrigkeit Demuth; Unterwerfung unter den, welchen man fürchtet, wurde Gehorſam; Sichnichträchenkönnen wurde Sichnichträchenwollen, wurde Vergebung, wurde Liebe zu den Feinden. Die Er- bärmlichkeit wurde eine Auszeichnung, eine Diftinction; Gott züchtigt, wen er liebt. Oder fie wurde eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schule, noch mehr: Etwas, da3 einmal mit Zinſen aufgetvogen, als Seligkeit zurücdbezahlt wird. Was diefen Demüthigen auf Erden zu lieben blieb, waren ihre Brüder und Schweſtern im Haß, die fie ihre Brüder und Schweitern in der Liebe nannten. Den von ihnen erwarteten, fommenden Zuftand nannten fie ein Kommen ihres Reiches, des Reiches Gottes. Worauf fie hofften, dad war nicht die Süßigkeit der Rache, jondern der Sieg der Gerechtigkeit.

Wenn Nietzſche die Abficht gehabt hat, mit diefer Schilderung das Hifto- tische ChriftentHum zu treffen, jo hat er wie Jeder jehen kann eine Kari— fatur im Geift und Stil des achtzehnten Jahrhunderts geliefert. Aber daß jeine Beichreibung einen gewillen Typus der Apoftel der Neidmoral trifft, läßt ſich nicht leugnen, und felten ift all der Selbftbetrug, der fich unter einer Moral- verfündigung bergen kann, mit größerer Energie entjchleiert worden. (Dan vergleiche: „Senjeit3 von Gut und Böſe“, „Borfpiel zu einer Philojophie der Zukunft“ und „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitichrift.”)

IV.

Eine Definition des Menjchen twürde für Nietzſche die folgende fein: Der Menſch ift ein Thier, da3 Gelübde geben und halten kann.

Er erblickt den eigentlichen Adel de3 Menſchen darin, daß er etwas ver— iprechen,, für fich jelbft einftehen, eine Verantwortung übernehmen Tann da der Menſch mit der Herrfchaft über fich jelbft, welche dieſes Verhältnig vorausjegt, auch Herrichaft über die äußeren Umftände und die übrigen Gejchöpfe erlangt, deren Wille nicht fo anhaltend ift.

Das Bewußtjein jeiner Verantwortlichkeit nennt der ſouveräne Menſch fein Gewiſſen.

Was iſt nun die Vorgeſchichte dieſer Verantwortlichkeit, dieſes Gewiſſens? Sie iſt lang und blutig. Durch fürchterliche Mittel iſt im Laufe der Geſchichte ein Gedächtniß für das einmal ſchweigend oder laut Verſprochene oder Gewollte

Ariftofratifcher Radicalismus. 75

aufgezüchtet worden. Yahrtaufende hindurch wurde der Menſch in die Zwangs— jade der Gewohnheitäfittlichkeit gefchnürt und duch Strafen, wie Steinigung, Rädern oder Verbrennen, durch lebendig Begrabenwerden, durch Ertränfen in einem Saft oder mit einem Stein am Halfe, durch Zerriffentwerden von vier Pferden, durch Peitſchen, Schinden, Brandmarfen dur) alle dieſe Mittel wurde dem vergehlihen Thier Menſch ein langes Gedächtniß für das Ver— fprochene eingebrannt gegen den Erjaß, die Vortheile zu genießen, die mit dem Gejellichaftsverband verknüpft find.

Nach Nietzſche's Hypotheje entfteht das Schuldbewußtſein einfach als Be— mwußtjein einer Schuld. Das Gontractverhältniß zwischen Gläubiger und Schuldner, das jo alt ift wie die älteften Grundformen des menfchlichen Ver— fehr3 in Kauf, Verkauf, Taufch u. ſ. w., ift das Verhältniß, das hier zu Grunde liegt. Der Schuldner verjpriht (um Vertrauen auf fein Verfprechen der Zurüd- zahlung einzuflößen) irgend Etwas, was er befikt: feine Freiheit, fein Weib, fein Leben; oder er gibt dem Gläubiger das Recht, im Verhältniß zur Schuld ein größeres oder kleineres Stück Fleiſch aus feinem Körper zu jchneiden (das Zwölftafelgefeß; no) im „Kaufmann von Venedig“).

Die Logik Hierin, die uns ziemlich fremd geworden, ift folgende: als Erſatz des Verluſtes wird dem Gläubiger eine Art Wolluftgefühl zugeftanden, dasjenige, welches darin befteht, jeine Macht an dem Machtloſen auszuüben.

Der Leſer kann bei Rée (angef. Schrift ©. 13 u. ſ. w.) die Beweiſe für Niebiche'3 Behauptung finden, daß die Auffaffung der Menjchheit Kahrtaufende hindurch geweſen ift: Andere leiden jehen, thue wohl; aber Anderen Leiden zu— fügen, das ſei ein Feſt, während defjen der Glüdliche von Machtgefühl jchwelle. Man kann dort auch die Beweife dafür finden, daB die Triebe zum Mitleid, zur Billigkeit, zur Milde, die fpäter als Tugenden verherrlicht wurden, urjprüng- lich faft überall als moraliſch werthlos, ja als Schwachheitsſymptome betrachtet worden find.

In Kauf und Verkauf und Allem, was ſeeliſch dazu gehört und älter ala jede Geſellſchaftsordnung ift, Liegt nach Nietzſche's Auffaffung der Keim von Er» jat, Ausgleihung, Recht, Pflicht. Der Menſch ift früh darauf ſtolz geweſen, ein Werthe abmeijendes Weſen zu jein. Einer der früheften Gemeingedanfen war der: Jedes Ding hat feinen Preis. Und der Gedanke: Alles kann abgezahlt werden, war die ältefte und naivſte Richtſchnur der Gerechtigkeit.

Nun ſteht die ganze Gejellichaft, wie fie fih nad) und nad) entwidelt Hat, in demjelben Verhältniß zu ihren Mitgliedern, twie der Gläubiger zu dem Schuldner. Die Geſellſchaft beſchützt ihre Mitglieder; fie find vor dem friedloſen Zuftande gefichert, wenn fie ihre Verpflichtungen gegen fie nicht brechen. Der, welcher feine Zuſage bricht, der Verbrecher, wird dem vogelfreien Zuftande zurückgegeben, der den Ausſchluß von der Geſellſchaft mit fi führt.

Da Nietzſche mit feinem ausſchließlich pſychologiſchen Intereſſe allen ge- Iehrten Apparat liegen läßt, können feine Behauptungen nicht direct controlirt werden. Man findet bei Rée in feinen Paragraphen über Rachluſt und Ge— rechtigkeitägefühl und in dem Abjchnitt über das Abkaufen der Rache, das Aus— gleichen durch Bußen, die hiftoriichen Data gefammelt.

76 Deutſche Rundſchau.

Andere Denker als Nietzſche (ſo E. von Hartmann und Rée) haben die Auffaſſung beſtritten, daß die Gerechtigkeitsider aus der Rachſucht entſtehe, und Nietzſche hat kaum ein neues, überzeugendes Argument zu Tage gefördert; aber das für ihn als Schriftſteller Eigenthümliche iſt das Uebermaß perſönlicher Leidenſchaft, womit er gegen dieſen Gedanken proteſtirt, augenſcheinlich aus dem Grunde, daß derſelbe dem modernen, demokratiſchen Gedankengange geläufig iſt.

In vielen modernen Forderungen von Gerechtigkeit klingt ein Ton plebe— jiſchen Grolls und Neides mit. Unwillkürlich hat mancher moderne Gelehrte von bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Abſtammung etwas Größeres und Werth— volleres als vernünftig war, in den Rückſchlagsaffecten geſehen, die dem lange Unterdrückten eigenthümlich ſind, wie Haß, Groll, Neid, Rachſucht.

Nietzſche beſchäftigt ſich nicht einen Augenblick mit dem Zuſtande, in dem die Rache als einziges Strafrecht fungirt; denn die Blutrache iſt ja kein Ergebniß von Sklavenhaß gegen den Herrn, ſondern von Ehrbegriffen unter Ebenbürtigen. Er verweilt ausſchließlich bei dem Gegenſatz zwiſchen der herrſchenden und der unterworfenen Kaſte und nährt eine ſtets aufs Neue hervorbrechende Erbitte— rung gegen Theorien, welche die unter den Mitlebenden, die mit dem Fort— ſchritt ſympathiſiren, nachſichtig gegen die plebejiſchen Inſtincte und ftatt deſſen mißtrauiſch oder feindlich geſinnt gegen die Herrſchergeiſter gemacht haben. Seine rein perſönliche Eigenthümlichkeit, das Unphiloſophiſche und Temperamentbeſtimmte an ihm, verräth ſich indeſſen in dem Zuge, daß er, der nur Haß und Verachtung für die unterdrückte Kaſte oder Raſſe, für ihre „Rancune“ und die aus einge— klemmtem Neid entſpringende Sklavenmoral hat, in der Machtfreude der herrſchen— den Kaſte förmlich ſchwelgt, die Atmoſphäre von Geſundheit, Freiheit, Offen⸗ heit und Wahrhaftigkeit, in der ſie lebt, nicht genug preiſen kann. Ihre Ueber— griffe entſchuldigt oder vertheidigt er. Das Bild, das fie ſich von der Sklaven— kaſte macht, findet er bei Weitem nicht ſo falſch, wie dasjenige, das dieſe ſich von der Herrenkaſte bildet.

Auch nit von wirtlichem Unrecht, das diefe Kafte begangen, kann für ihn im Exnfte die Rede fein. Denn an und für fich gibt e8 weder Recht noch Unrecht. Un und für fich ift ein Schadenzufügen, ein Vergewaltigen, Ausnuben, Bernichten fein Unrecht, kann kein Unrecht fein, da das Leben in feinem Wejen, in feinen Grundfunctionen nicht al3 lleberwältigen, Ausnutzen, Vernichten ift. Rechts— zuftände können nie etwas Anderes al3 Ausnahmezuftände fein, nämli ala Einſchränkung der eigentlichen Lebensbegierde, deren Ziel Macht ift.

Nietzſche erjeht den Echopenhauer’ihen „Willen zum Leben“ und den Darwin’shen „Kampf ums Dajein“ mit dem Ausdruck „Wille zur Mad“. Nicht um das Leben, das bloße Leben wird nad feiner Auffaffung gekämpft, fondern um die Macht. Und er hat viele wenig treffende Worte darüber, was für Heine und ärmliche Verhältniffe die Engländer vor Augen gehabt haben müſſen, die den Begriff „struggle for life“ mit feiner Genügjamteit aufftellten. Es kommt ihm vor, als hätten fie fi) eine Welt gedacht, in welcher Jeder froh ift, wenn er nur das Leben friften kann. Aber dag Leben ift ja nur der Minimumausdrud, An ſich fordert das Leben nicht bloß Selbit- bewahrung, jondern Selbftvermehrung, und ſolchermaßen ift es gerade „Wille zur

Ariftofratifcher Radicalismus. 177

Macht“. Es Ieuchtet übrigens ein, daß fein Grundunterſchied zwiſchen dem neuen und dem alten Kunſtwort vorhanden ift; denn der Kampf ums Dajein führt nothwendiger Weile den Kampf der Mächte und den Kampf um die Macht mit ſich. Nun ift eine Rechtsordnung, von diefem Geſichtspunkte gejehen, ein Mittel im Kampf der Mächte. Als fouverän, als Mittel gegen allen Kampf überhaupt gedacht, wäre fie ein lebensfeindliches, ein die Zukunft und den Fort— fchritt des Menſchen niederbrechendes Princip.

Etwas Aehnliches meinte ſchon Laffalle, al3 er den Ausſpruch that, der Rechtsſtandpunkt fei ein jchlechter Standpunkt im Leben der Vöolker Das für Niebiche Bezeichnende ift die Freude über den Kampf als foldhen im Gegenfaß zur Betrachtungdiweije de modernen Humanismus. Für Nieiche mißt fich die Größe eines Fortjchritt3 daran, wieviel ihm geopfert werden muß. Die Hygieine, die das Leben in Millionen ſchwacher und unnützer Weſen aufrecht erhält, die eher fterben jollten, iſt für ihn fein wirklicher Fortſchritt. Ein Durchſchnitts— glüd der Mittelmäßigfeit, da3 der größtmöglichen Anzahl ber elenden Gejchöpfe gefichert würde, die wir heutzutage Menſchen nennen, wäre für ihn fein wirt: licher Fortichritt. Aber für ihn, wie für Menan, würde die Erziehung von einer ftärferen, höheren Menfchenart, als die, welche und umgibt („der Uebermenſch“), jelbft wenn fie nur dadurch erreicht werden könnte, daß Maſſen von Menichen, wie wir fie kennen, hingeopfert werden müßten, ein großer und wirklicher Fort— ſchritt fein. Nietzſche's mit vollem Ernft ausgeſprochene Zufunftsphantafien über die Erziehung des Uebermenſchen und deſſen Ergreifen der Macht auf Erden, haben eine ſolche Achnlichkeit mit Renan’3 halb ſcherzend, halb ſteptiſch ent- mworfenen Träumereien don einem neuen Asgaard, einer wirklichen Fabrik von Ajen (Dialogues phil. 117), daß man kaum an einer Beeinfluffung zweifeln fann. Nur, daß Renan unter dem übertwältigenden Eindrud der Commune in Paris in Dialogform jo jchrieb, daß Pro und Contra zu Worte kommen, während bei Nieiche der leichte Traum fich zu einer dogmatifchen Ueberzeugung fryftallifirt hat. Es verwundert und verleßt daher ein wenig, daß Nietzſche nie andere Aeußerungen als antipathifche über Nenan vorbringt. Er berührt kaum feine geiftesariftofratifche Tendenz, aber er verabjcheut die Ehrfurcht vor dem Evan- gelium der Demüthigen, die Nenan überall an den Zag legt und die freilich in einem gewiflen Streit mit der gehofften Errichtung einer Brutanftalt für Ueber: menſchen fteht.

Renan und Taine nad ihm Haben fich gegen die faft religiöjfen Gefühle ge- wandt, die im neuen Europa lange für die franzöfiiche Revolution genährt wurden. Renan hat früh aus nationalen Gründen die Revolution bedauert, Taine, der urfprünglich mit ihr ſympathiſirte, ſchlug nad gründlicherem Studium um. Niebiche geht in ihren Spuren. Es ift natürlich, daß moderne Schrift- fteller, die fi) als Kinder der Revolution fühlen, Sympathie hegen für die Männer der großen Empörung, und ficher find viele von ihnen nicht zu ihrem Recht gefommen unter der gegenwärtigen, antirevolutionären Stimmung in Guropa. Aber die Schriftjteller haben u. A. in ihrer Scheu vor dem, was in dem politifchen Jargon Cäſarismus genannt wird und in ihrem Aberglauben an Mafjenbeiwegungen überjehen, daß die größten Empörer und Befreier nicht

78 Deutiche Rundſchau.

die vereinten Kleinen find, jondern die wenigen Großen; nicht bie Heinen Miß— gönner, fondern die großen Gönner, die den Anderen Recht, Wohlergehen und geiftiged Wachsſthum gönnen.

Es gibt zwei Klafjen revolutionärer Geifter, die, welche fich inftinctiv zu Brutus und die, welche ſich ebenfo inftinctiv zu Cäſar gezogen fühlen. Cäſar ift der große Typus; Friedrich II. und Napoleon beſaßen jeder nur eine Gruppe feiner Eigenſchaften. Die moderne Freiheitspoeſie aus den vierziger Jahren wimmelt von Lobgefängen auf Brutus. Aber fein Dichter hat Cäſar befungen. Selbft ein jo antidemokratiicher Dichter wie Shakeſpeare war ganz ohne Blid für feine Größe, verherrlichte Brutus nad der Vorſchrift Plutarh’3 auf feine Koften und gab die Geftalt Cäfard in einer bloßen Karikatur. Nicht einmal Shafejpeare hat verftanden, daß Cäſar einen ganz anderen Einſatz auf den Tiſch des Lebens legte, al3 fein armer Mörder. Cäſar ftammte von Venus ab, feine Form war Anmuth. Sein Geift hatte die große Einfachheit, die da3 Merkmal der Größften ift; jein Wejen war Adel. Er,nad) dem noch heute alle höchſte Macht ihren Namen trägt, konnte Alles, wußte und fannte Alles, was ein Heerführer und Herricher erften Ranges fönnen und kennen muß. Nur einige Männer der italienifhen Nenaiffance haben fich zu einer ſolchen Höhe von Genie erhoben. Für alle Fortichritte, die fih in jenen Tagen ausführen ließen, war fein Leben Bürgihaft. Brutus’ Wefen war Doctrin, fein Merkmal die Beſchränktheit, die todte Zuftände zurückführen will und die Vorbedeutung einer Berufung in der Zu— fälligkeit eines Namens fieht. Sein Stil war troden und angeftrengt, fein Geift unfruchtbar. Sein Lafter war Habgier, Wucher feine Luft. Fir ihn waren die Provinzen rechtloſe Eroberungen. Er ließ fünf Senatoren in Salamin Hungers fterben, weil die Stadt nicht bezahlen Eonnte. Und diefer unfruchtbare Kopf ift twegen eines Dolchftoßes, der nicht? ausrichtete und nicht? von dem verhinderte, was er verhindern jollte, eine Art Genius der freiheit geworden, nur weil man nicht verftanden hat, was Ausftattung der ftärkften, reichften, adeligen Natur mit ber höchſten Machtfülle bedeutet.

63 läßt fih aus dem Angeführten leicht verftehen, daß Nietzſche die Gerech— tigfeit allein aus activen Gemüthsbewegungen ableitet, da die Rückſchlagsgefühle fiir ihn immer niedrige find. Auf diefem Punkte hat er fich indeffen nicht auf- gehalten. Die Aelteren hatten in dem Vergeltungstrieb den Urſprung der Strafe gejehen. Stuart Mill Hatte in feiner Nützlichkeitsmoral die Gerechtigkeit von der bereit3 angeführten Strafbeftimmung (justum von jussum) abgeleitet, bie Sicherheitämaßregel, feine Vergeltung war. Rée hat in feinem Buche vom „Uriprung des Gewiſſens“ den verwandten Sab vertheidigt, daß die Strafe feine Trolge des Gerechtigkeitsgefühls, jondern das Gerechtigkeitägefühl eine Folge der Strafe ſei. Die engliihen Philofophen im Allgemeinen leiten das böfe Ge willen von der Strafe ab. Ahr Werth joll darin beftehen, das Gefühl bes Vergehens im Schuldigen zu erwecken.

Hiergegen proteftirt Nietzſche. Er behauptet, daß die Strafe den Mtenfchen nur verhärtet und fühlt, ja daß der Verbrecher jogar durch die Gerichtshandlung ihm gegenüber daran verhindert wird, fein Thun als verwerflich zu betrachten; denn er fieht genau diejelben Handlungen, welche er begangen: Spionage, allen:

Ariftofratiicher Radicalismus. 79

legen, Ueberliften, Qualzufügen, im Dienfte der Juftiz gegen ich ausgeübt und dann gebilligt. Während langer Zeiten kümmerte man fi) auch gar nidht um die Eünde des Verbrechers, man betrachtete ihn nur als ſchädlich, nicht als ſchuldig, jah in ihm ein Stüd Schickſal, und der Verbrecher feinerjeit3 nahm die Strafe auch al3 ein Stück Schickſal, das über ihn hereinbrach und trug fie mit dem— jelben Fatalismus, mit dem die Ruffen noch heutzutage leiden. Im Allgemeinen kann man jagen, die Strafe zähmt den Menſchen, fie beifert ihn nicht.

Der Urfprung des böſen Gewiſſens ift alfo noch unerklärt. Niebiche ftellt folgende geniale Hypotheje auf: Das böje Gewiſſen ift der tiefgehende Krank— heit3zuftand, der im Menfchen unter dem Drud der gründlichften Veränderung zum Ausbruch kam, die er überhaupt durchgemacht, nämlich da er fich endgültig in eine Geſellſchaft eingefperrt fand, die gefriedet war. Alle die ftarfen und wilden Triebe, wie Unternehmungsluft, Tollkühnheit, Verſchlagenheit, Raubjucht, Herrſchſucht, die bis dahin nicht bloß geehrt, jondern förmlich aufgezüchtet worden, wurden plößlich als gefährlich geftermpelt und ſchrittweis al3 unſittlich und ver- brecheriſch gebrandmarkt. Weſen, die zu einem umberftreifenden, Eriegerifchen Abenteurerleben paßten, ſahen auf einmal alle ihre Inſtincte als werthlos, ja al3 verboten bezeichnet. Ein ungeheurer Mißmuth, eine Niedergefchlagenheit ohne Gleichen bemädhtigte ſich ihrer. Und alle die Inftincte, die fih nicht nach außen Luft machen durften, wandten ſich nun nad) innen, gegen den Menſchen jelbft: das Feindichaftsgefühl, die Graufamfeit, der Drang nad) Abwechſelung, Wage- fpiel, Ueberfall, Verfolgung, Verwüſtung da entftand da3 böje Gewifjen.

Als der Staat errichtet wurde nicht durch einen Gejelichaftsvertrag, wie Rouſſeau und feine Zeitgenoffen vorausſetzten ſondern dadurch, daß eine Erobererraſſe mit furchtbarer Tyrannei auf eine zahlreichere, aber unorganiſirte Bevölkerung niederſchlug da wandten ſich alle die Freiheitsinſtinkte derſelben nach innen; die active Kraft, die Begierde nach Macht kehrte ſich gegen den Menſchen ſelbſt. Und in dieſem Erdreich ſprießen dann die Schönheitsideale: Selbſt— verleugnung, Selbſtaufopferung, Uneigennützigkeit empor. Die Luſt an der Selbſtaufopferung iſt in ihrem Keim eine Art Grauſamkeitsdrang; das böſe Gewiſſen iſt die Begierde nach Selbſtmißhandlung.

Man fühlte nun nach und nach das Verbrochene als eine Schuld, Schuld gegen die Vorzeit, die Vorfahren, welche durch Opfer bezahlt werden mußte, anfangs durch Nahrung im gröbſten Verſtand durch Ehrenbezeugungen und durch Gehorſam; denn alle Gebräuche ſind als Werke der Vorväter auch ihre Befehle!). Man lebte in einer ewigen Angst, ihnen nicht genug zu geben, man opferte ihnen das Erftgeborene, den Erftgeborenen. Die Furcht vor dem Stamm— vater ftieg in dem Maße, wie die Macht des Geſchlechts zunahm. Bisweilen wird er zum Gott umgeſchaffen, wobei der Urſprung des Gottes aus der Furcht deutlich zu erkennen ift.

Das Schuldgefühl gegen die Gottheit ift Jahrhunderte hindurch ftetig ge— jtiegen, bis die Anerkennung der hriftlichen Gottheit als Univerjalgott ein Mari» mum von Schuldgefühl zum Ausbruch brachte. Erſt in umferen Tagen jpürt

ı) Man vergleiche Lafjalle'3 Theorie bes römiſchen Teſtaments.

80 Deutſche Rundſchau.

man ein merkbares Abnehmen dieſes Schuldgefühls; aber wo das Sündenbewußt⸗ fein jeinen Höhepunkt erreiht hat, da hat das böfe Gewifjen um fich gefrefjen tie ein Krebs, indem das Gefühl der Schuld, für die Sünden unmöglid Ge— nüge thun zu können, das alleinherrfchende wurde, und dev Gedanke einer ewigen Strafe fi mit ihm verband. Der Stammvater (Adam) wird nun von einem Fluch getroffen gedacht, die Sünde ift Erbjünde. a, in der Natur jelbft, aus deren Schoß der Menſch hervorgeht, wird das böſe Princip verlegt: fie ift verflucht, verteufelt bis wir vor dem paradoren Ausweg ftehen, in dem die gemarterte Menjchheit ein paar taufend Jahre Troft gefunden hat: Gott opfert fi) für die Menſchheit und macht fich bezahlt in feinem eigenen Fleiſch und Blut.

Was Hier geichah, ift, daß der nad) innen gefehrte Graufamfeitstrieb ſich in Selbftpeinigung verwandelt hat und alle thierifche menschlichen Inſtincte ala Schuld gegen Gott gedeutet worden find. Jedes Nein, da3 dev Menſch zu feiner Natur, feinem wirklichen Weſen jagt, jchleudert er ala ein Ya, eine Wirklichkeitserklä- rung aus ſich Heraus, um die Heiligkeit des Gottes, fein Richteriwefen und dem— nächſt Ewigkeit, Jenſeits, Dual ohne Ende zu betätigen.

Um das Entftehen der asketiſchen Ideale recht zu verftehen, muß man außer- dem bedenfen, daß die älteften Gejchlechter geiftiger und contemplativer Naturen unter einem fürdhterliden Druck von Geringſchätzung feitens der Jäger und Todt- ſchläger lebten. Das Unfriegerifche an ihnen war diefen verächtlich. Sie fonnten ſich nicht anders helfen, al3 indem fie Furcht erwedten. Das fonnten fie nur thun duch Graufamkeit gegen ſich felbit, durch Kafteiung und Selbftqual in einem Einfiedlerleben. Als Priefter, Wahrfager, Zauberer ſchlugen fie die Maſſen mit abergläubiichemn Entjeßen. Der asketiſche Priefter ift aljo für Nietiche bie bäßliche Larve, aus welcher der gejunde Denker fich entwidelt hat. Unter feiner Herrſchaft wurde unſere Erde der asketiſche Planet: ein Nabenneft im Himmels» raum, von mißvergnügten, hochmüthigen Gejchöpfen beivohnt, denen vor dem Leben efelte, die ihren Planeten als ein Jammerthal verabjdheuten und, von Unwillen gegen Schönheit und Freude erfüllt, fich jelbft joviel Böſes wie mög— lich zufügten.

Nicht defto weniger ift der Widerfpruch, den wir in der Askeſe finden: Das Leben gegen das Leben gebraucht, nur ein jcheinbarer. In Wirklichkeit entſpricht das asketiſche deal dem tiefen Hang und Drang eines hinfiechenden Lebens nad Pflege und Heilung. Es ift ein deal, das auf Schwächung und Müpdigfeit hindeutet; auch mit feiner Hülfe fämpft das Leben gegen den Tod. Es ift ein Kunftgriff zur Selbfterhaltung des Lebens. Die Vorausſetzung dafür ift der Krankheitszuſtand des gezähmten Menjchen, der Ekel am Leben mit dem Wunſch, etwas Anderes zu fein, irgendwo anders zu fein, zur höchſten Innerlichkeit und Leidenschaft potenzirt.

Der asketiſche Priefter ift die Verkörperung dieſes Wunſches. Kraft feiner Hält er die ganze Herde verftimmter, entmuthigter, verzweifelter, ver— unglüdter Weſen am Leben feft. Gerade weil ex jelbft frank ift, ift er ihr ge borener Hirte. Wäre er gefund, würde er fich mit Unwillen von all diejer Be— gierde abwenden: Schwäche, Neid, Pharifäismus, ſalſche Sittlichkeit ald Tugend umguftenpeln. Aber frank, wie er ift, ift er dazu berufen, Krankenwächter

Ariftofratifcher Radicalismus. 81

in dem großen Hojpital von Sündern und Sünderinnen zu fein. Er geht be- ftändig mit Leidenden um, die die Urfachen ihrer Qual außer ſich fuchen; er lehrt den Leidenden, daß die ſchuldige Urſache jeiner Qual er jelbit ift. So gibt er bem Groll des mißglüdten Menſchen eine andere Richtung, macht ihn ungefährlicher, indem er ihn nöthigt, einen großen Theil ſeines Grolls über fich felbft ergehen zu laffen. Einen Arzt kann man den asketiſchen Priefter eigentlich nicht nennen ; aber er mildert Leiden, erfindet Troſt jeder Art, bald Betäubungs-, bald Rei» zungsmittel.

Sein Hauptmittel war immer, daß er das Schuldgefühl in Sünde um- deutete. Das innere Leiden wurde Strafe. Der Kranke wurde Sünder. Niebjche vergleicht den Unglücklichen, der diefe Erklärung jeiner Qual erhält, mit dem Huhn, um da3 man einen Kreideftrich gezogen. est kann er nicht weiter fommen. Wohin man während einer langen Reihe von Jahrhunderten fieht, dba fieht man den hypnotiſchen Blid des Sünder? troß Hiob auf bie Schuld ala die einzige Urſache des Leidens ftarren. Ueberall das böje Gewiſſen, die Geißel, da3 Bußhemd und Thränen und Zähneknirſchen und der Ruf: mehr Schmerz, mehr Schmerz! Alles diente dem asfetifchen Ideal. Und fo entftanden epileptiiche Epidemien, wie die der St. Beitötänzer und Flagellanten und die Heren- hyſterie und die großen Wtafjendelirien in extravaganten Sekten (die no in Phänomenen wie die Heildarmee u. dergl. jpufen).

Das asketiſche Ideal hat noch feine wirklichen Angreifer, Leine beftimmten Verkündiger eined neuen Ideals. Inſofern als die Wiſſenſchaft jeit Copernicus ftet3 darauf ausgegangen ift, den Menjchen ihren früheren jtarfen Glauben an die eigene Bedeutung zu rauben, wirkt fie eher in Uebereinſtimmung mit ihm. Seine wirklichen Feinde und Untergraber hat das asketiſche Ideal zur Zeit im Grunde nur in Comödianten dieſes deals, in hHeuchleriichen WBerfechtern des— jelben, die das Mißtrauen dagegen erwecken und aufrecht erhalten.

Da die Sinnlofigkeit der Leiden al3 ein Fluch empfunden wurde, gab das asketiſche Ideal ihnen einen Sinn; einen Sinn, der einen neuen Strom von Leiden mit fi führte, aber beifer war, al3 feiner. Ein neues deal ift gegen= wärtig im Begriff, fich zu bilden, ein deal, das im Leiden eine Lebensbedingung, eine Glüdsbedingung fieht und im Namen einer neuen Gultur dasjenige beftreitet, was wir bisher Gultur genannt haben.

V.

Es gibt unter Nietzſche's Werken ein ſonderbares Buch, das den Titel hat: „Alſo ſprach Zarathuſtra.“ Es beſteht aus vier Theilen, in den Jahren 1883 bis 1885 geſchrieben, jeder Theil ungefähr in zehn Tagen, Abſchnitt nach Ab— ſchnitt auf langen Wanderungen erzeugt „unter einem Gefühl von Inſpira— tion, als würde jeder Satz dem Verfaſſer zugerufen“, wie Nietzſche einmal in einem Privatbrief geäußert hat.

Die Hauptperſon und Einiges in der Form iſt der Aveſta der Perſer ent— lehnt. Zarathuftra iſt der myſtiſche Religionsſtifter, der meiſt Zoroaſter genannt wird. Seine Religion iſt die Religion der Reinheit; ſeine Weisheit iſt leicht und freimüthig, wie die Weisheit deſſen, der gleich nach ſeiner lachte;

Deutſche Rundſchau. XVI. 7.

82 Deutſche Rundſchau.

ſein Weſen iſt Licht und Lohe. Der Adler und die Schlange, die beiden Thiere, die er bei ſich in ſeiner Berghöhle hat, das ſtolzeſte und das klügſte Thier, ſind alte perſiſche Symbole.

Dieſes Werk enthält Nietzſche's Theorien ſozuſagen in Form von Religion. Es iſt der Koran, oder richtiger die Aveſta, die es ihm ein Bedürfniß war zu hinterlaſſen dunkel und tief, hochfliegend und abftract, prophetiſch und zukunfts— trunken, bis an den Rand gefüllt mit dem Selbſt ſeines Urhebers, das wiederum ganz von fich ſelbſt erfüllt ift.

Von modernen Werken, die dieſen Ton angeſchlagen und dieſen ſymboliſch— allegoriſchen Stil angewandt haben, find zu nennen Mickiewicz' „Buch der pol- niſchen Pilger“, Slowacki's „Anheli“ und „Das Wort eines Gläubigen“ von dem von Mickiewicz beeinflußten Lamennais. Aber alle dieje Bücher find bihliich) in ihrer Sprache. „Zarathuftra” dagegen ift ein Erbauungsbuch für freie Geifter.

Niegiche jelbft ſtellt dieſes Werf am hödjften unter jeinen Schriften. Ich theile diefe Auffaffung nit. Die Einbildungskraft, von der er getragen wird, ift nicht geftaltenbildend genug, und eine gewiſſe Monotonie ift ungertrennlic von der arhaiftiichen, im Typen ſich bewegenden Darftellung.

Aber es ift ein Buch für Diejenigen, welche die nur Gedanken enthaltenden Werke Niebiche'3 nicht zu bewältigen vermögen; e3 enthält alle jeine Grund» gedanken in rhetoriſch-dichteriſcher Form. Der Vorzug diejes Werkes iſt ein Stil, der vom erften bis zum lebten Worte volltönend, tiefflingend, ftarkftimmend ift; bie und da ein wenig ſalbungsvoll in jeinem ftreitbaren Urtheilen und Verurtheilen ; immer ein Ausdrud für Selbftfreude, ja Selbftberaufchung, aber rei an Fein— heiten, wie an Kühnheiten, ficher und zumeilen groß. Hinter diefem Stil Liegt eine Stimmung wie Windftille in einer Bergluft, die jo leicht, jo ätherrein ift, daß Feine Anſteckungsſtoffe in ihr vorhanden find, feine Bakterien in ihr ge deihen und fein Lärm, fein Stank, fein Staub, fein Stein, fein Steg binaufreicht.

Droben reiner Himmel, am Fuß des Berges dag freie Meer und drüber ein Lichthimmel, ein Lichtabgrund, eine Azurglode, die ſich ſtumm über braufende Waller und mächtige Bergrüden wölbt. Droben ift Zarathuftra mit fi allein, veine Luft in vollen tiefen Zügen athmend, allein mit der aufgehenden Sonne, allein mit dem Glühen des Mittags, das nicht die Friſche vermindert; allein mit den blinkenden, fprechenden Sternen der Nadıt. |

Ein gutes, tiefes Buch ift 8. Ein Buch, Hell durch feine Lebensfreude, dunkel durch jeine Räthſelſprache, ein Buch für geiftige Bergſteiger und Wage- hälfe und für die nicht Vielen, die in der großen Menſchenverachtung aufgeübt find, die dad Gewimmel verabjcheut und in der großen Mtenjchenliebe, die nur darum jo tief verabjcheut,, weil ihr das Bild einer höheren tapfereren Menſch— heit vorſchwebt, die fie aufziehen und aufzüchten will.

Zarathuftra ift hinaufgeflüchtet in feine Höhle auf dem Berge aus Ekel vor dem fleinen Glüd und den Eleinen Tugenden. Er hat gejehen, daß die Lehre der Menschen über Tugend und Zufriedenheit fie beftändig Kleiner macht: ihre Güte befteht meift darin, daß fie wollen, Niemand jolle ihnen Böſes thun, darum

Ariftofratifcher Radicalismus. 83

fommen fie den Anderen zuvor, indem fie ihnen etwas Gutes thun. Das ift Feigheit und wird Tugend genannt. Freilich greifen fie auch gerne an und ſchaden gerne, aber doch nur denen, die ein für allemal preisgegeben find, und denen man ohne Gefahr zu nahe treten darf. Das wird Zapferfeit genannt und ift nur noch tiefere ;yeigheit. Aber wenn Zarathuftra die feigen Teufel aus den Menſchen austreiben will, jo rufen fie ihm entgegen: „Zarathuftra iſt gottlo3.“

Er ift einfam, denn alle feine früheren Gefährten find von ihm abgefallen; die jungen Herzen twurden alt und nicht einmal alt, nur müde und träg, nur gemein fie nennen da3, aufs Neue fromm geworden fein. „Um Licht und Freiheit flatterten fie einft, glei Mücden und jungen Dichtern. Gin wenig älter, ein wenig fälter, und jchon find fie Dunkler und Munfler und Ofenhoder.“ Sie haben ihr Zeitalter verftanden. Sie wählten Zeit und Stunde gut. „Denn eben twieder Fliegen die Nachtvögel aus. Die Stunde fam allem Lichticheuen Volke.“

Zarathuftra verabjcheut die große Stadt wie eine Hölle für Einfiedler- gedanken. „Alle Läfter und Lafter find hier zu Haufe; aber es gibt Hier aud) Zugendhafte, es gibt viel anftellige, angeftellte Tugend. Viel anftellige Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und Wartefleiſch.“

Und Zarathuftra verabſcheut den Staat, verabjcheut ihn wie Henrik Ibſen im Norden und tiefer als er. u

Für ihn ift der Staat das fältefte aller alten Ungeheuer. Seine Grund» Lüge ift, daß er dad Volk ift. „Nein, fchaffende Geifter waren es, die das Bolt ſchufen und ihm einen Glauben und eine Liebe gaben; jo dienten fie dem Leben; jedes Volk ift eigenthümlich, aber der Staat ift überall glei.” Staat ift für Zarathuftra das, „wo der langjame Selbftmord Aller Leben genannt wird“. Der Staat ift für die Vielzuvielen. Erſt wo der Staat aufhört, fängt der Menſch an, der nicht überflüffig ift; der Menſch, der die Brüde ift zum Uebermenſchen.

Vor den Staaten iſt Zarathuſtra auf ſeinen Berg geflüchtet, in ſeine Höhle.

An Schonung und Mitleid lag die größte Gefahr für ihn. Reich an den Kleinen Lügen des Mitleid lebte er unter den Mtenjchen.

„Zerſtochen von giftigen Fliegen und ausgehöhlt, dem Steine glei), von vielen Tropfen Bosheit, fo jaß ich unter ihmen und redete mir noch zu: „une ſchuldig ift alles Kleine an feiner Kleinheit. Sonderlich die, welche ſich „Die Guten“ heißen, ftechen in aller Unſchuld, fie lügen in aller Unſchuld; wie ver- möchten fie, gegen mich gerecht zu fein?“

„Wer unter den Guten lebt, den lehrt Deitleid lügen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nämlich ift unergründlich.“

„Ihre fteifen Weifen, ich hieß fie weile, nicht fteif. Ihre Todtengräber, ich hieß fie Forſcher und Prüfer jo lernte ih Worte vertaufchen. Die Todten- gräber graben fid) Krankheiten an. Unter altem Schutt ruhen Ihlimme Dünfte. Auf Bergen ſoll man leben.“

Und mit jeligen Nüftern athmet er wieder Bergfreiheit ein. Erlöſt find nun jeine Athemzüge von dem Geruch alles Menſchenweſens. Da fit Zara—

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84 Deutſche Rundſchau.

thuſtra mit den alten zerbrochenen Tafeln des Geſetzes und neuen halbbeſchriebenen Tafeln um ſich herum und wartet auf ſeine Stunde, die Stunde, da der Löwe kommt mit dem Taubenſchwarm, die Kraft mit der Sanftmuth, und ihm hul— digt. Und er reicht den Menſchen eine neue Tafel, auf der ſolche Lehren, wie diefe ftehen:

Schone nicht deinen Nächften! Die große Liebe zu den Fernſten gebietet e3. Der Nächfte ıft ettvas, das überwunden werden muß.

Sage nicht: Ich tue gegen Andere, wie ic will, daß Andere gegen mid) thun follen. Was du thuft, kann Keiner dir thun. Es gibt feine Wieder- vergeltung.

Glaube nicht, daß du nicht rauben jolft. Ein Net, das du dir rauben kannſt, jollft du dir niemals ſchenken Laffen.

Hüte dich vor den guten Menſchen. Sie jprechen nie die Wahrheit. Denn Alles, was fie böfe nennen: das verwegene Wagen, das lange Mißtrauen, das graufame Nein, der tiefe Efel vor den Menſchen, die Fähigkeit und der Wille, in Lebendige zu jchneiden, das Alles muß hinzu, wo eine Wahrheit geboren werden fol.

Alles Vergangene ift preisgegeben. Aber da e3 jo ift, fünnte es gejchehen, daß der Möbel Herr würde und Alles in feinen flachen Waſſern erftictte, oder daß ein Gewaltherrjcher fih Alles zueignete. Darum bedürfen wir eines neuen Adels, der allem Pöbel und allem Gewaltherriichen Widerfacher ift, und der auf neue Tafeln das Wort fchreibt: edel. Sicherlich Feines Adels, den man kaufen fann, oder, deſſen Vorväter Kreuzzüge ind gelobte Land machten, oder befjen Tugend nur diejenige ift, das Vaterland zu Lieben. Nein, lehrt Zarathuftra, vertrieben jollt ihr fein von euren Vaterländern und von euren Großvaterländern und Urgroßvaterländern. Nicht eurer Väter Land jollt ihr Tieben, fondern eurer Kinder Land. Dieſe Liebe, das ift der neue Adel, die Liebe zu dem neuen Land, dem unentdedten, das fern liegt in dem fernften Meer. An euern Kindern follt ihr das Unglück gut machen, daß ihr eurer Väter Kinder ſeid. Alles Vergangene jollt ihr auf diefe Weiſe erlöfen.

Zarathuftra ift voll von Milde. Andere haben gejagt: du jolft nicht ehe— brechen. Zarathuftra lehrt: die Redlichen ſollen zu einander jagen: „Laßt un zujehen, daß wir einander lieb behalten, laßt uns einander eine Friſt jeßen, damit wir verjuchen können, ob wir eine längere Frift wünſchen.“ Mas nicht gebogen werden kann, wird gebrodhen. Ein Weib jagte zu Zarathuftra: Wohl brad) ich die Ehe; aber zuerft brach die Ehe mid).

Und Zarathuftra ift ohne Gnade. Es heißt: Stoße nit an den Wagen, der abwärts geht. Aber Zarathuftra jagt: was reif zum Hall ift, daran follt ihr ftoßen. Alles, was unferer Zeit angehört, fällt und verfällt. Keiner kann e3 aufhalten, aber Zarathuftra will noch danach ftoßen.

Zarathuftra liebt die Zapferen. Aber nicht die Tapferkeit, die jeden Angriff beantwortet. Es gehört oft mehr Tapferkeit dazu, fich zurückzuhalten und vorbei= zugehen und fich für den würdigeren Feind aufzujparen. Zarathuftra lehrt nidt: Ihr jollt eure Feinde lieben, jondern: Ihr jollt euch nicht in Kampf mit Feinden einlaffen, die ihr veradhtet.

Ariftofratifcher Radicaliamus. 85

Warum jo Hart? rufen die Menſchen Zarathuftra zu. Er antwortet: warum fo hart, jprad zum Diamanten einft die Küchenkohle: find wir denn nicht Nah-Verwandte? Die Schaffenden find hart. Ihre Seligkeit ift, ihre Hand auf Zahrtaufende zu drüden wie auf Wade.

Keine Lehre empört Zarathuftra mehr, ald die von der Eitelkeit und Be— deutungslofigteit des Lebens. Sie ift in feinen Augen alte Geſchwätz, Altweiber- geſchwätz. Und die Lehre des Peſſimismus von der überwiegenden Unluft ala Summe de3 Lebens ift Gegenftand feines entjchiedenen Abjcheues.

Diejelbe ſchwärmeriſche Liebe zum Leben hat Niebiche in dem „Hymnus an das Leben” ausgeſprochen, den er jelbft für Chor und Orcheſter gejeht hat. Es beißt darin:

Gewiß, jo liebt ein FFreumd ben Freund

Wie ich dich Liebe, räthielvolles Leben,

Ob ich gejauchzt in dir, geweint,

Ob du mir Leib, ob du mir Luft gegeben. Ich liebe dich mit deinem Glüd und Harme, Und wenn du mich vernichten mußt, Entreiße ich mich ſchmerzvoll deinem Arme, Wie Freund ſich reiht von Freundes Bruft.

Und das Gedicht jchließt: Haft bu fein Glück mehr übrig mir zu fchenten, MWohlan, noch haft du beine Bein.

MWenn Achilles es vorzog, Tagelöhner auf der Erde, ftatt König im Reich der Schatten zu fein, jo ift die Aeußerung ſchwach und zahm im Vergleich mit dieſem Ausbruch von Lebensdurft, der in jeiner Paradorie felbft nach dem Kelch der Qualen lechzt.

Eduard von Hartmann glaubt an den Beginn und das Ende des „Welt- procefje3“. Er meint, daß feine Ewigfeit Hinter uns liegen kann; ſonſt müßten ſchon alle Möglichkeiten eingetreten fein, wa3 nad) feiner Behauptung richt der Fall ift. Auch auf diefem Punkt in ſcharfem Gegenſatz zu ihm, lehrt Zarathuftra mit eigenthümlicher Myſtik das emige Wiederfommen, d. h. daß alle Dinge ewig zurüdfehren und wir jelbit auch, daß wir ſchon feit ewigen Zeiten geweſen find und alle Dinge mit und. Die große Uhr der Welt ift für ihn eine Sanduhr, ein Stundengla3, das fi) immer von Neuem umfehrt, um immer wieder auszulaufen. Es ift da3 genaue Gegenſtück zu Hartmann’ Welt- untergangälehre.

Bei jeinem Tode wird Zarathuſtra jagen: nun ſchwinde und fterbe ih; in einem Nu bin ich nichts, denn die Seele ift fterblich, wie der Körper; aber der Knoten von Urſachen, in den ich Hineinverfnüpft bin, kehrt wieder und wird mich immer twieder hervorbringen.

Am Schluß des dritten Theild von Zarathuftra ift ein Gapitel mit ber Ueberſchrift: „Das andere Tanzlied.“ Tanz ift in Nietzſche's Sprache immer der Ausdrud für den hohen Leichtſinn, der über der Erdenſchwere und über all dem dummen Ernft erhaben iſt. Dieſes in ſprachlicher Hinficht höchft merkwürdige Lied ift eine gute Probe des Stils in diefem Merk, wo er fich zu dem höchſten

86 Deutiche Rundſchau.

dichterifchen Flug erhebt. ZaratGuftra fieht das Leben vor fi als ein Weib; fie jchlägt Kaftagnetten) und er tanzt mit ihr, all jeinen Zorn auf das Leben und alle jene Liebe zum Leben hinausfingend:

Wer haßte dich nicht, dich große Binderin, Umwinderin, Berjucherin, Finderin! Wer Tiebte dich nicht, dich unfchuldige, ungeduldige, windseilige, kinds— äugige Sünderin!

In diefem Geſpräch zwiſchen dem Leben und jeinem Liebhaber, Tänzerin und Tänzer, fommen die Worte vor: O Zarathuftra, du Tiebft mid; bei Weiten nicht jo Hoch, wie du jagft, du bift mir nicht treu genug. Es gibt eine alte ſchwere Brummglocke; die brummt Nachts bis zu deiner Höhle hinauf. Hörft du die Glocde Mitternachts die Stunde ſchlagen, jo dentft du bis Mittag, daß du mich bald verlaffen willft.

Und jo folgt zum Schluß das Lied der alten Mitternadhtsglode. Aber im vierten Bande des Werts, im Abjchnitt „Nachtwandlerlied“ wird Zeile für Zeile jene kurze Strophe gloffirt und commentirt, die halb wie ein mittelalterliches MWächterlied, halb wie der Pſalm eines Myſtikers geformt, die geheimnigvolle Stimmung in Nietzſche's Geheimlehre zur Fürzeften Formel zufammengedrängt enthält:

Es geht gegen Mitternadht, und jo heimlich, jo jchredlich, jo herzlich, wie die Mitternachtsglode zu Zarathuftra redet, ruft er den höheren Menſchen zu: Um Mitternadt hört man Vieles, was am Tage nicht laut werden darf, und die Mitternadht ſpricht: O Menſch, gib Acht!

Wo ift die Zeit Hin? Sankt ich nicht in tiefe Brunnen? Die Welt jhläft. Und kälteſchauernd fragt es: Wer joll der Erde Herr fein? Was ſpricht die tiefe Mitternadt?

Die Glode brummt, der Holzwurm pickt, der Herzenswurm nagt: Ach! Die Welt ift tief.

Aber die alte Glode ift wie ein Hangvolles Inſtrument; alle Qual bat fie ins Herz gebiffen, der Väter und der Urväter Schmerz und alles Glück hat fie in Schwingung gejeßt, der Väter und der Urväter Glück es fteigt aus der Glode wie Ewigkeitsduft, ein roſenſeliger Goldweingerudy von altem Glüdf und diejes Lied: Die Welt ift tief und tiefer, als der Tag gedadt.

Ich bin zu rein für die plumpen Hände des Taged. Die KReinften jollten die Herren der Erde fein, die Unerkannteften, die Stärkften, die Mitternachts feelen, die heller und tiefer find, als jeder Tag. Tief ift ihr Weh.

Uber Luft geht tiefer, al3 Herzensqual. Denn die Qual ſpricht: brich mein Herz. lieg weg, meine Klage! Weh Sprit: vergeh!

Doh Ahr höheren Menſchen! jagtet Ihr jemals Ya zu einer Luft, jo jagtet Ahr auch Ja zu allem Wehe. Denn Luft und Qual find verfettet, verliebt in= einander, unzertrennlid. Und Alles beginnt von Neuem, Alles ift ewig, Denn alle Luft will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.

Alſo ift dies das Mitternachtslied:

O Menſch! Gib Acht! Was fpricht die tiefe Mitternacht? Ich ſchlief, ich ſchlief

Ariftofratiicher Radicaliamus. 87

Aus tiefem Traum bin ich erwacht. Die Welt ift tief

Und tiefer alö der Tag gedacht. Tief ift ihr Weh

Luft tiefer noch ala Herzeleid: Weh ſpricht: Vergeh!

Doch alle Luſt will Ewigleit

Will tiefe, tiefe Ewigkeit!”

VI.

So alfo ift er, diejer ftreitbare Myſtiker, Dichter und Denker, diefer Im— moralift, der nicht müde wird zu derfündigen. Kommt man zu ihm von den engliihen Philojophen, jo tritt man in eine ganz andere Welt hinein. Die Eng: länder find alle zufammen geduldige Geifter, deren MWejen auf Aneinanderreihen und Umjpannen einer Menge Kleiner Thatjachen ausgeht, um dadurch ein Gejeh zu finden. Die beften unter ihnen find ariftotelische Köpfe. Wenige fefleln per- fönlich, oder jcheinen als Perjönlichkeiten jehr zufammengejeßt zu fein. Sie wirken mehr durch dad, was fie thun, als durch das, was fie find. Nietiche dagegen ift (wie Schopenhauer) ein Errather, ein Seher, ein Künftler, weniger intereffant durch das, was er thut, als durch das, was er it.

So wenig deutjch er ſich auch fühlt, jegt ex doch die metaphyfiiche und intuitive Ueberlieferung der deutſchen Philojophie fort und hegt den tiefen Wider: willen der deutſchen Denker gegen jeden Nütlichkeitsgefichtspunft. In feiner leidenſchaftlichen, aphoriftiichen Form ift er unbedingt original; durch feinen Gedanteninhalt erinnert er hin und wieder an viele Andere, ſowohl in dem Deutſch— land, wie in dem Frankreich dev Gegenwart; ex hält es indeffen augenicheinlich für rein unmdglih, daß er einem Zeitgenofjen etwas zu danfen habe, umd zürnt gegen Alle, die ihm in dem einen oder anderen Punkte gleichen.

Es iſt Schon berührt worden, in wie hohem Grade er an Ernejt Renan durch feine Auffaffung der Cultur umd feine Hoffnung auf eine Geiftesariftofratie, welche die Herrichaft der Erde ergreifen könnte, erinnert. Nichtsdeftoweniger hat er nie ein anerfennendes Wort für Renan übrig.

Es ift gleichfalls berührt worden, daß er in feinem Kampf mit der Schopen- bauer’schen Mitleidsmoral Eduard von Hartmann zum Borgänger hat. In dieſem Schriftfteller, deifen Ernft und großes Talent unbeftreitbar find, will Nietzſche nach Art einiger deutfcher Univerfitätslchrer mit unkritiicher Ungerechtig- feit einen Charlatan fehen. Hartmann’s Wefen befteht aus ſchwereren Stoffen, al3 das Nietzſche's. Er ift ſchwerfällig, ſuffiſant, grundgermaniſch und endlich, im Gegenſatz zu Nietzſche, ganz unberührt von franzöfifchem Geift und jüdlichem Sonnenbrand. Aber es gibt Berührungspuntte zwiſchen ihnen, die auf den biftorifchen Verhältniffen in dem Deutichland beruhen, das fie Beide erzogen hat.

In erfter Linie ift etwas Gleichartiges in ihrer Lebensftellung, da fie Beide al3 Artillerieofficiere diejelbe Schule durchgemacht Haben; demnädft in ihrer Bildung, infofern fie beide von Schopenhauer ausgegangen find und nichtsdejto- weniger große Ehrerbietung für Hegel bewahrt haben, aljo diefe beiden feindlichen Brüder in ihrem Gultus vereinen. Weiter ftimmen fie in ihrer gleich fremden

88 Deutſche Rundichau.

Stellung zur chriſtlichen Neligiofität und criftlichen Moral überein, ebenjo in ihrer ganz modern deutfchen Geringſchätzung dev Demokratie.

Nietzſche gleiht Hartmann in feinen Angriffen auf Anardiften und Socia— liften, nur daß Hartmann’3 Haltung hier wiſſenſchaftlicher ift, während Nietzſche fi in geſchmackloſer Weife darin gefällt, von den „anardiftiichen Hunden“ zu ſprechen und das in demſelben Athemzug, in dem er Abjcheu für den Staat hegt und ausſpricht. Nietzſche gleicht Hartmann weiter in feiner immer wieder— fehrenden Aufweiſung der Unmöglichkeit des Gleichheitsideal3 und des Friedens— ideal3, da das Leben nichts ala Ungleichheit und Krieg ift. „Was ift gut? tapfer zu fein ift gut. Nicht die quite Sache heiligt den Krieg, jondern der gute Krieg heiligt jede Sache.“ Wie fein Vorgänger verweilt er bei der Nothiwendig- feit des Kampfes um die Macht und bei dem vermeintlichen Gulturnußen des Krieges.

Sin dieſen beiden, doch verhältnigmäßig jo unabhängigen Schriftftellern, von denen der eine ein myſtiſcher Naturphilofoph, der andere ein myftiicher Immoraliſt ift, Spiegelt fi der in dem neuen deutichen Reiche vorherrichende Militarismus. Hartmann nähert ſich auf vielen Punkten dem gewöhnlichen deutjchen Nationale gefühl. Nietzſche fteht in principiellem Streit fowohl mit ihm wie mit dem leitenden Staatsmann Deutjchlands; aber etwas von Bismarck's Geift Liegt gleichwohl über den Werfen beider Männer. Was die Kriegsfrage angeht, jo iſt der Unterſchied zwiſchen ihnen nur der, daß Nietzſche den Krieg nicht um einer phantaftiichen Welterlöfung willen liebt, fondern damit die Mannheit nicht aus der Welt verſchwinde.

In feiner Geringihäßung des Weibes, feinem Schmähen ihrer Befreiungs- verfuche begegnet ſich Nietiche wieder mit Hartmann, doch nur inſoweit Beide hierin an Schopenhauer erinnern, defjen Schüler auf diefem Gebiet Hartmann it. Doch während Hartmann hier nur als Doctrinär mit einem gewifjen An— ftrih von Pedanterie auftritt, jpürt man bei Niebiche unter feinen Ausfällen gegen das weibliche Geſchlecht einen feinen Sinn für die Gefährlichkeit des Weibes, der auf jchmerzliche, perjönliche Erfahrung hindeutet. Viele Frauen ſcheint er nicht gekannt zu haben, aber die er gefannt hat, hat er augenscheinlich geliebt und gehaßt, doc am meiften geringgeihäßt. Immer wieder fommt er darauf zurück, twie ungeeignet der freie, genialiiche Geift für die Ehe iſt. Es liegt in diejen Aeußerungen an mehreren Stellen etwas ſtark Jndividuelles, jo beſonders in der hartnädig betonten Nothiwendigkeit vom einjamen Leben de3 Denkers. Was aber das weniger perfönliche Raifonnement über das Werb angeht, jo jpricht das altväteriiche Deutichland aus Niekihe wie aus Hartmann, Ddiefe Land, deffen Frauen Jahrhunderte hindurch, im Gegenjat zu den Frauen Frankreichs und Englands, auf das häusliche und ftreng private Leben hingerviefen waren. Man muß an diefen deutichen Schriftftellern im Allgemeinen anerkennen, daß fie Blick für den tiefen Gegenſatz und beftändigen Krieg zwiichen den Geſchlechtern haben, den Stuart Mill nicht jah und nicht verftand. Aber doch ift die Inge rechtigkeit gegen den Mann und die ziemlich flache Billigkeit gegen das Weib, in welche Mill’3 bewunderungswürdiger Befreiungsverjud zuweilen herausläuft, bei Weitem der brutalen Unbilligkeit Nietiche'3 vorzuziehen, der e8 behauptet, daß

Ariftofratiicher Radicaliamus. 80

wir in unjerer Behandlung des Weibes zu der „ungeheuern Vernunft de3 alten Afiens“ zurückkehren müfjen.

In feinem Kampf gegen den Peſſimismus Hat Nietzſche endlich Eugen Dühring (befonder3 in defjen „Der Werth des Lebens“) zum Vorgänger, und diefer Umftand ſcheint ihm jo viel Unwillen, ja Verbitterung eingeflößt zu haben, daß er in einer bisweilen verftecten, bisweilen offenen Polemik Dühring als jeinen Affen bezeichnet. Dühring ift ihm ein Greuel, als Plebejer, al3 Antijemit, al3 Racheapoftel, ala Schüler von Gomte und den Engländern; aber Niebiche bat fein Wort übrig für das ſehr Bedeutende an Dühring, das nicht in Bes zeichnungen tie jene aufgeht. Man verfteht inzwijchen recht wohl, wenn man Nietzſche's eigenes Schickſal bedenkt, daß Dühring, der blinde Mann, der lange ignorirte Denker, der auf die officiellen Gelehrten herabfieht, der außerhalb der Univerfitäten lehrende Philoſoph, der, obwohl ihn das Leben jo wenig verwöhnt bat, jeine Liebe zum Leben laut befennt vor Nietzſche wie feine eigene Carri— catur dafteht. Das jollte indeffen fein Grund für ihn fein, jelbft dann und warın den Dühring’shen Scheltton anzujchlagen.

Merkwürdig ift e8, daß diefer Mann, der jo unendlich viel von franzöfiichen Moraliften und Piychologen wie La Rocefoucauld, Chamfort und Stendhal gelernt hat, fi) nur jo wenig von der Beherrihung in ihrer Form hat aneignen fönnen. Er ift dem Zwange nicht untertvorfen geweſen, den der Literariiche Ton in Frankreich Jedem Hinfichtlicd” der Erwähnung und Schilderung der eigenen Perfon auferlegt. Lange jcheint er dafür gekämpft zu haben, fich ſelbſt zu finden und ganz er felbft zu werden. Um ſich zu finden, kroch er in feine Ein— jamfeit wie Zarathuftra in feine Höhle hinein. Als es ihm gelungen war, zu einer ganz jelbftändigen Entwidlung zu gelangen und er den eigenthümlichen Gedankenborn reich in feinem Innern ftrömen fühlte, hatte er allen äußeren Maßſtab für feinen eigenen Werth verloren; alle Brüden zur umgebenden Welt waren abgebrochen. Daß die äußere Anerkennung ausblieb, fteigerte nur fein Selbftgefühl. Der erſte Schimmer einer Anerkennung von außen her, gab dieſem Selbftgefühl noch einen Hochdruck. Zuletzt ift es über feinem Kopf zuſammen— geichlagen und hat für eine Zeit lang diejen fo jeltenen und ausgezeichneten Geift verduntelt.!) Doch wie er im Augenblick in jenem unvollendeten Lebens- wert ausgeprägt dafteht, ift ex ein Schriftjteller, der e8 wohl verdient, ſorgſam ftudirt zur werden.

1) In Niekidhe's vorlegtem Buch heißt ed: „Ich habe ben Deutichen die tiefften Bücher ges geben, die fie überhaupt befigen Grund genug, daß die Deutichen fein Wort davon verftehen.“ In dem leßten heißt es: „Ich habe der Menfchheit das tieffte Buch gegeben, das fie beſitzt.“

Franz Pingelftedt. Blätter aus feinem Nadhlaf.

Mit Randbemerkungen von

Julius Rodenberg.

—ñ

II. Stuttgart. (1843—1851.)

Der Vorabend der Revolution traf Dingelftedt in der heiterften Laune, zurücgefehrt von Wien, wo feine Gemahlin ihre alten Werehrer in einem Gaft« jpiel aufs Neue entzüdte. Dem Freund in Kaffel ſcheint e8 um dieſe Zeit nicht jo wohl gewejen zu jein: der Eingang nachfolgenden Briefed deutet ohne Zweifel auf eine3 jener Eleinen und Hleinlichen Scharmüßel, welche dem größeren und mannhaften Kampfe Friedrich Oetker's für feines Baterlandes Recht und Ver— fafjung vorangingen. Paris gährte ſchon und nur noch zwei Tage waren bis zum 24. Februar 1848, als Dingelftedt an Oetker jchrieb:

In ber Hoffnung, daß deine Anrüchigkeit, ſehr ftänfriger Friedrich, durch die berühmte Erplofion vor Hohem Stadtgerichte, ich lad fie meiner Frau in Wien vor, aus einer ver- botenen Zeitichrift, ihre Endichaft gefunden hat, wage ich e8 mit gegenwärtigen Zeilen wieberum an bich zu treten.

Erſchrick nicht, waderer Kurheſſe, dad Couvert kann nicht geöffnet worden fein vor bir; es ift Öfterreichifches Privilegiumsd: Eouvert.

Sechs Wochen in Wien, vom 17. Nov. bi 10. Jan., vergingen mir wie ein Rauſch. Fritz, was ift diefer Ort 1) ſchön und 2) angenehm mit a, «, V ad libitum auszuführen. Ah ſchwamm einmal wieber in meinem Glemente, mwieber oben auf, getragen von einer großen Stabt, gehätfchelt von ordentlichen Leuten, mit meiner waderen Frau und durch fie populär ge: worden. Es war eine göttliche Zeit.

Kabenjammer und Nüchternheit kommen nun Hinterbrein, wie natürlich, wie nothwendig. Ach ftrohwittwere mit einer Tante und mit meinem ungeichlachten Buben, der bald 2 Jahr alt wird, während Jenny und Jella noch in Wien find. Das Geſchäft geht gut, vortrefflich fogar; Wien ift über alles Erwarten eingefchlagen, Prag, Dresden, frankfurt, Mannheim, Ham- burg drängen ſchon mit Einladungen heran. Ta der große Schritt einmal geſchah, glüdlich geihah, wollen wir auch alles mitnehmen, was am Wege liegt. Diefen Sommer ruhen wir in Helgoland 4 Wochen aus und fangen im Herbft in Berlin auf's Neue an. Ich ruhe nicht eher bi3 meine 200,000 fl. voll da find. Eo lange mag und muß mein braves Weib noch kämpfen.

Franz Dingelftedt. 9]

Ich gehe ab und zu bei ihr, wie ber Urlaub geftatten will; ein Leben das bei aller Zerfah: renheit und Halbheit auch feinen Reiz hat. Die Ehe verjüngt ſich auf diefe Art immer twieber, und ber fünftleriiche Nimbus giebt ihr einen anregenden Hintergrund. Ich bin meiner quten Heinen Fran gewiß, und fo find alle Theile zufrieden geftellt. Ohne Kummer und Ärger geht's freilich nicht ab; allein hab’ ich den nicht Hier auch, hatt’ ich ihm nicht in Kaſſel, in Fulda? Soll's einmal Sturm fein, lieb’ ich ihn im offenen Meer, nicht im Sumpfe. Und vielleicht find’ ich auf meinen neuen Irrfahrten einen Hafen, ber mir beffer zufagt ala Stuttgart. Wien? Ta iſt's für unfer einen noch nicht Zeit. Berlin? Wollen ſehen! Ich fange an zu begreifen, daß Jenny und ich eigentlih nur in einer biefer beiden Stäbte leben lönnen, wenn’s einmal in Deutichland gelebt fein muß.

Don Dir, Herbold I1.*), erwarte ich einen „Zuzug“, fobald du meine frau oder mich ein- mal in beiner Nähe fcheinen ſiehſt. Jenny fingt im April in Frankfurt; jehen wir und ihren unvergleichlichen „LZiebestrant* einmal an? Ober im hohen Sommer Hamburg, ein paar Abende auf Sathorn, am Falın, bei Mr. Mohr, ein paar Morgen auf der Düne? Mit Stalien iſt's nichts, Wir zwei haben fein Glück: Du, Barbaroffa, wirft dich dort fchwerlich für einen ſchwarz— augigen Enkel Gicero’3 ober Cicerucchio's auägeben fönnen, fie zerreißen dich, wenn bu bich fehen läßt. Ich follte voriged Jahr und dann bdiefes mit meinem König hingehen, nun kann ber Selbft nicht, der Berhältniffe wegen. Wir müfjen, Du und Ich, ausgezeichnete Zukünfte in ber deutſchen Gejchichte haben, dab uns das Geſchick vor dem tragifchen Ende der Hohenftaufen fo bartnädig ſchützt!

Ohne Spaß, welches find beine Sommerplane? Oder fibeft du noch tief im Winter: geipinnfte? Alles, was Du willft; nur ſprich mir nicht wieber von Krankheit. Das ift eine Ein» bildung. Sieh’ mid an; jeit ich Lebe, bin ich gefund. So lang’ ed dauert, meinethalben; ich bin es doch, und ich lebr.

Mein Hans hat Luft Heilen zu fehen, und ich habe fie Euch gewifler Maßen vor achtzehn Monaten veriprocden. Natürlich, daß fie in Kaſſel nicht für Geld Komödie fpielen würde. Wir fämen, auf bem Hin» ober Herwege, als particuliers an und fliegen wohl am beften bei Ahl: born gleich ab? Glaubft Du, daß der jekige Hof uns jo aufnimmt, wie ber einftige mich, daß man für meine Frau in Wilhelmähöhe ebenfo ift wie in Scheveningen? Meinetwegen könnte fie auch einmal gaufeln, für irgend einen heffiichen „Zwed.“ Es würde mir Spaß machen, bie Kaſſelaner auch mit diefer Waffe zu erobern.

Nach Rinteln gehen wir nicht, mein’ ich, jehen aber meinen Alten und Augufte in Bremen, Hannover, Köln, wo fie wollen.

Ich made feine Verſe mehr, auch feine Profa, außer Gelb, jonft antwortete ich ?). Es war eine Kinderkrankheit, welche mir bie Arzte, die beutichen Literaten, abgewöhnt und aus: geheilt haben. Schade um das hübſche Talent, das mir in drei Jahren fo viel abwarf, wie meine frau in drei Abenden erfingt!

Dein Bruder? Die Deinigen? Deine „Stellung“? Die Heimath?

Julius ift in Heidelberg zu den Schwaben gegangen. Er hätt’ es nicht nöthig gehabt. Als mein Bruder wär’ er ohnehin vor der berühmten QDuarantaine nicht vernünftig geworben. Ich bin 34, merkſt Du die Nähe des großen Stufenjahres nicht? !

Lebe wohl! Schreib’ mir bald, und bleibe gut

22. Febr. 48. Deinem Franz.

Inzwiſchen war der Ausbruch erfolgt. Wer von der älteren Generation, die damal3 jung war, jener wunderbaren Februar: und Märztage fich erinnert, dem mag es wohl noch einmal wie Frühlingsſchauer durch die Seele braufen; und damals war e8 au, daß ich, ein Schüler des Nintelner Gymnafiums, in welchem zwanzig Jahre vor mir Dingelftedt und Oetker gejeffen, auf den Straßen

1) Herbold, ein Küfermeifter in Kaffel, war bie populäre Perjon der Bewegung von 1831, welche dem Lande die DVerfaffung brachte. 2, &3 handelte fich hier um einen neuen Angriff gegen ihn, diesmal aus Dresden, von Kühne.

02 Deutſche Rundſchau.

und in den Volksverſammlungen den Namen zuerſt hörte, der von nun ab als der des angeſtammten Vertreters der heimathlichen Grafſchaft aus der Geſchichte des heſſiſchen Verfaſſungskampfes und ſpäter der Einigung Deutſchlands nie mehr verſchwinden wird. Dingelſtedt, den Dichter, kannte ich längſt aus unſeren Schulbüchern, in welchen ſein Lied von der Weſer und die Ballade vom Scharffen— jtein einen Ehrenplaß hatten; aber auch Oetker follte ich jeht näher treten, und nicht ohne Rührung kann ich heute, nad) fo vielen Jahren, den darauf bezüglichen Paſſus in feinen „Lebenserinnerungen“ (I, 310) lefen: „Von jüngeren Kräften nenne ich beſonders“ hier befindet fich mein Name „der im Unterhaltung3- blatte wohl zum erften Dale feine Schwingen regte. Er war noch Gymnafiaft in Rinteln und jandte ein Gediht auf Robert Blum, das zwar über den politiſchen Standpunkt der Zeitung Hinausflog, aber doch mit einer kleinen Ver: wahrung anerfennend zum Abdrud gebracht wurde.” Das genannte Blatt war die belletrijtiiche Sonntagdbeilage zur „Neuen Heſſiſchen Zeitung“, welche, damals von Detfer begründet, die Geſchicke des Herausgebers theilte, nad) defjen Heim» fehr aus dem Eril aber, als „Heſſiſche Morgenzeitung“ wieder auflebend, lange noch eine Macht mar in unjerem engeren Baterlande. Von welcher Art die nächſte Wirkung der unerwarteten Erplofion auf Dingelftedt war, geht aus fol- gendem Brief an Vogel hervor: St. 12. März 48.

Wie magft Du glauben, ich hätte in folcher Zeit ein Gedächtnis für alten Hader, alte Misverftändniffe? Bleibt mir doch kaum eines für älteſte Freundſchaften und nächfte Beziehungen. Jeder fteht eben auf fich, für fih, bis er fällt. Ein neuer Tag, ein neuer Kampf. Ich wollt’ e8 wäre Abend und Schlafenäzeit.

Suchſt Du Halt und Hilfe bei mir, fo bift Du fchledht berathen, armer Junge Meine Kinder durch den faft nothwendigen Staatsbankbruch in ſterreich Bettler. Meine Stellung durch die politische Bewegung faft unhaltbar gemacht. Deine Stelle durch alle Eventualitäten bedroht. Ich Habe nur eine Ausſicht, und die ift verbaut nach vielen Seiten, büfter nad) allen: Rückkehr in die Literatur, Beichränkung in allem Leben.

So ftehe ih. Was kann ich Dir fein, was Du mir? Die Welt geht in lauter Egoiämen, in Zweilämpfe und Maffentämpfe auf. Sauve qui peut! Ich fliehe nicht, weil es jeig wäre, jetzt feinen Poften zu verlaffen. Verläßt er mich, deſto beifer am Enbe.

Meine arme, arme Frau zieht in der Welt umher und ſingt. Sie muß diefer Tage in Dresden eintreffen. Dort und in Prag feifeln fie eingegangene Berpflichtungen noch auf kurze Zeit. Dann kehrt fie hierher zurüd. Welches Wiederfehen, nach welchem Abichieb! Bor zwei Monaten verlieh ich fie in Wien auf der Höhe alten Glanzes, neues Glüdes, und heute

Über der Einzelne hat fein Recht zu klagen, Die Herzogin von Orleans verlor mehr als Jenny Lutzer.

Dante Gott, daß Du allein ftehft in ſolcher Zeit, dak Du eine Zeitung haft, das einzige aller Papiere, das fteigt, auch wenn Kanonenſchüſſe fallen, die einzige Standesherrichaft, die auch gegen Bauernfrieg ficher if.

Ich ergreife die Rechte, die Tu mir bieteft, und drücke fie herzlich. Weiter willft Du nichts, weiter kann ich nichte. Mit alter Liebe Dein

Fr. Dingelftedt.

Zwei Tage fpäter, in einer die Lage ruhiger überjchauenden Stimmung, deren ironiſcher Ausdruck Freilich die Sorge des Herzens nur leicht verhüllt, ichreibt er an Oetker:

Franz Dingelftebt. 03

Du bift auf richtigem Wege, lieber Frrike, Heſſens Crémieux zu werben, und bie fehlende Beichneidung wird bei Dir keinen großen Unterfchied machen. Ich folge wie Du begreifft mit wachſender Theilnahme und Spannung Deinen „großen Anſprachen“ und „fliegenden Blättchen“, bie uns auf biplomatiichen Wege ald Attenftüd der heififchen Revolution zugehen. Mein Herz it mehr mit Euch, ald mit den Bewegungen in näcfter Nähe, beren Führer und Zwecke mir gleich fremd find. Ich hätte jet in Kaſſel fein follen, Dir die Stimme leihen, mit einem or: danslied an die Spibe treten.

Das Erfte, wad Du zu thun haft, ift, da Ihr ja jeßt die freie Preſſe auch wohl befigt, ein Blatt zu gründen: „Der blinde Heſſe.“ Dies ſchreibſt Du fo viel ala möglich allein, mit ganzer juridiicher und logiſcher Schärfe, ohne fiyliftiifchen Anipruh und Schmuck, durchweg populär, giebft es für 4 Thaler jährlich, 1 mal wöchentlich einen Bogen, alä Niemeyer ber neuen Zeit'!).

So war ber Kaſſler Bote, den Du in Philippinenhof finnbildlich barftellteft, eine Profezeiung.

Die Preffe und das Advolatenthum regieren jet die Welt, bis Echwert und Anüppel beide zerichlagen.

Findet Du in Eurem Neubau eine Stelle für mich, jo rufe. Ich danfe hier ab, wenn Du mir nur eine Wahl in bie bortige Kammer ficherfi. Außerdem wäre vielleicht unter Eberhard ?) im Gultminifterium, in der Theater: ober Atabemie-Direlzion, im Gabinet des Kurfürſten ein Plah ? j

Sag’ ed doc) einmal in der Kölner, Heibelberger Deutichen, Frankfurter, Augsburger Zei tung, was bu dem „Morgenblatt* in's Ohr gefliftert haft: Wir möchten ben D. wieder haben; er befigt etwas Wermittelndes, eine Perfönlichkeit, die uns in unfern Zuftänden nühlich werben fönnte. Er hat das Bertrauen des Volkes als Dichter der Kaſſeler Spaziergänge und des or: dbanälicdes, und bie Neigung des Kurfürſten wird er fich mach feinen württembergifchen Ante⸗ cedenzien auch erwerben. Wo er jetzt ift, ſteht er fchief und umficher: ihm fehlt bad was er als Dichter und ala Menſch braucht, öffentliches Vertrauen; er felbft ſcheint angeftoßen zu haben bei den Schwaben u. f. w. u. ſ. m.

Die Wahrheit ift, daß ich fortmuß. Mit dem Theater jetzt nir, natürlich: meine rau tehrt zurück, jobald eingegangene Berpflichtungen es geftatten. Gier ift die Oppofition in bie Pofition, an's Ruder, getreten. Ich kann mich ihnen nicht nähern, ohne den Schein aber: maligen Farbenwechſels auf mich zu laden. Sie werben freilich ala erfte Opfer fallen, von ihrer eigenen Partei zerrißen, allein bis dahin fönnen fie den ganzen Hof: und Staatöhaushalt um» geworfen und una fremde moraliih hinausgeſtoßen haben.

So ſteh' ih. Was bei Euch ift, jeh” ich wohl. Bei Euch wie bei una handelt es fich um eine Reduktion von 30 in 3 oder 4, mit Einem fichtbaren Oberhauptee Wir werben troß ber uffifchen Verwandtichaft mediatifirt, wenn fein Krieg kommt; Ihr ohnehin, factiich find wir's, feid Ihr's bereite. Es handelt ſich alio nicht um eine Hof- fondern um eine Volls-Stellung für una alle; bei mir mit jchöngeiftiger Spezialität.

Schreib’ mir Eigenheiten über Euere Borgänge Warum haft Du jept nicht Berichte an die Allg. Zeitg. geſchickt? Tie Gelegenheit war günftig.

Leb’ woll, tremieur! Dein

14. März 1848. (Lamartine) Zahmer Martin.

Diefer Brief, mit feinem erneuten und dringenden Verlangen nad einem Wirkungskreis in der Heimath, zeigt uns Dingelftedt ungefähr auf demfelben Standpunkte, welchen Oetker damals einnahm. Später freilich, als die Scheidung fich vollzogen, finden wir Lebteren im Lager der Gothaer und Erfteren, tie namentlich aus feinen 1851 publicirten neuen Zeitgedichten „Nacht und Morgen“

!) Einen Tag, nachdem bdiefer Brief geichrieben worden, am 15. März 1848, erjchien bie Probenummer der „Neuen Heſſiſchen Zeitung“. 2, Der Vorftand des heifiichen Märyminifteriums, zuvor Pürgermeifter von Hanau.

94 Deutihe Rundichau.

hervorgeht, in dem der Großdeutichen. Aber dennoch Hat eine politische Differenz diefe Beiden niemals ernftlich getrennt; fie blieben die alten Freunde trotzdem, in allen Lagen, Dingeljtedt ala Hofmann, Oetker al3 Flüchtling, und lange, nod) vor der Auseinanderjegung mit Defterreih hat Dingeljtedt den welt— hiftorifchen Beruf Preußens ar erfannt und fih, in Berlin ſelbſt, dichteriſch zu demſelben befannt. Auch die ftaatlihe Neubildung Deutjchlands unter „Einem fihtbaren Oberhaupte” (mern es auch nicht das fein mochte, für welches Detker von Anfang an eingetreten ift) jah er jetzt ſchon voraus. Allerdings, mit den Sangeögenofjen vom Anfang der vierziger Jahre konnte, wollte er nicht gehen nicht mit Freiligrath, der jeßt feine herrlichen Revolutionslieder aus London wie zündende Brandrafeten in die Bewegung warf, noch mit Herwegh, den die Lächerlichkeit von Schopfheim moralisch tödtete. Sich aber ausgeſchloſſen zu wiſſen von dem großen Ringen der Geifter, mag ihm unerträglich geweſen jein; er juchte Fühlung nad allen Seiten hin, und jehr merkwürdig in diejer Beziehung ift ein Brief an Ruge, der zuerft in der von Nerrlich herausgegebenen Sammlung abgedrucdt worden ift'):

Sie find mein freund nicht, Sie haben mir im Gegentheil oft weh und unrecht gethan, was mid von Ihnen mehr ala von vielen Anderen verwunberte und verlete*). Und boch nehme ich feinen Anftand, Ihnen beiliegendes Gedicht zu ſchicken, mit der Bitte um beliebige Veröffent: lichung durch ein Leipziger oder Berliner Blatt, deren ich feines mehr zur Dispofition habe.

Ich unterjchreibe bas Gedicht nicht, weil in folchem Falle alles auf Wirkung anfommt und, meiner Anfiht nach, mein Name bdieje nicht fördern würde. Es ift weder eine beftellte Hof: ichmeichelei, ausgegangen von officiellee Begeifterung, noch eine Literärifche Speculation, und perjönliche Rehabilitation abzwedend. Der Drang, nicht länger müßig und ſchweigſam zu trauern, wo alle Welt fich rührt, treibt mich aus meiner Bereinfamung hinaus. Die auf lange und genaue Erlenntniß gegründete Meberzeugung, dab der König von Württemberg wie er aud biäher ber localen Oppofition erfchienen und von ihr bargeftellt worben fein mag der Einzige ift, den wir an der Spiße der Bewegung und bes deutſchen Bundes brauchen können, biefe Leber: zeugung und ber Wunſch, umbertaftenden Sympathien ein feftes Ziel zu geben, haben mich zu dem Gedichte getrieben.

Gefällt e3 Ihnen und verfprechen Sie ſich Eindrud davon, fo forgen Sie in Oft und Nord für beffen Verbreitung und Wirkung, auf diejenige Art, welche Ihnen ala Journalift und Barteis chef die rechte fcheint. Ich habe e8, natürlich auch anonym, an ein hiefiges und an ein Frank— furter Localblatt geſchickt, damit es gleichzeitig an mehreren Enden ericheint.

Mit freundlichem Gruße, der Ihrige, quand-möme,

Stuttgart, 18. März 48. Fr. Dingelftedt.

Daß dies Umhertaften zu feinem Rejultate führte, braucht nicht gefagt zu werden. Wenige Monate jpäter jchrieb Dingelftedt an Detker:

Dein Brief, lieber Frik, fam an meinem Geburtätage an. Omen accipiens, legte ich ihn zu dem Glafe, dad du mir, zehn Jahre früher, an einem unvergeklichen Abend in der Wilhelms: höher Allde gefchentt. Ich beantworte ihm umg-hend; fieh daraus, was ich Dir nicht zu jagen brauche.

Fort von Hier fomme ich nicht; der König, das Haus laffen mich nicht. Es ift ber erfle

Sommer, welchen ich in dem Stuttgarter Dampffefjel verfeufze. Der erfte und gefällt’3 Gott! ber leßte.

!) Arnold Ruge's Briefwechiel und Zagebuchblätter aus den Jahren 1825—1880. Herausgegeben von Paul Nerrlih. Zwei Bände. Berlin, Weidmann'ſche Buchhandlung. 1886. Bb. II, ©. 9.

2) Bezieht fi unter Anderem auf Ruge's Anzeige von Dingelſtedt's „Sechs Jahrhunderte aus Buttenberg’3 Leben“. Halliſche Jahrbücher 1840, &. 184.

Franz Dingelftedt. 95

Gehſt Du nah Nauheim, fo reife drei Tage für mich heraus; komm nah Stuttgart. Lockt dich die See, fo gieb mir ein Rendezvous in Mannheim oder Mainz. Nach Frankfurt mag ich nicht.

Sehen möcht’ ich, müßt’ ich Dich. Ich bin „sick at my heart and utterly disgusted.* Vielleicht giebft Du mir das Lächerlichfte, wad ein Menſch dem anderen geben kann, einen guten Rath.

Über beine Zeitung und meine Beiträge mündlih. Nur jo viel jet ſchon: laß fie nicht fallen!

Was ich „Iebe” und „wirke*? Als 1) Hofdiener 2) Abtrünnling und 3) Ausländer bin ich Hier mehr als anderwärts in der Welt, jet mehr ala irgendwann nad) allen Seiten „uns möglich“. Daß ich meine Pflicht ala Bürgerwehrmann erfülle, wird mir fchon ala Unrecht angefchrieben. Ich muß aus der Sadgaffe, in bie ich mich verrannt, jobald die Krife vorüber, einen Ausgang finden, und dein gutes Auge Hilft mir wohl fuchen, bevor das meine allen Schimmer verloren hat.

Auf baldiges Wiederfjehen denn! Mit Herzlichen Grüßen aus dem Haufe Dein 1. Juli 48. Fr. Dingelftedt.

Je weniger Dingelftedt den gefuchten Stützpunkt auf der einen Seite fand, defto natürlicher war es, daß er, durch das Geſetz der Selbſterhaltung zuerft, und nicht zuleßt durch das der Pflicht beftimmt, fich der anderen fefter anſchloß. Am November diejes Jahres 1848 jchrieb er an Vogel

Iſt es wahr, was ich höre und lefe, daß Du, Lieber Bogel, von der „Schnellpoſt“ abtrittft, fo wird Dir vielleicht mit der Anerbietung der Übernahme der technifchen Redaktion der „Laterne“ gedient jein, welche lehtere von Neujahr an 2 bis Imal erfcheinen fol. Große Anfprüche würden an Dich nicht gemacht werben, Dir vielmehr neben geringer Arbeit Gelegenheit zu anderweitem Berbienfte geboten fein. Wogegen Du freilich auch mit einftweilem geringem Gehalt Dich bes gnügen und, was ſich ohmehin verfteht, die von der „Schnellpoft" letztlichſt verfolgte Richtung nicht auf unfer Blatt übertragen bürfteft. Deiner baldigen Äußerung entgegenfehend, grüßt Dich

Dein treuer Freund Fr. Dingelftedt.

Die „Laterne“ war ein kleines Wibblatt, welchem der Herausgeber jelber eine lange Dauer nicht prognofticirte, wie e3 denn in der That nur vom Auguſt 1848 bis März 1849 gelebt hat. Als Vogel, den vielleicht politiiche Bedenken abhielten, die technijche Leitung der „Laterne“ zu übernehmen, in die Redaction des „Nürnberger Correſpondenten“ eingetreten war, ſchrieb ihm Dingelftedt unter dem 2. December 1848:

Was ich hier Dir bieten könnte und nur bot, weil ich Dich in augenblidlicher Verlegen: heit wähnte, ift, gegenüber den Nürnberger Ausfichten, feiner Rede werth. 300 fl. Jahrgehalt ober vielmehr 25 fl. monatlid, da nur auf 3 Monate abgehoben wird. Das Blatt ift durchaus ein Geichöpf meiner Laune ich halte es und laſſe es fallen, wie's mir beliebt. Eine Siche— zung hat und bietet alfo feine Dauer nicht. Subvenzion will ich nicht; ich habe mich capricirt, unabhängig zu fein, fo weit, daß ich fogar feine Uctien auf das Blatt zulaſſen mag. Ich zahle, mit Hadlänber, das Deficit aus meiner Taſche. Wie da unfere „Fonds“ ausfehen, kannſt Du dir einbilden. Vielleicht geht die Gejchichte Ichon im März wieder zu Ende Frucht ift ja fo feine davon zu erwarten; bie Partei, ber das Blatt zu dienen ftrebt, fcheint A tout prix unter- geben zu wollen. Schlimm genug, daß ich auf Einem Schiffe mit ihr bahintreibe, durch die Ehre gehalten. Warum Did; noch herüberziehen?

Und in einem Schreiben vom 17. December, in welchem er es ablehnt, dem Freund Empfehlungen an den Eigenthümer de3 Nürnberger Blattes mitzugeben oder ihm Beiträge für dasſelbe in Ausficht zu ftellen, heißt es: „Geniere Dich

96 Deutſche Rundſchau.

auch in journaliſtiſcher Hinſicht nicht: ich bin es gewöhnt, im größten Theil der Preſſe Gegner zu haben, und meine Freunde ſollen ſich meinethalben nicht com— promittiren.“

Auf dem erſten Blatt des Tagebuchs von 1848 findet ſich ein kurzer Ein— trag, in welchem Dingelſtedt gleichſam das Reſumé des Jahres zieht und in der That eine Kritik feines Lebens gibt, erbarmungsloſer als irgend einer feiner Gegner fie hätte formuliren können:

„Irop tard!* Devije für 1848, für mid). 1841. Ich verlaffe Helen; vierzehn Tage darauf fällt ber Minifter, deſſen Syſtem mid vertrieben Hatte. Ich jchreibe ein radicalee Buch, den „Nadhtwächter” ; gleich darauf tritt Die Realzion ein.

1844. Ich heurathe eine große Künftlerin ; fie muß auf ihre Größe verzichten.

Das Schickſal wirft mich an einen Hof; bald darauf bricht eine Bewegung aus, bie alle Höfe „unmöglich“ macht.

1847. Jenny kehrt zur Kunſt zurüd, ich knüpfe literariich aufs Neue an; Tags barauf

Revoluzion, bie Künfte werben penfionirt. Ich befomme ein Vermögen; da ich's kaum genoffen Staatäbanterott, bie Kinder Bettler!

So büfter, fo verzweifelt war feine Lage wohl nicht; aber richtig ift, daß der Sturm, den er faum durch fein Schweigen beihtwichtigt, aufs Neue fich erhob, al3 er twieder zu reden begann.

Bornehmlih war es das „Geſchöpf feiner Laune“, die „Laterne“, welche Dingelftedt in den Ruf gebracht hat, anti-Fiberal zu jein, wiewohl die aus der Zeitichrift in jeine Sammlung „Nacht und Morgen” übergegangenen Epigramme, „Fresken in der Paulskirche“, höchſtens beweiſen, daß er anti demokratiſch war. Laube Hatte feinerzeit „in einem ungezogenen Briefe, auf den ih nur mit Schweigen und Bruc antwortete”, wie Dingeljtedbt an Kolb ſchrieb!), ihm die Auslaffung de3 „Nachtwächters“ aus feinen Gedichten vorgeworfen; wie grundlos und ungerecht die Beichuldigung war, geht aus der neuen Sammlung hervor, melde fih in allen Stüden, in ihrem Titel „Naht und Morgen“, in den Gapitelüberfhriften „Letzte Nachtwachen“, „Tagesanbruch“ als Fortſetzung der alten Nachtwächterlieder ankündigt, und in welcher ſogar der „Nachtwächter als Hofpoet“ ſich ſelber perſiflirt. Wohl kommen, was wir übrigens bei „zweiten Theilen“ gewohnt ſind, die neuen Lieder den alten an Kraft und Urſprünglichkeit nicht gleich, wie denn in der That es auch leichter und lohnender war, auf die Verhältniſſe vom Anfang als auf die vom Ende der vierziger Jahre eine Satyre zu ſchreiben. Aber wenn nichts Anderes, ſo würde doch das einleitende Gedicht des Bandes dafür zeugen, daß Dingelſtedt den Jugendidealen nicht untreu ge— worden:

Ja doch: Das Licht! In blut'ger Röthe Von allen Bergen kam's empor,

Statt von friedſamer Hirtenflöte

Empfangen vom Drommeten:Chor ;

Am Himmel ftand er, hell und glänzend,

') Karpeles im Feuilleton der „Neuen Freien Preſſe“, 30. Juni 1886.

Franz Dingelftedt. 97

Der Tag, ben wir noch fern geglaubt, Mit frischer Rofen Zier befrängend Das thaugefalbte Siegerhaupt.

Der Staat hat feine Form zerbrocen ; Wann brichft du beine freie Kunſt? Berlaß, in die bu dich verkrochen,

Die Stubenluft, den Nebelbunft;

Dein zu Befik und zu Geftaltung Harrt reicher Stoff und gold’ner Ruhm: Drum auf in frendiger Entfaltung, Du neugebor'nes Dichterthum!

Uns freilid, fährt der nun ſchon zu den Alten fich zählende Poet wehmüthig fort, ung, die wir Euch Glüdlichen vorangegangen, fiel ein minder ſüßes Loos: Im Dunfel euch die Wege bahnen, Mit unſ'rem Leib die Brüde bau'n; Zum Lohne bann und wann ein Ahnen Und Hoffen nie erfülltes Schau’n! Sei's drum! Auch diefe Zwielicht: Sendung Wird endlich nicht verloren fein; Sie ſteht am Ziel mit raſcher Wendung, Tritt erft der volle Morgen ein. Die Stimmen aus ber Naht verllingen, Sogar die frühe Lerche ſchweigt, Dann hoch am Tag auf mächt'gen Schwingen Der Adler felbft zur Sonne fteigt!

Wer will dem Dichter einen Vorwurf daraus maden, daß ihm damals, wie dem ganzen Süddeutſchland und jo ziemlih allen von Mißtrauen gegen Preußen erfüllten Kleinftaaten, diejer Adler der Doppeladler Dejterreichd war?

Im Februar 1849 jchreibt Dingelftedt an Vogel:

In bie „Öfterreihiihe Politit“ des Nürnb. Korrefp. wirft Du Dich bei näherem Nach: denlen gut finden. Auch wir befolgen im Augenblid feine andere. Für Baiern und Württem: berg nicht allein, fondern auch für Deutichland ift in Preußen kein Ziel. Tas Berlinerthum ber Herren Bunfen, Rabowig, Gani und Gonforten, ftedte uns gern unbeichens in Sad, Ichleppte das ganze Deutſchland im Zau der engliichen Handelspolitik hinter ſich her und brächte Berhältniffe und Perlönlichkeiten, wie fie in Preußen täglich fich überftürzen, über ganz Deutjch- land. Das geht nicht.

Haft Du, wie Andeutungen in deinem Schmalfalder Briefe mich ſchließen lafjen, wirklich freundliches Andenten für mich in Heſſen gefunden, fo unterhalte mir das. Vielleicht wird «3 feiner Zeit ftark genug, um meine Wahl nach Frankfurt dort durchzuſetzen? Ich gehe gleich, ja, ich trete, bei einiger Auaficht auf Erfolg, als Bewerber auf. Mein ganzer Sinn ficht auf die parlamentarifche Carriere. Richt weil ich eine Rolle auf der Bühne der Pauletirche zu ſpielen brennte, im Gegentheil, fie fam mir fehr pauvre vor, und ihe: Helden, links wie rechts, Vogt wie Binde, dächte ich mit einer einzigen Rede einzuholen. Aber viel mehr ala die Scene reizten mich die Gouliffen, die Clubbs, die politischen Salond. Bas wäre mein Feld. Ich habe ein paar ſehr lehrreiche, anregende und auch hinlänglich fruchtbare Wochen dort zugebradpt und gebe, fobalb ich kann, wieder hin. Ob Echmalfalden mich zum nächften Reichsſstag ſchicken würde, wenn ich perfönlich würbe?

Überleg’s Dir, frage an, ſalls es angeht und gieb Antwort.

Treulichſt Dein 21. Febr. 49. Fr. Dingelftedt. Deutihe Rundſchau. VI, 7. 7

93 Deutſche Rundſchau.

Demnächſt heißt es, in einem Briefe an denſelben vom 2. Juni 1850:

Verzeih, lieber Vogel, wenn id Dir Unrecht und weh gethan; Dein Brief und Dein Feuilleton, für welches beides ich Dir danke, herzlich danke, haben mich eines Beſſeren belehrt. Ich bin jo oft in ber litterarifchen und perfönlichen Welt betrogen worden, dab ber Zweifel jelbft am Nächften mir zu anderer Natur wird. ine ſchlechte Natur freilich, und Du kennft mich nicht meine eigene!

Mit Deinem Artikel war und bin ich volllommen zufrieden; er war flug und fein und hat mich nicht nur für mich, fondern auch für Dich gefreut, ala Zeichen Deines „Fortſchritts“.

Du fragft, warum ber politifche Theil des Korreipondenten es mit mir verborben? Gr hat, gelegentlich der famofen Thronrede und auch der beutfchen Frage, im feiner Münchner VT-Rorreiponbenz meine Stuttgarter d+ Korrefponbenz in der A. 3. nicht nur befämpft, das verftände fich von felbft und wäre mir ganz recht, fondern fie ald „geheime-legationsräthliche* perfönlich denuncirt. Das ift perfide Polemik, auf die ich natürlich nicht eingebe, bie mir aber das Blatt verleidet.

Auch Du gefälft Dir nicht darin. Ich glaub’ es, Lieber Junge, aber ich bitte Dich body, auszuharren. Deine Stellung ift nüpli, wenn fie auch nicht angenehm if. Du bleibft Allen im Auge, das allein ift viel werth. Bielleicht gehen unfere Wege bald wieder zufammen. Mein König ift 70 Jahre alt; ich kann Ihn nicht verlaffen, am wenigften jetzt, wo fo vieles Ihn ver: läßt, ich halte aber nur aus, fo lange Er hält. Hernach flugs wieder in's Weite. Meine Schiffe find gebaut, liegen vor Anter, luſtig wie ehemals mit der Schreibfeber bewimpelt; jo bald ich die Kette zerbreche, Kette war fie mir längft, wenn gleich goldene, treib’ ich wieder in’3 Weite. Mein Kiel hat Raum aud für Dich, und Du folft willlommen jein, wenn Du in eine längft vorbereitete große Zeitungs-Unternehmung mit eintreten willft.

Doc, das find Luftichlöffer für heute und für morgen. Stehen fie feft, jo wirb’s Zeit fein, Dich zum Beſuch einzuladen. Ginftweilen überwintere ich hier, fleikig und rührig. Dein Rath, zu produziren, wird neben meiner Nothmwendigkeit zu kritifiren und zu politifiren, treu befolgt. Ich fchreibe, wie in meiner beften und früheften Zeit, täglich einen halben Drudbogen wenigftens.

Bon hier nichts Neues von Belang, weder im Haus, no draußen. Daß ich die Dramas turgie aufgegeben, weißt Du wohl fon? Ich mußte die Hand frei haben, um ſchreiben zu fönnen. Doc bin ich in beftem Frieden von Gall!) geichieben.

Ich komme ben Sommer jchwerlid fort, es fei denn der König ginge auf kurze Zeit, wo ih Ihn begleiten müßte. Frau und Kinder find wohl auf und grüßen freundlich. Wenn Du wieder einmal reifeft, fomm zu uns. Mit der Eifenbahn geht das jet fo raſch. Im September fönnteft Du hier unjere Fefte?) mitmachen und jchildern.

Mit alter Liebe Dein Fr. Dingelftebt.

Durch die gewaltiamen Erſchütterungen der Revolution von 1848 ward ein Werk unterbrochen, von allen vielleicht dasjenige, welches dem Talent und der Neigung Dingelftedt’3 am meiften entſprach, und nod) als Fragment das inter- effantefte Stüd feines Nachlaſſes:

SIEBEN JAHRE. Roman von

Franz Dingelftedt.

er Banb.

') Damals Intendant bes Stuttgarter Hoftheaters. 2) Es find die Septemberfefle gemeint, von benen bereit3 weiter oben bie Rebe geweſen.

Franz Zingelftedt. 99

So fteht es, in feiner ſchönſten Fracturfchrift, auf dem erften eines Convo— luts von Blättern in Hochquart, denen eine Menge von Notizheften und Zetteln aller Art beiliegt, darauf deutend, wie lang und ernjthaft ſich Dingelftedt mit diefer Arbeit bejchäftigt, weldje dennody nicht über den Anfang hinausgefommen iſt. Aber ein Anfang, jo vielverheißend, jo jprudelnd von Leben, Luft und Liebe, daß man die Blätter nicht ohne jchmerzliches Bedauern, weil nicht ohne das be— ftimmte Gefühl leſen wird, bier feien für den Dichter alle Bedingungen erfüllt geweſen, um Etwas zu ſchaffen, was in der Reihe feiner Werke den erften und, al3 charakterijtiiches Denkmal der Zeit, in der Literatur einen bleibenden Plaß fi gewonnen hätte. Nichts hat Dingelftedt mehr mit dem Herzen und kaum etwas Anderes je mit folcher Freudigkeit gejchrieben, als dieß, wo die liebjten Erinnerungen feiner Jugend ihm die Feder führten.

Sie waren, ih weiß nicht ob abfichtli und im Hinblid auf das Werk, wieder aufgefriicht worden durch einen Ausflug nad) Heffen, den er im Spät- herbft 1846 unternahm, und über welchen fein Tagebuch und Nachricht gibt.

13 Drtober. Frankfurt. Abends 7 Uhr im Coupe bes Eilwagens nad Kaſſel.

19. October. Marburg im Nebel durchflogen. Halaborf: Onfel! Alte Scene, jehr öde und ernft.

Halsdorf war jein Geburtsort, die Stätte feiner erften Kindheit, vor der Ueberfiedelung der Familie nad Rinteln. Am Abend ift er in Kaſſel. Fünf Sabre waren verfloffen, jeitdem er, ein Flüchtling, die Heimath verlaffen, und fieben , jeitdem er zum legten Male dur; die Straßen diefer Stadt gegangen, ein armer Gymnafialhülfslehrer, von der Allerhöchften Ungnade betroffen und in die Verbannung nad Fulda geſchickt.

22. October. Bei S. K. Hoheit dem Kurprinzen-Mitregenten.

23. October. Abends Hofball. Vergleiche zwifchen jeht und früher, hier und dort. Souper bis 12.

27. October. Abſchiedsaudienz beim Rurprinzen.

Dazwiſchen Wiederjehen und fröhliches Zufammenjein mit den alten Freunden. „Abendgang mit Oetker.“ „Schöner Herbſttag. Wanderungen durch Alt- Staffel.“

Kaum nad) Stuttgart zurücgefehrt, und nad Erledigung der nothwendigften Vorarbeiten, beginnt der Gedanke feftere Form anzunehmen.

24. bi8 27. Januar (1847). Plane zum Roman, erweitert, hingeworfen.

28. bi3 30. Januar. Fortgeſetzte Plane für den mweftfälifchen Roman.

11. Februar „Sieben Jahre“.

Darunter mit Rotbftift und in Fractur: „Mit Gott angefangen.“

Bis Ende 1847 wird wohl dad Meifte von dem, was wir haben, gejchrieben worden fein; dann, während der nun eintretenden Erjchütterungen, ſtockt das Merk und ruht faft ein Jahr:

24. bis 27. September (1848). Den Roman „Sieben Jahre“ wieder aufgenommen, und am 2. Banbe gearbeitet.

Über das Erz, das im Ziegel erfaltet, Tieß fich ſchwer wieder in Fluß bringen, und nad} einer abermals halbjährigen Paufe heißt 8:

24. April (1849). Zwei Kapitel aus bem Weſtfäliſchen Roman (für Detler) gefchrieben.

Dies ift die lebte Tagebuchnotiz über die „Sieben Jahre“, die nun für immer liegen blieben ein ftiller, lebenslanger Vorwurf für den Dichter, der wohl fühlte, was ihm hier verloren gegangen.

jr

100 Deutiche Rundſchau.

Der Roman jollte ganz in ber Heimath jpielen in den oberheffifchen Dörfern, die Dingelftebt jo wohl Fannte; in Schmalfalden, da3 er mit feinem Schultameraden Vogel in den Ferien durchwandert; in Hersfeld, welches er von Fulda aus manchmal befucht, wenn er fi” mit den dortigen Freunden einen guten Tag machen wollte, und in Kaffel, das er bis zuleßt jehr geliebt hat. Es ift nicht jchwer, in den Hauptfiguren und einigen Nebenfiguren die Vorbilder wieder zu erkennen, in einzelnen Zügen des abenteuernden Helden jelbft den braven Vogel, in dem Gejchwifterpaar Balentin und Johanne den Refler des eigenen Verhältniffes zu feiner Schwefter Augufte „mein frommes, zuverjicht- liches, ſtarkes Schwefterlein” und in dem Gaftellan de3 alten Eurfürftlichen Schloſſes, dem Schloßvoigt, den eigenen Water, den Kloftervoigt „ein Reft der zerfprengten, ohne Schtertftreich gelieferten heifiichen Armee, wie fie bis zum Jahre Sechs gewefen.” Die „Sieben Jahre“ waren die Jahre des weſtfäliſchen Königreicha, welche der alte Herr jelber durchlebt Hatte und deren Reminiscenzen durch ihn dem Sohne gleihfam unmittelbar und perjönlich überliefert worden waren. „Sa, da ftand fie leibhaftig, die qute, alte Zeit: von der drei Finger breiten Halabinde aus Buchbinderpappe mit ſchwarzem Perfan überzogen, oben herausfchauend ein ſchmaler, weißer Streif, ebenſo ängſtlich nad) Linien, al3 der Zopf nah Zollen gemeffen am ſpaniſchen Rohr de3 Capitains oder Feldwebels, bi3 hinab zu den ſchwarzen Gamaſchen aus grobem Commißtuche, deren Knöpfe ſyſtematiſch gezählt, angefeßt, offen gelaffen oder eingereiht waren. Es fehlte nichts als die Uniform, welche der Greiß vor neun Monaten auögezogen hatte, da es hieß, fein Kurfürſt jei außer Landes gegangen, ohne das Schloß und den Garten, wo er oft und gern verweilt, noch einmal zu jehen, und er werde nie mal3 wiederkommen; dafür ſäßen die Franzoſen bereit3 in Kaſſel, und eines ſchönen Morgens könne der neue König bei ihm anpochen und ihn franzöſiſch anfahren, um ihn hernach zum Teufel zu jagen, weil er ein alter Hund fei. und nicht Franzöſiſch verſtehe.“

Mit der Erinnerung an den Vater belebt fi) auch die wieder an da3 Dörflein in Oberheffen, welches Dingelftebt eben noch, auf feiner Herbſtreiſe, gejehen. Aber ein freundlichered Bild als im Tagebuch entrollt und der Dichter im Roman:

Es ift noch nicht fo lange her, daß jede ordentliche Landſtraße im Lieben beutichen Vater: lande ala würdiges Kunftziel es ſich vorgeftekt hatte, jede in ihrer Richtung möglicher Weiſe erreichbare Anhöhe, nebft entiprechender Bertiefung, unterwegs aufzufuchen und nebenbei, ın menfchenfreunblicher Nebung des Grundjaßes: Leben und leben lafjen, alle Derter und Dertchen, Weiler und Wirthshäufer, Meilen weit in der Runde, gleich Perlen an einer Schnur, an ihrer malerifchen Windung in bunter Wechſelfolge einladend aufzureihen. Das war bie gute alte Zeit, ba bie Welt von Eifenbahnen fo wenig wußte wie von Vereinen gegen Thierquälerei: das Liebe Dieh raderte fih auf den fteilen, flaubigen Steigungen des Weges ehrlich ab, und der Menſch ging pommabig zu Fuße nebenher, weil es ihm noch nicht, wie heute, eher anzukommen, ala ab: zureifen drängte. Die gefegnete Poftichnede „Déhliſchankſe“ auf althefſſiſch brauchte damals auf der Strede zwiſchen Kaſſel und Frankfurt drei volle Zage und drei volle Nächte, und dreimal bloß umgeworfen, auf dem Bilbeler Berg, am Steinweg zu Marburg, und bei Melfungen, das galt für eine ausnehmend glüdliche Fahrt. Da konnte Einer noch mit Fug und Recht ausrufen: „D welche Luft gewährt das Reifen!”

Franz Dingelftebt. 101

Auf diefer großen, fehr belebten Heerfirahe von Frankfurt nach Kaffel Liegt, zwei Meilen von Marburg, ber Mitte, entfernt, ein Dertlein mit Namen Haladorf, ober Holzdorf, wie andere Leute Äprechen und jchreiben. Wir wollen über den richtigeren Namen nicht freiten, wie über Grätz und Graß die Gelehrten thun; es würde nicht der Mühe lohnen um jo ein buntes, ichlichtes Dorf. In der Zeit, worin wir es mit bem geneigten Leſer befuchen, war wenigftens noch etwas Luſtiges und Lebendiges in dieſem Dorf: die Poft wechjelte Pferde drin. Später wurde, einer halabrechenden Höhe mitten in Haläborf zu Liebe, Straße und Station verlegt. Diefe ift zu Josbach, jene macht einen ftolzgen Bogen um ben niederen Kirchthurm und das Wälbchen von Haladorf. Die Perle, von der Schnur abgefallen, liegt abjeitö verloren im Sande: ein Gleichniß, ſchier zu koftbar für den beicheidenen, ftillen Flecken.

Das leptere, ftill, war er freilich nicht, vielmehr das gerade Gegentheil, als ber lebte Sonntag im Mai des Jahres 1809 mit tiefer Himmelsbläue und hellen Nachmittagaftrahlen über jeinen Hütten lag. Ein Sonntag in einem oberheſſiſchen Dorf, in jener fruchtbaren Gegend zwijchen Lahn und Schwalm, ift ſonſt, und die Zeit wird barin wenig verändert haben ober verändern, ein rechtes Bild des Friedens und ber Behäbigkeit, das bloß im Herbfte, um bie Kirmeß herum, lautere und bewegtere Staffage anzunehmen pflegt. An gewöhnlichen Sonntagen fieht das Auge weit und breit nichts als je nad) der Jahreszeit grüne, gelbe, weiße, braune Felder; Wiejenftreifen, Baumgruppen, Stroh: und Ziegeldädher dazwiſchen; einen Bach mit einem Steg; einen Kichthurm und darauf der durch Wind und Wetter jchiefgewordene Hahn ober ein forgfam gehegtes Storchenneft; ein fanfter Hügelzug umſchlingt das Ganze. Die jungen Burjche, mit ihren blendendweißen Kitteln und den rothgeftreiften Mühen, deren Quafte bis zur Schulter herabfällt, gar ftattlidy anzufehen, gehen in der Nähe des Dorfes jpazieren, Jeder fein Mädchen an der Hand ſchwenkend, alle dieje ebenfalls aufs Befte herausgepubt, mit wallenden, breiten, bunten Bändern an der Haube und an ben kurzen, faum das Knie erreichenden Röden. Sämmt- liche Kinder der Gemeinde, ftruppige Blondköpfe in wimmelnder Vielzahl, fpielen um bie Linde herum, fchaufeln fi) auf einem gefälligen Balten des nahen Bauplapes oder jchneiden Pieifen aus den Weidenbäumen am Waſſer. Die Alten ſihen daheim im Wirthehaus, die kurze Peife, Stummel geheißen, jeft zwiichen den legten Zähnen, das jpihe Branntweinglas vor fich auf dem fliegenſchwarzen Tiſche. Dann und wann ein Ichariftimmiger Gefang, welcher über die Wogen des Kornes und in den ftillen Abend binzicht, der heifere Schlag der Dorfuhr, oder ein Pofthornton, bei dem bie fleinen, bleigefahten Fenſter rechts und links an der Heerſtraße fich emporjcieben und neugierige, grüßende Gefichter dem durcheilenden Wanderämann nachftarren.

Nicht minder anmuthig geichildert ift der erſte Blick auf Kaſſel, von der Gegend der „jedem Kaſſeler Kinde bekannten Knallhütte: fein ſchöner Name, aber eine deſto jchönere Stelle“. Dann heißt es weiter:

Das Fuldathal innerhalb feiner fanft angezogenen und verjchlungenen Hügelfetten breitet fi zu Frühen aus wie ein von Künftlerhand gebautes und bis ins Sleinfte ausgenarbeitetes Rundgemälde. Links fireicht in dunklem Nabel: und Laubholz der Habichtewald. Auf einem Vorſprunge desfelben winten aus vollem Grün hernieder die weihen Mauern, bie ſchlanken Säulen, die majeftätifchen Zinnen der Wilhelmshöhe, ehemals Weißenſtein und einftmals Napoleonshöhe getauft. Ueber ihnen erhebt fi, eine der fühnften Dichtungen in Stein, ein wahres Wald: märchen, ber Wunberbau ber Kastaden, das Rieſenſchloß, die Pyramide, die Herkulesfäule darauf, eines auf dem anderen emporgethürmt zu einer meilenweit fichtbaren, den Rüden bes Höhenzuges fed durchſchneidenden und überbietenden Spike. Rechts jenfen ſich mildere Hügel in weicherer Färbung als das dunkle Gegenüber zu dem Ufern des aus weißen Steinbrüden in das grüne Thal hinunterwandelnden Fluſſes.

Die Stadt liegt malerifh im Mittelgrunde des Bildes, umfaht und überragt von allen Seiten durch ſanft anfteigende und im einander übergehende Höhen. Die hellen Linien ihrer Hauptftraßen, einzelne hervorragende Pracht: und Ziergebäubde, Kuppeln und Thürme, ein buntes Gewirr von Giebeln, durch die Schlangenwindungen des Waſſers getrennt und vereinigt zugleich, heben fich auf ber umvergleichlicyen Farbenmaffe der Au überrafchend ab. Wenn Herbft oder Hrühling die Natur flimmen, dann fteigt in diefen Höhen und Gärten eine farbige Zonleiter auf und nieder, wie fie jo leicht nicht wieder in der Welt vorlommt, von dem büfteren Schwarz

102 Deutihe Rundſchau.

bes Nabelholges an bie zum frifhen Eaitgrün des erften Buchenlaubes und zum Silbergrau ber Meide und Birke. Dazu laufen, wie unzählige Strahlen, eine Menge Allen, bald von ber plöglich aufſchießenden Pappel gebildet und bald von der gefälligen, duntlen Wölbung der Linde, von allen Seiten auf die Stabt, wie auf ihre Sonne zu, und in heiterem Kranze umgeben fie zahllofe Gärten mit Land- und Lufthäufern, tragende Edhlöffer, nach allen Seiten zerftreute Dörfer, gleichſam die äußerſten, verlorenen Wellenichläge des bewegten Mittelpunttes. Es ift ein Bild, das in feinen künftlerifchen Einzelheiten, in Zufammenftelung und Anordnung jedes andere aus unferer reichen deutſchen Echule neben fich leiden kann, wenn fchon die Natur nicht ihre eigent⸗ lichen Größen und erſten Kräfte, Hochgebirge, See oder Strom, dazu hergeliehen hat.

Es ift Dingelftedt in feinen jungen Jahren gegangen wie uns Anderen all’ in jener ftillen, glücklich befchräntten Zeit, da wir unfer Kleines Heſſen jo jehr und ausfchließglich Liebten, daß wir vor feinen Grenzfteinen mit dem goldnen Löwen und den weiß: rothen Echlagbäumen ftanden mit dem Gefühl der Ab- neigung gegen und der Geringihätung für Alles, was jenfeit3 derſelben lag. Kafjel war uns der Inbegriff aller Herrlichkeit; und da es für die meiften von una heſſiſchen Gymnafiaften damals weit ab lag und exft erreihbar ward mit der in gleich goldner Ferne winkenden Studentenzeit, jo umwob es die kindliche Phantafie mit einem doppelten Zauber. „Du weißt ja,” läßt Dingelftedt feinen Helden im Roman der Schwefter jagen, „mit welcher Ungeduld ich immer auf diejed Ziel Hingetrieben habe: Kaffel. Seit Jahr und Tag träum’ ich nur von Kaffel. Weil ich es von Jugend auf al3 das Größte in meinem Kleinen Leben habe nennen hören, als Hauptftadt unſeres Ländchens, bin ic) gemöhnt worden, es jelbft fo anzujehen und mir ein Bild davon zu machen.“

Heut’ ift Kaſſel eine Stadt, doppelt jo groß und mit noch einmal jo viel Einwohnern als vor vierzig Jahren; aber es ift uns fremd geworden, und ich zweifle, daß einem heſſiſchen Jüngling „das Herz befangener al3 ſonſt und in verboppelten Schlägen an die Bruft klopft,“ wenn er es zum erſtenmal erblickt. Aber e8 war anderd, als es noch uns, und allein gehörte und dad, was ihm an materieller Entwicklung gebrach, durch den traulichen Reiz jeiner Erjcheinung und bie Stärke unſeres Heimathsgefühls erſetzt ward. In dieſes Kaffel führt Dingelftedt das geihmwifterliche Paar feines Romans:

Der Weg durch die Oberneuftadt, den fie einfchlugen, war ganz geeignet, wie er ed noch ift, biefen Eindrud einer großen Stabt zu verftärfen. Unmittelbar an die legte fteile Anfteigung der Sandftraße ſtößt ohne Vorſtadt und Uebergang die hohe Doppelreihe der Frankfurter Straße, deren eine Seite zur Hälfte von einem einzigen Palaft, dem Bellevue Palais, eingenommen ift. Perſpektiviſch eröffnet ſich dann, mit jedem Schritte weiter und herrlicher aufgethan, der Blid auf den Friedrichsplatz. Das Standbild des großen Yandgrafen und jein Mufeum jchimmern marmorweiß in blendenden Farben und ungeheueren Mafien, -- Säulen, Treppen, Bogen, fFenftern, mit faft geipenftiicher Pracht und Größe durdy die Dämmerung, die auf ber weiten Fläche lagert, indeflen von der offenen Seite her das Waldgeräufch der nahen Au und der Gebirgsathem bes fern herüberragenden Meißner in das Herz der Stadt getragen werden. Rund um den Plab, den Valentin und feine Schwefter noch mit grünem Rafen bededt fennen lernten, von Fußwegen kreuz und quer ducchichnitten, fchlingt fich ein ftattlicher Kranz von Bäumen und Gebäuden, während am oberen Saume bie fchönfte Straße der Stadt, ihre eigentliche Lebensader, die Königs— ftraße, in lebendiger Bewegung vorüberftreicht. Durch fie hängt mit dem Rechtede des Friedrichs plates das regelmäßige Rund des Königsplahes zufammen, unter welchem das wimmelnde Durch: einander der Altftädter-Gaflen feinen Anfang nimmt.

Aus der folgenden Selbftichilderung des Helden eine vornehme Tame des Jeröme'ſchen Hofes hat ihn in Audienz empfangen wird der Lefer ohne

Franz Dingelftedt. 103

Mühe jchliegen können auf da3 Original, nad welchem Dingelftedt gezeichnet, oder jagen wir gleich: porträtirt hat.

Mit dem Frühjahr 1802 bezog ich die Univerfität. Ach hatte nach damals beftchenden BVorichriften bei der Regierung um Erlaubniß, mid dem Studium der Rechte widmen zu dürfen, angefucht. Die Erlaubniß fam, aber fie lautete auf Gottesgelahrtheit; ein Fall, der, fo uns glaublich er flingen mag, fi doch mehrere Diale zugetragen. So warf mich äußerer Zwang, dem ich mich nicht zu entziehen im Stande war, in einen, meinen Reiqungen wildfremben, wiber: fprechenden Beruf. Ich befuchte theologifche Borlefungen, daneben jedoch hörte ich auch, gleichſam

verftohlen, bie beften Rechtälehrer und lief jogar in mebicinifche Collegien . ... . Es brannte in mir ein unlöfchbarer Durft, ein nagender Heikhunger nad) Kenntniffen in allen Fächern nützlicher Wiſſenſchaft.

Da mir jeder andere Weg verichloffen war um emporzukommen, ſollte mir eine umfaſſende Bildung, für jede mögliche Wendung meines Schickſals gerecht, das erobern, was Anderen eine große That, oder Geld, oder Geburt erringen, eine Etellung in der Welt, ein Feld für die in mir gährende Kraft, für den wilden Ehrgeiz und Thatendrang, der mein Inneres wie unter: irdifches Feuer aushöhlte und verzehrte.

Es war eine unruhige Zeit damald und ift es heute noch, deren Morgenröthe mit dem Aufglühen jugendlicher Leidenschaften und Beftrebungen überall zündend zufammenfällt. Allent: halben löſt ſich die alte, hundertjährige Ordnung der Dinge auf, Einrichtungen, bie für ewig galten, ftürzen über Nacht in Trümmer, und ein neues Geflecht, neue Sitten und Berhältnifie ſchwingen fidy mit fräftigem Lebenstriebe empor. Frankreichs ungeheuere Wiedergeburt fahen wir Knaben und Yünglinge aus der Ferne mit an, athemlos vor Entſetzen, Bewunderung, Freude, Hoffnung; fein Zug des großen Bildes ging uns verloren, wie man auch bemüht war, es vor unjeren lodernden Bliden zu verhüllen, zu entftellen. Die deutfchen Hocichulen, immerdar der Heerd, wohin bei uns die erften Funlen jeder Bewegung im Reiche der Geifter fallen, wo fie zuerft zünden, fingen auch die von Weften wehende Flamme am früheften auf. Es bildeten fich Parteien im Herzen Deutſchlands unter feiner Jugend, welche den Parteien Frankreichs an Gluth und Entjchiedenheit der Meberzeugung nichts nachgaben. Während unfere Fürſten gegen den jungen Heeiftaat zagſam und zögernd rüfteten, fämpjten die Sympathieen des Boltes ſchon lange unter feinen Fahnen, mit feinen Helden und Heeren. Es war die Sade aller Unterbrüdten, fo ſchien e3 uns, die dort gejchlagen und gewonnen wurde. Die franzöfiiche Spradye, biäher nur heimiſch im geichlofjenen Kreiſe der Vornehmen, der Begünftigten, flieg herab auf den Markt, unter die laufchenden Mailen, zu der Beifall Hatjchenden Jugend. Ich umfahte fie, wie man eine Geliebte umfaßt; ein alter, nach Marburg verfchlagener Haarfräusler ward mein lebendiger Meiſter darin, die Reben Mirabeau’3 und Robespierre’3 meine Sprachlehre. Es war, ald ob mir eine Ahnung gejagt hätte: Gehe ihr entgegen, diefer Sprache, welche ihre große Botſchaftsreiſe um die Welt antritt; hole fie ein auf der Grenze Deiner ftillen Heimath, begleite ihren fiegreichen Einzug!

So ſchwanden mir drei Jahre, kurz wie ein Traum und doch ihren Inhalte nad unbegreiflich reich, die Jahre zwei bis fünf, in bemen äußerlich ein großes, welterfchütterndes und umgeftaltendes Ereigniß das andere jagte, während ich durch unermüdliche Arbeit Tag und Naht in dem abgejchiedenen Erdenwinkel unſerer Hochſchule innerlich ebenfo mid auszudehnen, ebenjo zu erobern und zu gewinnen trachtete, wie ich ed draußen geichehen und gelingen jah. Es erjcheint mir beim Rüdblid auf jene drei Jahre das Werk eines Rieſen, das ich vollbradyt: neben dem freien Dienfte der Wiſſenſchaft, die Frohnarbeit um das tägliche Brot, ba? id; mir felbft gewinnen mußte, als Lehrer oder ala Abjchreiber; neben meinen Lieblings» beihäftigungen und den Studien nad) eigener Wahl noch die aufgedrungene, gewaltfam zum Ende zu fchleppende, fremde Aufgabe. Wahrlich, im deutjchen Studenten Liegt eine unglaubliche Kraft und Zähigleit verborgen, wenn fie fi auch bisher immer hat abjchlieken und bewegen müſſen in bem Kreislauf einer inneren Welt, den ein Fremder fo felten zu begreifen vermag. Der deutiche Geift hat feine eigenthümlichere Pflanzftätte und zugleich feine höhere Schöpfung, als feine Hochſchulen. Andere Völter taufen die Neugeburt ihrer Ideen in feuer und Blut; wir jäugen fie mit der Milch unferer Willenfchaften groß, und wenn fie darum weniger wild und gebietend in bie Welt treten, jo find fie doch ebenjo ſtark und lebensjähig, wachſen ebenſo gebeih- li) empor wie jene!

104 Deutſche Rundſchau.

Und nun, aus dem fruchtbaren Zirkel meiner Arbeiten, aus dieſer ſchönen Freiheit und Selbſtbeſtimmung auf einmal wieder in die dumpfe Stickluft meines Vaterhauſes, die Stirn des Denkers ins Joch, das Flügelpferd an die ſchmale Krippe des Stiers und vor den ſchweren Pflug täglicher Dienſtbarleit! Aber was half es? Deine drei Jahre waren dahin; ich ging. Eine Anftelung gab es nicht gleich, jelbft wenn ich fie geſucht. Nun galt es, am Teiche Bethesda liegen und harren, bis das Wafler ſich bewegte, andere, die auch harrten, und wer weiß wie lange und wie ſchmerzlich, auf die Seite ftoßen und den rechten Augenblid, ben rechten Pla er: ſpähen. Wie gähnte fie mich an, die troftlofe Ausficht auf eine Dorfpfarrei: Lebendig begraben, ehe ich gelebt; mit zweiundzwanzig Jahren ein Greis! Lehrfähze fortpflanzgen, an die ich das Mefler des Zweifeld hatte jehen lernen, und Täuſchungen überliefern, die vor meiner eigenen Wiſſenſchaft längft zerrifien!

Balentin ift, im Grunde feines Herzend, Dingeljtedt jelber Dingelftedt, der Sohn des Feldwebels, zurückverſetzt im jene Zeit, in welcher ein Gorporal Kaijer und jeine Brüder Könige geworden, in welcher e3 lange feinen anderen Adelsbrief gab, als Glück und Talent. So jehr identiftcirt ſich, Leib und Seele, der Dichter mit feinem Helden, daß er überall nur Selbfterlebteg, Selbitgefhautes, Selbftgehörtes zu berichten scheint. Es ift der Tag, ber 7. Dezember 1807, an welchem König Jeröme und feine Gemahlin ihren Einzug halten in Kaſſel:

Die blaffe Sonne fand beinahe in ihrem Zenith, als fünfzig Kanonenſchüſſe, dad Ge— ichmetter von vier und zwanzig Pofthörnern, einjallendes Geläut von allen Thürmen, Trommel: wirbel, Erompetenftöße, verwirrte Kommandorufe, dröhnende Hufichläge und die unaufhaltfam beranbraufende Fluth der Menſchenwoge das Nahen de3 Zuges verkündete. Valentin berichtete dazu aus dem Programm: Jet ift er am Thore, jebt kriegt er vom Bürgermeifter die Sclüffel der Stadt, jet hält er unter dem Zriumphbogen, jeht überreicht ihm der Ober: ſchultheiß ein Gedicht . . . . hier entfiel ihm ber Zettel. Fünfzig Lancierd mit flatternden Fähnlein, auf fchmweißtriefenden Roffen, dann zwei Sechälpänner, darin bie proviſoriſchen Minifter, „Der Jollivet hat Spatgebä’*, Ereifcht eine Drujelftimme, dann die Schüßen- garbde, dann endloje Bivats, geſchwenkte Zücher, auffliegende Hüte und Müben, Präien: tirt's G’wehr, Presentez les armes, die Fahnen jenten fi, das Spiel wird gerührt

Der König!

Die Königin!

Ein mit Vergoldung und Zierrath überlabener Prachtwagen, mit acht Pferden beipannt, drum herum und dicht dahinter zahllofe Generaladjutanten und Oberhofchargen, ftarrend von triegeriſchem Schmude und adeliger Pracht, die rothen Uniformen der Nobelgarde, und dann in endlofem Zuge die berittenen Saffelee Bürger, eine Reihe jechsfpänniger Hofwagen mit ben Damen der Königin, Lanzenreiter und „Bolt.“

Dad Bolt, wie überall, fogar auf allen Komddienzetteln, hübſch zuleßt !

Aber der König? Aber die Königin? Durd dad Spalier von Ariegern und Bürgern, durch die kaum handbreiten, obendrein hinaufgezogenen Glasfenfter ber Staatskaroſſe, burch den rafchen Schritt, worin fie dahinraufchte, blieb die irdiſche Majeftät auch hier, auch jekt noch dem gewöhnlichen Staube, jo gut wie unfi chtbar. Im Fluge gefehen und verfchwunden: Gin feines, kleines Profil, ein glattes, glänzend ſchwarzes Haar, ein weißer Handſchuh nebft geftidtem Uniformaufichlag, der nach Links und nach Rechts winkte, das war ber König. Ein frifches, rofiges Geficht, eine hochblonde Lode und ebenfalls ein weißer Handſchuh, ebenfalls nach allen Seiten grüßend, faum Tleiner, ald der erfte, andere, da3 war die Königin.

Als Dingelftedt dies ſchrieb, war er bereit3 „hoffähig“; aber er konnte ſich wohl der Zeit erinnern, da er es jo wenig war, wie fein Valentin jebt, und mit leichter Ironie ruft er da3 Recht an, „welches die freie Kunſt uns verleiht“, um fein im Domino maskirtes Ebenbild auf eine jener Königlichen Redouten zu führen, welche die Höhe des Jeröme’schen Regiments bezeichneten, ebenjo be—

Franz Dingelſtedt. 105

rühmt wegen ihrer fabelhaften Pracht, wie wegen ihrer zügellofen Freiheit. Als Jemand flüfternd von der Anweſenheit der Königin ſprach, rief der König laut und ärgerlid: „La reine! Qui parle donc de la reine! Je ne connais pas de reine ici!* &3 war ein raufchender Feſtzug, ein Bacchanal, ſcheinbar ohne Enbe. „Morgen wieder luſchtick!“ jagte der König; und „treten wir ein!“ jagt der Dichter dem es ja jelber wie ein Zauber vorkommen mußte, daß er jüngjt durch dieſe nämlichen Räume gewandelt, in Württembergifcher Hofuniform, ein Gaft des Kurprinzen und Mitregenten:

Es if Dienftag, die neunte Wbendftunde des 14. Februar 1809. Zreten wir ein, fraft bem Rechte, welches bie freie Kunſt uns verleiht, obgleich fie nicht „hoffähig” macht. Treten wir ein in den goldenen Eaal, beffen ftolz geihwungene Wölbung und weißgypſernes Laubwerk von ben majeftätifchen Weiſen der erften Polonaife bald mwiderhallen wird, deffen reiche Vergol⸗ dung in hundert Spiegeln bei bem Schein von taufend und abertaufend Kerzen flammend fid) wiederholt, deffen ganze Yänge, 150 Fuß, deffen ganze Breite, 40 Fuß, von einem Gewirr ber malerifcheften Trachten, von einem Gejchwirre der füheften Stimmen belebt if. Treten wir ein!

Selbſt unter der Verkleidung können wir aus ihrer Mitte das deutſche Blut und das fremde ſcheiden. Sie ragen hervor und gewinnen den Preis der Schönheit, bie vollen, hohen deutfchen Geftalten, die Töchter altadeliger Geſchlechter aus Preußen, Hannover, Heflen, Brauns fchweig, bie Scheele, die Hardenberg, bie Oberg, die Lömwenftein, die Truchſeß: berühmte Sterne der germaniichen Heraldik, welche es nicht verihmähten, um ben korfiichen Kometen ihre feiernde Bahn zu ziehen und dem Liebeshof dieſes neuen provengalifchen Fabelkönigs zu ſchmücken. Neben ihnen das Heine, zarte, fchwarzäugige, bewegliche FFranzoienthum: Madame Boucheporn, das einzige Kind eines Präfekten im fräntifchen Kaiferreih, in Kaſſel die Gattin des Präfelten bes königlichen Palaftes, Madame Simeon, des Minifterd Schwiegertochter, eine fernige Pariferin, bis zur Derbheit natürlich, voll gaufelnder Lebendigkeit, Madame du Goubras, ein halbes Kind noch, faum der heimathlichen Penfion entnommen und in eine weftphäliiche Gräfin Berne terode umgetauft. Um Kopfeslänge ragt über fie hervor Bianca La Flöche, bie Jtaliänerin, anzufchanen wie eine wanbdelnde Marmorftatue aus dem Vatikan. Und damit fein Stamm, fein Völkername, kein Erdtheil fait fehle im diefem Kongreß ber Schönheiten, geht dort auch eine Amerifanerin umher, Madame Rewbel, die Schwiegertochter de3 berühmten parifer Konventö- manned, für König Jeröme eine nicht immer willlommene Mahnung an ihre Freundin, feine geſchiedene Frau, Miß Patterfon.

Wir begreifen, twelche Fascination diefe Welt, kommend wie ein Märchen und gehend wie ein Spuk, für den Dichter haben mußte, al3 fie zuerft aus ihren Trümmern ihm entgegentrat, von der nüchternen Helle des Tages nur noth— dürftig verhült. Für Dingelftedt war diejes Kafjel, damals nod voll von lebendigen Zeugnifjen und Zeugen der weftphälifchen Zeit, gleihlam der Schein einer Wirklichkeit, aus welcher dieſe hervortaudhte, wie fie war, wenn jein Dichterwort fie beſchwor:

Schlafen rings in dumpfer Stille ſonder Licht und Widerhall Jene hohen Häuſerreihen und darin die Menſchen all’,

Dann betret' ich euch, ihr Steine, deren Herz Natur belebt, Daß ihr meiner ſpäten Stimme die vermißte Antwort gebt!).

Frühe ſchon hatte der General von Bardeleben ſeinen jungen Freund ob deſſen unnatürlicher Vorliebe für das Königreich Jeröme's, dieſes Reich der Fäulniß und der Schmach und Schande für jedes deutſch fühlende Herz getadelt.

1) Spaziergänge eines Kaſſeler Poeten: Auf dem Königaplah. Sämmtliche Werte, 3b. VII, ©. 125.

106 Deutſche Rundichau.

Aber der wadere Mann wird fich gefreut haben, ald ex im Frühling 1849 die erften, in Kafjel ſelbſt publicirten Proben des neuen Romane don Dingelftedt (08. Denn in diefer großartig geplanten Darftellung der fieben Jahre jollte es endlih zum Austrag kommen zwiſchen dem Dichter und dem Patrioten, und fein Zweifel, daß der Patriot den Sieg davongetragen Haben würde. Denn wenn e3 freilich Heut’ auch dem ernfteften Bemühen nicht mehr gelingen wird, die durcheinanderlaufenden Fäden des Entwurf3 hinlänglich zu entwirren, um der romanhaften Entwidlung als folder folgen oder einen bejtimmten Verlauf der Handlung angeben zu können: jo viel doch fteht jet, daß der Dichter jeinen Helden aus den mannigfahen Verſuchungen und Gefahren, die an den ehrgeizig träumenden und doch idealiich angelegten Yüngling herantreten, aus all’ den Liebes- und anderen Händeln, zulegt geläutert und geftählt, als deutjchen Frei— heitsfämpfer hervorgehen lafjen wollte Der mißglüdte Dörnberg’sche Aufftand jollte die Peripetie bilden: jchon in dem jhimmernden Gewühl des Faſtnachts- balles werden fie und gezeigt, die nicht viel jpäter, am „Aſchermittwoch,“ ihr Blut verfprigt für eine, damals noch hoffnungsloſe Sade: „ein halb Dutzend Masken etwa, alle in dunkle Dominos gehüllt,“ und um einen Farotiſch ver- ſammelt. . . . Es war Jonas, der amerikaniſche Agent, Oberft von Dörnberg, Emmerich, der alte abenteuernde Parteigänger, und noch ein paar Häupter aus dem uns bekannten Club: ein ganzes Neſt voll Verſchwörer, die mitten im königlichen Schloß zuſammenſteckten; kühne Waghälfe, welche unter einem jchein: baren Hazardipiele ihr wirkliches Spiel, um den Ginfaß einer Krone, verbargen. Man entnimmt den vorhandenen Skizzen, welch' eine Fülle charakteriftifcher Geftalten dem Auge de3 Dichters vorſchwebte, während die bereit3 ausgeführten Stüde die Kraft und Farbe der Dietion zeigen, mit welcher er fie auszuftatten gedachte; und in der That, die heimijch vertrauten Zuftände, gefehen unter dem Licht einer abenteuerlichen Romantit franzöjiicher Leihtjinn und franzöſiſche Grazie dargeftellt im Gegenjaß und Kampf mit dem ftarren, beſchränkten, aber grundbraven Altheffentyum, von welchem ein Vertreter ihm noch im eigenen Bater lebte: es konnte für Dingelftedt Fein glüdlicheres Thema geben. Das Letzte, was vollendet vorliegt, ift eine ländliche Scene, deren Schauplaß, Hals- dorf, wir aus der Schilderung des Dichters ſchon kennen gelernt haben. Hier Iprehen die Bauern untereinander und mit ihrem Poftmeifter, Metger mit Namen, gleichzeitig ein geichiefter Advocat, der fih „Herr Syndicus“ tituliren ließ, in der beiten oberhefliihen Mundart durch die offenen Fenſter ſchallt es jubelnd zurüd: „Naus met de ladanſche Brokke! Naus met de parijer Hungerleeder! Naus met dem Häne Kroße, dem Jeronemus;“) und das Ganze Elingt aus mit zwei jchönen Liedern, die man heute noch in Heffen fingen hören fann; das eine von den Bauernmädchen:

Auf diefer Welt Hab’ ich fein’ Freud’,

Ih hab’ einen Schab, und ber ift weit.

In ferne Lande mag ich nicht,

Und lange Kleider trag’ ich nicht.

') Hinaus mit den lateinischen Broden! Hinaus mit den Parifer Hungerleidern! Hinans mit dem fleinen Knirps, dem Hieronyinus!

Franz Dingelftedt. 107

Denn lange Kleider und ſpitze Schuh, Die kommen keiner Dienſtmagd zu!

Da3 andere von den Bauernburfchen : Bruder Hannjooft, weißt Du was: Trint mit mir aus Einem Glas!

Der Kohrföricht Toll lewe, Ter Kohrprinz darnewe

Un alle brafe Offencier: Kohrheflen jeint wir!

Hier bricht dad Romanfragment ab; und der Verfaſſer mochte mit Luft oder Unluft, es fortzuführen, nod kämpfen, ala er fih Anfang 1849 auf Oetker's Drängen entſchloß, „Drei Kapitel aus Dingelftedbt’3 Roman: Sieben Jahre“ im „Unterhaltungsblatt zur Neuen Heſſiſchen Zeitung” zu veröffentlichen. Ich erinnere mich noch jehr qut, mit welcher Begeifterung in Heſſen man dieſe Gapitel (Einzug Yeröme’3, Maskenball und Dorfjcene) aufnahm, und melde Erwartungen man daran knüpfte. Dingeljtedt jelber leitete die Publication (4. März 1849) durd) folgendes Vorwort ein:

Dem Wunfche des befreundeten Herausgebers biefer Blätter Folge leiftend, theile ich dem— felben zu beliebiger Veröffentlihung drei Bruchſtücke aus meinem, feit Jahr und Tag angekün— digten „weftjäliichen‘ Romane mit. Meinetwegen mögen die abgeriffenen Blätter für Noah’s: tauben genommen werden, ausgejendet, um zu erfunden, ob die großen Wafler Hinlänglich ſich verloufen haben, jo daß für die Dichtung eine jefte Scholle zu grünem Anbau wieder möglich geworden ift. Das Ganze wird deßungeachtet auf jeine Erſcheinung teilnehmende Freunde immer noch ein Weniges warten laſſen. Früher hielt mich von raſcher und voller Ausgabe eine vielleicht übertriebene Bedenklichkeit ab; ich wollte dad mit Liebe und Fleiß gehegte Werk vieler Jahre einer perfönlichen Ungunft und augenblidlichen Verſtimmung gegen den Verfaſſer nicht überantworten. In diefen Zweifeln und jo zu jagen mitten in der lebten Arbeitsnacht über- raſchte mich die Dlorgenröthe einer großen Revolution: ficher nicht der rechte Hintergrund für ein geichichtliches Gemälde, wie ich es zufammengeftellt und ausgeführt habe. Zudem mußte es durch eine wunderliche Fügung des Schidjald, romanhafter ala mein Roman, fich begeben, daß eben durch jene Revolution die Geftalten der Napoleoniden, unter ihmen auch mein König Jeröme, auf einmal bandelnd und lebendig auf der Weltbühne wieder auftraten, nachdem wir fie ala unſer gutes Eigenthum für die Dichtlunft volllommen gewonnen, d. h. für die Wirklichkeit voll- fommen bejeitigt geglaubt Hatten. Weit entfernt, in diefem Umſtande eine Förderung meiner fünftleriichen Zwede und Mittel zu erkennen, fühlte ich diefe vielmehr in unbequemfter Meife geftört und verwirrt; es ift um im allerneueften Jargon der politifchen Tribüne zu reden die ganze Tragweite meiner Grfindungen verändert, das fo unendlich wichtige und demnach mit größter Gewifienhaftigfeit zu beftimmende Verhältniß zwiſchen Wahrheit und Dichtung gründlich verrüdt worden. So haben im Yaufe weniger Jahre nicht nur die allgemeinen Bes dingungen der Runft, nicht nur die großen Weltzuftände und Zeitfragen, ſondern auch die eins zelnen Standpunfte innerhalb und außerhalb meines Romans, die perfönlichen Beziehungen des Derfaffers zum Publitum und zur Kritik einen dergeftalt durchgreifenden Wechfel erlitten, daß ein unbefangenes Urtheil mich der Ziererei und abfichtsvollen Zurüdhaltung mit demſelben nicht beichuldigen wird. Diejenigen Echrififteller, welche über fich und ihren Beruf zur Klarheit ges: fommen find, werden mich verftehen, wenn ich überhaupt eine gewiffe, mit jedem Buche wach: ſende Zagjamteit und innere Scheu vor dem literäriichen Markte offen befenne. Jene glüdliche Raivetät und Sorglofigkeit, womit wir im fFlügelfleide vor das Publifum eilen, jungen Mädchen vergleichbar, welche die Stunde des erften Balles nicht erwarten lönnen, ſie weicht, je ernftere Anſprüche wir jelbft im Namen der Welt und der Kunft an und ftellen, einer zögernben, mit fich felbft niemals zufriedenen und durch feinen Erfolg gelöften Befangenheit. Ich hoffe nicht,

108 Deutſche Rundſchau.

daß dieſe dem Leſer im Buche ſelbſt fühlbar und läſtig ſein wird, wie auch ich in den alle Zweifel und alle Mühen überſchwänglich lohnenden Stunden des Schaffens fie immer feſt und glücklich uberwunden habe; aber fie begleitet mich, jo oft ich an bie lehzte Förderung meines Wertes Hand anlegen und der Nichts zurüdgebenben Prefie es überliefern will. Ya, fie verläßt mich nicht einmal bei diefen erften Schritten, womit ich einzelne Geftalten und Bilder aus dem Ganzen verfuchäweife an das prüfende Zageslicht und feine unbeftehliche Beleuchtung hinaus: trage. Iſt darum zu befürchten, daß dich Ganze geringer, werthloſer und welter ſich barftellen werde, ald manche frühere, mit beneidenswerthem Leichtfinne hinausgeichleuderte und mit ebenfo beneidenäwerthem Glück aufgenommene Skizze? Die Hand auf's Herz, ich glaub’ es nicht; ber Leſer enticheibe, ebenfalld die Hand auf's Herz.

Stuttgart, 25. Januar 1849. Fr. Dingelftedt.

Ob Dingelftedt, als er dieſe Worte jchrieb, wirklich no an die Vollendung geglaubt oder fie auch nur ernftlich beabfichtigt hat? Beabfichtigt, gewiß; geglaubt, eben jo gewiß nit. Der Riß, den aud hier das Jahr 1848 gemadt, var zu tief: wir alle, die Welt, die Menſchen und die Dinge waren andre, vorher und nachher, al3 ob eine Verftändigung zwiſchen Diesjeit3 und Jenſeits nicht mehr möglih; und wenn Dingelftedt jagt, daß, romanhafter ald der Roman, die Napoleoniden auf der Weltbühne wieder aufgetreten , wer weiß, ob ihn leiſe nicht zuweilen eine Ahnung beichlichen habe, daß ebenſo qut die Kurfürften wieder „abtreten“ Könnten? Der Berfaffungsconflict in Heilen, zujammen mit ber ichleswig holftein’schen Frage, der Ausgangspunkt der deutſchen Ginheits- beivegung, hatte begonnen. Auf heſſiſchem Boden jollten zum erften Male, und gleihjam zum Worpoftengefeht vor dem großen Enticheidungstampf, der Süden und der Norden Deutichlands, Defterreih und Preußen, einander unter den Waffen begegnen. Was in den zornigen oder witzigen Reimen der politijchen Dichter bisher nur ein Spiel der Phantafie getvefen, gewann nun, in furdt- barem Aufruhr, wirkliche Geftalt; und ihm, der auf den entlegenen Pfaden jeine® Romans mit der Sicherheit dahingejchritten war, daß Vergangenes ver- gangen fei, mochte num plößlid zu Muthe werden, wie dem Nachtwandler, der fih angerufen Hört. Das Werk blieb Liegen; immer noch einmal, bis zu feinen legten Tagen, in Wien, vegte fich bei Dingelftedt der Gedanke, dad Abgebrochene weiterzuführen aber die Stimmung kehrte nicht wieder, und nicht ohne Wehmuth trennen wir und von einem Torſo, auf welchen jo viel Arbeit und jo viel Liebe vergeblich! verwandt worden find.

Dr. Saurentius Scholz von Roſenau,

ein Arzt und Botaniker der Renaijfance?).

Bon Ferdinand Cohn (Breslau).

LET

J.

Einen Völkerfrühling, wie ihn das Zeitalter der Renaiſſance in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts und während des ganzen ſechzehnten Jahr— hunderts erlebte, hat die Weltgeſchichte nur noch einmal geſehen, in jener Epoche, die wir als die Blüthe Griechenlands bezeichnen. Aber damals war es doch nur ein einziges, kleines Volk geweſen, das mit genialer Begabung auf allen Gebieten geiſtigen Strebens und künſtleriſchen Schaffens Unvergängliches hervor— gebracht hat; und wenn gleich unſere Cultur noch heut an den Früchten zehrt, die in jenem helleniſchen Blüthenalter gereift ſind, ſo liegt doch jene Zeit uns ſo fern, und das antike Leben iſt uns ſo fremd, daß wir nur ſchwer zu einem vollen Verſtändniß jener Epoche gelangen. Aber von den Männern der Renaiſ— fance fühlen wir, daß fie Fleiſch von unferem Fleiſch, Blut von unferem Blut find; die Häufer ftehen noch, die fie jich erbaut, wir wandeln in den nämlichen Straßen, in denen fie gewohnt; die ntereffen, von denen fie bewegt wurden,

1) Calagius, Andreas (1549—1609) Hortus D. Laur. Scholzii celebratus carmine

Wratislaviae apud. Georg. Baumann 1592. Acidalius, Valens (1567—1595) Janus quadrifrons in Kortum Laurentii Scholtzii

med. Wratisl. ibid. 1594.

In Laurentii Scholzii med. Wratisl. hortum epigrammata amicorum ibid. Leges hortenses. Leges convivales. ibid.

Catalogus arborum fruticam ac plantarım tum indigenarum quum exoticarum horti Scholziani med. Wratisl. ibid.

Goeppert, Heinrich (1800— 1384) Ueber bie ältere jchlefiiche Pflanzenkunde ala Beitrag zur fchlefifchen Eulturgeichichte. Schlefifche Provinzialblätter 1832, Bd. 96, ©. 108 ff.

Henschel, Auguft Wilhelm (1790 —1856) Zur Gefchichte der botanischen Gärten und der Botanik überhaupt in Schlefien im 15. und 16. Jahrhundert. Dtto und Dietrich’s Allgem. Gartenzeitung 1857, ©. 171 fi.

Gräber, Jonas (1806-1889) Lebenäbilder hervorragender fchlefilcher Aerzte aus vier Jahrhunderten. Breslau, 1889.

110 Deutihe Rundſchau.

beherrichen noch unfer ganzes modernes Leben. Aber wa3 und jene Männer be- ſonders ſympathiſch macht, dad ift der Idealismus und der Tyeuereifer, ber fie beſeelt; fie find fi) defjen bewußt, daß fie im Dienfte der Humanität wirken, daß fie der Menſchheit die verloren gegangenen Güter edler Bildung, fittlicher Vervollkommnung, daß fie ihr Gedanken: und Gewiffensfreiheit erringen. Der Drud, welcher auf den Völkern des Abendlandes während des Mittelalterd, und in den lebten Jahrhunderten ſchwerer, als je, gelaftet hatte, war unerträglich ge worden; war es bis dahin gelungen, die Auflehnung, welche freiheitsdurftige Geifter von Zeit zu Zeit verſucht, durch Folterqualen und Scheiterhaufen nieder- zudrücden, jo ließ fich der graufame Terrorismus nicht länger aufrecht erhalten; nachdem zuerft in Jtalien unter der Sonne de3 neuen Frühlings das Eis viel- hundertjähriger Erftarrung geſchmolzen war, brachen überall in Europa bie Keime, bald auch die Blüthen frifchen Geifteslebens freudig hervor.

Die wahre Bedeutung der NRenaiffance beruht in ber Rückkehr zur Natur. Die Menſchheit Hatte ſich im Laufe de3 Mittelalter der Natur völlig entfrem- det; im trüben Spiegel finfterer Askeſe und haarjpaltender Scholaftif erſchien die Natur al3 ein Zerrbild des himmlischen Paradiejes, von böjen Geiftern ge ichaffen, um die Menfchen ihrer wahren Heimath zu entfremden und durch Ver— lodung zur Sinnenluft in Verdammniß zu führen. Mit der Veradhtung ber Natur ging almälig auch die Fähigkeit verloren, diejelbe unbefangen zu beob— achten geſchweige denn, diefelbe wiſſenſchaftlich zu erforichen. Wer ben frevel- haften Verſuch machte, in die Geheimniffe der Natur einzudringen, ward ala Zauberer angefehen, der mit dem Teufel im Bunde ftand, und war den Henkern der Anquifition verfallen. Nun aber, da man wieder die Augen zu öffnen wagte, erkannte man mit freudiger Ueberraihung, da die Natur ein harmoniſch geordnete Werk des Schöpfers fei, deffen Größe und Schönheit fi um fo herr- licher offenbare, je tiefer man in diejelbe eindringe. So wurde die Renaiffance die Wiege der Naturwiſſenſchaft.

Dan gibt gewöhnlich an, die Renaiffance fei ausgegangen von der Wieber- belebung der antiken Tradition, von der Wiederaufnahme der Eaffifshen Studien in Italien. Wahr ift, daß die Männer, welche die neue Zeit begründeten, der eigenen Kraft mißtrauend, eine Anlehnung und Stüße juchten in der Autorität der alten Griechen und Römer, daß fie darım eifrig die Ueberrefte der antiken Kunft aus taufendjährigem Schutt ausgruben, die verjchollenen Handfchriften aus dem Staube der Hlofterbibliothefen hervorfuchten, und voll Begeifterung ſich beftrebten, ihre Sprache zu verftehen, ihren Geift zu erfaffen. Aber in Wahrheit war doc die Natur die Lehrmeifterin der großen Künſtler und Gelehrten der Renaifjance. Naturaliften waren die Donatello, die Mafaccio, wie alle ihre Nachfolger; aber der nämliche Geift, welcher die italienischen Künftler des Quattro» cento und Ginquecento antrieb, von den erftarrten Formeln der Gothik ſich los— zureißen und die Kunſt duch Schöpfen aus dem frifchen Born der lebendigen Natur zu verjüngen, bejeelte auch ihre Zeitgenoffen, welche den Grundftein Iegten für den Aufbau der Naturwiſſenſchaft, der Phyfit und der Aftronomie, für die Erforſchung der Thier- und der Pflanzenwelt, ihrer Anatomie und Phyfiologie und für die Schöpfung der wiſſenſchaftlichen Medizin.

Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 111

Am meiften fam der neue Geift den Univerfitäten zu Gute. Die Univerfi- täten des Mittelalters waren Höfterliche Bildungsanftalten geweſen, geftiftet und unterhalten von der Kirche, Geiftliche waren die Doctoren; der größte Theil der Schüler hatte zum Meindeften die niederen Weihen empfangen. In ber Facultät der Juriſten wurde nur kanoniſches Recht gelehrt: in der der Artiften drehte ſich der Unterricht um den ſcholaſtiſchen Streit der Realiften und der Nominaliften. Ein medicinijches Studium gab e8 überhaupt nicht mehr, feit die Schulen zu Salerno und Montpellier, in denen unter orientalifhen Einfluß die mediciniiche Wiſſenſchaft um die Wende de3 erjten Jahrtauſends die leßte Pflege gefunden hatte, von der philofophifch theologijchen Zeitrichtung überwuchert worden waren. Mit dem Anbruch der Renaifjfance wurden die Univerfitäten verweltlicht, zuerft in Jtalien, wo die Nepublit Venedig, die Fürſten der Häufer Eite und Medici und die päpftliche Curie in edlem Wetteifer in ihren Univerſi— täten zu Padua, Ferrara, Piſa und Bologna Stätten der freien Forſchung und Lehre eröffneten. Sie wurden bie Bildungsftätten des gefammten Europa; hierhin ftrömte auch die deutſche Jugend; hier empfingen Grasmus, Reuchlin, Ulrich von Hutten ihre klaſſiſche Bildung, die fie dann über die Alpen trugen, two die geiftige Bewegung ſich mit überrafchender Schnelligkeit fortpflanzte bis an die Ufer der Nordiee, und dann weiter nad) Often bis tief hinein ın die ſlawiſchen Lande.

Diesſeits der Alpen und ganz bejonders in Deutichland nahm die Renaiffance ein neue3 Element auf: fie verfchmolz mit der Reformation. In Italien Hatte fie vor den Einrichtungen der Kirche Halt gemacht; waren doch die Kicchenfürften felbft die eifrigften Förderer der Nenaiffance gewejen: Aber au die fittliche Fäulniß, das traurige Erbtheil mittelalterlicher Verwilderung, hatte fie nicht zu heilen vermocht; jo iſt es gefommen, daß wir troß des Glanzes feiner Fünft- leriſchen und wiſſenſchaftlichen Schöpfungen an dem goldenen Zeitalter de3 italie= nischen Ginquecento doch feine volle Freude empfinden können. Es lag an ber Gemüthötiefe, der ernfteren Lebensauffaffung des Nordens, dab in Deutjchland die Renaiffance ſofort auch beffernde Hand an die Einrichtungen der Kirche legte, nicht in gewaltthätiger Revolution, jondern in allmäliger Umgeftaltung, getragen von dem Volksgewiſſen und der offenen oder ftillen Sympathie ber höheren Geiſtlichkeit. Thatſache ift, daß alle jene Männer, welche dem Huma— nismus, der verebelten, wahrhaft menschlichen Geiftesbildung, den verjüngten Künften und Wifjenfchaften in Deutfchland die Bahn eröffneten, zugleich die Träger der Reformation gewejen find.

I.

Das fünfzehnte Jahrhundert war noch nicht zum Abſchluß gelangt, ala die Renaiffance auch in Schlefien ihren Einzug hielt. Hier Hatte fi) aus der Miſchung ſlawiſchen und germaniichen Blutes ein tüchtiges Volksthum entwickelt, in dem nord» und füiddeutiche Charaktereigenthümlichkeiten ſich glücklich vereinigten, und da3 feinen geiftigen, wie feinen geographifchen Mittelpunkt in der Landes» hauptftadt Breslau fand. Obwohl Breslau damals kaum 40,000 Einwohner zählte, jo nahm es doch al3 deutjche Grenzwacht und Vorpoften des Hanfabundes

112 Deutiche Rundſchau.

eine bedeutungsvollere Stellung ein, als vielleicht Heutzutage; war doch Wien auch nicht größer, und von Berlin, das nur den vierten Theil jener Einwohnerzahl befaß, war no kaum die Nede. Durch feine Verbindungen mit Krakau und Kiew, mit Thorn und Danzig auf der einen, mit Venedig, Nürnberg und Ant» werpen auf der anderen Seite wurde Breslau die WVermittlerin des Handels zwiſchen dem ſlawiſchen Often und dem deutjchen Weften und Norden. Auf dem Breslauer Salzring (heute Blücherpla) ftapelte das Salz von Wieliczka; klein— ruffiiche Fuhrleute, deren Quartier die noch heute nad ihnen benannte Reufche (Reußiſche) Straße war, brachten Pelzwerk aus dem Moskowiterland, Pottajche. Wachs au3 den galiziichen Wäldern, Wein aus Ungarn und verführten dafür indifche Gewürze, florentiniſche Seide, niederländiiche Tuche, jchlefiiche Leinwand in ihre Heimathaländer. So erwuchs im Laufe des Mittelalterd in Breslau eine mächtige Kaufmannjchaft, deren Gejchlechter die gefammte Stadtverwaltung und Rechtspflege für fih in Anſpruch nahmen und deshalb mit den aufftrebenden Zünften in unabläffigen, oft blutigen Kämpfen lebten; aber die bürgerliche Frei— beit gegen den Biſchof, die fchlefischen Fürften und den böhmijchen König kraft» voll zu vertheidigen wußten. Wälſche Meifter hatten jeit 1488 die neuen Kunſt— formen der Renaiffance in Breslau eingeführt, im Laufe des jechzehnten Jahr: hundert3 gelangten diejelben zur allgemeinen Herrſchaft und verdrängten vollftändig die gothifche Tradition. Die Häufer der durch blühenden Handel und Gewerb— fleiß zum Wohlftand gelangten Bürgerichaft wurden num alle im neuen Stile umgebaut; fie erhielten jene maleriichen Giebelfronten, jene funftvollen Stein- portale, welche den Hauptftraßen des alten Breslau, und inäbefondere jeinem Ring, troß mancherlei jpäterer Veränderungen, noch heute fein patrizifches Ge- präge verleihen. Die ehriwürdigen Kirchen waren ſchon von dem frommen Glaubenseifer, das ftolze Rathhaus von dem kräftigen Bürgerfinn des Mtittel- alter8 gegründet worden; nun wurden fie vollendet, mit Renaiſſancekunſtwerken ausgeſchmückt und erhielten die zierlichen Thurmhelme, die für dad Breslauer Stadtbild jo charakteriſtiſch find.

Gleichzeitig mit der Kunſt der Renaiffance zog auch die Wiedergeborene Wiſſenſchaft in Schlefien ein. Aus Prag und Krakau, wie aus dem deutſchen MWeften famen die Miflionäre der humaniftiichen Bildung; mit offenen Armen wurden fie von den Städten aufgenommen; an Stelle der verfommenen Stabdt- und Klofterichulen wurden moderne Gymnajien gegründet ; hier twurde die Jugend durch das Studium der Haffiichen Vorbilder für den Geift der neuen Seit vor» bereitet; fie lernten lateiniich ſprechen und jchreiben, wie Cicero, lateiniſch dichten, wie Ovid und Horaz. Aber auch für die Natur wurde der Sinn gemwedt, ala die Reformation in Schlefien eindrang und ſich in wenig Jahren über das ganze Land verbreitete. Hatte doh Martin Luther in feinem „Sendichreiben an die Bürgermeifter und Rathsherrn von allerlei Städten in Deutjchen Landen“ den Unterricht in der Naturkunde für die Schule eindringlich empfohlen: „wir fehen die Greatur recht an, mehr denn im Papftthum; wir beginnen Gottes heilige Werke und Wunder auch aus den Blümlein zu erkennen; in feinen Creaturen ihauen wir die Macht feines Wortes.“ Schon 1558 konnte Melandthon von

Dr. Laurentius Scholz von Rofenan. 113

den Schlefiern rühmen, „ed gebe nirgends in Deutjchland jo viele Leute aus dem Volke, die Künfte und Wiffenichaften pflegten, wie in Schlefien“.

Mit der Ausbreitung der Bildung änderte ſich auch der jchlefiiche Volks— harakter: Im Adel ftarben die rohen Szlachſchitzen des Mittelalter aus, die ihre Kraft in unabläſſigen Fehden, in unmäßigen Trinkgelagen vergeudet hatten. Die jungen Adligen wwetteiferten mit den Söhnen der reichen Kaufleute im Streben nad) feiner Sitte. Nachdem fie auf einer deutſchen Hochſchule eine philologifhe und philofophiiche Vorbildung gewonnen, gingen fie zur Vollendung ihrer Erziehung nad Italien und Frankreich: nicht, wie heute üblih, mit. dem Rundreifebillet in dreißig Tagen; fie machten ſich in allen größeren Städten heimiſch, ftudirten arı den dortigen Univerfitäten, traten in Verkehr mit den be- rühmteften Staatömännern, Gelehrten, Künftlern; fie erlernten nicht nur die Univerjalfpradhe jener Zeit, das klaſſiſche Latein, fondern fie beherrſchten auch fließend die modernen Landesſprachen, italienisch, franzöſiſch, ſpaniſch; das Eng- liſch gehörte damald nod nicht zu den Requifiten der höheren Bildung. Heimgefehrt juchten fie ihren Ruhm, der Adel in der Regierung des Landes, die Patricier in der weiſen Verwaltung ihrer Vaterftadt. Sie wurden Beihüher der Künfte und Wiſſenſchaften, fie jammelten Kunftwerfe und Bibliotheten. Bald ftellte fi neben den Gejchlechteradel, der auf Reichthum und Glanz der Familie beruhte, als gleichberechtigt der Gelehrtenadel, deſſen Adelsbrief das Doctordiplom war; zu diefem Gelehrtenadel gehörten nunmehr auch die Aerzte. Im Mittelalter war die Ausübung der Medicin in Schlefien, wie überall, eine Function der Geiftlichen gewejen; die Mönche heilten ihre Kranken mit Beſchwö— rungen und Reliquien; fie kannten nur wenige Hausmittel, denen der Volks— glaube Wunderkräfte zufchried. Allerdings gab e8 an den Domfapiteln ftet3 einen oder mehrere gelehrte Kanoniker, welche ihre Studien an den Univerſitäten gemacht und dort Doctoren der Arzneilunde geworden waren; aber aud ihr Wiſſen war nur aus Büchern geſchöpft, zumeift aus den Ueberſetzungen arabifcher Aerzte, welche im Reiche der Chalifen in Bagdad, Cairo oder Cordova geblüht, und die jelbft twieder ihre Weisheit zumeift den Ueberſetzungen der griechiichen Mediciner entlehnt hatten. Aber die Deffnung der Leichen war den Geijtlichen unterfagt geweſen, ebenjo wie jede chirurgiſche Operation, bei der Blut vergofjen werden mußte; diefe twurden den Badern oder den Scharfrichtern überlafjen. Führte der Weg zur Medicin durch die Mlofterpforte, „jo ging der Weg zur Chirurgie durch die Barbierftube.“

Nun war an den Univerfitäten Italiens die wiffenjchaftliche Medicin wieder erftanden, die ihr Lebensprincip nicht aus den verfälichten Ueberlieferungen des Avicenna oder des Averrhoes, ſondern aus der unbefangenen Erforihung des Menſchen und feiner Natur jchöpfte. Unter dem Schuße des Senatd von Vene: dig hatte Vejal in Padua das exfte anatomische Theater eröffnet; von da ging er nah Piſa und Bologna, und nun wurde durch ihn und feine Nachfolger auch an diejen Univerfitäten den Studirenden der Medicin in Leichenöffnungen Ge— legenheit geboten, ſich klare Anſchauungen von der wunderbaren Organijation des Mtenjchenleibes zu erwerben, ohne die weder eine Diagnofe noch eine Therapie der Krankheiten möglich ift.

Deutihe Rundſchau. XVI, 7. 8

114 Deutſche Rundſchau.

Gleichzeitig wurde noch ein anderer Zweig der Heilkunde in die neuen Bahnen des Experiments und der Beobachtung geleitet. Die Heilmittel der griechiſchen Aerzte waren zum allergrößten Theil dem Pflanzenreich entnommen; ein römiſcher Militärarzt, Dioscorides, hatte in der erſten Kaiſerzeit eine Be— arbeitung des Heilſchatzes in griechiſcher Sprache geſchrieben, die ſeitdem als un— fehlbare Autorität gegolten hatte. Aber im Laufe von anderthalb Jahrtauſenden waren die griechiſchen Namen der antiken Heilpflanzen größtentheils verſchollen oder auf andere Gewächſe übertragen worden. Es war daher eine der erſten Aufgaben, welche die Naturforſcher und Aerzte der Renaiſſance ſich ſtellten, die Pflanzen des Dioscorides wieder aufzufinden und ihre Heilkräfte auf dem Wege des Experiments auszuproben. Auch hier ging Venedig allen Anderen voran. Im Jahre 1533 wurde zu Padua, in der Nähe des Doms des heiligen Antonius der erſte botaniiche Garten gegründet, in welchem alle Heilpflanzen der klaſſiſchen Medicin und die nachträglidy noch aufgefundenen angebaut und durch einen be fonderd dafür angeftellten Oftenfator den ftubirenden Aerzten vorgezeigt und erläutert werden jollten. Dem Beifpiele von Padua folgten in kurzen Zwiſchen— räumen Pija (1544) und Bologna (1563); aus den Demonftratoren der offi- einellen Pflanzen, die zugleich Vorſteher der botanischen Univerfitätsgärten waren, find die modernen Profefjuren der Botanik hervorgegangen.

Der Ruf der großen Aerzte, Anatomen und Naturforjcher, die an den italie- nifchen Univerfitäten lehrten, lockte aus ganz Europa die Studirenden der Medicin über die Alpen; auch aus Schlefien gingen zahlreiche junge Aerzte nad Padua und Bologna, und fehrten nad) Jahr und Tag, mit der Laurea in der Philo- fophie und Medicin gekrönt, in die Heimath zurüd. Viele unter ihnen haben ala Profefforen an deutichen Univerfitäten oder als mediciniſche Schriftfteller ein bleibendes, ehrenvolles Andenken hinterlaffen. Sie ftanden untereinander in regſtem wiſſenſchaftlichen Verkehr; fie nahmen in der damaligen Geſellſchaft eine angejehene Stellung ein; jie waren mit den vornehmften Patricierfamilien ver: ſchwägert. An der Spitze der jchlefiichen Aerzte im Zeitalter der Renaiffance fteht Grato von Krafftheim, der Sohn eines armen Breslauer Kaufmannsdieners, ber fich durch fein Wilfen und Können zum einflußreichen Förderer der Refor— mation, zum Leibarzt dreier Kaifer, zum Zaiferlichen Pfalzgrafen und Erbherrn auf Rückerts bei Reinerz, gleichzeitig aber aud) zu einem der berühmteften Aerzte feiner Zeit erhoben Hatte.

Wenn ich Hier verfuchen will, von einem unter den jchlefiichen Aerzten der Nenaifjance, dem Dr. Laurentius Scholz, das Lebensbild auszuführen, fo ift es nicht etwa, weil derjelbe in willenichaftlichen Zeiftungen die anderen überragt hätte; denn obwohl feine Zeitgenofjen diefen Dann als einen der erften Nerzte und Botaniker feines Jahrhunderts gepriefen haben, jo Hätte doch die unparteiifche Geſchichte dev Wiſſenſchaft wenig Veranlaffung, fi noch heute mit ihm näher zu beſchäftigen. Aber Laurentius Scholz ift einer der würdigften und zugleich einer ber liebenswürdigften Repräjentanten einer hochintereſſanten Culturepoche, two im wiſſenſchaftlichen, wie im gefelligen Leben ſich in Deutjchland und ins bejondere auch in Breslau eine Blüthe feiner Bildung und idealen Strebeng entfaltet hatte, die es wohl verdient, jelbft der Gegenwart als Spiegel vorgehalten zu werden.

Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 115

II.

lleber die Lebensgeſchichte unſeres Laurentius ift, wie von den meiften Ge— lehrten, nur wenig zu beridten. Er ift im Jahre 1552 in Breslau geboren, erhielt jeine claffiiche Bildung auf dem dortigen Elifabethbgymnafium, und bezog in jeinem zwanzigſten Jahre die Univerfität Wittenberg. Zwar war der hellfte Glanz diefer Hochſchule ſeit dem Tode Luthers und Melanchthon's erlofchen ; doch noch immer jtudirten mit Vorliebe die Söhne des proteftantiichen Deutjch- lands an der berühmten Geburtäftätte des deutichen Humanismus und der Re— formation. Nach vierjährigem Aufenthalt in Wittenberg ging Laurentius, wie fajt alle ſchleſiſchen Aerzte jeines Jahrhunderts, nad talien, zum Studium der Medicin und Naturwiſſenſchaft; denn feine deutjche Univerfität beſaß damals Lehrer und Anftitute, die den jungen Arzt in den neuen Geift diefer Wiſſenſchaften hätten einführen fünnen. Vier Jahre ftudirte Laurentius erft in Padua, dann in Bologna; er war ein eifriger Student, der ſich die Theilnahme, dann die Freundſchaft feiner Profefforen erwarb; er nahm lebhaften Untheil an den botanischen, anatomischen und Elinijchen Uebungen; er jchrieb fleigig die Vorleſungen nad und arbeitete fie zu Haufe forgfältig aus; denn in jener Zeit, wo es noch feine Lehrbücher gab, war ein Gollegienheft, das man getroft nad Haufe tragen konnte, in der That ein koſtbarer Beſitz. Die Breslauer Stadtbiblivothef bewahrt noch mehrere feiner Gollegienhefte; eins derjelben, das er in Bologna nad einer ana= tomiſchen Vorleſung des PBrofeffor Arantius ausgearbeitet hatte, ließ er 1579 noch als Student zu Bafel im Drud erjcheinen !).

Mitte März 1579 verlieh Laurentius Bologna und Schloß fich einer Gejell- ihaft vorriehmer Breslauer an, die eben ihre italienische Reife angetreten hatten. An ihrer Mitte befand fich der junge Nicolaus Rhediger, der Sohn des gleid)- namigen Oberbürgermeifter3, oder wie e8 damals hieß, des Landeshauptmanng von Breslau; dieſer Handelöherr war mit einer Patriciertodhter aus Augsburg vermählt und eiferte den Großfaufleuten von Augsburg, Nürnberg, ja felbft von Venedig und Florenz nach; gleich diejen übte er nicht bloß auf alle politischen und religiöfen Stadthändel entjcheidenden Einfluß aus, fondern er verivendete auch fein fürftlihes, auf Handel und Landbefiß gegründetes Vermögen zur Unterftüßung von Künften und Wiffenichaften ?), jo daß die Zeit feiner Regierung von 1579— 1587 al3 die Rhediger'ſche bezeichnet zu werden pflegt. Die Breslauer Reijegejelichaft war über Augsburg, Innsbruck und den Brenner gefommen, hatte bereit Venedig befucht und begab fid) num über Padua, Ferrara und Bologna nad) Rom, von da nach Neapel, wo Capua umd die herrliche Küſte zwifchen Puzzuoli, Bajä, Gumä und Cap Mifeno befichtigt wurden; dev Rückweg wurde über Florenz und Mailand angetreten. Wir können wohl mitfühlen, welchen mächtigen Eindrud auf die jungen Gemüther der Aufenthalt in Jtalien zurüdlaffen mußte, das da— mals in dem frifcheften Glanze feiner Paläfte und Kirchen, feiner Gemälde und

!) Jul. Caes. Arantii Bononiensis philosophi ac medici elarissimi medicinae et anatomiae in celeberrimo Bononiensium gymnasio professoris de humano foetu libellus a Laurentio Scholzio Silesio ejus discipulo in lucem editus. Basileae 1579.

2) Die Nhedigerena, die Bibliothek feines 1576 verftorbenen Sohnes Thomas, bildet ben werthoollften Grundftod der Breslauer Stadtbibliothek. r

116 Deutſche Rundichau.

Statuen, feiner Villen und Gartenanlagen prangte, wo ſich die höchſte Blüthe feines Handel3 und Kunſtgewerbes mit den Anregungen feiner hochgebildeten Ge— jellichaft und den unvergänglichen Reizen feiner Natur vereinigten. Noch fünf- zehn Jahre ſpäter gedenkt Laurentius Scholz in der Vorrede einer Schrift, die er feinen Reijegefährten, Nicolaus Rhediger und deffen damaligem Mentor, dem in- zwiſchen zum biichöflichen Kanzler aufgeftiegenen Dr. Wader von Wadenfels, widmet, der unvergehlichen Erinnerungen aus jener Zeit, der amregenden Ge- ipräche, die er mit ihnen und noch zwei andern Breslauer Patriciern geführt hatte, als fie mit dem nämlichen Vetturin von Padua nad Mailand fuhren. In Mailand trennten fich die Gefährten; Nhediger mit feinen Freunden wandte ih nad) Genua, Laurentius Scholz mit dem jpäteren Breslauer Schöffen Martin Schilling über Bajel nah Südfranfreih. In Valence, der Hauptftadt des Heinen Herzogthums, das einft Ceſar Borgia beherricht hatte, erreichte Laurentius Scholz den ehrenvollen Abſchluß jeiner achtjährigen Univerfitätsftudien. Zwei Profefforen der dortigen Univerfität führten ihn in die vollzählig verfammelte Facultät ein, von der er, nach einer fiegreich durchgeführten Disputation unter dem Vorſitz des Biſchofs und des Vicekanzlers, mit der Doctorwürde in der Philoſophie und Medicin bekleidet wurde. In die Heimath 1580 zurüdgefehrt, begründete Laurentius zunächft den eigenen Hausftand, indem er eine Waiſe aus angejehener Familie, Sara, die Tochter des 1568 verftorbenen Paſtors und Schulinjpectors Joh. Aurifaber, heimführte, der jelbft wieder mit einer Tochter de3 Breslauer Reformatord Joh. Heß verheirathet gewejen war. Zur Ausübung der ärztlichen Praris ließ ſich unfer Laurentius zuerft in Freyſtadt bei Glogau nieder; nach dem Peftjahr 1585 machte ex fich als Arzt in Breslau dauernd anfällig; furz vor dem Abſchluß des Jahrhunderts, am 22. April 1599 erlag ex der Schwindſucht im fiebenundvierzigften Lebensjahre. Drei Jahre vorher war er in den böhmischen Adelftand unter dem Namen Scholz von Rofenau aufgenommen worden; fein Wappenſchild, das ihm fein väterlicher Freund Crato fraft feiner Pfalzgrafenwürde jchon 1585 verliehen hatte, zeigt einen aufrechtftehenden Sparren mit drei goldenen Roſen, das Helmfleinod zwei Adlerflügel, von dem Sparten mit den drei Rofen gefreuzt. Sein Wahlipruch lautete: „Fac offieium, Deus providebit, Thue Deine Pflicht, Gott wird ſchon ſorgen;“ er bezeichnet den frommen pflichtgetreuen Mann, von dem wir gen glauben, was fein jüngerer Zeitgenofje, der Breslauer Syndicus Nicolaus Henel, von ihm ausſagt, „daß in Beicheidenheit, Liebenswürdigkeit und Reinheit de3 Charakter faum jemals ein Menſch ihn übertroffen habe“.

Auch im Jahrhundert der Nenaifjance verblieben einem jungen Arzte am Anfang feiner Praxis noch Mußeftunden genug; Laurentius verwendete die feinen im Dienfte feiner Wiſſenſchaft, indem ex aus den Schriften der griechijchen, arabijchen und modernen Aerzte die wichtigften Lehrfähe aus dem Gejammtgebiete der theoretifchen und praktiſchen Medicin zufammenftellte, und diefelben, in acht Ab- theilungen überfihtlihh geordnet, unter dem Titel „Mediciniiche Aphoris- men“ herausgab. Das Büchlein ift 1589 zu Breslau in der Druderei von Koh. Scharffenberg,, die noch heute unter der Firma Graf, Barth & Comp. in ihrem alten Haufe fortbefteht, gedruckt und dem Breslauer Magiftrat gewidmet

Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 117

Später mehrte ſich die Prari3 unferes Laurentius dermaßen, daß er die Anftrengungen und Sorgen derjelben, zumal bei feiner angegriffenen Gejundheit, faum zu ertragen vermochte, doch mag diejelbe nicht unlohnend geweſen fein, wie wir aus einem lateinifchen Gedicht entnehmen, das ein Breslauer Poet, Andreas Galagius, ihm 1592 widmete und das mit folgendem, leichtverftänd- lichem Winte fchließt:

„Beileres hätt! ich geleiftet vielleicht, wenn mir ein Mäcenad

Hätte Muße verlieh’n, wie einft Virgil fie beſaß; Doch nur dem Jus folgt Würde und Amt; euch (nämlich den Aerzten) Schäße; Poeten Und Schulmeifter bedrüdt bitter im Haufe die Noth.“

Aber auch inmitten der aufreibenden Berufsarbeit blieb Laurentius Literarifch thätig; war er auch fein jelbftändiger, originaler Forſcher, jo jammelte er doch unabläffig die Briefe und Gonfilien der berühmteften Aerzte und Naturforfcher feiner Zeit, und veröffentlichte diejelben zwei Jahre vor feinem Tode in zwei ftarken FFoliobänden!). Um den Dienft zu würdigen, den er durch dieſe Publi- cationen feinen Collegen erwies, müſſen wir und daran erinnern, daß man damals noch feine Zeitichriften hatte, wie fie heut jede neue Erſcheinung auf wiſſenſchaft— lihem Gebiet jofort zur allgemeinen Kenntniß bringen; neue Erfahrungen und Entdeckungen wurden in der Privatcorrefpondenz niedergelegt, der ſich jene Ichreibfrohe Zeit mit größtem Eifer Hingab. Für uns aber find die Scholz’- ihen Sammlungen von unihäßbaren Werth, da wir ohne fie faum von den Strömungen einer hiſtoriſch bedeutungsvollen Epoche unterrichtet wären, in der die wiſſenſchaftliche Medicin exrft im Werden war.

IV.

Aber Laurentius Scholz hatte neben der Mtedicin noch eine zweite Leiden— ichaft, der er ſich mit gleicher Hingebung widmete, da3 war die Botanik. Der Rector des Breslauer Elifabeth:Gymnafiums, Nicolaus Steinberg, jagt von ihm in einem lateinijchen Epigramm:

„Morgens beſuchſt Du die Kranken; dann figeft Du über den Büchern; Was Dir an Zeit noch verbleibt, ift der Botanif geweiht.“

Zu den Lehrern, denen fid) unjer Laurentius während feines Studiums in Padua am innigften anihloß, gehörte der Profefjor der Botanik, Guilandinus. Gr hieß eigentlih Weiland und mar aus Königsberg gebürtig. Auf einer botanischen Forſchungsreiſe nach dem Orient war er Gorfaren in bie Hände ge= fallen und von ihnen al3 Sclave verkauft worden. Nach feiner Befreiung wurde er Vorfteher des botanischen Univerfitätsgartens in Padua, und ala folcher eifrig beſtrebt, deſſen Reichtum am mebdicinifchen und anderen feltenen Pflanzen zu erhalten und zu mehren. Als Laurentius Scholz im Jahre 1579 Padua verlieh, überreichte er dem Guilandinus beim Abjchied fein Stammbuch wir fennen die Scene aus Goethe'3 Fauft und diefer ſchrieb dem geliebten Schüler einen

!) Consiliorum medicinalium conscriptorum a praestantissimis atque exerecitatissimis nostrorum temporum medicis liber singularis nunc primum studio et opera Laurentii Scholzii a Rosenau editus. Francof. ad Men. 1598 fol. Epistolarum philosophicarum et chymicarum a summis nostrae aetatis philosophis et medicis exaratarum volumen. Francof. 1598 fol.

118 Deutiche Rundſchau.

lateinifchen Spruch hinein, den derjelbe dann fpäter al3 Motto in einer feiner Schriften abdruden ließ.

Zu den Anregungen, welche Laurentius Schol3 im „Orto botanico“ zu Padua empfangen hatte, gejellte ſich der Eindrud der kunſt- und pflanzenreichen Gartenanlagen, die derjelbe im weiteren Verlauf feiner italienifchen Reife kennen lernte. Denn zu den fchönen Künften, die im Zeitalter der Renaiffance in Jtalien ihre Wiedergeburt erlebt hatten, gehörte auch die Gartenkunft. In der Ber- wilderung des Mittelalter waren die funftvollen Gärten der Römer zu Grunde gegangen; innerhalb des engen Mauergürtels, in den die Bürger der Städte ſich einjchloffen, war fein Raum für Gartenanlagen, und außerhalb desjelben erlaubte die allgemeine Unſicherheit de3 Landes nicht den ungeftörten Genuß der jchönen Natur. Was innerhalb der Kloftermauern oder des Burgfriedend den Namen Garten führte, war ftillos und kunſtlos, wie unſere Bauerngärten; ſchlechte Obſtbäume über den Rafen verftreut, Gemüfebeete, ein paar altbewährte Heil: pflanzen bildeten den Beftand; Blumen gab es nur jehr wenig; die allzeit be liebten Roſen brachten Kleine flache Blumen, wie wir fie in ben Lieblingäbildern der mittelalterlihen Maler, der Madonna im Rojenhag, dargeftellt jehen. Alles dies änderte fich, als die Renaifjance in Italien anbrach. Große Künftler ſchufen für die Fürſten und die reichen Kaufleute auf Hügeln und Berglehnen Paläfte und Lufthäufer, und entwarfen im Anſchluß an diefe Bauten die Zeichnung für den nicht minder kunftvollen Garten, mit geraden, rechtwinklig ſich jchneidenden Hedenwänden, mit den geometrijchen Figuren des Blumenparterres, mit Grotten und Wafjerkünften, und dem reichen Schmud von Statuen und andern plaſtiſchen und architektoniſchen Kunſtwerken. Nun mehrte fih auch die Blumenfülle; es ift, als feien erſt jeßt die Menfchen fich bewußt getworden, welch’ liebliche Schöpfungen die Pflanzenwelt über die Erde verftreut hat. Zuerft um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts erjchien die Nelke und wurde bald die Lieblings: blume der Renaiffance, jo daß jchon feit der Zeit der van Eyk's fi die Männer gern mit einer Nelke in der Hand porträtiren ließen. Der Fall Conftantinopels kam den Gärten de3 Abendlandes in überrafchender Weife zu Gute. Denn bie Türken, welche die Erbſchaft de3 Byzantinerreiches antraten, ibertrafen ihre Vorgänger bei Weiten in dev Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur; fie fcheuten nicht Mühe, nicht Koften, um in den Gärten Stambul3 die jchönften Blumen und Blüthenfträucher des Orients einheimiſch zu machen; und al3 um die Mitte des fechzehnten Jahrhunderts ſich zwiihen dem Kaiferhof in Wien und der hohen Pforte friedlihere Beziehungen anknüpften, fanden allmälig aud die Prachtgewächſe der türkifchen Gärten ihren Weg nad Wien und dem übrigen Europa. Damals erblidte man zuerft in den Gärten des Abendlandes die lila: farbigen Blüthenfträuße des Flieders; die weißen Blumenpyramiden der Ro: faftanie waren noch am Anfang des fiebzehnten Jahrhunderts dem europäijchen Weſten unbefannt. Bis dahin waren die Gärten während des ganzen Frühlings blumenleer geblieben, nun famen aus Stambul die Hyacinthen und die Kaiſer— fronen, die Tulpen, die afiatiihen Ranunkeln und die vollen ſüßduftigen Roſen von Damascus. Um diejelbe Zeit jendeten auch die canarifchen Inſeln, Afrika, Andien, China ihren Blumentribut in die Gärten Europa’3; war ja doch die

Dr. Laurentius Scholz; von Rofenau. 119

Renaifjance das Zeitalter der großen geographiſchen Entdeckungen. Im Verlaufe des jechzehnten Jahrhunderts famen die Pflanzenihäge Amerika's Hinzu. Auch hier gingen die Fürſten und Patricier Jtaliend allen anderen voran; tie fie Hand» ſchriften und Kameen, antife und moderne Gemälde, Marmorreliefs und Statuen jammelten, jo fetten fie ihren Stolz darein, in ihren Gärten die jeltenften und toftbarften Gewächſe der alten und neuen Welt zujammen zu bringen. Nächſt dem Garten von Padua galt als der reichfte der des Herzogs Alfons von Ferrara, der uns aus Goethe's Taſſo bekannt ift.

Als unfer Laurentius Scholz im Jahre 1585 Breslau zum dauernden Wohn- fig erwählt Hatte, beſchloß er, jeine Vaterſtadt mit einer Gartenihöpfung zu ſchmücken, die nicht bloß in der Fülle feltener Pflanzen, jondern auch in der fünftlerifchen Anlage mit dem botaniſchen Garten von Padua, mit den Gärten der venetianifchen und florentiniichen Großfaufleute wetteifern follte. Er beſaß ein Gartengrundftüd auf der Weidenftraße, das bis an die Taſchenſtraße reichte, und das er durch Ankäufe allmälig vergrößerte; ein Reſt diejes Beſitzthums be— fteht noch Heute al3 öffentlicher Biergarten unter dem Namen „Parijer Garten“. An wenigen Jahren hatte er hier mit emfigem Fleiß und bedeutenden Koften eine Gartenanlage nach dem Vorbild der italienischen Villen zu Stande gebradht, die er bis an fein Lebensende zu pflegen und zu verichönern fortfuhr; fie wurde nit nur von den Breslauer Mitbürgern und den jchlefiihen Landsleuten ala eine Art Weltwunder angeftaunt, ſondern aud in ganz Deutfchland, ja jelbft im Auslande gepriefen. Kein Fremder von Diftinction durfte Breslau verlaffen, ohne den Scholz'ſchen Garten bejucht zu haben. Der kaiſerliche Dichter Salomon Frenkel von Friedenthal fingt von ihm:

Mer von der Ferne bejucht bie Mauern bes herrlichen Breslau, Gehe zum Garten des Scholz, ſchaue die blühende Pracht;

Hat er dann Herz und Augen an Allem geweidet, ſo ſpricht er: „Scholz, in die Vaterſtadt haft Du Italien verpflanzt.“

Es war dem Laurentius heiliger Ernft mit jeiner Schöpfung; ex beabfich- tigte und darin zeigt fich der Jdealismus de Mannes und jeines Zeitalterd zugleich eine wiſſenſchaftliche Leiftung und eine patriotijche That, im Jahre 1588 ließ er an da3 Portal des Gartens eine lateinische Inſchrift in Stein einmeißeln: „zum Lob und Preis dem allmädhtigen Gotte, zum Ruhm der Baterftadt, zur Benutzung für feine Freunde und für die Studirenden der Botanik, endlich für fich ſelbſt zur Erholung von den Arbeiten und Anftrengungen feines ärztlichen Berufes habe er diefen von Alters her verwahrloften Garten auf eigene Koften neu eingerichtet und mit einheimijchen und ausländiichen Pflanzen ausgeftattet.“ Sn den Borreden feiner Gelegenheitsichriften fommt Laurentius wiederholt auf feine Abfichten zurüd; den ärztlichen Gollegen gedenkt er dadurch die Henntniß der Heilpflanzen, die diejelben bisher mit Unrecht den Apothekern überlaffen, zugänglich zu maden; dem Klima und Boden der Baterjtadt will er einen guten Namen verschaffen, indem er vor Mitbürgern umd Fremden den Beweis Liefert, daß die ſchönſten Pflanzen des Auslandes in Breslau nicht bloß zum Blühen, ſondern auch zum Fruchttragen gebracht werden können; ja, damit noch nach jeinem Ableben ein Zeugniß dafür zurickbleibe, läßt er mit großen Koften jeine

120 Deutſche Rundſchau.

botaniſchen Raritäten von einem Breslauer Maler, Georg Freiberger, nach der Natur getreu abbilden; er hofft damit ſeinen einzigen Sohn, der gleich ihm zum Mediciner beſtimmt iſt, zum Studium der Botanik anzuſpornen. Aber nicht für ſich allein will er ſeines Gartens, als des ſüßeſten Aſyls oder Muſenſitzes ſich erfreuen; er beſtimmt denſelben zum Mittelpunkt ſeines geſelligen Verkehrs, zur Stätte fröhlicher Feſte, die er unter dem Namen „floralia Vratislaviensia“, Breslauer Blumenfeſte, ſtiſtet; hier ſollte die Wiſſenſchaft, ohne gelehrte Pedanterie, ſich mit der Kunſt und der Natur zur Belebung und Veredlung einer heiteren Geſelligkeit vereinigen, wie ſie einſt Plato und Epikur in ihren Gärten, dann nach ihrem Vorbild die Mediceer bei den akademiſchen Zuſammenkünften in ihren Villen gepflegt hatten.

Schon vor Achilles und Hektor hat es Helden gegeben; aber ihre Namen find verfchollen, weil fie feinen Homer gefunden haben. Auch der Scholz’fche Garten wäre heut wohl längft vergeffen, wenn er nicht das Glüd gehabt hätte, bon mehr als fiebzig Dichtern, darunter von ſechzehn Aerzten, befungen zu werden. Die Verje von etwa vierzig unter ihnen hat Scholz jelbft 1594 unter dem Titel „Epigramme der freunde auf meinen Garten“ abdruden lafjen, die jpäter hinzu— gefommenen in fein mit Papier durchſchoſſenes Handeremplar, das die Breslauer Stabtbibliothet aufbewahrt, eingetragen. Denn Einheimifche, wie Fremde, bie von Scholz in feinem Garten gaftli aufgenommen waren, Hinterließen ihm ala eine Art Gegengabe ein längeres oder fürzeres Lateinifches Gediht was freilich in einer Zeit, wo lateiniſche Verſe als Kennzeichen eines gebildeten Mannes galten, Leichter zu erreichen war, als heutzutage. Dank diefen Gedichten find wir nicht mur über die Anlage des Scholz’schen Gartens und über feine Pflanzen- ſchätze vollftändig unterrichtet, jondern wir können und auch ein anjchauliches Bild machen von den Kreiſen, die darin verfehrten. Und es ift ein erfreuliches Bild, dad und das Breslau der Renaiffance hier zeigt, wo bie goldene Mitte zwijchen der loderen Sitte Jtaliend und der finfteren Frömmelei der englijchen Nuritaner eingehalten wird, und am Ufer der Ohle eine heitere, geiftig angeregte Gejelligkeit blüht, wie wir fie und nur am Arno zu denken gewohnt find.

V.

Verſetzen wir uns dreihundert Jahre zurück; wir haben an einem ſchönen Sommertage eine Einladung zu einem Blumenfeſte erhalten, das im Scholz'ſchen Garten gefeiert werden joll. Wir fommen von der Ohliſchen Gaſſe und haben den Thorbogen in der Mitte derjelben durchſchritten, einen Ueberreſt der älteften Stadtbefeftigung vom Ende des 13. Jahrhunderts; nachdem wir die Brücke über die Ohle!) paſſiert, wenden wir una bei der Kirche St. Chriftophori rechts nad) der Weidengafie, von der ſich durch eine lange Mauer der Garten abgrenzt. An dem ftattliden Portal mit der ftolzen Steininjhrift empfängt uns der Wirth, der uns ber übrigen Gejelichaft vorftellt; faft alle führen ſchöne Lateinische

') Die „Stadbtohle“ iſt ſeit 1566 zugeichüttet, mit ihr find auch Brüde und Thorbogen verſchwunden.

Dr. Laurentius Scholz don Rojenau. 121

Namen auf us, al3 regierte im römiſchen Reich noch Kaijer Auguftus und nicht Rudolph U. von Habsburg. Es ift die Breslauer Elite, Gelehrte, Aerzte, Juriſten, vornehme Kaufleute mit ihren Frauen, alle feftlich gekleidet in den präd)- tigen, farbenreichen Gewändern ber Renaiffance, wie wir fie aus den Bildern des Tizian oder ded Paolo Veronefe kennen: die Damen nad) der neueften venetiani= fchen oder florentiner Mode, in Sammet und Goldbrofat, mit Perlenfetten und Goldgefchmeide, auch junge Mädchen find dabei, do nur hübſche; denn ein drafonifcher Paragraph der Garten: und Feſtordnung, die wir beim Gintritt gedrudt erhalten, bejagt, daß diejenigen, deren Geficht oder Ruf einen Makel hat, nicht zugelaffen werden jollen. Der Aufforderung des Wirthes Folge leiftend, macht die Geſellſchaft zuerft einen Rundgang durch den Garten; er iſt durch zwei rechtwinklig ſich ſchneidende Hauptalleen in vier Quartiere getheilt. Die exfte Abtheilung ift der Blumengarten, ein Parterre in Form eine Quadrat3, aus» gefüllt mit einer zierlihen Zeichnung, deren Umriſſe von Buchskanten eingefaßt und deren Farben aus Blumen gewebt find. Zwar ift der erſte Frühlingsflor fchon verblüht; Längft vorüber find Chriſtroſen, großes und kleines Schnee- glöckchen, Frühlingscrocus, das blaue Leberblümhen, Himmelichlüffel und Veilchen; auch die Aurikeln, die Kaiferkronen, Blaufterne und die orientalischen Hyacinthen haben abgeblüht. Aber noch blühen die legten Tulpen, von denen nicht weniger al3 fünfzehn verjchiedene Spielarten im Garten gezogen werden; fie find der Stolz des Beſitzers; denn noch find e3 nicht dreißig Jahre, daß diefe Pracht— blume, die ihren Namen nad dem türkifhen Turban führt, au Stambul nad Deutſchland gebracht wurde, und noch Heut find fie jo rar und Eoftbar, daß eine Zulpenzwiebel als eines der werthvollſten Geſchenke gilt, das einem Gartenfreunde gemacht werden kann. Nocd vor kurzer Zeit hat ein Liebhaber für eine roth und weiß geftreifte Tulpe zweihundert Goldgulden gezahlt, und ald man fie ihm für diefen Preis wieder abfaufen wollte, hat er fie nicht dafür geben mögen. In voller Farbenpracht Hat fich bereits der Blumenflor de8 Sommers entwidelt: tother, weißer, blauer, einfacher und gefüllter Afeley; rothes, weißes und gelbes Löwenmaul; zehn Arten Iris, ſechs Arten Kornblumen, vier Arten Lilien, vier Arten Fringerhut, zwölf Arten Mohn, dazu die Feuernelken, die Lichtnelfen , die Steinnelten, die Tredernelfen!) und wie fie alle heißen. Den Mädchen wird Erlaubniß gegeben, hier abzuſchneiden, foviel fie für Kränze und Sträuße bedürfen.

Die übrige Gejellichaft aber wendet fich zu der zweiten Gartenabtheilung, der mediciniſch-botaniſchen Partie, welche die größten Seltenheiten und Koftbar- keiten enthält; fie ift nach dem Mufter der botanischen Gärten in Italien und den Niederlanden zierlich in Fleine Beete abgetheilt, deren jede mit einer be= jonderen Pflanzenart bejegt ıft. Mit Lebhaftem Enthufiasmus erläutert der

1) Die Federnelke Hiek damals die Stolze von Defterreich, Superba austriaca, heute Dianthus superbus. Die feurige Lichtnelfe (Lychnis chalcedonica) wird in dem Gartenlatalog, den &. Scholz 1587, und bann nochmals 1594, druden lieh, als conftantinopolitanifche Blume (flos constantino- politimus) aufgeführt; jet ift fie unter bem Namen „brennende Liebe“ befannt.

122 Deutſche Runbichau.

Wirth bei jedem Gewächs deſſen merkwürdige Eigenjchaften und mediciniſche Kräfte. Er erzählt von der Mühe, die er gehabt, fich den Samen von feinen Freunden und Correjpondenten in Spanien, Frankreich und talien, mit denen er in Tauſchverkehr fteht, zu erhalten, wie theures Geld ihm diefe Knolle ge- koſtet, wie ſchwierig e8 war, jene Zwiebel durch den Breslauer Winter hindurch- zubringen und fie zum Blühen zu veranlaffen. Eben blühen zwei Gewächſe, die portugieſiſche Seefahrer vor nicht gar langer Zeit aus Indien eingeführt haben: die Canna und die Baljamine. Hier das afrikanische Chryfanthemum (Chr. carinatum) mit den goldenen, jcharlachrothen oder weißen, auch dreifarbigen Blüthentöpfen hat 1535 Kaiſer Karl V. aus Tunis mitgebradt, als er triumphi- rend in diefen Raubftaat einzog. Dort den Akanthus, einem korinthiſchen Säulencapitäl glei), hat ein Freund von den Ruinen des Golofjeums in Rom gejendet, zugleich mit dem Anölldden der italieniichen Gartenanemonen, von denen die eine durch die brennend rothen, die andere durch die tiefpurpurnen Blumen allgemeine Bewunderung erregt haben. In einem Kreis find die Gewürzkräuter der italifchen Gärten zufammengeftellt, Bafılium, Majoran, Meliffe, Niop, Rosmarin, Raute und Diptam; in ihrer Nähe hat ein fchwertlilienähnliches Gewächs Pla gefunden, defjen wafjerliebende Wurzel vor einiger Zeit zu uns fam, wie die Einen jagen vom ſchwarzen Meer, nad Anderen aus Indien; es ift unfer Kalmus. Beſonders reich ift die Sammlung der officinellen Pflanzen ; hier flehen nebeneinander: der indiſche Ricinus, die Meerziviebel vom Mittel- meer, die Angelica, der Eiſenhut, die Tollkirſche und das Meum von den heimiſchen Subdeten. Eine Novität ift für die Geſellſchaft auch ein hohes Gewächs aus der Familie der Nachtſchatten, mit ftachligen Apfelfrüchten, das die jeit noch nicht gar langer Zeit aus Often eingetwanderten Zigeuner mitgejchleppt, und das die Heren zu ihren Zaubertränten benußen; es ift unfer Stechapfel. Mit be= ſonderem Stolz zeigt unſer Wirth eine Sammlung Pflanzen, die er vor Kurzem von jpanifchen Freunden zum Gejchent erhalten; fie fommen aus Peru, von den Gärten der Incas. Hier hat die Wunderblume Mteraglinioja (Mirabilis) ihre bunten Blumentrichter entwidelt, dort rankt ſich um einen Stab die indiſche Krefje mit feuerfarbenen Blüthen, unjer Tropaeolum; zwei Nachtſchattenarten haben bereits große jaftige Früchte angeſetzt, grünsviolett die eine, orange die andere; e3 find Gierpflangen (Solanum Melongena) und Liebesapfel (Lycopersi- cum); die Früchte einer dritten Art gleichen ſcharlachrothen Schoten und brennen im Munde wie Pfeffer, e3 ift die Paprica (Capsicum). Bon der wunderbaren Triebfraft jenes jüdamerifaniichen Bodens zeugt ein Samenkorn, das im Laufe des Sommers jeinen Stengel über Mannshöhe entwidelt hat und eine tellergroße Goldblume der Sonne zutehrt, es ift unjere Sonnentofe; faum minder kräftig ift der indijche Weizen oder Mais emporgeſchoſſen, und die Tabakspflanze, von deren Blättern die NReijenden jo wunderbare Wirkungen des Nauches berichtet haben. Die größte Seltenheit in diefer peruaniihen Sammlung aber ift ein Kraut mit fleiichfarbener Blumendolde, das an feinen Wurzeln Eleine Knöllchen gebildet hat; noch hat kein Botaniker diefe Pflanze beichrieben oder benannt; der Wirth bat fie unter ihrem in Onito üblichen Namen Papas erhalten. Niemand ahnt, daß

Dr. Laurentius Scholz von Rofenau. 123

nad ein paar hundert Jahren diefe Pflanze, unfere Kartoffel, auf allen Feldern angebaut und die allgemeine Volksnahrung werden wird').

Nur mit Mühe trennen fi) die Freunde der Botanik von den Schäben diefe8 Quartierd, um nod einen Blick auf die beiden letzten Abtheilungen des Garten zu werfen. Die eine ift al3 Labyrinth angelegt, da3 in feiner Garten» anlage der Renaifjance fehlen darf; die verfchlungenen Wege find von Spalieren eingefaßt, die von Schlingpflanzen dicht umfponnen find; theil3 find es ein- heimifche: Geisblatt und Waldrebe, Epheu und Zaunrübe; aber auch neue Ein- führungen aus Indien, Teuerbohnen, Gurken, Melonen und Kürbiffe in vierzehn verfchiedenen Arten. Hier befindet fi auch der Rofengarten, wo die neuen Rojen des Drient3 ihre vollen duftreihen Blumen entfalten, unter ihnen auch die feltenen gelben Rofen, Eglanterien, die erft vor Kurzem aus Verona ge= fommen find.

Die letzte Abtheilung ift der Baumgarten; auf dem grünen Raſen ftehen in Auincunr gepflanzte Obftbäume in edlen aus dem Süden ftammenden Sorten. Hier reifen Aepfel und Birnen, türkiſche Pflaumen, Pfirfihe und Aprikofen, Mispeln und Quitten, Berberizen, Maulbeeren und Stachelbeeren, deutfche und italienifche Haſelnüſſe; dazwiſchen find einzelne Zierfträucher geſetzt: Goldregen, Blajenftraudh und Schneeball; der türkiſche lieder erfüllt die Luft mit be— raufchendem Duft.

Nachdem der botanifche Rundgang beendigt, zerftreut ſich die Gejellichaft auf einige Zeit; die Jugend erluftigt fi an Gejellichaftsfpielen, für die in dem hundert Ellen langen überwölbten Yaubgange, der den Garten von Oft nad Weſt durchzieht, Würfeltiiche, Kugelfpiele und andere Geräthe aufgeftellt find. Einige üben fih im Scheibenſchießen; Andere laffen ſich zu traulichem Geſpräch auf die Bänke an den Springbrunnen nieder, die in der Mitte der Quartiere angelegt find. Hier ſprudelt eine Quelle unter einem Lebensbaum (Thuja) hervor ; es ift der größte und ältefte in Schlefien von diefem Baumgeſchlecht, das Franz I. von Frankreich aus Kanada eingeführt hat. Aus der Mundöffnung einer Maske ergießt ji das Waſſer in einen Fiſchweiher; daneben ift ein Trinkbrunnen eins gerichtet und mit Bechern ausgeftattet. Cine andere Fontäne ift mit dem Standbild der Flora, der Schußpatronin diejes Gartens, ausgeihmüdt. Noch

1) Dr. med. Valens Acidalius jagt in feinem im leichten Versmaß ber römiſchen Komödie geichriebenen Gedichte „Janus quadrifrons in hortum Scholzianum“ :

Mit großer Mühe und mit großen Koften läßt

Der Herr jedwedem Kräutchen Pflege angebeihn.

Faſt Alles, das Du Hier findeft, ſtammt vom Ausland her;

Die einen find gekommen aus Italiens Gaun,

Aus Griechenland, aus Hispanien oder Gallien,

Aus Indien andere; ja jelbft aus Arabien.

Und Alles, was hier wächft, hat des Herren Hand gepflanzt,

Er Hat es gefät, er hat es gepflegt, und daher fommt

Die Kraft bed Sproſſens und bes Wachsthums Leichtigkeit, Daher das Glüd beim Blühen und beim Fruchtanſatz;

Daher ftammt Glanz und Orbnung, die in dem Garten herrſcht; Drum haben die Pflanzen größeren Werth und der Garten felbft.

124 Deutihe Rundſchau.

andere SKunftwerfe find im Garten vertheilt; wir bewundern einen ſara— zenifchen, fogenannten Alhambrakrug, angeblih eine Copie des Weinkruges, in dem einft da3 Wunder von Gana verrichtet wurde; das Original, das Muftapha Paſcha aus dem eypriſchen Famagoſta nach Gonjtantinopel hatte bringen laffen, ift vor Kurzem duch Joachim v. Zinzendorf nah Wien ge fommen. m einer Felsgrotte erblidt man den Cyklopen Polyphem, der dem Eintretenden einen Steinblocd entgegenjchleudert ; er ift jo naturwahr gebildet, daß, wer zum erften Male hereingeführt wird, unwillkürlich zurüdjchredt, zum Gelächter der übrigen Gejellihaft. An einer anderen Stelle ſteht Adam, ber den Apfel der Eva darreiht. Anmuthig ift es auch, dem melodifchen Gezwitjcher der Singvögel zuzuhören, die in zwei Vogelhäuſern gehalten werden; das eine ift vieredig, das andere hat die Geftalt einer Pyramide; beide find mit blühendem Geisblatt und Bitterfüß (Dulcamara) umrantt.

Die eine Seite des Gartens wird von einer Mauer begrenzt; an jie lehnt fi das Gewächshaus, in welchem während des Winter untergebradt find:

Bäume vom Süden kommend, die einen mit goldenen Aepfeln, Andre mit Feigen, Granaten; der Lorbeer ſchmückt ſich mit Beeren, Und die Piflazie mit Nüffen; es niften unter dem Dache

Bald helllachend und bald auffeufgend türliſche Zauben.

Jetzt ift die ganze Orangerie im Freien aufgeftellt; wir bewundern bier außer den obengenannten, in Kübel gepflanzten Bäumen auch Myrte, Oleander, Stech- palme und den amerikanischen Feigencactus (Opuntia Ficus indiea), der feit diefer Zeit nicht nur in allen Mittelmeerländern einheimifch geworben, ſondern jelbft bi3 zu den Felsgehängen oberhalb Gries bei Bozen ſich angeftedelt hat. Die table Wandfläche über dem Gewächshaus iſt nad) italienischer Sitte al fresco bemalt. Wir jehen hier den Dogen von Venedig im Goldialar mit der Dogarefja auf dem Prachtſchiff des Bucentoro, wie er den Verlobungsring der Adria zufchleudert ; daneben jegeln ftolze Andienfahrer und Kriegsgaleeren; dann folgen in bunter Reihe Franzoſen in Inappem Wamms, mit ihren Damen in langjchleppenden Gewändern, Burgunder, Neapolitaner, Türken. Inmitten einer tropiichen Land— ſchaft klagt Orpheus um den Verluft feiner Eurydice, und das gibt dem Künftler Beranlafjung, nicht nur die merfwürdigften Pflanzen Indiens, Palmen, Bananen und Arumgewächſe, fondern aud Löwen, Tiger, Elephanten, Affen, Kameele, Papageien, Strauße und andere feltene Ihiere abzumalen, die dem Gefange laufchen.

Inzwiſchen ift die Zeit zum Mahle gelommen; die Gäfte verfammeln fich in dem Pavillon, der in der Mitte des Gartens, wo die Hauptalleen ſich Ereuzen, errichtet ift; es ift ein vierediger Bau; nad) allen vier Seiten offen, gewährt er nit bloß den Lüften und Blumenbüften freien Zugang, fondern bietet aud) dem Auge den erfreuenden Ausblik in das Yaubgrün ringsum. An den Wänden hängen Gemälde; der Wirth wäre fein Mann der NRenaiffance, wenn er nicht auch Kunftfreund und Kunftfammler wäre. Das berühmtefte unter diefen Bildern ift eine Lucrezia von Lucad Cranach; ihr gegenüber hängt eine Judith mit dem Haupte des Holofernes. An der anderen Wand erblidt man ala Gegenftücde eine Alte, die fih mit Gold die Gunft eines Jünglings erfaufen will, und einen

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Grei3, der fi) um die Liebe eines jungen Mädchens bemüht, auf der dritten eine Ceres in Mitte goldener Saaten, und al3 Pendant eine Jungfrau auf blumigem Rajen, die ſich einen Kranz aufs Haupt jet. Auch die Plaftik ift im zwei reizenden, mit natürlichen Farben bemalten Relief3 von Wachs vertreten, Werke venetianifcher Künftler; da3 eine ift Venus mit Cupido, dad andere eine Magda— lena mit aufgelöftem Haare, die die jchönen Arme bußfertig ringt. Zwei andere Reliefs, nicht minder kunftvoll von italienijchen Meiſtern aus Alabafter gearbeitet, ftelen Scenen aus der bibliihen Gedichte dar, in dem einen Lot mit feinen Töchtern, im andern das Urtheil Salomonis?).

An der Mitte des Pavillons befindet fich der Tiſch; er ift bejeßt mit dem Speifegeräth, den Gläſern und Humpen in den jchönen Formen der Renaiffance; Blumenfträuße und [oje Blumen find über das Tiſchtuch Hingeftreut; auch die Pokale find befränzt, und jämmtliche Gäfte, die Herren wie die Damen, haben Blumenkränze aufs Haupt geſetzt, welche die Mädchen inzwiſchen geflochten; es ift ja ein Syeft der Flora, das Heute gefeiert wird. Weber dem Tiſche ift eine amerifanifche Aloe frei aufgehängt. Die Diener reichen Wafler zum Hände— waſchen, dann nehmen die Gäfte Plaß in bunter Reihe, wie der Wirth es an- geordnet, der als Sympoſiarch und König des Feſtes obenan fitt. E3 find im Ganzen neun Perſonen; die Zahl der Muſen ſoll nicht überjchritten werden; die Auswahl ift jo getroffen, daß bei aller Rüdfihtnahme auf Alter und Stand doc eine gewifle Gleichheit und daher auch Freiheit den Gäften gewahrt wird. Das Mahl ift aus einfahen Speifen zufammengejeht, feine üppige Schwelgerei, wie fie in anderen Kreiſen üblich ift. Die Erzeugniffe des Gartens liefern den Hauptantheil, Fiſchweiher und Vogelhaus verforgen die Kühe, der Obftgarten den Nachtiſch. Zwiſchen den Gäften entipinnt fich ein heiter angeregtes Geſpräch; denn nit Pythagoräer fjollen die Gäfte fein, die zum Schweigen verpflichtet find; die finnigen Zifchreden bei den Sympofien des Plato jollen ihr Worbild fein; darum bemüht fich ein Jeder, fein Beftes zur Belebung der Unterhaltung beizutragen. Lustige Geihichten und Witzworte machen die Runde; der Wirth forgt dafür, daß der Anftand nie verlegt wird, daß jelbft ein Cato nicht Anftoß nehmen Eönnte. Nach der Mahlzeit fordert der Wirth einen der Gäfte auf, ein neues Gedicht vorzulefen oder einen Vortrag über ein naturphilofophiiches oder medicinifches Thema zu halten, doch darf dasſelbe weder zu ſchwierig noch zu

!) Die Aumflfammlungen von Laurentius Scholz wurben nad dem Zobe feines einzigen Sohnes (F 1613) zerftreut; doch habe ich bie Lucretia von Lucas Cranach im Provinzialmufeum von Breslau aufgefunden; fie ift in einem hellblauen Renaiffancecoftüm bargeftellt, wie fie den Dolch in den entblößten Leib Aößt. Aehnliche Darftelungen ber Lucrezia aus ber Cranach'⸗ Ihen Schule finden fich in anderen Mufen; auch die Judith und bie verliebten Alten find bäufig wiederholte Darftellungen der Cranach'ſchen Schule. Für die Gere und das Mädchen mit dem Blumenkranze find mir feine Vorbilder befannt. Dagegen habe ich das fchöne, venetianifche Wachsrelief: Venus auf einem Lager ruhend, von einem Faun belaufcht, zur Seite der fpielende Amor im Breslauer Mufeum für Schlefifche Alterthümer wiedergefunden (Nr. 461-463 be3 Dufeumstataloge); es ift dahin aus der Breslauer Stabtbibliothel gefommen, die einen Theil bes Scholz’ichen Nachlaffes befitt, befindet fich noch in dem alten Schwarzen, durch einen Schieber verſchließbaren Holzrahmen (clausa quae conduntur in arca. Calagius); die Magdalena, vermuth: lid eine Nachbildung der Tizian'ſchen, ift verichoflen. Dagegen babe ich die beiden in breite Goldrahmen gefahte Alabafterreliefs im Breslauer Alterthumsmufeum aufgefunden.

126 Deutiche Rundſchau.

unbedeutend, es joll unterhaltend und anregend fein; befonders willlommen find Gegenftände aus dem Gebiete der Gartenpflege und der Botanik. An den Vortrag knüpft fich eine allgemeine Debatte; doch darf diejelbe weder zu auf: regend noch zu gründlich werden. Die Reden werden durch häufiges Pokuliren unterbrochen. Zuerft fordert der Wirth die Gäfte auf, nad antiker Sitte drei Becher den Schußgottheiten de Gartens zu fpenden: ben erften der Flora und der Venus, den zweiten Apollo und den Mufen, den legten den Grazien und dem genius loci. Die Diener füllen jedesmal die Gläfer von Neuem mit goldenem, ungewäflertem Rheinmwein; die Nymphen find zum Feſte dev Flora nicht zugelaffen. Nun bringt der vornehmfte Gaft einen Trinkſpruch auf das Gedeihen de3 Gartens und feines Beſitzers; der große Humpen macht die Runde rechts herum. Dann trinkt der Wirth auf das Wohl eines Freundes oder eines anderen verehrten Mannes; auch die Gäfte trinken Einer dem Anderen zu; der Geforderte muß jofort und gewiffenhaft nachkommen; die Gläfer müjjen jedesmal nad) der Sitte der Altvorderen ehrlich bis zur Nagelprobe geleert werden.

Wenn den Reden und den Bechern Genüge gefchehen, erſucht der Wirth Einen aus der Geſellſchaft, ein Lied zu fingen: ein Anderer Holt von der Wand, an der Zithern, Flöten, Fiedeln und andere Mufikinftrumente aufgehängt find, eine Laute herab, den Gefang zu begleiten. Nun wechſeln Lieder der Solijten und Inftrumentalmufit mit fröhlichem Rundgeſang. Das TFeft verlängert fich bi3 tief in die Nacht. Endlich erinnert ſich die Gejellichaft der Rückſicht, die fie dem Herrn ſchuldig ift; die Gäfte erheben ſich zum Aufbruch, ſchütteln fich die Hände und begeben ſich auf den Heimweg. „Was aber,” fo lautet der legte Paragraph der Gartengefeße, „bei dem Feſte geiprochen oder nicht geſprochen, was gethan oder nicht gethan worden ift, das ſoll in den Wein gejchrieben fein und nicht ins Gedächtniß. Wer fi) am folgenden Tage doch noch daran erinnert, der möge fih daran genügen laſſen, daß er e3 felber weiß, nicht aber Anderen in ber Stadt e3 ausplaudern. Wer aber diefe Gejee übertritt, der joll aus der Gemein Ihaft der Guten ausgeftogen und aus der Zahl der Freunde geftridhen werden.“

Indem wir von dem Breslauer wiffenjchaftlichen und gejelligen Leben des ſechzehnten Jahrhunderts Abjchied nehmen, drängt fi ung unmillfürlich der Dergleih mit der Gegenwart auf. Ohne Zweifel find in den dreihundert Jahren, die dazwischen Liegen, großartige Fortſchritte gemacht worden. Die Zahl der Einwohner von Breslau Hat fich faft verzehnfaht, und indem bie Stadt als lebendiges Glied einem großen Staatsorganismus fich einordnete, find auch für den Einzelnen die bürgerlichen und die ftaat3bürgerlichen Aufgaben gewachſen. Die Wiſſenſchaft, insbefondere die Naturwiflenichaft, hat fih in unaufhaltſamer Fortbildung zu einer früher nicht geahnten Höhe aufgefhwungen: und indem Handel und Gewerbe ihren Fortichritten auf dem Fuße folgten, haben fi auch alle focialen und materiellen Einrichtungen weſentlich vervollflommnet. Sorgen wir dafür, daß über dem materiellen Fortſchritt jener Idealismus der Renaiffance nicht verloren gehe, welcher im opferbereiten,, jelbftlofen Wirken für die Mit- bitrger jeine Befriedigung findet, und der den edelften Genuß nicht in finnlichem MWohlleben, jondern im Hegen und Pflegen unjeres geiftigen Befites, der Kunſt und Wiſſenſchaft, erblidt.

Zur Frinnerung an Andräſſy.

N ey u

Daß Niemand vor feinem Tode glükli zu preifen jei, diefer Ausſpruch eines claffiichen Weifen, gilt ganz befonder3 in feiner Anwendung auf öfter- reihiiche Staat3männer. Erfolg oder Anerkennung, Eines oder das Andere, gehört jedoch dazu, daf ein leitender Staatsmann glücklich fei, oder doch mindeftens fh glüdlih fühle. Weitaus die Mehrzahl der Staatslenker des Kaiferreichs an der Donau muß fi) damit bejcheiden, entweder bie erzielten Erfolge zu über: leben, oder auf Anerkennung ihres Wirkens jo lange zu warten, bis ſich über ihrem irdiſchen Refte die file Gruft gejchloffen hat. Um nicht jener Perfön- lichkeiten zu gedenken, welchen nur „des Augenblides Gunſt“ zu einem jähen Aufleuchten verholfen, was weiß die jüngere Generation heute von dem Siebenbürger Magner, von Schufelfa, von Mühlfeld und SKaiferfeld, denen noch vor drei Jahrzehnten das ganze liberale und deutjche Defterreich zujubelte? vermödte man eine ftattliche Reihe von Namen zu verzeichnen, deren Träger e8 erleben mußten, daß ihr Ruhm vor ihnen zu Grabe ging. Die Begeifterung. mit der ihnen einſt das „dankbare Vaterland“ den Lorbeer um die Schläfe ge- mwunden, erloſch früher als ihr Lebenslicht; der Kranz welkte fchneller als das Haupt ergraute. Nur zu viele Seiten der Memoiren des Grafen von Beuft find wehmuthsvollen, oft allzu jentimentalen Betrachtungen über dieſes Thema gewidmet, und dasſelbe Leit- und Leid-Motiv mag auch in gewifjen Aufzeich- nungen bindurchklingen, die heute noch im geheimften Pultfache jo manchen ver- dienjtvollen Miniſters oder Politikers „a. D.“ des Tages harten, da fie ohne Verlegung der loyal geübten Discretion die Erinnerung an die jo gar raſch ver— ſchollenen Thaten einem nachlebenden Geſchlechte wachrufen ſollen. Wanbdelt nicht noch Herr von Schmerling unter uns, den fie einſt als „Water der Ver— faſſung“ dankbar feierten, um ihn, kaum daß fein Werk drei Jahre beftanden, von dem tarpejiichen Felſen herabzuftürzen, wie wenige Jahre fpäter die Männer, denen fie jelbit al3 den Befreiern von den Feſſeln des Concordates, ald den Pfadfindern auf dem Wege zur Eroberung der ftaat3bürgerlichen und der intel- lectuellen Freiheit die Palme ſchwangen?

Belam der Mann, ben fie vor wenigen Tagen in Ungarns prädtig auf- blühender Hauptftadt mit fürftlichen Ehren, aber, was noch mehr werth ift, unter Thränen de3 Volkes zu Grabe trugen, befam Graf Julius Andräffy nichts von diefer Bitterniß zu koſten? War feine Volksthümlichkeit auch zur Zeit, da er noch in Amt und Würden unter uns weilte, auf jener Höhe, auf der die Kund— gebungen berjelben nad) feinem Tode ftanden? Lebte er nod), er würde mit jenem

128 Deutſche Rundſchau.

Scharfblick, der ihn namentlich da nicht im Stich ließ, wo es ſich um die Prüfung und Erkenntniß des eigenen Ich handelte, der Erſte ſein, dieſe Frage nur mit erheblicher Einſchränkung zu bejahen: für Ungarn vielleicht, für Oeſter— reich nur theilweiſe. Ja, dieſe Sympathien datiren, ſelbſt ſo weit die Deutſchen Oeſterreichs in Betracht kommen, erſt aus neuerer Zeit. Sie knüpfen unmittels bar an das Bekanntwerden des Bündnißvertrages mit dem Deutſchen Reiche. Und ſie mußten um ſo gewiſſer und tiefer Wurzel faſſen, als ſich bei dieſem Anlaſſe den Führern der Deutſchen Oeſterreichs zwei Empfindungen aufdrängen mochten, denen ſich ihre Redlichkeit nicht verſchließen durfte. Zunächſt die Be— wunderung vor der ſonſt nicht landesüblichen Selbſtverleugnung des Politikers, der einen Erfolg von ſo epochemachender Bedeutung erzielt, ohne ihn an die große Glocke zu hängen, ja der ſich im Augenblicke, da derſelbe verbrieft und beſiegelt iſt, ruhig ins Stillleben auf das Altentheil zurückzieht. Sodann die Reue, wo nicht die Beſchämung ob des Unrechtes, das man dieſem Rathe der Krone angethan, als man ihm mit mehr Leidenſchaftlichkeit als Ueberlegung vor— warf, daß er die Monarchie an den Rand des Verderbens bringe. Fürwahr, der Kranz, den die Abordnung der öſterreichiſchen Verfaſſungspartei an der Bahre im ungarifchen Akademiegebäude niederlegte, reicht nicht hin, um in dem Protokoll über die jo denkwürdige als verhängnikvolle Konferenz vom 22. October 1878 jene Worte de3 damaligen Parteiführers zu verhüllen, die ihre ätzende Spite gegen einen Abweſenden richteten. An jenem Abend Hatte Freiherr v. Pretis, al3 der Kaijer ihm die Neubildung des Gabinet3 übertragen, welches die Nach— folge des von der eigenen Partei im Stiche gelaffenen Minifteriums Adolf Auersperg übernehmen jollte, die Mitglieder diejer Partei verfammelt, um, nad- dem er fich zuvor der Zuftimmung ihres Führers verfichert, auch mit den anderen Trractionen der damal3 bereit3 gejpaltenen Partei fi auseinanderzuſetzen. Groß war feine Ueberraſchung, ala ſich derſelbe Dr. Herbſt, deſſen Unterftügung er ſich bereit3 gefichert glaubte, erhob, um zu erklären, „Defterreich ftche am Vorabende einer finanziellen Kataftrophe, wenn an der biäherigen auswärtigen Politik feft- gehalten werde. Eine Beſſerung der Berhältnifje jcheine nur möglich, wenn der gegenwärtige Leiter diefer Politik zurücktrete, deffen Hand fi al3 eine ver- hängnißvolle erwieſen habe und von bedauerlichem Einfluffe auf die parlamen- tariſche Entwicklung Oeſterreichs ſei'. Man könnte noch manche Redeblüthe jenes unſeligen Abends, deſſen Verblendung die Deutſchen Oeſterreichs mit einem ganzen neuen Capitel ihrer Paſſionsgeſchichte büßen mußten, einflechten in den Kranz, der als Sühne ſchweren Irrthums den Sarg des Todten ſchmückte.

Worauf beruhte nun die außergewöhnliche Volksthümlichkeit dieſes Mannes in Ungarn, die unbeſtrittene hohe Achtung, die er diesſeits der Leitha genoß? Worauf die, wie geſagt, bei uns ſo ſeltene Erſcheinung, daß es ihm gegönnt war, ſich Beider zu erfreuen, ſelbſt nachdem er ſein Amt niedergelegt? Woher nament— lich das, womöglich noch ſeltenere Phänomen, daß ungemindert durch jene Popularität und neben derſelben, auch ſein Anſehen „nach Oben“, wie man in Oeſterreich mit einer metaphoriſchen Abkürzung zu ſagen liebt, nicht bloß un— geſchmälert blieb, ſondern eher in Zunahme begriffen war? Sucht man nach einer Antwort auf dieſe Fragen, ſo wird man vor Allem zugeſtehen müſſen, daß er

Zur Erinnerung an Anbräffy. 129

weder dad Eine, noch das Andere von den Göttern erfleht hat. Graf Andraſſy lief der Gunft des Volks nicht nach und ſchlich ſich nicht in die der herrſchenden Kreiſe. Vielleicht liegt ſchon im diefem Zuge feine® Charakters ein Theil der Erklärung. Und Charakter war bei ihm Alles, nicht Berechnung. Gab er ſich fo, wie er es that, jo durfte man fein Gehaben nicht auf Vorbedacht zurückführen, e3 war einfah ein Ausflug feiner Natur. Wohl konnte ex fi in ihrer Aeußerung Gewalt anthun, jo weit ihm folches bei feinem Temperament möglich war; allein diefe Zurücdhaltung war au das Marimum defjen, was man ihm zumuthen durfte Wie ihm alles Unnatürliche, Gekünftelte, Geſchraubte ein Greuel war, jo wies er es auch von ſich, duldete es nicht um, nicht an fich. Es mußte ihm als großes Opfer erfcheinen, und er litt auch in der That dar- unter, al3 er bei jeinem Amtsantritte feinen Namen unter da8 Rundjchreiben feßte, in welchem jeine Politif als die Fortſetzung derjenigen feines Vorgängers bezeichnet wurde. „Ich Habe mich“ fo äußerte er damals zu Vertrauten „zur Politit meines Borgängers befannt nur aus perfönlicher Rückficht für Herren dv. Beuft, gegen meine innere Ueberzeugung. Denn follte ich wirklich diefe Politik befolgen müffen, jo wäre Niemand reich genug, mid) dafür zu bezahlen, daß ich dierundzwanzig Stunden lang auf diefem Plate aushalte.“ Zu berlei Con— cejfionen aus perſönlichen Rüdfichten verftand er fich aber nicht Leicht und jeden» fall3 nur pro foro externe. Seinem Volfe und feinem Monarchen gegenüber trat er immer mit aller Offenheit auf, aber nicht mit jener Art von Aufrichtig- feit, die die Hand ans Herz legt und die Augen gen Himmel hebt. Nicht in der Stellung und im Tone de3 Marquis Poja, ber um Gedantenfreiheit bittet, noch mit der finfteren Stirn eines Jeremias fuchte Graf Andraffy dem Souverän jene Entſchließungen abzugewinnen, die auf feine Anregung zurüczuführen find. Sein Charakter ward ihm zum zuverläffigften Wegweifer auf dem jchlüpfrigen Boden in den Kaiferpaläften. Kaifer Franz Joſef zählt zu feinen hervor- leuchtendften Regententugenden einen ritterlichen Sinn, das Erbtheil feines großen Ahnherrn Maximilian, und auf diefen mußte die Weiſe Andrafiy’3 ſympathiſch wirken. Nie hatten jene Räthe, die dem Kaiſer offen ind Auge zu fchauen und mit Wahrung ber Grenzen ſchuldiger Ehrerbietigung ihre Ueberzeugung zu ver- treten wußten, fich über Ungnade zu beklagen. Als da3 „Bürgerminifterium“ ana Ruder fam, defjen Namen nad der Natur der Verhältnifje bei Hofe bis bahin nicht eben mit Wohlwollen genannt worden, war es Giskra, deffen frantes, männliches Auftreten, gehoben durch die Mittel feiner oratorifhen Begabung, auf den erften Schlag ihm das Herz des Kaiſers eroberte, wie diefem auch der geftrenge Zahlmeifter Breftel ob feines jchlichten, anſpruchsloſen Wejend und troß feines, die Garricatur herausfordernden Aeußeren twohlgefiel. Schade, daß ih Giskra jelbft um die ihm entgegengebradhte Zuneigung, die der liberalen Sache jehr zu ftatten gekommen wäre, brachte, indem er bald eine gewilje rück— fichtsloſe Rechthaberei und allerlei Antriquantenkünfte an den Tag legte. Ganz und gar verdarb er es jedoch mit dem Kaifer in jener Mtinifterconferenz, in ber es fih darum Handelte, dem aus dem Gabinet gejchiedenen Dr. oh. Nep. Berger fein Ruhegehalt zu bemefjen. Von einer Seite war mit Rückſicht darauf, daß Berger feinem Portefenille eine der einträglichiten en wi geopfert, Deutfhe Rundſchau. XVI, 7.

130 Deutfche Rundſchau.

beantragt, ihm eine höhere als die übliche recht bejcheidene Penfion zuzugeftehen. Da ſchlug Giskra, der fich damals in politiichen Antagonismus zu jeinem einftigen Gollegen befand, mit geballter Fauft auf den Tiſch: „Wie, man joll der Schlange noch das Gift vermehren!“ Diefe Aeußerung über einen Gollegen und langjährigen Gefinnungsgenofjen fand der Kaijer jo unritterli, daß er ſich jeither von Giskra nur abgeftoßen fühlte. Herr v. Beuſt wußte ben Monarchen auch nicht immer recht zu faſſen; er war oft zu kleinlich, zu tergiverfirend, meinte es jehr qut, aber verdarb wieder Alles durch ein übel angebradjtes Späh- fein, das ex nicht umterdrüden konnte, deſſen Taktlofigkeit er nicht zu fühlen ſchien. So wenn er 3. B. einem feiner Mitarbeiter gelegentlich einer nicht an- exfennenden Bemerkung des Kaiſers den Vers widmete:

„Dft heißt: Viribus unitis!)

So viel als: die Suppe mit if.“

Den Grafen Andraffy verlieh dem Kaifer gegenüber der Takt nie; niemals würde er ſich gewiſſe Vertraulichkeiten im Dialog erlaubt haben, wie fie jeinem Vorgänger mitunter entjchlüpften, weit entfernt dadurch jeinen Beziehungen zum Träger der Krone jene Herzlichkeit zu verleihen, die zu erreichen dem ehemaligen Revolutionär und Erilirten gelang, ohne daß er e3 darauf abjah. Mit dem Auge, das ein jo langjähriger Verkehr mit Staatödienern aller Schattirungen ſchärfen mußte, erfannte der Kaifer in Andräffy den Mann, der nie etwas verlangen oder vorjchlagen werde, was er nicht innerlich als im Intereſſe der Dynaftie und des Reiches geboten erachtete. Umgekehrt ließ Andräffy es nicht darauf an— fommen, daß der Kaifer ihn mahnen mußte, feine Gefühle und Ueberzeugungen zu fchonen. Als es galt, dem König von Italien einen Gegenbeſuch abzuftatten, und befannt wurde, daß ber Kaifer hierfür Venedig außerjehen, machte ein fremder Diplomat dem Grafen Andraffy Complimente über diefen Entſchluß, die er indeß mit den Worten ablehnte: „Glauben Sie, ich hätte das Herz gehabt, dem Kaiſer jo etwas zu proponixen?“ So geftaltete das Verhältniß zwiſchen dem Landeheren und feinem Berather ſich zu einem durchaus und beiderjeitig vertrauensvollen. Daß der Letztere hierin vielfach von feinem Glüdäftern be günftigt wurde, ſoll allerdings nicht geleugnet werden. Darum konnte cr es, faum daß fein Minifterium nah Wochen zählte, wagen, das Vertrauen des Souveräns auf eine ſolche Probe zu ftellen, wie e8 die war, da er im Jahr 1867 dem eben gefrönten König von Ungarn den Entſchluß injpirirte, das großartige, von der Nation more avitico dargebradjte Krönungsgeſchenk einer Stiftung für die Wittwen und Waijen der Honvéd aus den Jahren 1848 —1849 zu widmen. Nicht einmal der „alte Herr” Deak, deſſen Loyalität außer Zweifel ftand, hätte den Muth gehabt, ſich dem Monarchen, deſſen erſte Waffenthat in ber Be fämpfung jener „aufrühreriichen Horden“ beftand, mit einer ſolchen Anregung zu nähern. Graf Andräſſy aber brauchte nur die richtige Saite anklingen zu laſſen, und ber anfangs etwas erftaunte, damals fiebenumdbreißigjährige König ging mit der ihm eigenen Hochherzigkeit auf den Vorſchlag ein, ebenjo wie er jpäter, ungeachtet des Entjegens feiner militärifchen Rathgeber, zuftimmte, daß die ungariſche Land- wehr officiell den bis dahin verpönten Titel „honved“ führen möge. Beide

) Belannilich bie Devife bea Kaiſers von Defterreidh.

Zur Erinnerung an Andräfiy. 131

Maßnahmen begründeten die Popularität des mit jeinem Volke wiederum ver» jöhnten Monarchen, und befeftigten die feines erſten Minifters.

Das Volk aber befam e3 mit dem feinen Inftincte, welcher manchmal bie große Maffe richtiger leitet al3 den Einzelnen, bald heraus, daß es feinen zu— verläffigeren und mehr vermögenden Anwalt für jeine Sache bei der Krone nicht gegen biejelbe zu erwerben im Stande wäre, als e3 einen ſolchen im Grafen Andräffy beſaß. Und da Andraſſy diefen Einfluß niemals einem per- jönliden und privaten Vortheile zur Verfügung ftellte, ihn nicht in Kleinen Dingen, mit unnützen, lediglich der Selbftbeipiegelung dienenden Kraftproben jeriplittexte, feftigte denjelben ebenjo, wie es die Zuverficht fteigerte, mit ber ſich die Nation jeiner Leitung überließ. Er jelbft Tennzeichnete im Jahre 1869 dieje Stellung und fein Verhältnig zum Monarchen mit den ſchlichten Worten: „Ich habe nur das einzige Verdienft, daß ich al3 Rath der Krone nie anders geſprochen, al3: Herr, vertraue der ungarischen Nation! Wenn fie einmal einen Ausgleich eingeht, dann Hält fie ihn auch mit derjelben Zähigfeit, mit der fie ihre avitifchen Rechte gefordert.“

Die nachfolgenden Zeilen können und wollen nicht den Anſpruch erheben, einen Zebensabriß oder gar eine erjchöpfende Charakteriftif dieſes Mannes zu geben. Nur mit flüchtigem Griffel Hingeworfen, will diefe Skizze einen und den andern Zug diejer intereffanten Perjönlichkeit fefthalten, deren Bild in ganzer Größe auszuführen, dem Gefchichtichreiber zufommen wird. Deshalb joll hier auch nicht weiter ausgeführt werden, was er für Ungarn bedeutete. Gelegentlich einer Berfammlung in jeinem erften Wahlfreije fam er auf die Einwendungen zu ſprechen, die ſchon damals von der Oppofition der jogenannten 48er gegen die neue Ordnung der Dinge in Ungarn erhoben würden. „Im Jahre 1848 find in jehr vielen Staaten Europa’3 neue Verfaffungen entftanden, aber ich weiß feinen einzigen, two diejelben auch nur in ihren Hauptzügen heute noch beftänden, Ungarn ift der einzige Staat, two jeder wejentlihe Punkt der 48er Conftitution wieder hergeftellt if. Was abgeändert wurde, das hat die Nation felbft abge- ändert!“ Da3 wurde vor 21 Jahren geiprochen, und doch könnte e8 noch heute den ſcandalöſen Diatriben der äußerften Linten des ungariſchen Parlamentes ent: gegengehalter werden.

An Ungarns Zukunft glaubte ex feft, aber ebenjo unerjchütterlich hielt ex an der hiftorischen Verbindung mit Defterreih. Ein der Oppofition angehöriger Freund und in Ungarn fchließt politische Gegnerſchaft perjönliche Freundſchaft nit aus hänſelte ihn einft: „Was nimmft Du Dich denn gar jo jehr um den ‚Ausgleih‘ an, Du fannft darum doch gemeinfamer Minifter des Aeußeren bleiben.“ „Mein Lieber, da irrſt Du“ antwortete Andräffjy „benn nad dem Ausgleich kommt entweder der Abjolutismus oder die Perjonal-Union, und dann gibt e3 feine gemeinfamen Minifter mehr.“ Schon durch diejes Feſt— halten an der Schöpfung von 1867 war jeine Sympathie für die Geſchicke Oeſterreichs bedingt, und mochte jein magyarifches Gefühl auch immerhin das ftärfere jein, jo geihah ihm doch bitter Unceht, ala man ihm Kälte und Em— pfindlichkeit für die Nöthen und Bedürfniffe der öfterreichiichen Erblande vorwarf. Man machte ihm diejen Vorwurf bejonders und am lebhafteften damals, als er

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132 Deutſche Rundſchau.

nach dem Sturze des Bürgerminiſteriums und dem Mißlingen des Potocki'ſchen Experimentes ſich weigerte, ſeine Stimme zu Gunſten der deutſchen Verfaffungs- partei zu erheben. Allerdings konnte man zu jener Zeit hundertmal aus ſeinem Munde die Worte hören: „Ich miſche mich nicht d'rein.“ Die Empfindlichkeit Beuſt's, dem Ohrenbläſer ſchon damals den Verdacht einflößten, Andräſſy trachte ihm nad dem Portefeuille („Ich würde es nicht acht Tage in Wien aus— halten,“ rief Zebterer aus, al3 man ihm von der Beſorgniß des Reichskanzlers ſprach) legte ihm zu den beftehenden fachlichen Referven noch weitere jubjectiver Natur auf. Gleichwohl ließ er es Jenem gegenüber an wohlgemeinten Winten nicht fehlen. Als Beuft das Bedürfniß fühlte, ih um das Abgeordnetenmandat in Reichenberg zu bewerben, redete ihm Graf Anbraffy wiederholt nicht nur hiervon, fondern überhaupt ab, ein Mandat für einen Vertretungskörper anzu: nehmen. „IH kann ja nicht zehn Monate lang warten, bis mir Gelegenheit wird, Infinuationen wider mich zu widerlegen,“ wendete Beuft ein. ergeben: ertwiderte der ungariiche Minifter: „Ueberlaffen Sie da3 uns, den Landesminiftern.“ Beuft jah darin nur eine ihm gelegte Falle, auch dann, ald er dabei felbft zu Talle fam. Man erinnert fich Heute kaum noch jener Epifode, ala im Mai 1870 die Völker Defterreihd durch die Berufung eine im Grunde herzlich harmlofen Herrn dv. Widmann ins Minifterium überrafht wurden, gegen den ſich in ber liberalen Prefje ein Sturm der Entrüftung erhob. Noch bevor diefe Ernennung volljogen war, hatte ein jelbft hochgeftellter Vertrauensmann Andräſſy's die heiflige Miffion übernommen, dem Bortefeuille- Ganditaten abzurathen, bie Berufung ind? Gabinet anzunehmen. Wenige Tage darauf machte Fyreibert v. Widmann dem ungariichen Magnaten feinen Gegenbeſuch, während defjen er von allen erdenklichen Dingen ſprach. Erſt beim Fortgehen warf er die Worte hin: „A propos, ih bin ernannt.“ Solche Erfahrungen waren nicht fehr ein- ladend, fi in den Froſchmäuſekrieg der Parteien Gisleithaniens zu miſchen. Sobald e3 ſich jedoh um Lebenäfragen des Reiches handelte, da zögerte ber Ungar nit, darzuthun, daß ihm die Antereffen der Krone und des Gefammt- reiches höher ftanden, als die Rüdfichten auf die ſpecifiſch magyarifchen Velleitäten. Wer, wie der Schreiber diefer Zeilen, im Jahr 1870 in der ungarifchen Haupt: ftadt geweilt, weiß, wie hoc dort die Wogen der Parteinahme für Frankreich brandeten. Das ging jo weit, daß nad den erften Lügenhaften Nachrichten über einen Erfolg der franzöfifchen Waffen, ſchon alle Anftalten getroffen wurden, um eine Stadt-llumination zu infceniren. Wo fih Officiere in einem öffent lichen Bergnügungslocale zeigten, tourden fie von den Zigeunermufifbanden mit den Klängen der „Marjeillaife” begrüßt. Graf Andraffy hatte heftige Scenen mit feinen intimjten Anhängern zu beftehen, die zur bewaffneten Intervention drängten.

Aber ſchon im Jahre 1868 gelegentlih der Zufammentunft mit Napoleon in Salzburg hatte der ungariſche Minifterpräfident, der dem Franzoſenkaiſer noch aus jener Zeit, da man fi ihn in Paris als „le beau pendu“ in ben Salon zeigte, wohl befannt war, diejem offen erklärt, er möge auf Oeſterreich in einem Kriegsfalle gegen Preußen fich keinerlei Hoffnung machen. Und ebenfo war in den Julitagen 1870 fein beftändiger Refrain: „Ein Krieg, in dem Oefterreich gegen Deutjchland ftünde, wäre unnatürlich, nie würde ich dazu vathen.“

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„Ich bin“ jo erzählte er jelbft fpäter „in jenen Tagen nicht von Wien gewichen, bis ich die Neutralitäterflärung durchgejegt hatte. Beuft hatte mir nach Terebes telegraphirt: ‚Sollen wir mit gefreuzten Armen zufehen?‘ Als ih in Wien ankam, wurde der Minifterrath drei Tage lang hinausgefchoben, bi3 er endlich am 18. Juli ftattfand. Und am 20. erfolgte unſere Neutralitäts- erklärung.“ Als ihm damals eine Aeußerung des „Herrn dv. Bismard“ tie man in jenen Sagen noch den bereit3 in den Grafenfland erhobenen deutſchen Kanzler nannte entgegengehalten wurde: „Beuft möge fi nur um die Gon- jolidirung Defterreich8 kümmern, wir fünnen mit Oeſterreich nur ala mit einer fremden Macht unterhandeln“ da meinte Andräffy ganz kurz: „Recht hat ex!“ Im Spätherbft desjelben Jahres trat dann die ungarische Delegation in Peſt zufammen, und der ungarische Vertreter des Minifteriums des Aeußern nebenbei bemerkt der treuefte und opferfähigfte Freund Andräſſy's mußte in offener Situng erklären, die Regierung habe nie daran gedacht, eine andere als eine neutrale Rolle zu jpielen. Nach der Sihung begrüßte Andräffy den Redner mit den Worten: „Ei, ich habe gar nicht gewußt, daß Du jo gut lügen kannſt!“

Schwerer mochte ihm jeine Aufgabe werden, al3 im Januar 1881 Rußland die Pontusfrage aufrollte und in ganz Ungarn fich ein wahrer furor gegen den alten Feind erhob, Alles zum Kriege drängte. Es waren entjcheidende Stunden, während welcher der große Minifterrath in der Hofburg zu Ofen berathichlagte und einer Darlegung de3 Kriegaminifterd Kuhn laufchte, der feine Rede in ge— wohnter Weife mit unzähligen „und foweiter etcaetera“ verbrämte. Beuft plaidirte gegen jede bewaffnete Demonftration mit weniger Worten als gewöhn- lich, und vielleicht eben deshalb mit mehr Eindrud. Denn er dachte, wie er jpäter erzählte, fi) die großen Argumente aufjparen zu follen, um den ungarijchen Minifterpräfidenten, der nad ihm zu Worte kam, zu widerlegen. Groß war feine Ueberraſchung, als diejer ganz lakoniſch erklärte, fich den Argumenten des Vorredners anzuſchließen. Und doc waren diejelben, mit Vorbedadht , Lediglich aus den Rücfichten für die Länder Cisleithaniens geihöpft. Nach diejen beiden Beihlüffen durfte ein gewiß competenter Beobachter, der damalige Vertreter Preußens am Kaiferhofe, General v. Schweinik, äußern: „Defterreich jollte dem Manne ein Monument jegen, der defjen Neutralität zu Stande gebracht, jo jehr fie au Manchem contre cur fein mochte.“

Daß aber Graf Andräfiy alle Reſerve abzuftreifen wußte, wenn es galt, die verfaffjungsmäßigen Zuftände in Gisleithanien gegen ernftliche Angriffe zu ver— theidigen, bewies feine Haltung gegenüber den fyundamentalartikeln des böhmijchen Landtages. Wiederholte Verſuche, ihn zu beivegen, feinen Einfluß gegen die Strömung geltend zu machen, welche der gut gemeinte aber unglüdliche Verſuch des Grafen Potocki zu entjeffeln drohte, lehnte er mit den Worten ab: „Für meine Perſon ſcheue ich die Verantwortlichkeit einer jolchen Intervention nicht, aber Ungarn darf ich mit derſelben nicht belaften.“ Als jedoch das Reſcript an den böhmischen Landtag ihm eine Handhabe bot, ergriff er diejelbe, um aus jeiner Referve herauszutreten. Deäf, damald noch am Leben, wollte von einem Einſchreiten anfangs nichts wiffen, bezeichnete die böhmiſche Landtagsadreſſe in einer Privatbeſprechung als inoffenfiv für Ungarn und mahnte die magyarijchen Politiker zur Mäßigung und Ruhe. Andraffy vergrub ſich in feinem Terebes,

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um erft auf Befehl des Kaiferd nad) Wien zu kommen, dem Beuft ein Memoire gegen die böhmiſchen Forderungen nach Iſchl gejendet hatte. Andraffy hatte auch einen perfönlichen Grund, nicht jo leicht in die Action gegen den Grafen Hohen- wart zu treten; er wußte, daß diefer einen polniſchen Gavalier, man jagte, den Grafen Adam Potocki, als Sandidaten für die Nachfolge Beuft’3 pouffterte, und mochte ſich nicht dem Verdacht ausjegen, jenem gegenüber ſich jelbft als Präten- denten in Erinnerung bringen zu wollen. Sein Erjcheinen in Wien und die Unter— ftüßung, die er dem damal3 ſchon ganz ifolirten Grafen Beuft bot, hatten den bekannten Erfolg: das Gabinet Hohenmwart fam zu Falle. Im Conſeil ſprach Graf Hohenwart jeine VBerwunderung aus, daß Graf Andrafiy, nachdem er zuvor das Rejcript gelefen und bis auf zwei Punkte gebilligt, jet dagegen ftimme. Graf Andräfiy entgegnete ſcharf: „Das ift eine Unmwahrbeit; aus dem Umftande, daß ich zwei Punkte beſonders beanftandete, folgern zu wollen, ich hätte alles Andere gebilligt, ift ein jefwitifcher Kniff.“ Noch in fpäteren Jahren wiederholte Andrafiy, er habe fich lediglich um des Ausgleiches willen feiner jonft üblichen Abſtinenz entjchlagen. „Ach bin für mich und meine Nachkommen” fagte er „Stolz darauf, den Ausgleih zu Stande und e3 dahin gebracht zu Haben, daß der Kaifer in Ungarn jo populär, wie fein anderer Monarch in Europa ift und über ganz Ungarn zur Vertheidigung des Reiches gebieten kann!“ Die Möglichkeit einer vollen Befriedigung der ſlawiſchen Afpirationen in Defterreich hielt ex immer für ausgeſchloſſen. Kurz bevor die eben erwähnten Ereigniffe fich abjpielten, im Herbſt 1870, begegnete er am Frühſtückstiſche im „adeligen“ Re— ftaurant Roger den Miniftercollegen Beuft und Potocki. Exfterer jcherzte, auf ben polnischen Grafen zeigend: „Sehen Sie, was der für ein trauriges Geficht macht, troßdem in Böhmen die Gehen aus den Wahlen die Majorität davon- trugen?" „Und da halten Sie für ein Glück?“ frug Andrafiy. Worauf Beuft: „Ganz gewiß, denn im Grunde ift e8 die Beftimmung Defterreichs, daß diesfeit3 die Slawen die Majorität genießen, wie jenjeit3 die Magyaren.“ An: dräfſy beftritt dies: „Wenn ich ein Volk befriedigen fann, jo gebe ich ihm Alles, aber die Slawen kann man nicht befriedigen, denn ihr letztes Endziel könnte ihnen höchftens Rußland gewähren: die Vereinigung aller Slawen.“ Und bei einem jpäteren Anlaffe, bei welchem davon die Rede war, daß ein öfterreichiicher Minifter des Aeußern berufen ſei, ftet3 die großöſterreichiſche Staatsidee vor Augen zu haben, nickte ex feinem Gegenüber, das nicht frei von fürbderaliftiichen Anwandlungen war, zu: „Ganz richtig; wenn man aber eine Großſtaatsidee repräfentirt, dann ift e8 doch der helle Unfinn, Hinüberzufteigen in die Arena zu Gehen, Slovenen und Galizianern.” Das hinderte ihn jedoch nicht, ſich mit bitterer Verachtung abzuwenden von jenen Beftrebungen, die juft in der Zeit nad) den deutjchen Siegen bei einem Bruchtheil der Deutfchen Defterreich® zum Ausdrud kamen und für die man hier die Bezeichnung „Preußenſeuche“ erfand. „Alles was diefen Leuten Fürſt Bismard gewähren würde, können fie von mir garantirt haben,” äußerte er eines Tages ironisch, ficher, daß der große Kanzler in Berlin für derlei Ueberläufer nur die gleiche Verachtung bereit habe. Freilich ließ er ſich auch durch entgegengejegte Allüren nicht täufchen. Dean ſprach ihm von dem „Preußenhaß“ eine magyariichen Publiciften, der, bis dahin im Dienfte des ungarischen Gabinet3, mun die Nedaction eines Welfenblattes übernahm.

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„Ach was, der ſchimpft nur jo, weil ex hofft, man werde in Berlin fo dumm fein, feine Liebe zu erfaufen.”

Bald nah dem Sturze Hohenwart’3 folgte die Berufung Andräſſy's zur Leitung der auswärtigen Politif. Sagen, daß diefer Rollentaufch in ber Monarchie große Befriedigung hervorrief, hieße die Thatſachen fälſchen. Der neue Miniſter ſelbſt mochte ſich nicht ganz ficher fühlen; gleichwohl fprang er fofort, wie es einer Reiternatur geziemt, mit beiden Beinen in den Sattel. Seine Umgebung tar ihm fremd, fast durchweg Männer, bei denen man wenigſtens alle Urſache gehabt hätte, große Anhänglichkeit an feinen Vorgänger vorauszuſetzen, der fie mit Auszeichnungen und Beförderungen überhäuft Hatte. Groß war das Map quter Meinung nicht, das man dem Neuling entgegenbrachte. Nach der erften Borftellung des höheren Beamtenperjonales meinte einer der Herren er ift feinem Chef, dem er nachmals treu anhing, im Tode vorangegangen im Hin blick auf die fichtlih genirte und befangene Haltung des Minifters: „Ich er- wartete, ex werde im nächften Augenblick eine Flöte aus der Tafche ziehen und ein Solo vortragen.” Ein Anderer nannte die Scene „eine Vorftellung auf umgejatteltem Pferde“. Er jelbft ariff anfangs in der Behandlung feiner vor- tragenden Räthe fehl. In Ungarn nahm der Beamtenftand, wenigftens in jenen Tagen noch, kaum eine höhere Stellung ein, als die befoldeter Diener; und dort gewohnt, fi von lauter unterwürfigen Greaturen umgeben oder von jeinen Ver— ehrern gehätjchelt zu ſehen, fand Andraffy ſich nicht alsbald in die ungleich Sanftere Tonart, die glatten Umgangsformen, an welche feine Vorgänger in Wien ihre Hülfsarbeiter gewöhnt hatten. Als aber eined Tages einer feiner Räthe, den er ftehen ließ, während er jelbft figend und rauchend den Vortrag anhörte, fih ohne Weiteres einen Stuhl nahm und darauf niederließ, da war e8 ber Mi— nifter, der fichtlich verlegen wurde. Am folgenden Tage bot er Jedem, der in fein Arbeitszimmer trat, Sit und Cigarre an. Mit Offenheit ſprach er ſich in Bezug auf feine neue Gejchäftsthätigkeit aus: „Ich bin zu ſchwerfällig, um den ganzen Organismus bereit fennen gelernt zu Haben.“ Nun, Schwerfälligkeit war es eben nicht, wohl aber eine jouveräne Geringihäßung alles bureaukratiſchen Weſens und jener Vielgefchäftigkeit, die noch am Ballplatz herrſchte. Kein Wunder bei einem Manne, der mit 48er Ideen über Bureaufratie und Diplomatie auf: gewachſen war und obendrein von Beiden glei beim Amtsantritte einen ſchlechten Begriff befam. Gewiſſe Polizeiberichte hatten nämlich für die Even- tualität, daß Andraſſy Minifter des Aeußern werden würde, Unruhen in Prag und jelbft in Wien vorhergefagt, mande Diplomaten gefchrieben, man betrachte diefen Portefeuillewechſel als Signal eines Krieges gegen Rußland. Dieje Be- richte wurden ihm gewifjenhaft vorgelegt, obwohl fie eigentlich für feinen Vor— gänger verfaßt waren. Bald darauf äußerte er: „Jet bin ich ſchon vier Wochen im Amte, und die Krawalle in Wien und Prag bleiben noch immer aus.“ Und wa3 den Krieg mit Rußland anbelangt, jo hatte er die Genugthuung, daß Gort— ſchakoff fich beeilte, ihn zu feiner Ernennung zu beglüdmwünjchen, während ex fiir den öfterreichifchen Geſchäftsträger, Freiheren dv. Frrandenftein, nachdem ihm dieſer die Abſchiedsdepeſche Beuſt's vorgelejen hatte, nur die jpite Antwort fand: „Je suis ravi d’apprendre que Mr. le Comte de Beust est content de Jui- m&me.“ Der einzige Hof, der die neue Wahl nicht ſehr freundlich aufnahm, war ber

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Batilan. Gardinal Antonelli machte zwar jehr viel Weſens von der „Gapacität” de neuen Minifters, fügte aber feufzend Hinzu, daß ex ſich für die Curie nichts von demfelben verſpreche. Der bezügliche Bericht trug die Unterfchrift des da» maligen Geihäftsträgerd des Grafen Kalnody. „ft mir Lieb zu Hören,” bemerkte Graf Andraſſy dazu. Er liebte e8 überhaupt, zu Allem, was man ihm vorlag, lakoniſche Randglofjen zu machen. So, als ein czechiſches Organ höhniſch ichrieb, „Herr Andrafiy” habe Courage. „Ja, manchmal“; und ein anderes Mal, als ihm ein ähnliches Blatt nachſagte, er habe in Berlin eine unter- geordnete Rolle gejpielt: „Na, Gott ſei Dank; denn wenn mich dieſes Blatt loben würde, müßte ih mich umbringen.“ Auch mit feinen Gejandten jprang der neue Minifter nicht fanft um. Der alte Prokeſch in Conftantinopel jchrieb „ein unverdauliches Kauderwelſch“. Graf Apponyi follte von London weichen, um dem Grafen Beuft Pla zu maden, und remonftrirte dagegen in einem fulminanten Briefe. Trotz der hohen Verbindungen, die er bejaß, mußte er ſich fügen, und nur dadurch, daß ſich Thiers lebhaft anfegte, um ihn nach Paris zu befommen, entging der mächtige Magnat dem Ruheſtande. Won den anderen leitenden Staatömännern Europa's hatte Andraffy damals feine allzu hohe Meinung. So äußerte er ſich über Gortſchakoff: „Für die Nahbarftaaten ift es immer gut, wenn Staatömänner alt werden; ex ift heute vierundfiebzig Jahre alt, Gott erhalte ihn und noch recht lange!" Seine Bewunderung für den deutichen Reichskanzler lag zu jener Zeit noch jehr im Keime und wuchs erft in dem Maße, als er ihm in feinem Wirken näher rüdte Das ging jo raſch, daß fi Andraſſy's Intimen nicht erinnerten, ihn jemals jo ftolz gejehen zu haben, als an jenem 1. uni 1875, da er ihnen ein durchaus eigenhändiges Schreiben vorwies, das Fürſt Bismard an ihn gerichtet, um ihm für feine Haltung in dem Gonflicte, den der belgifche Duchesne-Fncidenzfall zu provociren drohte, herz⸗ lichen Dank und Anerkennung zu zollen.

Die Unterfuhung der Politik, die Graf Andraffy machte, der Wege, die er einſchlug, der Ziele, die er verfolgte, gehört der Geſchichtſchreibung an, die ſich an diefe Aufgabe mit aller Unbefangenheit erft wird heranwagen können, fobald Rückſichten auf Perfonen und Verhältniffe eine rein fachliche Behandlung zulafien werden. Mag fi dann auch herausftellen, daß es nicht immer wie er fi gern den Anjchein gab eherne Gonjequenz und unentwegtes Zielbewußtſein waren, nad) denen er vorging, jo wird man darin um fo weniger einen Grund zu ernftem Vorwurf finden dürfen, al der Widerfpruch zwiſchen Wort und Handlung, zwiſchen Abfiht und Ausführung, der Näherftehende überrajchen mochte, doch niemald zum Nachtheile der Aktion jelbft ausſchlug. So redt- baberijch er in feinem Reden war, jo wenig war er e8 gegen ſich ſelbſt. Das joll heißen, er gehörte nicht zu den Leuten, die da etwas thun oder lafjen zu müſſen glauben, einzig und allein, weil der erfte Impuls oder auch die erfte Reflerion fie vermochte, dies und das ſich vorzunehmen. Er wich nie, oder doch nit, daß man es nachweiſen Fönnte, der lleberredung, dagegen oft und oft der Ueberlegung. Und da fein Blid nicht getrübt war durch Vorurtheile, feine Willensfreiheit nicht beeinträchtigt durch Rückſichten untergeordneter Natur; da ihm ein glücklicher Spürfinn innewohnte für das, was lebensfähig und gefund, und ex ſchließlich jehr viel Muth und ebenfo viel Selbftvertrauen beſaß, jo wußte

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er den Erfolg an feine Perfon zu feffeln. Gehört aber diejer Theil feines Schaffens, wie gejagt, künftiger Geſchichtsſchreibung an, jo können über die Form, in bie ſich dasſelbe Hleidete, nur die Zeitgenofjen als klaſſiſche Zeugen auftreten. Die Mehrzahl dürfte darin übereinftimmen, daß biejelbe fo grundverfchieden von dem war, was bi3 dahin als Tradition galt, wie nun wie das Morleben de3 neuen Minifters von dem der Metternich, Mensdorff, Rechberg. Seiner Er- ziehung, feinem Naturell widerſprach und widerſtrebte Alles, was nad) ber „Schule“ roh. „Schule das fenne ich nicht,“ pflegte ex jelbft gelegentlich zu jagen und mit jo wegwerfender Miene, daß man nicht Luft befam, ihn eines Befjeren zu belehren. Denn in jeiner Borftellung häufte fi unter dieſem Sammelnamen nit bloß der zopfige Formelkram, jondern Alles, was nur irgend wie nad) Dtethode, Theorie, Herfommen ausſah. Daß etwas fo und nicht ander3 gemadht werden müſſe, bloß weil e8 immer jo gemacht wurde, ließ ex abjolut nicht zu. Seine Umgebung hatte die größte Schwierigkeit, ihm begreiflich zu maden, daß ein Minifter des Aeußern an beftimmten Tagen der Woche die beglaubigten Vertreter der Mächte empfangen müffe, auch wenn fie ihm feine bejondere Mittheilung zu maden haben. Unerihöpflih war er in Erfindung von Ausflüchten, um fich „diefer corv6e“ zu entziehen. „Muß ich mich denn ausfratſcheln laffen,“ rief er Halb zornig, halb wehmüthig. In vielen Fällen ließ ex den antihambrirenden Diplomaten bedeuten, er jei eben zum Kaiſer be- rufen. Auch zu komiſchen Scenen gab diefe Abneigung Anlaß.

Unter Allen, die an dem Grafen herummodelten, um ihn nad) den Ueber— lieferungen des „Haufes“ zu drillen, war der Eifrigfte ein alter Thürhüter, ein putziges Männchen, das zum eifernen Beftand der Reichäkanzlei gehörte. Nie mand durfte fich herausnehmen, den Minifter jo zu tyrannifiren,, wie der Fleine Mann im langihößigen ſchwarzen rad, der tadellofen weißen Halsbinde, dem gefräufelten Jabot voll Brillantentnöpfen und die Bruft voll Medaillen und Kreuzchen, lauter Geſchenke dankbarer groß- und Eleinftaatlicher Vertreter. Eined Tages, der Minifter war eben im Begriffe auszugehen, ftürzt 2. athemlos ind Gabinet und meldet den **jchen Botjchafter. „ch habe Ihnen doch gejagt, daß ich Heute nicht empfange,“ ſchnauzt Andrafiy den Kleinen an. „Aber Ex— cellenz, ich kann doch unmöglich den Botſchafter Sr. **ſchen Majeftät abweiſen.“ „But, dann fönnen Sie ihn auch empfangen.” Prompt macht der Thürhüter jeine Verbeugung, jagt ganz kurz: „Sehr wohl, Excellenz“ und ſtürzt ab. Setzt erhob fi der Minifter ihm nad) mit dem Ausrufe: „Der Kerl iſt's im Stande,“ und bat den Diplomaten perjönlich zu ſich. Doch gerade ſolch' ſchnei— diges Wejen gefiel ihm beſſer, amüfirte ihn wohl auch mehr, als die Deferenz mander Functionäre, welche fich in dev Rolle des Polonius abmühten. Durch fachlichen Widerſpruch ihn zu befehren, durfte man nicht Hoffen; jedoch man konnte ficher fein, fich ihn dadurch nicht zum Feinde zu machen. Eher trat das Gegentheil ein. Wie im mündlichen Verkehr die müßigen Wortgefechte, jo waren ihm im ſchriftlichen die Schön gedrechjelten Depejchen zuwider. Die gewandteften Federn des auswärtigen Amtes waren in Verzweiflung, wenn fie eine Weifung des Minifterd zu Papier bringen follten, der, ohne je felbft die Feder zu führen, ſchwer zu befriedigen war. Am liebften gab ex feinen Aufträgen an die Ge— jandten im Auslande die Form von Telegrammen. Zur Zeit, ala noch Graf

138 Deutſche Rundſchau.

Karolyi den Botſchafterpoſten in Berlin inne hatte, beauftragte Graf Andrafiy einen feiner Räthe, eine jehr wichtige und vertrauliche Jnftruction an jenen ab= zufafien, aber in der Form eines Privatbriefes und mit der Anrede: „Lieber Alois.“ Und da der Beauftragte fichtlich ftußte, fügte der Minifter erläuternd hinzu: „Ich will, daß Karolyi die Weifung dem Fürſten Bismard zeige. Sieht diefer nun, daß e8 ein gewöhnlicher Kanzleiakt ift, jo Tieft er fie entiweder gar nicht oder glaubt nicht recht daran; fieht er aber einen Privatbrief von mir, To lieft er ihn und glaubt auch da3, was drinnen fteht.“ Er liebte es nicht, Prognojen aufzuftellen; aber wo er es that, fand er auch feit zu feiner VBorher- fage und freute fi) twie ein Kind, wenn er gegen zünftige Diplomaten Recht behielt. So hatte er zur Zeit de3 Alarme, der durch die „Kriegin-Siht“- Artikel der Berliner „Poſt“ fich erhob, fteif und feft feiner Zuverfiht auf Er— haltung des Friedens Ausdrucd gegeben und ſich dafür auch dem Monarchen gegenüber, der damals eben in Dalmatien verieilte, verbürgt. Ein Minifter- college glaubte ihn warnen zu jollen, fi doch nicht dermaßen zu exrponiren, erhielt aber zur Antwort: „Jh bin nun neun Jahre Minifter und habe dem Kaifer gleich anfangs gejagt, er möge mic) fortjagen, wenn etwas, was ich ihm fage, ſich nicht bewahrheite.“ Wenige Tage danach erhielt der Graf die Be— ftätigung feiner Vorausfiht aus Berlin, während Lord Derby nod zur jelben Stunde fi jehr beumruhigt über den Stand der Dinge äußerte. Am jelben Abend jpeifte Andräffy bei Sir A. Buchanan, dem damaligen Botſchafter Englands in Wien, und ließ e8 mit Ruhe über fich ergehen, daß diejer ihn fortwährend von den Kriegsbefürchtungen unterhielt. Während man beim Deffert war, kam eine telegraphifche Depejche und der Serretär entfernte ji, um fie zu dediffriren. Bevor er zurückkam, warf der Graf neckiſch die Bemerkung hin: „Paflen Sie auf, das ift ficher die Mittheilung Lord Derby’3, daß die Gefahr vorüber ſei.“ Und jo war es auch zum großen Vergnügen des fonft jo ernſten Mannes, der ſolche kleine Triumphe mit naiver Genugthuung im vertrauten Kreife erzählte. In jenen Tagen bebütirte Graf Beuft mit dem Projecte einer englifchruffiichen Allianz, der fih Defterreih anzuſchließen hätte, Graf Andraffy äußerte Fich darüber, das hieße, es dem Hunde in der Fabel nachthun und einem Schatten zu Liebe das Stück Fler aus dem Munde fallen laffen. Auf die Note feines Vorgängers aber fchrieb er mit graufamer Ironie: „Echt ſächſiſcher Bliemchen— kaffee“. Uebergroße Aengftlichkeit und Vorſicht war feine Sache nicht, und feine Agenten jammerten, daß fie Monate lang ohne die erbetenen Inſtructionen blieben. Dabei fam es aud vor, daß die Beicheide, die er verbaliter auf un— bequeme oder überflüffige Fragen ertheilte, vecht draftiich ausfielen. Als ihm gelegentlich der Klofterfperre in Preußen die Depefche des Polizeidirectord einer Provinz vorgelegt twurde, welcher meldete, daß die au dem Nachbarſtaate aus- getviefenen Nonnen mafjenhaft die öfterreichifche Grenze überjchritten, und um Verhaltungsmaßregeln bat „Schauen, ob fie hübſch find,“ Tautete der Befcheid.

Daß er es mit der „aftenmäßigen Erledigung” nicht genau nahm, verurjachte feinem Perjonale auch manche böſe Stunde, mwährend er felbft mit der größten Geelenruhe im Minifterrathe erklären konnte, eine Refolution der Delegation, welche der Kaifer fanctionirt hatte und die feine Andrafſy's Unterfchrift ht gelefen zu haben und mit nicht minderer Unbefangenheit des Kaiſers

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qutes Gedächtniß beivunderte, der diefelbe auswendig citirte. Und nun vollends fein Mangel an Nefpect für die Ordnung der Regiftratur! Was gab es da für Entjegen unter der wohlgefhulten Beamtenihaft, wenn z. B. die Proteftnote, welche der Vertreter des Sultand gegen den Einmarſch der Oeſterreicher in Bosnien iiberreiht hatte, abſolut unauffindbar war, bi3 fie endlich aus dem Papierkorb herausgefiicht wurde! Selbft loyal in feinen Mitteln, wiewohl gerne einen gewiffen Zug von Schlauheit zur Schau tragend und fich Kleiner Liften rühmend, jehte er gerne auch bei Anderen die gleiche Gefinnung voraus. Als e3 im Jahre 1875 in der fteirifchen Hauptſtadt Graz anläßlich der Anweſenheit de3 Don Alfonfo zu argen Exceſſen kam, ließen fich gewiffe Spürnafen nicht ausreden, daß die Berliner Regierung dabei die Hand im Spiele habe. Wie man davon aud in Andraffy’3 Gegenwart ſprach, rief er ganz entrüftet auß: „Da laſſ' ih mir doch den Kopf abjchneiden, daß dem nicht fo ift.“ In in— timerem Kreiſe gloffirte man es ein andered Mal, daß der Kaiſer während der Manöver in einem Toaft auf den Zaren dieſen feinen „guten Freund“ genannt babe. „Da können Sie Gift darauf nehmen, daß da3 perfönlich ganz zutrifft" warf Andrafiy ein. Wie frei er jelbft von Vorurtheilen und Traditionen in der Politit war, bewies er ja dadurch, daß er den Beſuch des Kaiſers Franz Joſef in St. Peteröburg zu Wege brachte, worauf er fi immer viel zu Gute that. „Wenn ich e8 Heute nochmals zu thun hätte, ich würde nicht zögern“ äußerte er fi) darüber noch nach der Berliner Gonferenz, die er, nebenbei gejagt, ala den Zenith jeiner Laufbahn betrachtete. Wenngleich das geflügelte Wort von der „gebundenen Marſchroute“ aus feinem Munde ftammt, wäre man verfucht anzunehmen, daß e3 vielleicht nie einen Minifter gab, der ſich ungebundener be— wegte und fi weniger Sorgen machte über die Zukunft, wenn nur für die Bedürfniffe der Gegenwart gejorgt war. Dilettant in feinem Fade, nannten ihn die zünftigen Diplomaten und mochten damit nicht Unrecht haben; aber was fie an falopper Routine voraus Hatten, das erfeßte er reichlich durch fein ficheres Urtheil, durch feinen Inſtinct, der ihn faft ftet3 das Richtige treffen ließ. Und Ichließlich verliehen ihm jeine Vergangenheit und das unbedingte Vertrauen, mit dem er fich auf jeine Stammesgenofjen in ganz Ungarn ftüßen konnte, ein ge- waltiges Preftige, deſſen Eindrud fich jelbft die bedeutendften feiner „Beruf3- genofjen“ nicht zu entziehen vermochten. Gin Feind der Phrafe und großer Redefiguren, machte er e8 auch feinen parlamentarifchen Vertheidigern und Gegnern nicht leicht. Der Nachfolger Hohenmwart’3 im cisleithaniſchen Minifter- präfidium, Fürſt Mdolf Auersperg, überhaupt fein fehr vebebegabter Herr, hatte die Gewohnheit, wenn er das Wort ergriff, die Stimme gewaltig zu erheben und recht viele padende kurze Schlagworte anzubringen. „Er liefert immer den Tert zu einem Transparent,“ jagte Graf Andräſſy ſcherzend von ihm. Allein ebenjo wenig imponirte ihm Pathos und Emphafe. In einer Bormittagsfigung der Delegation im November 1878 hielt der Abgeordnete Dr. Herbft eine fulmi- nante Rede gegen die Occupationspolitik und gegen den Minifter de3 Neußeren. Unmittelbar darauf begegneten fich der Redner und der Angegriffene im Bureau de3 Secretariatd. Herbſt, noch ganz im Eifer des Gefechtes, fchritt mit erhobener Hand und rothglühendem Gefichte auf den Minifter zu und apoftrophirte ihn freiichend: „Genau jo habe ich dem Grafen Rechberg das Schickſal des jchlestvig-

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* bolfteinifchen Unternehmens vorhergeſagt!“ Worauf Andräffy mit der größten Gelafjenbeit: „Ich beiwundere Sie nur, Excellenz, wie Sie mit nüchternem Magen jo lange reden können ; ich fterbe faft vor Hunger.“ Sprach's und eilte zum Frühſtück.

Ganz eigenthHümlih war feine Stellung zur Preſſe. Der Mann, deflen Jugend in die Zeit der Aufhebung der Genfur fiel, der in England, in Frank— reich mit der Literarifchen Welt in innigem Contact lebte, der, dann heimgefehrt, ein Zeuge de3 außerordentlich bedeutenden Antheile® war, den die ungariſche Preſſe an den Errungenſchaften des Jahres 1867, an der Wiedergeburt der Nation genommen, der wahrhaft Liberale und Worurtheilsfreie: er war ſchlechterdings nicht im Stande, fih in den Mechanismus der Journaliſtik Hineinzudenten! Daß ein Journaliſt andere Rücfichten zu wahren habe ala ein Diplomat oder Politiker; daß der ſorgſamſte und wohlwollendfte Redacteur eines großen Blattes nicht im Stande ſei, zu verhüten, wenn Zeilen unterlaufen, die nicht der Tendenz des Organes entipredhen; daß er vollends Manches thun müffe, um dem Ge ſchmack und der Neugier des Publicums Rechnung zu tragen: AM’ das leuchtete ihm nit ein, war ihm auch nicht beizubringen. Wie oft konnte man den jonft jo geihmeidigen und ftet3 feine gute Laune beiwahrenden Baron Hofmann, mit dem er ſich übrigens abjolut nicht vertrug, oder denjenigen feiner Räthe, der juft die Bleikugel der „Preßleitung“ jchleppte „wir leiden mehr al3 wir leiten und gelitten werden,“ jchrieb eines diefer Opfer wie oft konnte man fie außrufen hören, es ſei „um aus der Haut zu fahren!“ Er jelbft lad „principiell“ feine Zeitung, aber man mußte ihm XLejensmwerthes vorlegen, befjer gejagt vorlejen, boraudgejeßt, daß man ihn zum Stillftehen brachte. Da fielen die Gloffen hagel- dicht. Gleich zu Beginn feines Minifteriums in Wien ließ ex fich bewegen, den Redacteur eines großen Blattes zu empfangen und mit demjelben über Politik zu jprechen. Natürlich figurirte das Interview am nächſten Tage als Leitartikel, worüber Graf Andräffy in die höchſte Wuth gerieth. „Da fol mir zur Witzigung dienen,” rief er einmal um das Andere. In der That war e3 leichter, den Kaiſer von China ala ihn zu einer Aubdienz für einen Sournaliften zu be» wegen. In feinem Punkte wie in diefem zeigte fih fein Localpatriotismus, denn man konnte ihn lange die ungarische Preffe als Mufter in Sachen der Parteidisciplin und Delicateffe vühmen hören, freilich) nur fo lange, bis auch jenjeit3 der Leitha fich manches Lämmlein als Böcklein entpuppte. Max Falt, der hochgeſchätzte Nedacteur des „Peſter Lloyd“, hatte ihm ſchon zu felbftändige Alüren oder war zu empfindli. Derjelbe Mann, ber eiferfüchtig darüber wadte, daß nicht das Leifefte aus feinem Gabinet in die Deffentlichkeit dringe, hatte fein Geheimnig vor dem notoriichen Gorrefpondenten der „Times“, dem ehemaligen Honvedgeneral Eber, der Einfiht nahm in die geheimften Schriftftüde. Freilich galt diejes Vertrauen dem alten Freunde und nicht dem Sournaliften, der e3 allerdings nie getäufcht oder mißbraucht hat. Als im October 1876 der ruffiiche General Samorofow in geheimer Miffion des Zaren in Wien ankam und ein Blatt diefe Meldung brachte, konnte Graf Andräffy ſich nicht beruhigen ob dieſer Jndiscretion, jo jehr man ſich auch bemühte, ihm beizubringen, daß es fh um ein Geheimniß des Polichinell handele, ſobald der Fremdling unter jeinem vollen Namen im Hötel abgeftiegen und bald darauf in voller Gala zur Hofburg gefahren jei. Man hatte die größte Mühe, ihm beizubringen, daß fein

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Wunſch, diefe Notiz zu dementiren, unausführbar jei. Was ihm perfönlich galt, ließ ihn kühler. Ein ſüddeutſches Blatt brachte eine Serie von Artikeln, die ihm übel mitfpielten. Er nannte diejelben ein „Moſaik von Pferdemift”. Ebenjo bermied er es, für fi) Reclame zu machen, objchon er im Grunde für publiciftifche Gomplimente recht empfänglid war. Eines Sommermorgen3 von feinem ge— wöhnlihen Spazierritte im Prater heimfehrend, erzählte er: „Heute hat mich der Kaifer erwiſcht. Ich ſah ihn jchon beim Bahnhof, ſchummelte (ſchmuggelte) mich aber an ihm vorbei. Dann in der Allee holte er mich ein, ftellte mich und ih mußte die ganze Zeit neben ihm reiten. Es wäre mir unlieb, wenn es in die Zeitung käme, man könnte glauben, ich hätte mich ſelbſt hineingejet.“ Nur einmal jah man ihn eine feine Perſon betreffende Mitteilung jelbft redigiren, und die in einer jo übermütbig luftigen Stimmung, wie er fie, wenigſtens im Amtöbereiche, nur jelten zeigte. Das war an jenem 9. Auguft 1879, nachdem er vom Kaifer endlich die lange erbetene Demijfion erhalten und hiervon die exfte Kunde in die Deffentlichfeit lanciren ließ, in der Form ungefähr, daß fein Palais in Ofen hergerichtet werde, um ihn und feine Familie angeſichts ihrer bevorftehen- den Ueberſiedlung zu beherbergen. In den größten Zorn gerieth er an folchen Tagen, wo ein Organ, das im Rufe ftand, feine Jnfpirationen aus dem aus— wärtigen Amte zu erhalten, ſich es beikommen ließ, irgend Etwas zu veröffent- lien, was dem bdeutjchen Reichskanzler unangenehm klingen modte. „Das ganze Jahr braudt man den Mann, und dann tritt man ihm auf die Hühner: augen.“ Und nicht minder draftifch bemerkte ex einft einem Vertreter der Stadt Wien, der fi) darüber beklagte, daß die Kaiſerin jo jelten in der Reſidenz weile: „So oft die Kaiferin da ift, jpredhen Eure Journale nur von ihren Hunden und Pferden. Soll fie darıım etwa fi in Wien wohl fühlen?”

Diefe flüchtige Skizze, in welcher die Pietät für einen Dahingejchiedenen mit vielleicht entichuldbarer Vorliebe bei feinen Lichtfeiten verweilte, ſoll nicht geihloffen werden, ohne auch den Vorhang ein wenig zu lüften von dem Privat» leben de3 Staatgmanned. Die Gejellichaftsräume de3 Minifterhötel3 am Ball» plab hatten ſchon lange unter der Verödung gelitten, welche fi wie ein Bann über fie legte, feitdem die Gemahlin des alten Metternich fie zulegt zum Sammel- plage Alles deſſen gemacht, was Wien an Vornehmheit und Geift beſaß. Die Nachfolger des vom Sturmeshaud der Revolution hinweggewehten Staatskanzlers waren entweder Hageftolze, oder ihre Frauen verftanden es nicht, ſich zur Geltung zu bringen. Ein Sinnbild diejes Verfalles, jah man zulegt noch eine ganze Golonie von Katzen Beſitz ergreifen von den Seidenpfühlen der altväterlichen Ganapee’3 und Lehnftühle, die einft „den erſten Salon Wiens" anfüllten. Bald nad) dem Einzuge Andraſſy's jollte das anders werden. Wohl mußte zunächit eine durchgreifende bauliche und decorative Veränderung vorgenommen werden, um die Räume in den Zuftand der Wohnlichkeit zu verjegen, den ihnen eine arge Verwahrlofung nahezu benommen hatte. Aber dann zog mit der neuen Herrichaft auch neues Leben blühend ein. Gräfin Katinka wußte fi raſch und nur mit den Hülfsmitteln angeborener Anmuth jene Pofition zu machen, die mit dem hierarchiſchen Range ihres Gatten im Einflange ftand. Es war fein Salon im Einne des alten Wien oder Paris, aber immerhin ein anziehender Vereinigungs- punkt der wirklich guten Geſellſchaft, der fich Hier darbot. Und nicht jo jehr

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die Beherrſcherin als das belebende Element dieſes Kreiſes war die Hausfrau, deren elegante Geſtalt mit der jugendlich elaſtiſchen Haltung, dem goldigblonden reichen Haar, den eigenartig großen lichten Augen, ihrer Erſcheinung den Zauber von Jugend und Heiterkeit gaben, welcher durch das ungezwungene Lächeln, das ihre Lippen umſchwebte, und den Wohlklang ihrer Stimme nur noch in der Wirkung verſtärkt wurde. Dieſe vornehme Weltdame, welche Lebensluſt und Freude ausſtrahlte, konnte zugleich eine treue, ſorgſame Gattin und Haus— frau, eine zärtliche Mutter ſein und beſaß obendrein den angeborenen Takt, fi nie auf die Frau des Minifterd binauszufpielen oder fich die Allüren einer Orafel- hüterin zu geben. Mit Stolz haftete oft der Blick Andrafiy’3 an der Geftalt der jeinem Herzen jo nahe ftehenden Frau; aber helles Vergnügen leuchtete aus feinem etwas ftechenden Blid und eine Art von verflärter Zufriedenheit erfüllte jein ganzes Wejen, wenn er jeiner Tochter Ilona anfichtig ward, deren Gazellen- auge ihn wie magnetiſch anzog. Der Wunſch, jeiner Familie fi mehr widmen, feinen herangewachſenen Söhnen, deren Erziehung der Freidenker unbejorgt einem Angehörigen des geiftlihen Standes anvertraut hatte, näher treten zu können, wog nicht wenig in der Wagichale des Entichluffes, die Leitung des Staates, ben er in fidhere Bahn gelenkt, in andere Hände zu geben.

Gerade in diefen Tagen wurde die Erinnerung an eines der im Minifter- palaft erlebten Fefte wachgerufen, al3 die Schmerzensfunde von dem Tode der ehrwürdigen beutfchen Kaiferin allgemeine Trauer verbreitete. Der hohen Frau zu Ehren, die, wenn ich nicht irre, zum Bejuche der Ausftelung in Wien weilte, gab Graf Andrafiy ein Nachtfeft. Damals war das Heine Gärtchen, welches ala Neberreft der alten Bafteien ein Anhängfel des Miniſteriums bildete, noch nicht der Stadterweiterung geopfert, und die milde Sommernadt benütßend, hatte der Hausherr dasfelbe feinen Gäften geöffnet und darin eine nationale Zigeuner: mufitbande poftirt. Der Minifter trug die Uniform eines Honv&d-Oberften, die mit dem blauen Attila und den rothen Hofen ganz dem Phantafiecoftüme der Muſiker glich. Als nun, während die hohe Frau in einem Rollftuhl in den Garten ge fahren wurde, Graf Andrafiy zu den Zigeunern eilte, um ihnen einen Auftrag zu ertheilen, fonnte fi Ihre Majeftät der Bemerkung nicht erwehren, daß fie einen Augenblid lang den Feftgeber für den Chef der Zigeunermufit gehalten habe.

Mehr al3 alle pomphaften Nachrufe mag es dem Manne, den fein Herricher- haus, den feine Nation beweint, zum Ruhme gereihen, daß er, obgleich ihm jede Abfichtlichkeit ferne lag und eine herbe Außenfeite, eine vornehme Zurüdhaltung jedes Näherrüden erjchwerten, gerade bei Denen, die im Verhältnig amtlicher Unterordnung zu ihm ftanden, dad Andenken eines gerechten, bei aller Urfprüng- lichkeit und Rüdfichtslofigkeit dennoch gemüthsweichen Vorgeſetzten, bei feinen Landsleuten das eine großen jelbftlojen Patrioten, in der ganzen Monarchie Trauer um den Verluſt eines ernften Staat3mannes hinterließ, dem die Stefanskrone tie der habsburgiſche Bindejhild theuere Symbole waren. Dieje vor jedem Makel zu bewahren, galt ihm als feine edelfte Sendung. Darum hat auch Kaifer Wilhelm IL, wie immer, das treffende Wort gefunden, al3 er in feinem Beileidötelegramm an die jchtwergebeugte Wittive anjpielte auf den Vers unſeres Grillparzer:

„I nu! Ein treuer Diener feines Herrn!"

Politishe Rundſchau.

Berlin, Mitte März.

Der neue Reichdtag, wie er aus den am 20. Februar vollzogenen Wahlen und den jehr zahlreichen Stichwahlen hervorgegangen ift, weift gegenüber dem früheren eine wejentlich veränderte Zufammenjegung auf. Daß die Anzahl der focialdemokratifchen Abgeordneten von 11 im früheren Reichstage auf 35 angewachfen, ift ein Zeichen der Zeit, das dadurch noch charafteriftifcher wird, daß die Ziffer der ſämmtlichen im eriten Wahlgange abgegebenen focialdemofratijchen Stimmen weit über alle Befürch- tungen hinaus zugenommen hat. Nichts wäre verfehlter, ala im Hinblide auf dieje Erſcheinung dem Deutjchen Reiche ein düſteres Horoffop jtellen zu wollen; bat doch unjer Vaterland ganz andere Gefahren überwunden, ganz andere Kraftproben abgelegt, ald das durch das Anſchwellen der Socialdemokratie geftellte Problem darbietet. Wohl aber ift e8 die unabweisliche Pflicht aller ftaatserhaltenden Parteien, die Gefahr muthig ins Auge zu faffen. Immer von Neuem ift an diejer Stelle darauf Hin- geiiefen worden, daß Parteizwiftigfeiten in unſeren parlamentarifchen Körperſchaften weit zurückſtehen müfjen hinter dem patriotifchen Bejtreben, die wirklichen Intereſſen Deutſchlands zu fördern. Nicht darauf fommt es an, ob eine Partei im Reichätage eine beftimmte Anzahl Mitglieder zählt; vielmehr ift entjcheidend, welche pofitiven Leiftungen die berujene Vertretung des deutjchen Volkes verzeichnen darf. Daß die Stärke der confervativen Fraction von 76 auf 67, diejenige der deutjchen Reichapartei von 39 auf 19, diejenige der Nationalliberalen von 93 auf 42 gejunfen, daß bie deutichfreifinnige Partei von 36 auf etwa 70, das Gentrum von 99 auf 106 Mit» glieder gewachjen ift, find ficherlich für den gewifjenhaft prüfenden Politiker bedeutfame Gricheinungen,, aus denen Rüdjchlüffe auf die innerhalb der Bevölkerung herrichenden Strömungen gezogen werden müſſen. Wer wollte jedoch leugnen, daß das Gtaats- wohl höher jteht ala alle Gegenfäße der Parteien, Gegenfäße, die, wie der Verlauf des deutſch-franzöſiſchen Krieges gezeigt hat, jofort verftummen, wenn das Vaterland in Gefahr ift! Im Frankreich ſowie in Rußland, wofelbft Chaupiniften und Panjla- wiften voreilig genug die focialdemofratifchen Erfolge bei den deutfchen Reichstags» wahlen jogleich in dem Sinne deuteten, als ob das im Jahre 1870—71 aufgerichtete Reich ernithait gefährdet wäre, würde man befjer thun, zu beherzigen, daß Fälle von Mangel an Disciplin, wie fie häufig genug in der franzöfifchen oder ruffiichen Armee vorkommen, in Deutjchland geradezu unmöglich find. Wie bezeichnend ijt in dieſer Hinfiht, daß der ala Sachverſtändiger zu den Verhandlungen de preußiichen Staats- rathes zugezogene Putzer Buchholz, der fich auf die Frage des Kaiſers Wilhelm offen als Socialdemokrat bekannte, in der Sitzung mit dem eifernen Kreuze geſchmückt erjchien ! Zu welchen Trugjchläffen würden unfere Widerfacher im Auslande gelangen, falls fie in der That wähnen follten, daß auch nur ein Bruchtheil der deutſchen Bevölkerung minder muthig jein Blut für das Vaterland vergießen würde.

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Deshalb dürfen wir auch trotz der entſchiedenen Befehdung ſocialdemokratiſcher Phantafien nicht vergeffen, daß Diejenigen, welche fich zu ihnen bekennen, unjere Mit- bürger find, die, infofern fie fich auf dem Boden der Gefeglichkeit halten, den Rechts— Ihuß des Staates für ſich beanfpruchen können. Auch ift in den Laiferlichen Erlaffen vom 4. Februar d. %. betont worden, daß Kaifer Wilhelm entjchloffen ift, zur Ver— befferung der Lage der deutjchen Arbeiter die Hand zu bieten, ſoweit die Grenzen es gejtatten, welche feiner Fürſorge durch die Nothmwendigkeit gezogen werden, die deutſche Industrie auf dem Weltmarkte concurrenziähig zu erhalten und ihre ſowie der Arbeiter Exiſtenz zu fichern. Mit vollem Rechte wurde dann auch darauf hingewieſen, daß die in der internationalen Concurrenz begründeten Schwierigkeiten Hinfichtlich der Ber- befferung der Lage der Arbeiter nur durch internationale Berftändigung der an der Beherrfchung des Weltmarktes betheiligten Länder, wenn nicht überwunden, doc abgefhwächt werden können. Durchaus maßvoll ift das Programm, welches die Grundlage der Berathungen der Berliner Arbeiterfchußconferen; bildet. Selbſt diefes maßvolle Programm ift nicht in beftimmten Vorjchlägen formulirt, fondern es jollen zunächft nur beftimmte Fragen erörtert werden, die zum Theil durch bedauerliche Vorgänge der letzten Jahre praftiiche Bedeutung erlangt haben. Man braucht nur an die Rubeftörungen in dem Kohlendiftricte von Montceausled-Mines, im franzöfifchen Departement Saöneset-Loire, an die wiederholten Strifes und Tumulte in den belgiſchen Kohlenbeden, an die jüngften Ausftände in den Kohlengruben von Rheinland, Weft- ialen und Schlefien zu erinnern, um zu zeigen, daß nicht etwa ein einzelner Staat ein Sonderintereffe an der Regelung der in Betracht kommenden Verhältniſſe Hat. Vielmehr wird gerade durch die angeführten Beifpiele deutlich erhärtet, daß eine inter: nationale Regelung jolcher Fragen wohl am Plate ift. Noch ift in Aller Erinnerung, wie die gejammte Liberale Preſſe Belgiens gegen das Elerifale Minifterium ſchwere Vorwürfe erhob, als die Strifes mit ihren Ausfchreitungen fich wiederholten, und die Regierung nicht in der Lage war, fich darauf zu berufen, daß fie in der Zwiſchenzeit auch nur den Verſuch zu den erforderlichen Reformen auf dem Wege der Gefeßgebung gemacht habe.

Das der Berliner Arbeiterjchußconferenz vorliegende Programm ftellt zunächſt drei Fragen zur Erörterung, die fic) auf die Regelung der Arbeit in Bergwerken beziehen: ob die Beichäftigung „unter Tage” für Kinder unter einem bejtimmten Lebensalter beziehentlich für weibliche Perfonen zu verbieten ift; ob ferner für Bergwerke, in denen die Arbeit mit bejonderen Gefahren für die Gefundheit verbunden, eine Beſchränkung der Schichtdauer vorgejehen werden foll; ob es endlich im allgemeinen Intereffe möglich ift, um die Regelmäßigkeit der Kohlenförderung zu fichern, die Arbeit in den Kohlen: gruben einer internationalen Regelung zu unterjtellen. Die weiteren Hauptpunkte de3 Programms der Arbeiterjchußconferenz, abgefehen von den Bergwerfen, betreffen die Regelung der Sonntagsarbeit, der Kinderarbeit, der Arbeit junger Leute, welche das Kindesalter überfchritten haben, endlich der Arbeit weiblicher Perfonen. Nicht minder als die Löſung diefes Programms mit Nüdficht auf Elimatifche Verfchiedenheiten, ſowie auf die Unterichiede in der gefammten Lebensführung der Bevölkerung der zur Berliner Gonferenz eingeladenen Induftrieftaaten, muß auch die Ausführung der zu verein barenden Beitimmungen mit großen Schwierigkeiten verknüpft erjcheinen. Namentlich werden die Vertreter der verjchiedenen Staaten oder deren Regierungen fich darüber ihlüffig machen müffen, ob bejondere Beitimmungen über die Ausführung der zu vereinbarenden Vorfchriiten und deren Ueberwachung getroffen, ob ferner wiederholte Gonferenzen von Vertretern der betheiligten Regierungen gehalten, und welche Aufgaben ihnen gejtellt werden follen. In der Ansprache, mit welcher der preußifche Handels: minifter, Freiherr von Berlepih, am 15. März die Gonferenz eröffnete, wies er unter Anderem darauf Hin, wie die Arbeiterfrage die Aufmerkſamkeit aller civilifirten Nationen in Anfpruch nehme, feitdem der Friede der verichiedenen Bevölkerungsklaſſen durch den Wettbewerb der Induftrie bedroht erfcheine. Nach einer Löfung diefer Frage zu fuchen, ijt, wie weiter hervorgehoben wurde, nicht allein eine Pflicht der Menſchenliebe, jondern

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auch der ſtaatserhaltenden Weisheit, welcher es obliegt, für das Wohl aller Bürger zu ſorgen und zugleich das unſchätzbare Gut einer Jahrhunderte alten Civiliſation zu erhalten.

Das Programm der Conferenz weicht in einem weſentlichen Punkte von dem urſprünglich beabſichtigten ab. Das erhellt auch aus den officiellen Erklärungen, welche der franzöſiſche Miniſter des Auswärtigen, Spuller, in der Sitzung der Deputirtenkammer am 6. März in Folge der Interpellation des boulangiſtiſchen Abgeordneten Laur über die Theilnahme Frankreichs an der Berliner Conferenz gab. Dieſe Sitzung darf mit Fug als eine der denfwürdigften im Palais Bourbon angejehen werden, weil fich in erfreulichfter Weife zeigte, daß der Chauvinismus A tout prix im franzöfischen Parla= mente, abgejehen von den boulangiftifchen Hißköpfen, keinen fruchtbaren Boden mehr findet. Welchen für alle Friedensfreunde beruhigenden Gontraft bildet die Hammer: fitung dom 6. März 1890, in welcher die Entſchließung der Regierung, an der Berliner Conferenz theilzunehmen, „A Berlin“ zu gehen, mit jenen tumultuarifchen Scenen im Jahre 1870, bei denen der Ruf „A Berlin“ eine wejentlich verjchiedene, für Frankreich verhängnißvolle Bedeutung hatte. Die Thatjache, daß die Deputirten- fammer mit der überwältigenden Mehrheit von 480 gegen 4 Stimmen die von dem Minifterium Tirard-Spuller für annehmbar erklärte einfache Tagesordnung beichloß, in Verbindung mit den entgegentommenden Aeußerungen des jonft principiell in der Oppofition befindlichen Bonapartiften Paul de Gaffagnac, legte vollgültiges Zeugniß dafür ab, daß das Parlament in Frankreich, wenn auch nicht Alles vergeffen, doch mancherlei jür das eigene Staatswohl Nütliches gelernt hat. Andererjeits mußten die Boulangiften erfahren, daß, wenn auch die hauptjtädtiche Bevölkerung, die immer mit Vorliebe „frondirte”, noch immer bereit ift, in einer Anzahl von Wahlkreijen für die Parteigänger des Generald zu ftimmen, deren „patriotifcher Nimbus“ ebenfo wie ihre mots sonores in der Deputirtenfammer wirkungslos bleiben.

Der parlamentarifche Sieg. welchen der Minifter des Auswärtigen, Spuller, in diefer denfwürdigen Sitzung davontrug, war in der That ein wohlverdienter. Die von dem Minifter und früheren freunde Gambetta’3 vorgelejene Note an den fran= zöfifchen Botjchafter in Berlin erwies ſich ala ein diplomatifches Meiſterſtück, in welchem die republifanifche Regierung, indem fie die Einladung Deutjchlands zur Berliner Arbeiterfhußconferen; im Principe annahm, in tact- und maßvoller Weije ihren Standpunft wahrte. Sollte, wie in einer früheren, auf die Berliner Gonferenz bezüglichen Depejche des Fürſten Bismard hervorgehoben wurde, das Programm außer auf die Sonntagsruhe und die Reduction der Frauen- und Kinderarbeit fich auch auf die Beichränfung des Arbeitätages erftreden, jo führte Spuller nad) dem vorliegenden Ürterte feiner Depejche in diefer Hinficht wörtlich aus: „Jedenfalls gibt es eine Trage, die anfcheinend weniger ala jede andere den Gegenftand einer internationalen Ver— fändigung bilden könnte: dies ift die frage der Beichränfung des Arbeitstages. Sie verknüpft fich, wenigſtens was die erwachjenen Arbeiter betrifft, jo eng einerſeits mit den Grundfäßen, auf denen die politifche Gefeßgebung der verjchiedenen Staaten beruht, andererfeits mit den allgemeinen Bedingungen der induftriellen Production, daß fie als eine ausschließlich zur inneren Politik eines Landes gehörige, von deſſen Parla- mente zu erledigende Angelegenheit angejehen werden muß, alfo auch nicht in eriprieß- licher Weife einer diplomatifchen Discuffion unterworfen werden könnte“ Dieſer Geſichtspunkt wurde auch don der öffentlichen Meinung der übrigen Länder hervor— gehoben, und e8 kann daher nicht überrajchen, daß die Trage der Beichränfung des Arbeitstages aus dem endgültigen Gonferenzprogramme verſchwunden ift.

Ein geſchickter Schachzug in der Abfertigung, welche Spuller feinen allzu chauvi— niftischen Widerfachern zu Theil werden ließ, war der Hinweis, daß Frankreich ja die Einladung zu der Berner Gonferenz bereits angenommen, und deshalb, nachdem die Schweiz auf ihre Priorität verzichtet hatte, gar nicht in der Lage geweſen wäre, in Ihidlicher Weife die Einladung der deutſchen Regierung abzulehnen, zumal deren mdgültiges Programm im Weientlichen mit demjenigen der Schweiz übereinftimmte;

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nur daß, wie der franzöfiiche Minifter des Auswärtigen hervorhob, „die Verfafler des Programms der Berliner Gonferenz die Unterfuchungen über die Regelung der Arbeit in Bergwerfen in die erjte Reihe zu ftellen jcheinen.“ Widerlegte Spuller in feiner mit enthuſiaſtiſchem Beifalle aufgenommenen Rede die Interpellation des Boulangiften Laur in fachlicher Weiſe vollitändig, fo ließ der Minifter e8 auch nicht an fcharf zu— geſpitzten Epigrammen gegen feine Angreifer fehlen. Da Laur in der bei feinen Partei- genofjen üblichen Weife jofort die „verlorenen Provinzen“ erwähnt Hatte, machte Spuller ihm begreiflich, daß, wenn der Deputirte in diefer Weife feinen Patriotismus befunde, fein Amt ala Miniſter ibm zur Pflicht mache, den Patriotismus anders aufzufaflen. Die Kammer gab hier einen neuen Beweis ihrer jtaatsmännijchen Ge finnung, indem fie den Ausführungen des Minifter® in vollem Maße beipflichtete. Dies erjcheint um fo beachtenswerther, als die vor nicht allzu langer Zeit gewählte Deputirtenfammer mit ihren zahlreichen homines novi in folchen Heiflen Debatten bisher keineswegs fich bewähren konnte. Hierzu kommt, daß der für Deutfchland verhältnigmäßig jehr günftige Ausfall der eljaß-Lothringifchen Reichdtagswahlen unter fünfzehn Abgeordneten befinden fich vier zur nationalliberalen oder zur deutſch⸗ freifinnigen Partei gerechnete Gegner der Proteftpartei, während dieſe einen fünften, den Socialdemokraten Hidel in Mühlhauſen, gleichfalls nicht für ihre Beftrebungen in Anfpruch nehmen kann in Frankreich verftimmen mußte. Wenn aljo bie Kammermehrheit troßdem mit Feingefühl die boulangiftiiche Interpellation erledigte, jo foll dieſes Symptom jriedjertiger Gefinnung auch in Deutſchland nicht unterjchägt werden. Dan darf deshalb auch mit Herrn Spuller nicht rechten, wenn er feine Rede etwas pomphaft wir citiren nach dem jtenographifchen Urterte de „Journal officiel“ mit Hangvollen Worten jchloß: „Unfere Zuftimmung zur Berliner Conferenz ift ein Act des geläufigen internationalen Verkehrs, ein Act, der nichts von einer Neuerung an ſich trägt.” Hier unterbrach ein Abgeordneter den Minifter mit dent Zurufe: „Und die Weltausftellung ?“ Spuller ließ fich jedoch durch diefen Hinweis auf die Nichtbetheiligung Deutſchlands an der Säcularfeier der großen Revolution nicht aus der Faffung bringen und ſchloß: „Was neu it, ift, daß die franzöfifche Republik die Ehre haben wird, in eine von den Monarchien einberufene Berfammlung die Grund» fäße der Gerechtigkeit und Freiheit mitzubringen, von denen ich foeben ſprach, und ich hege die Ueberzeugung, daß dort wie anderwärts frankreich, nachdem es in dem Bewußtjein feiner Stärke feinen ganzen Stolz wiedergewonnen hat, die Stimmen der Bernunft, der Humanität, der Civilifation und des FFortichritts vernehmen laffen wird.“

Bemerkenswerth ift, daß troß dem correcten Berhalten des Minifters des Aus— wärtigen, Spuller, in der Angelegenheit der Berliner Arbeiterfchußconfereng bie Stellung des franzöfifchen Miniſteriums keineswegs befejtigt wurde, jo daß die Miniſter⸗ kriſis mit dem Ausſcheiden des Minifterd des Inneren, Gonftans, und deſſen Erjegung durch den radicalen Abgeordneten Leon Bourgeois ihren Abſchluß nicht gefunden hatte. Seit geraumer Zeit bereit3 beitanden Meinungsverjchiedenheiten zwifchen dem Gonjeilpräfidenten Zirard und dem Minifter des Inneren, Conſtans, jo daß zu wieder holten Malen davon die Rede war, daß Zirard von der Leitung des Cabinets zurüd- treten und Herrn Gonftans, der insbefondere den für die Republik günftigen Wahl: feldzug durchgeführt hatte, Pla machen würde. Statt defjen war nun Tirard zunächſt auf feinem Poften geblieben, während ein neuer Conflict mit dem Minifter des Inneren, Conſtans, die unmittelbare Folge Hatte, daß Lebterer das Feld räumte und durch Leon Bourgeois, der vielfach als Schüßling Glemenceau’s und Floquet's gilt, erjegt wurde. Dieje Minifterveränderung war aber wohl geeignet, gewiſſe Bejorgniffe wachzu- rufen, da fie eine DVerfchiebung der Regierungspolitit nach links darftellte, während die allgemeinen Wahlen mehr im Sinne einer gemäßigten republitanifchen Richtung aus— gefallen waren. So jtand von Anfang an ztı befürchten, daß die Zeit der parlamentarifchen Krifen wieder angebrochen wäre, zumal wie in der früheren Deputirtentammer aud in der gegenwärtigen die monarchifche Oppofition in der Lage ift, bei entjcheidenden Abdftimmungen den Ausſchlag zu geben und das Minijterium zu ftürzen. Das

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energiſche Vorgehen der Regierung in der Angelegenheit des Herzogs don Orléans, der nach jeiner Berurtheilung zu einer längeren Gefängnißjtrafe fich zu Glairvaur in Haft befindet, war ebenfalld nicht geeignet, die Monarchijten verföhnlicher zu ftimmen. 63 Hätte daher ohnehin großer Vorficht von Seiten des Minifteriums bedurft, falls es die Leitung der Geſchäfte behalten wollte. Hervorgehoben zu werden verdient, daß der Minijter des Inneren, Bourgeoiß, bei Gelegenheit der parlamentarischen Debatte über die vollzogene Veränderung im Gabinet fich jehr geſchickt aus der Affaire zog, indem er es weder mit den gemäßigten Republifanern noch mit den radicalen Elementen verdarb. Das Unheil fam dann auch von einer anderen Seite, indem das Minifterium Tirard durch einen Beichluß des Senats in der frage des franzöftich » türkifchen Handelävertrages zum Nüdtritte veranlaßt wurde. Die fchußzöllneriiche Strömung in Frankreich macht fich eben aller Orten geltend; auch darf angenommen werden, daß dem Beichluffe des Senats ſehr rafch ein ähnlicher der Deputirtentammer gefolgt wäre.

Eine Minifterkrifis in Frankreih kann allerdings im Hinblide auf die Häufig- feit derartiger Vorgänge auch nicht annähernd für jo wichtig erachtet werden wie die Kriſis in Ungarn, wojelbjt der bewährte Minifterpräfident Tisza fein Ent- lofjungsgefuch eingereicht hat. Die auferordentlichen Werdienfte, welche der am 16. December 1830 geborene, aljo noch im rüftigen Mannegalter ftehende ungarifche Staatsmann nicht nur um fein engeres Vaterland, fondern auch um die Erhaltung des europäifchen Friedens ala eifriger Anhänger der Tripelallianz fich erworben hat, erfordern volle Anerkennung. Koloman Tisza war es, der in der Zeit finanzieller und politifcher Verwirrung in jeinem Vaterlande Ungarn eine ſtarke liberale Partei bildete, die ihn dann im October 1875 in den Stand ſetzte, die Leitung der Regierungs— geichäfte mit Erfolg zu Übernehmen. Auch trug er wejentlich zu der Befeftigung der Öfterreichifch = ungarischen Monarchie bei, indem er im Sinne des Ausgleiches wirkte, jowie die Drientpolitit des Grafen Andräfiy erfolgreich unterjtügte. Wenn Defterreich- Ungam im mitteleuropäifchen Friedensbündniſſe mit vollem Rechte eine von den Bundesgenofjen, Deutichland und Italien, hochgeſchätzte Stellung einnimmt; wenn bie politifchen Verhältniſſe auf der Balfanhalbinjel fich wejentlich friedlicher gejtaltet haben, jo gebührt das Verdienſt neben dem Kaifer Franz Joſeph und den leitenden öfterreichifchen Staatsmännern auch dem bisherigen ungarischen Minifterpräfidenten. Die äußere Urfache, durch welche die Demiffion Tisza's herbeigeführt wurde, bildeten die parlamentarischen Vorgänge, die mit den perfönlichen Berhältniffen Ludwig Koſſuth's zufammenhängen. Am 11. December 1889 Hatte Tisza im ungarifchen Unterhaufe das Verſprechen gegeben, er würde der Kammer eine folche Abänderung des Heimathsgeſetzes unterbreiten, daß Kofiuth, obgleich er den Anforderungen des gegenwärtig in Kraft befindlichen Geſetzes formell nicht nachgefommen ſei, doch das ungarische Staatsbürgerrecht behalte. Nun ift aber nach der Auffaſſung des Gabinets in der Zwifchenzeit ein Greigniß eingetreten, durch welches die Sachlage vollftändig verändert worden und die Erfüllung jenes Verſprechens zu einer moralijchen Un— möglichkeit gemacht if. Hat doch Ludwig Kofjuth einen Brief veröffentlicht, in welchem er dem gefrönten Könige von Ungarn und dem ganzen gegenwärtig als gejeglich geltenden Zuftande die Anerkennung verfagt, und zwar in einer Weile, die an Schroffheit alle früheren ähnlichen Kundgebungen überbietet. Die Mitglieder des ungarischen Minifteriums find deshalb der Anficht, daß zu Gunften Desjenigen, der die ganze gegenwärtige Situation fir eine ungefeßliche erachte, auch fein bejonderes Gefeß geichaffen und der Krone zur Sanction vorgelegt werden könne. Tisza jelbft billigte die Auffaffung feiner Gollegen; er erachtete fich jedoch durch fein im Unterhaufe ertheiltes Verſprechen perfönlich für gebunden, zumal er die Taktit der parlamen- tarifchen Widerfacher aus langjähriger Erfahrung jehr wohl kannte. Die tumultuarifchen Scenen würden fich nicht nur wiederholt, fondern einen noch erbitterteren Charakter angenommen haben; der Vorwurf de Wortbruches würde in jeder Situng gegen den Minifterpräfidenten erhoben worden fein, auf deffen Ehrenſchilde bisher nicht ber geringite Makel nachgewiejen werden konnte. Welchen Ausgang aber auch die Minifter-

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148 Deutſche Rundicau.

frifis in Ungarn nehmen mochte, durjte doch von Anfang an ala gewiß gelten, daß die Stellung Defterreih-Ungarna im europäifchen Friedensbündnifſe in feiner Weiſe ver- ändert werden wird, da alle ungarifchen Parteien die Nothwendigkeit eines dauernden Anſchluſſes an Deutjchland längſt ertannt Haben. Graf Szapary, der biäher das Aderbauminifterium leitete, wird ala Chef des Cabinets und Minifter des Inneren ficherlich die Politik Tisza's fortſetzen.

Die italieniſche Deputirtenkammer iſt ebenfalls in dieſen Tagen der Schauplatz einer Kriſis geworden, die jedoch erfreulicher Weiſe einen glücklichen Verlauf genommen hat. Wie in der franzöſiſchen Deputirtenkammer die Boulangiſten die Rolle der berufsmäßigen Lärmmacher fpielen, wie im ungarifchen Unterhauje einige Abgeordnete der Oppofition bei jeder Gelegenheit den bisherigen Confeilpräfidenten Tisza perfönlich angriffen, weift die italienifche Deputirtenfammer ein Häuflein irredentiftiicher Ab— geordneten auf, die nie verabfäumen, ein Ceterum censeo vernehmen zu lafjen, nad welchem die Tripelallianz vernichtet werden müffe, weil in ihr das „verhaßte“ Defterreich einen vollberechtigten Pla gefunden Hat. Allerdings ift der Ab» geordnete Imbriani, der Wortführer der Jrredentiften, fein Cato major; dies ver— hindert ihn jedoch nicht, ftet? von Neuem feinen VBernichtungsruf vornehmen zu laſſen. Da die italienische Regierung einige ultraradicale Gemeinderäthe aufgelöjt hatte, die, im MWiderfpruche mit den gejeglichen Beitimmungen, Politif trieben, indem fie das Andenken des „irredentiftiichen Märtyrer” Oberdank feierten, begründete Imbriani am 8, März in der Deputirtenlammer eine von ihm und einigen Gefinnungsgenofien eingebrachte Interpellation, wobei er den Gonfeilpräfidenten Griepi perjönlich angriff. Diefer, welchem neben anderen großen Verdienſten auch dasjenige gebührt, daß er ein ebenfo treuer wie energifcher Hüter des europäifchen Friedensbündniſſes jenjeits der Alpen ift, fertigte die Interpellation in gründlicher Art ab. Da Jmbriani unter Anderem in üblicher Weife die Namen Mazzini's und Garibaldi’3 ausjpielte, weil die Regierung einen öffentlichen Aufzug aus Anlaß einer Gedenkfeier für Mazzini unter- jagt Hatte, betonte Crispi unter dem lebhafteſten Beifalle der weit überwiegenden Kanımermehrheit, daß auch in Zufunit die „rothen Proceffionen“ ebenjo wie die „Ihwarzen“ unterfagt werden würden. Andererſeits wieß der Gonfeilpräfident darauf bin, daß Mazzini und Garibaldi feiner Partei, jondern dem Vaterlande angehören. Mag nun auch Jmbriani in der italienischen Deputirtenfammer mit feinen jtereotypen Redensarten zumeift nur einen KHeiterfeitäerfolg erzielen, jo durite Griepi doch bean— ipruchen, daß der Kammerpräfident Biancheri alle perfönlichen Angriffe, die in ber Rede des irredentiftiichen Abgeordneten enthalten waren, mit Entichiedenheit zurückwies. Obgleich dies zu wiederholten Malen geſchah, vermißte der Gonjeilpräfident die noth— wendige Energie und lieh diefer Auffafjung Ausdrud, worauf Biancheri fein Amt als Kammerpräfident niederlegen wollte. ine folche Entjchließung des verdienftvollen Mannes berbeizuführen, lag jedoch jo wenig in der Nbficht Crispi's, daß er bie Kammer erfuchte, das vorliegende Demiffionsgefuch nicht anzunehmen. Mit Ein- ftimmigfeit jaßten denn auch die Deputirten ihren bezüglichen Beſchluß, jo daß Biancheri in der Sitzung der Deputirtenfammer vom 11. März den Vorſitz wieder übernehmen konnte. Diefer Abjchluß der jüngften parlamentarifchen Vorgänge zeigte jedenfalls in erfreulicher Weife wieder, wie feſte Wurzeln das europäijche fyrieden?- bündniß auch in der öffentlichen Meinung Italiens geichlagen hat.

Fiterarifche Rundſchau.

Karl Frenzel.

Gejammelte Werke von Karl Frenzel. 1. Lieferung. Leipzig, Wilhelm Friedrich. 1890.

In einer geiftvollen und anmuthigen Skizze, welche der Gefammtausgabe feiner Werke gleichjam ala Vorwort oder Einleitung dient, erzählt una Karl Frenzel, wie er in die Literatur fam. Im Schatten der Petrifirche geboren und aufgewachjen in dem der Nicolaitirche, vereinigt er in fich alle die prominenten Gigenjchaften des Berliners, defjen Natur fich aus dem Widerfpruch von Verſtand und Gemüth zufammen- jeßt und aus der Gegenwirkung bdiefer Elemente feine Bejonderheit erhält. Wie für die Landichaft um Berlin, deren eigenthümliche Reize man nicht länger leugnet, jo fcheint ung auch der Tag gefommen, da man den geiftigen Boden Berlins auf fein Ver: bältniß zur deutjchen Literatur Hin unbefangener unterfucht und richtiger ſchätzt ala bieher. Wilhelm Scherer hat nachgewiefen, daß in diefem Sande der Quell der neueren deutichen Lyrik mit Paulus Gerhardt’3 geiftlichen Liedern zuerſt vernehmlich ward. Derjelbe Boden Hat den Philifter Nicolai hervorgebracht und den Genius Leſſing's gereift; an der Ede der Roßſtraße fam Tieck zur Welt, das Haupt der romantijchen Schule, und in einem Hintergebäude der Akademie Gublow, der Führer des jungen Deutſchlands. Niemals ift die Literatur hier eine Herrfchende Macht geweſen; aber mehr als einmal Hat fie fich aus Berlin ihre Waffen geholt, und wenn man auf ihre vornehmſten Hiefigen Repräjentanten fieht, jo wird man das Gharakteriftifche derjelben darin finden, daß in ihnen immer das poetifche Vermögen mit dem Eritifchen verbunden und daß durch das Vorwiegen des einen oder anderen ihre Stellung bejtimmt war. Der Phantafie des Berliners ift ala Gegengewicht die geiftreiche Schärfe des Witzes und der Sjronie beigegeben, dem Teen» und Elfenzauber Tieck's an den Ufern der Spree die fühle Stepfis Gutzkow's gefolgt, und zwiſchen Beide fällt die Jugend Frenzel’. Es Hätte una Wunder nehmen jollen, wenn Tieck's Märchen und Komödien nicht das Erfte geweſen, oder faſt das Erjte, was er gelefen. Der Zweite war Heine, der fich eben damals zögernd von dem ſüßen Banne der Romantik frei machte, wies wohl Beide fie niemals ganz los geworden find, weder Heine noch Frenzel.

Aus echt Berliner Fleinbürgerlicden Verhältniffen gefommen, umgab ihn doch frühe jchon Etwas wie eine literarifche Luft und Atmoſphäre. Diefer Theil feiner Skizze ift das Reizendfte, was man fich denken kann; ein Kleines Idyll, in welchem dad Berlin der legten Jahre Friedrich Wilhelm's III. mit feinen Linien gezeichnet ift. Freilich nicht weiter, ala der Gefichtöwinkel des Knaben reichte. Hätten wir aber nur mehr jolcher Schilderungen einer Zeit, die von der unferen wie durch einen Abgrund getrennt ſcheint! Ein Onkel Frenzel's war Buchbinder, und deilen Laden in der Friedrichftraße für ihm der Vorhof zur Literatur. Man fieht den waderen Mann vor

150 Deutſche Rundſchau.

ſich und athmet den Geruch der friſch gebundenen Bücher um ihn her. Gin wohl- angejehener, bemittelter Berliner Bürger und auf dem beften Fuße mit feiner gelehrten Kundihaft, die fi vornehmlih aus der Nachbarfchaft der Univerfität refrutirte. Manche von den literarischen Berühmtheiten jah Frenzel hier und hörte von Charlotte Stiegli jprechen, die mit ihrem Gemahl in diefem Laden ein und ausgegangen. Ein Original, wie nur im damaligen Berlin es möglich war, fand fich in Geftalt eines verbummelten Genie, eine® Sournaliften von Beruf, dem der Onkel zuweilen ein Mittagbrot gab und deſſen Leben einen unverhofft würdigen Abſchluß dadurch erhielt, daß er eine Goldſchmiedswittwe Heirathete und deren Gejchäft übernahm. Aber er entjagte darum nicht ganz den alten Xiebhabereien, und er und andere gute Bürger (der Onkel Buchbinder darunter) führten an freien Abenden vor einer geladenen Geſell— Ichaft in den Hinterzgimmern Komödien auf, wie die Handwerker im Sommernadhts- traum; und bier, in der Mohrenjtraße, mit dem Schaufpielhaus auf der einen Seite, mit dem Haus auf der anderen, an deſſen Edfenjter man fich noch die geſpenſtiſche Figur E. T. U. Hoffmann’s denken konnte, jah Frenzel zum erften Male in jene Zauberwelt, die fpäter mit fritifcherem Blick zu muftern feine Beitimmung war. Die Berhältniffe mochten eng und die Menfchen nüchtern fein, etwas Phantaftifches um jchwebte fie dennoch, das die Seele diejes Knaben wahrnahm , und der Alttag jelbit ſchien von einem Geheimniß umgeben, welches bier und dort, in feltenen Feierſtunden fich Lüftend, ihm Bilder eines höheren Dafeins zeigte. Die guten Teen haben feinen Kindertagen nicht gefehlt. Eine davon, eine alternde Jungier, Jugendfreundin feiner Mutter, war Garderobidre bei der Fürftin Liegnig, der zweiten Gemahlin Friedrich Wilhelm's III. Hoch oben, in zwei freundlichen Dachkammern des Pringeffinnenpalais, heute ein Theil des Palais der Kaiferin Friedrich, wohnte diefe treffliche Perſon, die den ängjtlich laufchenden Kleinen, Hinter einer Thür verborgen, einmal den alten König jehen ließ, wie er am Arme der Yürftin langjam vorüberjchritt. Ein jcheidendes Zeitalter, groß wie eines, aber in menfjchlicher Gebrechlichkeit endend, und in Frenzel’ Erinnerung verbunden mit dem Jasmingeruch des Schloßgartens von Charlottenburg und dem Raufchen der alten Linden im Parke von Schönhaujen.

Das Fundament feiner Bildung verdankt Frenzel einem Lehrer der Dorotheen- ftädtifchen Realfchule, Friedrich Köppen, einem jener bedeutenden Männer, deren Ans denfen leuchtend bei den Schülern jortlebt, wenn das eigene Schidjal längſt in der Dunkelheit verlaufen, Männer, die wohl Anderen auf ihrer Bahn forthelfen können, fich jelber nicht. Durch diefen ward Frenzel der Wiſſenſchaft zugeführt, jener lebendigen, die das Gefühl für Schönheit und freiheit twedt, die nicht im Gegenjaß fteht, jondern fih Eins weiß mit der Literatur, und die damals, im Bunde mit ihr, die Trägerin des nationalen Gedankens war. In jenen äußerlich ftillen Jahren vor dem eriten Ausbruch Hat Frenzel die Schäße jeines Wiſſens aufgehäuft, zu welchen das Werder'ſche Gymnafium den foliden claffifchen Grund legte. Bon feinen Univerfitätslehrern nennt Frenzel Ranfe vor Allem, dann Guhl, Hotho, Werder ala Diejenigen, welche von entjcheidendem Einfluß auf feine künftige Richtung geweſen find. Gefchichte und PHilofophie ftanden im Mittelpunkte feiner Studien, denen eine rege poetijche Pro- duction zur Seite ging. Trauerſpiele waren das Grfle, was er jchrieb, Gedichte das Erſte, was von ihm gedrudt ward. Die Revolution von 1848 fand den Zwanzig— jährigen erfüllt von all’ den Idealen, die fein erfter Lehrer in ihm gewedt, und bie er num verwirklicht zu ſchauen meinte. Das leidenfchaftlich Aufwallende der Bewegung, was fie von Begrifterung in fich hatte, riß ihn Hin; um die Rednertribünen in den Zelten jchlangen fi) ihm die „wilden Rofen” Louiſe Afton’s, der Freiſchärlerin, und durch den Tumult der Straße vernahm er ihren Refrain Berje, die der gefehte Mann von heute noch mit dem Klang und Tonfall jener Zeiten herzuſagen weiß:

Schlagt die Gläjer all’ in Scherben, So vergeh' die alte Welt;

So foll flerben und verderben, Was den Geift in Feſſeln hält.

Literariiche Rundſchau. 151

Ein Frühlingafturm und e8 war vorüber. Sprechen wir nicht von den Opfern, die er gefoftet, nicht von der eifigen Winternacht, die ihm gefolgt. Als Schulmeifter, der fein Probejahr ablegt, begegnete Frenzel feinem ehemaligen Lehrer wieder fie waren jet Gollegen; aber mehr noch ala der ftumme Händedruck des Aelteren fagte fein müde Auge dem Jüngeren, daß er aufgehört habe, zu hoffen.

Jeder von ung, wenn er auf fein Leben zurüdjchaut, wird einen Moment darin ala den entjcheidenden erkennen, der feine ferneren Geſchicke beftimmte, Diefer war e8 für Frenzel, ala er an einem Märztage des Jahres 1854 und in einem Zimmer des Hötel de Rome in Berlin zum erjten Male vor Karl Gutzkow ſtand. Mit dem durchdringenden Blid, der ihm eigen, hatte Gutzkow fogleich in dem jchmächtigen, zart gebauten Schulamtscandidaten den feinen und wohl vorbereiteten Geift entdedt, der fich ſelbſt noch nicht zu fennen oder nicht zu trauen fchien. Ein Aufſatz Frenzel's, feiner Doctordiffertation („Ueber die erften Gefchichtjchreiber der ficilianischen Veſper“) entnommen, hatte die Belanntichaft vermittelt: er hatte fie den, kurz zuvor von Gutzkow begründeten, „Unterhaltungen am häuslichen Gerd“ eingefandt, einer Wochenfchrift, deren ftändiger Mitarbeiter Frenzel von mın ab ward, um fpäter deren Mitredacteur zu werden und endlich ganz an Gutzkow's Stelle zu treten. Im Jahre 1859 erfchien jein erfter Band Efiays: „Dichter und Frauen“, im Jahre 1860 fein erfter Roman: „Vanitas“. So kam, aus der Schule, Frenzel in die Literatur, und der ihn geführt, war in mehr als einem Sinne Gutzkow.

Unmittelbar dem Selbftporträt jchließt fich, im diefer Lieferung, eine meifterhafte Studie am, in welcher Frenzel den merkwürdigen Mann gefchildert Hat eher ein Gharafter= ala ein Literaturbild ; denn wenn von Einem, fo gilt von Gutzkow dag Wort, dab des Menjchen Charakter des Menſchen Schidjal fei. Was dasjenige Gutzkow's war, wir wiſſen es; dor unferen Augen, in dem traurigen Gefühl, ihm nicht helfen zu können, haben wir ihn, unter feinen Beitgenofjen ficher den Größten, dahingehen jehen, in Bitterfeit, underföhnt, unverföhnlich, mit wenigen freunden, er ſelbſt fein jchlimmiter Feind. Und doch wird Derjenige, der einft die wahre Geichichte der dreißiger und bierziger Jahre fchreibt, von Gutzkow jagen müffen, daß er eine von den treibenden Mächten der intellectuelfen Bewegung war, welche neben der politifchen jener Zeit einherging und fich mit ihr verflocht. Wir Lefen es auf jeder Seite dieſes Eſſays, und aus der feelifchen Erregung, die Frenzel mehr verbirgt als offenbart, glauben wir noch einen Nachhall des Schmerzes zu vernehmen, daß auch er den Mann, dem er nahe fand wie jonft Keiner, zulegt verlieren mußte wie alle Anderen. Bei gleichen oder doch jehr ähnlichen Ausgangs- und manchen inneren Berührungspunften kann es feine färferen Gegenfäge geben ala zwifchen biefen beiden geborenen Berlinern, faſt der nämlichen Claſſe der Bevölkerung entjprungen und für die jpätere Laufbahn auf den» jelben Anftalten, dem Werder'ſchen Gymnafium und der Berliner Univerfität, wiflen- ichaftlich vorbereitet. Aber welch” trennender Interfchied der Charaktere! Wo Gutzkow leidenschaftlich und unruhig, ift Frenzel gejegt und feßhalt. Seit Gußfow im Jahre 1830, dem Jahre der Julirevolution, feine Vaterſtadt verlaffen, hat er (mit einziger Ausnahme von Dresden, 1847—1861) an demjelben Orte nicht ein halbes Dubend Jahre zugebracht immer auf der Wanderung, immer auf der Reife. Frenzel mag dreißig Jahre geworden fein, bevor er aus dem Horizont von Berlin herauskam, und er war gewiß länaft jenfeit?® des „mezzo del camin di nostra vita“, ehe er das Land Dante’ ſah, des Dichters, deflen Namen er auf die erite Seite feines erften Buches geichrieben. Zerriffen wie das Leben Gutzkow's war, hat fich das Leben Frenzel's barmonifch geftaltet; immer, wo es die großen Angelegenheiten de Vaterlandes in Literatur und Kunft galt, hat er in den erjten Reihen mitgejtritten: häusliches Glüd und treue Freundſchaft haben dem Menfchen, ungewöhnliche Erfolge dem Schrijtfteller gelohnt, dem es nunmehr vergönnt ift, diefe Gefammtaußgabe dem Publicum anzubieten.

Einen Namen erwähnt Frenzel in der Skizze feines Entwidlungsganges nur bei— läufig, denjenigen Voltaires; aber wenn der witzigſte der Franzoſen nicht unter den Führern des Suchenden war, jo mußte fpäter, al& der Weg gefunden, die Wirkung

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152 Deutihe Rundſchau.

um jo tiefer und nachhaltiger fein. Mit diefem großen Bertheidiger der freiheit, diefem Spötter, abwechjelnd ein Verfolger und ein PVerfolgter, den Beifall ber Mächtigen fuchend und fie verlachend, ward das achtzehnte Jahrhundert eine Wahr- heit und Wirklichkeit für Frenzel und Voltaire ſelbſt, auf diefem Hintergrunde, ſeltſam gefärbt jchon von den Vorzeichen von 1789, eine Figur, die Lörperhaft aus dem Rahmen der Bücherbefanntfchaft heraustritt wie Einer, der lebt und mit dem man verkehrt. Manchmal, auf feinen Abendgängen, mag er biefem Geiftermann im Hoffleid, mit dreiedigem Hut und Allongeperrüde, begegnet jein unter dem Alademieportal, oder, von der langen Brüde ber, im Zwielicht an den Fenſtern der föniglichen Gemächer ihn geſehen haben, wie er fich jchadenfroh die Hände rieb. Was Frenzel zu Voltaire Hingezogen, ift das Dämonifche diefer Natur, welche ſich Hinter einem Grinfen verftedt, feine Genialität, welche zerftört und aufbaut, fein kritiſcher Geift, der nichts verſchont, fein Hiftorifcher Sinn, der ihn gewiffermaßen zum Schöpfer der modernen Gejchicht- ichreibung gemacht hat, die Grazie, wenn er jchmeichelt oder verwundet, der Zauber feines Stils, feine unfterbliche Frifche. Niemand kann Voltaire beffer verflanden, ihn iympathifcher erfaßt haben ala Frenzel; und Niemand könnte mehr berufen fein, uns dad Leben Voltaire’3, vom beutichen Stand» und Gefichtspunft aus, zu jchreiben. In der That Hat Frenzel ihn zum Helden eines feiner Romane, „La pucelle“, gemacht; aber dies ift nur der junge Voltaire und fein Verhältniß zur „göttlichen Emilie“, das mit der Mathematik begann und mit einer Lächerlichkeit endete.

Die Welt des achtzehnten Jahrhunderts, mit diefem echt Boltaire’schen Präludium angefangen, ift e8 denn auch vornehmlich, die Frenzel in der erften Reihe feiner Romane darftellt: die fünftlerifchen Tendenzen bdesfelben in „Waiteau”, die philojophifch- religiöfen in „Ganganelli“, „Im goldenen Zeitalter” das Paris Marie Antoinettens und die Tage Kaifer Joſeph's, den amerikanischen Unabhängigfeitsfampf „Auf freiem Boden“, die Revolution in „Charlotte Corday“ und die Napoleonifche Zeit, das Ende des einen, den Anbruch des anderen Jahrhunderts in „Qucifer”. Hiermit betritt Frenzel die moderne Welt und die heimifche Erde, die er in feinen folgenden Romanen, mit kaum einer Ausnahme, nicht mehr verläßt.

Ein reiche und unausgeſetztes Schaffen, das mehr ala ein Menfchenalter umfaßt und fich auf faſt alle Gebiete der Literariichen Production erjtredt; in welchem alle Strömungen und Strebungen der Zeit fich jpiegeln und eine gleichmäßig ausgebildete PVerjönlichkeit fich offenbart. Eine feltene Gunft des Schidjal® Hat es Frenzel be ichieden, diefe neue Zeit von ihren erften Dämmerungen unter Friedrich Wilhelm III. mitzuerleben und fie gleichfam von unten ber zu betrachten, bevor er zu den höheren und freieren Aſpecten emporftieg. Dies hat ihn vor der Einfeitigfeit behütet, welche mit vorgefaßten Meinungen verbunden iſt und feinem Urtheil die Ueberlegenheit ge: fichert, welche aus dem Gefühl der eigenen Kraft entipringt, vielleicht aber auch jene Nachficht zur Folge gehabt gewiffen Erfcheinungen gegenüber, die mit ftrengerem Maße gemefjen, die Probe ſchwer beftehen würden; gegenüber gewiffen Richtungen, die nicht die feinen find. Minima non curat praetor. Daß er aber, wenn es fein muß, noch fein „Quos ego!“ zu rufen weiß, das brauchen wir den Lefern unferer Zeitfchrift nicht zu jagen; und möge diefe Stimme Hier noch lange gehört werden! Denn wir bedürfen ihrer in diefem Streite der Meinungen, der immer näher rüdt, in dieſem Kampfe, der unvermeidlich geworden ſcheint

La guerre est au Parnasse, au conseil, en Sorbonne: Allons, defendons-nous, mais n’attaquons personne.

Literariſche Rundſchau. 153

Neue Romane und Novellen.

Dahiel, der Convertit. Roman von Richard Voß. Drei Bände. Stuttgart, Leipzig, Deutiche Berlagsanftalt. 1889. nn und Gejchautea. Bilder aus Italien von Richard Voß. Jena, H. Eoftenoble.

Don Frühling zu Frühling. Bilder und Skizzen von Hana Hoffmann. Berlin, Gebrüder Paetel. 1889. nr. Roman von Alerander Baron von Roberts. Leipzig, W. Friedrich.

Frau Minne Ein Künftler-Roman von Theophil Zolling. Leipzig, H. Häflel. 1890.

Man kann eine Reihe von Romanen, die jämmtlich eine gewiffe Werthſtufe über- fliegen haben, nicht in der Weiſe abfertigen, daß man bloß Nummer mit Nummer vergleicht und den Einen am Anderen mißt. Ein Kunftwerk ift eine Perfönlichkeit ; es iſt gefchaffen ala ein Einzelnes und will als folches geachtet fein. Ich begreife vollftommen den Groll des echten Dichters gegenüber einer derartigen Maſſenkritik, in welcher dad Individuum untergeht. Aber es gibt doch einen Gefichtspunft, unter dent angefchaut die Sache ihren Stachel verliert, es ift der Gefichtäpunft der Technik. Gewiß: ein ganz großer Meifter fchafft auch feine Technik individuell; Ro— mane wie Keller's „Grüner Heinrich“ oder Viſcher's „Auch Einer” find technifch un» möglih mit irgend einem anderen Dichterwerfe zu vergleichen; fie find, wie fie find und müfjen auch in ihren Yormgefegen aus fich ſelbſt heraus begriffen werben. Für die große Mehrzahl aber felbft der guten Kunſtwerke gilt diefe Forderung teineswegd. Hier bejtehen für das Gebiet der Technik Richtungen, Moden, wenn man jo will (obwohl man das Gehäffige des Wortes dann bei Seite laffen muß), meift zwei oder drei große Grundfchablonen, die theild bewußt, theild unbewußt, theils im Banne doraufgegangener Lectüre, theils gewiffermaßen immer wieder im Zwange ber- jelben Urgejeße jpontan erzeugt von Hunderten benußt werden, die für eine ganze Literaturperiode bezeichnend find, und bei deren Beiolgung im Einzelnen allerdings das Bedürfniß nach Vergleichen mit ähnlichen Proben ein durchaus berechtigtes ift, da Alles aus einer Wurzel jproßt, das Grundjchema a priori klar ift und das Intereſſe fi) dahin vereinigt, wie im einzelnen Diefer fo und Jener fo fich mit feinem indi- viduellen Begehren in dem vorgefundenen Gehäufe zurecht gefunden und eingewohnt bat. Die kleine Reihe von Dichtungen, welche ich bier zu betrachten habe und die im recht eigentlichen Sinne der Zufall zufammengeweht bat, daß fie ein Ganzes wurden, läßt fich außergewöhnlich Leicht ala folches jaffen und zu einem typifchen Bilde für die weſentlichſten jener heutigen Richtungen auägeftalten. Ein Roman jener oberften Art, der auch technifch eine Perfönlichkeit darftellte, befindet fich nicht darunter. Dennoch kommt der befte der Reihe, die dreibändige Schöpfung von Richard Voß, diefer Stufe immerhin am nächften. Voß wirkt ſowohl ftofflich, wie rein formal, und wenn fein Werk, wie ich zeigen werde, Schwächen hat, fo gehört zu dieſen nicht der Mangel an jener Harmonie, die gewiffermaßen Baſis jeder wirklich bedeutenden Dich- tung fein muß. Auch fehlt e8 im Formalen wenigjtens nicht an individuellen Zügen, die Keime des ganz Großen, des oberjten Stodwerkes gleichjam, wirklich enthalten. Bei Hoffmann finde ich eine Seitenſchwenkung, eine einfeitige Entwidlung nach der formalen Seite hin mit merkbarer Vernachläffigung des ftofflichen Gehaltes. Eine gewiſſe äfthetifche Schule würde hier vielleicht im Gegentheil eine Kunftentwidlung noch über das höhere Niveau hinaus erbliden; aber diefer Standpunkt ift keineswegs mehr heute der herrſchende. Bei aller Herrlichkeit des Formalen, das allerdings hier ganz durchjegt ift mit Individuellem, bleibt ein Mangel an Gedankengehalt, an ſach— licher Ziefe, der nicht wegzuleugnen ift. Umgekehrt tritt in den Romanen von Bolling und Roberts der Stoff mit feiner gröberen oder feineren Wirkung allbeherrfchend in den Vordergrund, und die Form entkleidet fich jeglichen individuellen Gepräges; fie gebraucht jErupellos die Schablone des Feuilletonromans, die man ihrer Herkunft nach

154 Deutſche Rundſchau.

auch die franzöſiſche nennen kann, obwohl keineswegs alle Franzoſen ſo ſchreiben. Es möge das im Folgenden eine nähere Ausführung finden.

Richard Voß iſt ein Dichter, kein Feuilletoniſt. Auch der Band Skizzen aus Stalien, deffen Titel oben neben dem Romane erwähnt ift, beweiſt das; jede Zeile ift Dichterarbeit; das ganze Buch ftellt etwa das vor, was ein gewifjenhaft jchaffender Poet fih als Vorftudie zu italienifchen Novellen auferlegen würde, dichteriich an- geichaute Landjchaftsbilder, Menfchenköpfe nach der Natur, Gejchichtsreflerion,; don ber leichten Art des Feuilletons feine Spur. Auch „Dahiel der Gonvertit“ ift eine Dichterarbeit in jeder Faſer, ein großer, kühner Entwurf, mit ficherer Hand heraus- gegriffen, von glänzender dee durchichillert, farbenprächtig, berauichend, neu, nur durch Eins jchwer beeinträchtigt und halb um feine Wirkung gebracht: durch das Un— gleiche der Ausführung. Dan denke fi: ein Jude des römifchen Ghetto, der Chriſt wird, aus reinen und edeln Motiven, der wiederum, ala er fich entjeglich enttäujcht fühlt im Mönchätreiben, auf dem Punkte fteht, Apoftat zu werden, den jein Abt in die Einöde verbannt und der num dort in religiöje Umnachtung verfällt und zum chriſtlichen Fanatiker wird, der wider feine alten Glaubenägenofjen wüthet; man bdenfe fih das Hineingezeichnet in die gewitterfchwüle Welt des achtzehnten Jahrhunderts, mit dem Hintergrunde des gewaltigen päpftlichen Rom einerfeits, der elegifch zarten, wie ein Dornröschen in ihren alten Erinnerungen eingefponnenen Gampagna anderer- ſeits; man denke fich das erjchöpft nach der Tieſe der philofophiichen Idee wie nach dem Pompe des weltgejchichtlichen Zeitcolorits, wahrlich ein Gigantenftoff, für dem drei jchmale Bände kaum ausreichend erjcheinen. Das Alles ijt aber für Voß noch nicht genug gewejen, er Hat noch mehr verſucht. Der Fanatiker als Schlußbild ge- nügte ihm noch immer nicht, er hat ihn zu allerlegt in einer Art von Epilog noch bis zum Räuberhauptmann Hinaufgipfeln müfjen, der im Banditengejecht fällt. Er hat endlich den Höhepunkt des greifbar Deutlichen für feine Bilder damit erreichen wollen, daß er dem größeren Theile des Romans die Form don Selbftbelenntnifjen im Tone jener Zeit gab, Selbſtbekenntniſſen, die in die eigentliche hiſtoriſche Erzäh— lung das Reflerionselement etwa der Auguftinischen Gonfeffionen und die bizarre Ge— danfenwelt des fich jelbit beobachtenden Myſtikers Hineinbringen jollten. Wenn man noch dazu nimmt, daß Voß ohnehin mehr Novellift als Romandichter ift, aljo eine ausgeiprochene Vorliebe dafür hat, den geraden Gang der Haupthandlung durch Epi— joden zu verfnäueln und abzulenken, daß er eine nicht minder ausgeſprochene Vorliebe für die etwa fich darbietenden romantijchen Züge befigt, die doch alle mehr oder minder überflüffige Arabesten in der großen piychologifchen Entwidlungslinie dar— jtellen, jo begreift fich, daß denn eben doch jchließlich der Poet unter der Laft des Allzuriefigen zufammengebrochen ift und fein Vollkommenes gejchaffen hat. Zunächit ift er, troß eines großen Aufwandes von Gejchidlichkeit im Einzelnen, in der Haupt— jache gänzlich mit der Memoirenform in die Brüche geraten; fie macht die Lectüre bloß jchwieriger und wirft gerade da, wo fie helfen foll, im direct umgelehrten Sinne: fie gibt nämlich dem Tone des Ganzen, anftatt ihn „echt“ zu machen, etwas Ge— mijchtes, das nicht alt und nicht neu, nicht Poetenrede von Achtzehnhundertneunund- achtzig und auch ganz unbedingt nicht Mönchärede von Siebzehnhundert und jo und jo viel ift. Dagegen hilft auch nicht, daß die Ginkleidung zu Beginn de Romanes, die moderne Novelle, die zur Entdeckung der alten Papiere führt, ganz wejentlich beſſer it, als fonft derartige Heillofe Umwidlungstunftitüde, die mir niemals frucht— bringend erjcheinen, gemacht zu werben pflegen. Gin zweiter großer Fehlgriff ift der Schluß. Wohl ift der Umſchwung zum Tyanatifer, dad Erwachen des religiöien Wahnfinns pfychologisch jehr fein angebahnt und in feinen erften Phaſen mit gemwal- tiger poetifcher Kraft dargeftellt, jo bedeutend, daß dieje Stellen allein genügen müßten, dem Buche einen hohen Rang zuzuweifen. Aber ich glaube, der rechte An— ſchluß ift Schon da verfehlt, wo Voß einfeitig die Verödung und den Zerfall des moralijchen Gefühls in Folge des Myſticismus im Helden betont. Ich fürchte, er hat bier mehr richten wollen, ala gejtalten. Der fyanatiker, der doch jchlimm

Literariiche Rundſchau. 155

genug jein follte, war ihm noch zu gut als Schlußrefultat, er wollte den gemeinen Mörder haben. ch bezweifle, daß diefer gerade fich unter den gegebenen Umftänden entwideln konnte. Dahiel iſt nahezu wahnſinnig. Zum Mörder aus Ehrgeiz (er mordet feinen Abt, um jelbjt Abt zu werben) gehört Kälte, kein Myſticismus. Voß hat offenbar die inyfliſche Literatur von den älteſten Heiligen an bi8 auf Schopen= hauer's Lehre von der MWillengertödtung durch Askeſe genau ftudirt, aber er ift trotz— dem jelbit zu jehr ein Kopf aus unferer kalten, Elaren Zeit, um bie volle Tiefe zu iaffen. So bleibt feine Darftellung bei aller poetischen Größe eine äußerliche. Vollends die allerlegte Stufe, der Schritt vom Abt zum Banditen, ift gar nicht mehr aus— gearbeitet; ein paar dürre Worte geben bloß die nadte Thatſache. Voß meinte jeden- falle, der Leſer jähe das Facit von felbit, er brauche e8 bloß noch anzudeuten; es ift aber eben nicht der all, weil jchon der Schritt zum Abt, der Mörder ift, nicht mehr piychologisch Har wird. Der Hang zu Epifoden hat im GEingelnen Manches verdorben, ohne daß ich darauf viel Gewicht legen möchte; Hier und da Hat er auch Gutes ge- ichaffen, jo daß fich das im Ganzen auggleicht. Die Nebenfiguren find zum Theil jehr jchablomenhait behandelt, die Juden ganz hell, die Mönche ganz ſchwarz; die Frauengeftalten find durchweg nicht bedeutend genug angelegt. Auch das überfieht man, weil das Tempo des Romans ein jchnelles ift, die großen Panoramen fich drängen und der Held allein mit feinem Innenleben mehr als Dreiviertel des Raumes füllt. Sch weiß nicht, ob Voß noch einmal im Stande fein wird, ganz Großes zu ſchaffen. Was er dichtet, Roman wie Drama, ift immer voll von großen Entwürfen; er padt einen Riefenftoff, und er fällt dann mit diefem Stoffe, weil er zu ſchwer war und die volle Vertiefung, der lange Athem nicht da waren. Aber auch dieſe Kühnheit hat ihren Zauber, es iſt die Kühnheit eines echten Dichters, das dürfen wir nicht vergeſſen in einer Zeit, die unendlich mehr Schreiber hat als Dichter.

Von Richard Voß zu Hans Hoffmann iſt ſcheinbar ein weiter Schritt, äußerlich genommen jo weit wie bon der gewitterdunkeln Tragödie zum waldgrünen Idyll. Voß iſt ein Prunkdichter, prunkend in der Idee, wie in der Form; aber ſein Stoff war in unſerem Falle zu gigantiſch, ſelbſt für dieſen üppigen Pinſel. Nun, Hans Hoffmann iſt, es mag ſeltſam klingen, in ſeiner Art auch ein Prunkdichter, bloß daß er einen für ſeine Gaben zu kleinen Stoff in dem Buche, das wir betrachten wollen, zum Vorwurf genommen hat. Ich will das durch ein Bild erläutern, das vielleicht etwas trivial klingt, aber die Sache trifft, die ich ausdrücken möchte. Man denke ſich ein Gemälde, deſſen Mittelpunkt, der das Ganze beherrſcht, ein kleiner, drolliger Gegenftand, etwa ein höchſt kunftvoll zur Darftellung gebrachtes Bierjeidel, bildet. Diejes Bierjeidel denle man ſich nun rings umgeben von den großartigften und farbenprächtigften Decorationsfachen: Bergen von Makart'ſchen Südfrüchten, weißem Marmor und dunfelrothen Vorhangfalten; zum Ueberfluß gewahrt man noch durch ein offen ftehendes Fenſter einen köſtlichen Sandichaftsausfchnitt, der den Meifter in jedem Zuge verräth und allein ala Prachtftüd erjten Ranges genügen würde, wenn er im Bordergrunde prangte. Selbſt ein fanatifcher Verehrer von „Stillleben“ dürfte dieſes Gemälde etwas jonderbar finden und ein Mißverhältniß berausfühlen, das man je nach der bevorzugten Seite Armuth oder auch Verſchwendung nennen könnte, Die Mehrzahl der Novellen, die Hans Hoffmann diesmal bietet, hat zur Unterlage, zum Mittelpunkt eine kurze, ſpaßhafte Anekdote, je nach dem Glüd im Grfinden einmal eine ziemlich unmahrjcheinliche und dann einmal wieder eine ganz vorzügliche, tiber die Jedermann lachen müßte, auch wenn fie ihm mit den denkbar fürzeften Worten erzählt würde. Sehr unwahrfcheinlich ift beifpielaweife das Begebniß in „Heubuft”, jo unwahrfcheinlich, daß der Humor darunter leidet; höchſt witig dagegen ift das Abenteuer von der „ftillen Pauline“ in „Himmelfahrt“; hart an der Grenze jchwantt die num doch ſehr furiofe Gejchichte der beiden Junggefellen aus „Ihaumwind“ ; geradezu prachtvoll wieder iſt das Erlebniß des Gapitäns KHannenberg, das den Titel „Eistrug“ führt und den Monat Februar im Novellenfalender vertritt. Im Ganzen ift e8 das unanzweifelbare Recht eines Poeten, auch einmal in behaglicher Stunde jo recht nach

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Herzensluſt zu „jabuliren“, und wenn man erſt in die richtige Stimmung ſich hinein— gelacht Hat, jo erträgt man viel oder beffer, man erträgt auch ein luſtiges Nichts und lacht doch weiter. Hier fängt aber num erft recht eigentlich das für Hoffmann Charakteriftiiche und Merktwürdige an. Hoffmann häuft auf diefe Kleinen, harmlofen Hiftörchen die ganze Fülle, Pracht und Kraft feines höchſten dichterifchen Könnens. Wir wiffen aus früheren Gaben, wie bedeutend dieſes Können ift. Ein wahres Königskind der Poefie fpielt bier mit Scepter und Kronen, aber im wahrften Sinne: es jpielt damit. Das Gewaltigite, Anfchaulichjte und Stimmungävollite, was in legter Zeit überhaupt von einem Landſchaftsmaler in Worten gejchaffen worden ift, wahre Perlen in jeder Hinficht, durchwirkt in toller Verſchwendung jede einzelne diefer Anekdoten. Da ift eine Gejchichte „Friedensfeier“. Gin Ehepaar, das fich gezantt bat, wird das Opfer einiger grober Zufälle, falſch verjtandenes „Komme“ im Telegramm, Borbeifahren des Einen am Andern in zwei fich Ereugenden Zügen und dergleichen ein an fi) gar nicht übler, wenn auch etwas hyperboliſcher Scherz, bei dem der Zufall ein Lachender Schalt ift und die Menfchen zuerft weinende, Hinter: her aber ebenfalls Lachende Kinder find. Und in diefen Zufammenhang, der gebie- terifch Zeichnungen von Wilhelm Bufch fordert, malt nun Hoffmann eine märfifche Seelandſchaft, wie mir überhaupt noch niemals eine in der Literatur vorgefommen ift; er malt einen Sonnenuntergang über feinem See, der jo groß, jo jeierlich, jo durdh- drungen von dem ganzen Ernſte der Natur, wie von dem Ernſte der nachjchaffenden Dichterfeele ift, daß der Scherz jede Wirkung verliert, daß dieſe Heinen thörichten Menjchlein buchjtäblich dem Hörer verloren gehen und dafür ein unftillbares Sehnen erwächlt nach ernftem Menfchenthun, nach einem Schidjal, das nach wilden Sturme verföhnt in jenen großen Farben verglühte, die der Dichter am Himmel widerftrahlen

läßt. Ich fühle es wohl, daß Hoffmann hat jagen wollen: jener Gontraft gerade iſt

der echte Weltcontraft, dummes Herumfchwirren der Dienjchenkinder, Ameifengewühl ohne Zweck und Sinn, dahinter aber die Natur immer in derjelben Größe, mit dem gleichen Riefenfpiel ihrer Lichter, ihrer Dämmerungen, ihrer Jahreszeiten, das fich u die Menjchen nicht befümmert. Aber der Weg, das auszudrücken, jiheint mir do nicht getroffen, die Freude an dem Unfinn ift zu ftark; zu ſehr wird verjucht, ihn in die brennenden Farben Hineinzurüden, ihm durch den Zauber der Sprache eine Tiefe zu geben, die er nicht hat und nicht Haben fann. Weitere Erörterungen hierüber würden tief ind Gebiet der Theorie de8 Humors überhaupt führen müffen, wozu bier nicht der paflende Ort ift. Ich glaube, daß unter diefem Gefichtäpunfte gerade Hoff- mann’3 Novellen werth wären, von einem Aeſthetiker ganz genau analyfirt zu werben. Bei dem fühlbaren Mangel an humoriftifchen Novellen und Humoriftifchen Dichtungen aus echter „Künftlerhand“ überhaupt, der Heute herrſcht, müſſen Gaben diejer Art, jelbft wenn fie ftellenweife Mufter im negativen Sinne bieten follten, doppelt hoch gehalten und berüdfichtigt werden. Das äußere Gewand der Hoffmann’schen Dichtung ift auch in diefem falle wieder tadellos. Voß fchreibt immer üppig, ftellenweife ſchön; Hoffmann fchreibt vor Allem ganz gleichmäßig gut, und wo er, wie in den Schilderungen, noch dazu einen bejonderen Anlauf nimmt, da bringt er einen Stil von höchſter Vollendung, in dem jedes Wort leuchtet wie ein Meifterftrich mit dem Pinjel. Zum Scluffe jei noch darauf hingewiefen, daß in der Mitte des Buches ein paar Skizzen ftehen, auf welche jene Auseinanderjegung über das Anefdotenhafte und das Mißverhältniß von Stoff und Ausführung feine Anwendung findet, da Hier voll« fommener Ernft waltet. Sehr gut ift unter diefen Ausnahmen „Meeresftimmen“, ein ergreifendes Iyrifches Gedicht in Proſa; mißlungen jcheint mir „Jrrlicht“. Obwohl ber Dichter durch den einheitlichen Zitel und die fortlaufenden Kalenderdaten ein Ganzes aus dem Buche hat machen wollen, kann jchon diefer ganz erniten Beftandtheile wegen, die den Iuftigen Ton der übrigen jäh und unvermittelt durchbrechen, nur em⸗ pfohlen werden, diefe Novellen nicht hintereinander, ſondern einzeln zu lefen. Einfeitig ftoffliche Wirkung habe ich oben ala das Gharakteriftiche für die Ro- mane von Zolling und Roberts bezeichnet. Am Allgemeinen gibt e8 für diefen Fall

Literarische Rundichau. 157

wieder einen doppelten Typus in unferer Tagesliteratur, je nachdem das Wirkungs- element, der Stoff, verwachfen ift mit der äußeren Handlung, dieje in jeder Einzelheit beberricht und trägt, oder aber auch noch eine Differenz befteht zwifchen der Handlung und dem wirfungsvollen Stoffe, ja dieſer Stoff am Ende gar nur [oje aufgepfropft, ala leuchtendes Lockmittel in eine Begebenheit Hineinverwebt ift, die ebenfogut ohne ihn fich abipielen könnte. An Romanen der leßtgenannten, allerdings fehr tief ſtehenden Art ift bei ung kein Mangel. Die beiden Proben des „Stoff-Romans“, die ich Hier vorführen will, gehören erfreulicher Weiſe der Heinen Zahl derer an, die annähernd wenigiten® noch die erfte Bedingung erfüllen. Beide Romane bezeichnen ſchon durch den Titel mehr oder minder abjtract ihren Stoff: „Revanche“ und „Ein Künftlerroman”.

Roberts greift feinen Stoff mit glüdlicher Hand aus einem jener Zwiſchen— gebiete heraus, wo Politif und Moral fich berühren und die erjtere Macht gewinnt über die letztere. Die Entfittlihung, die innere Verrohung und Verwilderung eines - blühenden Gulturvoltes durch das einfeitige Pflegen und Großziehen des Revanche— gedankens will er darlegen. Das ift lebendige Gegenwart in jeder Einzelheit und doch im Ganzen gewifjermaßen eine hiftorifche Erzählung, ein Gejchichtsroman, in welchem das zeitfreie Auge des Dichters das Tagestreiben mit feiner Zerfplitterung bereits als ein Ginheitliches, deſſen Idee fich Hell offenbart, angejchaut hat. Wie eine glüdliche Che, der Frieden einer Familie zu Grunde gehen an dem langjam nagenden Gifte diejer. gleichſam ftaatlich fanctionirten Moralverwirrung, wie der große, allgemeine Deutichenhaß im individuellen Falle die Maske des jchönen und berechtigten Patrio- tismus abwirft und fich erbarmungslos ala die Furie zeigt, die allen Errungenfchaiten der Gultur ins Gefiht ſchlägt das hat Robert? mit großer Energie aufgegriffen und zu gejtalten verfucht. Als guter Beobachter fennt er den Franzoſen bon heute, er kennt Paris, das dreifache Paris: das Paris der KHaiferzeit, das gebeugte, todes— matte Paris von 1870, deſſen Boulevardbummler in rheinischen Gejangenenzelten froren, fi) langmweilten und jchimpiten, und endlich das Paris, defjen erjtes wieder erſtarlendes Selbjtbewußtjein glaubt, im Rachegedanten fich erjchöpfen zu müſſen, ohne Bid dafür, daß gerade an diefem Gedanken noch Alles krank, Alles Fieber, Alles Bahnfinn if. Mit diefer ftarken Beherrſchung des -Stofflichen, des Untergrundes für die individuelle Tragödie, hält nun allerdings die dichterifche Kraft, die fich in dem Romane ausſpricht, nicht ganz Schritt. Wie mir fcheint, Liegt das nicht daran, daR Roberts etwa fein Poet wäre. Das hemmende Element liegt in der Feuilleton— ſchablone. Alle Fehler und alle Vorzüge derjelben beſitzt Robert?’ Schreibweife in höchſtem Maße, bloß, daß bei diefem Stoffe die fehler ftörender werden als fonjt. Das Buch ift, was man fo nennt, „leichtflüſſig“ gejchrieben, die Erpofition knapp, Har, das Intereſſe des Leſers aufs Lebhaitefte herausfordernd. Eine große Perfonen- fülle, ein ſehr eiliger Scenenwechjel, daneben lange Schilderungen und lange Reden ängjtlich vermieden, die Pointen jo zugeſpitzt, daß auch der bejchränktere Geift noth- wendig jehen muß, wo hinaus das Experiment will, wo die Kleinen Wendepunfte find, wo endlich der entjcheidende Umfchlag erfolgt. Nimmt man dazu eine gefällige Schreibweife, die niemals durch die Form zu glänzen verfucht, aber im Allgemeinen auch nie ftörend gegen die Geſetze feineren Stile verftößt; bedenkt man, daß ber Raum eines „franzöfiſchen“ Romanbandes nicht überfchritten ift, jo Tann man nicht anders jagen, als: die Fyeuilletontechnik zugeftanden, ift das Buch gut und erfüllt alle Regeln derfelben in ausreichendftem Make. Die Kehrjeite ift, daß alle diefe Erfolge im Schulgerechten auf den tiefen Stoff drüden und ein Mißverhältniß erzeugen, das feinen ganz freien Genuß zuläßt. Ein Stoff, wie diefer, forderte unvergleichlich viel mehr Raum; ex forderte ihn deshalb, weil das innere Leben, das eigentlich Piycho- logiiche, fonft nicht zur Geltung kommen konnte. Der Anfang täujcht den Leſer darüber weg, der Schluß zeigt, wie ſtets in folchem Falle, die begangene Sünde ganz fraß. Nur ein großer, bedeutender Aufbau, in dem Alles kryſtallklar noch in ganz anderem Sinne fich Herangliederte, hätte diefem tragischen Schluſſe die Wucht der echten Tragddie gegeben, die Wucht jenes im griechifchen Drama fo mächtigen

158 Deutiche Rundichau.

Zermalmtwerdens des armen Individuums unter dem Drude einer Schuld, die in den Verhältnifien lag, die ein ganzes Volk, eine ganze Zeit begangen und deren Blitz nun unerbittlich auch den Schuldlofen Fällt. Statt defien Löft fich diefer Roman mit einigen ſchattenhaft eiligen Scenen, für die gar fein Zwang mehr befteht, die ebenjo gut an- ders fein könnten, Gin Stoff, wie diefer, verlangte nach der Technik Alphonſe Dau— det’8, wie fie in den „Königen im Exil“ angewendet ift; dann hätte.der richtige Ab- ſchluß fich jchon von ſelbſt ergeben. Es ift Roberts dringend anzurathen, daß er jein prächtige Talent, feine gute Beobachtungsgabe nicht einer niedrigeren Technik opfern möge, die er vollkommen beherricht, aber eben deshalb wohl auch in der Folge über: winden und als Jugendſtufe hinter fich Laffen fann. Das Publicum wird ihm dieſen Rath nicht geben, im Gegentheil, es haſcht nach jenem leichten Feuilletonftil. Aber der Dichter foll bedenken, daß es eben feine Aufgabe ift, das Publicum zu erziehen und von den Irrwegen falfcher Erziehung zu einem Befferen binzuführen. Gerade weil ich Robert für eine jehr tüchtige Kraft Halte, Habe ich die Pflicht gefühlt, diejen Gefichtspunft jo fcharf zu betonen. Der unmittelbare Werth feines Buches, das hoch über vielen fteht, wird dadurch nicht Herabgefeßt. Ich wünſchte bloß, daß er uns noch mehr böte, hier nicht Halt machte, weil ich glaube, daß er das Zeug dazu hat, Größeres thatjächlich noch zu leiten.

Manches von dem zulett Gefagten findet auch auf Zolling’s „Frau Minne* Anwendung. Für den Autor bedeutet das Buch in eriter Linie einen ſtarken Fort— fchritt gegen jeinen erften Roman „Der Klatſch“. Ein „Künftler-Roman“! Das flingt faſt altmodiſch. Und doch trägt das Buch ein durch und durch modernes Ge- präge, das in Verbindung mit dem alterthümlichen Titel den Gontraft von Alt und Yung in blendendem Lichte zeigt; ed erwächſt in jedem Zuge aus ber Nachfolge Zola's. Nun kommt Zolling allerdings nicht gegen Zola auf, wo Beide ala Rivalen auftreten in der Daritellung des rein Dtenjchlichen, in den Momenten, wo die Hand— [ung die volle Gluth der jchaffenden Seele ausathmen muß, wo der fühle Beobachter mit feinem Settelfaften verjchwindet Hinter dem aus dem Innerſten des Eigenen heraus geftaltenden Poeten. Die bedeutfamfte Leidenjchaftsfcene des Buches tritt zurück gegen inhaltlich geringere. Ander8 dort, wo der Roman in ruhigem Tempo dahinfchreitet, wo er in ähnlicher Weife, wie dad auch Zola für ſolche Stellen liebt, das einfache Referat dem dramatifchen Leben vorzieht und in großen Linien ein Bild der Berhältniffe malt, aus denen die individuelle Handlung entipringt. Dort kommt Zolling’8 Bedeutung zu ihrem Recht. Viele Seiten des ftarken, zweibändigen Wertes zeichnen ein umfangreiches, vielgeftaltiges Bild des Berliner Künftlertreibens. Bittere Wahrheiten werden bier in reichlicher Fülle vorgetragen, und die Dinge werden nicht falſch dadurch, daß fie gelegentlich ſtark Farrifirt find. Das Interefje des Stoffes be- herrſcht den Leſer volllommen, noch in höherem Maße ala bei Roberts. Mehr an bie Dichterarbeit heran greift die Schilderung überall da, wo fie mit ftarkem Local colorit Züge aus dem Bilde der Großftadt in ziemlicher Menge anhäuft, nicht ohne Glück im Einzelnen, bisweilen etwas erdrüdt von der Mafle des Materiale, etwas chaotifch, aber doch immer mit fehr viel Geift behandelt. Das Gefühl verläßt den Lefer nicht, daß man es mit einer ungemein forgjältigen, durchgefeilten Arbeit zu thun habe. Die Klippe, an der Roberts geftolpert, der Schluß, ift auch Zolling verderblid geworden. Bei ihm lag e& nicht daran, weil er nicht ſorgſam, nicht breit genug er ponirt hatte. Im Gegentheil: die Erpofition des Romans ift vortrefflich. Aber bie weitere Entwidlung in der Perfon des Helden hinkt, die große, echte Künftlernatur, die in Gegenfaß treten mußte zu den Fragen um ihn her, ift durchaus nicht mit der- jelben Energie durchgeführt, die der Gatirifer Zolling den fragen gegenüber bewährt. So wird der Ausgang nicht ein wahrhaftes Gotteägericht wie in Zola's Pœuvre, fondern er wirft den Vorhang jäh herab durch den Stoß eines mehr oder minder bedeutungalofen Zufall. Im Ganzen aber halten fich Vorzüge und Fehler die Wage, und Niemand wird leichtfertig einer jo ernften Arbeit den Werth abjprechen wollen.

Wilhelm Bölſche.

Literarifche Notizen.

2. Meyer’d Konverfationd-Legifon. Vierte Auflage. Sechzehnter Band. Uralsk 33. Leipzig und Wien, Berlag des Bibliographiichen Inftituts. 1890.

Mit diefem fechzehnten Bande fteht das roße Wert vollendet vor uns, welches wir, feit

Fra Beginn im Jahre 1885, mit unaus-

ejegter Theilnahme begleitet haben. In dieien fünf Jahren hatten wir fo vielfach Gelegenheit, die Vorzüge diefer neuen Auflage darzuthun, daß wir unjrem früheren Lobe faum nod etwas hinzuzufügen müßten, wenn es nicht dieſes wäre, was uns freilich ald das höchſte Yob er- ſcheint: daß nämlich von allen vorher gehegten

Erwartungen feine getäufht und das hoch—

geftedte Ziel in Wirklichkeit erreicht iſt. In

fünf Jahren faft täglichen Gebrauchs lernt man ein Hülfsbuch wie diefes fennen, und in voller

Neberzeugung dürfen wir ausfpreden, dab wir

in Meyer’ Konverjations-terifon ein encyllo-

pädiihes Werk befigen, das in der Zuverlälfig- feit und Fülle des Materials, in der Solidität und Gediegenheit der Ausftattung Papier,

Drud, JUuftrationen und Einband von feinem

anderen des In- und Nuslandes übertroffen,

von wenigen erreiht wird. Es ift eines von den Werfen, auf welches die Nation, die be» figt, ftoly fein darf und durch welches die uniere fiegreih in den Wettbewerb eintritt mit den— jenigen Ländern, welche bisher in Bezug auf der- artig ſumptuöſe Unternehmungen als die weit vorausgeichritteneren galten. In einem jolden

Werke, wenn irgendwo, ipiegelt fih der ganze

Zuwachs an Macht, Vertrauen und nicht

sum Wenigften an Wohlftand, deflen Deutich-

land fich erfreut; denn um es zu jchaffen und zu tragen, bedarf es der feften und geficherten

Grundlage, die und nicht länger fehlt. Das

Sedürfnih einer gehobenen Eriftenz, das unfere

geſammte Lebensführung durddringt und auf

allen Gebieten nad) den entiprechenden Formen verlangt, hat fich auch den Erzeugnifien unferes

Buchhandels mitgetheilt; und in der That, Fein

noch jo reich ausgeftattetes Bibliothelzimmer, dem dieſes Lerifon, in feiner modeften äußeren Erſcheinung, nicht ein Schmud wäre. Darauf allein jedoch ift weder berechnet noch be- ſchränkt. Es ift vielmehr beftimmt, in die breiten

Schichten unſeres Volkes Wiffen und vernünf-

tige Aufflärung zu tragen, es bei feiner geiftigen Arbeit zu unterftügen und zu fördern, ihm in allen Fällen, wo die eigene Fachkenntniß nicht

fein; und wie der alte Meyer einft, vor fünfzig Jahren und mehr, feinem Berlag das feitdem berühmt gewordene Motto gab: „Bildung macht frei*, fo jehen wir das größte Verdienſt dieſer neuen Auflage darin, daß fie, an ihrem Theile, dazu beitragen wird, das Wort des erften Ur- hebers von Meyer's Konverjationd-Lerifon wahr au machen.

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ey. Vifcher - Erinnerungen. Aeußerungen und Worte. Ein Beitrag zur Biographie Fr. Th. Viſcher's von Sie Frapan. Stutt- gart, ©. J. Göſchen. 1889.

Fräulein Ilſe Frapan, welche den Leſern der rg Rundihau* Feine Fremde mehr ift, hat im ‚Januar 1883 an den großen Aeſthe— tifer einige Berfe aus Hamburg eingeſandt und ihn um fein Urtheil gebeten. Darauf erhielt fie am 23. Februar 1883 eine Antwort, laut welcher Viſcher in diefen Verſen „etwas Anderes fand ala das gewöhnliche Gezirpe; eigenes, aus erfahrener Wahrheit des Yebens gegohrenes und gereiftes Empfinden, fähig, im Anfchauungsbild ſich niederzulegen‘. Natürlid war das Fräulein über diefe Antwort beglüdt, reifte nad Stutt- gart, hörte Viſcher's Borlefung über deutiche Yiteratur des 19. Jahrhunderts und trat ihm allmälig perfönlih näher. Sie lernte Viſcher in feiner jchönjten, abgeflärteften, mildeften Zeit fennen, als einen Mann, welder, in hohem Sreifenalter jtehend, nichtS mehr für ſich ver- langte, jondern nur für Andere lebte, der mit ausgereiftem, erfahrungsreichem Geifte alle Höhen und Tiefen durddrang; fie ſah, wie er bei feinen nächſten Freunden die uneingeichränttefte Verehrung genoß, wie er die Freude und der Stolz aller jeiner Mitbürger war. Nun er feit Herbſt 1888 dahingeichieden ift, will fie ihn jo erhalten, wie er ihr erichienen. Sie weiß felbft, dab man ihre Schilderungen „iehr fub- jectiv“ finden wird; aber fie weiß auch, daß das in der Natur der Sache liegt und getröftet ſich deffen, daß, wenn das Bild zu glänzend, zu ſchattenlos erfcheint, fie doch nur J geſchildert hat, wie ihre Augen Viſcher ſahen. Mit be— geiſterter Seele hat ſie den bedeutenden Mann gezeichnet, wie er auf dem Lehrſtuhl, wie er im Haufe, wie er in der Geſelligkeit ſich darbot; und wenn man auch in der That ſagen möchte, daß gewiſſe menſchliche Schwächen, ohne weldye

'ja fein Sterblicher ganz ſein kann, von der

Enthufiaftin überfehen fein müffen, jo wird man doch an ihrer vortrefflihen und warmen Er- zählung feine volle freude haben. Wie reich Viſcher's Gemüth, wie liebenswürdig fein Humor, mie ernft fein Denken, wie ftahlhart fein Pa- triotiömus war, das tritt uns bei Ilſe Frapan in vielen intereffanten Ginzelzügen neu ent- gegen. Wenn das Bud ‚lie Seesen’ eine dritte Auflage erlebt eine zweite ift ſchon

i da —, fo follte S. 148 es jedenfalld heißen: mehr ausreicht, ein Lehrer und Berather zu |

„Wir erinnern an Friedrich's des Großen furdt- loſes Erſcheinen unter den Defterreihern, nad) der fiegreihen Schlaht von Xeuthen,“ nicht: „Nah der verlorenen Schlaht von Kollin“; übrigens ift diefe ganze Geſchichte, welche Viſcher treffend „einen Beweis von der geheimnifvollen Macht der Größe“ nannte, jekt als Sage er: wiejen. Zur Sache thut das aber in diefem Zujammenhange gar nichts.

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Von Neuigkeiten, melde ber Rebaction bis zum 12. März zugegangen find, verjeihnen wir, näberes Eingeben nad Raum und Gelegenbeit uns vorbebaltenb:

Adermann. Schiller und Lotte, Eine Geſchichte ihrer Liebe. Bon Plarrer W. Adermann, Nena, fr. Mauke's Verlag (A. Schent).

Aulard. Recueil des actes du comité de salut publie avee la correspondance ofticielle des re- presentants en mission et le registre du conseil

ex&cutif provisoire, public par F. A. Aulard. Tome

deuxieme: 22 Janvier 1793 31 Mars 1793. Paris, &

Imprimerie Nationale.

Bayerische Bibliothek 12. Band: Ueber Lorenz von Westenrieder's Leben und Schriften. Von August Kluckhohn. Bamberg, Buchner’sche Ver- lagsbuchhandlung. 180.

Behrmann. Eine Maienfabrt durch Griechenland. Bon Georg Bebrmann. Hamburg, Lucas Gräfe. 1890.

Beringuier. Die Rolande Deutihlands. sur eier bes Bjährigen Beſtehens des Vereins filr die

Geſchichte Berlins am 28. Januar 1890. Am Auftrage |

des Xereins herausgegeben von Dr. jur. Richard Veringuier. Berlin, Berlag des Vereins für die Ge- PA Berlins. 1800,

liothet Deutiher Geſchichte, unter Mitwirkung von D. Gutſch, E. Viühlbacher, Di. Manitius, X. Jaſtrow u. f. tw. herausgegeben von H. von Zwiebined: Südens borit. I. Abthig. König Friedrich der Große von Rein— bold Kofer. Stuttgart, J. G. Cotta'ſche Buchhandlung, Nachfolger. 1890.

Bischoff. Harmonie-Lehre von Kaspar Jacob Bischoff. 1.3. Lfg. Mainz, J. Diemer. 18%.: Bolte. Der Bauer im deutschen Liede, 32 Lieder des 15.—19. Jahrhunderts nebst einem Anhange herausgegeben von Johannes Bolte. Berlin,

Mayer & Müller. 1890.

Bonghi. In autunno. Su e giü. Del Ruggiero Bonghi. Milano, A. Paganini. 1890, Öttcher. Die Verleumdungs-Seude, Aritiiche Plau— bereien über eine po Arantbeit von Karl Böttcher, Berlin, Brahvogel & Ranit.

Brön La reforme de l’orthographie frangaise par Michel Breal. Paris. Hachette & Cie. 18%,

Brehm. Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge von Dr. ©. €. Brehm, 1. %fg. Stuttgart, Unton, Deutſche Verla seleligaft. 1890.

Caravelli. Pirro Schettini e l’Antimarinismo, Studio del Vittorio Caravelli. Napoli, Tipografia della regia Universitä. 1889,

Drudtowig. Die Emancipationd-Shwärmerin. Luft jptet in fünf —— und dramatiſche Scherze von

r. lene Drustowig. Dresden, an. Petzold.

Fagne Dix-huitieme siecle, Etudes littsraires.

1 _ Emile Faguet. Paris, H. Lecene et H. Oudin.

Falck. Art und Unart in deutſchen Bergen. Volts— 3 in Reimen und Inſchrifren. Berlin, Herm. J. Meidinger.

+. Gejammelte Werte von Karl Frenzel. Eriter Band. Erinnerungen und Strömungen. Leipzig, Wilhelm Friedrich. 1890.

Die Erziehung ber beutihen Jugend. Bon

Paul Güßfeldt. Berlin, Hebrüber Paetel. 1890.

Nah Dber- Ammergau. Wanderung zum Baffionsfpiel. Bon Alban von Hahn, Leipzig, Dtto Spamer. 18%

Hansen. Klaus Groth in zijn leven en streven als Dichter, Taalkamper, Mensch met reisverhaal en terugblick op de dietsche Bewegung door Dr. ©, J, Hansen. Antwerpen, L. dela Montagne,

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SHehfe. Dramatiihe Dichtungen von Paul fe. 23. Bb.: Ein überflüffiner Menſch. Echaufpiel wel Alten von Paul Heyſe. Berlin, Wilhelm Herg (Beſſer'ſche ———— 1590,

Sehfe. Ytalienifhe Dichter feit der Mitte des 18. Jahr:

hunderts. ®d. IV. Lyriker und Boltsgefang. TDeutich

Heyſe. Zweite Auflage. Berlin, Wilhelm Ser (Befler'ihe Buhbbandlung). 1889,

Hirschberg, Aegypten. Geschichtliche Studien eines Augenarztes, Von Dr. J, Hirschberg. Leipzig, George Thieme, 18%,

Jeruſalem. Lehrbuch der empirifhen Piydhologie für Gomnafien und höhere Yebranftalten, fowie jur Bolts- belebrung von Prof. Dr. Wilhelm Yerufalem, Zweite Auflage. Wien, A. Pichler's Wittwe & Zobn. 1890,

von Paul

Feſtſchrift

Deutſche Rundſchau.

ter. Deutſche Redensarten. Sprachlich und kultur⸗ geſchichtlich erläutert von Albert Richter. Zeipsie,

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sa psychologie. Par E. de Roberty. ee Rosenberg. Die Goldschmiede-Merkzeichen. 2

Stempel auf älteren Goldschmiedearbeiten in Facsimile herau ben und erklärt von Dr. Marc Rosenberg. Frankfurt a,M., Heinrich Keller.

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abatier. Die chriſtlichen Dogmen, ihr Weſen und ihre Entwidlung. Rede von Profeflor Sabatier, deutid —— von WRorig Schwalb. Yeipsig, Ouo 18%,

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Bilder und Landihaften aus aller t 75.76: TZrieft und feine nädfte Umgebung. ton

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ubel, -- Die Begründung bed Deutichen Reiches duch Wilhelm I. Bornehmlid nad den preußiſchen Staatsaften von Heinrih von Sybel, Dritter Band. weite unveränderte Auflage. Münden und Leipsig,

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Trautmann. Lehre vom Schönen, von Otto Traut- mann. I. Form, Ornament und Farbe. Dresden, Richard Bertling. 189.

Ter Zug der 10,000 Griechen bis sur

Schwarzen Meer bei Trapezunt bargeftelt

Von von Zreuenteld.

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Antunft am nah Tenophon's Anabafis, Naumburg a. S., Albin Schirmer. 1890.

_ Das Empfindungsprincip und die Entftebung des Lebens. I und ll. Bon 3. G. Vogt. veipsig, Oscar Gottwald. 1889.

Vogt. Entftehen und Bergeben ber Welt, auf Grund eines einbeitliben Subitanzbegrifies, von J. G. Bogt. Leipzig, Oscar Gottwald. 188%. .

Wanters Stanley au seeours d'Emin-Pacha. Par A.-J). Wanters. Paris, Maison Quantin. 18%. Weltrich. Friedrich Schiller. Geſchichte feines Lebens und Charakteriſtit ſeiner Werle. Unter kritiſchem Rad- weis der biographiſchen Duellen. Bon Richard Weltrich

28. Stuttgart, Cotta’fhe Buchhandlung, Nachfolger. 1889. Widmann, Gemüthliche Geſchichten. mei Er

äblungen aus einer fchweizerifhen Kleinſtadt von N B. Kidmann. Berlin, Gebrüder Paetel. I8W.

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Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Piererſchen Hofbucdruderei in Altenburg. - Für die Redaction verantwortlih: Paul Lindenberg in Berlin.

Nigter Abdrud aus dem Inhalt diefer Zeitichriit unterſagt. Ueberſetzungsrechte vorbehalten.

Bas Gottes Wille ifl.

Schwäbiſche Dorfgeſchichte von

Ilſe Frapan.

Es war im Vorfrühling, aber ſchon linder Sonnenſchein auf dem ſchnell— fließenden Neckar drunten, und an den Bäumen der Berghalde ein grünlicher Schleier, gewoben aus den jungen hüllenloſen Knoſpen. Mit Bündeln von Schlüſſelbbumen und blauen Himmelſternen in den Händen kamen die Kinder daher; mit den Blumen in den Händen umftanden fie da3 Haus des Pfarr- bauern, aus dem eben der Sarg getragen ward, und ftareten mit ihren meit offenen blauen Augen auf den ihnen unverftändlichen Vorgang.

Die Pfarrbäuerin war geftorben. Mit abgezogenem Hut und hängendem Kopf trat der Bauer aus der Hausthür; ihm folgten zwei Eleine Mädchen, in ihwarzen neuen Kleidern, die ihnen lang um die Füße fchlotterten. Die Aeltere hatte die Augen tief in ihr Tuch gedrücdt und folgte, ohne aufzufehen, mit blinden ungleihen Schritten dem traurigen Zuge. Die Kleinere weinte heftiger, wobei ſich der braume frauslocdige Kopf bald nad) rechts, bald nad) links wandte, bald rückwärts mit jpähenden Augen, wer noch fomme Bon Zeit zu Zeit rüttelte die ältere rau, die neben ihr ging, fie derb am Arm, fie zur Andacht zu ermahnen; dann nahm fie ſchnell das Tuch und jchrie jo laut Hinein, daß ſich jet dba, jet dort ein3 von den Kindern mit den Waldblumen auf die Zehe bob, um zu jehen, wer das thue.

Als der Zug am offenen Grabe hielt und der Pfarrer herantrat, um mit beiwegter Stimme der Todten da3 Zeugniß nachzurufen, daß fie ein braves, frommes Weib geivejen, und daß fie ihre Kindlein zu früh habe verlafjen müfjen, da jah die Kleine den Wetter, nad) dem fie lange ausgeihaut, plößlih an der anderen Seite der Grube fich gegemüberftehen, und wie ihre Augen fi) be- gegneten, da Üüberfiel Beide jenes unwillfürlihe Laden, das Kindern bei feier- Iihen Gelegenheiten jo oft Strafe zuzieht. Mit einem zornigen Rud von der Baje Urjula ward Madele auf die Seite geftoßen; fie verbarg beihämt ihre Augen in den Rodfalten der Tante. Der lange Bub, der Raile?), erhielt von einem der

1) Paul. Zeutiche Rundſchau. XVI, 8. 11

162 Deutſche Rundidau.

Träger einen ermahnenden Puff, daß er faft in die Grube gerutſcht wäre, und unter dem ftrafenden Blick des Geiftlichen ſich in feiner Verlegenheit auf alle Diere niederließ und aus dem Kreife hinauszufriechen begann. Plötzlich aber wandten ſich Aller Blicke auf die Aeltere, die, ald der Pfarrer geendet hatte und der Sarg aufgehoben ward, ſich mit lautem Weinen auf die ſchwarze Truhe warf und mit auögeftrediten Armen daran feitflammerte.

„Mariele! Mädle!“ rief der Vater und riß fie am leide. Aber fie rührte fi nit. Da trat der Pfarrer zu ihr, berührte janft ihre Schulter und jagte mit faft zärtlihem Tone: „Laß Deine Mutter jchlafe, bis der liabe Herrgott je weckt.“

Das Mädchen hob den Kopf und ließ langjam die Hände los. „Komm',“ jagte der Geiftliche und führte fie an feiner Hand ins Ieere Haus zurüd.

Das ift gewiß ein ſchweres Kreuz, wenn eine Mutter von jungen Töchtern wegſtirbt. Wie verwaifte Lämmlein liefen da3 Mariele und da3 Madele unter dem Gefinde umher, und die zehnjährige Jüngere fragte rathlos und verwint: „Wer gibt mer jezt mei Veichperbrot?“ als fei mit dem Verſchwinden der Mutter, der „Sorgerin“, zugleich alle Ausficht auf Speife und Trank dahin. Sie tröftete fich freilich jchneller als die dreizehnjährige Marie. deren ftumm und heiß fließende Thränen fein Brot und fein freundliches Wort ftillte. Ja, Brot gab e3 wohl, freundliche Worte nimmer. So arme Kinder verlieren leider gar zu oft den Vater mit; wenn er auch äußerlich jeine Schuldigfeit thut; die natürliche Ver— mittlerin ift eben fort, und ein junges Mädchen denkt in einer ganz anderen Sprache al3 ein alter Bauer. Es fommt wohl auch vor, dat Vater und Töchter einander zuwachſen, wenn nämlich des Mannes Wachsthum noch nicht abgejchlofien war; beim Pfarıbauer in Hofen war joldh’ eine jeltene Weiterentwicklung nicht eingetreten. Die rau war nach jahrelangem ſchweren Siechthum verftorben; aber Halb gelähmt, wie fie auf ihrem Schmerzensbette lag, immer doch war jie die Seele de3 Haushaltes geweſen; fie dachte für ihren Mann, fie handelte für ihn durch jeinen Arm; ihr Wort war e3, da3 die Dienftboten zur Ordnung hielt; ihr treue Auge jah, wie es ſchien, durch Wände und Thüren; mit zittern der Hand ſchnitt fie no am Tage vor ihrem Tode den Kindern das Brot. Seit ihre ſchwache Stimme nicht mehr rief, ging der Bauer umher wie aus gewechfelt. Derjelbe Menſch, von dem es hieß, er habe die lange Krankheit der rau mit bewundernswerther Geduld ertragen, war nun, da er frei war, un wirſch den ganzen Tag, trug feinen Kummer unwillig, wie die ärgfte Zumuthung vom lieben Herrgott und hätte gern ben zweiten Tag wieder geheirathet, um nur nicht traurig jein zu müſſen. Nad Art harter Menfchen konnte er durdaus feine betrübten Mienen vertragen. Seine Aelteſte weinte ihm zu viel. Das zarte Gefichtchen mit der Flaren weißen Stirn und den tiefen Augen befam einen Yeidenden Zug, und diefer Zug ſchien ihm ein Vorwurf. Er hatte fein Weib, da fie gefund war und ſich dad Schwerfte auflud, oft genug geplagt, mit Jäh— zorn und Robheit ihren gebrechlichen Körper verjpottet dann hatte fie ihn jo angejehen, wie ihn das Mariele anjah, als er, acht Tage nad) jeines Weibes Tode, mit einem halben Rauſch zum Mittageffen kam. Er zog die Augenbrauen zuſammen und jagte:

Was Gotte! Wille ift. 163

„Was iſch no?” und da ihr das Waller in die Augen ftieg, warf er den Löffel hin: „Ho! heut’ regnet’3 ſcho' wieder in d' Supp nei!“

„D' Supp iſch guet, dia ſchreibt fih von,“ jagte Mabdele und lächelte den Vater an. .

Murrend nahm er den Löffel wieder auf, dann und wann einen unzu— friedenen Blick auf Mariele werfend. „Da guck 's Madele a’, des hat Auge wie e jong’3 Gaidle, jo thätſcht mer au beſſer g’falle,“ jagte ex zulekt, nachdem das Eſſen feine befänftigende Wirkung gethan. Mariele ſchluckte mühſam Suppe und Thränen hinunter, aber ihr Geficht lächelte nit. Sie blickte nach der Stelle, wo der Mutter Bett geftanden all’ die Zeit, von woher fie ihr die bleiche Hand entgegengeftredit, jo oft fie länger fort gewejen fie jah ihre großen grauen Augen aus jener leeren Stelle an der Wand traurig und liebevoll herüberleuchten,

„J han halt’3 Heimweh nad der Mutter,“ jagte Mariele, und ein troßiger Zug trat plößlich auf ihrem Geficht hervor, „'s ijcht ebe doch d’ Mutter gweſe.“

„Ja, je hat Dir älleweil de Kopf a’halte, aber jeſcht iſch gar!“ ſchrie der Bauer mit ſchwerer Zunge und ſchlug, ohne vet zu wiffen, warum, auf ben Tiſch, daß die Teller klirrten. „Jeſcht bin i do, mer könnt fafcht moine —“ er jah fi wild um, griff dann nad dem Brotlaib, warf aber jogleidh das Mefler zur Erde. „Deiht au ftompf,” grollte er, „jchneidet’3 falt Wafler bis uf de Bode! Tür was hat mer uich!)! bloß fürs Efje?“

Marie lief mit ſchamrothen Wangen hinaus, um das Meffer zu wetzen, aber als fie zurückkam, war der Vater davon, und al3 er ſpät Abends heim: tehrte, war aus dem halben Rauſch ein ganzer geworden.

In diefer Nacht träumte Mariele, fie jolle fterben, und fie jah ihr Grab graben und war ganz fröhlich dabei. Aber fterben konnte fie nicht; das Madele ihnedelte fich an fie hin und jagte:

„Mutter iſcht no net do, muejcht ſcho' no warte.”

Darüber erwachte fie und hörte ihrer Schwefter tiefe gleichmäßige Athem- züge neben fih. „3 ben froh, daß i mei’ Madele hab',“ murmelte fie. Die Kleine ftieß im Schlaf um fid) und drängte Marie mit ihren jpigen Ellbogen faft aus dem Bett. Ganz vorfichtig ftieg Marie über fie hinweg und legte ſich auf den leeren Pla an der Wand. Aber fie konnte nicht wieder einjchlafen; es war jo dumpf in der Hammer, und das fämpfende Schnardhen ihres Waters drang laut und läftig durch die dünne Wand des Nachbarraumes. E3 war faum dämmerig, die Leinen Scheiben dicht beſchlagen. Mariele jtieg aus dem heißen Bette, 320g Rod und Jäckchen an und jchlüpfte mit bloßen Füßen an die Haus— thür, Auf dem hellen Grau de3 Himmels flatterten zerrifjene Wolkenſtreifen, und bor dem lichtweißen Oſten ftand ein mächtiges dunkles Gebilde, groß, wie ein Riefenvogel mit weit gebreiteten Schwingen. Ihre Anie zitterten, wie fie darauf blite, unten der Fluß, das Wehr, die Ufer mit den Weinbergen lagen im tauchenden Nebel; Mühlhauſen am Nedarufer gegenüber ſchmiegte ſich wie eine ſchlummernde weißliche Herde um den Hirten, den ſchlanken Kirchthurm. Nur jenes große MWolfenbild jchien zu Leben, zu wachen; leiſe begannen ſich die

1) euch. 117

164 Deutiche Rundichau.

Schwingen von unten zu befäumen, filbern und ſchimmernd von der nod) ver: borgenen Sonne. Das ift der Adler des Herrn, fiel es plößli in ihre Seele, das ift dev Herr, der über und gewacht hat, über unfer Haus, unfer Dorf, es dunkel war. Andacht und Dankbarkeit durchichauerten das Kind. Zugleich aber überfam fie ein Gefühl des Ernſtes und der Verantmwortlichkeit. Die Kühe brüllten im Stall. Die Magd jollte aufftehen, füttern, dachte fie, ich muß fie tweden, das ift jet mein Geſchäft. Sie ließ die Augen umbergehen. Allerlei Geräth lag unordentlich auf dem Boden oder Iehnte jo an den Eden, daß man darüber fallen Eonnte. Die Melkkübel ftanden ungeicheuert; der Düngerhaufen war zerfragt und über den halben Hof verftreut. Der Anecht ift faul, der Vater jollt’ ihn zanken, dachte fie. Dann aber bejann fie ſich nicht länger, ſondern ging in den Verſchlag neben dem Stall und klopfte die Magd auf die Schulter:

„Auf, Hanne, De jchloffcht, glaub’ i, bis d' Rueh en Babe gilt!“

Die Magd riß die verichlafenen Augen auf und ftarrte:

„8 iſt jo no halbe Naht!” gähnte fie, „was willicht von mer?“

„Auf jollicht, füttere, '3 iſcht Zeit,“ wiederholte Marie beftimmt, und ihr ernithaftes Geficht belehrte die Magd, da in diefem Augenbli eine neue Herrin in dem verwaiften Haushalte erftanden war.

Als der Herr Pfarrer feinen Morgenfpaziergang anhob, den er zur Inter ftüßung einer Brunnenkur alltäglich machen mußte, jah er beim Nachbar, dem Pfarrbauern, ein ungewohntes Armſchwingen. Mit zornigem Gefiht ftand der Jäckle unter den Mifthäufen und rechte und jchaffte, daß es eine Art batte Und an einer Biegung des Wegs, vom Walde her, kam das Mariele gefahren mit einem hochbepadten Karren voll jungem Futter; mühſam 309 fie, mit feuchender Bruft; auf der Stirn ftanden Schweißtropfen, aber da3 ganze glühende Geſichtchen athmete Selbftzufriedenheit und Arbeitseifer.

„Du biſcht früah dra, Mariele,” lobte der Geiftliche, „des wird em Vatter recht ſei'.“

„Er iſcht geichter Nacht miteme“ fie erröthete noch tiefer und verſtummte.

„Du wirſcht ihm bald eine rechte Hülfe werde,“ fuhr der Pfarrer freundlich fort, und jein Lächeln drang der Kleinen wie ein warmer Vatergruß ins Herz. Groß und vertrauendvoll ſchlug fie die Augen zu ihm auf und jagte mit bebender Stimme:

„Er hat g’jagt, für was mer es!) häb, ob mer e3 bloß für 's Eſſe häb.“

Das Geficht des Geiftlichen verfinfterte jich wie von einer widrigen Empfindung.

„Das gefällt mir nicht,” ſprach er tadelnd, „ein Kind ſoll nicht über jeinen Vater klage.“

„Rei,“ murmelte Marie, und die Hingebende Zutraulichkeit verſchwand aus ihren Zügen. Mit einem fcheuen Seitenblid machte fie Pla, um den Herrn Pfarrer vorbei zu laſſen, der, ſich noch einmal nah ihr umſehend, langjam und manchmal den grauen Kopf jehüttelnd, feinen Spaziergang fortjette.

Während dann die Mädchen in der Schule waren, traf e8 ſich, daß ber Pfarrer abermal3 am Nachbarhofe ftehen blieb und endlich den Bauern zu fid twintte, dev mit gerötheten Augenlidern und jchwerer Stirn ſich die Nachtnebel am Brunnen abzuſpülen bemühte.

I) una.

Mas Gottes Wille ift. 165

Es war ein furzes Geſpräch, zu dem ber Bauer nicht viel beitrug. Ein paar Mal erflang die Stimme des Geiftlichen jcharf und eindringlich, ſonſt ward die Rede halblaut geführt. Auf dem derben fonnverbrannten Gefiht Deininger’3 lag ein ohnmächtiger Troß, als er losfam. Nach diefem Geſpräch ging er nicht wieder ins Wirthshaus, aber jeine Aeltefte befam oft genug böſe Blicke, und die Kluft zwiſchen Bater und Kind erweiterte fi) immer mehr.

Trotz Fleiß, Sparjamkeit und Bravheit wär's ein unfrohes Haus getvejen, ohne das muntere Madele, das fürs Lachen und Neden ſorgte. Sorglos wie ein Eichhörnchen, dem die Nüffe alle Tage nachwachſen und das fein Wind vom Baume ſchüttelt, wie ungeftüm er auch bliefe, hüpfte fie im Haufe herum, und ihr Zünglein war ftet3 ebenfo geſchäftig wie ihre ſchlanken Beinchen. Weil aber da3 Mariele bei der Arbeit nicht gern ſchwatzte, das Gefinde oft wüfte und zu= widre Antwort gab, jo plauderte fie den ganzen Tag mit Allem, was ihr jonft in den Weg kam, e8 mochte antworten oder nicht. Sah fie das Mohrle behaglich an einem alten Knochen nagen, den er nad) feiner neidigen Spißerart jchon dreimal eingejcharrt und immer twieder hervorgefragt hatte, jo ftellte fie fich ſogleich, als wolle fie ihn dieſes koſtbaren Schafe berauben, indem fie jchmeichelnd und drohend rief:

„Komm’, Mohrle, des Bor!) mueß quet jei, geb mer’, fomm’, 's g’lujcht?) mi ganz derno’.” Wenn dann der Spih in eine grollende fnurrende Wuth gerieth, zähnefletfchend mit dem ganzen Leibe feinen Knochen deckte, oder ganz außer ſich gebracht, mit ohrzerreißendem Gebell an ihrem Röckchen riß, dann ftanden dem Madele vor Lachen die Thränen in den Augen, und fie hielt ſich mit beiden Händen das Bäuchlein feft, damit e3 nicht plaße.

Schmiegte fich die Kate ſchnurrend in die Ofenede, jo rief ihr das Madele ipottend zu: „Du, Kätzle, biſcht e faule Her! ſpennſcht de ganze Tag und s geit?) doch fein Fade!” Oder fie ftrih ihr mit den Schelmenhändchen von hinten nad) vorn über den entſetzt ſich fträubenden Katzenbuckel und fchrie: „Um Alles! Hafcht du aber graue Hoor Friagt!“

„So red’ doch net jo domm derher, d’ Hab iſt jo von Natur grau,“ ſagte Mariele, halb verwundert von ihrem Strickſtrumpf aufſehend. Dann nickte Madele bedeutſam und flüſterte mit einem Blinzeln nad der Verſpotteten: „Weiſcht Mariele, i will je jo no*) e bifile ärgere!”

Ein ander Mal hörte man ihre helle Stimme im höchſten Zorne rufen: „Ha! uverfhämt! Du mueſcht Hi ſei! do ſiehſcht, jeſcht biſcht ſcho' e kalte Leich.“

„Was haſcht no wieder?“ fragte die Schweſter.

„D' Schnoke! aber i hans verwiſcht, dia hat auskämpft!“ und Madele ſog mit Triumph an der gebiſſenen Stelle.

Ja, das Madele war ein friſches luſtiges Ding, und auch der Herr Pfarrer Hatte ſeine Freude an ihm, wenn es gleich einem knoſpenden Röslein ihm über den Zaun guckte und immer eine Gelegenheit erſah, ihm ſelbſt oder ſeiner guten Frau einen kleinen Dienſt zu erweiſen. Ihre eigenen Kinder waren erwachſen und nicht mehr daheim, da gefiel ihnen die lachende Kleine doppelt, und gern ließ

) Knochen. 2) gelüſtet. °) gibt. +) nur.

166 Deutſche Rundſchau.

die Frau Pfarrerin ſie neben ſich herlaufen, wenn ſie in den Wald ging. Madele wäre zwar lieber nach Cannſtadt gegangen, im Walde war's ihr faſt langweilig; aber ein bischen ſchwatzen durfte fie doch hier, und das Mariele daheim fand ihr ftet3 eine Arbeit, der fie jeßt entfam, denn ein Spaziergang mit der Frau Pfarrerin hob alle Verpflichtungen auf. Unterwegs mußte fie dann wohl Obadt geben, daß fein Thierlein durch ihre Füße beſchädigt werde. Alle Augenblide hieß 8: „Madele, ’e Schned!” und der Zeigefinger der Pfarrerin deutete bald hier⸗, bald dorthin. Dann faßte das Kind mit vorſichtigen Fingern den Schned um ben Leib und feßte ihn ins Gras auf die Seite.

„Sieh' z'erſcht zua, wo er hi’ will,“ ermahnte die Pfarrerin, „wohi' feine Hörnle ftehe, do will ex hi’, gib Obacht.“ Zuweilen aber zog die Schnede bei der Annäherung der Finger jogleih die Hörner ein, dann fauerte fid) Madele daneben auf den Boden und fang:

„Scyned, Schned, komm' heraus!

Etred beine lange Hörnle raus,

Ober i werf di ind Brunnehaus!* und das fo lange, bis der Schned gehorchte; aber wenn's nicht bald geichab, fo ward fie böje und xoth und jchrie ihren Reim fo laut durch den Wald, daß bie rau Pfarrerin fie zanken mußte: „Geh, net jo wüeſcht, do wachet jo alle Vögel im Neſcht auf.“

Dann ward fie ganz ftill, denn die Neftoögel waren ihr jo eine Art kleine Kinder, und Kleine Kinder liebte fie über Alles und konnte fie Hätjcheln und pflegen, daß die Mütter im Dorfe fie ihr gern anvertrauten. Sie war Jeder— mann gefällig, vor Allem den Nachbarn im Pfarrhaus. Wann die Magd nicht daheim, wie war's allemal jo geſchickt, das Madele nah Werken zum Bäder zu ſenden. Wann ein Wäfcheftüc vom Seil herabgeflogen war, gleich ftürmte das flinte Kind hinterdrein, e8 wieder einzufangen, und die Pfarrerin bemerkte wohl: gefällig, daß fie den verwehten Schurz zuvor brav im unten fließenden Nedar fpülte, wenn er auf dem regenmweichen Boden etwa ſchmutzig geworben.

Marie, die jchweigend, jo gut fie es vermochte, die Führung des Haushaltes übernommen, hätte zwar erzählen fünnen, daß die Kleine daheim nicht jo über: mäßig dienftbereit jei, aber ihrer ernfteren Gemüthsart erfchien Madele noch weit jünger als fie war; ganz allmälig rüdte Marie in die Stelle ber jorgenden Mutter, au) Madele gegenüber.

„Ja, dia!” fagte Madele, wenn der Lehrer in der Schule fie tadelte und ihr Marie ald Mufter der Aufmerkſamkeit aufftellte. Sie war ganz verwundert, daß man ihr zumuthen könne, jo ernfthaft wie „Dia“ zu fien und in das Geficht des Lehrerd zu blicken mit den ſchwärzlich-rothen Bartftoppeln, dem gefträubten Haar und der zufammengegogenen Stirn, das fie ſchon längſt auf wendig kannte. Wenn fie dem Schulmeifter auf feine Frage eine Antwort wußte, dann ftotterte das jonft jo jchnelle Zünglein mit weinerlicher Entſchuldigung: „J ben 3’ unkeck gwe, han 's net möge ſage.“ Der rechte Grund aber war, dab e3 draußen vor den Fenſtern viel hübjchere Dinge zu jehen gab als das Gefidt des Lehrers und das ABC und Einmaleins, und viel Reizenderes zu hören ald feine langgedehnten Wörter, die er gar jo beängftigend deutlich ausſprach.

Was Gottes Wille ift. 167

Kamen nit immer am Schulhaus die Hochzeitäzüge vorüber, wenn fie in

die Kirche fich bewegten, mit Bläjfern und Geigern? Wenn Madele nur einen Blick auf das Kränzlein der Braut oder auf die Silberfnöpfe bes Bräutigams hatte werfen dürfen, jo fam fie voller davon nad) Haus, ala wenn fie alle Bücher der heiligen Schrift jammt allen Namen der großen und Kleinen Propheten aus» wendig gelernt hatte. Es iſt begreiflich, daß das Madele bei ihren Kameradinnen jehr beliebt war. Kein Streich konnte ausgeführt werden ohne ihre Beihülfe; fein Spiel war voll- ftändig, wenn fie fehlte ihre Arme waren zwei jo bequeme Henkelchen, in die man fih gern Hineinhängte, man ſah fie faft niemal3 allein gehen. „Em Piarrbaure jei Mariele!“ fjagten die Nachbarn und fügten mit hochgezogenen Brauen hinzu: „Deſcht emol e Schaffige*), deicht eppes Solids.“

„Em Pfarrbaure ſei Madele," da verzogen ſich alle Gefichter zum Lächeln, obgleid man nichts zu ihrem Lobe zu jagen wußte. Ya, geachtet war daB Mariele, beliebt nit. „'s Annemärgele,“ jagten die Mädchen, wenn fie mit ihrem ernften, ftill nachdenklichen Geficht vorüberging; ſprach man fie an, jo ward fie ſchnell freundlih, aber fie gab Beſcheid, und dann ging fie weiter, wußte nicht zu ſchwatzen, wußte nie was im Orte geihah. Vor lauten Auf: tritten, Marktlärm oder gar Schlägereien, floh fie mit mehr Mißbilligung als Angft; in früher Eatholiicher Zeit wäre fie vielleicht mit vierzehn Jahren ins Klofter gegangen. Sie war wie erdrüdt von Verantwortlichkeit, der Sorge für Haus und Feld; der Vater hatte nur Zeit und Gedanken für den Weinberg, der in vortrefflicher Lage an dem heißen Nedarufer faft Jahr für Jahr einen ganzen Herbft gewährte, aber auch unabläffige Sorgfalt verlangte. Der Krautgarten, Kartoffelland, der türkifche Weizen, und ein kleiner Ader Roggen, weit draußen nah Fellbach zu gelegen, blieb ganz Marien überlaffen und der Hanne; jelbft den Knecht gab der Vater faum dazu her. Dabei lebten fie ärmlich; geizig legte der Bauer Erjpartes zum Erſparten, ſchränkte die Ausgaben ein; Fleiſch gab’3 faum am Sonntag; eine große Schüffel Salat, eine geftandene Milch und Brot dazu Mojt ald Getränk, jo war er den ganzen Tag zufrieden, fein braumer, zäher, ausgedörrter Körper verlangte nicht mehr alſo mußt’ es auch den Anderen recht jein.

„Gebt Acht, dab ſich das Mariele net 3’ arg abſchafft,“ jagte der Arzt zum Pfarrbauern, als er ihn einmal im „Stern“ antraf; „fie ift 3’ bleich und hoch aufg'ſchoſſe, und je hab’ oft jo args Kopfweh, hat fie mir q’jagt.“

„Morgerege und Weiberwai Send um zehne nimmemai,“ late der Bauer, den Kopf wiegend.

„3 könnt ihr gehe wie Eurem Weib jelig,“ fuhr dev Doctor unbeirrt fort, „die iſcht au jo z' Grund gange.”

„Arbeit iſcht g’jund,“ jagte der Bauer voll Ueberzeugung, „do jehe Se mi a’,“ und er juchte jeinen krummen Rüden aufzureden.

„Ein jungs Mädle iſcht aber 'was Anders!” jagte der Arzt und nahm verdrieglih die Zeitung auf.

Arbeitfame.

168 Deutſche Rundſchau.

„Deſcht ebe der Fehler. J hau en Buaba g'wöllt! Zu was hat ſe mer dia Mädle' derherbrocht? J han immer e Daule!) vor jo viel Mädle' g'hett.“

Die Gäſte lachten, der Arzt aber rief zornig: „Deſcht mer z' dumm, 's iſcht e wahrs Wort, neif?) Ochſen und ean Bauer ſend zeha Stück Rindvieh.“ Damit ſtand er auf, um zu gehen; aber nun war auch der Weingärtner giftig geworden:

„Beſſer bäuriſch g'fahre als herriſch g'loffe,“ ſchrie er hitzig, und dann nad) einer Weile, obgleich der Arzt ſchon fortgegangen: „Wemmer mit em Maul ſchafft, wie der Herr Doctor, no iſcht's Lebe freili e Kinderſpiel.“ Ein beifälliges Gemurmel beantwortete dieſen Ausfall, dann aber ließ ſich doch Einer oder der Andere mit einem Vorſchlag hören.

Am nächſten Sonntag wanderte der Pfarrbauer zu ſeinem Schwager nach Fellbach hinüber, zu dem Bärenwirth und Vater des Paul und noch drei anderer Buben. Und am Dienſtag kam der Paile herüber und führte auf dem Kopfe einen kleinen Koffer daher, und der Pfarrbauer ſagte zum Mariele, das große Augen machte: „Der bleibt jetzt do, richt em ſei Bett in mei'm Kämmerle.“

Madele drehte ſich vor Vergnügen auf dem Abſatz, als fie das hörte; fie lief Marie in die Kammer nach und ſchrie: „Jezet, wann i mit em Paile Käs b’jeh®), no lacht er alei, bei Div mueß i immer de Afang made.“

63 zeigte ſich indeß, daß der Paul nicht herberufen worden, um mit Madele zu fpielen, fondern um dem Vater den Buben zu erſetzen, den ihm jein Weib Thuldig geblieben war. Gern Hatte der Bärenwirth feinen ſtämmigen, ſtroh— blonden Xelteften nicht hergegeben, aber der Bauer hatte jo manchen Ueberredungs— grund geltend gemadt. „Was denkicht au, Urſchi, jo viar Pandure, de freffet uich de Nas und d’ Obre ab.”

Urſchi war Paul's Stiefmutter, die drei anderen Buben gehörten ihr; zivei davon waren ſchon mit in die Ehe gefommen. Es war nicht zu leugnen, da fie einen gewaltthätigen Hunger mitbradhten, jo oft e8 zur Mahlzeit ging, und zumal der Paile af nad Urſchi's Meinung faft ftraffällig. „'s wird koi Freſſer gebore, er wird derzue erzoge,” pflegte fie zu jagen, und ihre runden, ſchwarzen Rollaugen blickten unmillig auf die mächtigen Ranken Brot, die der Stiefjohn herunterfchnitt. Wer wird auch einen Buben jo ein großes Schnappmeffer im Hoſenſack tragen laſſen! Es Hatte ſchon Händel gegeben um das Mefjer, da3 Paul jorgjamer wijchte und pußte als jein Geſicht Lieber hätt’ er's verſchluckt, al3 es aus den Händen gegeben.

ALS der Pfarrbauer die Urſchi feinem Vorſchlage jo geneigt ſah, Hatte er den Bruder bearbeitet. Das war ſchwerer. Die ſchwarzen Strobelköpfe, die feine zweite Frau ihm zugebradht, konnten fi an Kraft und Stämmigfeit mit dem Paul nicht meffen. Aber was that man nicht des häuslichen Friedens halber! Urſchi bohnte und mwühlte für ihre Kinder, für die es einmal bei der Erbtheilung ihmal hergeben konnte. Nun bot fich hier für Paul eine vortreffliche Ausſicht.

„Dei’ Bua nemmt mei’ Mädle, 's Mariele,“ fagte ihm der Schwager, '3 Weib hat's au g’jagt, uff em Todtebett; 's Madele zahlt ex 'naus, no wird * Güetle ſei' Eigethom, wemmer emal mit unfere Boiner*) Nuß 'raſchmeißt.“

1) MWiderwillen. 2) neum. °) fehen, wer zuerft lacht. + Knochen.

Was Gottes Wille ift. 169

„sa’ jei, daß D’ wieder heirotheſcht,“ meinte der Andere lauernd.

„, nemme! i han g’nug vom Wehſtand,“ wehrte der Bauer.

Und jo war's richtig gemacht worden, und Paile war von jeinem Vater unterrichtet worden, weshalb er nad) Hofen zu gehen habe.

Der Burſche ging nicht ungern, obgleidy er mit den Stiefbrüdern qut Freund war und jeßt unter das MWeibszeug mußte. Er war der zweiten Mutter im Wege, da3 fühlte er, wenn fie ihm auch feine böjen Worte gab. Und dann mit einem Mädchen fich abzugeben, das einmal feine Frau werden und ihm ein ihönes Gut mitbringen jollte, dad war auch faum ehrenrührig. Als er nad Hofen fam, ſah er Alles ſchon mit dem Blick des zukünftigen Gigenthümers, au dad Mariele, das ihm ganz wohl gefiel, weil «3 fo ſchlank und ernfthaft ausſah, al3 könne es Schon jeden Tag heirathen. Vorläufig war e3 erſt vierzehn Jahre und ein halbes, und die Konfirmation ftand vor der Thüre.

„Du, weiſcht no, wie n i doz'mol uf de Kirſchebaum ben?“ fragte er fie, als fie Abends vor dem Haufe jaßen.

Mariele nidte, und dann erzählten fie'3 dem Madele, das nicht mit dabei gewejen, jondern noch tief unten im Brunnen gejchlafen hatte. Vier Jahre alt war der Paile gewejen und in Hofen zu Beſuch mit ferner Mutter, die damals noch gelebt hatte. Da bat man zu Mittag die Kinder gerufen, ihn und da dreijährige Mariele, aber nirgends find fie gewefen. Zuletzt fommt die Mutter in die Kammer, da Liegt der Bub in Moriele'5 Bett, und das Mariele fitt davor und fagt fein Wort. „Was iſch mit em Büeble?“ ruft die Mutter aͤngſtlich herbeiſpringend.

„Er Hat Weh,“ jagt Mariele, „i han en recht ei'butſcht“).

Da ſieht die Mutter dem Paile ſein Händchen an, das ſchmutzig auf dem diefen Deckbett liegt und etwas gepadt hält e3 find drei Kirſchen an einem Stengel.

„Mariele,” jchreit die Mutter, „ſag wo iſch's Büeble gwe?“

„Gr hot brot?) und i han g’lefe”, jagt Mariele und zeigt unters Bett; da fteht unten ein ganzer Korb voll Kirſchen.

Madele klatſchte in die Hände.

„Aber 's Beſte vergiſcht,“ jagte Paile jelbitgefällig, „mei Arm iſcht broche gwe, aber grillt?) han i net. Mei Muetter hat mers oft verzählt, wie n i d' Kirſche net Losg’laffe han mit der rechte Hand, beim Herr Doctor.“

„Hat je Dir au verzählt, wie der Doctor g’jagt hat: ‚Thon Se no dem Buab d' Hoje recht ſpanne, fonft fteigt er feim Vatter bald de Hopf 'nuf?‘“ fragte Marie nedend.

Paul überhörte diefe anzüglichen Worte ganz. „D’ Kirche jend fei’ give,“ jagte er nachdenklich, und mit Kennermiene fügte er Hinzu: „Friſch jend je immer am befte aber jo Mäbdle, die fommet jo net uf d' Bäum 'nuf.“

„Wer net auffi Erebjelt, fällt net abi,“ lachte Marie, aber der Bub war nm auf fein Lieblingsgeſpräch gefommen und fuhr gemächlich fort:

) zugebedt. 2) gepflüdt. 3) aufgeichrien.

1709 Deutiche Rundſchau.

„Mei Batter jegt’3 au, 's ifcht e Kreuz, jo e Mädle 3’ ſei. E Mädle und e Kuah guckt bloß zua. Uf d' Baum 'nuf fommet ex!) net, reite fennet er net, adere fennet er gar net i möcht no au wiſſe, z'was d' Mädle uf der Melt fend.“

Mariele jah einmal auf, al3 wolle fie etwas jagen, fenkte aber die Augen gleich wieder auf ihr Geftrid.

Madele jprang auf und rief dem Mohrle zornig zu: „Haſcht recht, Mohrle, beil’ en fei’ a’, den dumme Buaba; gelt, 's iſcht e Tropf?“ Und fie reizte ben Spiber, daß er bellend losfuhr. Dabei ward fie immer röther im Geficht, fie ballte die Hände und trampelte mit den Füßen, rollte die Augen und jeufzte dabei, daß ſich der Vetter halbtodt lachen wollte.

„Recht jo, Madele, geh’, mad) e Zörnle!“ jchrie er; „'s freut mi jo arg, wenn De 's machſt.“

Plöklih fuhr ihm ihre derbe Heine Hand in die Haare umd zaufte aus Leibeskräften. „Do fiehſch, für was d' Mädle do jend!” fchrie fie mit großer Unerſchrockenheit.

Paul blieb vor Verwunderung ſtarr ſitzen und ſchüttelte nur ein bischen den zerrauften Hauptihmud, als die empörte Kleine ihre Hand zurückzog.

„Du biſcht e Wetterhex,“ jagte er noch immer erftaunt; „aber i woiß ſcho fo e kloi's Häfele lauft bald über.“

„seine Leut jend au Leut,” gab Madele ſchlagfertig zurüd.

„J geh 3 Nachteffe richte,” ſagte Marie aufftehend, „do werdet er ſcho, Friede ſchliaße, bei der Supp, dent i.“

So geſchah es denn auch, aber am anderen Tage begannen die Händel von Neuem, und e8 ſchien, daß die Beiden recht Gefallen daran fanden. War Marie nicht dabei, jo fanı e8 wohl gar zum Schlagen; Paile hatte jeine erfte Ber: wunderung abgeftreift, und wenn” er auch nad) jeiner Meinung nur zum Scherz zubaute, jo blieb doch oft ein rothes Mal auf dem braunen Arme des Bäsleins. Sie achtete das wenig, wenn ihr auch der Schmerz im erften Augenblide Thränen in die Augen trieb; Paile aber war grob genug, fie mit diefen ruhmvollen Denk: zeichen zu neden.

„Moje?) haſcht, daß mar 's nemme zähle ka',“ fpottete er, fie an den Zöpfen zerrend. Marie war in die Stunde?) gegangen, und die Zwei in der Stube allein.

Madele lachte unbefümmert: „'s vergeht ſcho, bis i heirath.“

„Bis Du heirotheſchtſt?“ der Bub riß die Augen auf, „ſo dumme Maͤdle heirathet mer net!“

„So dumme Buabe gar net,” rief fie eilig.

„0, jo? J kriag 's Mariele.”

„Und wen kriag i?” fragte die Kleine Ängftlih und erwartungsvoll.

„Du? Du kriagft ner!” ſchrie Paile mit beleidigendem Gelächter, „Du wirft 'n alte Jongfer!“

Madele jah ihn zu Tode erfchroden an, ihre Unterlippe zitterte heftig, um- fonft wehrte fich der trogige Kleine Mund gegen das Schluchzen. Dann lief fie

1) ihr. 2) Mäler. 3, Gonfirmandenunterridht.

Was Gottes Wille if. 171

zu der Wandbant am Ofen, ſetzte fich hart in die Ede, zog die kleinen Knie hoch herauf, mwidelte die Hände in den Schurz und verharrte fo, ein Bild ftiller Verzweiflung. „Der Zorn bringt mi faſcht om,” murmelte fie.

Der Better fchnipfelte pfeifend mit feinem vielgeliebten Schnappmefjer an einem Holzipahn und fah ſich gar nicht um. Endlich hatte er fich in den Finger geſchnitten und hielt ihr die blutige tröpfelnde Wunde ganz nahe unter bie tummervollen Augen.

„Haſcht net jo e leines Läpple? bloß e kloi's.“

Das Kind ſprang jogleih auf und juchte nad dem Verlangten. Endlich reichte ſies ihm mit abgewandtem Gelicht.

„Haſcht net au en Trade, Madele?“

Sie widelte ihm das Läppchen um den dargebotenen finger und band auch den Faden feſt darum. Dabei mußte fie ihre verweinten Augen zeigen.

„Biſcht e recht's Weibsbild! Weibsbilder müchet immer greine,“ jagte Paile gefühlvoll, und al diejer Troſt feinen Erfolg zu haben jehien, jchlug er fie er— muthigend auf die Schulter: „Grein’ net, Madele, i nemm uich älle Zwoi!“

„Was läßt Der träume, zwoi Frauft, des geht net,“ jagte die Aleine traurig.

„Bei de Türke gehts jcho’; d’ Türke treibe nämlich Wielweiberei,“ berichtete Paile mit belehrender Miene.

Ueber Madele's rofiges Geſichtchen flog ein Hoffnungsftrahl. Den Finger an die Lippen gedrückt, jah fie ihn nachdenklich an.

„J werd e Türk,“ fchrie Paile, begeiftert von feinem eigenen Einfall; „no fa’ mer fo viel Weiber nemme al3 mer will. J nemm zwanz'g Stüd, fa’ ſei', oder meh.“

Da aber verwandelte ſich Madele's Bekümmerniß in plößlichen Zorn. „Ha, deiht e Schand,” eiferte fie, „jwanz'g Weiber iſcht e Schand.“

„Wann i jcho’ emal e Türk werd, no will i '3 au recht werde,“ prahlte der Bub, und Madele mußte fi mit der traurigen Ausficht zufrieden geben, daß fie einmal eine von Ziwanzigen fein werde.

„En alte Jongfer, wo ganz ledig ifcht, deſcht no e größere Schand,“ meinte fie, und Paile beftätigte ihre Vermuthung mit lebhaften Kopfniden.

„So eine, wie d’ Aeſchegruſele, wo mit Schäffzgeheu?) lauft und mit Beſe woiſcht, Madele?“

„Hu!“ machte die Kleine und kniff die Augen zu, „jo eine will i mei Lebtag net werde.”

Mariele's Konfirmation fam heran, ein von ihr mit unflarer Sehnjucht berbeigewünfchter Tag. Der Pfarrer hatte gejagt, da werde man in den Bund der Chriftenheit aufgenommen und zwar mit eigenem Berftand und Willen, nicht ala hülf- und vernunftlojes Wejen wie bei der Taufe Don diefem Chriftenbunde machte ſich Mariele eine feierliche und fremdartige Vorftellung. Alles, was in der Kirche vorgenommen wurde, hatte einen erhabenen Reiz für fie, wie ihr denn auch der Bau jeldft ſchon ſeit frühen SKindertagen das Schönfte und Höchſte war, was ihre Einbildungskraft beichäftigte. Der hochgewölbte ernfte Raum,

) Zinnkraut zum Geſchirrputzen.

172 Deuiſche Rundſchau.

ſo ungleich den engen niederen Stuben daheim, der eigene Geruch nach Büchern und trockenem Staub, der hier herrſchte, und den Athem des Feldes und der Ställe nicht hereinließ, die feſtgefügten Kirchenſtühle, die auch der unbändigſte Burſch nicht vom Platze zu rücken vermochte, all' das gab ihr das unbewußte Gefühl, daß hier ein Zufluchtsort ſei vor allem Lauten, Grellen, Häßlichen und Gemeinen, das ihre junge ernſte Seele abſtieß. Hier verſtummten das rohe Lachen, das betrunkene Johlen, die übeln Klatſchereien, die neidiſchen Stichel— reden; hier ſprach der tiefe volle Orgelklang, hier ſprach der Angeſehenſte im Dorfe, der Pfarrer, ganz allein, und was er ſagte, wenn fie es auch nicht Allee im Zufammenhang beariff, waren hohe Worte, die draußen Niemand gebraudite. Die Worte: Liebe, Glauben, gottjeliges Leben, Heiligkeit und Frieden. Hier war das Gotteshaus, hier wohnte Gott. Kein Herd war hier, fein Geräth, das dem täglichen Leben dient, Alles ganz anders al3 daheim, denn hier diente man Gott. Wie ein Schauer zog e3 durch ihren Körper, wenn der Segen geiproden ward: „Der Herr ſegne und behüte dich der Herr laſſe fein Angeficht Leuchten über dir und gebe dir Frieden.“ Sie wagte nit, die Augen zu erheben, aber fie fühlte e3 deutlich: dort oben leuchtete jein Angefiht über ihr, und Frieden fam über fie.

Der Pfarrer ſah gern, während er redete, in ihr andädhtiges, von Schwärmerei verflärtes Gefihtchen. Schmal war es, und die Augen faft zu groß, dabei oft blielo8, ohne Glanz. Es gab aber Tage, wo e8 ihm faft zu viel ward. „Gut, daß fie jo viel Arbeit auf den Schultern Hat,“ dachte er dann, „Andadt ift ſchon recht, aber die könnte auf einen unrechten Weg gerathen.“

Der Tag der Gonfirmation erſchien. Mariele hatte die Nacht zuvor nidt geichlafen; fie jah noch bleicher aus als gewöhnlich, und als fie mit den Anderen in die Kirche trat, fiel es wohl Manchem ein, daß diefem jungen Gejchöpf das Leben nicht Leicht werden dürfe Hübſch war fie troß der verunftaltenden Haar: trat. Das reiche, Tchlichte, blonde Haar war ängſtlich feft von der weißen Stirn zurücgezogen unter einem ſchwarzen Sammetbande, und im Nacken hingen zwei lange ehrbare Zöpfe herunter, jo ftraff geflochten, daß fie fi beim Gehen faum bewegten. Mit hoher klarer Stimme beantwortete fie die an fie gerichteten Fragen, wobei jedesmal ein zartes Roth über ihr Geficht flog. Ganz ficher und ohne Stoden, aber in dem gedehnten Aufjageton, wie die Uebrigen auch, fagte fie ihr Hauptftüd aus dem Katehigmus, nur ein eriwartungsvoller, gejpannter Ausdruck lag auf ihren Zügen wie bei feinem der anderen Kinder. Während ber Predigt verwendete fie fein Auge von dem Pfarrer; er ſprach von dem neuen Leben, das num für die jungen Chriften anhebe. Da fah ihn das Kind jo groß und fragend an, daß es ihm faft Tätig war. Danad) fam die Einfegnung. Mit gejentten Köpfen Enieten die Kinder vor dem Altar. Der Pfarrer vertheilte die Sprüche und Verſe; jedes Kind befam den jeinen vorgeſprochen und dann ward er ihm gedruckt in die Hand gejchoben. Als Marie mit einer Kameradin an die Reihe kam, ſprach der Geiftliche mit jegnend aufgelegten Händen: „Einen fröhliden Geber Hat Gott lieb.“ Und dann den Anfang des Spitta’jchen Liedes:

Was Gottes Wille ift. 173

„Es geht ein ftiller Engel Durch dieſes Erbenlanb; Zum Troſt für Erdenmängel Hat ihn der Herr geſandt. In ſeinem Blick iſt Frieden Und milde ſanfte Huld.

O folg' ihm ſtets hienieden, Dem Engel der Geduld.“

Als das Kind aufſtand, ſah es enttäuſcht und weinerlich auf das Blättchen in ſeiner Hand, und mit einer ſchnellen Bewegung trat es rückwärts.

Der Pfarrer winkte. „Komm' nach Tiſche zu mir, liebes Kind,“ ſagte er gütig.

Sie konnte die Stunde kaum erwarten, bis fie ſchüchternen Schrittes in das büchergefüllte Studirzimmer des Pfarrers treten durfte, der, in Wolken aus ſeiner langen Pfeife eingehüllt, langſam auf- und abſchritt.

Prüfend jah er fie an, blieb ftehen und fagte: „Nun, Mariele, Du haft heut’, ſcheint's, nicht viel verftanden?“

Ihr heftige Kopfichütteln war nicht ohne Trotz. J weiß net des mit em neue Lebe i fa’ kei neu's Lebe a'fange“ ftammelte fie furchtſam.

„Sprid ohne Scheu, Kind,“ jagte der Geiftliche und nahm die Pfeife aus dem Munde.

„J fa’ doch net” fie drückte beide Hände zufammen, al3 müfje fie etwas darinnen feithalten; „i fa’ doc) net mei’ Mutter vergeſſe?“ flüfterte fie und jah mit flehenden Augen empor.

Der Herr Pfarrer räufperte fih. „Das verlangt Niemand, Marie,” ſagte er, „aber bedenken ſollſcht Du freilich, daß Deine Kindespflicht nit nur der todten Mutter, fondern auch dem Lebenden, dem Vater, gehört. Das Eine thun, und da3 Andre nicht laffen, liebes Kind.“

J thue jcho’, was i mueß,“ fagte fie leife.

„Ja, ja, ich weiß, brav und fleißig biſcht und ſparſcht dem Water eine Haus: bälterin. Aber wie fteht geichrieben? Ginen fröhlichen Geber hat Gott Lieb, Marie. Gib fröhlich, was Du gibſcht! Fröhlich jein, au) in Mühen und Sorgen, das iſcht es.“

„J han halt no immer 's Heimweh,“ ſagte das arme Kind mit fließenden Augen.

Mitleidig und eifrig rief der Pfarrer: „Dei' Mutter, Mariele, iſcht wohl d'ran. Gönn' ihr die Ruh'! Was hat ſie gehabt bei dem zornigen Mann, der keinem was Guts,“ er brach ab, über ſeine eigenen Worte verwirrt, und ſchloß ſanft: „Wann ſie vom Himmel drobe auf ihre Kinder ſieht, da möcht' fie 's freuen, wenn fie 's Mariele auch einmal herzhaft lachen hörte.“ Dazu lächelte er ſelber aus lauter Rührung und Hülfbereitſchaft, denn das Mädchen ſtand mit einem gar zu verlorenen Gefichte vor ihm.

„Wnn’3 Gotts Wille iſcht,“ murmelte Marie, „i dank' recht ſchö, Herr Pfarier damit ſchlich fie hinaus.

Der Pfarrer öffnete gleich hinterdrein die Thüre und rief ſeiner Frau, um

ihr das ſeltſame Kind recht anzuempfehlen.

174 Deutiche Rundicau.

„3 Madele gfällt mir befjer, ’3 ijcht jo mögig und zuthulich,“ meinte die Pfarrerin. „'s Mariele faßt zu Niemandem ein Herz, s iſcht fcho recht brav, aber jo e Druckere!), der mer jedes Wort rauspreſſen muß.“

„Je nun,“ machte der Pfarrer.

„J bin froh, daß fie emal den Paile Friegt,” ſagte die frau, „er iſcht zwar e bifjele e Trumpf?), aber doch eine ehrliche Haut, friſch und luſtig.“

„Sp, alfo der Paile wird emal der Mann? Ya des ijcht freilich e Trumpf,“ lachte der Pfarrer. „Das ift ja der Bub’, wo em König die faumäßig grobe Antwort gebe hat.“

„Wie? welche Antwort?”

beißt, ex jei emal drunte bei Berg im e Gütle auf em Baum g’jefie, no iſcht der König vorbei gange und ruft ihn a’: ‚Aber, Büble, wie kann man auch die Zwetſchgen jchon eſſen, wann fie noch jo grün und Hart find!‘ ‚No‘ hat der Paile g’jagt, der Bub hat kaum recht ſpreche könne ‚No wargelt?) mer3, du‘ Mein Better, der Pfarrer in Berg, hat's gehört umd ſich nicht Schlecht entjagt über dem Flegel.“

„Ja,“ ſagte die Pfarrerin, nachdem fie ſich die Lachthränen abgewiſcht, „das ijcht der Richtige, der wird jchon aud) dem Pfarrbauern auf den Kopf fteige, dem geizige Filz.“

Mariele wartete diefen Abend beflommen auf den Augenblid, da Petter und Schweſter jchlafen gegangen und fie mit dem Vater allein fein würde, Die Kleine hatte jonft immer früh Schlaf, weil fie den ganzen Tag wie ein Bogel hin und her hüpfte, aber grad heute war der Paul jo geſchwätzig, daß fie mit blanten Augen jien blieb, wie nacdhdrüdlich der Vater auch gähnte. Endlich ſcheuchte er fie Alle mit einem Machtwort hinaus. Marie aber kehrte um und fagte, näher herantretend, als fie ſich's ſonſt getraute: „Vatter, i möcht’ was fage.“ Ueber dieje Einleitung blieb dem Bauern der Mund in Vertwunderung offen ftehen, und Mariele jenkte die Augen, indem fie ftotterte: „Watter, der Herr Pfarrer hat g’jagt, einen fröhlichen Geber hat Gott lieb”

Der Mund des Bauern jhloß fi, daß e3 einen Rud gab. Dann that er fich wieder auf: „J moin, jezt könnteſcht g’nueg han; han i net dös ſchwarz Kloidle von deiner Muetter jelig hergebe? So e Mädle hat's guet, ißt u’g’jorgt Brot aber do moinjcht glei, 's jei alle Tag Badtag!”

Marie wurde roth. „So iſcht des Ding net, Vatter,“ jagte fie verwirrt, „ber Geber geht mi a’, i ſoll de fröhliche Geber made”

Der Bauer lachte auf: „Biſcht net g’jcheit, Mädle!“ Dann aber machte er ein argwöhniſches Geſicht und fuhr abwehrend fort: „Morge früah gehicht zum Pfarrer und frogicht en, was em g’hört, i han 's ſcho' —“

„Ja,“ ſagte Marie, „aber deſcht eppes anders, Vatter, i han ſage wölle, i will jezt met Pflicht Fröhlich tho““ fie ſtreckte ſchüchtern die Hand aus, um jeine zu berühren, ihre Augen quollen über.

Aber der Vater jah weder ihre Hand noch ihr Gejicht, in dem der Schmerz zuckte, ſich nicht verſtändlich machen zu können. Er hatte ein Silberftüd aus der

!) Schweiger. 2) Grobian. *) rollend drücken.

Was Gottes Wille ift. 175

Taſche genommen und drehte es hin und her, zog ein Stüd Papier hervor und twidelte es umftändlich hinein: „'s iſcht e Heidegeld für dia G'ſchicht',“ murrte er, „do möcht’ i glei’ au’ Pfarrer ſei'.“ Dann ſchob er’3 wieder in die Hoſentaſche: „3 hat Zeit bis morge, Du thäteſcht "3 Geld verliere,” jagte er.

Traurig ging Marie in ihre Kammer; Madele athmete ruhig im Schlaf. Sie ſchlüpfte unter die Dede neben ber Kleinen Schwefter und wandte fi mit ihrem Verſprechen an den Vater im Himmel, deſſen große ftrahlenhelle Augen ernft, aber freundlich über ihrem Bette ftanden, und ber fie fogleich zu verftehen ſchien, ohne daß fie den Mund öffnete. „Ach will's verfuchen, du weißt jchon was,“ fagte fie in ihrem Herzen, und unter jenem leuchtenden Antwortblid von oben jchlief fie ein.

Die Jahre vergingen, die Schweftern wuchſen einander zu. Seit der Vetter im Haufe war und die Arbeit nicht mehr einzig auf ihr lag, erftarkfte Marie körperlich; fie lächelte nicht nur, fie lachte auch, wenn Madele ihre Späße trieb, Aber innerlih war fie troß allem guten Willen unverändert geblieben. Sie war num einmal eine einfame Seele, fremd ging fie zwijchen den Altersgenoſſen um— ber, mit denen fie auf einer Schulbank gejeffen. Ihr tiefer Troft, der nie ver— fagte, war ihr nahes findliches Verhältniß zu Gott. Was kam, das nahm fie, al3 feine Schickung, fromm und ohne Murren hin; die böfe Laune des Vaters, Hagelichlag und Mißwachs, den Tod der Lieblingskuh, ja das Verdorren ihres Myrthenſtöckleins, was Madele für ein jchrecliches Vorzeichen erklärte, über das fie in mitfühlende Thränen ausbrach. Wielleiht war ihre Fähigkeit, zu leiden, durch den Tod der Mutter auf eine Zeit hinaus erſchöpft worden. Sie blieb gelafjen und wußte zu beruhigen, zu berathen, wenn Alles um fie wehtlagte und jammerte.

Eintönig floß das Leben. Madele Elagte nicht jelten; zumal, als Paul in feinem neunzehnten Jahre al3 Freiwilliger eingetreten war, um feine dreijährige Dienftzeit abzumachen, beſchwerte fie fich weinend über Mariele's Schweigiam- feit, und daß man auch niemals „wohin“ komme, feinen Schritt aus dem Haus. Daraufhin wanderte Marie mit ihr am nächſten Sonntag nad) Fellbach zum Ohm, den fie jeit lange nicht mehr bejucht hatten. Die Tante fam ihnen nicht eben freundlich entgegen, ihre lauernden ſchwarzen Augen ftrebten den Zweck der Heimſuchung zu erforfchen, und Madele flüfterte der Schwefter empört zu, daß ja die Urſchi in einer zerriffenen Jade daherkomme und ihr Geſicht gewiß ion lange nimmer gewajchen habe. Die ſchwarzen Strobelföpfe ftanden an ber Wand wie zwei dunkel getvordene Schneemänner, wußten nicht, ob fie grüßen oder weglaufen follten, und nur der Kleinfte, etwa Sechsjährige ftellte ſich, den Finger im Munde, vor ihnen auf und ftarrte fie bewundernd an, denn Mtariele hatte ihm ein Gut3le!) mitgebracht, auf deifen Nachfolger er nun wartete.

Endlich kam auch der Oheim in einem ſchmutzigen Hemde, ohne Rod herein und ſetzte jich ziemlich wortfarg den Mädchen gegenüber. Urſchi brachte Wein, dazu ein Brot. Auf dem ZTifche, in der Wirthöftube, wo fie jaßen, zeigten ſich noch die nafjen Ringe von Gläfern, die hier geftanden. Unzählige Fliegen und

) Kuchen.

176 Deutſche Rundſchau.

Weſpen ſchwirrten um ihre Köpfe. Als es gar Alles ſo unappetitlich und un— ſauber ausſah, gewann Madele ihre Keckheit wieder und machte Alle lachen. Auch die Strobelköpfe verzogen ſchnell den Mund; ſowie man fie aber anſah, ftanden fie wieder wie die Schneemänner.

Im Eck ſtand ein Milchkübel; Madele ſtieß die Schweſter an und zeigte ihr den grünen Schimmel, der darauf lag. Dann fragte fie die Tante: „Hee, wem iicht no des? g’hört des für d' Säu?“

„Du g’fallicht mer,“ brummte die Bäuerin mit einem jauren Laden, „des gibt en Butter.”

„B’hüet’ mi Gott vor dem Butter!” jagte Madele offenherzig und drehte ihr Näjelein weg.

Die Urſchi blieb nun ganz dahinten und überließ die Nichten ihrem Manne, der mit einem Gefiht, al3 möcht’ er freundlich fein, wiſſe aber nicht, wie '3 anzufangen, hie und da ein Wort an fie richtete.

„Kommet, Mädle, eſſet,“ ſagte ex endlih und öffnete den Badofen, der voll Birnſchnitz und gedörrten Zwetſchen war. Die Mädchen griffen zu, ſogleich aber ihrie Madele auf und warf den Schnik mit einer Gebärde des Efel3 von fid- „Jezt han i in en Schwobe 'nei’bifje!” Sie bückte fih und ſchaute in den Ofen, richtig da liefen Scharen von Schwaben und Ruſſen zwiſchen dem Dörrobit umber. Madele fing an zu jagen und zu vertilgen; die Strobelföpfe famen auch herzu; Mariele ging deriveil in den Garten, der in faft ebenjo verfommenem Zuftande war wie das Haus. Sie band fi ein Sträußlein Rejeden und frei chelte die Kate, die fie fcheu und fremd aus ihren grünen Augen anftarıte, als jei fie noch nie geftreichelt tworden. Zuletzt kam Madele ganz erhitt heraus: „Deiht mer en andrer G'nuß gweſe,“ rief fie, „i Han zum mtindefte zwei— hundert todtg'ſchloge!“

„J dent’, mer gehe heim,“ jagte Marie.

„ezt bleibe mer no e bifile,“ meinte die Kleine, „mer fennet je doch net verzürne. 's iſcht immer der Vatter vom Paile.“

„Aus dem Haus iſcht er komme,” jagte Marie nachdenklich.

Sie wurden zum Kaffee gerufen. Dean ſaß zu Achten um eine große Schüffel mit Kaffee; der Bauer ftampfte fein Brot ein, von allen Anderen ward eingetunft.

„Der danke, mer trinket fein Kaffee,“ jagten die Mädchen, „'s Iupft') mi ganz,” flüfterte Madele.

Als fie weggingen, begleitete der Ohm fie ein Stüd Weges.

„Mei Paile friagt 's quet, beſſer als jet Vatter,“ jagte er zu Mariele. „Du biſcht e ſaubers Mädle worde.“ Seine Heinen Augen funfelten wohlgefällig über ihre Geftalt hin. „Wenn er heimkommt, iſcht Hochzig,“ fuhr er fort, „haſcht ſcho Zeitlang, gelt?“

„J fae ’3 v'rwarte,“ erwiderte Marie gelaffen, „b’hüet’ Gott, Ohm.“

Es war Oftober, aber noch warm und hell, der Himmel tief dunkelblau und leuchtend gelb der Boden der Weinberge. Nur die Objtgüter, durd) bie fie

1) übelt.

Mas Gottes Wille ift. 177

gingen, jahen erftorben aus; die meilten Blätter waren den Früchten nach— geflattert, fledig und mißfarben hingen die noch überlebenden an den bevaubten Heften.

Die Schweftern jeßten ſich an einen Rain, dort blühte es noch von violetten Skabiojen und gelbem Herbftlöwenzahn.

„Bud au d' Brummhummeler!) a',“ jagte Marie, „dia denket no a fein’ Wenter.“

„Belt Du, mer ziehe Hälmle?),“ und Mabdele fing an, Grashalme auszu- rupfen.

„Hälmle ziehe? für was?”

„Wer z/ericht g'heirat' iſcht.“

„Ha.“ jagte Marie lächelnd, „i werd’ z'erſcht dra’ glaube müefje, im e halbe Johr iſcht der Paile frei.“

„J fa’ ſcho gar nemme!“ jchrie Madele verwundert, „i han '3 längjchte! i komm z’ericht dra’.“

Und fie fing an zu hüpfen und zu laden, daß Marie mitlachen mußte.

„Dumme Ding,” jagte fie, „Dir preſſirt's faicht zu arg; dent’, e halb's Sohr! jo bald ka’ 's faſcht net ſei'.“

„Da, worum net? worum willicht mer’3 net gonne? gonn Div au, was Dei iſcht!“ erwiderte Madele beleidigt. Dann aber ließ fie den Kopf hängen. „J bi jo fo en arm's Tröpfle, '3 iſcht wohr,” jagte fie, „grad fallt mer's ei! J han gerften?) morge 's Salz verſchüttet, i han mei Lieb’ wegworſe, jez kommt ner meh.“

„Hab i net der Küeh, jo hab i au net der Müeh,“ tröftete Marie.

Madele aber begann mit Heller Stimme zu fingen, daß es durch ben Wald

klang: „Ei du mei liebes Herrgottle,

Was han i dir benn bahn *) Daß bu mi mei Lebetag Net wit theurige?) la’n.“

Zornig ftieß Mariele fie fort: „Mad, dag D’ weiter kommſcht! So was

fingt mer net! jo ka'ſcht net ſei; komm, jez finge mer z’jäme*®): „So lang’ ich hier noch walle.“

Das wollte dem Madele lange nicht einleuchten, endlich fiel fie doch ein, und die Vorübergehenden wandten oft den Kopf nad dem hübjchen Schweitern- paar, da3 jo blühend und einträchtig dahintvandelte und am Sonntag jo fromme Lieder jang.

„Bin i froh, daß i kei Stiafmuetter han,” jagte Madele Abends daheim ; „no thätet mer au im Dred verſticke, wie diea do.“

„Se hat en Paile arg plogt,” fiel Marie ein.

„Ah der Paile! Denkſcht immer a’a Dein Paile! De ganze Tag hört mer immer no „mei Paile! mei Paile!“,“ rief Madele und zerrte heftig an einer verfnoteten Schnur.

!) Hummeln. 2, wer ben längften befommt. 3) geftern. *) gethan. 5) heirathen. %) zufammen. Deutihe Rundſchau. XVI, 4. 12

178 Deutiche Rundſchau.

„G'wiß net!" betheuerte Mariele verwundert. „Du haſcht Schlof, i g’ipür's au wohl, daß i müed ben.“

„Red net jo dumm derher" fing Madele unwirſch an, brach aber ab und ftieg fchnell ins Bett, die heißen Wangen tief in die Kiffen verftedend. Plötzlich fuhr fie mit dem Kopf empor, ſchrie: „Mei’ Stiafmuetter biſcht Du!“ und legte ſich ebenſo jchnell wieder nieder.

„Du wüeſcht's Ding,“ ſagte Marie gleihmüthig, „ſchlof Dei’ Räuſchle aus, morge wirſcht mer fage, was i Der ’thon han.“

Aber am anderen Morgen hatten beide Schweitern ihren Zwiſt vergeffen. Mariele kam's einmal auf die Zunge, die Kleine mit dem geftrigen „Raufch“ zu neden, aber dann unterließ fie'3. Madele ward gar zu zornig, wenn dad Wort fiel und zwar darum, teil fie im lebten Sommer, während der Ernte, wirklich einmal einen Raufc gehabt. Alle waren fie auf dem Ader draußen geweſen zum Schneiden; die Sonne brannte, daß fie faft vergingen, und dazu ſchmählte der Water, ſowie fie nur ein wenig die Arme ruhen ließen. „Ya, was hent er denn für e lange Zipfel dahinte!),“ hieß es fortwährend. Sehnjüchtig wartete Madele auf den Ruf: „dev Moſcht iſcht gar?):“ dann mußte man einen neuen aus dem Keller holen und konnte ſich ein bischen im Haufe verruhen. Als es aber einmal wieder joweit war, da brachte das müde Kind den Moftfrug nicht mehr von den heißen Lippen, und erſt als die Durftenden lang ſchon ihrer ge wartet hatten, erjchien fie, aber unficheren Ganges und mit übermäßig glänzen- den Augen. Das gab ein Gelächter, ala das Madele behauptete, es jei auf einmal jo ein Nebel auf fie Heruntergefallen, daß fie den Weg zum Felde kaum babe finden können. Seitdem nannte fie der Vater: „dia, wo im Nebel verirrt iſcht“', oder „3 rauſchige Mädle“, und der Kleine Bosnidel Hatte ſchon viel Thränen über diefe Namen geweint. Gut nur, daß der Paile nicht dabei ge- weſen, jonft hätte wohl die Necerei gar kein Ende genommen. a, jeit jenem Tage hatte Madele eine Schauluft weniger; ſonſt hatte es ihr Spaß gemadit, jo einen Trunkenen auf dev Gafje hin- und herſchwanken zu jehen. Seht aber fürdhtete fie fi davor, und als einmal die Frau Pfarrerin ihr nedend zurief: „Madele, Dei Schurz iſch naß, do gibt’3 en rauſchige Dann,“ jagte fie er- ihroden: „Oje, no thät mer's grauje! i fa’ d’ Naufchige für mei’n Tod net leide'.“

Um Oſtern ward Paul frei und kam zurück, doch ſollte die Hochzeit erſt im Herbſt ſtattfinden; im Sommer gibt's zuviel Arbeit, da hat man keine Zeit zu Feſten auf dem Lande.

Paile war ein ganz anderer Burſche geworden in der Militärzeit. Seine etwas knollige Naſe hatte ſich geſtreckt, ſeine Oberlippe zierte ein Schnurrbart, ſtrohblond wie ſein Haar; er warf ſich in die Bruſt und ging mit ſtattlichen Schritten und ſelbſtbewußter Miene. „Du kommſcht derher, wie e hoſeter Zauber“ ®), ſagte Mariele lächelnd, „Du biſcht emol e Kerle.“

Madele ſpiegelte ſich bewundernd in ſeinen blanken Knöpfen:

„'s iſcht ſchad' derfür, daß Du d' Uniform wieder ausziehſcht,“ meinte fie, „ſo ſieh i Di gern.“

1) was zögert ihr. 2) alle. 2) Fauber mit befiederten Beinen.

Mas Gottes Wille ift. 179

Da fing er nun an zu erzählen von feinen Drangjalen und Pladereien, von ſeiner Schießkunſt und feinem übrigen Heldenthum: Wachpoften ftehen am Roienftein in ſtockdunkler Naht, von Paraden und Manövern, und endlich gab es Kaſernenwitze, die die Mädchen meift aber nicht verftanden, und die fie auch) nicht begriffen, als er fie ihnen erklärte. Er ging daher auch bald ins Wirths— haus, wo er ein verftändigeres Publicum fand, und Madele war jehr zornig auf ihn und prophezeite, daß er mit einem Raufche heimkommen werde. Diefe Borausjegung traf ein, und von Stund’ an wollte Madele fein Wort, wenig: ften3 fein qute8 mehr, mit ihm ſprechen. Sie madte ihm ein troßiges Geficht, two fie konnte, jehte ihn vor dem Vater herab und hätte auch Mariele gern aufgehetzt.

Die aber ſagte: „Des hent d' Mannsbilder im Brauch! Deſcht en alte ©’- ſchicht. 's iſcht ſcho jo, dak mer hinnehme mueß, was Gott3 Wille ijcht.“

Die Ankunft des Bräutigamd Hatte fie wenig aus ihrer Ruhe gebracht; fie jorgte für ihn, faft wie eine Frau, ging aud Hand in Hand mit ihm am Sonntag durch die Felder fpazieren. Al er fie aber einmal Hinter einen Buſch ziehen und Kiffen wollte, meinte fie: „Dozue hent mer Zeit, wenn mer gheirath' ſend,“ und als er heftiger drängte, ftieß fie ihn ziemlich unjanft bei Seite: „Mad daß De weiter kommſcht, was willſcht von mer? i lauf Der net dervo', Paile!“

„3 Mariele iſcht ſterch!),“ Elagte Baul einmal dem Vater, „do werd i mei liabe Roth Friage.“

Aber der Alte richtete feine gefrümmte Geftalt mit einem. Ruck auf, ihnalzte mit der Zunge und jagte: „Blitzſauber ifcht je! Wenn i Du wär” Was net fauret, des ſüeßt au nete!“ Und feine Aeuglein blinzelten dem Sohne jo bedeutjam zu, daß Paile wieder der Muth ftieo.

„J werd's ſcho' verzwinge,“ fagte er.

„Ha PBaili! Du weiſcht: 's jend no?) drei quete Weiber gwe, de ei’ ijcht u3 der Welt gloffe, de ander’ ifcht im Bad verfoffe, de dritt jucht mer no’. ’3 Güetle iſcht eineweg ſei zwanz'g Tauſend werth.“

„'s Güetle wär' recht, ſell iſcht wohr,“ beſtätigte der Freier zufrieden; „der Pfarrbauer iſcht halt en andrer Kerle als Du.“

An einem Sonntagnachmittage im Auguſt gingen die Schweſtern Himbeeren leſen. Der Weinberg trug an der Mauer einen breiten Streifen, ganz mit Beerenſträuchern beſetzt, die auch in ungünſtigern Sommern, wenn die Trauben zurückblieben, einen guten Ertrag lieferten. Lange hatte ſich der Bauer ge— ſträubt, aber die Vorſtellungen des Pfarrers hatten ihn endlich zu dieſer einträg— lichen Neuerung vermocht. Doch bekümmerte er ſich nach ſeiner zähen Art wenig um die Anpflanzung; das war Sache der Mädchen, ſo gut wie die weißen Narziſſen, die fie im Weinberg an einem freien Eckchen erzogen. Die Mädchen waren gern bier oben, hoch über der Straße, hoch überm Nedar, deſſen grün liches Waſſer gerade an dieſer Stelle in Kleinen gligernden Stromjchnellen über verborgene Felstrümmer fprang. Lieblich war e8, hier im Frühling, wenn das

1) ſtörriſch. 2) nur.

180 Deutiche Rundſchau.

ganze Thal in weißen Blüthen lag, unterm rofig jhimmernden Pfirfihbaum zu ftehen und auf den Lockruf der Amjel zu horchen, oder den Schwalben zuzufehen, wie fie bald mit jpitigem Flügel die Waſſerfläche zu rien, bald ſich wie Licht: pünktchen im böchften Blau zu verlieren ſchienen. Lieblih war e8 Hier heute, Alles durchſonnt und durchglüht, Alles Roth von der jcheidenden Sonne zu Purpur, alles Gelb zu Gold erhöht. Wieder jangen die Amjeln, aber die Lüfte beherrjchte heut fein zarter Frühlingsduft, durch den ſonnenbeſchienenen Staub quoll von allen Seiten der ftarke leidenichaftliche Duft der weißen Lilie; in allen Gärten, in allen Weinbergen blühte fie, ftolz und wehrlos zugleich, wie die Schönheit jelber. Marie begoß ihre Lilien und jah nur zuweilen hinaus auf das fpiegelglatte Wehr. Madele ftand weiter unten und blidte auf bie Spaziergänger, die auf dem Pfade am Nedar, ftaubummwallt, fi ergingen, friſch und jauber die Ausziehenden, die Anderen mit Sträußen in den Händen, mit abgezogenen Hüten, in Hemdärmeln, roth im Gefiht und oft mit lauten Gejange. Madele redte den Hals. Nein, was für närrifche Hüte und Kleider bort unten fpazierten! Oſt lachte fie laut; mandmal flog auch wohl ein nedended oder beifälliges Wort zu ihr herauf. Das hübſche Kind auf feinem hohen Beobachterpoften, da3 braune Kraushaar umipielt vom Abendlicht, das reine kindliche Profil jcharf abgehoben vom dunfelblauen Himmel, gab denen unten ein anmuthiges Bild. Ein blutjunger Menſch, mit einem großen Mal— faften an der Hand, blieb qar ftehen, ſah ſcharf Hinauf und begann, jeine Ge räthſchaften auf dem ſchmalen Rajenftreif auszupaden. Madele blickte verwun- dert hinab, als fie aber aus dem Körbchen neben ſich eine rothgelbe Aprikoſe hervorholte und Hineinbißl, jchrie ihr der junge Menſch zu: „Stillhalte!“ und begann feinen Pinſel anzufeßen. Madele ward dunfelroth, warf die Frucht in das Körbchen zurüd und drehte ſich blikgefhtwind um. „Mariele, komm, jez geh'e mer,“ rief fie laut genug, „'s hat gar foviel Lausbuebe do unte.” Sie nahmen ihre Körbchen voll Himbeeren und Aprikofen, deckten fie jorgli mit Weinlaub zu und ftiegen hinter einander die lange ſchmale Treppe hinunter, die zwiſchen ben Weinberggmauern fteil abwärts führte und in einer Kleinen Seitenbucht des menfchenvollen Fußpfades am Nedar münbete.

„Ro guck au, wia dia Melone ſcho goldgelb werde,“ jagte Marie und blieb ftehen, die glänzenden Bälle zu betrachten, wie fie mit den langen großblättrigen Ranten Kranzgewinde über die Mauer warfen. Und tie lebendig war dieſe Mauer jelbft! Zarte graugrüne Raute quoll aus jeder Ritze, und das zierliche Cymbelkraut überdedte ganze Flächen mit feinen bellvioletten Blüthchen.

Madele war wie gewöhnlich vorausgelaufen; al3 fie den Fuß auf ben Boden fette, begrüßte fie ein unangenehmes Gelächter, und eine freche Stimme rief ihr entgegen: „So iſch' recht, Mädle, komm e biffle näher, Du willſcht mer's, jcheint’s, bequemer made, gelt?“ Es war der Kunſtſchüler von vorhin, der ihr jo unverſchämt zugerufen hatte. Er trug den Malkaften in einer Hand, mit der anderen jchob er feinen Zwicker zurecht. Madele ftarrte fein bartlojes Gefiht an, in dem ein widriges Grinfen zudte und ſagte: „Se jend, ſcheint's, verrudt, ſonſt könnte Se net jo u'verſchämt jei, mer de Weg z' ver» trette.“

Was Gottes Wille if. 181

„Hoho, u'verſchämt! verrudt! Du bijcht e grob’3 Baureding,“ rief der junge Menſch, und er trat hart vor fie, jo daß fie nicht weiter konnte.

„J bin net Ihr Du!” erwiderte das Mädchen und fidh zwei Stufen nad oben zurüctziehend, rief fie ihrer Schwefter zu: „Mariele, der Herr hat en Rauſch, fag’3 em, daß er uns durchlaßt.“

„En Rauſch? warum net gar!“ fchrie der offenbar Betrunfene, „wart, jeßt ſollſcht mer Abbitt Leifchte,“ und ex parte Dtadele am Arm, jo daß dem Körbchen einige Früchte entfielen und zu Boden vollten.

„Sie werde jo guet ſei' und mei Schwejchter gehe laſſe,“ rief Marie, eilig berunterfteigend. Aber was half da3? In ihrem ſchmalen Engpafje, der immer nur Raum für eine Perſon bot, ftanden fie machtlos hinter einander gezwängt ; der free Jüngling verfperrte vollflommen den Ausgang. Bon den Borüber- gehenden blidte faum Einer ber, und wer es that, glaubte, e3 handle fi) um eine freundichaftliche Neckerei.

Madele überfam ein großer Zorn. „Mach fort mit Dei’m dumme Ge- fries!),“ jchrie fie und gab dem Menfchen einen plößlichen Stoß vor die Bruft.

Nur einen Augenblick wankte er, dann padte er Madele um den Leib und näherte jeine gejpigten Lippen ihrem nad rechts und links ausweichenden Ge— fit. Marie, die auf der Mauer entlang geglitten, verjuchte, ihre Schwefter zu befreien; es jah aus, als folle eine fürmliche NRauferei daraus werden. In dieſem Augenblick faßte eine Hand den angehenden Maler an der Schulter und eine Stimme rief: „J Han gemeint, ’3 fei Scherz, ſonſcht wär i früher komme; geh'n's uf d' Seit’, Herr,“ und mit einem feften Griff drängte er ihn von dem Treppeneingange. Der Angegriffene ftolperte rückwärts und trat dabei auf feinen Malkaften, der einen kurzen Krach gab. Erjchroden büdte er fich zu dem verjehrten Eigentum: „So,“ fagte der Fremde, ein junger Mann in ftädtifcher Kleidung und mit einem ernften angenehmen Geficht, „jeßt iſcht der Weg frei.” Die Mädchen Tießen fich das nicht zweimal jagen, fondern drängten eilends hinaus. Al fie ſchon ein paar Schritte gemacht hatten, drehte fich Mariele no einmal um und jagte mit ihrer janften Stimme! „J dank Ene?®) ebe recht,“ und „i dank au recht“ echoete Madele. Dann wurden fie Beide xoth, denn der Fremde hatte den Hut abgezogen und fie gegrüßt wie ein paar Fräulein. Madele wollte fi) auf dem ganzen Heimwege ausjchütten vor Lachen über den Herrn, der feinen eigenen Kaften zertreten hatte. „'3 hat mi arg g’freut,“ wiederholte fie immer wieder. „Aber der Andre war ordentlich, gelt?“ fuhr fie lebhaft fort, „ei guck au, bo geht er no, Mariele, er wird im Stern eikehre.“ Mber der junge Mann ging an dem jchönen Sterngarten mit der grauen Ruine vorüber, auch an der Wirthidhaft, die ſchlanke Geftalt verſchwand zuleßt zwiſchen den Häufern. „Er gebt, ſcheint's, auf B'ſuch,“ meinte Mabdele, „gelt, Mariele, jo Einer, jo e nobliger Herr und jo brav, deſcht jelte? So ein mödt i au!“

1) Häßliches Geficht. 2) Ihnen.

182 Deutiche Rundſchau.

„So treue Auge hot er g'hett,“ fagte Marie nachdenklich, „und daß er te’ u'nöthig's Mort g'ſchwätzt bat, des hot mer am beichte g’falle! ja dejcht emol e Braver.“

Sp kamen fie, plaudernd über ihr Abenteuer, heim, und Madele wollt’ «3 auch gleich dem Wetter erzählen, al3 er vom Stern nad Haus fam. Er Hörte aber nicht groß Hin, fondern fagte gleichmüthig: „Da, deicht jo e Mädlesfüeßler give, fell kennt mer ſcho! In Stuegert Hot’3 viele. UF der Königftraß Taufet fe ume mit ere Ziwider uf d' Naf’. Eelle verihlägt mer de Kopf und fertig. Deſcht net g'fährli!“ Er fügte noch den guten Rath Hinzu, ihn ſofort zu rufen, wenn der Lapp noch einmal fommen follte, dazu reckte er läſſig jeine ftarken Arme. Bon ihrem Befreier zu reden, dazu kamen fie gar nicht mehr, Marie wußte felbft nicht twarım, aber es war ihr jo angenehmer.

Am anderen Morgen ging fie mit ihren Himbeeren frühzeitig zum Schrei: ner, es ift fo gejchict, den Saft in der Drehbank auspreſſen zu laſſen, part Geihirr und Müh. Der alte Diez hatte ihr auch immer gern den Gefallen gethan. Als fie aber Heut die Thür der MWerkftatt öffnete, ſah fie einen Frem— den dort arbeiten und blieb einen Augenblid überraſcht auf der Schwelle flehen. „Sicht der Meifchter net do?“ fragte fie zögernd. Der junge Gejelle kam mit dem Hobel in der Hand, um die fidh die hellen blanken Hobelloden kräuſelten, auf fie zu. Ka' i's met verrichte?“ fragte er beicheiden. Da ſahen ſie ſich ins Geſicht und erkannten einander. Heute trug ex keinen hellen Sommerrock, jondern ſchneeweiße Hemdärmel und bunte Tragbänder; aber jchlechter jähe er darum nicht aus, meinte Marie. Im Gegentheil, der ſchlanke bräunlicde Hals hob ſich fo frei und leicht auß dem weißen Hemde, das ſchwarze Furzlodige Haar lag fo dicht und glänzend um den feinen Kopf, daß Marie vor lauter Wohlgefallen die Rede vergaß und ihn lächelnd und erröthend anblidte. Ex bemerkte das aber nicht, denn er war ebenjo beichäftigt, fie zu muftern. Sie jah nicht aus wie ein Bauernmädchen; die Sonne hatte ihre Haut nicht gebräunt, die Arbeit ihre Züge nicht grob und gewöhnlich gemadt. Ein bischen leidend blicten die großen hellgrauen Augen; das ſchlichte Hellblonde Haar, die zarte Wangenblüthe und der ſchmale feftgeichloffene Mund vereinigten ſich zu einem lieblichen Gan- zen, das zugleich etwas Bewegliches hatte. So wenigftens ſchien e3 dem jungen Schreiner zu fein. Er nahm feine Blicke auch dann nicht von ihr, ala er ein bischen befangen anhub: „I ben em Meifchter fei Dot'!), und weil 'r jetzt e große Ausſteu'r z' mache hat und i bereits ſcho felbftändig ben, jo hot er mi do z' Hilf habe wölle; der Meifchter ijcht grad net do, was habe Se denn?“

„Ha,“ fagte Marie lächelnd, „'s iſcht eigentlich kei' Schreinerg'ſchäft, ı han do mei’ Himbeer, jez, ber Meifchter weiß ſcho B'ſcheid. J ka’ jcho warte.“ Aber e3 fand fich, daß auch der junge Meifter von der Kunft wußte, Himbeeren in der Drehbank zu zerquetichen, und er wollte, man ſah's ihm an, ſehr gern gefällig fein.

„Meine Mutter madt 's au jo,“ ſagte er, während ex aufmerkjam zuſah, wie dad Mädchen die rothen Früchte aus dev Schüffel in ein weißes Tud

1) Pathentind.

Was Gottes Wille if. 183

ſchüttete, auch hie und da eine darüber forthüpfende Beere einfing und mit ſpitzen Fingern zu den anderen legte. „Eſſet Se no,“ ſagte Marie zutraulid, „i han fe jelber brocdt, je fönnet Se mit Appetit verzehre.“

Nun ſchob er zumeilen eine Beere in den Mund, der ebenjo roth und friſch wie die Frucht unter dem ſchwarzen Bärtchen hervorfhimmerte. „Ei,“ dachte Marie, als fie eben diefe Bemerkung bei ſich gemacht, „ich jeh doch jonft die Mannsbilder nit jo an, ich bin jcheint’3 recht unbeſcheiden!“ Und fie er- röthete vor fich felbft und wandte die Augen weg; aber nicht lange, der junge Menih kam ihr jo befannt vor, al3 hätten fie ſich jchon lange mitſammen unterhalten.

Dabei jagte er nicht eben viel, nur fiel e8 ihr auf, daß er noch ein paarmal feiner Mutter erwähnte und immer ala einer Perjon von Wichtigkeit fo zu jagen, indem er einmal ihre Worte anführte, ein andermal erzählte, e8 fei ihr recht nah’ gegangen, daß er ſchon wieder habe von ihr fort müſſen; ſei's auch nur für ein halbes Jahr etwa, man könne nicht wifjen, was gejchehe, went Eins einmal tränflih und nimmer jung jei.

Da3 Tuch mit den Beeren wurde num eingejchraubt, Mariele fauerte neben ihrer Schüffel auf dem Boden und jah den Saft Hell und jüß hineinlaufen. Der junge Schreiner drehte vorfihtig fefter und blidte dabei auf den blonden Scheitel unten, von dem das weiße Schattentudh in den Naden geglitten war. Die ganze Werkftatt war voll Himbeerduft, und Beide dachten: wären’3 nur noch zehnmal mehr Beeren! Das ift hier eine kühle gute Stelle, bejonderd wenn man nicht hobeln muß. Draußen ſcheint die Sonne faft zum Hitzſchlag kriegen, und jo ein Obftgejchäft ift eine rechte Wohlthat gegen alle andre Arbeit.

Zulegt aber war's doch geichehen; das Züchlein mit den Kernen war zu einem rothen Lumpen eingejhrumpft, und da3 Mädchen bejah zufrieden ihre Schüſſel voll Saft. Sie meinte:

„3 fieht lauter und klar wia Bluet, gelte Se?“

Zu ihrer Verwunderung erhielt fie feine Antwort, und als fie ihren freund» lichen Helfer fragend anblicte, jah fie erichroden, daß er blaß war und den Kopf hängen lieh.

„Hättet Se des net g'ſagt,“ murmelte er, und ber ganz veränderte tief: betrübte Ton, mit dem er diefe Worte ſprach, ging ihr zu Herzen. „Jez iſcht mer mei Freud verdorbe,“ fügte er hinzu.

„3 hat Leut, wo kei Blut jehe kennet,” jagte Marie halb zu fich jelbit.

Der junge Menſch jchüttelte den Kopf.

„3 iſcht e u'glückſelige G'ſchicht, i ben ſchuld, daß Bluet g’flofle iſcht, i han e Menſchelebe uf 'm G'wiſſe,“ ſagte er ſchwermüthig.

Ein Schrecken durchfuhr das Mädchen. Gleich darauf aber entgegnete ſie mit Ueberzeugung: „Mit böſem Wille? Nei des glaub i doch net —“ Und halb mechaniſch ſetzte ſie ſich auf den Hocker, neben der Drehbank, als ſei es noch nicht Zeit zu gehen.

„X will's verzähle, wie 's hergange iſcht,“ ſagte der junge Meiſter, und ſtand mit geſenkten Augen, die Hand aufgeftüßt, vor dem fremden Mädchen wie ein

184 Deutiche Rundſchau.

Beihtender. „J Könnt kei'm ſage, aber Sia hent jo e G’fit, no därf i wohl mei ſchwer's Herz ausſchütte. Alfo, i han e Mädle gern g’hett, 's iſcht e Bäsle ame, drunte in Veihinge, e ſaubers brav Mädle. Seht, wia i faum G'ſell give ben, iſcht d' Militärzeit komme, i han verfpielt und han müeſſe deene'). Im zweite Johr, um Weihnachte, ben i auf Urlaub komme, und mer hent Verlobung g'hett, drunte in Eßlinge, wo ’3 Rikele bei ihrer Frau Dot’ gwe iſcht; vecht Iufchtig jei' mer gwe.“ Er fuhr ſich mit dem Handrüden über die Augen, in feinem Geficht zuckte es. „ezet, noch) eme halbe Johr bin i frei komme, ganz u’verhofft, als Belohnung für guete Führung, twia '3 in meim Zeugniß g’ftande ifcht. Ben i froh gwe! Yhan ner g'ſagt, kei Wörtle g’fchriebe, i han je überrafche wölle. Z'erſcht mei Muetter, in Veihinge drunte, no hot 's mi jo noch Eßlinge zoge, zum Rikele, daß i mi net e halbe Stund z' Haus verrubet Ban, immer han i ’3 Rifele im Sinn g’hett und die Freud und Verwunderung, daB i jo e Glüd Han. No bin i als nad) Eßlinge komme und uf de Markt g’jprunge, wo d’ Frau Dot’ wohnt. Jetzt wie no i von fern an d’ Fenſter no guet han, im zweite Stod drobe, no fteht 's Rikele halbe drinne, halbe drauße uf em Tenfterfims und pußt d' Scheibe.“

Er jeufzte ſchwer, Marie ja mit ängftlich aufgeriffenen Augen, die Hände gefaltet und horchte.

„No gibt der böf’ Geift, wo immer feine Finger im Spiel hot, mer ei, daß i 'nauf ruefe thue ‚Rikele!‘ Blitzſchnell fährt ihr Köpfle ume, i g'ſpürs, wie fe mi berfennt, wie je roth wird und blaß und ihre Händle loslaßt. Fall net, Rikele!‘ jchrei i in Todesangſt, und fpring, was i fa, denn i jeh je jchwante, no ſchrei i in meina Herzesſeelenoth nomol, no Liegt 's Rifele uf 'm Stei’- pflafter —“

Der junge Menſch verdedte fich das Geficht, dem Mädchen Tiefen die Thränen herunter. „Sicht kei' Hilf! meh give?“ fragte fie leiſe.

„Se hat je nemme q’rührt, noch emal g’jeufzt hat je, no iſcht je todt qiwe;“ und kummervoll fuhr er fort: „Hätt i g’jchriebe, ’3 U'glück wär net g’jchehe ; 's laßt mer kei Rueh. Do han i ’3 erfahre, wer Herr ifcht über Tod und Lebe,“

„Der liab Heiland wird Ene Troft ſchicke,“ ſagte das Mädchen nach einer langen Pauſe.

„J mein’, er hätt ſei Engele ſchicke jolle, daß fie ’3 arm Rikele hebe?),“ ertwiderte er in trübem Ton.

„Es fallt kei Sperling vom Dad ohne fein Wille,“ fagte Mariele warm; die bibliſchen Worte und Borftellungen waren ihr geläufig und Hatten ihr nod immer Troſt gebracht.

Aber der junge Meifter rief Haftig: „B'hüet Gott, daß i glaube müeßt 's fei jei Wille give! no könnt i nemme bete.“

Da verftummte Mariele vor fo großem Leid. Nur nach einer Weile flüfterte fie wie zu ſich felbft: „Arms Rikele.“

„Der Herr Pfarrer Hot freili g’jagt, e ſchö's End hab je g’nomme,“ er- zählte der junge Meifter weiter, „und wohr iſcht ſcho, fe iſcht dog'lege wie im Schlof

i) dienen. 2) halten.

Was Gottes Wile if. 185

und g’lädelt hot je no im Särgle. Se hot fein Schred und fein Schmerze g’ipürt, hot der Herr Doktor g’fagt. Aber,” fuhr er in lautem Jammer fort. „daß i ſchuld ſei mueß, daß i er!) '3 junge Lebe g’nomme hab —“

Langſam ftand das Mädchen auf, nahm ihr Tuch und den Hafen mit Saft zufammen. „Jez gang i auffi,“ ſagte fie leije zu dem in traurige Brüten Ver— funtenen. Sie wollte noch etwas fagen, aber ihre Zunge ftocte.

„Ach, gehet Se ſcho?“ fragte er.

„sa, b’hüet Gott,“ mehr brachte fie nicht Heraus.

„B'hüet Gott und i dank Ene ebe reiht,“ erwiderte er und jah ihr mit tiefem Zutrauen in die feuchten Augen.

„B’hüet Gott,“ wiederholte fie noch einmal und ging, anfangs langjam; ſchneller, al3 jie fi befann, daß es ſchon jpät jei, zehn Uhr, wie e8 eben vom Kirchthurm ſchlug.

„Biſcht Du aber lang ausbliebe!“ ſagte Madele ſtaunend, als die Schweſter eintrat. „Der Paile hat ſcho zweimal g'veſperet und g'frogt, in welchen Brunne Du verſunke biſcht.“

„Iſcht mer ei's,“ ſagte Marie und ſtellte ihre Schüſſel auf den Tiſch.

„So, biſcht beim Schreiner gwe! Was hat ex no fo lang g'ſchwätzt?“ fragte Madele neugierig.

„Ner, er war erjcht net daheim,” kam die zögernde Antwort. Dann ging Mariele eilig in die Küche. Warum fie der Schtwefter nicht die Wahrheit gejagt, dachte fie bei fich jelber. Aber es war ihr jo gar nicht in den Sinn gefommen, Madele je zur Vertrauten zu machen. Wie hätte fie ihr dieſe Geſchichte erzählen follen! Sie erxöthete bei dem Gedanken, daß fie ihr feinen Namen nennen jollte. Ah, feinen Namen, den wußte fie ja jelbft nit! Aber gleichviel, fein Ge— fit, feine Stimme gingen ihr nicht aus den Gedanken. „Armes Rikele,“ dachte fie, „Du Haft freilich ein Glüd verloren. Wenn ex nur nicht jo 'gar traurig wär, wenn man ihn mit was tröften könnt! Es ift doc gewiß Gottes Wille ge- wejen, aber er fann’3 nicht glauben, weil er fie gern gehabt hat.“ Marie dachte auch über das Gernhaben nach; in ihrer Familie gab es jo etwas nicht. Sonder- bar! Nicht einmal Madele var ihr recht zugethan. Es fiel ihr plößlich wieder ein, wie jie einmal gerufen: „Meine Stiefmutter biſcht Du.“ Und nachträglich ging ihr dies Wort wie ein Sti ins Herz. Gerade feit fie Beide älter geworden, waren fie auseinandergefommen. Wielleicht würde es beſſer, wenn auch Madele fi verheirathete, vielleicht hatte fie dann den Mann gern. Sie mußte auch an Paile denten. Was der wohl gejagt hätte, wenn fie wie das Rifele zum Fenſter hinausgefallen wäre? Nein, das konnte fie fich nicht denken, denn über Paile's Kommen konnte fid) Niemand jo freuen, daß er aus dem enter fiel. Das war ja gar nicht möglih. Und ftaunend dachte fie, daß es eine Freude geben könne, jo groß, daß man an jo einer gefährlichen Stelle jeine Hände los— laffen und nicht achten würde, daß man falle, nur um zu winken, um ein Zeichen zu geben. Und Halb im Bewußtſein dämmerte es ihr herauf, wie fie ſich an der Mutter Sarg angeflammert und wie fie nur hatte bei ihr bleiben wollen, jelbft unten in ber falten Erbe.

1) ihr.

186 Deutfche Rundſchau.

Den ganzen Tag ging fie wie im Traum umher. Cine Thür war vor ihr aufgethan, aber fie ftand noch auf der Schwelle, verwirrt und geblendet von der Helle da drinnen. Am Nachmittage, ſpät, im legten Sonnenlicht, ſchlüpfte fie in ihr Kämmerchen, two fie mit Madele jchlief, ſchloß ihren Kaften auf und nahm ein Schädhtelchen heraus. Das war ihr Schafäftlein, ihr Reliquienſchrein. Darin lag ihrer Mutter Gebetbudh, ein Ring von rothem Stein, den fie ihr einft vom Jahrmarkt mitgebracht, und der ihr längft zu eng geworden; ein trocknes Gichenzweiglein vom letzten Spaziergang mit dem Herrn Lehrer nach ber Gonfirmation; ein fleines enge3 Granatnufter), das ihr beim Tode von Pailes rechter Mutter zugefallen; ein Brief von dem Heren Lehrer, der, ald er verreifen mußte, einige ber Eleinften, zurücdgebliebenen Schüler dur fie im Lefen hatte unterweijen laffen. Sonft pflegte fie andächtig Alles zu betrachten, wenn fie in einem freien Augenblick über diefe Schäße gerieth; heut aber räumte fie das Schächtelchen mit eiliger Hand aus, warf gar den trocknen Lavendel und Wald— meifter achtlo8 auf den Boden, um jchneller zu den tief unten liegenden Andenten von der Konfirmation zu gelangen. Da waren fie endlid: ein roſenrothes feines Blättchen mit einem darauf gedrudten Bibelſpruch, dann ein andere Blatt mit einem Bildchen, unter dem Verſe ftanden. Die lad fie eifrig durch, obſchon fie fie auöwendig wußte, dann jann fie darüber, und dann holte fie ein Gläschen Zinte herbei, einen Bogen Papier und begann unter vorſichtigem Hinüber- und Herüberbliden mit fteifen ungeübten Buchſtaben abzuſchreiben:

„Es geht ein ftiller Engel Durch dieſes Erdenland. Zum Troſt für Erdenmängel Hat ihn der Herr geſandt. An feinem Blid ift Frieden Und milde fanfte Huld O folg’ ihm ſtets hienieden Dem Engel der Geduld.“

Oftmals verjchleierten fich ihre Augen unterm Schreiben, fie. wiſchte fie mit der Hand und merkte nicht, daß ihr Thränen aufftiegen. Einmal gingen Schritte an ihrer Thür vorbei, da erglühte fie heiß und wollte Alles zufammentwerfen. Aber fie gingen vorüber, und das letzte Wort der Verſe ftand fertig da. Was nun meiter? Sie bejann ſich lange, jchob ihr Briefblatt auf dem Fyenfterfims bin und her und ſah dabei gedankenlos hinunter in den Heinen Krautgarten, wo die Stangenbohnen noch feuerroth und weiß blühten und aus den friſch begoffenen Salatbeeten ein feuchter Erddunſt emporftieg. Ein Brief follte dies ja auch nicht werden, nur wiſſen jollte er, daß fie dies ſchicke. So that fie denn mie bei den Stammbuchverſen, die fie manchmal hatte jchreiben müffen. Sie malte vorfichtig darunter: „Zum Andenken an Marie Deininger.“ Bei ihrem Namen verfuchte fie einen fühnen Schwung anzubringen, aber die Feder ſpritzte in ihrer ungeübten Hand und verjprühte einen ſchwarzen Tropfenregen um die Unter ihrift. Voll Bekümmerniß ftarrte fie das Unheil an, zweifelnd ob fie nicht noch einmal Alles abjchreiben folle. Aber es wurde ſchon dunkel, die Zeit hätte nicht ausgereicht, und morgen gab es twieder jo viel zu thun. So jchob fie denn das

!) Halsband.

Was Gottes Wille ift. 187

mißglüdte Schriftftücf mit einem halben böjen Gewiſſen in ein vergilbtes aber leeres Couvert, da3 einzige, da3 fie befaß, und überlegte die Adreſſe. Die ift num ſchwer zu finden, wenn man feinen Namen weiß! Sie hätte fi) wohl be— fragen können, aber da3 war ihr zuwider, fie wußte felbft nicht recht warum. So ſchrieb fie denn einfach: „An den jungen Herrn Schreiner wo beim Schreiner Diez zur Aushilf iſt.“ Mit der Poft freilich wollte fie nichts zu thun haben, nein, fie mußte ihren Brief jelbft abgeben. Aber wie? Sie beſann ſich darüber die halbe Nacht lang; früher noch als jonft war fie am Morgen aus dem Bette. Mit heigen Wangen und Elopfendem Herzen jhlich fie Hinüber nach der Schreiner- werkftatt. Dort war es noch ganz ftill. Sie ſchaute duch die ftaubblinden Fenſter in die ebenerdige Werkftätte, Niemand war darin. Das machte fie dreifter. Sie rüttelte ein bischen an den Fenfterflügeln. Da, einer war nicht ganz ge= Ichloffen worden in der warmen Naht, er ließ fih aufftoßen. Die Dreh: bank, an der fie geftern geftanden, two ihr der fremde arme Menſch jeine traurige Liebesgefchichte erzählt Hatte, ftand nicht weit vom Fenſter. Wenn fie recht vorfichtig zielte, Eonnte fie ihr Briefchen vielleicht bi3 dahin werfen. Aber ihre Hände zitterten, und fie warf ungeſchickt, da lag ihr Zroftlied zwiſchen den Hobeljpähnen unter der Drehbank! Mit langem Halſe fpähte fie hinein, beide Hände auf das Fenſterſims geftüßt, alle Vorficht vergeffend. Da knarrte eine Kammerthür, und ihr grad gegenüber trat in die Werkftatt der junge Schreiner mit den weißen Hemdärmeln, ganz jo wie fie ihm geftern gejehen. Ob er fie er— blickt? Es fuhr ihr der Schreden fo in die Glieder, daß fie nicht einmal auf- ihrie, jondern fi) plößlih unterdudte wie ein wilder Vogel; dann aber nahm fie fi zufammen und jprang jo flint davon, wie fie feit ihrer Kinderzeit nicht mehr gelaufen war. Die Fenſter der Werkftatt gingen auf den Nedar hinaus; wenn fie um die Hausecke lief, konnte fie nicht mehr gejehen werden. Aber fie hielt nicht an, fie eilte ſogleich bis nach Haufe und ward erft ruhig, als fie wieder in der Eleinen dbumpfen Hammer war, wo Madele mit Rofen auf den Baden noch feft ſchlief. Eilig, ald gelte e8 ein Unrecht wieder qut zu machen, ging fie in die Küche und zündete Feuer an. An der Thür des Holzftalles begegnete ihr Paile, der fie verfchlafen und verwundert fragte: „Wo bijcht no jcho in aller Gottsfrüeh gwe?“

Das Mädchen trat einen Schritt zurück fo hatte Paile fie gejehen?: „Jmein', 3 könnt Dir eis ſei,“ jagte fie, aber fie war doch etwas befangen.

„Haft ſcheint's Dein Schatz b’jucht!” nedte Paile.

„J han kein Schaf!” rief Mariele Haftig, „ſchwätz net ſo domm raus!“

„Aber i ben ’3 doch? i bin doch der Deinig’, gelt?” meinte Baile mit einem Verſuch fie zu umfafjen.

„Du,“ jagte Mariele jeine Hand zurüdjchiebend, „Du wirſcht bald mei Ma’, wenn's Gott's Wille iſcht, deicht eppes anders,“ ſetzte fie hinzu.

„Ha,“ brummte Paile, „e gute Ausred’, ifcht drei Babe werth. Wo bifcht no big’loffe?“ Sein Gefiht nahm einen mürriſchen, mißtrauifchen Ausdrud an.

In dem Mädchen ftritten Troß und Offenheit: „Beim Schreiner ben i give,” jagte fie zuleßt, „jez wirſcht beruhigt fei, gelt?“ Damit verſchwand fie im Holz: fall und rumorte dort drinnen unter den Scheiten, ala tolle fie fich ſelbſt nicht

188 Deuiſche Rundſchau.

hören, denn ihr Herz klopfte beflommen und doch froh, wie es ihr noch niemals gefehehen war. Den ganzen Tag jah fie die Stühle und Bänke im Haus darauf an, ob fie auch ganz und feiner Reparatur bedürftig jeien. Ya, es waren einige Schäden da, die längft hätten ausgebefjert werden jollen. Aber dann twagte fie doch nicht, fie zum Schreiner zu tragen, vor der Thür noch kehrte fie um.

Am nächſten Morgen fand fie auf dem Sims vor ihrem Kammerfenfter draußen ein Sträußchen Liegen, Rojen und Rosmarin. Mit bebenden Händen fterfte fie ’3 unter ihr Halstuch, es war ja nur für fie, e8 jollte Niemand andres jehen. „Das ift für das Lied,“ dachte fie, „ad, wenn 's ihn nur recht getröftet bat!“ Und fie hätte ihn jo gern gejehen, aber ſie dachte, e8 wäre doch ganz un- möglich, daß fie noch einmal in die Werkftatt ginge.

Am folgenden Tage lag wieder ein Sträußchen auf dem Fyenfterfims, und jo fand fie nun täglich eins, zivei Wochen lang. Einmal, als fie mit Mabdele vom Felde kam, die Hade über der Schulter, begegnete er ihnen; er jah io fauber und wohlgefleidet aus und grüßte jo höflich mit dem großen braunen Strohhut. Da ward e8 ihr heiß und bange, denn fie war beihmußt und erhikt von der ſchweren Arbeit, fie hatten den ganzen Nachmittag Schollen geklopft. Es jah aus, al3 twolle er auf fie zutreten, zögere aber, Madeles wegen, die ihn keck mufterte.

„Hier ums Ed,“ ſagte Marie und zog ihre Schwefter ſchnell mit fich fort.

„Dummes Ding,” entgegnete Madele unwirſch, „wie wenn der jaubre Bub beiße thät’! Er ijcht jo beim Diez drunte, Wilhelm Heißt er, aber Du biſcht immer ei’blättlet wie e Raup’, mit Diar fa’ mer von fo was garnet rede.“

Marie hörte aufmerkſam zu und vergaß darüber zu antworten. Wielleicht wollte fie audy nicht. Madele plauderte weiter: „Schad, daß er e Schreiner ijcht, und Geld hot er kei's, jagt dem Diez fei' Beth"), ſonſcht thät er mer afalle! Buet! D’ Beth thät en au nehme, glei, aber je jagt, 3 Maul jei em fait zug'wachſe, ſchwätze thät er faſcht nex.“

„D' Beth iſcht argwüeſcht mit exe fchelfe?) Auge,” warf Mariele hin.

Tags au!“ lachte Madele, „bei miar ſollt ex ſcho rede, i probiers emol.“

„J glaub gar! willſcht eppe?) em Bube nadjlaufe?“ rief Marie zornig und erſchrocken.

Aber das ſtörte Madeles Uebermuth nicht im geringſten. „Von nachlaufe iſcht kei Red',“ lachte fie, „bloß ſehe, ob em 's Maul wirklich zug'wachſe iſcht! 's wäre ſchad für en, jo e Bild vome Buebe.“

Kaum hatten ſie ſich daheim geſäubert und erfriſcht, ſo ergriff Madele einen zerbrochenen Stuhl und rannte unter übermüthigem Lachen aus der Stube. „Hand, Hand, beiß mi net! Zahn, Zahn, verreiß mi net!” rief fie Marie zu, die mit zufammengezogenen Brauen daftand, unſchlüſſig, ob fie fie nicht zurüd- balten jolle. Ja, warum denn? Madele war zwar ein ausgelaffener Wildfang, aber daß fie fich frech betragen würde, da8 war doch nicht zu glauben. 63 dauerte ziemlich) lange, bis Madele zurüdtam, wenigftens für ihre Schwefter. Sie war nicht ganz jo aufgeräumt wie vorher, fondern machte ſich zuerft über den Moftkrug; der September brachte noch immer heißes, durftiges Wetter.

1) @lifabeth. 2) fchielend. 3) etwa.

Mas Gottes Wille ift. 189

„Häa?“ fragte Marie zulekt, und machte ſich an der Tiſchlade zu ſchaffen, die fie aufzog und langjam wieder einjchob.

„Häa?“ gegenfragte die Kleine, als ob fie gar nicht wiffe, was man von ihr verlange.

„Haſcht en g’jehe?" Langjam zog Marie die Schieblade wieder auf.

Madele nickte. „Worum net?”

„Was hot er ala g'ſchwätzt?“

„Ha, wa3 mer halt jo ſchwätzt!“ erwiderte Madele lachend. „Vom Haus und em Better und em Paile und em Mohrle.“ Mohrle jprang bei Nennung jeines Namens ſchwänzelnd an feiner Herrin empor. „Wann er e Gütetle hätt,“ jagte fie nachdenklich, „no künnt mer mit em rede, er g’fallt mer recht guet.“

„Weiſcht au, ob Du em g'fallſcht?“ meinte Mariele etwas ſcharf.

„Ba, i denk ſcho! i ben e args netts Mädle,“ rief Madele unſchuldig.

Am nächſten Morgen lag kein Sträußlein auf dem Fenſterfims.

Mariele blickte traurig auf die leere Stelle, ſie wußt' es gleich, nun würde nie wieder eins kommen. eben Abend hatte fie das welke, das fie Tags über heimlich an fich getragen, in ihr Schächtelchen zu ihren Kinderichäßen ge- than; fie lagen ſchon hoch aufgehäuft darin, und jedes Blümchen hatte eine Freude bedeutet. Nichts auf der Welt hatte fie bis jetzt fo erfreut wie dieſer ftille Gruß. Aber es war wohl eine Sünde, dachte fie jet. Auch, daß der Geber ihr jo gut gefiel, jeine grade ſchlanke Geftalt, feine janften Augen, feine rothen Lippen, feine artigen Manieren, jelbft jeine Trauer und feine Thränen. Der Teufel geht um in allerlei Geftalt, da3 wußte fie genau; grade das, was und gefällt, ftammt oft von ihm, ift eine Verſuchung zum Böfen. Sie hatte zwar nod nicht viel Böſes gethan, aber fie Hatte doc Augen und Seele an ihm geweidet, dachte fie, ſonſt hätte fie nicht jo viel Unruhe und Angft gefühlt, hätte ſich nicht gefcheut, jeinen Namen zu nennen oder von ihm zu ſprechen. Das war unrecht geweſen. Dort vor dem leeren Fleck auf ihrem Sims betete fie mit tiefer Inbrunſt, daß Gott ihre Seele von ihm abwenden möge, und dazwischen fühlte fie mit brennen- der Freude, wie lieb er war, wie nah und wie lieb, und daß fie ihn gar nie twieder vergefien fünne.

Am nächſten Tage ward fie mit Paile zum erften Mal von der Kanzel „ge= worfen“. Sie ſaß jo, daß fie den Vetter deutlich jehen konnte. Er hatte noch immer dasſelbe ſommerſproſſige dummkluge Geficht wie al3 Bub. Kein Bruder fonnte ihr vertrauter ſein. Als jein Name genannt wurde, richtete ex fich ftraff auf, wie ein Schulfnabe, den man aufruft, oder war’3 von der Soldatenzeit her die Gewöhnung beim Apell. Verlegen jah er nicht aus, cher etwas proßig. Der Prarrbauer war einer der begütertften in Hofen.

Am Nahmittage jagte Madele mit aufgeworfener Lippe: „Der Wilhelm ifcht nemme do, er häb älleweil in Stuegert z'ſchaffe, jagt d’ Beth; no, mir Fa’ ei's ei, er iſcht, ſcheints, ſo e Dockelmauſer.“ Und als Marie nicht antwortete, fuhr fie fort: „Er Hot kei’ Mädle a’führt, aber doch hot er e heimlichs Schäßle ghett. Sträußlen hab er brodt!) in aller Fruh und hab je forttrage, ſagt d’ Beth.

) gepflüdt.

190 Deutiche Rundſchau.

Se hab3 zweimal g’jehe. No hab je 's em g’jagt, no Hab er fer Anttvort gebe! jo e Dodelmaufer!”

Mariele hatte fi) tief auf ihre Nähterei gebüct, Trauer und heimliches Lächeln, Erbleihen und Erröthen wechſelten auf ihrem Geficht; fie war froh, daß der Water hereinfam und Madele abbrach.

Einige Wochen jpäter fam der Sonntag ihrer Hochzeit.

Mariele hatte dafiir gekocht und gebaden, nad) Brauch und Recht. „Se madt immer glei e Schwenftwannen voll,“ jagte der Pfarrbauer zu jeiner Schwägerin, mit der er fi) bejonder3 qut verftand. Urſchi ſah noch gelber aus al3 gewöhnlid. Sie war ein paar Wochen lang Trank geweien. „J Han jo g’moint, i fomm do 'naus, uf d’ Kirchhof,“ ftöhnte fie, wie fie langjam zur Thür herein ſchlürfte und ſich jchwerfällig niederfallen Tief. Die Bank ächzte unter ihrem Gewicht. „'s jcheint aber, mer will mi no net,“ fügte fie mit ihrem ungernen Lächeln hinzu.

„Nei, Du bifcht noch z' böſ'!“ rief Madele nedend; der Ohm lachte beifällig, aber Urſchi ſah fie nicht eben freundlich an.

„Du biſcht a'putzt wie 's Dödele!) us 'm Lade,” jagte fie, „mer fieht faſcht net, wer d' Braut ifcht von ich zwoi.“

Marie ſah bleih und müde aus, fie hatte die ganze Nacht Teig gerührt, zu Gugelhopfen und Kranz und „Wefzgenejcht ?)," dann morgen? um vier jchon Alle zum Bäder getragen; Madele hatte zwar geholfen, aber fie war doch die An- ordnierin vom Ganzen. Freilich war's ihr eigener Wille jo, fie wollte durd: aus nicht, daß die Hochzeit in Urſchi's Haufe in Fellbach ausgerichtet werde, und Madele Hatte ihr Eräftig beigeftanden. „An dere Sauwirthſchaft könnt i net e Bröckle eſſe,“ jagte Madele, jo deutlich wie möglich, nad) ihrer gewohnten offenen Art, und ganz unbekümmert darum, ob Paile etwa ein Geficht Hinmache, wenn er da8 fiber fein Elternhaus höre. Aber Paile machte gar kein Geficht; er fand e3 viel bequemer, zu bleiben, wo er jpäter wirthichaften ſollte, und jeine Eltern hatten erſt recht nichts dawider. Ein bischen lang wurden ihre Mienen freilich, als der Pfarrbauer fich die Koften auf Heller und Pfennig zurüdzahlen lie für die Anftalten, erft daheim, und fpäter im Sternwirth3haus; aber Urſula's Hoc: achtung dor dem Schwager wuchs eigentlich noch bei diefem Beweis feiner zähen Kargheit.

„Der iſt profitlich!“ ſagte ſie bewundernd zu ihren Söhnen, den Strobel⸗ köpfen, „jo müeßt er3®) au mache. J moin’ faſcht, er habs von meiner Muetter, aber er hot ſe ja nemme g'ſehe! 's iſcht en args bravs Weib g'we, mei Muetter ſelig. Was net ſchlechter iſcht als e Laus, des müeßt er vom Bode ufhebe, hat ſe g'ſagt. Aelle Täg hat je des g'ſagt.“ Die Söhne kannten dieſe appetitliche Haushaltsregel ſehr wohl, denn auch ſie bekamen ſie alle Tage zu hören; ſie gähnten, ohne die Hand vor den Mund zu halten, aber ihre Augen fuhren glei” wohl gehorfam jpähend in alle Winkel der Hochzeitäftube, denn eben hier war es, two die Unterhaltung ftattfand. Auf den Wandbänten und den Stühlen jaß es voll von Gäften; die jüngeren ftanden in den Eden beifammen, aber Buben

1) Puppe. 2) Weſpenneſt. 3) ihre.

Was Gottes Wille ift. 191

und Mädchen getrennt. Die Meiften jahen unbehagli aus, in ihren ſchwarzen Treiertagskleidern, nur die älteren Männer mit ihren dampfenden Pfeifen und die alten Frauen mit ihren Gefangbüchern hatten jenen ruhigen Gefihtsausdrud, der beweift, daß man eine Sache ohne Gemüthserregung an fi fommen läßt. Dieſe ſprachen fleigig dem Wein zu, den die Mädchen umhertrugen, abgeftellte Gläſer, Geſangbücher, Sadtücdjer, und hie und da ein Blumenftrauß lagen zwiſchen den Schüffeln voll Gebäd auf dem Tiſch und den Fenſterſimſen. Aus der Mädchen- ee tönte manchmal ein Kichern, dann ſchloß ſich das Häuflein dort dichter zu— jammen, und wenn gerade Madele de3 Wegs kam, ward fie lachend mit in den Kreis gezogen. Mariele mußte immer an der Mutter Begräbnißtag denken, jeit jenem Tag war es das erfte Mal, daß fo die ganze Verwandtichaft hier verfammelt war. Dann ftörte fie faft das Kichern au3 der Ede, als etwas, das doch damals nicht geweſen war. Die und da hörte fie auch die Stimme ihres Vaters, die hatte damals geſchwiegen, nun knarrte fie, ganz wie feine börnerne Schnupftabatsdofe beim Aufdrehen, unter den anderen Stimmen hervor. Er erklärte joeben, daß er feine Muſik, feine Bläfer und Geiger vorauf gewollt babe: „'s ko'ſcht glei weiter und in Stuegert fieht mer de3 au nemme.“ Der Pfarrbauer war jehr für den Fortſchritt, wenn Fortſchritt billiger war. Der Vater de3 Bräutigam war hinausgegangen, „d’ Säu a’jehe.“

„No ka'ſcht glei dei Paile mit a’jehe,“ rief ihm Madeles fpikiges Zünglein nad, „der iſcht Älleweil noch am Miſchte'.“

Paile hatte ſich allerdings noch nicht blicken laſſen; es war ihm nichts ärger, al3 von der ganzen Verwandtſchaft angegafft zu werden. So machte er ſich da und dort zu thun, um draußen den Augenbli zu erlauern, two der Aufbruch zur Kirche ftattfinde, und fi dann ohne viel Worte dem Hochzeitszuge anzufchließen. Diadele hatte ihn aber gejehen und ihm ein jcharfes Wort überd andere gegeben. Mit der Kinderfreundichaft zwijchen den Beiden war es aus, wie mit dem Ver— trauen zwiſchen den beiden Schweftern. So unfroh wie jet war da3 Haus faum nad) der Mutter Tode geweſen.

Der Ohm fam wieder herein in da3 heiße Zimmer und rief duch die grauen Tabakswolken, daß es nun Zeit jei. Hinter ihm folgte auch Paile, ſehr toth gewaſchen, auf der Stirn eine Molke, vielleiht von Madele's Sticheleien her, übrigens trat fie jet an ihn heran, um ihm den Bräutigamzftrauß an den Rock zu Heften. Doc hätt’ e8 um ein Haar nod einmal Streit gegeben. 63 fiel ihr nämlich ein, ihn auch an der Halsbinde zu zerren, mit dem Bemerfen, „was weiß en Ochs, warın Sonntag ijcht!" und fie loszufnüpfen. Nun hatte aber eben dieſe Halsbinde dem Paile heut ſchon eine Stunde lang Elend gemacht, darum jchlug er Madele grob auf die Hand, und erft Mariele gelang es, ihn zu bejänftigen. Doch grollten Beide nod) eine Weile fort, und jelbft auf dem Wege zur Kirche ſahen fte ſich mit gerungelten Stirnen und feurigen Augen an, jo daß eine der Brautführerinnen Madele anftie und ihr zuraunte: „Geh, Made, mac e Zörnle.“ Aber auch das alte Kinderwort brachte fie nicht mehr zum Lachen, Madele's Natur fchien gänzlich ins Säuerliche umgejchlagen.

Mariele trat wie im Traum in die Kirche, erft als die liebe vertraute Stimme de3 Pfarrers an ihr Ohr ſchlug, fahte fie fi zufammen und zwang

192 Deutiche Rundſchau.

fih, aufzumerfen und fein Wort von der Predigt zu verlieren. Der einzige Gedanke, der Har in ihrem Kopfe ftand, und fie bi3 vor ben Altar begleitet hatte, war der: „Weil’3 Gottes Wille iſt.“ Wenn das Bild bed Andern ſich eindrängen wollte, jedesmal hatte fie'3 zur Abwehr gejagt: „Gottes Wille.“ Und dann Hatte fie nachgeſonnen und fich Alles gründlich überlegt, „'s iſt meines Dater Wille, aber dem ift’3 um den Paile, weil er feinen Sohn Bat, umd der Paile Tann jchaffen für drei, und thut’3 auch; 's ift meines Oheim's Wille, aber dem ift’3 um mein Güetle; ’3 ift Urſchi's Wille, aber die will’, daß ihre Söhn’ auch erben; 's ift Paile's Wille, aber dem iſt's halt auch um's Güetle; aber '3 ift meiner todten Mutter Wille, und die hat mich gern gehabt, und aljo iſt's auch Gottes Wille, und was Gottes Wille ift, das ſoll auch mein Wille fein.“

Nun ſpannte fie alle Seelenskräfte an, um zu horchen, ob das nicht Alles mit des Pfarrer3 Morten zufammenftimme Sie heftete ihre großen übernäd: tigen Augen feft und fragend auf fein gutes mildes Antlig, und er jah es wohl, und bald war’, al3 rede er für fie allein, eine jo lange Traurede war ihm jelten auf die Lippen gefommen.

Er redete von der Liebe. Won jener höchften, die ihr Leben ließ für ihre Brüder, daß fie daran erfennten und erjähen, wer die größte Liebe habe. Und dann ging er über auf die Liebe in der menſchlichen Gemeinſchaft, und ſprach, daß er eine treue Tochter vor ſich Habe, die wohl wife, was es ſei um bie Mutterliebe, die da wache und jorge, jelbft über? Grab hinaus, und die aud für fie gejorgt, daß ihre Liebe, die fo früh der Tochter habe fehlen müſſen, erjegt werde durch die and’re, die eheliche Liebe und Treue, indem fie jelber den aus gewählt, der einmal ihre Marie heimführen jolle.

Marie holte tief Athen, es ftimmte Alles. Freilich, fuhr der Pfarrer nad) drüdlich fort, heiße es bei aller Menſchenſorge: der Menſch denkt, Gott Ientt, bier aber jei e8 zufammengetroffen. Gott habe zum Willen der Eltern jeinen Segen gegeben, habe die Herzen der beiden jungen Vertvandten einander zugeneigt, daß fie fi) gern hätten, jo gern, daß er fein ander Weib und fie feinen andern Mann begehre. Dafür jollten fie ihm danken inniglid.

Marie war erblaßt, fie ſah noch immer den Pfarrer an, aber fie hörte nicht mehr, was ex ſprach; bei feinen leßten Worten war ihr etwas Neues, Uner⸗ twartetes aufgegangen. War e3 jo mit ihr, wie der Pfarrer fagte? und wenn e3 nicht jo war, war es dann auch noch Gottes Wille? Dem Bräutigam ward die Trauformel vorgeſprochen: „Hierauf frage ih Euch,“ aber fie erwachte erft aus ihrer Grübelei, als Paile's Stimme dicht neben ihr das „Ja“ ſprach, das ihr dumpf durchs Herz dröhnte. Und nun fam fie an die Reihe; aber fie folgte den Worten nicht, ins Leere gingen ihre Gedanken, ihre Blicke glitten an den Geiftlichen vorüber, und plötzlich Hafteten fie ſtarr und verzückt auf einer Ede hinter dem Altar, two ein fehmerzverzogenes bekanntes Gefiht wie aus der Wand hervor, angſtvoll auf fie ftarrtee Woher kam der auf einmal? Und warum blidte ex jo erjchroden, als ſei fie das Rikele, und werde hier vorsfeinen Augen aus dem Fenſter ftürzen? Ein Schauder lief ihr über den Rüden. War das Gottes Wille? Konnte das Gottes Wille fein, daß fie den Paile zum Manne nehme, und der Andere ftehe dort in der Ede und jähe aus wie der Tod;

Was Gottes Wille if. 193

und wenn ihr da3 weh thue im Herzen, ſei e8 wohl gar Sünde? Sie jeufzte laut auf, ihr Geſicht überzog ſich mit Leichenbläffe; fie wankte und taftete mit der Hand nad einem Halt.

„So beftätiget die vor Gott und diejen Hriftlichen Zeugen mit einem aufs richtigen Ja,“ jagte der Pfarrer, und jah fie forjchend und feierlih ar. Mariele bebte nicht mehr, nur ihr Herz zitterte ihr in der Bruft beim Laut ihrer eigenen Stimme: fie hatte „Nein“ gejagt.

„Was? was war dad? Nein?" Ein unruhiges Gemurmel lief durch bie Berjammelten ; der Ohm Bärenwirth rüttelte den Pfarrbauern, der eben tief in einer Berechnung des guten Herbftes ſteckte, rauh am Arm und ſchrie: „'s Mariele jagt Noi!” und „'s Mariele jagt Noi,“ pflanzte fich's weiter fort durch die Kirche, und Berwunderung und Verftörung malte fih auf allen Gefichtern. Paile, mit glührothem finfterem Geſicht murmelte: „Herr Pfarrer, je will mi net;“ Urſchi ballte die Fauſt in die Luft, und der Pfarrbauer mit dicken Zornadern auf der niedrigen Stirn fuchtelte mit den Armen, al3 wolle ex ſich thätlich an der Tochter vergreifen. Da bdonnerte plößlich die Stimme de3 Pfarrers: „Ruhel” und ala jofort Stille eintrat, fuhr er ganz ohne Zorn, aber auch ohne Freierlichkeit, in väterlichen Halbleijen Tone fort: „Madele, williht Du en?“ ")

Jo!“ jchrie eine helle jchluchzende Stimme, und im Nu fühlte fi) Mariele, die Alles wie ein Lamm über fich ergehen ließ, von den Füßen, und zurüd zwifchen die wüthenden Alten gejchoben, und an der verlafjenen Stelle, neben dem Paile, ftand Mabdele, jo bereitwillig, mit jo freudigrothen Baden, als ſei fie von jeher zu diefem Werk entjchloffen gewesen.

Ueber de3 Pfarrherrn Geficht ſchoſſen humoriſtiſche Lichter. Er ſprach nur noch ein Gebet, während Mariele ihrer Schwefter den Ring zuftedte, daß fie ihn mit Paile wechſele. Dann war die Freier beendet. Der Pfarrer verſchwand in der Sakriſtei; laut redend und lachend verließ das Traugefolge die Kirche. Noch hatten fi) die Neuvermählten feinen Blick zugeworfen; kaum aber traten fie aus der Kirchenthür, als Paile fih langſam umtmendete und das Dtadele ins Auge faßte, ala hab’ er es noch niemals gejehen. Und plößlich jauchzte ex auf, daß es jchallte: „Io! Mädle, mer zwoil* und er hob fie vom Boden auf, ſchwenkte fie hoch herum und feßte fie erft nieder, als fie ihn bittend, aber beharrlih, und mit ſchamrothem Gefichte an den Obren 309.

Nun begann ein lautes Freudengeſchrei. „Jo!“ riefen die Burſchen; mit Gelächter und Händeklatſchen antworteten die Mädchen, und hoben fich auf die Zehen nach dem neugebadenen Paar. Es ward ein Hüpfen und Springen, als folle der Tanz ſchon mitten auf der Dorfgaffe anheben. Und woher fam nur die Mufit? Auf einmal war fie da, ganz wie gerufen, und die Geigen fraßten, die Flöten jubilirten, und unter dem fröhlichften Hochzeitsmarſch zogen die Jungen in den „Stern,“ aus deſſen dichtichattigem Garten ein luftiges Vogelgezwiticher ihnen entgegentlang.

Die Alten freilih gingen als ein unheimlich geringelter Drachenſchwanz hinter dem luſtigen Volke drein, mit Groll und Empörung und gottjeliger Ent—

') Hiftorifch.

Zeutihe Rundſchau. XVI, 8. 13

194 Deutſche Rundichau.

rüftung über jolden Einbruch in den heiligen Ernft der Kirche und des väter- lichen Willens. Am lauteften ſchürte Urſchi, aucd gegen den Pfarrer, der den Ungehorjam unterftüßt, ftatt ihn gebührend zurechtzuweiſen. Das jollte man ana Gonfiftorium melden, da würde man dem Herin Pfarrer feinen Maien ftefen, eiferte fie jet hab’ der Paile das Madele, die Schnäpperbüdhs am Hals, und Fein Güetle dazu, denn das ſei doch der Nelteften, nad) wie vor; jetzt folt’ der Pfarrbauer nur ins Ausdinghäusle boden, daß das Mariele ber Schweſter auszahlen könnt. Warum der Paile, der Dilledapp, fich nicht gewehrt habe, daß ihm der Pfarrer das Madele angetraut?

Der Paile und ſich wehren! eben flang jein Juchzer durch Urſchi's Rede: ftrom. Der PBaile war noch nie jo froh geweſen wie heut. Verwandelt war der Burſch, der bedädhtige, nicht leicht aus dem Gleihmuth Gebrachte heut war er jung und audgelaffen, twie er es faum ala Bub geweſen. Aus allen Ecken tönte Madele’3 Lachen und Scelten; fie fonnte ſich faum jeiner eriwehren, immer wollt’ er den Arm um fie legen, immer fte an feiner Seite haben. Was kümmerte ihn das Schreien und Fluchen der Alten, die fich nicht jcheuten, laut dazwiſchen zu fahren, weil man die Sad)’ vielleicht noch rüdgängig machen könne. Das glückliche Paar lachte fie aus, that der Urſchi jogar den Aerger an, die Strobel: köpfe gänzlich) auf feine Seite herüberzuziehen, bie folgfamen Söhne, von denen fie den einen in Gedanken, wenn Alles vecht gegangen, ſchon mit Madele verheirathet und neben Paile auf dem Deiningergüetle gefehen hatte. Gleich Licht: jcheuen Verſchwörern zogen fich die drei Alten in ein dunkles Hintergimmer im „Stern“ zurüd, mit der Ausficht auf die Dunglege und den Hühnerftall. Cine ungezählte Menge Sppoppen, die hineingetragen wurden, und je und je ein lauter Wuthausbruch bezeichnete ihren Schlupfwintel.

An der andern Seite de3 Gartens, unten am Abhang gegen den Nedar, gab e3 eine abgelegene Laube, und dort ſaß Mariele. Sie war no in ihrem ſchwarzen Brautfleide, aber den Kranz hatte fie Schon vor dem Altar abgenommen und ihrer Schwefter auf3 Haar gedrüdt. Die Hände vor fich auf dem morſchen Holztiſch gefaltet, den Kopf etwas geſenkt, ſaß fie nachdenklich da, fich befinnend, was nun ihr Schiejal fein werde in dem Haufe, aus dem fie fich jelbft vertrieben hatte. Bertrieben, das wußte fie qut genug, und der Water hatte ihr's ja aud noch in der Kirche zugeichrien: „So Einer gehöre ein Betteljad, er laſſe ſich nicht länger zum Narren halten, von jo Einer.“

Traurig aber war ihr nicht zu Sinn, jondern gehoben, ftark und frei: „Und jetzt weiß ich auch, wie 's dem Rifele zu Muth war, da '3 aus dem Fenſter fiel,“ dachte fie, und ein heimliche Roth ftieg ihr in die Wangen.

Indem trat Madele herein und ſetzte fild neben fie. Auf ihrem Schelmen- gefihtchen ftritten Weinen und Laden. Sie nahm Mariele'3 Hand, lehnte ihre Bade darauf, und eine warme Thräne tropfte aus ihren Augen. „O weger, Mariele, jez iſch letzt), der Vatter jchreit, wer de Paile häb, der joll au’ '8 Güetle han; jez bijcht um Aelles komme und i han's g'wunne.“

1) ſchlimm.

Was Gottes Wille ift. 195

Marie warf einen betrübten Blick nad) der Gegend, two ihr Vaterhaus lag, das Haus ihrer fteten Sorge und Mühe aber fie jagte gefaßt:

„Jhan mers denkt, Madele, 's iſcht ſcho recht, i widerjeg mi net; Gott'swille geht vor Menſchewille.“ Nach einer Pauſe fuhr ſie fort: „Haſcht aber em Paile net e biſſele z' ſchnell Dei Jawort gebe? J ben faſt verſchrocke drüber"

„O, der Paile iſcht mer lang ind Herz 'nei bache!)“, rief Madele betheuernd, „und i dank Dir ebe recht, daß Du en net g'nomme haſcht.“ Und ſie fiel ihrer Schweſter um ben Hals und küßte fie feurig. Das war ſeit Kindertagen nicht zwijchen ihnen gejchehen. Wie von einem plößlichen Licht erleuchtet, fagte Marie:

„Gelt, jez bin i nemme Dei Stiefmutter?“

„J ben recht wüeſcht give,“ flüfterte Madele beihämt und drüdte ihr die Hand. „Ha, do fommt der Paile, er ſucht mi als; ex iſcht no a biffele wild, weil Du em e Nein gebe hafcht, und er iſcht jo dag’stande wie e pappeter Jeſus, ade derweil, i hol Dir eppes 3’ efje und z' trinke.“

Mit Lächeln blickte Mariele ihr nad, wie fie Paile entgegeniprang. Sie verftand die Mleine mit Hülfe ihres eigenen Gefühle. „So alſo iſt's,“ dachte fie, „das Gernhaben ift Gottes Wille, und da muß man folgen; two aber fein Gern» haben ift, da will Gott nicht, daß Zwei zuſammenkommen!“ Und fie verjant in Staunen darüber, wie herrlich Alles geordnet fei; und dankte Gott inbrünftig, daß er fie hatte Nein jagen laffen. Dann blidte fie durch die Zweige ihres grünen Verſtecks und hatte Freude an Allem; an dem ziehenden Fluß, über dem in der Ferne duftiger Nebel aufftieg, an dem jpiegelnden Wehr und dem abend» lid vofigen Himmel; an den fruchtfchweren Rebftöcden in den Weinbergen; ja ſogar an ben vielen Herbftzeitlofen, die den grünen Raſen lieblih mit ihrem zarten Lila überftreuten. Sie find zwar giftig und ein ſchwer zu vertilgendes Un— fraut, über da3 der Water und der Schulmeifter oft genug ihren Zorn ergießen, aber da3 Auge weiß davon nichts, und Hat fie nicht auch Gott gemacht? Der Bater hatte ja auch ihre weißen Sterne und Lilien nicht leiden können, und vieleicht find die auch Gift für die Ziegen und Kühe. Es wächſt doch nicht Alles nur dazu, um von dem Vieh gefreffen zu werben. „Auf dem Lande ift’3 halt fo,“ dachte Marie, „wär's nicht um die Stuttgarter, die immer da herausfommen, fie hätten auch die Ruine oben im Sterngarten ſchon längſt heruntergerifjen. Aber ich hab's ja jelbft gehört, wie ein Herr zum Sternwirth gejagt hat, das ſchlanke graue Mauerwerk ſollt' ex in Ehren halten, Wein, aud) guten, gäb’3 vieler Orten, aber die Ruine hier am Nedar, das jei recht das Wahrzeichen von Hofen, jo etwas jei ſchon jeltner. Und,“ dachte Marie, „'s ift auch wahr, Fellbach bat feine, und ’3 wär ſchad dafür, wenn fie nimmer da ftände, und two jollt’ naher dad Grüntöffele geiften gehen, das jo viele Leut durch die Mauer haben aus⸗ und einjchlüpfen jehen, mit ihrem Schleppfleid und dem goldenen Schäpple und den jpißigen grünen Schnabelſchuhen, nad denen man e3 benannte.“

Und weil ihr Herz erlöſt war und ihre Augen müde, jo legte Marie den Kopf auf die Arme und jchlummerte leicht ein, und ihr träumte, fie fähe das Grüntöffele aus der Mauer hervorgehen und winken. Es winkte mit einem

1) eingebaden. 13 *

196 Deutihe Rundſchau.

goldnen Schlüffelbund, das fie in ihrer weißen Hand hielt. „Findſt en Schaf,“ fagte das Geiftchen; es war nur halb jo groß wie ein Menſch; fein Geſicht war fpib und weiß und rungelig und feine Stimme ganz hell, wie ein Flötenton.

„Sa, Gria’töffele, wo denn?" fragte Marie verwundert. Da faßte das Geifthen fie an der Hand, daß fie in die Höhe fuhr und ſich umſah. Es war halbdunkel geworben; in ihrer linken Hand ftedte ein Sträußchen, das ihr in bie Naſe duftete. Und neben ihr jagte Etwas: „Grüeß Gott, Mariele.“

Ein bischen unficher und noch halb im Traum eriwiderte fie: „Grüeß Gott, wer iſcht do?“

„Du kennſcht mi ſcho,“ jagte die Stimme leife und zutraulich, eine tiefe Stimme, nit wie die vom Grüntöffele, Marie erkannte fie und verftedte ihr Geſicht in das Sträußchen, obgleich fie gar nicht zu jehen war; trotzdem wußte fie num ganz gut, wer da vor ihr am Tiſche ftand.

„J wollt froge, Mariele, worum haſcht aber Nein g’fagt in der Kirch?“

„J han en halt net gern, nur jo —“ erwiderte fie mit zitternder Stimme. Eine Paufe folgte. Dann Klang e8, aber zaghaft und Eleinlaut:

„Mariele, i han e ſchweres Herz und e leichte Beutel, aber därf i morge wieder Sträußle brocke?“

„J gang in d’ Stadt, in Deenjcht,“ flüfterte das Mädchen.

Wieder eine Pauſe. Dann kam es, noch demüthiger als zuvor: „Mariele, moinft, daß d’ mi gern babe könnteſcht?“

„J moin faſcht,“ und aus ihrer Stimme hörte er, daß fie lachte. Sie ſtreckte ihm über den Tiſch hinüber die Hand hin.

„Gelt, Wilhelm heißeft ?“

„a, Wilhelm,” und er hielt ihre Hand feft mit feinen beiden.

„Weifcht, mer merkt 's glei, wenn’3 Gott’3 Wille iſcht,“ jagte fie nachdent: lich und fröhlich zugleich, „mer g'ſpürts im Herze.“

„Wohl! wohl! ’3 ifcht mer fajcht broche gwe, wia i g’hört hab, Du heirathft en Andre, und heut Morge —“

„a,“ jagte Marie abiwehrend, „aber Deine Sträußle älle Tag „Und des jchöne Lied, Mariele, i fa’3 gar nemme vergeſſe, ‚es J ein ſtiller Engel! weiſcht, des biſcht Du, Mariele.“

„Ha noi,“ rief das Mädchen erjchroden, „deicht ja die Geduld!“

„I han immer Dei Gfichtle g’jehe, wia D’ über mein U'glück Thräne ver: goſſe haſcht, deſcht befjer ala bloß fo Geduld,” fagte der junge Mann.

„Geh, Wilhelmle, daß Di Niemand ſieht,“ bat das Mädchen, „gut Nacht, ichlaf wohl,“ und wollte ihre Hand losmachen.

„Guts Nächtle, jchlaf wohl, ’3 Lieb Herrgöttle jei Dei Wächterle, jo jagt mei Mutter,“ ex hatte einen jo zärtlichen Ton dabei, daß Marie unwillkür— li fragte:

„Halt Dei Mutter gern, gelt?”

„I glaub3 wohl,“ lachte er verwundert, „mei Water ift jong g’ftorbe, drei Johr alt ben i gwe, no Hat je mi ufzoge, alleinig. E klei's Vermögele hat je von z' Haus Friegt, no hot je des G'ſchäft a’g’fange, des Goldſticke; 's bringt

Mas Gottes Wille ift. 197

ſcho was, denn des verfteht net e Jedes. Jez gang i und red mit er, daß fe ’3 Dei'm Batter jagt.“

„Sa, aber er wird wild werde, und was wird Dei Muetter jage, wann ’8 Güetle nemme mei’ ghört?“

„Da, je wird halt denke, daß mer's ums Mädle iſcht und net ums Güetle, da fa’ mer ner made. Wann Dei Schwejchter Di naußzahlt, no iſch guet, wann net, no ſchafft mer reiht, i fünnt kei Bauregüetle brauche —“

„Wann i 's G'ſchäft von Deiner Mutter Ierne könnt,“ meinte Marie.

„Ha, worum net? aber 's wird net nöthig je, i hab mei Sad glernt, i bin uf Schule gwe, und hab en Preis Friagt, vorgejchtern, in Stuegert uf der G’werbauäftellung.”

„En Preis? ja für was?"

„Für en eichene Eßtiſch mit g'ſchnitzte Drachefüeß, halt, jez weiß i was jez mach i no emal eine, aber en kleinere,“ und er lachte fröhlich in ſich hinein. Dann drückte er noch einmal ihre Hand feſt: „O Mädle, kennſcht des Lied, wo anfangt: ‚DO du mei ſchöne Sonneblum, i bau’ mei Herz um bi herum‘ grad fo iſcht mir 3’ Sinn, Mariele.“

————

Madele war nicht wenig überraſcht, in der dunklen Laube leiſes Sprechen zu hören, da ſie doch ihre Schweſter noch immer allein glaubte. Noch mehr aber erſchrak ſie, als ſie, mit Speiſe und Trank beladen, eintretend, an einen ſchlanken jungen Mann anrannte, der ſofort ein Streichholz entzündete, und es ſich ſelbſt vors Gefiht hielt. Wahrhaftig, der hübſche junge Schreiner! Madele ftellte baftig ihr Brett nieder und blidte aufmerkffam von einem zum Andern.

„Jerum, Mariele, Du kennſcht en jo net!“ rief fie in hellem Erſtaunen.

Marie erröthete und lachte: „Aa, ſcho.“

„Serum, Du weiſcht jo jein Name net!“

„Du haſcht en mer verrathe, Madele,“ neckte Marie.

„Komm, ſei g’jcheidt, gib Deim Schwager e Pätjchle, und i dank D’r ebe recht, da De de Paile g’nomme haſcht,“ jagte der Schreiner zutraulich.

Madele war drauf und dran, ein „Zörnle” zu machen, wie immer, wenn fie etwas nicht begriff.

„Docdelmaufer!” murrte fie. Plötzlich aber brach fie in Tautes Lachen aus: „Der Batter wird feine Auge’ ufreiße! i ſieh's ſcho, die große feurige Rollauge!”

Und die machte denn der Pfarrbauer in der That, al3 am nächſten Nach— mittage ein altes rauchen mit frühverwelktem, aber Elugem Geſicht, aus dem ein Paar großer, ein wenig kränklicher Augen blidten, bei ihm einrüdte. Sie trug reputirliche ftädtiiche Kleidung, einen grauen Rod und ein graues Shawltuch— graue Baumwollhandſchuh und einen hellen Strohhut mit grauem Band, und ihre Stimme war ebenfo weich, twie die Farben, die fie trug. Sie wußte aber jehr geſchickt und ungezivungen dad Geipräd auf ihren Sohn zu bringen, der dem Bauern wohl befannt jei, weil er eine Zeitlang beim Schreiner Diez ausgeholfen.

„8 iſch mer leid, noi,“ jagte der Bauer kurz.

198 Deutiche Runbichau.

Das machte die rau nur wenig betreten, fie fuhr ganz gemädlid fort, von der Tüchtigkeit und dem Geſchick ihres Sohnes zu reden, der jet auch einen Preis auf der Gewerbeausſtellung gewonnen habe.

„Sicht mer net bekannt,” hüftelte der Bauer.

Aber die Frau fam nun ruhig und deutlich auf den Punkt, daß diejer tüch— tige Sohn de3 Pfarrbauern Mariele zur Frau Haben möchte.

„8 iſcht mer leid, aber Geld hot je koi's,“ und der Bauer wollte ihr den Rücken zudrehen.

Da aber fuhr die janfte Frau auf. Ob fie danach gefragt Habe oder nad dem Mädle? Ein Handwerker könne e8 freilich auch) brauchen, wenn die Frau etwas mitbringe, aber jo drauf verjeffen, wie die Bauernleut, das jeien fie nicht.

's jei ihm leid, aber wer auf die Bauern ſchimpfen wollt, der jollt nicht in ein Bauernhaus kommen, war die exbofte Antwort. Dieſe aber überhörte die Mutter ganz und fuhr mit großer Lebhaftigkeit fort: fie Hab’ fi und ihren Sohn jahrelang mit Goldftiken ernährt, all die ahnen der Umgegend für Veteranen= und Kriegervereine wie für die Innungen, aud) viele Altardecken jeien von ihrer Hand geftict worden, drum hab’ fie feine Angit, dat fie müſſe zu Grund gehen, wenn auch ihre Sohnesfrau feinen vollen Sädel mitbringe.

„En leere!” unterbrach fie der Bauer.

Sie aber fuhr fort: Und fo ein Mädelesherz, was in jo einer Verjuchung feine Treue bewähre, das ſei auch was werth; fie hab fein heulen müflen, als ihr Wilhelm ihr’3 erzählt hab’.

Hier fuhr ber Deininger auf, 's fei aljo eine abgefartete Gejchicht geweſen mit dem Neinfagen? Gut, aber ex jage auch nein; feine Tochter jei eine Bauern- tochter und nicht für jo einen Schreiner, ja, wenn er nod) Geld hätte, aber er hab’ ja nichts, jei ja ein armes Luder, für Geld fünne man Alles haben, aber ohne

In diefem Augenblid trat Marie herein, die vor der Thür mit Herzklopfen dem Streite gefolgt war und jagte mit ermahnender und zugleich bittender Stimme: „Batter, wiliht Du no’ emal Chriftum verfchachere?”

Ob fie jelber recht wußte, was fie jagen wollte, ob der Vater fie ver: ftand, genug es waren die richtigen Worte, der Bauer verftummte Ma— viele aber führte die Frau, die ganz erſchöpft auf die Bank geſunken war, in ben Garten, um fie zu beruhigen und zu erquiden. Sie hatten fich beim erften Erbliden lieb gewonnen, und während die rau und trank, erzählte fie von ihrem Wilhelm, wie brav der fei, und wie ex jchon als ganz Kleiner Bub auf jeines todtfranten Vaters Drechſelbank gefeflen und gejagt Habe: „X werd au e Spreiner, und wann i groß ben, bärf der Vatter nemme Baffe.“

Das war in aller Aufregung eine glückliche Stunde.

Als fie wieder in die Stube gingen, hatten Madele und Paile aud am Ueberredungswerk geichafft. Der Vater jagte jetzt, feine Aeltefte habe fich in der Kirche betragen, daß es eine Schande jei fürs ganze Dorf; er ſei alleweil froh, wann fie fortfomme.

Das war jein Jawort. Und nad vier Wochen ftand Mariele abermals

Was Gottes Wille ift. 199

vor dem Altar, aber diesmal in dem hochgelegenen gothiſchen Kirchlein von Berg, wo man weit hinausfieht über das grüne gejegnete Nedarthal.

Es hieß, das Konfiftorium Habe das kurze Verfahren des anderen Pfarrers allerdingg monirt, es ſchien ihn aber nicht angefochten zu haben. Sein Geficht glänzte, jo oft er dem jungen Paar begegnete. Als es das erfte Mal geſchah, winkte er Madele zu fi) heran und ſagte ſchelmiſch: „Gelt, Du, ich hab's recht gemacht?“

Und als Madele nur verlegen mit dem Kopfe nickte, flüſterte er: „Was ich noch ſagen wollte, wer hat auch den Paile hinterm Zaun geküßt am Hoch— zeitmorgen?“

„O Herr Pfarrer, 's iſcht jo mei leiblichs Vetterle gwe!“ rief Madele hoch— erröthend.

„Wohl, aber gelt, ſo iſcht's doch beſſer?“ lächelte der Pfarrer.

Im gothiſchen Kirchlein in Berg ſprach nun Mariele das gebräuchliche Ja, aber obgleich ſie dies bedeutungsvolle Wörtchen zu einer glücklichen Frau gemacht hat, iſt's eben ſeiner Gebräuchlichkeit wegen nicht ſonderlich ins Gedächtniß der Dorfgenoſſen gefallen. Jenes ihr Nein aber iſt ſprichwörtlich geworden, und wenn Jemand das gerade Gegentheil ſagt oder thut von dem, was man von ihm erwartet, da ſchaut man ſich an und ſpricht: „'s Mariele ſagt noi.“

Fürſt Dismark.

Der 20. März 1890 bezeichnet einen Markftein in der Gejchichte des deutjchen Volkes: fühlbarer, deutlicher noch als der Heimgang Weiland Kaifer Wilhelm’3 jagt uns der Rücktritt des Fürften Bismarck, daß eine Periode großer Entwidlungen geendet und daß eine neue begonnen hat. Ein neues Geſchlecht und eine neue Zeit fommen herauf. Wir, die wir um unferer Ideale willen in unjerer Jugend gelitten und in unferen reiferen Jahren gekämpft haben, bis wir fie verwirklicht jahen in Kaifer Wilhelm und Bismard, wir treten jeht allgemach zurüd, und andere Männer treten hervor. Neue Fragen bewegen die Welt, neue Gedanken bredden fih Bahn, neuen Zielen ftrebt unſer Wolf, ftrebt die Menjchheit zu. Das ewige Geſetz der Bewegung ift es, dem wir gehorchen müſſen, dem wir una beugen. Es beherrjcht die Natur, es beherrfcht das Leben der Völker. Wir ſprechen von der guten alten Zeit; aber die nad) uns Fommen, Iprechen von der befjeren neuen. Wir bliden mit Wehmuth rückwärts, fie blicken mit Freudigkeit vorwärts, und ihnen, unferen Erben, gehört die Welt und die Zufunft. Es ift auf allen Gebieten glei” auf dem der Wiſſenſchaft, two der Darwinismus und die Evolutionstheorie ihre letzten Gonjequenzen ziehen; auf dem der Kunſt und Literatur, wo der Naturalismus dem Idealismus tödt- liche Fehde angefagt Hat; auf dem der Erziehung, two der Humanismus von feinen mächtigen Angreifern aus PBofition nad) Pofition gedrängt wird; auf dem des Staates, two vor den focialen Problemen die politiſchen augenblicklich wie verblaffen und verſchwinden. Ein gemeinfamer Zug verbindet, bewußt oder un- bewußt, diefe Kräfte mit und untereinander, und ein innerer Zuſammenhang ihließt die Gadres, die jet noch ſcheinbar getrennt marſchiren, zur Phalanr; Weltanfhauung fteht gegen Weltanfhauung: jollen wir darum aber Klagen und an den Geſchicken der Welt verzweifeln, weil wir der Natur unferen Tribut gezahlt haben, weil wir alt geworden find, weil wir mit unferem Willen oder ohne, ja jelbft gegen unjeren Willen den Pla der Jugend räumen, mit der wir uns nicht mehr zu verftändigen wiſſen?

Was der 9. März 1888 dunkel, ſchwermüthig angekündigt, das Gefühl, daf ein Zeitalter, unfer Zeitalter, das der bis jet herrſchenden Generation, zur Neige gehe, der 20. März 1890 hat es unwiderruflich bejtätigt, hat es zur um umftößlichen Thatjache gemacht.

Fürſt Bismard. 201

Und doch ift es noch nicht jo lange denn dem Alternden ſcheinen die Entfernungen ſich zu verkürzen bat Bismarck uns ein neuer Menſch erſchien nit im gewöhnlichen Sinne ein homo novus, fondern Einer, von dem es ausgeht, wie da3 Wehen und der Athen einer neuen Zeit, einer jener Gewaltigen, die fich mit den erften Schritten vernehmbar machen. Und auch dad, was die Begleiterfcheinung aller wirklich Großen, lebermwältigenden zu jein pflegt, follte diefem nicht erjpart bleiben: weder der Hohn ber Menge, die ihn nicht verftand, noch die Kugel des Fanatikers, gegen welche die Hand der Vorfehung jelber die von ihr erwählten Männer ſchirmt. Ein ſolch providentieler Mann war Bis— mard, und die Wenigen erkannten ihn ſogleich, und fie, die zuerſt für ihn gezeugt, waren e3 aud, die aufrecht blieben, ala die Dienge vor ihm auf den Knieen lag. Nicht, daß fie feine letzten Ziele vorausgefehen dazu hätten fie feiner eigenen Genialität bedurft oder tiefer in dieſer verjchloffenen Bruft leſen müfjen, als irgend einem Sterblichen verftattet tvar; aber von feinem erften Auftreten im Jahre 1862 an erivarteten fie Großes, etwas Ungeheures von ihm, und fie find in ihrer Bewunderung, und jpäter, als das Werk vollbradht war, in ihrer Dank— barkeit diejelben geblieben unberührt von der blinden Anbetung des Haufens, wie vormal3 ungeſchreckt durch deſſen unwürdigen und widerwärtigen Troß.

Auch auf diefer Zeitfchrift hat einmal die Hand Bismard’3 ſchwer gelaftet und wer ihren eijernen Griff jemal3 empfunden, der vergißt e3 in feinem Leben nit. Dennoch wenn wir e3 noch einmal zu jagen hätten, wir wür— den noch einmal jagen, daß wir bei der erften nicht nur, fondern bei mehr=, bei vielfach wiederholter Lectüre jener Publication immer nur den beftimmten Ein— drud gehabt hatten, al3 ob fie nur dazu dienen könne, die großen Männer, denen wir die Wiederaufrichtung des deutſchen Reiches verdanken, Jeden in jeiner Eigenart und Jeden in jeinem hellſten Lichte zu zeigen. Auf die Nechtäfrage gehen wir hier nicht ein. Aber bevor wir noch vor dieſelbe geftellt worden oder glauben konnten, daß wir vor eine jolche geftellt werden würden, hatten wir da3 Gefühl, ein Hiftoriiches Aktenſtück von unendlicher Wichtigkeit in Händen zu baben, welches, da wir einmal in feinen Beſitz gefommen, der Welt aus Be- denken formeller Natur vorenthalten zu tollen, und ein Unrecht und ein Mangel an Plihtgefühl auf dem uns anvertrauten Poften gedüntt hätte. Daß wir an einen ftörenden Einfluß auf den Gang der actuellen Politif auch nicht im Ent- fernteften dachten, wird man, nad) unferer ganzen Vergangenheit, uns glauben. Alles, was, nad) unferem Empfinden, auch nur den Keim einer Verftimmung in ih tragen konnte, ward zu bejeitigen gejucht; und wollte man ung fragen, wes— wegen wir das Geſpräch de3 damaligen Kronprinzen mit Bismarck, deſſen Ver— öffentlichung nachher beſonderen Anſtoß erregt zu haben ſcheint, nicht unter— drückten, ſo würden wir, der Wahrheit gemäß, erwidern: daß wir, anſtatt das Anſehen Bismarck's dadurch verringert zu ſehen, ihm vielmehr zur größeren Ehre, zum höheren Ruhm anrechneten, wenn er, als praktiſcher Staatsmann und in ganz anderen Anſchauungen aufgewachſen, dennoch endlich mit der Kaiſeridee ſich ausgeſöhnt und fie zur Wirklichkeit habe machen helfen!).

z ) Dergl. hierüber namentlih Delbrüd in den „Preußifchen Jahrbüchern“, October 1338, . 410,

202 Deutſche Rundſchau.

Nein, für uns war Bismarck immer der heldenthümliche Mann im Sinne Carlyle's, der jeden, im Widerſtand gegen die zähe Maſſe ſiegreich durchgeſetzten Wandel des Weltgeſchicks auf die Kraft der Perſönlichkeit zurückführt, und deſſen letztes Wort faft an feine Nation die Verkündung der Größe Bismard’3 war, an die man damals, beim Ausbruch des Krieges 1870, in England jo wenig glaubte, als man an fie vor Beendigung des Kriege von 1866 in Deutjchland geglaubt Hatte. „Wer von uns,“ hatte Garlyle ſchon 1867 gejagt, „erwartete, daß wir jelbft, ftatt der Kinder unjerer Kinder, [eben jollten, um es zu jchauen (nämlich die ftaatliche Einigung Deutjchlands); daß ein großherziger und glüd- licher Herr v. Bismard, deſſen Herabjegung (dispraise) in allen Zeitungen war, zu feinem eigenen Erftaunen die Sache thunlich fand, und fie that, ihrem weſent— lichen Beftandtheil nach. in wenigen der letzten Wochen?“!) Und im November 1870 fügt er hinzu: „Bismard, wie ich ihn verftehe, ift feine Perſon von „Napoleoniſchen“ Ideen, fondern von Ideen, die denen Napoleon’3 weit überlegen; zeigt feine unbefiegliche „Länderluft”, noch ift er gequält von „gemeinem Ehr— geiz“, ꝛc., jondern Hat Ziele weit über jener Sphäre, und in der That jcheint mir mit ftarker Fähigkeit, mit geduldigen, großen und erfolgreichen Schritten nad einem Gegenftand Hinzuftreben , der jegensreich für die Deutjchen und alle anderen Menſchen ift“ ?).

Uber nicht „zu jeinem eigenen Erftaunen“, wie Garlyle nad 1867 gefagt; Bismarck war fein Jmprovijator. Seit er zum erjten Dale an dem grünverhängten Tiſche des Bundestages in Frankfurt a. M. geſeſſen, weiß er, worauf er hinaus will; jchon 1858, in einem Briefe vom 2. April, ſkizzirt er das deutſche Zollparlament, das erft zehn Jahre fpäter zufammentrat, und der Vorläufer des deutſchen „Wollparlamentes” war?); und lange, bevor er den in Avignon gepflücten Olivenzweig „der Volkspartei als Friedenszeichen“ anbot und in derjelben Budgetcommijjion das berühmte Wort „durch Eijen und Blut“ ſprach“), hatte er, als Gejandter, aus St. Peteröburg, am 12. Mai 1854 an den Minifter v. Schleinit gejchrieben: „Ich ſehe in unferem Bundesverhältniß ein Gebrechen Preußend, welches wir früher oder jpäter ferro et igni werden heilen müfjen“ °).

Ein Diplomat war er, und einer, der die größten der Vergangenheit in den Schatten geftellt, aber vielleiht nur darum, weil er fie durchſchaut und früh: zeitig erkannt hatte, daß man das eigentlic” Große meiſtens nur troß der Diplomatie vollbringen fann. „Es jind lauter Lappalien, mit denen die Leute ſich quälen,“ ſchreibt er, nad) dem erſten Blick in da3 Palais der Ejchenheimer Gaſſe, jeiner Gemahlin (18. 5. 51); „fein Menſch, jelbft der böswilligſte Zweifler von Demokrat glaubt es, was für GCharlatanerie und Wichtigtduerei in diejer Diplomatie ſteckt“ °).

!) „Shooting Niagara: and after?“ Eſſays, Bd. VII, ©. 201.

2) „Latter stage of the French-German War“. Eſſays, Bd. VII, &. 251.

3) Hahn, „Fürft Bismarck. Sein politiiches Leben und Wirken urkundlich dargeftellt ıc.* Bd. I, ©. 56.

) Ebendaſ., E. 67.

>, Ebendaf., ©. 52.

6) Ebendaſ., ©. 43.

Fürſt Bismard. 203

Man Hat von der Menjchenveradhtung Bismard’3 geiprodhen und gewiß nicht ohne Grund; wer die Menfchen jo gekannt, jo kennen gelernt hatte, wie er, der konnte nicht viele von ihnen achten, und die es vielleicht verdient, hat er am eheften verfannt oder mißkannt und von ſich geftoßen. Treu feithaltend an den Freundichaften der Jugend, hat ex in feinem jpäteren Leben da3 Wort Chamfort’3 nur zu jehr beftätigt: daß, wer mit vierzig Jahren kein Mijanthrop jei, die Menſchen niemals geliebt habe. „A good hater“ hat ex fich jelbft ge— nannt, und leidenschaftlich in Allem, war er e8 auch in feinem Haß. Aber ohne Leidenjchaft fein Dämon, und ohne Dämon fein Genie. Daß es nichtadejto- weniger an Gemüth ihm nicht fehlt, geht aus Allem hervor, was wir aus feinem intimen und häuslichen Leben wiſſen, aus den vielen Eleinen Zügen guter Nach— barſchaft und patriarhaliichen Verhaltens gegen feine Diener. Wer einen folchen Humor bejitt, der muß auch Gemüth haben; ebenſo wie er, wenn fein Moet, d. h. feiner, der Verſe macht, doc; jicher eine poetiſche Natur ift. Wie hätte er jonft ein Schöpfer fein oder um vom Großen auf Hleineres zu fommen eine gewiſſe Vorliebe für Heine haben und offen eingeftehen können für Heine, den Geächteten, für Heine, der mehr als cin Schmähgedicht auf Friedrich Wilhelm IV. verfaßt, deſſen erfte Schriften in Preußen verboten und deſſen lebter Band in den Berliner Buchhandlungen von der Polizei confiscirt ward. Aus eben diefem Bande citirt er (1852) in einem Brief an jeine Schwefter, Frau v. Arnim, „das befannte Lied von Heine: O Bund, du Hund, du bift nicht gefund” mas freilih, außer Heine, nur noch Bismarck ſelbſt jo draftiich hätte jagen können, furchtlos, rückſichtslos, Feind jeder Phrafe, aller Convenienz jpottend. Es ift derjelbe Brief, in weldhem er „die Stimmung gänzliher Wurſchtigkeit“ ausfpriht!) in dem Brief unterftrichen wie hier und jeitdem ein „‚geflügeltes Wort“, da an Glajficität mit irgend einem von Heine fi wohl mefjen kann. In diefen Briefen an jeine Schwefter und jeine Gemahlin Eopft fein Herz. In einem derſelben (an Lettere, vom 3. Juli 51) heißt ed: „Wenn ich mic) bei dem Einzelnen frage, was er für Grund bei ſich Haben kann, weiter zu leben, fich zu mühen und zu ärgern, zu intriguixen und zu jpioniven, id) weiß es wahrlid nicht. Schließe nicht aus diefem Gejchreibjel, daß ich gerade bejonders ſchwarz geſtimmt bin, im Gegentheile, es iſt mir, als wenn man an einem jchönen Septembertage das gelbwerdende Laub betrachtet; gejund und heiter, aber etwas MWehmuth, etwas Heimmeh, Sehnjucht nad) Wald, Sce, Wüfte, Div und Kindern, Alles mit Sonnenuntergang und —— gemiſcht ).

Wir werden ſeine hohe Geſtalt in en Güraffieruniform, den Säbel an der Seite und die Linke auf dem Korb, nicht mehr unter uns wandeln, werden ihn, auf jeinen einfamen Wegen im Thiergarten, mit der Rechten an der Mütze, die jelten Begegnenden nicht mehr grüßen jehen. Aber in unferen Seelen, in unjerer Erinnerung wird ex fortleben, wie in der Geſchichte, die mit dem Tage jeines Rüdtrittes ein neues Blatt beginnt.

27. März. J. R.

1) ‚Set, Bd. I, S. 45. 2) Shendal,, ©. 44.

Homer's Blias.

Von Herman Grimm.

—ter r R—

Zweiter Geſang.

Auf dem Olymp wie im Lager der Griechen ſchlafen ſie. Nur Zeus vermag die Ruhe nicht zu finden. Während Here an ſeiner Seite es wäre nicht unhomeriſch, zu ſagen ſchnarcht, dreht ſich ihm die übernommene Verpflichtung im Kopfe herum. Soll es den Griechen ſchlecht ergehen, ſo muß mit den Trojanern gekämpft werden. Die Peſt, die Uneinigkeit der Fürſten und Achill's Entſchluß, haben die Griechen aber jo heruntergebracht, daß, fie zu einem plötz— lichen Angriffe gegen die neun Jahre fiegreich daftehende Stadt zu beivegen, faft unmöglich jcheint. Agamemnon muß Muth gemacht werden. Zeus beruft, wie Homer jagt, einen „böjen Traum“, befiehlt ihm in der Geftalt Neſtor's an des Königs Lager zu treten und ihm mitzutheilen, es werde, wenn die Griechen heute angriffen, Troja bald in ihren Händen fein. Der böje Traum richtet den Befehl aus und Agamemnon, erwachend und überzeugt von der Wahrheit der Verheißung, befiehlt Herolden, die Völker zur Berathung zujammenzurufen.

Vor ihrem Beginne aber vereint er bei Neftor’3 Schiffen die Vornehmften zu einer engeren Worberathung.

„Hört, Freunde,“ beginnt er, „im Traume ift mir Neftor erichienen und hat fo geſprochen: Du ſchläfſt, Sohn des Atreus? Wer das entſcheidende Wort zu fagen hat, jollte nicht die ganze Nacht ſchlafen. Ich bin ein Bote des Zeus, der deinetiwegen befümmert ift. Heiße die Achäer fi) waffnen, denn Jlion wird dir nun zufallen. Die Götter haben es beichloffen, Here hat ihnen den Sinn ge wandt. Beherzige die wohl. So fprad) er und entwid. Nun aber auf, ob wir die Achäer zum Kampfe beivegen! ch werde fie zuerſt zu überreden ſuchen, wie recht und billig ift, mit den Schiffen die Flucht zu ergreifen, ihr aber haltet fie, jeder an feiner Stelle, zurück.“

Nah diefer Rede geichieht das Mleberraichende, daß Niemand das Wort ergreift, fi dagegen zu äußern. Nur Neftor jagt:

Homer's Alias. 205

„Freunde. Wenn ein Anderer von uns diefen Traum erzählte, würden wir ihn für einen Trug halten; nun aber bat ihn der erfte aller Achäer gejehen: auf, laßt uns die Söhne der Achäer zum Kampfe reizen.“

So ſprechend verläßt er die VBerfammlung, und Alle erheben fi, um auszu— führen, wa3 Agamemnon befohlen hatte. Und hinterher dann wird die allgemeine Berfammlung der Griechen eröffnet und mit ihren Wechjelfällen und in der (ebensvollen Breite befchrieben, wie nur Homer zu erzählen vermag.

Wie jollen wir dieje Vorberathung der Fürſten verftehen? Agamemnon faßt einen jeltfamen Entſchluß und fie nehmen ihn als das Natürliche auf. Bei der Stimmung de3 Heered mußte, von und aus gefehen, Agamemnon’3 Ber: fahren doch jehr bedenklich erjcheinen. Warum ſprach feiner von den Fürften dagegen, two ihre Meinung doch gefordert wurde? Was Neftor jagte, Tonnte die Bedenken nicht erichöpfen, die ihnen nothwendiger Weiſe auffteigen mußten.

Und warum bereitet dev Dichter uns auf diefe Wendung der Dinge nicht vor? Homer Hat gewiſſe Eigenthümlichkeiten , deren Gingreifen wir er- warten dürfen, weil darauf ein großer Theil der Wirkung feiner Gedichte be- ruht: zu ihnen gehört, daß er und niemals überrafht. Nie ftehen wir da und jagen: das verftehen wir nicht. Homer präparirt forgfältig, was gejchehen joll, und bier unterläßt ex e8 in flagranter Weiſe.

Leicht ift zu berechnen, welche Fürften an der Borverfammlung Theil nahmen. Neben Neftor Menelaos, dann Idomeneus, die beiden Ajax, Dio- medes. Daß auch Odyſſeus nicht fehlte, mußten Homer’3 Zuhörer jehr gut: Odyffeus war als einer der bedeutendften Teldherren der Armee im erften Ge: fange jchon genannt worden. Freilich hat er bis dahin noch nichts gethan, das ihn als den Elugen, vorfichtigen Mann auftreten läßt, als der ex fich bald ent- hült, aber da3 Beitvort zoAvurzıs war ihm vom Dichter ſchon verliehen worden. Wie fam es, daß gerade Odyffeus den Traum ohne Weiteres als günftig annahm? Mißtrauen gegen Botichaften der Götter gehörte zu den natürlichen Eigenschaften des homerifchen Mannes. Worficht bei ſolchen Mittheilungen war dem Alterthume überhaupt geläufig. Ich erinnere an das Bedenken, mit dem Gideon (im Buche der Richter) den Befehl Gottes, die Medianiter anzugreifen, vielfach prüft, ob ex in der That ein Befehl Gottes ſei. Odyſſeus' Trage hätte fein müffen, ob die von Agamemnon empfangene Botſchaft nicht eine beabfichtigte Verführung geweſen jei. Wir wifjen, wie ungläubig Odyffeus fich verhält, als bei der Heimkehr nad) Ithaka im Augenblide der Lebensgefahr Leufothea mit dem Schleier ihm erjcheint, der ihn, wenn er fi mit ihm in die Fluth werfen tolle, erretten würde. Odyſſeus jcheut fih, der Göttin Glauben zu jchenken. In voller Ausführlichkeit aber trägt Homer ſpäter Odyſſeus' Anſicht vor, ala er ihn unerkannt mit Penelope über die Natur der Träume philojophiren läßt, die er in wahrhafte und trügeriiche eintheilt.

Nehmen wir Agamemnon’3 rüchaltlofe Gläubigkeit ald einen Beitrag zur Gharakterifirung des König hin. E3 lag außerhalb feiner Art, anzunehmen, da Zeus ihn Habe betrügen wollen. Agamemnon’s Natur wird von Homer beinahe am feinften durchgeführt. Eine lebendige und überzeugende Miſchung

206 Deutiche Rundichau.

hoher und, ich ſage nicht, niederer, aber egoiftiicher Eigenſchaften finden wir als Beitandtheile ſeines complicirten Weſens einheitlich zufammengebradt. Immer wieder werden wir durch Kleine Züge daran erinnert, daß ſich Größe und Klein lichkeit bei ihm verbinden. Wir verftehen ihn befonders auch deshalb fo gut, weil, twie ich ſagte, Fein Olympier ſich perfönlich für Agamemnon intereffirt. Gr handelt ftet3 aus fich allein heraus. Einer der Züge des Königs ift hochmüthige Geradheit. Er befteht auf jeinem Vortheil, betrügt aber feinen. Er hegt Ver— trauen auf fein Recht und feine Stellung. &3 fällt ihm nicht ein, an Zeus’ Botſchaft zu zweifeln. Wie jollte ein Souverän dem anderen nicht beiftehen in einer Familienſache? Wie denn aber, fragen wir nun doch, käme Agamemnon bei diefer Gefinnung dazu, das Volk täufchen zu wollen? Und zwar als ob id da3 von jelbft verftehe? Und wozu? Hätte Agamemnon das aus fich allein ge than, wie den Worten Homer’3 zufolge doch angenommen werden müßte, jo würde der Dichter und gewiß die Gedankenarbeit des Königs erzählt haben, bie ihn zu diefem Entfchluffe führte Ausführlich und ſchön und glaublich wird doch geihildert, wie Agamemnon, nachdem der Traum ihn verlaffen bat, zwiſchen halbwachen Gedanken ſich hin - und herwälzt. Goethe hat darauf hingewieſen, mit welcher Kunſt der Dichter, indem er Agamemnon Stück auf Stück ſich mit Gewandung umgeben läßt, deſſen äußere Erſcheinung uns hier um ein gutes Theil lebendiger vor die Augen bringt. Und nun ſteht der König da zwiſchen den Bornehmften de3 Volkes, denen er in vertraulicher Art den Traum mittheilt. Da konnte doch nur Eines ihn bejeelen: Zuverfiht auf die Entichlüfje der Armee! Wozu da Winkelzüge und Künſte? Agamemnon’3 Gedanken nad mußten die Griechen dasſelbe Vertrauen auf Zeus’ Botſchaft haben, das ihn erfüllte.

Und fpäter dann, al3, wie wir jehen werden, der Anjchlag des Königs miß— lingt, weil die Griechen, jobald fie von Heimkehr nad Haufe hören, zu ben Schiffen ftürmen ohne die Fürſten zu Worte fommen zu laſſen, warum ift nicht Agamemnon, ſondern Ddyfjeus hinterher derjenige, der über diefe Wendung der Dinge von Ingrimm verzehrt wird?

Darauf num gebe ich diefe Antwort: deshalb nur kann Odyffeus nad dem ungünftigen Verlaufe der Volksverſammlung jo unglücklich daftehen, weil ex der geweſen fein mußte, auf deſſen Autorität hin Agamemnon dem Bolfe den Traum anders erzählte, al3 er ihn empfangen hatte, jo daß der große Fehlſchlag Odyſſeus zur Laft fiel, der die trügerifche Rede dem Könige in den Mund legte. Darum ift e8 in der Folge dann auch Odyſſeus, der die Dinge wieder ins rechte Geleiie bringt! Ich glaube, daß die Stelle unferes Gejanges, wo diefe Dinge breiter erzählt worden waren, verloren fer, und verfuche fie zu reconftruiren.

Wir ftehen zu Anfang des zweiten Gejfanges aljo, wo Agamemnon bie Türften zur Borberathung berufen bat und ihnen den Traum erzählt. Ich übertrage, um meine Ergänzung mehr mit dem llebrigen in Zufammenhang zu bringen, zuerft Homer’3 Verſe mit der Anrede Agamemnon’3 an die Fürſten:

Hört mich, Freunde! Im Schlafe erfchien mir Neftor, Der zu Häupten mir fland. Du jchläfft, o König? Eprad er mid) an, e3 darf, wer große Entichlüfie

Homer’3 Ilias. 207

Vor ſich hat, nicht die ganze Nacht durch fchlafen ! Jetzt wach auf: ich bin ein Bote Kronion's!

Laß die Achäer zu ben Waffen greifen!

Jetzt wird Ilion euch in die Hände gegeben ! Here’s Bitten hat bie Götter bewegt:

Troja finkt: da erwacht’ ich auf, denn, jorgt, Tab die Achäer fih zum Kampfe rüften!

Alfo ſprach er und ſetzte fich, aber Neftor Nahm wohldentend dad Wort, um fo zu reden: freunde, Fürſten, Führer des Volls! Wenn uns Nicht Agamemnon jelbfi den Traum erzählte: Jedem Andern würden wir ihn nidyt glauben, Und, ihn verlaffend, und zu der Heimath wenden. Do da der König es jagt: Auf denn! die Achäer So oder jo vielleicht zum Kampfe zu treiben!

So weit Homer, in deſſen Gedichte ich Hier die Lücke beginnen laſſe, die ich, meinem Phantafiefpiel folgend, nun auszufüllen ſuche.

Odyſſeus ergreift dad Wort. Wie Agamemnon und Neftor denten könnten, fragt er, daß die Griechen kämpfen würden. Niedergedrüct durch die Peſt und den Zorn des Achill, würden fie weder die Stadt angreifen wollen noch, wenn fie es verſuchten, die Oberhand behalten. Die Botſchaft des Zeus ſei eine trügerifche. Und nun würde Odyſſeus das etwa vorbringen, was er, der Odyſſee zufolge, viele Jahre jpäter der Penelope ausführt:

Willen wir doch, dat der Palaft der Träume Doppelten Ausgang hat, daß nur die Träume Wahrheit bringen, bie aus der Pforte ausgehn, Tie von Elfenbein ift; doch aus der anderen, Hürnenen, fommen bie trügeriichen Tränme. Weißt du, aus welcher Thüre der beine herabfam ? Wenn aus der hürnenen nun? Und heute Abend Unſerer Schiffe Brand die Gewölte röthet!

Und ala alle die Fürſten der Achäer Echweigend fahen, ſprach Agamemnon: Rebe, Wie des Kroniden Wille zu erſpäh'n jei.

Tenn mir jcheint, dab Keiner dad Mittel kennt, Und ich felber am mwenigiten. Aber Odyfleus: Wenn die Achäer ſich verfammelt haben,

Eprid dann, daß dir Zeus einen Traum gejenbet, Der und ermahnt, nad) Haufe zurüdzufehren; Und es jollen die Fürſten, wenn bu gerebet, Wider dich ihre Stimme dann erheben,

Unb den Beginn bes Kampfes von bir fordern. Dielen wird dann bie Heimath ſüß ericheinen, Mebhreren aber die Schmady empfindlich fein, Ruhmlos heimzukehren. Wenn die Achäer

Tann zu fämpfen begehren, ſei's ein Zeichen, Daß ber Wille Kronion's uns ber Troer

Stadt in die Hände gibt. Doch wenn das Bolt Fort in die Heimath verlangt, jo war der Traum Zrügerifch, den du gefehen. Und Agamemnon: Nun mwohlan, jo will ich das Volk verfuchen.

208 Deutſche Rundſchau.

Fort in die Heimath, will ich zu ihnen ſagen, Sende uns Zeus, und wenn ich geredet, ſollt ihr Wider mich ſprechen: wollen die Griechen dann Fort mit den Schiffen: ſei es ein Zeichen, daß Mich ber Kronide betrog. Verlangen fie aber Dann in den Kampf, fo war, was ich gehört, Zeud’ untrüglicher Wille?).

Hier nun tritt Homer wieder ein:

Alfo fprechend ging er davon, und alle Eceptertragenden Fürften fanden auf,

Um dem Hirten ber Völter zu gehorcdhen.

Doc die Völker famen von allen Seiten,

Wie die ſummenden Bienen, bichtgedrängt,

Aus dem gehöhlten Felſen Schwarm auf Schwarm Ueber bes Frühlings Blumen fich ergießen.

Damit eröffnet der Dichter die Verſammlung des gefammten Heeres, deren Verlauf ex jo herrlich darftellt. Won jet ab wieder ift Alles Har. Eine ber Urſachen, warım Ilias und Odyffee jo fiegreich durch die Jahrhunderte gegangen, und daß fie von allen Völkern aufgenommen find, al3 bildeten fie einen Theil ihrer eigenen Literatur, Liegt in dem Umftande, daß die den Handlungen und Reden aller darin handelnden Perfonen innewohnende allgemein menjchliche Vernunft fi) nie verleugnet. Wir brauchen uns, um die Dinge zu verftehen, nie zu jagen, das waren Griechen, die aus nationaler Gefinnung jo Bandelten, oder da3 geſchah in weit entlegener, anderd bentender Zeit, jondern wir jelber heutigen Tages würden jo empfinden und handeln wie die Menjchen Homer’3 thaten. Gerade deshalb muß es auffallen, wenn Stellen des Gedichtes diefe Eigenſchaft innerfter Durhfichtigkeit abgeht. Was Agamemnon, jobald wir feine Lüde in ber Er— zählung annehmen, in der Vorverfammlung der TFürften jagt, würde mit einer gewiſſen Mühe exft erklärt twerden können. Ich bin nicht der Exfte, der empfand, dat Wichtiges an diefer Stelle des zweiten Geſanges unausgeſprochen jei.

Mit Bienen aljo werden die Völker verglichen. Um den Ziwiejpalt der inner halb de3 gejammten Volkes waltenden Meinungen zu bezeichnen, bringt Homer eine jener verſchwommenen Geftalten jet an, die, neben den Göttern hergehend, gleichſam Schatten darftellen, die noch zu feiner feften Perfönlichkeit gelangt find.

An verfchiedenen Stellen der Ilias finden wir die „Oſſa“. Bald mehr ein bloßes Gedankenweſen, bald eine fefte Perjönlichkeit- Auch „Iris“ der „Traum“ und die „Aiſa“ und die „Ziwietracdht“, die den Kampf ſchürt, gehören zu dieſen Geſchöpfen, denen wir jpäter auch in der bildenden Kunft begegnen. So tritt Oſſa jeht ein, um da3 ungeheure Geſchwirr der Meinungen anzudeuten, das die Verfammlung erfüllt. Herolde ordnen die Völker, und Agamemnon ergreift da3 Wort.

Wir fennen Homer’3 Art ſchon, wie er bei Uebergängen gewiſſe finnliche Mittel anwendet, fie unmerklich fühlbarer werden zu laffen. Jetzt ſoll dem allmälig

!) Ich wieberhole, um jedes Mikverftändni unmöglich zu machen, dab mein Verſuch, bie nur meinem Gefühle nach hier vorhandene Lücke auszufüllen, nichts ala ein Phantafie- ipiel if.

Homer's Ilias. 209

eintretenden Schweigen, mit dem die Rede des Königs aufgenommen werden mußte, Zeit gegönnt werden, ſich zu völliger Stille zu geſtalten, und wieder wird die Entſtehungsgeſchichte des Scepters dazu benutzt, das Agamemnon führt. Kein ehe— maliger junger Baumſtamm, wie bei Achill's Herrſcherſtabe, ſondern ein Scepter von Gold, ein Werk des Hephäftos, das dieſer für Zeus' Gebrauch ſelber ge— ichmiedet Hatte. Aus Zeus’ Händen empfing Hermes den Stab und gab ihn dem Pelops, von dem Atreus ihn erhielt. Als deſſen Sohn führte jetzt Agamemnon ihn. Indem die Gejchichte des Scepters erzählt wird, jcheint es, als ob alle Blicke fih mehr und mehr dem Könige zuwenden und jedes Wort verftummt. Dies Scepter göttlicher Herkunft bildet die ideale Mitte gleichfam der am Ufer des Meeres jetzt verfammelten Armee. Gelehnt daran, beginnt Agamemnon eine breite ruhige Darlegung der Sachlage. Eine Rede, in ber er die Nothwendigkeit der Rückkehr nad) Haufe jo klar macht, daß wir die heim- lichen Gedanken beinahe vergeffen, die ex in fich begte. Hören wir:

freunde, Helden, Danaer, Diener bed Kriegsgotts!

Zeus hat mid mit jchwerer Trübjal gebunden:

Vorher verhieß er mir einft der Stadt Zerftörung,

Nun befiehlt er uns, ruhmlos heimzufehren.

Denn zur Schande gereicht uns, ohne Erfolg

Hier und herumfchlagen mit einem Feinde,

Deſſen Macht zu gering ift, daß auf einen

Troer zehn Achäer fih rechnen ließen.

Aber es find neun Yahre doch nun vergangen

Und das Holz an den Schiffen fault und das Tauwerk,

Und unfre Frauen zu Haus und bie kleinen Kinder

Sitzen und warten auf und, und unſer Wert

Nimmt fein Ende, für bad wir ausgezogen.

Vorwärts, fort in die Schiffe, zu dem geliebten

Zanbe der Väter! fort! denn niemals wirb

Priamos’ Stabt von und erobert werben!

Alfo ſprach Agamemnon und rührte das Herz

Allen zufammt, auch Denen, die ihn nicht hörten,

Und die Berfammlung kochte wie Wellen bes Meeres,

Die der Süd: und ber Oftwind beide empören,

Oder, wie wenn der Wet, auf bie Saaten fallend,

Tief in bie weiten Aehrengefilde fich einwühlt,

Alfo wogten die Völker, mit Geichrei

Hin zu den Schiffen ftürgend, daß ber Staub

Aufgemwirbelt empor fi hob. Sie riefen

Einer dem Anderen zu, Hand anzulegen

Und die Schiffe ins Meer hinabzufchleifen,

Zogen die Balken fort und hoben die Maften,

Und zum Himmel empor drang das Geichrei

Der Achäer, die in die Heimath wollten.

Was aljo war gejchehen? So überzeugend hat wider jeinen Willen der Atride von Rückkehr geiprocdhen, daß die fich überftürzenden Griechen bie Fürſten, die gegen de3 Königs Meinung num hatten reden jollen, nicht zu Worte fommen laffen und zu den Schiffen ftürmen. Die Verſe, die von den vergeblichen An—

Deutſche Rundſchau. XVT, 4. 14

210 Deutiche Rundſchau.

ftrengungen der Fürſten berichten, die Bewegung zu hemmen, ſuchen wir ver- gebens. Dageweſen müſſen auch fie fein, denn e3 würde wiederum zu fehr der Art Homer’3 widerfprochen haben, dieſe Verſuche der Yürften, die angekündigt worden tvaren, nicht auch zu fchildern.

Hören wir weiter nun jedoch. Von jeht an fehlt feine Silbe an der Er- zählung deſſen, was fich ereignet.

Damals war num über das Schidjal hinaus Heimtehr ben Griechen gewährt, wenn zu Athene Here jetzt nicht geiprochen: Wehe uns!

Heimmwärts fliehn die Achäer, um berentwillen

So viel fanten dahin auf troifcher Erbe!

Aber Helena bleibt! auf! eile hinab,

Halte das Heer zurüd! Und ihr gehoriam,

Eilte Athene von des Olympos Gipfeln

Zu dem Geftade hinab und fand Odyſſeus.

Bei feinen bunfeln, wohlgefügten Schiffen

Stand er zornig, ohne fie anzurühren,

Weil ihm Trauer die Stirn und bad Herz erfüllte. Und fie begann: Erfindungsvoller Odyſſeus,

Aljo flüchtet ihr nun? Und laßt den Troern Helena hier, um derentwillen jo viele

Don euch fanten dahin! Auf, wehre bem Bolt, Mann für Mann mit Worten zurüd fie haltend! Und er erfannte, daß eine Göttin geredet.

Warf von der Schulter den Mantel, den der Herold Eurybates, ber ihm von Ithaka folgte,

Aufhob, eilt! Agamemnon aufzufuchen,

Griff nach dem Scepter de3 Königs, dem weitererbten, Unvergänglicyen, und durch die Schiffe eilend,

Mem er begegnete, Fürſten ober fonft wie

Männern von Macht und Anfehen, an bie wanbt’ er Zeiler das Wort: Unfeliger, du empfinbeft

Nicht die Schande, feige bavonzulaufen? Halte du Stand, Seht und die Anderen zurück! Weißt du,

Was der Atride gemeint? Was er geiprochen,

War nur gefagt, um zu fehn, wie das Volk gefinnt fei! Und bald werben wir feine Fäuſte fühlen!

Was er gejagt, nur Wenigen war es verſtändlich! Den vermag er zu treffen, bem er zürnt,

Er ift König, und Zeus beihüßt und nährt ihn!

Und wo er aus dem Volke Einen antraf Laͤrmend und fchreiend, ben ſchlug er mit bem Scepter Drohenden Wortes: Unſeliger! ftillgeftanden !

Horde auf die, bie mächtiger find als bu!

Du willſt im Kampf etwas gelten? bu im Rathe? Will denn ein Jeder hier den König fpielen? Einer befiehlt, nicht Alle zugleich, nur Einer, Dem Zeus in die Hände das Scepter legte!

So durch das Heer. Und abermals zur Berathung Stürzten bie Bölfer von ben Schiffen wieber, Brüllend, wie wenn an das fyelfenufer die Welle Anftürzt, und es erbonnert das Meer.

Homer's Ilias. 211

Erinnern wir uns hier, wie Homer im erſten Geſange durch ſtufenweiſe in finnlicher Kraft ſtärker wirkende Scenen zu der Hauptſcene des Streites zwiſchen Achill und Agamemnon gelangt war. Mit derſelben Strategie bereitet er auch hier den Hauptſchlag vor: die durch Odyſſeus' Eingreifen erfolgende abermalige Berathung der Armee, in der über Gehen oder Bleiben anders nun beſchloſſen wird. Das Bisherige war nur Vorbereitung geweſen.

Der Held dieſes Geſanges iſt Agamemnon. Leicht verfolgen wir Homer's Beſtreben, ihn handelnd und ſichtbar im Vordergrund zu halten. Um dies gleich beim Beginne der nun eintretenden zweiten Volksverſammlung zu erreichen, ſtellt er dem Könige Therfites gegenüber, der zu den genialften Schöpfungen der Weltdichtung gehört. Eine der populärften Figuren zugleih, die jemals ein Dichter Hat auftreten laſſen. Bisher haben wir Könige und Helden und Be— mwohner des Olymps vor Augen gehabt, Geftalten, denen bei aller Wirklichkeit ein idealer, jogar leiſer mythiſcher Firniß gegeben war: bei Therfites fommt der Realismus zu) feinem Rechte. Therſites ift der incarnirte kritiſche Geift der Armee. Es ift der, wo es fih um den Kampf mit Worten handelt, niemals fehlende, fatale Kerl, der, Flüger als die Andern und jchärfer beobachtend, mit unerbitt- licher Logik argumentirt. Der das zu formuliren weiß, was die Meinung ber Majorität ift. Diefe Figur ift vom Anfang der menſchlichen Dichtung an duch alle Jahrhunderte mitgegangen. Das Verwachſene des Körpers gehört dazu: in Aeſop Hat fie ihren Tiebenswürdigften, in Morolf ihren efelhafteften Repräjentanten. In Triboulet hat Victor Hugo, im Barbier Ludwig’3 des Elften Walter Scott fie aufleben Lafjen.

Alle jahen nun. Jeder, wohin er gehörte. Nur Therfites’ Gekreiihe nahm fein Enbe, Der, unaufhörlich wild durcheinander fchwähend, Wider Fürften und Bolt was fie lächerlich machte Losließ. Hintend, fchielend, lahm und budlig Zog er nach Ilion aus; es ftanden die Schultern Eng ihm; die Bruft ihm vor; und auf dem fpiken Schädel ſpärlicher Haarwuchs. Der war Allen Midrig, aber Ahill und Odyſſ am meiften, Denn die bellt' er zumeift an; boch jekt wandt' er Gegen ben König fid.

Nun Sohn, des Atreus? Was gibt’3 wieder, was bu erſchnappen möchteft? Fehlt's dir noch an Metall? an frifchen Weibern ? Die wir an erfter Stelle dir allein doch Bon ber Beute der Städte ftet3 zutheilen? Dder iſt's Gold diesmal? Das und ein Trojaner Brächte als Löfegeld, weil ich, oder ein Anberer, Ihm feinen Sohn gefangen und bu möchteft Nehmen was er herbeibringt? Nein, dir fehlt wohl So Eine, bie fein Andrer neben bir hätte? Etwas aparies für dih? Und ber will unfer Führer fein? Will diefem hochachtbaren Auswurf Griechenlands, nein, diefen griechifchen Weibern Weiber find ‚wir ja doch nur Gefeke geben? Hort nach Haufe! Laffen wir diefen hier

14*

Deutiche Rundſchau.

9 De t9

Feiſt Fich freien an Hab und Gut, und jeh! er, Mer für ihn einfteht! Ober auch nicht! Da hat er Dem, der beifer ift ald das ganze Heer,

Das genommen, was er im Streite doch felber

Für fich erwarb! Ja unfer großer Achilleus!

Säße der als ein Schwädling ohne Galle

Thatlos nicht da: Du hätteft zum Ichtenmale

Hier gefrevelt, Atride!

Der Verſuch, diefe Rede in voller Wirkung zu überfegen, wird ftet3 daran ſcheitern, daß der eigentlid populäre Werth der vom Dichter angewandten Worte und Wendungen für immer verloren ift.

Bemerken wir, wie Homer Therfites plößlich da fein läßt. Wie es ja erlebt wird: bei einer gefpannten Situation erhebt ſich aus einer Ede die durchdringende Stimme eines Menſchen, der und widerwärtig iſt, aber der jofort ala bie berrichende Macht fi documentirt. Wir toiffen nicht, was Therſites beim Heere thut. Er war weder vorher da, noch erjcheint er jpäter wieder. Gehörte er, wie wir bei Falftaff nie vergeffen dürfen, zu den vornehmeren Leuten? Ich bin zu verfchiedenen Zeiten verjchiedener Anſicht geweſen. Denn mag Therfites von Geftalt noch jo häßlich fein, immerhin ift er am kriege betheiligt und hat Gefangene gemacht, was freilih als Prahlerei aufgefaßt werden fönnte, aber doch in einer Art vorgebradht wird, die nicht? Ironiſches zu haben braudt. Als bloß jcurrilem Anhängſel der Armee würde man ihm vielleicht jede Kritik, nicht aber zugleich gejtattet haben, mit pofitiven Vorichlägen aufzuireten. Er verlangt Etwas: man joll nah Haufe. Siherli war er daran gewöhnt, nad allen Seiten hin Gehör zu finden, und es ift nicht das erfte Mal, daß er auftritt. Achıll und Odyfjeus, die beiden jchneidigften Redner, hatte er bis dahin zumeift an- gegriffen. Einen hellſtimmigen Redner nennt Odyffeus ihn. Jetzt macht Therfites ih an Agamemnon. Zwar trägt ihm jein Angriff gegen den König einen Schlag über den Rüden vom Scepter des Odyſſeus ein, daß er in Geheul aus— bricht; außerdem aber hatte ihn auch Odyſſeus reden laffen müfjen, Keiner ihm dad Wort verboten, Niemand ihn unterbrodden. Mit welcher Kunft der Dichter den unbequemen, lächerlichen, aber nicht ungefährliden Mann glaubhaft und ſichtbar Hinftellt! Keiner von den Helden wird jo ausgiebig und genau beichrieben. Wie mit niederländiihem Pinſel malt er ihn. ch erinnere daran, wie auf den Giebelfeldern des Tempel3 von Olympia neben den in ideal allgemeinen Gefichtszügen erjcheinenden Helden die Sclaven individuell menſchlich ausgeprägte Antli empfangen, damit ihnen der Anjchein des Heroifchen ge nommen werde, der nur höheren Naturen zufommt, weil nur einfache, große Ge- fühle ihn verleihen. Für mich ift die mit ficherer Hand gezeichnete Figur bes Therfites einer der Beweiſe dafür, daß Homer's Zeitalter bürgerlich nicht das heroiiche Gefüge hatte, das die Zuftände im Lager der Griechen zu repräfentiren jcheinen, jondern, daß ihnen nur fünftlich der ideal einfahe Schimmer verliehen worden ift, den fie in jo natürlidem Wachsthume zu tragen jcheinen').

) Auch darauf wollen wir hinweiſen, daß Homer, indem er Odyſſeus in berben Worten Hod und Niebrig hatte anfahren laflen, in gewiſſer Meife auf ben Ton, in dem Therſites dann

Homer's Ilias. 213

Wie glücklich leitet Therſites' freches Auftreten die Wiederaufnahme der Volksberathung ein. Seine Rede führt uns in medias res zurück und bewirkt den Gefühlsumſchlag der großen Maſſe, die immer günftig geſtimmt iſt, wenn ein folder Kerl an Ort und Stelle zum Schweigen gebracht wird. Therſites' un— ehrbietiger Angriff auf den König macht die Rückkehr zu den gewohnten Gefühlen des Gehorjams leiht. So völlig beherriht Odyſſeus jet das Herz des Volkes, daß bald das Getöfe der aufjauchzenden Achäer rings von den Schiffen wider- tönt. Wer das jo bejchreiben fonnte, mußte eigene Erlebniffe hinter fich Haben. Bergleihen wir mit diefer Veränderung der Volksſtimmung die Scene auf dem römischen Forum, in der Shafeipeare nad Cäſar's Tode Antonius mit feiner Rede Aehnliches vollbringen läßt. Antonius bewegt die Römer mehr dur) geiftreihes Gedanfenjpiel, während Homer in den nun auf einander folgenden Reden des Odyſſeus, Neftor und Agamemnon das ſachlich politiiche Element all» mälig vordringen und immer wirkſamer werden läßt. Wie janft und zus gleich doch mit jchneidender Berechnung weit Neftor den Unterſchied Derer zu ziehen, die feige und die tapfer find, wie findet eine höchfte Steigerung der friegeriihen Stimmung zulegt aber ftatt, al3 Agamemnon den gegen Adhill begangenen Fehler zugibt.

Dies Geftändnig Agamemnon’3 war von Homer eingeleitet worden. Schon im eriten Gejange hatte Neftor ihm Unrecht gegeben und Agamemnon Neſtor's Rede als eine die Dinge jachlich vichtigftellende anerkannt. Brijeis wurde troß- dem hinterher aus Achill's Zelte fortgeführt, eine Handlung, die Neftor mit beleidigen mußte. Agamemnon, wenn er jet freiwillig erflärte, das Hinweg— nehmen der Brifeis ſei ein Fehler geweien, gab nicht nur Neftor damit eine ftille Ehrenerflärung, jondern erreichte noch mehr. Bemerken wir die Feinheit dieſes Spieles wohl. Agamemnon ericheint ala vollendeter Diplomat: er läßt durch jein Eingeftändniß das verjchwinden, was das Heer demoralifirte: Achill's zürnende Zurückhaltung. Denn feine unmittelbar nun bevorftehende Verjöhnung mit Achill mußte vom Heere ala etwas jelbftverftändlich ſofort Eintretendes aufgenommen werden. Das Gefühl hoffnungsreiher Kampfbegier, das bie Griechen wieder erfüllt, wird in uns jelbft beim Lejen der Verſe mächtig. Eine getoifje Feſtſtimmung ergreift uns, wie jo manchmal der Anblick großartiger,

ausbricht, und vorbereitete. Empfing Odyſſeus aber durch feine grobe Art einen realiftiichen Schimmer, jo verichwindet diejer bei Therfites’-Ericheinen durchaus. Odyſſeus ift einer vonddenen, die im Bereiche der Iliasdichtung am complicirteften zu denken und zu handeln Haben, bie, un: gleich den Nebrigen, nicht immer in den nämlichen Licht: und Scattenmafjen ſich zeigen können. Ddyfi hat zuweilen etwas Beamtenmäßiges in feiner Art. Es Liegen ihm Dinge ob, zu deren Vollbringung e3 bürgerlicher Erfahrung bedarf. Solde Geftalten benöthigen innerhalb der Dichtung zuweilen fünftlicher Verftärkung des idealen Schimmer?, ben fie niemals/einbüßen bürfen. Wir ſehen in der Odyſſee im Hinblid auf die gleiche äfthetifche Forderung den Bettler Iros er» ſcheinen, eine an die Garicatur ftreifende Geftalt, bei deren Eintreten Odyſſeus, dem jelber der Anz ſchein eines Bettlers verliehen worden war, ſich über die Maste erhebt. Auch Iros ift in ber Odyſſee die am genaueften bijchriebene Figur, und dies der Grund, weshalb er und, die wir an das Realiftiiche gewöhnt find, gleich Therfites jo höchft fichtbar vor Augen fteht. Beide, Therfites wie Iros, erfcheinen nur einmal; als Geichöpfe niederer Ordnung, die, wie Thiere ober beliebiger Hausrath, ihre Dienfte leiften, ohne ſich zu entwideln.

214 Deutihe Rundſchau.

Tauſende von Menjchen fortreigender öffentlicher Kundgebungen auch den Fremden in den Strom theilnehmender Begeifterung mit fortreißt. ch verjuche, wiederum auf den bloßen Gedanteninhalt reducirt, den Gehalt der drei Reden Odyſſeus', Neftor’3 und Agamemnon’3 zu geben. Therfites alfo hat Odyſſeus willkommene Gelegenheit geboten, die günftige Wendung einzuleiten, und dieſer beginnt: Sohn des Atreus. Herrſcher. Du vor Allen Sollſt jeht beſchimpft daftehen. Dir haben die Griechen Erft mit Heiligem Schwur Heerfolge gelobt, Und nun tönt ein Gejammer durchs Heer, ald wären wir Weiber und Kinder, die nach Haufe begehren. Freilich, wer wird fich nicht nach den Seinen ſehnen? Und, wär’ er nur vier Wochen von Haufe fort, Ferne ber Frau nicht gedenken, wenn er im fahrzeug, Das die Stürme bed Winterd überfluthen, Rüdwärts benftt und wir im neunten Jahre Sihzen und harren! wer machte und zum Vorwurf, Daß wir trauern? aber ich frage, wär’ es Nicht eine Echanbe, Teer jeht heimzukehren? Dauert, freunde, und haltet au. Es muß Klar fein endlich, ob, was Kalchas ſprach, Wahr fei oder gelogen: und ihr Alle freilich Die nicht, die dad Schidjal feitbem Nieder zu Boben ſchlug, die wiſſen es nicht mehr Alle erinnert ihr euch an Kalchas' Worte. Geftern,. ober ehgeftern war's fo ift mir Als nad Aulis wir mit den Echiffen kamen, Und an ber Quelle bort ben ewigen Göttern Heilige Opfer brachten. Unter dem Schatten Grünender Ahornbäume, wo das Gewäfjer Rein und ablig emporquillt, dort geſchah Jenes erfchredliche Zeichen. Am Altar Wand eine Schlange plößlich ſich empor, Bis zu des Baumes Geäft fih aufwärts windenb, Wo auf dem äußerſten Zweig ein Neft verſteckt lag Mit acht Jungen, und über ihnen der Vogel, Der bie Eier gelegt unb auägebrütet. Und die Schlange, bie Zwitichernden alle achte Fraß fie, während bie Mutter, laut auffreifchend, Flatternd über bem Neft um die Jungen klagte. Aber auch fie am Außerften Flügel erwifchend, Schlang das Gethier hinab. Da fagte Kalchas: Blidt empor! neun Jahre werben wir fämpfen, Doch im zehnten gewinnen wir die Stabt. Und ſo wird es geſchehen! So ſprach Odyſſeus, Und die Achäer ringsum unermeßlich Schrien ihm jauchzend entgegen. Und Neſtor ſprach: Sind wir kindiſche Jungen hier miteinander, Die nicht wiſſen, wie es im Kriege zugeht? Haben wir denn nicht heilige Eide geſchworen? Mar denn Alles umfonft, und, was mühlelig

Homer's Ilias. 215

Durchberathen und endlich feſtgeſtellt ward,

Geht es in Rauch jet auf? und Schwur und Handſchlag

Eind in bie Luft gethan? Sei du, Agamemnon,

König jeht und Führer des Danaervolfes,

Und wenn Ein ober Zwei fich abjeits ſetzen,

Um von der Heimkehr zu reben, laßt fie reden!

Wir aber gehn micht, ehe wir nicht erfannt,

Ob Kronion uns tänfchte oder fein Wort hält!

Ich behaupte, er hat an jenem Tage,

Als wir die Heimat mit den Schiffen verliehen,

Gnäbig gewinkt, benn es blikte und bonnerte rechtshin.

Epreche Keiner von Heimkehr, ber nicht vorher

Ein trojanijches Weib in ben Armen gehabt,

Ehe nicht Helena’3 Raub und ihr Seufzen gerächt ift!

Doch will Einer durchaus nach Haufe fahren,

Gut, fo befteig’ er jein Schiff: fein Loos wirb fein,

Noch vor den Anbern zu fterben! Seht, Agamemnon,

Lab die Männer ſich nach Gejchlechtern theilen,

Daß bie Feigen fi von ben Tapferen fcheiden,

Und offenbar jei, ob uns göttlicher Rathſchluß

Oder menjchliche Furcht von der Stadt zurüdhält. Und antwortend, begann jekt Agamemnon:

Wieder befiegt bie Weisheit beines Wortes

Alle Achäer. Heilige Götter, hört mich!

Stünden Zehne wie bu mir Hier zur Seite,

fallen müßte die Stadt, doch Zeus Kronion

Sanbte verdberblichen Zank und Unheil nieder.

Denn Achilleus und ich begannen zu ftreiten

Um dad Mädchen, und ich fing an! laßt uns

Einig Beide wieder zuſammenhalten,

Wehe dann den Trojanern! aber jebt

Stärken wir und mit Speiſe und Tranf, und bringen

Waffen und Pferde in Ordnung!

Den Gedanfengang ber drei Redner verfolgend, bewundern wir, wie der Dichter jeden von ihnen aus jeinem Charakter heraus die entjcheidenden Worte finden läßt, da3 Heer umguftimmen. Zumal Agamemnon, ber, wie jchon gejagt worden ift, wieder doch nur eine WVorjpiegelung eintreten läßt. Odyfjeus’ Rede ift ein Meifterftüd. Dieſe Art, jcheinbar Alles zuzugeben, um die Ges müther in die Hand zu befommen, ift nur Sache großer Redner. Der eingetvorfene Zwiſchenſatz, der in verſteckter Wirkung das entfräftet, was der Hauptjat ent» hält, ift Shafeipeare und Homer gemeinfam. Das heuchlerifche Anerkennen der Sehnſucht nah) Haufe, um fie fofort in anderem Lichte erjcheinen zu Laffen, erinnert an die Behandlung des Brutus, ben die Anerkennung, daß er ein ehren- werther Dann jei, nur um fo tiefer herabzieht. Der endliche Verlauf der Ver— fammlung ift uns nicht zweifelhaft.

Beim Beginne der Volksverſammlung, die zu der echten Heldengefinnung ih nun zurücdwendet, hatte der Dichter dad Zuftrömen der Völker mit der Bewegung der Meereöwogen verglichen, fie kamen heran

Brüllendb wie an das Felſenufer die Welle Anftürzt, und es erdonnert die weite Meerfluih.

216 Deutiche Rundſchau.

Beim Schluffe der Verfammlung kehrt er mit feinem Vergleiche zum Meere zurüd. Waren in den beiden obigen Verſen aber Fels und Meer in einfachen Stoß und Gegenſtoß geichildert worden, jo heißt e3 nad) Agamemnon’3 Rede:

Alfo ſprach er, und das Gebrüll der Achäer Hallte empor, wie, wenn der fommende Sübwind Peiticht auf das Meer, bie Woge am übergebeugten Vorwärtöhängenden Vorgebirg', dem niemals Wind und Wellen, von allen Eeiten fürmend, Ruhe gewähren.

Welch prachtvolle Verftärkung der Anfangs leiſer angejchlagenen Mtelodie nun durch den eingreifenden Südfturm! Ein Gefühl unmwiderftehlicher Volks— fraft dringt aus dieſem Vergleiche und entgegen.

Die Verfammlung alfo ift zu Ende. E3 erfolgt die Abhaltung des Opfers. Dann tritt Effen und Trinken und Borbereitung zur Schlacht ein. Und endlich wird berichtet, mit wie unendlicher Heeresmadht die Achäer den Zroern ent: gegenftehen. Einmal muß der Zuhörer denn doch erfahren, wer alles dabei war. Immer ift von dem Heere und den Schiffen die Rede geweſen: wieviel waren ihrer, die auszogen? Wir erinnern an die Einleitung der Tragödie des Aeſchylos, deren Inhalt der Untergang der Perjer ift: wie da in einem Chorgejange, ber wie ein Volkslied Elingt, die aufgezählt werden, die gegen Griechenland aus: gezogen waren und die Alle verderben mußten.

Wirkſame Mittel werden jebt angewandt, den Auszug der Griechen zur Schladt mit Glanz zu umgeben. Agamemnon bildet die Mitte. Um ihn die Fyürften, jeder jeine Scharen ordnend. Mit ihnen Pallas Athene, die Aegis ‘haltend, deren bejondere Beichreibung die Wirklichkeit ihrer Erjcheinung bekräftigt. Immer wieder jehen wir den Dichter den Kunftgriff antvenden, durch genaue Darftellung einer Aeußerlichkeit die gefammte Erſcheinung, das Geiftige jogar mit eingejchlofien, und borzutäufchen, al3 jei das llebrige ebenfo real wie das eine Kleine Stüd, das er und in unantaftbar glaubwürdiger Wirklichkeit vor die Augen ftellt.

Aber noch andere Mittel ftehen Homer hier zu Gebote.

Das Zuftrömen zur Volksverſammlung hatte er mit dem Ausſchwärmen von Bienen vergliden, die in voll nachdringenden Maffen fich über bie blühende Wieſe verbreiten. Seht läßt er nicht weniger als vier durchgeführte Vergleiche dicht aufeinander folgen, um uns die Unermeßlichkeit des Gewühls und die Zahllofigkeit der griechiſchen Heerhaufen einzuprägen.

Der erſte:

Wie wenn Flammen die unendliche Waldung

Hod auf dem Rüden bes Gebirgs ergreifen,

Und in ber Ferne ber feurige Schein zu ſehn ift:

So bie blintenden Waffen der Vorwärtsziehenden

Leuchteten weithin fichtbar auf zum Aether. Ohne Uebergang eilt ex zum zweiten Bilde:

Und wie fliegender Vögel viele Völker,

Gänſe und Kraniche und lanahälfige Schwäne,

Ueber fumpfige Wiefen am Flußgeſtade

Flügelſchlagend und fchreiend die Luft durchtummeln:

So von den Schiffen ergoffen ſich die Achäer

Homer’; Ilias. 217

In das Gefilde, daß des Stamandros’ feuchte

Ebene zitterte vom Geftampf der Menichen

Und ber Roſſe, und jo,am Ufer bes Fluſſes

Traten Taufende da die Blumen nieder,

Selbft wie des Frühlings Blumen und Blätter unzählbar.

Aber auch das genügt ihm nicht, und ohme Uebergang ein neues Bild:

Und wie unzählbarer Fliegen viele Völker

Um bes Hirten Gehäge begierig ſchwärmen, Wenn im Frühling die Milch die Eimer anfüllt: Eo die Achäer voll Begierde, die Troer

Auf dem Gefild im Kampfe zu vertilgen.

Man bemerke, wie jedes Bild eine andere innere Handlung charakterifirt.

Erft das Einherziehen des Heeres als ein Naturereigniß; dann das vorwärts fi) wälzende Gedränge, um an Ort und Stelle zu gelangen; dann die ertvachende Kampfbegier im Anblid de3 Feindes.

Und zuleßt nun das Sichordnen zum Angriff. Auch dies letzte Bild ohne Uebergang den vorhergehenden angereiht.

Und wie Hirten weidende Ziegenherben,

Die ſich gemifcht, leicht ſondern, ftellen die Führer Ordnung ber für die Schladt: in ihrer Mitte Agamemnon der König, Blid und Haupt

Wie der donnergewaltige Zeus! gegürtet

Wie der Kriegägott! und mit gewaltigen Schultern Wie Pofeidon! und wie der Stier in der Herde Hocaufragend zwiſchen den Rindern hergeht:

So verherrlichte Zeus ihn dieſen Tag,

Daß er giöher erjchien ala alle Helden.

Mit welder Stärke tritt und bei diejen vier Vergleichen das entgegen, was ih den mufitaliichen Gehalt nenne. Jedesmal von Neuem anhebend, Klingen fie in fanftem Fluſſe al3 VBerherrlihung des Königs aus.

Bemerfen wir auch, wie Homer in diefen Bergleihen Himmel, Meer und Erde umfaßt. Zuerft jene kraftvollen beiden Bilder, die und an die Küfte führten, wo Wellen und Felſen im Kampfe find. Dann das Gebirge, auf dem der unabjehbare Wald in Flammen aufgeht. Dann das Reich der Luft, in dem die Vögel fi tummeln. Dann die Wieſe am Ufer des Fluffes, wo die Blumen fliehen. Dann die Milcheimer, die im Frühlinge nie troden werden, von ben fliegen umſchwärmt. Und endlich die Hirten mit den Ziegen und der friedlichen Rinderherbde.

Erinnern wir uns, wie Homer den erften Gejang, der jo viel Stürme umſchließt, mit dem Gelage und dem Schlafe der Götter abſchloß. Bemerken wir, wie er hier jet mit dem friedlichiten aller Bilder zu der furchtbaren Schladt und überleitet, die jo viel Verderben und Unheil bringt.

Welchem äfthetiichen Zwecke aber dient diejes Beftreben, die Phantafie mit landſchaftlichen Anſchauungen faſt bis zum Ueberfließen anzufüllen?

Wir ſtehen erſt in der Mitte des Geſanges, deſſen zweite Hälfte in einigen hundert Verſen oberflächlichem Urtheile nach nun nichts mehr enthielte, was die Phantafie zu bewegen im Stande wäre. Dieſe zweite Hälfte des Geſanges, die die Aufzählung der griehiichen Streitkräfte vor Ilion bringt, bedurfte etwas

218 Deutſche Rundſchau.

Starkwirkendes, das für das Feſthalten dichteriſcher Stimmung vorhielt. Dazu ſollen die vier, die Welt umfaſſenden Landſchaftsbilder dienen. Sie haben ſich uns als Hintergrund eingeprägt, vor dem die Geſtalten der griechiſchen Helden nun in langer Reihe vorüberziehen, und die Städte und Burgen auch ſich zu erheben ſcheinen, die als die heimathlichen Wohnſitze aufgeführt werden. Homer hat unſeren Geſichtskreis abermals ausgedehnt. Bis jetzt kannten wir nur das griechiſche Lager an der troiſchen Küſte: es iſt Zeit, einen Blick auf das Land zu werfen, das den Griechen nun ſchon neun Jahre weit in der Ferne liegt. Wo ihre Frauen und Kinder fie ertvarten. Homer umfaßt immer da3 Ganze. Den Eindrud, den diefer zweite, fcheinbar troden referirende Theil unſeres Ge- fanges einft auf die Hörer gemacht hat, find wir heute am twenigften geeignet, nadhzuempfinden. Die Beichreibung des Baterlandes enthält er. So war einft die griechiſche Macht beichaffen. Das Meer ift die Heimath dieſes Volkes ge weſen. Was auf dem Meere, auf den Inſeln und rings umher auf dem Lande im weiten Kranze fich erhebt, bildet und umgibt da8 Vaterland der Griechen. Wie werden von den urjprünglicden Hörern Homer’3 die Einzelnen aufgemertt haben, wenn die Stelle, die von ihnen ſprach, an die Reihe fam! Und in allen jpäteren Zeiten: wie muß die nachlebenden Gejchledhter der Hinblid auf dieje ungeheure Fluth vaterländifchen Gewäſſers erhoben und an die Urzeiten erinnert haben, wo Welt und Griechenland Ein3 waren! So würden die Hörer heute aufhorchen, wenn in einem den Krieg von 1870 befingenden Gedichte die einzelnen Armeen und die Regimenter aufgeführt und charakterifirt worden wären. Bloße Namen und troden jcheinende Zahlenangaben werden in der Erinnerung ſich da beleben und mit friſchen Kränzen ſich wieder umwinden. Man jehe doch nur, wie der Soldat heute aufhorcht, wenn die Zahl feines Regimentes genannt wird.

Lafjen wir uns diefe Verſe nun aber ala ein Loblied auf die Herrlichkeit de3 Landes der Achäer durch die Scele gleiten, welch' wunderbarer Nachklang, den der Dichter und an ihrem Ende liefert! Mit Agamemnon's Erjcheinung hatte da3 vierte jener großen Landichaftsgemälde abgejchloffen; feine Macht wird inner halb der griechiichen Heereskraft als die höchfte von allen gepriefen, Agamemnon’s Ruhm erfüllt den ganzen zweiten Gejang, ja, und felbft jet, wenn bei der Auf: zählung die Reihe an Achill kommt, wird nichts gejagt, was defjen Fyernbleiben vom Kampfe an diejer Stelle als verhängnigvoll erfcheinen Tiefe. Don Achills Schönheit nur ift nebenbei bier noch einmal die Rede. Nireus, einer der Heer: führer, der aus Syma fam, fei jchöner als alle anderen gewefen, nur Achill ſchöner al3 er; aber unkriegerifch ift Niveus und nur mit wenig Schiffen ge kommen. Bei Achill dagegen wird, als die Reihe an ihn kommt, jein Hummer um die verlorene Briſeis dadurch ftärker in den Vordergrund gebracht, daß erzählt wird, wie er fie in ſchwerem Kampfe einft errang, worauf ber Dichter in Auf zählung der Heerführer und der Schiffe und ber heimathlichen Gefilde fortfährt.

Räumlich entfpricht diefe zweite Hälfte des zweiten Gejanges der bem Treiben der Olympier gewidmeten zweiten Hälfte de3 erften. Wie das Leben in ben Paläften der Götter und Göttinnen dort unfere Phantafie endlich jo einnimmt, daß die Schickſale der Griechen zurüdtreten, fo wird hier unſer Gedächtniß mit

Homer's Ilias. 219

der kein Ende nehmenden Aufzählung der Helden und Städte und Schiffe ſo er— füllt, daß wir durch eine finnliche Nöthigung uns von der troiſchen Küſte ab— und dem weiten Anblicke des damaligen Griechenlands hingeben.

So weit aber wollte uns der Dichter nur haben, um mit wenigen letzten Worten Achill dann doch noch einmal einzuführen!

Die Helden ſelbſt ſind aufgezählt, da fällt dem Dichter ein, noch ein Wort über die Trefflichkeit ihrer Roſſe zu ſagen. Die beſten ſind die des Eumelos, ſchnell wie Vögel, gleichen Haares, gleich alt, von gleicher Höhe über den Rücken hin, Stuten beide und Schrecken verbreitend, wenn ſie über die Ebene fliegen. Der ſtärkſte von allen Männern, fährt Homer fort, iſt der Telamonier Ajax, ſo lange als Achill zürnend ſich fernhielt. Denn Achill war ſtärker als alle, wie ſeine Roſſe auch ſtärker waren.

Doch der ſaß bei den dunklen, die Wogen durchfurchenden Schiffen, dem Könige zürnend, und ſeine Völker Füllten am Ufer des Meeres mit Discuswerfen

Und mit Bogen und Pfeil die Stunden des Tags aus. Aber die Rofje jelber riffen den Lotos

Da und bort vom Boden ab mit ben Mäulern:

Lotos und Eppich, bie in Sümpfen wachſen,

Während die Wagen der Führer wohlverpadt

Still in ben Zelten flanden, und ihre Herren

Hier und dba im Lager herum fich treibend,

Thatlos in der Stille ben Kampf erfehnten.

Wie ift mit diefem Anblick Alles plögli in unferer Phantafie ausgelöfcht, was von freudiger Erwartung fi) wieder entzündet hatte. Die wenigen inhalt= reichen Worte breiten über Agamemnon mit jeinen Siegeshoffnungen wie einen dichten Nebel aus. Zeus’ böfer Wille gegen die Griechen obgleih Homer hier nichts davon jagt kehrt uns als das in die Seele zurüd, was die bevor- ftehende Anftrengung des Königs und feiner Helden zu vergeblichen Mühen machen wird. Ya, noch mehr: ein letztes Echo der Schmähungen des Therfites war uns unbewußt im Gedächtniß zurücdgeblieben und beginnt nun leife aufzutönen: ba3 Gefühl, daß, was Therfites gegen den König an Vorwürfen vorgebradt, doc) die lebte Grundftimmung des Volkes gegen Agamemnon zum Ausdruck bringe. Etwas Unzerftörbares lag in den dem Könige angehefteten Flecken. Eine unbejchreiblige, wie Krankheit fich ausdehnende Macht ſteckt in den die finftere Unthätigfeit Ahill’3 und das Umherlungern feiner Leute malenden Verſen. Aber auch ein Gefühl der Schuld weht und daraus ſchon entgegen, die Achill mit dem thatlofen Daliegen und Herumlungern, zu dem er fein Volk zwingt, ſich aufzuladen begonnen hat.

Der zweite Gejang ift, was die Griechen angeht, hier zu Ende. Wir erivarten im nächſten Gejange die Schladt. Bor ihrem Beginn aber will der Dichter neben den Griechen und den Göttern das dritte Element einführen, da8 am Kampfe theilnimmt: die Stadt de3 Priamos und die, die fie bervohnen. Nur drei Namen find von der troijchen Seite bis jeßt erwähnt worden: Priamos, Hektor und Helena. Aber fie werden eben nur genannt. Während das Lager der Griechen und das Meer und der Olymp uns in feften Bildern vor Augen ftehen, liegt

220 Deutſche Rundſchau.

die Stadt, deren Eroberung den Belagernden verſprochen worden war, noch wie in weiter, dunſtiger Ferne.

Wir haben die Kunſt bewundert, mit der Homer im erſten Geſange den Schauplatz ſich verändern läßt: im zweiten gibt er uns neue Gelegenheit dazu. Von den Zelten des Agamemnon führt er uns zu denen des Neſtor. Das weite Feld thut ſich auf, wo die Griechen Verſammlung Halten. Mitten unter den Schiffen ſtehen wir dann, die ins Meer gezogen werden. Dann das ungeheure Panorama der griechiſchen Welt, das vorüberzieht, um uns endlich ins Lager des Achilleus zurückkehren zu laſſen. Homer's Princip iſt, die Phantafie land— ſchaftlich nie leer zu laſſen. Zu Ende des zweiten Geſanges bringt er uns mit einem Schlage jetzt mitten in die Stadt hinein, vor die Thore des königlichen Palaſtes. Entrückt ſind wir dem Lager der Griechen, das uns nun aus der Ferne nur gezeigt wird, wie die Troer es von den Mauern der Stadt herab vor Augen hatten. Schon im erſten Geſange hatte der Dichter uns aus dem Lager jo auf die Höhen de3 Olymp verjeßt.

Homer wählt eins der Mittel, die ihm eigenthümlih find. Iris, eine Botin des Zeus, hat gejehen, was im griechischen Lager ſich vorbereitet, und fliegt, auf Zeus’ Gebot, windjchnell zur Stadt, e8 den Troern zu binterbringen. Nur eine kurze Scene empfangen wir jebt, aber fie ein Bild uns entrollend, da uns tief in die trojanifchen Dinge einführt.

Gejagt wurde, wie der Dichter nur mit geringer Andeutung im erften Gejange verräth, wa3 die Griechen vor Troja führte. Beim Streite der Fürſten nennt Achilleus nebenbei die Zerftörung der Stadt als das Selbftverftändliche, um deifentwillen man das Vaterland verlafjen habe, und bier und da in gelegent- licher Erwähnung, wird weiter davon geſprochen, ohne aud dann zu jagen, aus welchem Grunde Troja zerſtört werden jolle. Auch werden Priamos und Priamos’ Söhne erwähnt. Aber jelbjt beim Gelage, im Palafte des Olymp, hören wir von feinem der Götter, daß er, im Gegenjaße zu Zeus, den Troern geneigt jei.

ragen wir, warum der Dichter fo verfahre, jo jcheint die Antwort nahe zu liegen, daß Homer nicht erſt erzählen zu müſſen glaubte, was Jeder wußte. Diefe Antwort aber enthält vielleicht nicht da3 Zutreffende Heute wifjen wir Alle im Theater vorher, wie Hamlet endet: einen Tag aber gab es, wo das Publicum, das das Theater füllte, nur wußte, was der Dichter ihm von Scene zu Scene enthüllte. Auch dem Publicum Homer’3 müſſen die Kämpfe vor Troja einmal zum erſten Male gejungen worden fein, und e3 bat damals nichts gewußt, al3 was von Vers zu Vers ihm offenbart ward. Homer aber liebt es, das Kommende eine Zeitlang mit leijeren Tönen vorausklingen zu lafien. Erft dann jollte von den Troern in vollem Umfange die Rede jein, wenn ihre Scidjale in voller Kraft in die Ereigniffe einzugreifen begönnen.

Here, ala fie Athene herabjendet, damit Odyſſeus der Flucht der Griechen Einhalt thue, nennt Helena zuerst, und in Nejtor’3, in der großen Verſammlung gehaltenen Rede ift unter den Griechen zum erſten Male von Helena die Rede, deren einfame Seufzer zu rächen den Griechen obliege. So überjegt Voß: es fann aber auch nur heißen: deren Entführung und Nöthe zu rächen jeien. Was bejeufzte Jie? Was hatten Priamos’ Söhne mit Helena zu thun? Noch iſt

——

Homer'3 Alias. 29}

Paris nicht genannt worden; aljo Hektor vielleicht, defjen Namen in Agamemnon's Rede ausgejprodhen wird? Nicht ruhen will Agamemnon, ala bi3 er diejem den Panzer gejprengt hat, daß er auf dem Antlitz Tiegend, knirſchend mit den Zähnen in den Staub beiße. Warum? GErft in der Aufzählung der griechischen Heerkraft, als die Reihe an Menelaos gefommen, erfahren wir, daß Mtenelaos von allen zumeift das Herz gebrannt habe, Helena zu rächen.

Als jo wenig Wiffende führt Iris uns nun in die Berfammlung Derer ein, die innerhalb Troja's am Thore des priameiichen Palaftes Rath pflegen. Greije und Jünglinge, eine Verſammlung bildend. Die Thatſache Ion: daß Jung und Alt gemeinfam friedlich beräth, dat weder von Vornehm noch Gering die Rede ift, auch nicht Beichlüffe haftig gefaßt werden, jondern nur vom Wohl des Reiches ruhig geſprochen wird, führt uns in Verhältniffe ein, die von den griechiſchen verjchieden find. Wir athmen ftädtiiche Luft. Man lebt nicht in Zelten, jondern in Häufern und Paläften, Hinter feften Mauern. Man befindet fih im Kriege, aber die Gefahr jcheint draußen weitab zu liegen.

Polites, einer der zahlreichen Söhne des Königs, war an jenem Tage aus— oefandt worden, die Feinde zu beobadhten. Auf der Höhe eines Grabhügels fitend, fieht ex die Achäer ſich heranwälzen. In der Geftalt diefes Polites erſcheint Iris am Thore des Palaftes, und ihre Anrede an den König malt Priamos’ geiftige Verfaffung. Ein Grei3, für den die Söhne handelnd eintreten. Iris beginnt mit einem Vorwurfe. „Greis,“ redet der jcheinbare Polites Priamos an, „immer haft du bei unkritiſchem Geſchwätz dich beruhigt, jo wie damals, ald du an den Krieg nicht glauben tollen, der endlos entbrannt iſt. Oft genug habe ih in blutigen Schlachten gekämpft, niemal3 aber ein Wolf gejehen wie die Griechen, die zahlreich twie die Blätter des Waldes oder wie der Meerſand auf die Stadt losziehen.“ Diele Bundesgenoffen habe die Stadt, fährt ex fort, die, bon verichiedener Sprache, einander nicht verftänden: jeder diefer Scharen folle ihr Herrſcher jet den Pla zum Kampfe anweiſen, Hektor aber die Bürger zur Shlaht ordnen. Das Wort Bürger Elingt ung ſeltſam in da3 Ohr. Damit hat Iris ihre Sendung erfüllt und die Scene bricht ab. Weder Helena nod) den don Priamos’ Söhnen, dem fie angehört, noch Hektor fehen wir. Der Ein- blik in Troja hört wieder auf, wie ein Sonnenftrahl die Wolken durchbohrend auf eine Minute ein Stüd der Landichaft hell macht und wieder in Schatten dann verfinfen läßt. Keine Worte fallen mehr. Aber auch die Troer ſetzen ſich in Bewegung. An einem vor der Stadt liegenden Hügel machen fie Halt und ftellen fi in Schlachtordnung. Der Reft des Gefanges ift der Aufzählung der ſtädtiſchen Heeresmacht gewidmet. Hier braucht der Dichter nicht breit zu fein. Seine Zuhörer ſtehen auf Seiten des eigenen Volkes, Keiner erwartet von den Trojanern zu hören, was ihn näher angeht. An erfter Stelle nennt Homer die Truppen Hektor's als die zahlreichiten und beten. So hieß «3 auch bei denen de3 Agamemnon. Nicht in gleichem Maße aber wird den Troiſchen das Lob zu Theil, wohlgeordnet zur Schlacht dageftanden zu haben.

Noch einmal aber, am Schluffe der Aufzählung, wird Achill genannt. Bei Naftes, dem Führer der Karer, der, geſchmückt wie ein Mädchen, in die Schlacht ging. Aber jein Gold vermochte ihm nicht zu retten, heißt e3 weiter, das

222 Deutiche Rundſchau.

der ſtarke Achilleus al3 Beute davontrug. Naftes erinnert an jenen Nireus, deſſen Schönheit der Achill’3 gleich Fam, aber der unkriegeriſch war und mur mit brei Schiffen fam. Homer deutet eine zukünftige Zeit an, zu dev Achill wieder am Kampfe theilnehmen wird.

Der zweite Geſang Klingt nicht aus, jondern hört plößlih auf. Zuweilen meine ich, er habe bereit3 da ſchließen jollen, wo Adill’3 und der Myrmidonen unthätiges Dafigen geihildert wird, worauf mit dem Grjcheinen der Iris in Troja ber dritte Gefang dann einen ſchönen Anfang nähme Die dem zweiten Gejange auf diefem Wege fortgenommenen Hundert Verje würden bei biejer Anordnung auch räumlich dem dritten Geſange zu ftatten zu fommen jcheinen. Aber ich jage mir wieder, daß der Blick in die Stadt als Vorſpiel deffen, was der dritte Geſang bringen wird, eine Nothivendigfeit fei, jowie, daß er, an ben Anfang des dritten gebracht, deſſen Defonomie ftören würde. Ind was das Verſtummen des Dichters angeht, jo entfprechen dem die Abjchlüffe ſämmtlicher Gejänge des Gedichted, die wenigen ausgenommen, welche mit Ginjchlafen endigen wie der erfte. Da ift es, als ob Homer habe fortfahren wollen und ala ob er, inne werdend, daß für diesmal genug gejagt worden ſei, mitten im Flufſe der Rede ſich unterbrede.

Dante’3 Gejänge ſchließen oft jo plöglid. Homer's Art, die Scene wechſeln zu laſſen, als feien nur Fragmente von Dichtungen verjchiedenen Urſprungs aneinandergereiht und da3 lebte Bruchſtück durch einen Zufall nur das letzte, finden wir nirgends jo deutlich wieder ala bei Shafefpeare, der das zufällige Zufammenwerfen von Scenen ba jcheinbar am jorglojejten walten läßt, two ber geiftige Faden am ftraffften angezogen ift. Im Wintermärden, in Cymbeline zum Beifpiel. Aus einem halben Dutend Dramen jcheint er da diefe und jene Scene, halb oder nicht einmal halb, ausgefchnitten und diefe Ausfchnitte roh in Verbindung gebracht zu haben: gehen wir auf da3 rein Geiftige aber, jo zeigt fi nirgends eine Naht, nirgends eine Lücke, nirgends ein Zuwenig oder Zuviel, fondern unter ſtizzenhaftem Anjchein ein vollendete Kunſtwerk.

a

Dritter Gejang.

Im dritten Gefange verläßt Homer die panoramamäßige Behandlung der Dinge. Er reiht nicht mehr bloß die Scenen aneinander, ſondern entwidelt fie auseinander. Ich fagte oben, der erfte Geſang habe gleichſam zwei Ouvertüre: man könnte die beiden erften Gejänge wiederum eine doppelte Ouvertüre der ge— ſammten Ilias nennen. Es wird ein Vorgeſchmack deffen in ihnen gegeben, was toir zu erwarten haben. Sie enthalten mehr Thatſachen als zuſammenhängendes Thun, mehr Bilder, die frei auf einander folgen, als daß das Spätere vom Hrüheren gefordert würde. Der dritte Gefang erft führt uns in zufammenhängen- dem Berichte in die Urfachen des großen Krieges ein, der als vorhandenes Element ſtillſchweigend vorausgeſetzt wurde.

Homer, eher er die Kämpfe beginnen läßt, die, Zeus' Verſprechen zu Folge, ohne Achill's Wiedereintreten zu Gunſten der Griechen nicht zur Entſcheidung

Homer’s Alias. 223

fommen jollen, muß die rau endlich fichtbar werden laffen, die an allem Unheil Schuld war. Ein übermächtiger Kunftverftand ſpricht aus des Dichter Art, Helena und vor Augen zu bringen. Sie ift zu ſchön, um beſchrieben zu werden. Er läßt und ihre Erfcheinung nur ahnen. Wie ein Künftler die Kraft des Sonnenlicht3 nur in der Helligkeit deſſen fich zeigen läßt, was es beftraßlt. Mit zwei Vergleichen leitet der Dichter unferen Gejang ein, jedem der beiden

Völker einer gewidmet. Beide Bilder verfchmelzen in unferer Phantafie zu einem einzigen landſchaftlichen Gemälde. Bon der Stadt her kommen die Trojaner wie Scharen von Kranichen, die auf der Flucht vor den winterlichen Regengüffen chreiend dem Dcean zueilen und zum Kampſe mit den Pygmäen ſich herab» ftürzen. Schweigend fommen vom Dteere her die Achäer ihnen entgegen.

Wie der Südwind auf des Gebirges Häupter

Nebel Herabgieht, wenig bem Hirten erwünfcht,

Aber bem Räuber gelegener ala die Nacht,

Wo man jo weit fieht ala ein geworfener Stein fliegt:

So erhob ſich unter den eilenden Füßen

Staub in Wolken empor hin über die Ebne.

Eine Landichaft fteht vor und, al3 erinnerten wir un ihrer. Links drohende Regenwolken, aus denen die Kraniche herabfommen; in der Mitte das Geftade des Meeres; rechts die vom Nebel bededten Berge. Staub fteigt auf. Himmel und Erde find erfüllt. Luft, Wolfen, Vögel, Meer, Gebirge, weidende Herden, Hirten und Räuber, und dazu da3 Getöje und Stampfen der beiden Heere. Und aus der breiten Maſſe dieſes Anblicks leuchtet die Geftalt deſſen heraus, der die Feinde ins Land gebracht hat: Paris, oder, wie Homer für manche Geftalten doppelte Namen bringt, der göttliche Held Alexandros.

Der mit bem Fell des Panthers über den Schultern Mit dem gefrümmten Bogen und dem Schwerte, Und zwei erzbegipfelte Lanzen tragend,

Seht die Beften ber Griechen zum Kampfe aufrief.

Scheinbar ein heldenmäßiges Auftreten. Und wie verächtlich desſelben Mannes plößliches Verſchwinden beim Erſcheinen des Menelaos, al3 diefer, um endlich num feine Rache zu fühlen, feiner Herausforderung folgend, vom Wagen

herabipringt. | So wie ein Löwe, größerer Beute begegnend, Hunde und Jäger verjcheuchend, fich auf den Hirſch Oder den Gemsbock wirft.

Kampf und Unterliegen, nicht aber zitternde Feigheit des Räuber wird von und ertvartet.

So wie ein Mann vor der Schlange zurückbebt, Die aus dem Didicht tief im Gebirge hervorſchießt, Zitterten Alerandros dba bie Glieder.

Farblos und fahl verſchwand er unter den Andern.

Und danach Hektor’3 Rede nun, in der er, wüthend vor Beihämung, feinem Bruder die Wahrheit jagt. Und dann die Untertvürfigkeit, mit der Paris Hektor anhört. ch verfuche, Hektor's höhniſche Worte diesmal in jambiſcher Form zu geben, jo etwa, ala ſei e8 eine Stelle aus Shafefpeare'3 Troilus und Greffida.

224 Deutiche Rundſchau.

„Sigrragıs“, „Unglüds- Paris“, nennt Hektor jeinen Bruder, wie man in Berlin „Pechſchulze“ gebildet hat.

Pech-Paris! Fraunverführer! Schöner Mann! Du wäreft beifer unergeugt geblieben,

Statt jammt bem Weibe, daß du heimgebradht, Don Troern und von Griechen mit Gelächter Begrüht zu werben. Wie du jämmerlich, Kraftlofer hübſcher Kerl, vor Allen baftehft! Moher nahmft bu den Muth nur, übers Meer, Das keine Ballen Hat, dir biefe frau, Kriegriicher Männer Schwägerin, zu ftehlen? Die deinem Bater, die ber Bürgerichait

Zum Unheil, Troja's Feinden nur erwünſcht, Dir felbft zu ew'ger Schande hier erſchien?

Du magteft nicht, den Gatten abzuwarten: Heimlich gingft du davon; der würde wahrlich Gezeigt bir haben, welchts Mannes Weib

Du fortgeführt! Da hätten Aphrodite,

Dein Saitenfpiel und dein geringelt Haar Dich nicht geſchützt: im Staube lägeft du

Mit einem Rod von Steinen auf den Schultern!

Man bemerkte den Unterfchied des Accentes zwiſchen Hektor's Rede und den Worten, die im griechifchen Lager zwiſchen den Fürſten zu fallen pflegen. Dieſe brüllen fi) mit natürlicher Grobheit an, als ob fie in anderem Tone nicht zu iprechen müßten. Soldatifche Rauheit tönt uns entgegen: aus Hektor's Munde empfangen twir den Ausbruch des Untoillens eines fonft ruhigen Mannes, den Indignation zu einer Sprache hinreißt, die nicht bloß andonnern, jondern mit jchneidenden Accenten ins Fleiſch dringen joll.

Seine Abficht ift, Paris durch den Spott, den er über ihn ausgießt zum Kampfe zu bewegen. Beihämt und unterthänig gibt Paris dem Bruder Red, twagt aber doc daran zu erinnern, daß es ſich nicht um einen gemeinen Raub, fondern um die Annahme des Gejchenkes einer Göttin handele. Aphrodite's Werk war es gewejen, daß fo verführeriiche Schönheit Paris umjpielte. Eine Tochter des Zeus auf Geheiß einer Göttin zu gewinnen, war nidht3, das Vor— würfe verdiente. Dies deutet Paris dem Bruder an. Mit Helena’3 Gatten zu fämpfen, jei er bereit. Sammt ihren Reichthümern möge fie dem Sieger zufallen. Heltor übernimmt, den Zufammenjtoß der beiden Heere zu hemmen, und mit Menelaos beginnt die Unterhandlung wegen de3 Zweikampfes. Diefe Dinge werden Fraftvoll und mit der Breite ausgeführt, die Homer's Publicum für Beſprechungen diefer Art verlangte. Herolde gehen nad) der Stadt, um Opfer thiere zu holen und den alten Priamos herauszugeleiten, in deffen Gegenwart das Gotteurtheil feierlich vorbereitet werden joll.

Und nun jehen wir Helena auftreten.

Im erften Gefange war fte nicht, im zweiten einmal nebenbei erwähnt worden, in einer Art, die zu ihren Gunften vedet. Homer’3 Andeutungen weiſen die Auffafjung nicht ab, daß Helena reuevol ſich nach Haufe ſehne. Wir ver- urtheilen, aber wir haſſen fie nicht. Wie alle Frauen der Dichtung, erjcheint fie al3 niemals alternd im dauernden Befite jugendlicher Friſche. Mit unwider⸗

Homer’3 Alias. 225

ftehlicher Liebenswürdigkeit ausgerüftet und in göttlicher Fügung übers Meer fommenbd, hatte ein Königsjohn fie zur Flucht bewogen. Ein ſchöner Fremdling, der aus dem afiatifchen Stadtleben im einfamen meerabgejchloffenen Peloponnes erſchien, dem gebirgigen Argos, wo die Frauen der auf ewigen Kriegsfahrten abwejenden Männer fich verlaffen dünkten. Paris läßt Helena höheren Lebens— genuß in ber Ferne ahnen. Nicht gemeine Schiffsbauer, ſondern Künftler hatten jeine Schiffe gerichtet. Mit all’ ihren Reichthümern macht die fürftliche Frau fih auf die Flucht. Wir denken an Gleopatra und Antonius. Als die Tochter de3 Zeus zieht Helena in Troja ein, wo Paris mit den vornehmften Architekten der Stadt jeinen Palaft erbaute. Aber die Zeit der Enttäufchung hatte begonnen. Dem troiichen Volke und der Familie des Priamos ift Helena verhaßt. Und fie jelbft muß an das zurüddenten, was fie verlaffen hat. Mit ſolchen Gefühlen für und gegen fie erwarten wir ihre Gegenwart.

Wiederum fteht Iris dem Dichter zu Dienften, um ung aus der Mitte der beiden Heere, die zufammenftoßen wollen, in die Paläſte des Priamos und feiner Kinder zu verjegen. Wo e3 geräujchlos, wie wir die Wohnungen der Könige denken, hergeht und wo fie die Gattin des Paris am MWebftuhle findet. Solche Uebergänge vom Getöfe zur Stille liebt Homer.

Bemerken wir, wie er durch das Hineinflechten dev Götter Helena’3 ſowohl al3 Alexandros' Veranttwortlichkeit mildert. Nehmen wir heute jogar doch in fataliſtiſchen Stimmungen neben der bewußten Verantwortlichkeit ein unbewußt mitgebietendes Schickſal an. Und nun werden wir fehen, mit welcher Kunft von Helena beinahe der lebte Reft einer Schuld abgelöft wird.

Iris, wie zuweilen Götter und Götterboten thun, nimmt eine Maske vor. In der Geftalt der Laodike, der ſchönſten unter den Töchtern des Priamos, tritt fie ein und findet Helena ein Gewand webend, groß, zweimal einzufchlagen und purpurfarbig, in das fie Kampfjcenen aus dem Kriege hineinwirkt, der um ihre Perfon geführt wird. Dicht neben ihr ftehend, beginnt die verftellte Laodike: „Liebe Schwägerin,“ jagt fie, „mad Did) auf, wenn Du Trojaner und Achäer fämpfen ſehen willft; die Schlacht in der Ebene unten nimmt ihren Anfang. Jet aber ruhen fie plöglich Alle, auf die Schilde gelehnt und die Speere in den Boden geftoßen. Paris aber und Menelaos werden mit Lanzen um Dich kämpfen, und dem, der den Anderen befiegt, wirft Du zufallen.“

Alſo jprechend ließ ihr die Göttin Sehnſucht Sanft in das Herz einrinnen, und fie gedachte Ihres erften Gemahla, ihrer Stabt und ber Eltern. Und einen weißen Schleier um fich werfend

Ging fie aus dem Gemach mit thränenden Augen, Und gelangte dahin, wo das ſtäiſche Thor war.

*) Dort jahen Priamos, Panthoos und Thymoites, Lampos, Klytios, Hiketaon, Utalegon,

Antenor: die Räthe des Volks, am Thore;

Denen das Alter mitzulämpfen verjagte,

Deren Stimme nur ſchwach, jo wie ber Grillen Zarted Gezirp ben Rand bes Waldes entlang

*) Dort jähett Vriamos. Deutſche Rundſchau. XVI, 8. 15

226

Deutihe Rundichau.

Aus dem frühlingagrünen Gebüfche herausſchwirrt; So nun fahen die Alten des Volta am Thurme. Doch ala fie Helena kommen jahn zum Thurme, Sprachen fie leife wilpernd untereinander: Wer will tadeln, dak Trojaner und Griechen Um ein Weib wie dieſe jo lange fämpien ? Der aus den Augen recht die Göttin herausfieht! Aber ſei's! und wenn fie noch jchöner wäre: Fort zu den Schiffen mit ihr, daß unjeren Rindern Und uns felber fein Unheil draus erwachie! Alfo fprachen fie. Priamos aber rief Helena zu fi: Hierher, jehe dich nieder Neben mich Hin, Liebes Kind, damit bu ben erften Gatten fiehft und die Freunde und die Verwandten Du fannft nichts dafür, da? haben die Götter Auf dem Gewiflen, die mir den traurigen Krieg Mit den Achäern ins Land gebracht! Seht ſage, Mer ift Jener von gewaltiger Größe? Zwar aud Andre ragen wie er empor, Aber feinen von folder Hoheit jahen Je meine Augen, und wie ein König geht er.

Und die göttliche Frau: o lieber Vater, Vor dir muß ich mid ſchämen und du erfchredft mich! Ad, ich hätte fterben follen damals, Als dein Sohn hierher mich mit fich führte Und ich mein Bett und mein Rind und die freunde und bie Edlen Verwandten verließ. So follt’ es nicht fein! Ad, und ich weine darum. Doc weil bu fragft: Das ift Agamemnon, ber Sohn des Atreus! König, gewaltig und machtvoll und ftark im Kampfe! Ad, mein Echwager war er. Er iſt's geweſen! Aber Priamos ftaunend herabiehend rief: Shidjalbegünftigter, glüdlicher Sohn des Atreus, Wieviel Völker find dir jeht unterthänig! Einft ala ich jung war und nad Phrygien zog, Sah ich herrliches Volk dort; damals kämpft’ ich Gegen bie Amazonen jelber mit, Die wie Männer fi fchlugen aber auch damals Sah ich fein Heer wie das ber Achäer heute! Aber Odyſſeus erblidend fragt’ er weiter: Set aber ber, liebes Kind, wer ift denn der dort, Höher noch ala der Atride, breiter die Schultern, Vor ihm liegen die Waffen auf ber Erde Und er jelber fchreitet durch die Männer Wie durch die Herde ein mächtiger Widder ſich durchdrängt.

Das ift Odyffeus, erklärt Helena weiter. Und Antenor nimmt das Wort,

um zu berichten, wie ex jelbft Odyfjeus in Troja mit Menelaos einft beherbergte, als Beide Helena’3 wegen zu unterhandeln in die Stadt gefommen waren. Und dann weiter erzählt er, wie fie ihnen damals erfchienen jeien.

Stehend ragte höher empor Menelaos,

Aber jahen fie Beide, jo war Odyſſeus Hochanſehnlicher; und wenn Beide ſprachen, Sprach Menelaos wenig und raſch und jcharf,

Homer's Ilias. 227

Denn kurz angebunden und auf die Sache War er gerichtet und weniger Jahre zählt’ er. Aber ald dann der ſchlaue Odyff fich erhob, Stand ber da und blidte vor fich nieder Starr auf ben Boden die Augen vor fich gerichtet, Und ber Stab in ber Hand bewegte fich nicht, Meder zurüd noch vorwärts, ſondern feft Stemmt er ihn auf, wie ein Mann, der nach Worten jucht, Und vor Erregung die Gebanten verloren. Dod wenn ihm dann aus ber Bruft die große Stimme Vordrang wie ein Schneegeftöber von Worten: Keiner wäre ihm ba entgegengetreten! Da erft merkten wir, was der Mann bedeute! Doch zum dritten den Ajar jetzt erichauend, Wollte ber Greis von ihr willen: wer ift jener Andere achäiſche Mann, jo groß und kraftvoll, Der mit den Schultern über die Andern vorragt? Aber Helena: Jener von gewaltigem Wuchſe ift Ajar; und der Andere dort Iſt Idomeneus, ben Menelaoa und id) Oft beherbergten, wenn er von Kreta kam, Und jeine Leute ſind's, die ihn umgeben. Doch, was ift das? ich erkenne fie Alle wieber, Und mit Namen könnt’ ich fie die bezeichnen, Nur Zwei jehe ich nirgends, meine Brüder, Kaftor nicht und auch Polydeukes nicht! Sind bie Beiden zu Haufe denn geblieben? Oder famen fie mit aus Laledaemon, Aber wollen nicht fämpfen, weil fie die Schande, Die ich auf fie gebracht, zu tief empfinden ? Doch die Brüder lagen ja beide Längft Tief in ber Erbe des lieben Vaterlandes.

Niemand, der Geſchwiſter verloren hat, wird dieſe legten beiden Verſe Lefen, ohne erjchüttert zu fein. Diefe Scene, die mit einem Schlage hier abbricht, ift eine der ſchönſten, die menſchliche Dichtung hervorgebracht hat. Das ift ſchon oft empfunden worden.

Bemerfen wir die intenfive Gewalt, mit der fie unſere Phantafie anrührt. Homer ftelt und die Dinge dicht vor die Augen. Hole Jeder aus der Erinnerung die Auftritte ans Licht, bei denen er am meiften von dem Gefühle beivegt ge= wejen ift, jelbft mitzuerleben. Sagen wir Ecenen aud Hamlet, oder aus Fauſt, oder aus der antiken Literatur die des Aeſchylos: wie Kaſſandra das Haus de Agamemnon nicht betreten will; oder Alcibiades’ Herausforderung des Sokrates im Gaftmahle des Plato; oder wunderbare Stellen aus pindariichen Oden: überall höchſt lebendige Gemälde, wo aber in jo wenig Worten die Sadje jelbjt wie hier? Man fühlt die Duadern des ſkäiſchen Thurmes, von dem die alten Männer herablugen, wie mit den Händen, man meint Helena heranfommen zu ſehen, im lichten Schleier, den fie vajc) umnahm. Und das leiſe Gewiſper ber Greife und die Freundlichkeit des alten Herrſchers, der wohl einfieht, daß die

entzückende Schtwiegertochter der Spielball übermädhtiger Dämonen war. 15*

228 Deutſche Rundſchau.

Ein entſchuldigendes Gefühl beſchleicht uns. Wir ſehen die Frau ihre Gewiſſenslaſt mit ſich führen. Im Ueberblicke deſſen, was die Ilias bis zu dieſer Stelle enthält, dringen wir, Achill ausgenommen, keinem der Mitſpielenden fo tief in die Seele als Hier Helena. Die vornehmſte und bezauberndfte Fürſtin des Erdkreiſes wird von den Göttern im Geifte verwirrt, Mann, Kind, Brüder und Vaterland zu verlaffen, um ein ihr jelbft unfaßbares anders geartetes Dajein zu juchen. Und nun hat fie es zu erdulden. Bon nun an enthält Homer's Gedicht neben Achill und Therjites die dritte Geftalt, von deren Dafein wir überzeugt find.

Aber auch Menelaos, Agamemnon und Odyſſeus befiten wir num in realeren Bildern. Ich wies darauf Hin, wie e8 Homer’3 Art fei, uns allmälig mit den Zeuten bekannt werden zu laffen. Eins fommt zum Andern: plötzlich fteht die Geftalt fertig da. Dieſe drei ließ er bis dahin nur Handelnd auftreten, ohne ung ihren Anbli zu gewähren. Sie gehören nicht der außerlefenen Reihe Derer an, bei denen, wie bei Achill, zu jagen genügte: der ftärkfte und jchönfte von Allen! Sie brauden Etwas, da3 fie von Anderen unterjcheidet. Damit Agamemnon vor uns hintrete, muß Priamos ihn jet der Helena befchreiben. Bei den zwei Anderen fteigert fich der Dichter in der Kunft, nur jo nebenbei das MWichtigfte anzubringen, noch höher: einer der uralten Trojaner erhebt bie ſchwache Stimme, um von ihnen zu berichten. Diefe Porträts bezeugen die un: gemeine literariſche Eultur, die Homer umgeben haben muß.

Priamos war außerhalb der Mauern verlangt worden. Mit den „Söhnen“ allein, Hatte Menelaos erklärt, wolle er nicht? zu thun Haben. Wir erden fpäter den vollen Sinn diefer Worte erfahren. Priamos ift uralt und optimiſtiſch Er kämpft nit mehr mit und redet verföhnlid. Im vierundzwanzigften Gejange der Ilias exrft erleben wir die Vollendung diefer Geftalt, deren Wachs— thum im Laufe des Gedichtes langjam vorrüdt. Bemerken wir, wie Homer auch hier niemals fich wiederholt, nie Unnöthiges gibt, jondern Stein auf Stein das Piedeftal höher hebt, auf das er ben Vater Hektor's ftellen will. Immer ift Homer fich deffen bewußt, was vorher von ihm gejagt worden ift, und weih, an welcher Stelle dad dem Zuhörer noch Unbekannte zu geben jei.

Mit Priamos verjeßt Homer ung wieder auf die Ebene draußen, wo bie Heere einander dicht gegenüber ftehen. Die Abmahungen kommen zu Stande. Paris, für gewöhnlid ohne ſchwere Rüftung nur als Bogenſchütze eingreifend, legt den Panzer eines feiner Brüder an. Von der Mauer herab nehmen bie troiſchen Männer und Frauen an den Dingen Theil. Die Loofe fallen, wer von Beiden den erften Speerwurf zu thun habe. Paris: die Spibe feines Speeres biegt fih um am Schildbuckel des Mtenelaos, der feinerfeits jet Paris tödtlich getroffen haben würde, hätte Aphrodite ihren Liebling nicht geſchützt. Von ihrer Hand wird er plöglid) in die Königsburg von Troja verſetzt.

Jetzt ereignet fi) dort das, was Helena’3 Charakter höhere Weihe gibt und ihre Flucht und den quälenden Zwieſpalt ihres Gefühles erklärt.

Paris eriheint Menelaos gegenüber diesmal mehr unglüdlid als ſchwach, denn jeine Schuld ift es nicht, daß die Spike feiner Lanze fi umlegt. Er hat im Allgemeinen zwar etwas Widerftandsunfähiges in der Natur, er gibt

Homer’3 Alias. 229

nad: mit feiner Unterfcheidung aber vermeidet Homer, ihn kraftlos erfcheinen zu laſſen. Er ftellt ihn ala eine Art Menſchen für fi Hin. Paris ift der im Wohlleben einer reichen Stadt aufgewachjene gute Schüße, ebenjo wenig dafür gemadt, einen der Söhne des Atreus zu beftehen, ala ein moderner Dann, dem man jeine Waffen genommen hätte, einem Wilden gegenüber mit einer Keule fi hinreichend bewehrt fühlen würde. Paris gehört einem fein civilifirten Volke an. Sehen wir ihn und Menelaos ſich gegenüberftehen, jo empfinden wir da3 Ungleiche; man gönnt diefem den leichten Sieg, aber man freut ſich auch, al3 im entjcheibenden Momente Aphrodite den Riemen de3 Helmes fprengt, an dem Menelaos den Räuber Helena's endlich padt, um ihn im Fortziehen zu er- würgen. Plößlih ift Paris verſchwunden! Was jeßt vorgeht, ift das Ent- icheidende für Helena’3 Charakter.

Nieder jehte bie Göttin Paris im Zimmer,

Das bes Wohlgeruchs Athem erfüllte, unb ging,

Helena herzurufen. Unb die fand fie

Auf des Palafles Dach, wo troifche Weiber

Mit ihr ftanden in Menge, und am Gewand

Beife fie fafſend ftieß fie fie an mit der Hand,

Der uralten Schaffnerin gleih an Geftalt,

Die jo ſchön die Wolle zu zupfen mußte]

In Lakedaemon fchon, ala fie dort noch Haus hielt,

Und bie Helena liebte. Dieſer gleichenb

Rebet die Göttin Helena an: komm raſch!

Paris verlangt nach bir: fomm mit nad Haufe!

Wo er auf fchwellendem Lager deiner wartet,

Strahlend in Schönheit! Niemand dächte an Kampf,

Jeder an Tanz und an Wonne bei feinem Anblid!

Aber Helena bäumte das Herz fich empor,

Als fie das hörte; doch nun ſtand ber Göttin

Machtvoll üppige Hoheit ihr vor Augen,

Und die funfelnben Götterblide erfennenb

Schrak fie zufammen und rief: Betrügerin, willft du

Wieder jet mich verloden, jo wie damals?

Soll ich durch bie phrygifchen Städte etwa

Meiter hinweg, weil da oder dort bir Einer

Lieb ift, und Menelaos jept meinen Mann

Niederihlug, um mich armfelige Frau

Wieder nad; Haufe zu führen? Da fchleichft bu wieber

Liftig heran! jo geh’ du jelber doch hin,

Gib dich Hin und die Götterwirthichaft auf!

Und den Olymp betrete dein Fuß nicht wieder!

Sondern quäle dich ab und lauf ihm nad),

Dis er zur Frau dich, oder ala Magd bi annimmt!

Ih zu Paris jet? Dem mad’ ich bad Lager '

Nicht mehr! Denn das ſchickte ſich nicht! Es würden

Mich die troifchen Frauen alle tadeln,

Und id) Habe genug in mir zu tragen!

Aber in Wuth gerathend ſchrie Aphrodite

Helena an: Bring’ mich nicht auf, Verwegene!

Geh’ ich im Zorn jeht von bir, jo haſſ' ich bich

Künftig eben jo glühend, wie ich dich Liebe;

230

Deutſche Rundichau.

Und zwiſchen Troer und Danaer will ich Unheil Eien, das furdhtbar fein wird, und bu felber Gehft im großen Verderben mit zu Grunde!

Und e3 erzitterte Helena, als fie das hörte, Sie die Tochter des Zeus! Sie nahm ben weihen Schleier zufammen und ging und fprad fein Wort mehr. Keine ber troifchen Frauen hatt’ es gemerkt, Denn ein Dämon war &®, der ihr vorausſchritt.

Und fie famen zum ſchönen Palafte des Paris, Und die Mägde wandten fich raſch zur Arbeit, Und zum hohen Gemahle ging die rau,

Und bie lieblich lächelnde Aphrobite

Holte ben Seffel herbei, ihn ſelber tragenbd, Und gegenüber Paris rüdte fie ihn,

Und des aegisſchwingenden höchften Gottes Tochter, Helena, ſetzte fi auf ihn mieder, Wandte die Augen ab und ſprach zum Gatten:

Schon aus dem Kampfe zurüd? Am beften wärft du Unter ben Händen deſſen da geftorben,

Der als ein Mann von Kraft dich niederwarf, Und ber mein erfter Gemahl war! früher freilich Mollteft bu ftärker als er fein, prahlteft bu, Ihn mit den eignen Händen zu befiegen. Geh’ doch Hin und ford're ihn wieder heraus! Nein, bleib’ lieber zu Haus und hüte dich wohl Dem blondhaarigen Menelaos nochmals Unter die Fauft zu kommen, denn fein Speer Würde dich tödten.

Aber dad Wort aufnehmend Sagte Paris: Frau, nicht mit fo ſchwerem Vorwurf folft bu die Seele mir belaften. Hat Menelaos gefiegt, jo war Athene Hülfreih ihm; ich werde ihn wieder fordern, Und es ſtehen Götter auch uns zur Seite. Deshalb fomm, und ruhen wir miteinander, Friedſam, denn fo völlig hat nie bie Sehnſucht Mir die Sinne erfüllt, auch damals nicht Als ich dich fortgeführt aus Laledaemon Und auf der Flucht die Inſel Kranaë uns Ruhe zuerft gewährte und Bermählung. So wie damals ftehft du entzüdend vor mir! Alfo iprechend ging er zum Lager voran Und die Gattin folgte feinen Schritten.

So nun ruhten fie Beide nebeneinander.

Doc; der Atribe wie ein gereizted Raubthier Stürmte durch dad Gemwühl, ob er denn nirgends Den verfhwundenen Paris wo eripähte.

Doc) fein Troer vermochte dem Menelaos

Paris zu zeigen: hätte ihm einer geichn,

Nicht aus Freundſchaft würd’ er verftedt ihn haben! Denn fie haßten ihn Alle in den Tod.

Doc; Agamemnon rief: Trojaner, hört mid): Sieger war Menelaos! Gebt die Frau

Und ihre Schäße zurüd und zahlt eine Buße,

Homer’3 Jlias. 231

Wie euch geziemt und die für alle Zukunft Teftgeftellt wird! So ſprach Atreus’ Sohn Und bie andern Achäer riefen Beifall.

Ein großartiger Gegenſatz. Mitten aus dem. jchmeigenden Schlafgemade der verjöhnten Gatten werden wir in den Kampf zurüdgeriffen. Der dritte Gejang ſchien wie eine Symphonie in einem lang ſich hinziehenden ſüßen Tone ihließen zu wollen: mit einem Male bricht das wilde Gejchrei des Agamemnon wieder ein.

Homer zeigt fi) bei Helena von einer neuen Seite. Er will nicht be= ihönigen, er will nur erklären. Die Scene zwijchen der Göttin, die Alles auf dem Getviflen haben würde, wenn etwas wie Gewiſſen in ihr lebendig wäre, und Helena, die ihrem Gewiſſen faft erliegt, ohne fich der Mächte eriwehren zu fönnen, die ihre Echuld immer noch vermehren, läßt uns ahnen, welde Er- fahrungen Homer jelbft gehabt haben könnte. So tiefe Symbolik fliegt dem Dichter nicht aus dem Nichts zu. Helena's Rede, mit der fie die Göttin abzu- weiſen fucht, und ihr Nachgeben und Unterliegen rehabilitiren fie beinahe. Sie jieht den Moment herannahen, two Mtenelaos, den fie heiß betwundert und hoch— ftellt, fie der Lage entreißen wird, deren Unwürdigkeit fie empfindet. Da fteht die DVerführerin wieder neben ihr! Als Aphrodite fie in Geftalt der alten Dienerin anrührt, wittert Helena nur eine Lijt. Sie vermuthet ein neues un— befanntes Abenteuer, zu dem jie mißbraudt werden jolle. Wieder, meint fie, jolle fie einem abgethanen Liebhaber ihrer Schwefter als Belohnung anheimfallen. Und nun erfährt fie, was thatjächlich fich ereignete. Das Blut des Zeus empört fih in ihren Adern. Sie weiß, daß die Trojanerinnen fie hafjen: nun aber würde fie von ihnen veracdhtet werden!

Und melches Unterliegen! Wie viel, jagen wir wieder, muß der Dichter an GErlebnifjen in fich getragen haben, um die beiden Schweſtern jo nebeneinander zu ftellen. Wir wiflen, wie Chriemhild und Brunhilde, wie Elifabeth und Maria einander zu überbieten juchen, hier Haben wir das ältefte Berfpiel eines ſolchen Kampfes. Helena und Aphrodite brechen los gegen einander, und Rang und Macht tragen den Sieg davon. Selbft von der Familie des Zeus weiß Helena nur zu gut, daß man mit den olympiſchen Herrſchaften ſich nicht entziveien dürfe. Der Moment, two fie den Schleier zufammennehmend, ſchweigend folgt, iſt ein tragifcher. Noch einmal jucht fie dem Manne zu twiderftreben, den fie veradhtet aber Aphrodite betäubt fie. Eine ber Stellen, die wie bittere Ironie Elingt, ift der Ver, wo Homer Helena, im Begriffe nachzugeben, die Tochter des Aegis-erſchütternden Zeus” nennt, Beitworte, die jonft nur Göttinnen zu Theil werden.

Helena’3 inneres Schidjal Scheint Hier erfüllt zu jein. Und doch Hat ber Dichter eine Verſöhnung gefunden. Nur von zwei Leuten in Troja wird Helena verftanden: von Priamos, der jelbft in uralter Verwandtſchaft mit den Göttern verbunden war, und von Heltor, deffen bürgerlich reiner Edelmuth für die ein- ftand, die denn doc einmal nun einen Theil der Familie bildete. Helena erblickt in Hektor den einzigen Mann, der an Agamemnon und Menelaos und an ihre Brüder heranreiht. Es bildet ſich cine geiftige MWahlverwandtichaft zwiſchen

232 Deutiche Rundſchau.

ihnen, die Homer möglich macht, Helena in noch neuer Geftalt erjcheinen zu laſſen.

Ich thue einige Schritte voraus.

Im ſechſten Geſange wüthet die Schlacht zwiſchen den Troern und Griechen. Hektor eilt in die Stadt, um Paris herbeizuholen, der ſich vom Kampfe fernhält. Paris' Benehmen zeigt ihn hier von einer neuen Seite. Nachdem er Menelaos gegenüber eine ſo traurige Rolle geſpielt, findet er bequem, das Urtheil, das Freunde und Feinde über ihn fällen mußten, übel zu nehmen. Er hält ſich, als lebe man im Frieden, in feinem Haufe:

Dann trat Heltor ein. Den elf Fuß langen

Speer in ber Fauſt, deſſen erzene goldumfaßte

Spike weithin blikte. Und er fand

Paris, wie er mit herrlichem Waffenſchmucke,

Schild und Panzer, zu thun fich machte, wie er

Prüfend die frummen Bogen unterfuchte.

Aber Helena unter ben Mägben ſihend

Unterwies fie, wie fie zu weben hätten.

Das erjehend rief er mit firafenden Worten:

Menſch, jet willft bu Hier den Empfinblichen fpielen ?

Deinethalben gehen bie Völker zu Grunde!

Deinethalben lodert bes Krieges Gluth

Rings um Zlion’3 Mauern: würbeft du nicht

Den anfahren, ber jeht nicht kämpfen wollte?

Auf, wenn Troja in Flammen jeht nicht ftehn fol! Und Alerandros: Hektor, nicht mit Unrecht

Zabelft bu mich, boch irrft du, wenn du glaubft,

Daß ich grollendb mich zu hier zu Haufe halte.

Ja, ich hatt” es gewollt, doch dann bat mich

Helena füß und befänftigend, mid an bem Kampfe

Doc) zu beiheiligen, und meiner Meinung nad

Sollt’ ich ed thun, denn mwechlelnd wendet der Gieg ja

Dahin und dorthin fi. Ich Iege bie Waffen

Gleich an, warte! nein, geh’ lieber voran!

Und ich eile dir nach und bin gleich bei bir. Hektor ftand flumm dba. Und Helena nahm

Leiſe und ſanft das Wort. O Schwager, o id

Hündin, bie ih an allem Unheil Schuld bin!

Die dich mit Schauber erfüllt! O hätte damals,

Als ich zur Welt fam, mich ein Sturm gefaßt

Und über Berg und Thal ins Meer gejchleudert,

Daß bie Wellen mich in die Tiefe zogen,

Eh’ das Alles geſchah! Doc, da bie Götter

Einmal wollten, daß ih am Leben bliebe:

Hätten fie einem Manne mich nicht überliefert,

Der gegen Schimpf und Schande ohne Gefühl ift!

Doch den ändert jet nichts mehr! Komm body, Lieber,

Jetzt auf ein Weilchen herein und fe’ dich nieder,

Schwager, der du um mich hündiſches Weib

Und Alexandros wegen fo viel erbulbeft,

Denen Zeus fo vielfaches ſchweres Unheil

Aufgebürbdet, daß die Menichen davon

» Sagen und fingen werben, jo lange die Welt fteht.

Homer's Ilias. 233

Aber ber große helmumflatterte Heltor Sagte: Helena, nöthige nicht jo freundlich Mid zum Sihen, ich darf nicht; denn es treibt mich Fort in die Schlacht zu den Troern, bie nach mir Sehnſuchtsvoll ſchon ſchauten, ala ich hinwegging. Aber treibe du dieſen an, und ſelber Soll er ſich ſputen, daß er mich in der Stadt Noch erreichel Denn ich gehe zuvor Nun in mein Haus, um da meine liebe Frau Und mein Kind noch zu küſſen, denn wer weiß, Ob ich wieder zurück zu ihnen kehre.

Damit wandte ſich Hektor und erreichte Bald ſein Haus.

Drei Charaktere offenbaren ſich in dieſer Scene mit erſchreckender Deutlichkeit. Zuerſt Paris. Wir glauben ihn hier erſt kennen zu lernen. Er iſt weder feige noch kraftlos, aber er iſt zum Kriege als Handwerk weder geboren noch erzogen. Für ihn iſt der Krieg nur ein Sport. Liebe, Ehre, Vaterland, Wagenfahren, Mufit, Kunftgenuß und Umgang mit Künftlern ftehen für feine Anſchauung auf gleicher Stufe. Die Welt eriftirt jo weit für ihn als fie ihn gerade intereffirt. Unter dem Gelächter beider Armeen durch eine hohe Frau davongeführt, erachtet er es al3 da3 Bequemfte, die Sache als beleidigter Prinz übel zu nehmen und fih in feinem Palafte einzufchliegen. Selena, die längft weiß, daß mit ftarfen Worten nicht3 bei ihm auszurichten fei, hatte ihn fchmeichelnd dahin gebracht, in die Schlacht zurüczufehren. Aber dazu bedurfte e8 der Rüftung. Statt die erften beften Waffen anzulegen, beginnt Paris al3 Kunftfreund und Kenner feinen Beſitz an dergleichen behaglich zu muftern. Jedes Stüd betrachtet und betaftet er. Nah gewohnter Weije hört er Hektor's Vorwürfe ruhig an und gibt ihm Recht. Dann aber bemerkt er, wie Hektor ihn ja in ber Auswahl der beften Waffen- ftüde eben unterbrochen habe. Nur einen Augenblid, und er gehe mit ihm. Oder nein, verbeffert er fich: geh’ voran, ich bin gleich bei dir.

Dieje legte Wendung ift bewunderungswürdig. Paris verlangt, man folle ihm Zeit laffen. Und Helena, begreifend, daß hier nichts zu machen jei, will fich jelbft wenigftend den Genuß verjchaffen, auf wenig Deinuten mit Jemandem zu verkehren, der in ihren Augen ein Dann ift. Sie nennen Paris nicht mehr bei Namen: Hektor jagt „diefer da“. Helena gibt ſich feinem Urtheil preis.

In Betreff Hektor's ſpricht Homer das letzte Wort erft am Ende des Gedichte aus, Hier aber ſchon zeigt er ihn al3 den, deſſen Hände Ilion halten, und der nichts dafür in Anſpruch nimmt ala das Bemwußtjein, das Seine gethan zu haben. Paris’ Antwort auf Hektor's ftrafende Rede macht diefen ftumm. Mochte er tief in der Bruft über Helena denken wie er wollte, die Lage der rau befhämt ihn und macht ihn milde Die Art, wie er in ablehnender Höflichkeit ſich entſchuldigt, nicht eintreten und bleiben zu dürfen, zeigt die zarte Güte feiner Natur. Im Gefühle feiner Kraft findet er nur natürlich, daß das Schwerſte gerade ihm zufalle, Hierin Achill ähnlich, der ſich darüber nicht beflagt hatte, daß er die ſchwerſte Arbeit that. Hektor hat die Beicheidenheit Derer, bie etwas leiften. Er entjchuldigt fi mit Frau und Kind. Er bittet nur um Eins: daß Helena „diefen da” in der Stimmung erhalte, fich zu waffnen, und

234 Deutſche Rundſchau.

noch während er ſelbſt in Troja ſei, ſich ihm anzuſchließen. Hektor will nur das Eine erreichen: daß von ſeinem leiblichen Bruder nicht geſagt werden bürfe, er habe nicht kämpfen wollen.

Helena aber erregt unſer Mitleid. Wir begegnen dieſer Art von Ver— zauberungen in modernen franzöſiſchen Romanen. Helena beurtheilt Paris ebenſo hart, wie Hektor thut, aber ſie läßt ihn, wie Hektor gleichfalls thut, gewähren. Sie trieb ihn nicht mit harten Worten in den Kampf: fie ſchmeichelte ihm ab, fi zu rüften und mit zu fämpfen.

Faſſen wir an diefer Stelle, wo Helena am fichtbarften una entgegentritt, ihr Schickſal, wie Homer es in fi) trug, in voller Abrundung zufammen.

Der merkwürdigſte Zug in ihrem Charakter ift die fie belebende Kritik des eigenen Verhaltens. Damit verbunden die Fügſamkeit dem gegenüber, was fie als ihr Schickſal nun einmal erkannt hat und hinnimmt. Beides aber nidt ohne die ihr Weſen beherrſchende Zumiſchung vollen Genufjes an ihrem Dafein! Die Verbindung diefer drei Elemente ift uns ebenjo verftändlich als anziehen). Ungemein menſchlich ericheint uns diefe Eriftenz, und der unverwüftliche Glanz föniglicher Hoheit, der fie umgibt, fteht ihr wohl an.

Homer Hatte feine eigene Art, die Geftalten, die er jhafft, zu adeln. No einmal begegnen wir Helena bei ihm in der Lage, von jich jelbft zu reden. m legten Gejange der Ilias ericheint fie wieder. An Hektor's Leiche bricht fie in Jammer aud. Mit verziveiflungsvoller Reſignation Elagt fie um feinen Berluft.

Hettor! Bon allen Echwägern mir der liebfte! Wäre ich, eh' Alerandros mit mir davonfuhr, Vorher Lieber geftorben! Zwanzig Jahre!) Bingen dahin, dak ich nach Troja fan,

Aber niemals hört ich ein vorwurfsvolles,

Böfes Wort von dir! Und wenn im Palafte Schwäger und Schwägerinnen und Schwiegermutter Denn ber Schwiegervater allein war milde Mich überfielen, hielteft du fie zurüd,

Sanft einredend mit ruhigen edlen Worten. Deshalb wein’ ih um did. Denn in ganz Troja Iſt mir Keiner mehr gut und Keiner freundlich, Und es jchaubert jie Alle, die mich anſehn.

Alle. Helena jcheint fi ihres Diannes gar nicht zu erinnern, um ihn auszunehmen. Ihr Schidjal ift befiegelt. Wieder eins von den Zeichen be inneren Abjchluffes, den Homer's Gedicht im vierundzwanzigften Gejange findet,

Daß Helena die war, die am Kriege Schuld trug, kommt nicht mehr zur Sprache. Nur ald Alerandros’ Gemahlin und als Schwägerin Hektor's be jammert fie den Todten.

Und troß alledem no ein Umſchwung! Abermals Jahre jpäter thront Helena im alten Sparta wieder, wohin fie nad) Troja's Zerftörung mit Menelaos zurücgefehrt ift. Hier nimmt fie den nad) feinem Water juchenden Telemad gaftfreundlid auf. Unverwüſtlich jung und ſchön ſitzt fie da wieder, ala habe

!) Hier zwanzig Jahre, während es nur halb fo viel zu fein brauchten. Größere Zahlen bezeichnen immer nur im Allgemeinen eine lange Zeit.

Homer's Ilias. 235

fie ſich nie von der Stelle gerührt. Penelope ſah in Helena’3 Davongehen mehr einen Fehler al3 ein Vergehen, und von dem jungen Prinzen, den die Königin gütig behandelt, durfte fie nur Verehrung erwarten. Sie war ftrahlend wie ein Foftbarer Diamant, den Räuber einmal davongetragen haben, ber wieder eingebradjt worden ift und nicht3 von jeinem Licht verloren hat. Ihre trojanischen Zeiten bürfen nicht etwa nicht berührt werden; fie jpricht davon wie von einer großen Krankheit, in die der Wille der Götter einft fie hatte verfallen laffen. Homer deutet auf ſchöne Weiſe hier an, daß nur die Erinnerung an diefe vergangenen Dinge, nicht aber Kummer darüber ihr zurüdgeblieben fei. Denn indem wir Helena dem Telemach da3 fummervertreibende Mittel heimlih in den Wein werfen jehen, das ihr auf der Heimreije in Aegypten einft geſchenkt worden war, erfahren wir damit zugleich do nur, daß da3 Mittel an Helena jelbit früher ihon feine fummerverzehrende Kraft bewährt haben mußte. Bei diefer Gelegen- heit auch werben andere Erlebniffe Helena’3 in Troja von Homer erzählt, die die Einnahme der Stadt und Helena’3 Rückkehr zum exften Gemahl möglich madten, Umftände, deren es als zu berichtender Ereignifje für den Plan der Ilias nicht bedurfte, aber die in der Odyſſee ald Erzählungen aus weit zurück— liegender Zeit vorgebracht werden durften. Denn das beivundern wir wiederum in der Odyſſee, daß das Zurüdliegende auch hier gelegentlich eingeftreut wird, und daß die erften Gejänge diefer Dichtung, gleich denen der Jlias, und mit der Totalität des Gejchehenen wie zufällig in abgerifjenen Stücken befannt maden.

So hätte ich die gefammte homerifche Helena nun vorgeführt: Zeus’ Tochter, die al3 ſterbliche Königin friedlich abſchließt. Von ihrem Vater her die Gabe bejigend, nicht3 zu erleben, das ihr nicht jeden Tag ein neues Dafeinsconto anzufangen erlaubte.

Ueberfliegen wir mit hiſtoriſch betrachtendem Auge noch einmal die beiden Geftalten des phrygijchen Königsſohnes und der Argiverin. Soll ald unmöglich gelten, daß ein einziger Dichter die Charaktere diefeg Mannes und diejer Frau al3 abgerundete Erjcheinungen in fi trug, um fie in Geftalt von Fragmenten über die beiden großen Gedichte wie in einzelnen Tonjäßen auszuftreuen, die, an ihrer Stelle jedesmal in anderem Zujammenhange wirkſam, dann doch aber aud) wieder nur für fi) aneinandergereiht zu einer jchönen Melodie ſich vereinigen? Und nun, ein paar Taujende von Jahren nad ihrer erften Geburt aus Homer’3 Geifte wird Helena von Goethe in das Leben unferer Zeit verflochten. Die griechiſche Schattenkönigin beginnt, neue Leidenjchaften zu erregen und von ihnen bewegt zu werden. Bei Helena’3 Namen gedenkt Jeder von uns heute zuerjt doch des zweiten Theile des Goethe’fchen Fauſt's, wo die Königin ala Geipenft erſcheinend zum lebten Male berücdt und berüdt wird. Gin wunder: barer Zufammenklang dieſer letzten Hyperboreifchen Incarnation mit ber älteften Geftalt des griechiſchen Weibes, um das, von Göttern ftammend, Könige Krieg führten. Beide Auffaffungen der ſchönſten Frau, die urältefte und die mobernite, pafjen zu einander, ja, können ſich nicht mehr entbehren.

Goethe nimmt ein ſeltſames Erperiment mit Helena vor. Es ift die fort: eriflivende wirkliche Helena, die Fauft umarmt: ein Gejpenft, dad Mephijto zur Oberwelt entführt, um Theater zu fpielen. Von dem Nechte aller Dichter, den

236 Deutſche Rundſchau.

empfangenen Mythos zu ändern, macht Goethe zugleich Gebrauch. Das jchidjals- mäßige Eingreifen der Aphrodite empfand er al3 ein unfer Heutiges Publicum im Theater nicht mehr padended. Das Wirken der Göttin, die Helena durd Ueberredung einſchüchtert, übertwältigt und bethört, fo daß ihre Flucht mit Paris etwas Schickſalsmäßiges empfängt, da den höheren Mächten und nicht Helena zur Laft fällt, erſchien Goethe zu mechaniſch: er läßt Helena’3 Verführung weder vom Willen der Göttin noch von dem Werben des Paris ihren Urfprung nehmen, fondern wendet die Dinge fo, daß Paris als ſchöner Jüngling von der erfahrenen Frau verführt wird. In dem magiſchen Schaufpiel, da3 Fauſt dem Kaiſer und dem Hofe mit Hülfe echter Gejpenfter zum Beften gibt, wird Paris ſchlummernd von Helena gefüßt wie Endymion von Diana. Und fo tritt auch neben Fauſt jpäter Helena mit der göttlichen Unbefangenheit einer Frau auf, welcher Schön heit und höchfter Rang erlauben, wie den Göttinnen felber, wenn fie, an Sterb— lichen Wohlgefallen findend, ſich zu ihnen Herabzulaffen. Denen Niemand bie immer neu beginnenden Abenteuer nachrechnet, jo daß bei dem Späteren de Früheren auch nur gedacht twerden dürfte.

Helena gehört zu den unfterblichen Geftalten im Reiche der Dichtkunft. Mer weiß, welcher Dichter nah Taufenden von Jahren fie abermals neu be leben wird.

Bofeph in Negypten.

Bon Heinrih Brugſch.

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Wie eine koſtbare Perle leuchtet uns die Geſchichte vom Joſeph in Aegypten aus dem offenen Schatzkäſtlein der bibliſchen Ueberlieferungen des Alten Teſta— mentes entgegen. Sie iſt und wird für alle Zeiten ein unübertroffenes Muſter der morgenländiſchen Erzählungskunſt bleiben und durch Inhalt und Form ihre Wirkung auf die Seele des Hörers und Leſers niemals verleugnen. Selbſt ein Voltaire fühlte ſich von der Macht ihres Eindruckes zur Bewunderung hin— geriſſen und der Stifter des Islam, der Prophet Mohammed, bezeichnete ſie geradezu als die herrlichſte aller Geſchichten. Den geſammten Völkern des Morgenlandes erſcheint noch heute Joſeph als das unerreichte Vorbild eines ebenſo ſchönen als tugendhaften Jünglings, der nach dem Willen Gottes dazu auser— leſen war, die Mit- und Nachwelt durch den Liebreiz ſeiner äußeren Erſcheinung, durch die Anmuth ſeines Weſens und durch die Weisheit feiner Gedanken im vollften Sinne des Wortes zu bezaubern.

Nicht nur die Dichter des ſpäteren mohammedaniſchen Morgenlandes haben in ihren Liedern den ſchönen Jüngling Joſeph mit Vorliebe zum Vorwurf gewählt und den goldenen Faden der uralten Erzählung, wenn auch nach der Darſtellung im Koran, in ihren Geſängen weiter geſponnen; auch die malende Kunſt bemäch— tigte ſich desſelben Stoffes, um mit Hülfe der Farbe und des Pinſels das Urbild idealer Liebe ihrem Volke vor Augen zu führen. Als ich im Jahre 1860 in der Stadt Ispahan das Haus eines der größten und verehrteſten Religionslehrer unter den Perſern beſuchte und in gaſtfreundſchaftlichſter Weiſe von dem vor— nehmen Jmam aufgenommen ward, fiel mein Blid auf eine3 der jonderbarften Gemälde, da3 die Marmorwand feines reich ausgeftatteten Prunfjaales bededte. Man ſah in der Mitte des Bildes die ſitzenden Geftalten eines jugendlich ſchönen Liebespaares, da3 in lebhafter Unterhaltung begriffen war. ch verrathe von vorn herein, daß ber Dialer die Abficht gehegt hatte, in dem links hodenden Jüngling Joſeph, in dem mit einer Königskrone geſchmückten Weibe zur Rechten die ſchöne Suleika, die Tochter Pharao's und die Gattin Potiphar’s, zur An—

238 Deutiche Rundſchau.

ſchauung zu bringen. Eine zahlreiche Geſellſchaft junger rothiwangiger Damen umgab die eben geſchilderten Hauptfiguren. ine jede von ihnen jchälte mit einem Meſſer einen Apfel, wobei aus den Fingern der linken Hand Blutstropfen auf den Erdboden fielen. Auf meine bejcheidene Frage nad der Urſache einer fo allgemein durchgeführten Fingerverletzung jah mich der Imam lange Zeit ver- wundert an, als jei er über meine Unwifjenheit im höchften Maße erftaunt und wolle mir einige Minuten gönnen, um meiner Denkſchwäche ein Ende zu bereiten. Bei allem Scharffinn, den ich auf die Löſung des malerifchen Räthſels verwandte, gelang mir das Kunſtſtück nach Feiner Richtung hin. „Mit Eurer Erlaubnik, diefer da,” unterbrady der Imam endlich mein verlegenes Schweigen, „ift der ſchöne Jojeph, über welchem der Friede jei!, jene da, Suleifa, die nicht weniger ihöne Tochter Pharao's. Beide befinden fich in geiftreicher Unterhaltung. Die verfammelten Hofdamen find von der Schönheit und dem Geifte des Pärchens fo entzüct, daß ihre Augen unverwandt nur auf ihnen ruhen. Was Wunder, wenn fie beim Apfelichälen es unbeachtet Lafjen, daß die Schärfe des Meſſers in das Fleiſch ihrer Finger einfchneidet und Blut fließen läßt.“ Ich war belehrt und Hatte einmal mehr die Gelegenheit gewonnen, die unergründliche Tiefe der morgenländiichen PBhantafie jogar bei einem Maler zu bewundern. Aber das Alles wurde mir jo ernfthaft gejagt, dab ich mich hütete, auch nur ein leiſes Lächeln zum Ausdrud zu bringen. Es genüge zu willen, daß Joſeph und jeine Geſchichte, jo ſehr fie au im Koran entftellt erfcheint, auf die Morgenlände einen Reiz ausgeübt hat, der bis auf den heutigen Tag nicht abgeftorben ift und immer neue Blüthen am Baume der dichteriichen und maleriichen Erfindung, fogar auf den bunten und ladirten Dedeleinbänden der perfiichen Bücher, treibt. Sa felbft die Werke viel jpäterer Namensvetter „Jufuf“ oder Joſeph, welde den erjten Epochen der Geſchichte der Völker des Islam angehören, wurden auf den biblischen Joſeph zurücgeführt, wofür ich als Beweis nur den jogenannten Joſephsbrunnen auf der Gitadelle in Kairo und den Joſephskanal in Mittel: ägypten zu nennen babe. i

Die wundervolle Geihichte, die wir in den legten Kapiteln des erften Buches Mofes leſen, fpielt fich der Hauptfadhe nach auf dem Boden Aegyptens ab, genauer in der namentlich nicht aufgeführten Refidenz Pharao’3. Die eheliche Verbindung Joſeph's mit Aanath, der Tochter Potiphar's, des Mriefters zu On d. h. in der nad) ihrer ägyptiſchen Bezeichnung On, von dem Griechen Heliopoli3 genannten „Sonnenftadt”, verjeßt den Schauplat der Begebenheiten mit großer Wahrjdein- lichkeit nach der ſüdöſtlichſten Seite der unterägyptiichen Landichaft. Der alte beliopolitiihe Gau, an deſſen füblichfter Grenze die heutige Chalifenftadt Kairo, nicht fern von der alten Sonnenftadt, gelegen ift, ftieß an feiner nördlichflen Grenzmart an den von den Griechen in Arabia umgetauften Gau. Als feine ägyptiſche Bezeichnung haben die Denktmälerforfhungen den Namen Gojem mit aller Deutlichkeit nacdhgewwiefen. Dem letzteren entiprang die in ber Bibel als Goſen aufgeführte Landichaft, wofür die griechifche Ueberſetzung der Siebenzig auch die richtigere Form in der Geftalt Gejem hat. Die dazu gehörige Haupt- ftadt, der Mittelpunkt des Gaues Gofem, führte neben anderen fogenannten

Joſeph in Aegypten. 239

heiligen Bezeichnungen den volfsthümlichen Namen Pha:Gofjem, d. h. „zu Goſem gehörend”, neben welcher eine verkürzte Ausſprache, Pha-goſe, beftand; aus dieſer ift im griechiſchen Munde der wohl befannte geographiiche Eigenname Phakuſa hervorgegangen. Damit flimmt e8 volltommen überein, daß die Alten Phakuſa al3 den einzigen Hauptort im Gau Arabia kennen und nennen, gerade wie die griechifche Bibelüberjegung der Siebenzig in Einklang mit der koptiſchen da3 Land Goſen des ebräifchen Uxtertes durch: „das Land Geſem des arabiichen Gaues“ wiedergegeben hat. In Folge der jüngften Nachgrabungen des Dr. Naville (im Auftrage und auf Koften einer englischen Bibelgeſellſchaft), welche den Boden der ehemaligen Landihaft Goſem durchwühlt haben, ift gegen- wärtig die Lage von Phakufa durch aufgefundene Denkmäler mit Injchriften auf dad Genauefte beftimmt worden. Won Mlauerbefeftigungen umgeben, erhob fid) die Stadt, mit einer größeren Tempelanlage in ihrem Innern, in einer frudt- baren, von Kanälen durchſchnittenen Ebene, welche fich zwiſchen dem pelufijchen Nilarme und der bergreichen Wüſte im Oſten ausbreitet und deren norböftlicher Theil unmittelbar in das jchmale Thal des Wadi Tumilat Hineinführt. Die Ruinen der alten Stätte find in der Nähe der heute Saft (mit dem Zuſatz el-Henneh) genannten Oertlichkeit aufgedeckt worden, wenige Meilen im Often der einft hochberühmten Stadt Bubafti3, von deren Bedeutung für die Gejchichte Joſeph's weiter unten die Rede fein wird.

Das Wadi Tumilat, welches der gegenwärtige Süßwaſſercanal von Kairo nad Sues in der geraden Richtung don MWeften nad Oſten durchfließt, war in den Zeiten de3 pharaonijchen Altertfums eine zum Gau Arabia gehörige Landſchaft, aljo das nad Often vorgejchobenfte Stück desjelben, durch welche von Morgen ber und jomit von der Wüſte der Landenge von Sues aus, auf der großen Karawanenftraße der Weg von Paläftina nad) dem Deltagebiet Aegyptens führte. In der Nähe des heutigen Tages mit der Linie des Sueskanals verſchmolzenen Krokodilſees (Birket et-⸗timſach), welcher im Alterthum die Spitze, das heißt den nördlichſten Buſen des „Schilfſees“ oder des Rothen Meeres bildete, befanden ſich Mauern, Feſtungen und Proviantmagazine mit ſtarken Umwallungen und Bejagungen, um die offene Grenzmark an diefen Stellen zu defen und den unbefugten Einzug und Auszug nad) oder von dem eigentlid) ägpptifchern Gebiete unmöglich zu machen. Unmittelbar am Kopfe der Straße, welde Hinter den Mauern ganz am Dftende des Wadi Tumilat, und in der Nähe des Krokodilſees, und zwar weftlich von demfelben, oder, wie es in ben alten Texten heißt: „am Munde de3 Gaues Arabia“, von den Kommenden oder Gehenden betreten werden mußte, hatte Ramjes II. der Große, zu feiner Zeit eine feftungsartige Stadt mit einem „Vorrathshauſe“ angelegt, welcher er den beiligen Namen Pi-tum („Stadt de3 Sonnengotte® Tum“) verliehen hatte, während fie im Volksmunde bei den Aegyptern kurzweg die Bezeichnung Ero, d. 5. „Vorrathshaus“, führte. Als die erften Griechen nad Aegypten ein- wanderten, und die öftlichen Gegenden außerhalb des Deltagebietes durch eigenen Beſuch Kennen Yernten, wandelten fie, wie es Herodot gethan, den heiligen Namen der Stadt Pitum zu einem Patumos um, während e8 Andere, in den jpäteren Zeiten, vorzogen, die volksthümliche Bezeichnung der Stadt Ero beizubehalten

240 Deutiche Rundſchau.

Es ift durch Beifpiele erwieſen, daß den Griechen die Sucht eigen war, in fremden Wörtern Anklänge an die eigene Sprache herauszufinden. So geihah es auf) mit Ero. Die Einen madten ein griechifches Hero daraus und die Anderen ichufen eine Polis oder Stadt des Namens Heroon, Heroonpolis. Die Verdrehung der Thatfachen ging jo weit, daß man jogar den Namen des ftäbtifchen jolaren Gottes Tum von Ero geradezu durch Hero wiedergab und in foldder Weiſe den Stadtnamen mit der Bedeutung von Vorrathäftadt auf den Gott felber übertrug.

Nach den Angaben ber Alten lag die eben bejprochene Heroonpolis an dem nördlichften Buſen des Rothen Meeres, der nach ihr die Benennung des Heroon- politifchen Golfes empfing. Die aufgededte und ihren alten Namen nach twieder- gefundene Stadt Pitum oder Ero am Dftende des Wadi Tumilat, etwa eine Meile vom heutigen Orte Ismaelia entfernt, liefert jomit die untrüglichſten Beweiſe, daß noh um die Zeit des erften Jahrhundert? unferer era nicht der Buſen von Sueß, jondern der Heutige jogenannte Krokodilſee, etwa in dev Mitte des Suesfanales, die nördlichfte Bucht des Nothen Meeres darftellte.

Die alte Karawanenftraße von Often her führte an der Spitze dieſer Bucht vorbei, lag aljo in der Nähe des biblifchen Schilfmeerrs. Hatte man damals „die Mauern“ an der Grenzmark als Freund oder Feind Hinter fich gelafien, jo gelangte man nad einer am Ausgang der Schlucht des Wadi Tumilat gelegenen Landichaft Namens Thukot; e8 ift das in der Bibel erwähnte Gebiet von Suffoth, in deſſen Mitte fich die befeftigte Vorrathsſtadt Pitum oder Ero- Heroonpolis, der eigentliche Schlüfjel zum Eingang nad) Aegypten, erhob. m vierzehnten Jahrhundert vor Ramſes IL, dem Adoptivvater Mofes, in em Proviantmagazin umgewandelt, blieb fie für Jeden unpaffirbar, dem nicht die pharaonifche Genehmigung zum freien Durchzug geftattet worden war. Hatte fi ein ſolcher vollzogen, jo mußte die an ber Grenze anſäſſige Behörde jofort einen amtlihen Bericht darüber einjenden, deſſen Faſſung folgender Rapport mehrerer föniglicher Grenzwächter in einem bi3 auf den heutigen Tag erhaltenen Papyrusbrief (im Britiichen Mufeum, Anaftafi VL, ©. 4) kennen lehrte:

„Wir haben ben Schafu : Bebuinenftämmen aus bem Lande Edom ben Durchzug geftattet durch die Feſtung des Königs Menephthes (Pharao des Auszugs), welche zum Lande Suftoth gehört, nad den Eeen ber Stadt Pitum zu, welche im Lande Sufloth gelegen ift, damit fie Nahrung fänden für fih und ihr Vieh auf dem Grund und Boden Pharao’3, der ba ift eine Gutes ſpendende Sonne für alles Volt.“

Ausreißer, welche den umgekehrten Weg einfchlugen, um von Aegypten aus nad der öftlihen Wüfte zu entfliehen, wurden auf berjelben Straße verfolgt und Eonnten ſich al3 gerettet anſehen, ſobald fie jenjeits der Stadt Pitum und ber langen Feitungslinie „der Mauern“ diefelbe Wüſte erreicht Hatten. Ein gleichfall3 erhaltener Papyrusberiht (Anaftafi V., 19 fl.) meldet 3. B. bie Erfolglofigkeit de8 Schreibers, eines Beamten, der Perfonen von zivei geflüchteten Dienftleuten habhaft zu werden. Ex fchreibt:

„3% Hatte mich auf ben Weg gemadjt von dem königlichen Palaft (in der Ramjesftadt) aus am neunten Zage bes elften Monats, gegen bie Abendzeit hin, hinter den beiden Dienftleuten ber. Ich kam nach ber Burg bes Landes Sutkoth am zehnten Tage des elften Monats, woielbft man mir fagte, daß jene fich berathen hätten in Bezug auf die (einzuſchlagende) fübliche Richtung, um zu fagen, fie wären am... . Zage bes eljten Monats durchgezogen. Ich machte mich auf dm

Joſeph in Aegypten. 241

Weg nad) der Schlüffelfeftung, wofelbft man mir fagte: ein Stallknecht, welcher von der Wüſte ber fam, habe mitgetheilt, daß fie bie fyeftungslinie nördlich von Migbol des Königs Menephthes durchbrochen hätten... ..... Kommt mein Bericht in eure Hand, fo gebt mir Nachricht über Alles, was (weiter) geichehen foll.”

Die nad) ihren ägyptifchen Formen umjchriebenen Dertlichkeiten Thukot, Pitum und Migdol find für die ältere biblifche Geſchichte Hochbedeutungsvoll, denn fie rufen diejelben Namen in ihren ebräifchen Formen: Sukkoth, Pithom und Migdol in das Gedächtniß zurüd, welche in der Erzählung des Auszugs eine wichtige Rolle jpielten. Die Denkmäler lehren, daß Ramſes II. der Erbauer der Vorrathsſtädte Pithom und Ramſes war. Beide erjcheinen darum in den fteinernen Inſchriften und Papyrusterten der Rameſſidenepoche in fteter Wieder- holung und betätigen bi3 in das Einzelne hinein die ehrwürdigen biblijchen Ueber— lieferungen. Die oft in den ägyptiſchen Inſchriften erwähnte Ramjezftadt, fo genannt nad ihrem königlichen’ Gründer, lag auf dem Gebiete von Gofen und war an einem Kanal, der aus dem Nil in der Nähe von Heliopolis abgeleitet war und zu Ramfes II. Zeit durch das Wadi Tumilat feine Wafjerlinie 309. 63 ift der ältefte Vorgänger des heutigen Süßwaſſerkanals, der genau die ehe— malige Richtung destelben verfolgt.

Alle diefe geographiichen Angaben und Vergleihungen, twelche in gedrängter Kürze dem Lejer vorgeführt worden find, beruhen weder auf leeren Muth» maßungen, noch auf geiftreihen Combinationen. Die unerwarteten Entdedtungen in Folge der neuften Ausgrabungen auf dem Gebiete des alten Gofen haben mir jo wichtige Unterlagen für die Bibelforfhung, zunächft nad) der geographiichen Seite hin geliefert, daß ich unaufgefordert und gern die volle Verantwortlichkeit für die Sicherheit meiner Angaben übernehme.

II.

As Joſeph in Aegypten weilte, war feine Spur weder von Pithom noch von Ramjes vorhanden, denn beide Städte, wie erwähnt, wurden erft von Ramſes II. lange nach Joſeph's Zeit und während der Mojegepoche gegründet. Nur die geographifchen Bezeichnungen Goſem und On gehören der Joſephiſchen Zeit— geſchichte an.

Wann lebte und wirkte der Held unſerer Geſchichte in Aegypten, mit andern Worten, unter welchem Königshauſe und unter welchem Pharao fanden die in der Bibel geſchilderten Ereigniſſe ſtatt? Dieſe Frage zu beantworten, muß die erſte Sorge ſein, um uns in den Stand zu ſetzen, alle übrigen Einzelheiten der Ueberlieferung einer näheren Prüfung zu unterziehen.

Um das Jahr 800 lebte in Conſtantinopel ein ebenſo gelehrter Mönch als biſſiger Kritiker, der ſpätere Vicepatriarch Georg, gewöhnlich der Syncellus, d. h. Zellgenoſſe (des Patriarchen) genannt, welcher ſich der Aufgabe unterzog, die bibliſche Chronologie mit ſtrenger Gründlichkeit zu erforſchen. Indem er dabei auf feine Vorgänger zurückging, wurde er unbewußt zum Ueberlieferer mancher Stellen, die fonft verloren gegangen fein würden, aus den Werfen bedeutender heidniſcher und chriftlicher Geſchichtsforſcher auf chronologiſchem Gebiete. Gelegent- lid; macht ex einmal die Angabe, daß nad) einer allgemein verbreiteten Anficht

Joſeph unter feinem einheimischen Pharao, jondern unter dem Könige Apophis Teutfche Rundihau. XVI, 8. 16

242 Deutſche Rundſchau.

aus einer Hykſos-Dynaſtie, mit anderen Worten in der Zeit der erſten und älteften Herrichaft fremder, ausländiicher Fürſten nach Aegypten gefommen und von demfelben zu hohen Ehren und Würden erhoben worden jei.

Nach einer bibliſchen Weberlieferung, deren Werth von der Mehrzahl der Ausleger anerkannt wird, waren feit Joſeph's Zeit bi3 zum Auszug der Kinder Sirael 400 Jahre verfloffen. Daneben wird nach anderer, vielleicht gemauerer Berehnung die Zahl 430 angeführt. Da die wiſſenſchaftliche Denkmälerforſchung es feftgeftellt hat, daß Ramſes II. als der Pflegevater Moſes' und ala der Er— bauer der Städte Pithom und Ramſes angejehen werden muß, jo ergibt ich die Zeitgenoſſenſchaft Beider von jelber, nur mit dem Unterſchied, daß der Water einer Tochter, welche das im Schilfgebüfch ausgeſetzte Mojestind findet, ettva um dreißig Jahre jünger als das Kind geweſen fein muß. Die Denkmäler melden, daß der König al zehnjähriger Knabe den Thron beftieg und bis in jein fieben- undjechzigftes Negierungsjahr hinein gelebt hatte. Ramſes II. hatte ſonach ein Alter von fiebenundfiebzig Jahren erreicht. Die Unterfuchung feiner im Muſeum von Kairo aufbewahrten Mumie duch Herrn Virchow hat ein fo Hohes Alter an den äußeren Merkmalen, welche die Leihe an fi trägt, durchaus beftätigt. Da Moſes bereit3 fich eines Lebensalter von achtzig Jahren erfreute (rechnet man nad Meondjahren, jo würden dieje fiebenundfiebzig Sonnenjahren und zehn und einem halben Monat entſprechen), al3 er vor Pharao jtand, um ihn aufzufordern, die Kinder Iſrael nach der Wüfte ziehen zu laffen, jo kann Ramſes HD. unmöglid) der Pharao des Auszugs geweſen fein, fondern fein Sohn Menephthes, wie allgemein angenommen wird, oder bei einer vorausgejehten kur— zen Regierung desjelben, der nächſte Thronerbe des Lebteren. Nach den chrono» logiſchen Anſätzen der ägyptiſchen Königsgeſchichte, wie fie gegeriwärtig in ber Wiſſenſchaft ihre Gültigkeit haben, würden jene 400 Jahre de3 Aufenthaltes der Ebräer in Aegypten auf eine Zeit, d. h. die Epoche Joſeph's, zurückführen, in welcher thatjächlicy eine fremde Dynaftie mindeftens die ganze öftlihe Hälfte Unterägyptens befeßt hielt. Joſeph's Lebenszeit fiel zwijchen die Jahre 1800 und 1700 vor Ehr., aus welcher wirklih Denkmäler mit dem Namen de3 vom Syn- cell erwähnten Königs Apophis vorhanden find.

Die Fremden, unter welchen die bibliſchen Chronologen und Gejchichtsforfcher aus den erften Jahrhunderten, vom jüdiichen Schriftjteller Joſephus an, bald Araber, bald Phönizier, ſogar die Ebräer felber verftehen, wurden auf den ägyp- tiichen Denkmälern einfady als „Ausländer“ bezeichnet, jo daß ſich über ihre Her: kunft nichts jagen läßt. Auch ihre bei den Schriftftellern erhaltene Bezeihnung als „Hirten“ ift zu allgemein, um über da3 damit gemeinte Volk eine Aufklärung zu bieten. Erft die von Joſephus angeblich aus ägyptiſcher Quelle geſchöpfte Ueber— lieferung, daß jene Fremdkönige den Namen Hykjos (daneben Hykuſſos) geführt hätten, wofür ex die Ueberfegung „Hirtenkönige“ gibt, „die Einige für Araber hielten“, enthält allerdings einen näheren Hinweis auf die Herkunft de in Rede ftehenden Volkes, da im Altägyptiichen die anklingenden Worte Hik⸗Schaſu oder ⸗Schos fo viel befagen als „König der Araber“ oder eines jonftigen im Often von der ägyptiſchen Grenze an bis nad Edom und im Norden über Palä- ftina und Syrien Hin zerftreuten Wandervolfes von Beduinen. Auf alle Fälle

Joſeph in Aegypten. 243

waren die Fremden vom Often her gelommen, wie e3 eine bei Joſephus im Auszug mitgetheilte Stelle aus dem verloren gegangenen, griechiſch gejchriebenen Werte des ägyptiſchen Geſchichtsſchreibers Manethos betätigt. Auch die in dem oben mitgetheilten Papyrusbriefe erwähnte Einwanderung von Beduinenftämmen in der Richtung nad Pithom nimmt auf denfelben Namen Schafu oder Schos Bezug und läßt fie dem Lande Edom, Idumaea, aljo von Dften ber in das Wadi Fumilat mit königlider Genehmigung einziehen. Er aber waren jene Hik oder „Könige“ der. Schaſu?

Die Dunkelheiten, welche auf der Herkunft ber Hirienkdnige lagen, haben angefangen ſich zu lichten, ſeitdem merkwürdige Denkmälerfunde in Unterägypten auf dem Gebiete der alten Städte Tanis und Bubaſtis und in der Landſchaft de3 ehemaligen Möris-Sees (im heutigen Fajum) Bildfäulen und Androjphynre von Hirtenfönigen an da3 Tageslicht gebracht haben. Ihre Geſichtszüge und der Knochenbau des Kopfes, welche zulegt noch unſer Meeifter Virchow einer gründlichen Prüfung unterzogen hat, Laffen über den turanifchen Urfprung der einſtmals Lebenden eine Zweifel mehr auflommen, und e3 ift ein richtiger Vergleich, wenn ein Gelehrter fie gleichſam mit einem Tederftrich ala die Tür- fen der Vorzeit gekennzeichnet hat. Der Name Apophis, nad) feiner ägyptijchen Umſchreibung Apopi, welchen ich vorher nad) alter Quelle mit der Gejchichte Joſeph's in Aegypten in Zuſammenhang gebracht habe, bededt die Mehrzahl der gefundenen Bildjäulen und betätigt, was ein ägyptiſcher Papyrus von der Eri» ſtenz dieſes fremden Herrſchers im unteren Aegypten gemeldet hat. Er hatte unter Anderem ſich die an dem Unterlauf des pelufifchen Nilarmes gelegene alte Stadt Haware (Auaris, Avaris der Schriftfteller) zu feiner Nefidenz ausgewählt, die ägyptiiche Sprache und Schrift und die ägyptiiche Kultur bis zur Hofhaltung hin angenommen, aber von den Äägyptifchen Gottheiten nur einer einzigen feine aus- ihliegliche Verehrung zugemwendet, dem Gotte Sutech oder Seth, welchem er ein bejonderes Hauptheiligthum aus Stein in feiner neuen Refidenz Haware weihte.

Aber auch in Bubaftis, der jpäteren Kabenftadt, ließ derjelbe König dem» jelben Gotte eine Stätte der Verehrung gründen. Die Ruine diefer großen und vornehmen Stadt, mit deren Beichreibung der alte Herodot ſich ausführlicher als jonft nad) feiner Gewohnheit beichäftigt hat, führen noch heute den Namen des Tell el-Baft oder des „Hügel3 von Bubaftis”. In der Nähe des modernen Ortes Zagazig, den Reijenden ald Hauptftation an dem eifernen Schienenmwege zwiſchen Kairo und Sues befannt, haben vor faum zwei Jahren die wiederum von Dr. Naville geleiteten Ausgrabungen die Refte eines großartigen Tempelbaues aufges det, die in der vierten Dynaftie unter dem König Cheops, dem Erbauer der höchſten und jchönften Pyramide in Aegypten, angelegt, fi im Laufe der Zeit bis zu den PBtolemäern von Weften nah Dften hin anfehnlich erweiterte. Nach dem Tempel zu urtheilen, gehörte Bubaftis zu den umfangreichften und hiftoriich wichtigften Pläßen des Landes. Seine Geihichte ift gleihjam aus den Inſchriften auf den Steinwänden abzulefen. E3 Hat nicht geringes Erftaunen erregt, daß bor dem Thüreingange eines mächtigen Tempelſaales die aus ſchwarzem Granit gemeißelten Statuen von zwei Hykſoskönigen entdeckt wurden, mit allen oben er— wähnten Merkmalen des turaniichen Typus. Die eine davon (vor Kurzem nad)

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244 Deutſche Rundſchau.

dem Britiſchen Muſeum in London übergeführt) trägt den Namen des Königs Apopi, die andere den des uns bisher völlig unbekannten Fürſten Re-ian oder Jan-re, beide dem Culte des Gottes Seth ergeben, deſſen Bilder und Namen unter den Ruinen des Tempeljaales aufgefunden worden find. Dr. Naville wurde untoilltürlih; bei dem einen an Apophis, nad chriftlicher Neberlieferung der Pharao Joſeph's, bei dem anderen Re-ian an den König Rian erinnert, ber nach arabijcher Tradition den Jüngling Joſeph zu feinem Wezir erhoben hatte. Eines muß daher als wahrjcheinlich gelten können, daß nämlich Bubaftis, weſtlich an die Landſchaft Gofen ftoßend, eine der Refidenzftädte der beiden Könige tura- nifcher Herkunft geweſen fein muß. Es find keilinſchriftliche Texte aufgefunden worden, aus denen hervorgeht, daß kurz vor der Joſephiſchen Zeit Turanier von Nordoften her die Euphratftaaten überfielen, Babylonien ausplünderten und ihren Weg nad) Aegypten richteten. Von jeher ftand Aegypten in dem verdienten Rufe eines reihen und durch feine Kulturhöhe ausgezeichneten Landes, und es ift erklärlich, daß vor Allem die Schaſu-Beduinen es waren, welche fich den fremden Er— oberern anſchloſſen und gemeinfam mit den Zuraniern die Oftmarf des ägyp- tiſchen Niederlandes überſchritten. Mit welchem Erfolge jene Horden „unrühm- lichen Gejchlechtes“, wie es in einer bei Joſephus erhaltenen Stelle des mane- thonifchen Geſchichtswerkes von ihnen heißt, fich des Landes bemädhtigten, davon haben ſelbſt die ägyptifchen Inſchriften jpäterer Zeiten die traurige Kunde er: halten. Salati3, Bnon, Apachnas, Apophi3, Jannas und Aſſis hießen nad) derjelben Quelle die erften ſechs Fürften, welche al3 Ausländer über Interägypten bis nad Memphis Hin 260 Jahre lang Herrjchten und im Laufe der Zeit Sitten, Sprade und Schrift der eingeborenen Aegypter annahmen, wie e8 in fpäteren Zeiten bie Fremdfürſten äthiopifchen Urſprungs in gleicher Weiſe gethan haben. Dafür liefern die gefundenen Denkmäler ihrer Epoche die beredteften Zeugnifje, wenn es auch die in ihren Dienften ftehenden Künftler es ſich nicht nehmen ließen, mit möglichfter Treue die turaniſchen Gefihtszüge auf den königlichen Statuen zum Ausdruck zu bringen.

Auf Grund der altägyptiichen Denktmälerftudien ift e8 gelungen, in der Ge ſchichte Joſeph's, wie fie die biblifche Meberlieferung in ihren Einzelheiten erzählt, auf Schritt und Tritt echt ägyptiſchen Anſchauungen und Gewohnheiten bis zum Hofleben Hin zu begegnen, fol daß an die Glaubwürdigkeit der Ueberlieferung auch nach diefer Seite hin nicht der mindefte Zweifel gejtattet ift. Selbft wenn gemeldet wird, daß die Brüder Joſeph's die Getreidegeichente desjelben in Säden auf ihre Ejel geladen hätten, um fie von Aegypten nad) Paläftina zu überführen und jpäter, daß Joſeph feinem Water zwanzig mit Gut und Lebenszehrung be ladene Ejel für die Reife nach Aegypten entgegengefandt habe, jo find dieſe Stellen eine Beftätigung für die auch durch die Inschriften erfichtliche Thatſache, daß in den Zeiten der älteren Gejchichte der Ejel die Stelle des damals, wenigſtens in Yegypten, unbekannten und auch auf den Dentmälern niemals abgebildeten, Kameeles als Laftthier in der Wüfte vertrat. Noch in dev Epoche des dreizehnten Jahr hundert3 dor Chr. wurden die Kupfererze der Sinaihalbinjel auf Eſelsrücken den weiten Weg nad) Aegypten gejchleppt und für den Waarenverkehr auf der Wüften- jtraße zwiihen der Stadt Koptos am Nile und den Hafenpläfen am Rothen

Joſeph in Aegypten. 245

Meere diente nur das Grauthier als gewöhnliche Transportmittel. In einem Papprusbriefe aus dem dreizehnten Jahrhundert, welcher ſich eingehend mit der Beichreibung der Leiden eines ägyptifchen Lieutenants bejchäftigt, wird es bejon- ders hervorgehoben, daß ein Ejel den zum Feldzuge untauglich gewordenen Führer von Paläftina aus nach der Heimath zurücdtrage.

Und dennoch führt eine genauere Prüfung der Joſephgeſchichte, wie fie ung heute in ihrem vollftändigen Zufammenhange vorliegt, jehr bald auf die Wahr- nehmung, daß der mit den ägyptifchen Dingen und Berhältniffen vertraute Ver: faffer mehrere Jahrhunderte nach den geichehenen Ereigniffen ſelber gelebt haben müfje, weil jeine Angaben in einzelnen Fällen nur für eine fpätere Epoche des mächtigen Kulturftaates am Nile zutreffend erjcheinen. In erfter Reihe find e3 die von ihm überlieferten ägyptiichen Namen und Worte, welche nad) diejer Richtung hin zum Verräter werden. Die mit wiffenfchaftlicher Unbefangenheit ausgeübte bibliſche Tertkritif hat in der That die Beweiſe geliefert, daß Moſes unmöglich der Verfaffer der unter feinem Namen laufenden fünf Bücher oder des jogenannten Pentateuchs gewejen fein kann. Ebenſo wenig möchte auf Grund eingehendfter Unterfuchungen die Behauptung aufrecht erhalten werden, daß die und vorliegende Redaktion der fünf Bücher Moſes gleihjam wie au8 einem Guß aus einer einzigen Hand hervorgegangen ift. Bleiben wir bei der Geneſis ftehen, deren Schluß die Geſchichte Jojeph’3 bildet, jo offenbart ſich auch darin zunächſt je nad) dem Gebrauch der Gottesname Elohim und Jehovah eine Scheidung in zwei Hauptquellen, welche dem lebten Bearbeiter jeiner Zeit zu Gebote ftanden. Diefer fügte der älteren leberlieferung häufig ergänzend hinzu, was einer fpäteren Epoche angehörte, ging aljo von Vorausſetzungen aus, die für die Vergangenheit durchaus nicht mehr zutrafen, weil fie nicht zutreffen konnten. Wenn beijpiel3- weije in der Geſchichte Joſeph's ſchon die Ramſesſtadt erwähnt wird, jo iſt das ein geihichtlich-geographiicher Irrthum, da erft beinahe vierhundert Jahre nach der Joſephiſchen Zeit der König Ramſes I. diefe Stadt aufführen oder eine ältere erweitern und nad) feinem Namen benennen ließ.

Auch die ägyptiſche Denkmälerwelt Liefert, wie gejagt, werthvolle Beiträge zu der biblifchen Tertkritit und gibt Winke, die dem Bibelforjcher ala bedeutfame Ayingerzeige dienen müſſen. Hierzu gehören hauptjächlich zwei ägyptiſche Eigen— namen, deren Urfprung in eine verhältnigmäßig jpäte Zeit, mehrere Jahrhunderte nad Mojes, fällt, während fie nach den Angaben der Bibel auf Joſeph und feinen ägyptifchen Schwiegervater bezogen werden. Der Lettere, ein Hoherpriefter in der Sonnenftaat On: Heliopoli3, ſoll ſich Potiphera genannt haben, wofür die Siebenzig die griechiſche Umſchreibung Petephres einfegten. Der Name ift unbedingt ägyptiih. In der Sprache der alten Bewohner des Nilthales bedeutete Pu⸗-ti-phra jo viel als „das Geſchenk der Sonne“ (Ra, Re, oder mit dem Artikel Phra, Phre), paßt aljo vollkommen auf einen Hohenpriefter des Sonnengottes, allein jeine formale Bildung weift auf eine junge Epoche der ägyp- tiſchen Geſchichte hin. Eigennamen ägyptifcher Perfonen mit dem vorgejegten Worte Pu⸗-ti, Beste, „das Geſchenk“ und einem folgenden Gottesnamen da» hinter erjcheinen erft von der Zeit de3 neunten Jahrhunderts an und find in den früheren Perioden der altägyptiichen Gejchichte vollkommen unbekannt. Der Iehte

246 Deutſche Rundſchau.

Redakteur der Geſchichte Joſeph's, der im Uebrigen ſich bis zur Kenntniß der Sprache Hin als äußerſt wohl bewandert in ägyptiſchen Dingen erweiſt, wählte ſich für den Schwiegervater ſeines Helden einen Namen aus, der ſeiner Zeit an— gehörte und auf den Sonnenprieſter von On bezogen wurde.

Zu demſelben Ergebniß führt eine nähere Prüfung des ſeltſamen Namens Sophnath Paneach, welden Pharao feinem zu Ehren und Würden befür- derten Wezir Joſeph beigelegt haben joll. Luther hat das Wort durch „heimlicer Rath“ überfett, während die jüdiſchen Ausleger darin einen „Offenbarer von Verborgenem” erfennen. Unabhängig von einander haben zwei ägyptologiſch ge bildete Gelehrte, die Herren Dr. Krall in Wien und Dr. Steindorff in Berlin, faft gleichzeitig den echt ägyptiſchen Urſprung diefes Eigennamens nachgewieſen. Aber erft vom neunten Jahrhundert an, und bejonders häufig im fiebenten, lieb: ten e3 die damals lebenden Aegypter, fih einen Namen beizulegen, deſſen Anfangs worte ja oder je „es ſprach“ der Eigenname einer Gottheit folgte, während da Wort efondh „er Lebe“ den Schluß der Zufammenjegung darftellte. Namen wie Sa-⸗Chons-ef-onch heißen daher „Es ſprach der Gott Ehonä: er lebe, nämlich der Namensträger, und nad) derjelben Bildungsweife Sa=-pnute: efrond: „Es ſprach der Gott: er lebe.” Wenn Joſeph ein jo echt ägyptiſch durchſichtiger Name auf pharaoniſchem Befehl beigelegt wurde, jo konnte in „den Gotte” wie in Taufenden ähnlicher Beifpiele nur der König jelber gemeint fein.

Der Vers 41, 45 der Genefis gehörte allein Schon nad) diefem Namen zu urtheilen dem jüngjten Redakteur an und hat mit der älteften Redaktion der Geſchichte Joſeph's nicht? zu Schaffen. Im Uebrigen zeigen die jonft vorkommenden Titel, welche dem jungen Ebräer verliehen wurden, twiederum eine genau Kenntniß des Schreibenden nit nur in Bezug auf die altägyptiiche Spradk, fondern auch in Betreff der Rangverhältniffe am pharaonifchen Hofe. Joſeph wird von den Midianitern an Potiphar, einen „Kämmerer“, verkauft. Derfelk Ausdrud Saris, welchen der bibliſche Tert zur Bezeihnung diefer Würde, mit der Grundbedeutung von Verſchnittener, gebraucht, findet fih in mehreren äay tiſchen Anfchriften aus der Perſerzeit wieder, welche von zwei perfiichen Gou— berneuren der oberägyptiihen Stadt Koptos reden und worin jeder Einzelne als „Kämmerer aus Perfien“ mit Antvendung des Wortes Sari bezeichnet wird. Da mir andere Beifpiele nicht befannt find, jo dürfte man möglicher Weiſt nur von einem in bie ägyptiiche Sprache eingeführten Lehnwort reden.

Anders verhält es fih um den ägyptifchen Titel, welchen Luther burd „Vater (Ab) dem Pharao” übertragen hat. Daß es fi nicht um das ım Ehräifchen Ab lautende Wort für den Water, fondern um einen ägyptilden Ausdruck derjelben Geftalt handelt, dafür treten die erhaltenen Denkmäler mit zahlreichen Zeugniffen ein. Mit dem ägyptifchen Worte Ab, deſſen Grundbedew tung dem Sinne von ftempeln, mit einem Siegel verichliegen entjpricht, bejeich nete man von den erſten Zeiten des Neuen Reiches, aljo etiva vom Jahre 170 vor Chr. an, eine bejondere Klaſſe von Dienern im Haufe und von höheren Beamten am pharaonischen Hofe, denen das Geſchäft oblag, Küche und Kelle unter Siegel zu halten, mit anderen Worten durch ftrenge Ueberwachung von Speife und Trank den Gebieter vor Vergiftung und Verunreinigung durch un

SHofeph in Aegypten. 247

faubere Gerichte und Getränke zu ſchützen. Sie entſprachen in diefer Rolle den heutigen Abdar am perſiſchen Hofe, biß zu ihrer fremden, alſo nicht perfichen Abftammung Hin; denn es find Abkömmlinge des türkiſch-mongoliſchen Kadſcha— ren: Stamme3, dem die perfiihe Majeftät des Schahynſchah jelber angehört. Troß ihres beicheidenen Namens Abdar, der auf ein Waſſerſchenken hinweiſt, befleiden dieſe Hofbedienfteten hohe Aemter und Würden und genießen das vollfte Vertrauen ihres Gebieterd. In gleicher Weife verhielt es fi mit den Ab am Hofe Pharao’3, die wie Adolf Erman in feinem Werte „Aegypten“ (S. 156) es nachgewieſen hat, jelbft aus Kriegsgefangenen und Sklaven afiatiiher und Libyjcher Abkunft ausgewählt wurden, ihre heimifchen Namen beibehielten und mit den Mameluken der ägyptijchen Sultane pafjend verglichen werden Eönnen. Das wirft ein helles Schlagliht auf Joſeph, der gerade ala Fremder dem Pharao turanijchen Blutes näher ftand als jeder Aegypter am Hofe.

Die Würde eines Ab ift nad) dem Gejagten durchaus mit dem vereinbar, was Sofeph felber feinen Brüdern über feine Stellung am Hofe ferner mit- teilt, daß ihn Pharao, wie Luther überjegt, zum Heren über all jein Haus und zum Fürſten in ganz Aegyptenland geſetzet habe. Der ebräiiche Text gibt an Stelle der Mebertragung „Fürſt“ da3 Wort Adon, dem im Aegyptiſchen ein durchaus gleichlautendes Wort Adon mit der allgemeinen Bedeutung von Stellvertreter in irgend einem höheren Amte entſpricht. Ein altägyptifcher General 3. B. beſaß ſeinen Adon oder Stellvertreter oder Nice» General, ein Nomarch oder Gaugraf in gleicher Weile jeinen Stellvertreter, wie ſchließlich der König jeinen Vertreter unter dem echt ägyptiichen Zitel eines „Adon des ganzen Landes“, der in den Dentmälerinjchriften genannt wird und Wort für Wort der höchften Würde Joſeph's nad) den bibliichen Tertworten gegen- überfteht. Bevor der jpätere König Horus, etwa ein Jahrhundert vor der Zeit Ramfes’ IL, auf den Thron erhoben wurde, bekleidete er das Amt eines Adon de3 ganzen Landes, das ihn zur nächſten Stufe eines Kronprinzen von Aegypten vorbereitete (fiehe meine Geſchichte Aegyptens Seite 440 fl.). Der biblifche Er— zähler zeigt fich auch hierüber auf das Genauefte in ägyptijchen Dingen unter- tihtet, jo daß man feine Angaben gleihjam wie von den Denkmälern herüber- genommen anzujehen verjucht wird.

Selbft der vielfach beiprochene Gruß, welcher nad) des Königs Befehl dem Großwezir Joſeph von den Aegyptern entgegengerufen werden jollte, zeugt von der gründlichen Kenntniß des ebräijchen Verfaſſers mit der altägyptijchen Höf- lichkeitsſprache. Es handelt fih um das Wort Abref, für das Luther, vom Ehräifchen ausgehend, die Uebertragung braucht: „Der ift des Landes Vater“; Andere: „daß man die Kniee vor ihm beugen follte“, und welches wieder An— dere, auf die ägyptiiche Sprache zurückkommend, durch „wirf dich nieder!“ oder „beuge das Haupt” oder „freue dich!” oder „Haupt der Wiſſenden“ wiederge— geben haben. Alles das ift unbewieien geblieben, da die angeführte Grußformel in der Denkmälerſprache bisher feinen ftüßenden Beweis gefunden hat. Erſt dem englifchen Gelehrten Le Page NRenouf, dem gegenwärtigen Director der orientaliihen Sammlungen des Britifchen Mufeums in London, ift es vor Kurzem gelungen, in einem Papyrus der ägyptiſchen Abtheilung die wirkliche

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Grußformel nach ihrer echten altägyptiſchen Faſſung wieder zu entdecken. Sie lautete vollftändig: ab-re-k ſuza haak „erwünſcht bleibe dein Wort und gefund dein Leib“. Mit der Formel ab-re-f, die wie ein getreuer Abbrud des unerflärt gebliebenen Abrek in der Bibel uns entgegentritt, wollte man io viel jagen al3 „dein Wort oder dein Ausspruch ift für uns ein WVergnügen“, mit anderen Worten: „Wir find zu deinen Dienften bereit“, und damit find wie mit einem Schlage alle Schwierigkeiten gelöft und die biäherigen Vermuthungen in den Hintergrund gejchoben. |

Aber auch fonftige Anſchauungen echt ägyptiichen Inhaltes find den Gr zählern der Gejchichte Joſeph's nicht fremd geweſen, und man wird es Taum als einen Zufall betrachten dürfen, daß die überlieferten einhundertundzgehn Lebens: jahre ihres Helden in vielen jungen und alten Stein und Papyrusinichriften al3 die Lebenszeit durch Gottes Gnade eine gerehten und Gott wohlge— fälligen Mannes aufgeführt werden. In einer der älteften Handichriften der Welt, dem jogenannten Papyrus-Priffe auf der Nationalbibliothek in Paris, werden dem angeblicden Verfaſſer, einem Prinzen aus der Zeit der fünften Dy naftie, die an feinen Sohn gerichteten Worte in den Mund gelegt: „Siehe! ein guter Sohn ift ein Geſchenk Gottes. Er thut mehr, al3 ihm von feinem Herm vorgejchrieben ward. Er handelt gerecht, indem fein Herz ihn zum Worwärts- ftreben drängt, gleich wie ich es als mein Ziel betrachtet hatte. Dein Leib wird wohl bleiben und der König wird gnädig fein bei Allem, was gejchieht. Dir werden die nicht wenigen Lebensjahre zu Theil werden, die ich auf Erden voll- endet habe; (denn) mir find einhundertundzehn Jahre in einem jchönen Leben be ſchieden geweſen.“ Der Wunſch, dasjelbe Lebensalter zu erreichen, zieht fich wie ein rother Faden durch alle Inſchriften und Texte der fpäteren Zeit hindurch, welche das Dafein eine frommen und gerechten Aegypters auf Erden bis zu feinem lebten Tage Hin berühren, ohne daß e3 der Wiſſenſchaft gelungen wäre, für die angegebene, nicht3 weniger als cyElifche Zahl 110 eine genügende Erklärung zu entdeden.

II.

In der Geihichte Joſeph's ſpielt die Epifode mit der jchönen Frau Poti— phar eine bedeutfame Rolle. Sie legt den Grund zu dem fpäteren Glüd des keuſchen Jünglings und bildet die eigentlihe Einleitung zu der Entwidlung feines jpäteren Schickſals bi3 zu feiner Erhebung am Hofe des Königs oder, um mid ägyptiſch auszudrüden, des Phar-ao d.h. „de3 Hohen Haujes“. Sin einem Märchen aus dem Neuen Reiche, welches in der Moſeszeit von den Aegyptern gern gelefen wurde, kehrt eine ganz ähnliche Geſchichte wie ein Vor— jpiel zu dem Hauptgegenftande der ganzen Erzählung wieder. Es handelt fi darin um zwei Brüder, Landleute, von denen der ältere und beweibte Na- men? Anepu den jüngeren Bata wie ein Vater feinen Sohn behanbelte. Die jpätere Erhebung Bata’3 zum Kronprinzen und fünftigen Regenten Aegyptens war eine Folge unkeuſcher Anträge der lockeren Schwägerin ihm gegenüber. Der no erhaltene Papyrıs mit dem Märchen von den beiden Brüdern erzählt den Hergang in folgender Weiſe:

Hofeph in Aegypten. 249

Die beiden Söhne von einem Vater und von einer Mutter lagen eines

ihönen Tages der Tyeldarbeit wie gewöhnlich ob.

Da gab ber große Bruber feinem Kleinen Bruber einen Auftrag, indem er alfo redete: „Begieb Dich von hinnen und bringe uns Ausfaat don dem Dorfe.“ Sein Heiner Bruber fjuchte bad Weib feines großen Brubers auf, und er fand fie fihend und bamit beichäftigt fih ihr Haar zu flechten. Und er ſprach zu ihr: „Stehe auf und gib mir Ausfaat, damit ich zurückkehre nad) bem Felde, denn mein großer Bruber hat mir geboten: Eile fchleunigft zu mir und verweile nicht!” Und das Weib redete zu ihm: „Gehe bin und thue ben Getreibefaften auf, damit Du Dir heraus: nimmft, was Deinem Herzen gefällt, bamit fich meine Flechten auf dem Gange nicht auflöfen.“

Da ging ber Jüngling in feine Kammer, um fich ein großes Maß zu holen, denn es lag in feiner Abficht recht viel Ausjaat zu tragen. Nachdem er ſich alſo mit Gerfle und Dinkel: weizen belaftet hatte, zog er von bannen mit feiner Fracht. Und fie ſprach zu ihm, indem fie ihm in den Weg trat: „Wie groß ift die Laſt?“ Er antwortete ihr: „Drei Scheffel Dinkelweizen und zwei Echeffel Gerfte, zufammen fünf Scheffel, die auf meinen Armen ruhen.” Alfo redete er zu ihre. Und fie (entbrannte in Liebe zu ihm) und ſprach aljo: „Es ift eine (große) Stärke in Dir und täglih hat man Deine Kraft geichaut,” wobei fie ihn erfahte und zu ihm ſprach: ‚Komm, feiern wir eine Stunde bes Sclafes! Das Schönfte follft Du haben, und ich werde Dir Feierkleider ſchenlen.“

Und der Jüngling warb zornig wie der Panther aus dem Süden ob dieſes böſen Antrages, welchen fie zu ihm ausgeſprochen hatte, und fie fürchtete fi gar jehr, gar jehr. Und er redete fie an mit ben Worten: „Schaue doch! Du, o Weib, bift mir wie eine Mutter und Dein Mann ift mir wie ein Vater geweien, weil er älter ift als ich e3 bin und mich auferzogen bat. Das für eine grohe Sünde ift 8, jo Du zu mir geiprochen haft! Wiederhole mir bie Rede nicht ! Dann foll zu feinem Menjchen ein Wort darüber aus meinem Munde hervorgehen.“

Indem er feine Laſt emporhob, begab er fich nad; dem Felde und kam zu feinem großen Bruder, und fie hatten vollauf mit ihrer Arbeit zu thun. Nachdem inzwiichen der Abend herein: gebrochen war, kehrte jein großer Bruder nah Haufe zurüd und fein fleiner Bruder blieb Hinter der Herde, beladen mit allen guten Dingen des Feldes, damit er feine Herde heimgeleite, um fie in ihrem Stalle im Dorfe ausruhen zu lafien.

Und fiehel Das Weib feines großen Bruders fürdhtete fich ob des Antrages, welchen fie zu ihm ausgeſprochen hatte und nahm einen Zopf Fett zu fi, und wurbe wie Jemand, ber vom Debeljein getroffen worden ift, ala ob fie dadurch ihrem Manne zu verftehen geben wollte, wegen Deines Bruders hat mich das getroffen.

Am Abend kehrte ihr Mann heim nad; feiner täglichen Gewohnheit und trat in jein Haus ein, indem er fein Weib auf dem Lager ruhend fand und fterbenäfrant durch Unwohljein, ohne daß fie Wafler über feine Hand nady feiner Gewohnheit gegoffen, noch die Lampe vor ihm an: gezündet hätte, alfo da das Haus finfter war. Sie aber lag da und fpie.

Ihr Mann fprad zu ihr: „Wer redete zu Dir!“ Sie antwortete ihm darauf: „Sein Einziger redet zu mir außer Dir und Deinem kleinen Bruder. Als er zu mir gelommen war, um Dir die Ausfaat zu tragen, ba fand er mich allein figen und fprach zu mir „Somm, feiern wir eine Stunde und jchlafen wir! Lege Dein Gewand ab.” Alſo redete er zu mir. Wber ich hörte nicht auf ihm (und fpradh): „Siehel Bin ih nicht Deine Mutter und ift Dein großer Bruder gegen Dich nicht wie ein Vater?“ Alſo redete ich zu ihm. Aber er (hörte nicht auf meine) Worte, jondern ſchlug mid), damit ich Dir feine Anzeige machen folltee Nun, läht Du ihn am Zeben, fo werde ich mir den Tod geben.“

Es iſt unnöthig auch nur ein Wort zu verlieren, um auf die biblischen Anklänge in diefem Theile des ägyptiſchen Märchens hinzuweiſen. Der keuſche Jüngling und das ſchuldige Weib treten als vollftändig gleiche Typen in beiden Schilderungen auf.

Die ägyptiſchen Erinnerungen, welche in jo auffallender Weife in der bib- liſchen Geſchichte Joſeph's wiederkehren und in dem jüngften Erzähler faft einen in Aegypten anfäffig gewefenen Ebräer vermuthen laſſen, treten auch in den

250 Deutſche Rundſchau.

Träumen und Traumdeutungen, die mit dem Namen Joſeph's verbunden find, in den Vordergrund. Bon den mir bekannten Träumen, welche uns die Dent- mäler gelegentlich melden, mögen die folgenden als Beweisſftücke dienen.

Der beichriebene Riejenftein von vierzehn Fuß Höhe, welcher ſich vor der Bruft de3 Sphinrkoloffes von Gizeh befindet, trägt eine Inſchrift mit dem Datum des erften Regierungsjahres Könige Thutmofis IV., deſſen Lebenzzeit zwei Jahrhunderte vor der Mtofes » Epoche anzufegen ift. Die darauf eingegra- bene hieroglyphifche Infchrift beginnt mit den folgenden Worten, welche den weitläufigen Titeln und Namen des genannten Pharao folgen:

Im erften Jahre, am neunzehnten Tage des britten Neberichwenmungsmonates. Eiche! Er vergnügte fich mit der Jagd auf dem Gebiete des Gaues von Memphis nach feiner füdlichen und nörblichen Richtung Hin, um mit eherner Lanze nach dem Ziele zu ſchießen und bie Löwen bes Gazellenthales zu erlegen. Gr fuhr auf einem Magen, deffen Rofje fchneller ala der Wind liefen, begleitet von zwei Dienern. Niemand kannte fie. Und fiehe! trat die Stunde der Er: holung für feine Diener ein, jo pflegte er ben Lichtgott Harmachu (die Sphinrgeftalt) neben dem Gotte Sokar und anderer namentlich aufgeführten Gottheiten durch Opfergaben zu ehren.

An einem diefer Tage geſchah es, nachdem ber König ala Prinz Thutmofis IV. um bie Mittagszeit auf feiner Reife angelommen war und fih im Schatten biefed Gottes (der Ephinr) zur Ruhe auögeftredt hatte, daß ihn der Schlummer überfiel. Im Augenblide, als die Sonne im Scheitelpunfte ftand, Hatte er im Echlaf einen Traum. Gr fand, daß die Majeftät dieſes herrlichen Gottes mit feinem Munde zu ihm ſprach, gleichwie ein Vater zu feinem Sohne rebet, und zwar mit folgenden Worten: „Schau mid) an, betradyte mich, mein Sohn Thutmoſis! Ich bin Dein Vater Harmadu, die Nacht:, Morgen- und Abendjonne Dir fei das Königthum ver lieben und Du ſollſt bie Krone von Ober: und Unterägypten auf dem Throne des Grdgottes tragen, das ganze Land, jo lang und breit es ift und fo weit es das Auge des Allherrn mit feinem Strahle erleuchtet, gehöre Dir an. Die Reichthümer aus dem Inneren bes Landes und bie Zribute aller Vöoller und eine lange Dauer von Jahren jeien Dir zu Theil. Mein Angeficht zubt auf Dir und mein Herz gehört Dir an. Mich verfchüttet der Sand ber Wüfte, wo meines Bleibens if. Antworte mir, dab Du die Abficht haft den Wunſch meines Herzens zu erfüllen. Daran werde ich erkennen, ob Du mein Sohn und mein Helfer bifl. Zritt heran, lab mich Dig umarmen.“

Nach diefem (Traum erwachte ber Prinz, er wiederholte das Gehörte) und verftand die Rebe dieſes Gottes, indem er fie in feinem Herzen bewahrte. j

Der Traum follte ſich erfüllen. Prinz Thutmofis ließ die damals ſchon (viertundhalb Tauſend Jahre vor unferer Zeit!) verfandete Sphinx freilegen und erhielt al3 Belohnung für diefes Werk Krone und Scepter Aegyptens.

Al im neunten und achten Jahrhundert Fürften äthiopifchen Urfprungs im Nilthale Herrfchten, hatte der Traum feine alte Bedeutung nicht verloren. Einer diefer Könige Namens Bi-ke-re gelangte in Folge eines nächtlichen Geſichts zu dem Entſchluß, Aegypten zu erobern. Auf einem Dentmale aus feinem erften Re— gierungsjahre wird der Bericht darüber mit den folgenden Worten eingeleitet:

Am erften Jahre feiner Ihronbefteigung ala König (von Nethiopien) jah Se. Majeftät ein Fraumbild in der Naht: zwei Schlangen, deren eine fih an jeiner rechten unb bie andere an feiner linten Seite befand. Nachdem er erwacht war, ſah er fie nicht mehr und er fprad: „Warum ift mir dies geworden?“ Man legte es ihm aus, indem man ſprach: „Oberägypten wirb Dir gehören und Du wirft Unterägypten in Befih nehmen. Das Doppeldiadem wird Dein Haupt ſchmücken, das ganze Land, fo lang und breit es ift, wird Dir verliehen werden u. ſ. mw.“

Der Erfolg, wie im Verlauf der einundvierzigzeiligen Inſchrift ausführlich es berichtet wird, beftätigte die Wahrheit der Traumauslegung, welche bie Traumbdeuter dem König geliefert hatten.

Joſeph in Aegypten. 251

Eine Reihe ähnlicher Beifpiele bejtätigt den Werth, welchen die Aegypter, und an ihrer Spite Pharao, auf Träume legten und erklärt die bejondere Gunft, welche der fönigliche Zeitgenofje Joſeph's feinem ebräifchen Traumbdeuter fortan zu Theil werden Tief. Noch gegen den Anfang unferer Zeitrechnung wurde den Träumen eine jo hohe Bedeutung zugemefen, daß man fie auf Pa— pyrus niederfchrieb, um fich ihrer gelegentlich zu erinnern. So enthält ein in ägyptiicher Volksſchrift abgefaßtes Papyrusftüd (jet in Bologna) ein jogar numerirtes DVerzeihnig von Träumen, die für jeden Anderen außer dem Träumer und Verfaffer, einem gewiſſen Apollonios, auch nicht das mindefte In— tereffe Haben Eonnten.

In den Träumen, welche Joſeph dem Pharao feiner Zeit gedeutet hatte, offenbart fich ein ſymboliſcher Gedanke, wie er in gleicher Weife in dem Traume Königs Biere zum Ausdrud gelangte. Hier ftellen zwei Schlangen die Herr: Ihaft von Ober- und Unterägypten dar, dort find es fieben fette Kühe und Aehren neben fieben mageren, welche auf fieben fruchtbare und fieben Jahre der Hungerönoth gedeutet werden. Dazu da3 Auffteigen der Kühe aus dem Waſſer, und der Zufammenhang mit der Ueberſchwemmung liegt Har vor Augen. Von „Jahren de3 Hungers“ ift häufig auf den Dentmälern die Rebe und die mweijen Gaufürften, welche in ihren Grabjchriften von fich felber zur Nachwelt ſprechen, rechnen e3 ſich ala ein hohes Verdienſt an, in ſolchen jchlimmen Zeiten den Hunger der Bedürftigen durch die aufgefammelten Vorräthe geftillt zu haben. In einem der Gräber von Beni-Hafjan, aus der Mitte des dritten Jahrtaufends vor Ehr., rühmt fi ein damaliger Gaugraf, Namens Ameni, in der folgen- den Schilderung al3 Vater feiner Untergebenen:

Nicht Hatte ich den Sohn eines Armen gepreht, nicht bie Wittwe bedrückt, nicht den Fiſcher beläftigt, nicht den Hirten fortgetrieben, noch gab es einen Befiker von fünf Hänben (?), dem id) feine Leute zu meinen Arbeiten entrifien hätte. Es gab feinen Elenden in meinem Gebiete und feinen Hungrigen zu meiner Zeit, wenn Jahre der Hungeranoth entftanden waren. Ich hatte alle Felder meines Gaues mit einem Pfluge beftellt bis zu feiner fübdlichen und nörblichen Grenzmart Hin. Ich nährte feine Inſaſſen und verfchaffte die Speife in ihm. Kein Hungriger war in ihm. Ich Hatte der Wittwe gleichwie ber Ehefrau gegeben und machte feinen Unterjchied zwiichen Groß und Klein bei Allem, was ich gegeben Hatte. Waren volle Ueberſchwemmungen eingetreten, jo blieben die Beſitzer von (Gerfte und) Dinkelweizen die Befiker bon Allem. Nichts forderte ich auf die Theilftüde des Morgen Landes hin.

Daß Jahre der Hungerönoth im alten Aegypten auf einander folgen konnten, auh dafür bieten die injchriftlichen Ueberlieferungen beredte Zeugniffe. In dem Grabe eines gewilien Baba, in der Nähe des Heutigen El-⸗Kab genannten Ortes, erzählt der ehemalige Beier der antifen Anlage:

Id, jammelte Getreide ein ala Freund des Erntegottes und war wachſam zur Zeit der Aus- faat. Als uun einmal eine Hungersnoth entftanden war, viele Jahre Hindurd, da jpendete ich Getreide an bie Stadt bei jeder Hungersnoth.

Daß hierin auf ein beftimmtes Ereigniß angejpielt wird, dürfte außer allem Zweifel ftehen, und wenn ich früher dabei an die Zeit Joſeph's gedacht hatte, denn bei einer Hungerdnoth Haben ſchon fieben Jahre die Bedeutung von viel, jo führte mich zu diefem nahe liegenden Schluß die Thatſache, daß die Lebens- zeit jenes Baba in die Epoche des achtzehnten Jahrhunderts gefallen war, ala die Hirtenfönige in Unterägypten ihr Weſen trieben und Joſeph an dem Hofe

252 Deutſche Rundſchau.

eines derſelben zu Ehren und Würden erhoben ward, in Folge feiner Voraus— ſagung der ſieben fetten und ſieben mageren Jahre.

IV.

Und damit bin ich bei dem Hauptſtück meiner Studie über Joſeph in Aegypten angelangt, um eines merkwürdigen allerneueften Fundes zu gedenken, deſſen Bedeutung meine Leſer fofort erkennen und würdigen werben. Gin mir befreundeter amerifaniicher Gelehrter, Herr Chad. E. Wilbour, der, wohl vertraut mit den altägyptifhen Schriftarten und Alterthümern, alljährli den Winter über in Aegypten zu weilen pflegt und ſich dabei in der glüdlichen Lage be findet, die werthvolliten Denkmäler Leicht zu erwerben, gab mir unter dem 28. Januar d. %. von Luxor, der öftlichen Seite des alten Thebens aus, bie briefliche Nachricht, er jei jo eben in den Beſitz eined der jeltfamften Steine ge kommen. Die qlatt gejchliffene Vorderfläche der Stele zeige zweiunddreißig Linien einer hieroglyphiſchen Inſchrift, in welcher zunächſt die Erwähnung eines biäher unbekannten ägyptiichen Pharao nah Namen und Titeln in den Vordergrund trete. Der Inhalt des mir theilweije abjchriftlich mitgetheilten Textes betrifft einen Chit-het genannten Dann, der in dem vierzehnten Regierungsjahre gedachten Königs manche geheimnißvolle Dinge vollzog und zwar, wie e8 wörtlich heißt: „wegen de3 jehr großen Unglüd3 in folge der während der Dauer von fieben Jahren nit eingetretenen Nilüberfhmwemmung.“ Die Morte find Har und deutlich gejchrieben und laſſen feine andere Auslegung zu. Die Stelle ift jo einjchneidend für Joſeph und die fieben Hungerjahre, daß eine fritiiche Prüfung der eben aufgefundenen Anfchrift geradezu geboten erjcheint.

Die Fragen nad) der Echtheit und Abfaffungszeit des Tertes treten dabei in den Vordergrund. An der Echtheit dürfte der Fachkenner kaum zweifeln, um jo mehr dagegen an der Gleichzeitigkeit jeiner Abfaffung mit der Regierung: epoche des unbefannten Königs. Gewiſſe Eigenthümlichkeiten in der Schreibweite mancher hieroglyphiicher Wortgruppen verjeßen die Redaktion bi etwa in das vierte Jahrhundert vor Ehr., vielleicht jogar noch ſpäter. Damit ſtimmt es überein, daß in der Bezeichnung der königlichen Titel eine ungebundene db. 5. fehlerhafte Freiheit herrſcht, wie fie in den Zeiten der Ptolemäer gelegentlich zum Ausdrud kommt. Gin ganz ähnliches Beiſpiel bietet eine Inſchrift dar, welche von einer bejeffenen Prinzejfin in einem jonft nirgend bekannten Lande Bachten handelt, freilich könnte man verjucht fein, dabei an Baktrien zu denken, zu deren Heilung der thebanische Mondgott Chonju von Theben bis zur Heimath der Königstochter entjendet wird. Der Name de3 zu der Zeit über Aegypten herrfchenden Pharao, deſſen Gemahlin al3 die Schwefter der bejefjenen Tochter des Königs von Bachten bezeichnet ift, lautet wie der allgemein bekannte Familienname Ramſes, aber jeine Titel erfcheinen wie zufammengeftoppelt und ent— behren de3 hiſtoriſchen Hintergrundes. Schrift und Sprache, in twelcher der ganze Be— richt abgefaßt ift, verweifen auf eine ſehr fpäte Epoche, etwa taufend Jahre nad dem großen Ramſes. Die Folgerungen, welche die wiſſenſchaftliche Unterſuchung daraus gezogen hat, führen zu der Annahme, daß man alte Sagen benußte, um in jüngfter Spradhe den lebenden Zeitgenofjen die Macht des thebanijchen

Joſeph in Aegypten. 253

Mondgottes dur eine jcheinbar Hiftorifche wunderbare Thatſache vor Augen zu führen. Selbft die chriftliche Legende erfüllt in unſerer aufgeklärten Zeit an manchen Orten denjelben Zweck.

Mir gelangen damit zu dem berehtigten Schluß, daß die auf dem neuen Denkmale angeführte Erinnerung an die fieben mageren Jahre aus einer längft vergangenen Zeit noch in den Jahrhunderten unmittelbar vor dem Anfang unferer Aera unter den Bewohnern des Nilthales Tebendig war und als Legende zu frommen Zwecken von den Prieftern verwerthet wurde. Aber die angegebenen Regierungsjahre des unbekannten König fcheinen mit einer abſichtlichen Berech— nung erfunden zu fein. Mit dem vierzehnten Jahre feiner Herrſchaft Hatten die fieben Jahre der fehlenden Nilfluth ihr Ende erreicht, da3 erfte magere Jahr war jomit in jeinem achten Jahre eingetreten, Die übrig bleibenden fieben Jahre entjprechen den erften jieben Jahren feiner Herrſchaft. Es find die fetten, in welchen der Nil feine gewohnte volle Schuldigkeit that, vom erjten Regierungs— jahre de3 gemeinten Pharao an.

Legen wir ben zeitlichen Maßſtab an den König felber an, mit Berüdfich- tigung der Epoche Joſeph's, jo würde der gemeinte Fürſt zu der Dynaftie der fremden Herrſcher turanifcher Herkunft gehört und etwa um das Jahr 1800 vor Chr. den Thron des Landes inne gehabt haben. Sein Name wird in der Anschrift genannt. Die Echriftzeichen, aus welchen ex zufammengejegt erjcheint, fönnen Ah-ſor oder Cha-ſor und bei der Flüffigfeit des ägyptifchen Buch— ftabens x au Ah: fol, Cha-fol gelefen und durch „kampfbereit“ übertragen werben. Ein folder Name ift in dem ägyptiichen Königsbuche bisher nicht nach— gewieſen worden, weder für einheimifche noch für fremde Herricher der Dynaftien- reihen. Wie jeder Pharao außer feinem Familien» und officiellen Namen einen bejonderen Thronnamen führte, jo fehlt es auch dem in Rede ftehenden an einem ſolchen nicht, und hier ergibt die Vergleichung mit befannten Königätiteln die überrafchende Lebereinftimmung mit denfelben Thronnamen, weldyen ein ur= alter König ded Landes aus den erften Dynaſtien auf einem einzigen übrig gebliebenen Dentmale aus jeiner Regierungszeit trägt. Es handelt jih um die Thür und die Thürinſchrift aus dem unterften Raume der größten unter den Pyramiden von Sakkara, welche Lepfius in den vierziger Jahren an Ort und Stelle losbrechen ließ. um ihr einen Pla im Berliner ägyptiihen Mufeum (U. Gräberjaal unter Nr. 91) anzuweifen.

Das konnte unmöglich der Pharao Joſeph's gewejen fein, denn anderthalb Jahrtaufende trennen ihn von der Epoche des Lieblingsjohnes Jakob's. Aber die änyptifche Sage der Spätzeit bemädtigte fich feines Namens, um auf eine Borzeit zurückzugreifen, an welche auch jonft ſich Legendenartige Erzählungen von alten Königgnamen anfnüpfen. In den Auszügen aus Manetho’3 verloren ges gangenen Werten über die ägyptiſche Geſchichte erjcheinen wie Ueberjchriften zu alten Sagen oder wie Randbemerkungen fonderbare Zufäße, die aller Gejchichte Hohn fprechen und meift wie Märchen klingen. Der erfte König ded Landes ſoll bon einem Nilpferde weggeichnappt, unter feinem dritten Nachfolger eine Hungers— noth eingetreten fein, unter dem ſechſten vieles Wunderbare, aber aud) eine große Veit ftattgefunden haben, unter dem fiebenten Könige der zweiten Dynaftie das Nilwaſſer elf Tage lang mit Honig vermifcht geweſen fein und was dergleichen

254 Deutſche Rundſchau.

Sagen mehr ſind. Ich zähle unbedingt die auf dem Stein berichtete Geſchichte von ben fieben Jahren der ausbleibenden Nilüberſchwemmung zu dieſem Sagen- kreis. Sie hatte einen Hiftorifchen Hintergrund, der fi in der biblifchen Er— zählung vom Joſeph abfpiegelt, aber nur in ber lleberlieferung von Mund zu Mund erhalten, von den Negyptern der fpäteren Zeiten nad) berühmten Muftern auf einen uralten König bezogen wurde, defjen Name bei diejer Gelegenheit ber Wiſſenſchaft zum erften Male enthüllt wird. Wie mythiſch feine Perjon fern mußte, geht jchon aus dem Umftande hervor, daß jein Titel- oder Thronname in der Zeit der XXI. Dynaftie (vom Anfang des zehnten bis zum Anfang des neunten Jahrhunderts) auf den Apisftier in feiner Eigenichaft als König der heiligen Thiere des Landes übertragen wurde.

Alles in Allem darf die Behauptung aufgeftellt werden, daß die auf dem entdeeten Steine erwähnten fieben mageren Jahre in Folge der ausgebliebenen Ueberſchwemmungen auf einer Hiftorifchen Thatſache beruhen, deren Einzelheiten bi3 zum Namen de3 Königs hin aus dem Gedächtniß gewiſcht waren, bis fie in dem letzten Viertel des Jahrtaufends vor dem Beginn unferer Zeitrechnung von ben Prieftern zu einer Sage umgewandelt wurde, in der man den längjt ver- gefjenen König jener Epoche von den alten halbmythiſchen Fürften der ägyptiſchen Vorzeit herholte. Solche Vorgänge wiederholen fi) in den Papyrus-Hand- Ichriften, und es würde deshalb ein arger Verftoß gegen alle geihichtliche Kritik fein, die darin erzählten Sagen für baare Münze zu nehmen. Dasjelbe trifft bei den Griechen zu, welche von ägyptifchen Hiftorien diefer Art zu erzählen wußten. Herodot’3 luſtige Gejhichte vom König Rampfinit und dem Baumeifter feines Schathaufes und das durch Strabo überlieferte und an unjer Ajchenbrödel erinnernde Märchen von der fchönen Rodopi3 und ihrem verlorenen Schuh reichen für fi allein aus, um als beredte Beifpiele der altägyptifchen Sage mit erfundenen Hiftorifchen Namen felbft in griechiſchem Munde zu dienen.

Die Bedeutung, welche der aufgefundene fteinerne Bericht für die Geſchichte Joſeph's gewinnt, beruht jomit Tediglih auf der ägyptijchen Beftätigung eines wirklichen Ereigniſſes, das mit dem ungewöhnlichen Ausbleiben der Nilüber- ſchwemmung während eine Zeitraums von fieben Jahren in Zujammenhang ftand und mehr als taufend Jahre nachher in Geftalt einer priefterlichen Sage ben Aegyptern der jüngften Gejchichte des Alterthums in erbaulicher Weife aufs getiicht wurde. Der Fromme Chi-het, natürlich ein in magiſchen Künften wohl— erfahrener Mann, war einft im Stande gewefen, durch feine Gebete und Bes ſchwörungen den fieben mageren Jahren ein Ende zu bereiten. Dies Wunder» ftüd wollte man in Hiftoriiher Form melden. Dem fteht die einfache und natürliche Schilderung der biblijchen Darjtellung wie der Tag der Nacht gegen- über. Was beiden Berichten gemeinfam ift, die fieben theuren Jahre, das er— Icheint nothgedrungen als eine Begebenheit, die fich einft zugetragen hat und an deren Wahrheit nicht zu zweifeln ift. Der Stein von Luror wird daher für alle Zeit troß feines ſagenhaften Inhaltes ala das wichtigfte Beweisftüd für die einft wirflic eingetretenen ſieben theuren Jahre in der Geſchichte Joſeph's gelten müffen und die „Deutſche Rundſchau“ ſich des Vorzugs erfreuen, zum erften Male die genauere Kunde darüber in die Welt getragen zu haben.

Nus dem modernen Dalien').

Don V. D. Fiſcher.

Es gibt wohl kein Land auf dem weiten Erdenrund, über das Jahr aus Jahr ein ſo viel geſchrieben wird wie über Italien, und dennoch iſt von dem Italien, das mit uns lebt und mit uns arbeitet, wenig, viel zu wenig bekannt. Natur, Kunſt, Geſchichte die Hauptziele für den immer ſtärker anſchwellenden Römer— zug der Fremden bieten auch den hauptſächlichſten Stoff für die literariſchen Erzeugnifje, in welchen ein nicht geringer Theil der Reiſenden die Erinnerungen an da3 Land, wo die Gitronen blühen, niederzulegen pflegt. Die Zuftände der Gegenwart kommen meift nur nebenher und obenhin in Betracht, namentlich jeitdem der romantiſche Schimmer verblichen ift, mit welchem „der Bettler an der Engelspforten“, da3 malerische Gefindel der Lazzaroni, das Heer ber Mönche und ähnliche Staffagefiguren in den Augen de3 nordiſchen Beichauers früher umgeben waren. Auch in der wiffenihaftlichen Literatur überwiegen durchaus die äſthe— tijchen und die geſchichtlichen Intereſſen; wir befigen Feine deutſchen Arbeiten über das Italien unjerer Tage, welche fich in ihrer Bedeutung mit Jacob Burckhardt's Gultur der Renaiffance oder mit Gregorovius’ Gejchichte der Stadt Rom im Mittelalter annähernd vergleichen ließen. Mit vollem Recht konnte Carl Hille brand, jeldft einer der feinften Kenner Italiens, behaupten, kein Volk der Erde, die Italiener nicht ausgenommen, fenne Jtalien, feine Geſchichte, feine Kunft und feine Natur befjer al3 das deutjche, und gleichzeitig darüber Klagen, daß uns das lebendige, gegenwärtige Italien vielfach ein Räthjel bleibe. Bei diejer Klage hat es Hillebrand bekanntlich nicht beivenden laſſen; er unternahm den Verſuch, den Deutichen einen Einblid in das innere Weſen der italienischen Gegenwart zu ver= mitteln, indem er in feiner „Italia“ die politifche Wiedergeburt und den wirth« ſchaftlichen Aufſchwung des Landes, das ihm zur zweiten Heimath geworden war,

) Sigmund Münz, Aus dem modernen Stalin. Studien, Skizzen und Berichte. Frankfurt a. M. 1889. H. Mereu, L’Italie contemporaine. Paris 18388. W. N. Beauclert, Rural Italy. London 1888. Werner Sombart, Die römiiche Gampagna. Eine focialölonomifhe Studie. Leipzig 1838. Ebmondo be Amicis, Sull’ Oceano. Milano 1889.

256 Deutſche Rundſchau.

ſeinen deutſchen Landsleuten in muſtergültigen Darſtellungen periodiſch zu dveran— ſchaulichen ſtrebte. Aber es gelang ihm nicht; die „Italia“ fand trotz der vor: züglichen Redaction des Herausgebers und troß der hervorragenden deutjchen und italienifchen Mitarbeiter, die fich ihm zugefellt hatten, keine genügende Theilnahme in Deutſchland und mußte nach vier Bänden ber Iete ift 1877 erjchienen eingeftellt werden. Für die Berichterftattung über die politifchen und wirt): ſchaftlichen Berhältniffe des modernen Italiens find wir feitdem, abgejehen von gelegentlichen Erwähnungen in periodischen Zeitfchriiten, vorzugsweiſe auf m: genügende Erörterungen in der Tagespreſſe angewieſen. Und doch Hat jeit einem Menjchenalter Jtalien Ummandlungen erlebt, wie fie in dem an Mechielfällen reihen Laufe feiner Geſchichte fi) noch niemals in einem fo kurzen Zeitraum zufammengedrängt haben. Einunddreißig Jahre find jetzt verfloffen, feit mit dem Neujahrsempfang in den Tuilerien und dem Schmerzensſchrei bei Eröffnung de3 jardiniihen Parlaments der Feldzug zur Befreiung Italiens von der Tremdherrichaft begonnen wurde. Während damals die öfterreichiichen Fahnen in Mailand und Venedig, die franzöfifchen auf dem Capitol wehten, im Süden die Bourbon, in den Sleinftaaten der Mitte habsburgiſche Nebenlinien ihre ſchwankende Herrſchaft mit fremder Hülfe frifteten, nimmt Italien, nit mehr ein geographiicher Begriff, ſondern ein unabhängiger und einiger Stau, gegenwärtig den ihm gebührenden Pla im Rathe der europäifchen Großmächte ein. Unter dem Scepter eine in Krieg und Frieden bewährten nationalen Herrſchergeſchlechts hat das italienische Volk politiſch durch die Errichtung di Einheitftaat3 eine Aufgabe gelöft, die vor dreißig Jahren jelbft im Italien den Muthigiten unlösbar erſchien. Die Neberbrüdung zwifchen Nord und Süd, an deren Gelingen jogar Cavour's Fühner Geift kaum zu glauben wagte, ift ein vollendete Thatſache; für alle Italiener ift „das Eine, female, meerumſchlungent Land“ jebt in Wahrheit da3 Vaterland. Eine freie Verfaffung gewährt den ver: ſchiedenen politiſchen Parteien den gejeßlich geregelten Antheil an der Staat! leitung; mit Erftaunen hat Europa wahrgenommen, daß in dem früher von den heftigſten Leidenichaften zerriffenen Lande, in der claffichen Heimath der Be: ſchwörer und de3 ftaatsfeindlichen Sectenweſens eine conftitutionelle Regierung möglich ift und daß fie die Autorität der Staatsgewalt in den Formen und Schranken des modernen Rechtsſtaats aufrecht zu erhalten vermag. Lange Jahr: hunderte hindurch die wehrloje Beute der Ausländer, durch Fremdherrſchaft und Pfaffenthum kriegsentwöhnt und verweichlicht, Hat Italien durch energiſche Aufraffen feiner Volkskraft innerhalb eines Menſchenalters auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht ſich eine Heeresmacht geſchaffen, welche ſich im Frieden als eins der wirkſamſten Förderungsmittel der nationalen Verſchmelzung und der Volkserziehung bewährt, und die auch für den Ernſtfall einen au— reichenden Schuß der zu Land und zu Waſſer langgeſtreckten Grenzen de nationalen Gebiet3 verſpricht; eine Heeresmacht, deren Tüchtigkeit Italien zu einem begehrenswerthen Bundesgenoffen für große europäische Militärmächte er— hoben hat. Eine geregelte, Fräftig functionivende Verwaltung, geordnete Recht: pflege, aufftrebende Verkehrseinrichtungen ich erinnere nur an das innerhalb der legten fünfundzwanzig Jahre faſt von Grund aus geichaffene Eifenbahnnet und

Aus dem modernen Stalien. 257

an die Wiedereröffnung alter, langvergefjener Häfen wie Brindifi, Syracus und Girgenti ein aufblühendes Unterrichtsweſen, endlich), und zwar nad) Ueber— windung ungeheurer Schwierigkeiten, erträgliche Finanz- und Geldverhältnifie: da3 find in rajchem Ueberblick einige der hauptſächlichſten Lichtjeiten, welche das italienifche Volk jeiner politiichen Wiedergeburt zu verdanken Hat.

Daß diefer mächtige politiiche Fortichritt auch auf die wirthichaftliche Lage de3 Landes, auf die gefammten jocialen Verhältniffe von erheblichem Einfluß getvejen ift, Fällt auch bei flüchtigem Beſuch und oberflächlicher Beobachtung in die Augen. Bon Jahr zu Jahr weift die Verbrecherftatiftit günftigere oder doch minder ungünftige Ergebniffe auf. Es ift nicht Geringe, in dem Lande ber Vendetta und des Brigandaggio eine allmälige Verminderung der Verbrechen gegen das Leben, eine Zunahme der öffentlichen Sicherheit wahrnehmen zu können. Jedem, der Italien früher gekannt hat, Fällt beim Wiederjehen die Verringerung de3 Bettel3, die reinlichere Tracht, die Hebung de3 ganzen Auftretens der Be— völferung auf: in ihrer gefammten Erſcheinung prägt fich aus, wie viel die Staliener, namentlich aud) der unteren Stände, an Selbftgefühl und Selbſtachtung dem fremden gegenüber gewonnen haben. An die Stelle der örtlichen Abge- ichlofjenheit, jener municipalen Beengtheit, die früher ein charakteriftifches Merk— mal der mittleren und gebildeteren Klaffen der Bevölkerung war, ift ein frifches Leben getreten; der Gefichtäfreis hat fich Über die Grenzen der Stadt und ber Provinz erweitert; die Jtaliener beginnen fi in ihrem gefammten Waterlande heimisch zu fühlen, fie fangen an, wa3 früher eine Seltenheit war, in Italien zu reifen und find namentlich im Sommer eine ungemein angenehme und heitere Geſellſchaft für die allerdings wenig zahlreichen Fremden, welche fi) von dem Porurtheil, daß man Stalten im Winter beſuchen müſſe, glücklich losgemacht haben. Wirthihaftlih Hat ſich die Befreiung des perjünlichen und gewerb- lichen Verkehrs von den Schranken und Pladereien der KHleinftaaterei mit ihrem heillojen Paß-, Zoll- und Polizeiunfug naturgemäß vortheilhaft geltend gemacht. Die Aufhebung der Binnenzölle im Innern, die Schaffung einer einheitlichen Ver— tretung des nationalen Wirthichaftsgebiet3 nad) außen hat eine wejentliche Kräftigung des Gewerbefleißes, eine nachhaltige Erſchließung neuer Hülfsquellen für die ge jammte wirthſchaftliche TIhätigkeit des Landes zur Folge gehabt. Nach Langer und ſchwerer Verſäumniß ift Italien von Neuem in den wirthſchaftlichen Wett- beiverb der Eulturvölfer eingetreten; fein Handel, jeine Schiffahrt find mit Erfolg bemüht, im Mittelmeer, im Orient, an den fernen Küften Aſiens und Afrika's die Erinnerungen an eine glorreiche Vergangenheit twiederzubeleben. Italieniſche Forſcher haben an dem heldenmüthigen Ringen aller gebildeten Rationen zur Erichliegung des ſchwarzen Erdtheils ehrenvoll theilgenommen; die italienijche Flagge hat fi an den Geftaden des Rothen Meeres und auf dem jonnenglühen- den Hodlande Abyſſiniens rühmlich behauptet; mit Umſicht und Ausdauer ift ber Anfang eines italienischen Golonialbefites erzielt tworden.

Freilich fehlt es nicht an tiefen Schatten. Der Conftitutionalismus hat jid) vielfach auch in Italien als ein ſchweres Hinderniß, mindeftens ala eine erhebliche und bedauerliche Verzögerung für die Thätigfeit der Staatögewalt erwieſen. Noth- wendige Reformen, zu deren Durchführung es der ununterbrochenen einheitlichen

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258 Deutihe Rundſchau.

Action einer zielbewußten Einwirkung bedarf, find durch die Parteiſchwankungen des Parlamentarismus aufgeſchoben, verlangiamt und verfümmert worden. Man tagt, daß ber italienifchen Volksvertretung die Fractionsintereſſen den freien Weber: blie über die Bedürfniffe der Geſammtheit beeinträchtigen, daß Stellenjägerei und Nepotismus im Parlament nicht minder arg zu Haufe feien als früher an den Heinftaatlichen Hofhaltungen, daß es troß hochklingender Reden an einer wirt: famen PBertretung der ärmeren, hiülfsbedürftigen Klaſſen fehle. Der Gegenſaß zwifchen Stadt und Land, zwiſchen den Signori und der arbeitenden Land— bevölferung, der in Italien ſich ſchlimmer als anderwärts geltend macht, weil die Großgrundbefißer felten auf dem Lande wohnen, befteht in alter Schärfe und tritt politiſch mehrfach in bedenflichen Erfcheinungen zu Tage. In Sicilien übt die Maffia neben der Staatsgewalt eine gefürchtete Herrſchaft über die unteren Klaffen aus. Bon der Kriſe, welche die Vermehrung der Transportmittel und der dadurch ermöglichte Mitbewerb Amerika’3 und Indiens auf dem europäiſchen Markt für die Landwirthichaft unferes Welttheils herbeigeführt Hat, wird Italien, ein vorzugsweiſe, ja ausſchließlich adferbauendes Land, beſonders ſchwer betroffen. Ebenſo leidet Italien, der jüngfte und der ärmfte der europäiſchen Großftaaten, am ſchwerſten unter der Laft der Rüftung, welche die Erhaltung des Friedens dem Treitlande von Europa in immer jchneller fteigendem Maße aufzwingt. Die Koften für dad Heer und die Flotte haben im Verein mit den wachſenden Auf: gaben und Ausgaben der Staatöverwaltung in Italien zu einer Steuerbelaftung geführt, die fich als ein empfindliche Hemmnik für dringend nothiwendige Ber: beiferungen auf dem Gebiete der Induſtrie und der Landwirthichaft herausstellt und die insbejondere den Eleinen ländlichen Grundbefig bis an die Grenze feiner Leiſtungsfähigkeit Hart bedrüdt. Ungelöft endlich ift noch Heute die ſchon von dem Begründer der italieniichen Einheit fo ſchwer empfundene Kirchenfrage: ber Papft hält noch Heute den Anſpruch auf die Wiederherftellung feiner weltlichen Herrihaft mit vollem Nachdruck und unter Anrufung des Auslandes aufredt; er verharrt in feindfeliger Abneigung gegen das nationale Königthum und den nationalen Staat und verbietet feinem Clerus die Betheiligung an dem ftaat: lichen Leben: ne elettori, n& eletti lautet noch heute in Jtalien der Wahlſpruch, auf den die römiſche Curie ihre gefammte Gefolgichaft zu verpflichten ftrebt, umd der Einfluß, den die noch immer zahlreiche Geiftlichkeit über die umgebildetere Bevölkerung befit, wird nad dem Willen des Statthalter Chrifti wahrlich nidt zu Nuß und Frommen der ftaatlihen Ordnung ausgeübt.

L

Wenn nachſtehend der Verſuch gemacht wird, an der Hand einiger bemerkens— werthen neueren Schriften mehrere der joeben raſch berührten Licht: und Schatten: jeiten de3 modernen Italiens etwas näher zu beleuchten, jo darf bei den Leſern der „Deutichen Rundſchau“ auf die verftändnißvolle Sympathie gerechnet werden, welche man in den gebildeten Klafjen Deutſchlands für die ſtaatliche und wirth— ſchaftliche Entwicklung des ung feit jo Langer Zeit befreundeten, jet auch politiich eng verbündeten Landes und feiner liebenswirdigen Nation in reichftem Maße empfindet.

Aus dem modernen Stalien. 950

Dieſe Sympathie ift zu einem herzlichen, jugendlich lebhaften Ausdruck gelangt in dem anfprechenden Buche, deijen Titel mit dem des gegenwärtigen Aufiates übereinftimmt. Der Berfaffer, Herr Sigmund Münz, ein junger öfterreichifcher Gelehrter, Hat fich mehrere Jahre Hindurch in Rom mit geichichtlichen und Litera= riſchen Studien beſchäftigt; was er hier bietet, find nicht die Ergebnifje, jondern im Wejentlichen die Erlebnifje feiner Studienzeit, Beobachtungen und Porträts, zu denen ihm der Verkehr mit Politikern und Gelehrten aus dem ftaatlichen tie aus dem kirchlichen Lager Gelegenheit bot, Skizzen aus dem Volksleben in Rom und der römischen Umgebung, endlich Briefe in die Heimath mit zwangloſen Glofjen über die wichtigsten Tagesereigniffe des römiſchen Aufenthalts. Wie man fieht, alio feine ſyſtematiſche Schilderung des modernen Italiens, jondern die unbe= fangene Wiedergabe von perjönlichen Stimmungen und Eindrüden, wie fie in der Hauptftadt des modernen Italiens während einiger Jahre gewonnen find: ein Buch, deifen Vorrede wie die von Montaigne's Essais mit den berühmten Worten beginnen fünnte: „ce ey est un livre de bonne foy.“

Das Charakterijtiihe der Schrift von Herrn Dr. Münz ift ein Vorwiegen de3 Anterefjes an der römiſchen Kicche und ihrem Apparat. Nicht etwa in dem Sinne, als ob der Berfafjer ultramontanen Anſchauungen huldigte oder auch nur den religiöjen Standpunft des Katholicismus theilte: ex fteht diefen Fragen durch— aus als Freund der Gewifjensfreiheit und Verfechter de3 nationalen Staat3 gegen— über. Vielmehr jcheint die Beihäftigung mit den kirchlichen Einrichtungen und ihren Vertretern, insbejondere die Betrachtung de3 Kampfes, den Italiens Leitende Geifter jeit der Gründung des neuen Königreichs mit dem Oberhaupte der fatho- liſchen Kirche zu führen genöthigt find, einen Mittelpunkt feiner Studien ala Hiftoriker gebildet zu haben, und man darf annehmen, daß das hier Mitgetheilte nur al3 Vorläufer einer größeren Arbeit gelten will. Uebrigens ift dieſe Theil» nahme für da3 Papftthum ala geihichtlihe Größe und das Verſtändniß für die Bedeutung und die Macht der römischen Curie echt deutih. Sie hat ih, von Goethe'3 italienischer Reife an, Tange Zeit hindurch in den Aufzeichnungen deutjcher Romfahrer erhalten, die troß oft jehr ketzeriſcher Gejinnung* unbefangen genug waren, die Menjchenkenntniß, den politiichen Ueberblick und die vollendete Organi— jation zu bewundern, auf denen die Kirchliche Weltherrichaft des Knecht der Knechte Gottes beruht.

63 werden darum in Deutichland auch diejenigen, die in dem Papſt nicht den Statthalter Chrifti, jondern das Oberhaupt einer jehr großen und fehr Klug geleiteten Priefterfchaft erbliden, mit Theilnahme das Lebensbild betrachten, welches der Verfaffer von Leo XII. entwirft. Leopold Ranke Hat in feiner „Beichichte der Päpfte“ einmal auf die große Mannigfaltigfeit von Charakter- föpfen hingewiejen, welche bei raſchem Thronwechſel zu Trägern der dreifachen Krone berufen wurden; die päpftlihe Wahlmonardhie biete bei ftrengem Feſt— halten an der Einheit des Grundgedantens oft die Möglichkeit, durch den Nach— folger das zu ergänzen, wa3 von dem Vorgänger minder qut vertreten geweſen ji. So haben in früheren Jahrhunderten friegsliebende Päpfte mit Mäcenen der Fünfte und der Literatur, jchlaue Diplomaten und weltfremde Heilige, Eluge Lebemänner und fanatiſche Keberverfolger abgewechielt, nicht jelten Einer das

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260 Deutiche Rundſchau.

Gegenftücd des Andern, und doch alle Träger des weltherrſchenden Gedankens der päpftlichen Suprematie. Sicher ift auch bei der Wahl Joachim Pecci's zum Nachfolger des neunten Pius die Abficht des heiligen Collegium3 darauf gerichtet gewejen, einen Pontifer zu finden, der die Anfprüche der Curie mit gleicher Un— verbrüdjlichkeit, aber mit größerer Geichäftsgewandtheit und Weltflugheit zu ver treten vermöge, al3 feine Vorgänger, Der Gegenjat zwiſchen dem faltigen, blafien Diplomatengeficht des jeigen Papftes und den jovialen Zügen des ftattlichen nod al3 Greiß jchönen Pio nono ift ein treuer Ausdrud von dem Unterjchiede ihres ganzen Weſens. Wenn fi in Pius IX. vor Allem die Repräjentationzluft und die Darftellungsfähigkeit des Jtalieners, jeine Lebhaftigkeit in Blick und Gebärde, daneben auch die Spottfucht, nicht jelten die Buffonerie des heiteren Südens ver- förpert hatten, jo tritt und in Zeo XIII. die tiefgründige Feinheit, die Welt: und Menſchenkenntniß entgegen, die von jeher einen Charakterzug der italieniichen Diplomatie gebildet hat. Im Gegenfaß zu der heiter bewegten Jugend jeines Vorgängers, hat der jehige Papft, ein Sohn der rauhen Volskerberge, ſich von früh an durd) ernfte Studien für den Beruf eines kirchlichen Politikers vor- bereitet; er hat ſowohl in dev Verwaltung des Kirchenftaats ala in der Diplo- matie der Curie Jahre lang praktiſch gearbeitet und jpäter während einer mehr al3 dreißigjährigen Verwaltung des Bisthums Perugia vollauf Zeit und Samm- lung gefunden, um in der Rube und Abgejchloffenheit diefer umbriſchen Landichaft, die man nicht mit Unrecht das Galilea von Italien genannt hat, zu einer durch— aus jelbftändigen, in fich gefeftigten Perjönlichteit heranzureifen. Ein wohl: geſchulter Theologe, ein überzeugter Anhänger der Icholaftiichen Weltanſchauung und ein begeifterter Lobjänger der heiligen Jungfrau, der er in feinen Muße ftunden Lateinifche Diftichen widmet, hat fi Papft Leo in nun mehr als zehn: jähriger Verwaltung feines hohen Amtes als ein ruhiger Realpolitifer erwieſen, der nicht nur die reinen Höhen des Weltgeiftes kennt, jondern auch die Niederungen, wo die Intereſſen des Tages walten, und er Hat bei zahlreichen und jchiwierigen Verhandlungen zum Wortheil der von ihm vertretenen Sache gezeigt, daß bie Unverföhnlichkeit des principiellen Standpunkte fi mit Hlugem Erkennen de praktiſch Erreichbaren ſehr wohl vereinigen läßt. Auf diefem Wege iſt es ihm gelungen, mit Deutichland, mit Rußland, mit England einen Ausgleich in Fragen herbeizuführen, die ſich unter feinem Vorgänger zu heftigen Conflicten verjchärft und verbittert hatten.

Mit Italien hat Leo XIIL einen ſolchen Ausgleich) nicht gefunden. Wohl tritt ex dem jungen Königreich, der Perfon und der Familie des Monarchen umd den Staatsmännern, die ihm zur Seite ftehen, nicht mit jo verlegender Unhöflic- feit entgegen, tvie dies jein Vorgänger zu thun pflegte; allein ſachlich Hat er an deijen Politit Jtalien gegenüber nicht? geändert. Vom Anfang jeines Pontifi- cat3 an hat ex feierlich verkündet, daß die Kirche fich jelber aufgebe, wenn fie den Anipruc auf Rom fallen laffe; ev hält daran feft, daß der Papſt al3 geiftlicher Weltherrſcher über äußere Machtmittel verfügen und fich demnad als der ihm zufommenden Jnftrumente zur Ausübung feiner geiftlichen Rechte beraubt anfehen müſſe, jo lange er den Befit feines Staates, feiner Armee, feines Territoriums nicht wieder erlangt habe. Er fährt fort, fich gleich feinem Vorgänger als Ge

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fangener im Batican zu betrachten, und gleich ihm ruft ev von der Höhe dieſes goldenen Gefängniffes von Zeit zu Zeit in Hirtenbriefen und Allocutionen die Welt zum Zeugen und zum Rächer de3 der Curie twiderfahrenen Unrechts an. Diefe Protefte haben die italienische Regierung nicht gehindert, fi) in den nahezu zwei Jahrzehnten, welche jeit dem Ginzuge durch die Breſche bei der Porta Pia vergangen find, in Rom nad) Kräften einzurichten Sie läßt ſich in dem ſchwierigen Werke, die Stadt der Päpfte zur Refidenz eines modernen Großftaates umzuge— ftalten, weder durch die zornigen Verwünſchungen der Curie noch durch die Klagen der Freunde der Vergangenheit ftören, welche mit Bedauern den eigenthümlichen Zauber jchwinden fehen, der dieje Stätte umgab. Ohne die Mißgriffe zu ver— theidigen, die im Einzelnen begangen fein mögen, wird man den Italienern das Recht nicht beftreiten fönnen, auch in Rom für die Bedürfniffe ihres Staat3- weſens, für die lebendige Gegenwart zu jorgen. Sie haben fich bejchieden, über da3, was man vor fünfundziwanzig Jahren die römiſche Frage nannte, und was die Curie ala ſolche mit dem ganzen Rüftzeug ihres geiftlichen Arjenal3 und ihrer weltgewandten Diplomatie wieder anzufachen bemüht ift, einfach zur Tagesord— nung überzugehen. Nach dem Ausſpruche des energiichen Mannes, der jet die politiichen Geſchicke Jtaliens lenkt, eriftixt für die Jtaliener keine römische Frage mehr.

In Erispi, dem Sicilianer, ift zum erften Male feit dem Beftehen de3 neuen Königreich, ein Südländer an die Spitze der Regierung gelangt- Daß fich die Nord » taliener, namentlich die Piemontejen, jeit nunmehr zwei und einem halben Jahre in Italien eine lange Zeit für ein Miniſterium! feiner Zeitung fügen, ift einerfeit3 ein vollgültiger Beweis für die innere Verfchmelzung zwiſchen den verjchiedenen Beftandtheilen der Nation, andererjeit3 aber jpricht es für die Thatkraft und die Geſchicklichkeit des Meinifterpräfidenten. Crispi ift einer der wenigen noch Lebenden, welche jeit dem Beginn der italienischen Einheitsbewegung an allen ihren Wechjelfällen activ theilgenommen haben: feine Lebensgeſchichte, die ihn vom Geheimbündler, politiichen Flüchtling und Verſchwörer zum General- ftabsofficier und Staatzfecretär Garibaldi’3, dann ins italienische Parlament und vom Deputirtenjeffel ins Minifterfauteuil geführt hat, ift eine höchſt bezeichnende luftration des MWerdeganges, den Italien don revolutionären Anfängen durch fundamentale Erſchütterungen hindurch zum Rechts- und Verfaffungsftaat durch: zumachen gehabt Hat. Grispi ift zugleich noch einer der Wenigen, die ji) auf diefer an Stürmen fo reichen politifchen Odyſſee die volle Freiheit und Unab— hängigfeit von allem Parteitreiben bewahrt haben. Herr Dr. Münz theilt in dem anziehenden Leben3bilde, welches er neben anderen italienischen Staat3- männern auch von Erispi entwirft, einen hübfchen Zug mit, der die Selbftändig- keit ſeines Weſens gegenüber dem Fractions- und Cliquenweſen ins Licht ftellt. Al der Sieilianer 1861 zu Turin feinen Sit auf der Linken des neuen italie— nischen Parlaments eingenommen hatte, fragte ihn ein College: „Herr Grispi, find Sie Mazziniſt?“ „Nein!“ „Herr Grispi, find Sie Garibaldiner?” Nein!" „Was find Sie denn?“ „Ich bin Crispi!“ :

Daß fich im Nathe der italieniichen Krone Männer befunden haben und noch befinden, die einjt mit Mazzini Verſchwörungen angezettelt haben, wird von den Stalienern jelbft al3 ein Denkmal de3 hervorragenden Antheils betrachtet,

262 Deutſche Rundichau.

welchen die nationale Dynaftie an dem großen Drama der vaterländijchen Be freiung genommen hat. Sie erbliden in der Theilnahme früherer Revolutionäre und Republitaner an dem geordneten Staat3leben ihres Königreich zugleid) ein Kennzeichen von dem wohlverdienten Anjehen, deffen fi) der Träger der Monardie in dem früher von Parteien fo furchtbar zerriffenen Lande allgemein erfreut. Sie ertennen in dem Beftehen der Monarchie eine Bürgjchaft ihrer nationalen Un— abhängigkeit und verhalten fi in ihrer großen Mehrzahl den republifaniichen Anwandlungen einzelner Starrföpfe gegenüber ebenfo ablehnend, wie Giufti in den Anfängen der nationalen Wiedergeburt jeinen Landsleuten warnend zus gerufen hatte:

Kleine Pillen, kleine Stüdchen,

Siebenhundert Republitchen

San Marino kriegen wir... . Und das Brot, fo klein zerhauen, Iſt's nicht Leichter auch zu kauen Für die Herr'n aus Oefterreich?

Diefe Auffaffung iſt allerdings nicht im Mindeſten nad) dem Geichmade des franzöfifchen Autors, der unter dem Titel „’Italie contemporaine“ vor Kurzem eine umfangreiche Strafpredigt gegen Jtalien und die Jtaliener veröffentlicht hat. Er erblickt in der inneren Umwandlung, welche die italieniſchen Staatsmänner nad) dem ganzen Gange der politifchen Entwidlung ihres Landes naturgemäß und nothiwendig durchzumachen gehabt haben, nichts al3 Charakterſchwäche, Mangel an Muth und an Glauben. Für ihn find Benedetto Cairoli, der heldenmüthige Vertheidiger feines Königs, Francesco Erispi und jo viele Andere, die im ihrer Jugend für die Befreiung ihre Landes gefämpft und geblutet haben und in ihrem Alter den Steinwürfen demagogiſch aufgeregter Meuchler ausgejegt find, nichts ala Abtrünnige und Verräther, und zwar zu Gunsten einer Sache, die doch nicht zu halten ift. Denn für Herin 9. Méreu (oder wer immer Hinter diefem Namen ftehen mag) unterliegt es feinem Zweifel, daß die Zukunft Jtalien3 der Republit gehört. „Wird das morgen eintreten? Oder in zehn Jahren, oder in einem Jahr: hundert? Vielleicht morgen, vielleicht in zehn Jahren; aber jedenfalls kann man darüber ficher fein, daß die Morgenröthe des zwanzigjten Jahrhunderts da3 Banner der Kepublit vom Thurme de3 Capitols flattern jehen wird.“

Ind worauf vermag der Verfaſſer der „l’Italie contemporaine* dieje zuver— fihtliche Weisfagung zu ftügen? Zunächft auf die Revolutionsluft der lateiniſchen Race im Allgemeinen, die an rajche Veränderungen und plößliche Ummälzungen gewöhnt ift. Sodann teil der conjtitutionellen Monarchie in Jtalien die geichicht- liche Ucberlieferung, die Volksthümlichkeit fehlen fol. Abgejehen von Piemont, ihrem Stammlande, fei die Monarchie für Italien lediglich ein Nothbehelf,, der zu gegebener Stunde einer volllommeneren Staatsform Pla zu machen beftimmt ſei. Und diefe Stunde hält M. Mereu für nahe bevorftehend. Denn nie ſei Italien von Parteien jo tief zerriffen gewejen wie heute; Crispi's bekanntes Wort: „die Monarchie einigt und, während die Republik uns theilt“, jchlage daher ind Gegentheil um.

In diefem Tone der unbedingten Verurtheilung alles in Jtalien Bejtehenden ift da3 ganze Buch gejchrieben. Quirinal und Vatican, Parlament und Diplomatit,

Aus dem modernen Italien. 263

Armee und Flotte, Juftiz und Unterricht: nichts findet Gnade vor den Augen des franzöfiichen Rhadamantus, der überall nur Rückſchritt, Untergang, beftenfalls Stagnation erblidt. Wenn e3 eine Einrichtung gibt, in welcher fi) das Erſtarken de3 italienischen Wolksgeiftes jeit der Wiedererrihtung des nationalen Staat3- weſens am finnfälligften offenbart, jo iſt e3 die Armee. Selbft dem flüchtigen Bejucher jällt die gute Haltung, die Regſamkeit und die Thätigkeit der italie- niſchen Truppenabtheilungen auf, die er unterwegs zu beobachten Gelegenheit hat. Wie oft Hat den Schreiber diefer Zeilen in frühefter Morgenſtunde der Klang der Hörner gewedt, welche die Kleinen Garnijonen der Grenzorte in den italie- nijchen Alpen zu Uebungsmärjchen riefen: überall trifft man dieſe vegjamen, wohlgekleideten fröhlichen Menjchen auf dem Poften und in Bewegung; allent- halben jieht man, wie die Heeresverwaltung fich beftrebt, die militärischen Ein— rihtungen zu vervollfommnen und volfsthümlich zu machen. Das italienijche Dfficiercorps kann e8 an Bildung, Pflichteifer und Selbftgefühl mit jedem anderen aufnehmen; ihm anzugehören erachten die Söhne der Ariftocratie wie des reichen Bürgerthums für eine Ehre; die allgemeine Wehrpflicht Hat auch nach diejer Richtung hin troß der verhältnigmäßig kurzen Zeit ihres Beſtehens bereits tiefe Wurzeln in der gefammten Bevölkerung gefchlagen.

Sorgfältige Beobachter der ländlichen Verhältniffe Italiens ftimmen darin überein, daß der Heeresdienft fi al3 ein wichtiges Hülfsmittel für die geiftige Hebung der Landbevölterung bewährt hat. Was madt Herr Mereu daraus? Ich will die Stelle wörtlich citiven:

‚Der Mangel jedes Princips ber Erziehung in der italienischen Heeresverwaltung bringt andere nicht minder verderbliche Wirkungen hervor. Die Gemüther der Dienftpflichtigen werben nicht nur nicht gebildet, ſondern fie unterliegen ber Anftedung der Brutalität, die fie tagtäglich vor Augen haben. Der Soldat, ber von feinen betrehten Vorgeſetzten mitleidslos mißhandelt worden ift, und der überdies etwas gejehen, ein wenig leſen und fchreiben gelernt hat, kehrt vollftändig umgewanbelt, aber zum Schlimmeren verwandelt, in jein Dorf zurüd. Er hat fich Laſter an: gewöhnt, die er verbreitet und die vor der allgemeinen Dienftpflicht in der ländlichen Bevölkerung unbefannt waren; ber lächerliche Firniß des Drilld, der ihm beigebracht worden ift, hat ihn fo ftolz gemacht, daß er feine Angehörigen mißachtet und fie hochmüthig behandelt ..... Das find für bie Gegenwart die fihtbarften Folgen der italienijchen Militärorganijation, wie fie zur Sicherung bes Thrones hat eingerichtet werden müſſen. Was thut’3, dat die Kaſerne eine Zuchtichule der Ent: fittlichung ift, dab der Soldat, ftatt fid) während des Aufenthaltes unter ber Fahne zu bilden, dort jchlimme Gewohnheiten annimmt und fich in regionaler Gehäffigfeit verbittert? Das Wejents liche ift, dak das Regiment nad dem Schnürchen marſchirt und zu jeglicher Verrichtung bereit ift, und dazu ift es nothwendig, daß der Soldat weber Herz nod Kopf hat!“

Gin zweiter Punkt, bei welchem der Fortſchritt Italiens für jeden unbe— fangenen Beobachter Klar in die Augen jpringt, ift das Unterrichtsweſen. Beim Zuſammenbruch der Kleinftaaterei hatte ſich der Volksunterricht überwiegend in einem Zuftande unglaublicher Verwahrlofung befunden; die Unmiffenheit der unteren Klaffen war in mandem Particularftaat geradezu Regierungsgrundjag gewejen. Es hatte einfach der Wirklichkeit entſprochen, wenn Giuſti's ſatiriſche Muſe dem Herrjcher eines der kleinſten damaligen Baterfändchen, dem Herzog von Modena, die Worte in den Mund legte:

„Wird aus unfern blüh'nden Ländchen (Das Wir, Gott fei Dank, am Bändchen Lenken in der Finfternik)

264 Deutſche Rundſchau.

Kraft ausdrücklichen Decretes Wer hinfort des Alphabetes Sich verdächtigt, weggejagt - - - Um ber Aufflärung zu fleuern, Sorg’ ih, daß von meinen theuern Schäflein feines leſen lernt .

Hier Wandel zu fchaffen, die ungeheuren Ungleichheiten zu ebnen, welche zwiſchen den einzelnen Yandestheilen, namentlich ztwijchen Norden und Süden beftanden hatten, die Fundamente für eine einheitliche nationale Volk3bildung zu legen: ift eine wahre Herkulesarbeit für die Regierung des neuen Königreich geweſen, eine Aufgabe, deren an fich überaus große Schwierigkeit noch tejentlich vermehrt wird einerjeit3 durch die ftumpfe Paffivität der Geiftlichkeit, welche fich jede Mit: wirkung bei diefem großen Culturwerke verjagt, andererjeitö durch den Mangel an Stabilität, der durch den andauernd rajchen Wechjel in der oberen Zeitung der Unterrichtöverwaltung hervorgerufen wird. Italien hat in den noch nicht dreißig Jahren feines Beſtehens als Ginheitsftaat zwanzig oder gar fünfund- awanzig Unterrihtsminifter gehabt. Und wenn aud die Antwort, die mir einft der Sectionächef einer anderen italienischen Verwaltung auf die Trage, wie fie denn bei jo häufigem Minifterrvechjel vorwärts fommen könnten, lächelnd ertheilte: „i ministri siamo noi“, nicht unbegründet ift, jo leuchtet doch ein, wie jehr gerade auf dem Gebiete des Unterrichtsweſens das Schwanken in der oberften Leitung hemmen und verlangjamen muß.

Was ift nun feit 1861 in Italien für den Volksunterricht geleiftet worden? Das von der unermüdlich thätigen und freigebigen Generaldirection ber Statiftik in Rom herausgegebene „Annuario statistico italiano* für 1887.88 enthält dar: über ausführliche, auf forgfältige Erhebungen geftüßte Mittheilungen, denen folgende Ergebniffe zu entnehmen find.

Die Zahl der öffentlichen Volksſchulklaſſen betrug: 1861—1862: 21353 mit 885152 Schülern, 1884—1885: 42595 = 1955264

Daneben beftehen für den Volksunterricht: 1861—1862: 2803 Abenbichulen mit 108 170 Sch.; 495 Eonntagsichulen mit 16 031 Schülern, 1884— 1835: 73 066 : «= 2900795 = 6652 : « 189788

Die Claſſen- wie die Schülerzahl der Volksſchulen hatten ſich aljo in fünf- undawanzig Jahren nahezu um 100 Procent, die der Abendihulen um rund 200 Procent vermehrt; die Sonntagsjchulen waren al3 eine wejentlid neue Schöpfung hinzugetreten.

Dank diejer nahhaltigen Vermehrung der Unterrichtsanftalten hatte fich die Volksbildung wie folgt gehoben:

* Zahl der Analphabeten hatte betragen bei den Volkszählungen von 1861: 78,06 Procent der VEREINE s2,21 Procent der Kinder von 6—12 Jahren, 1871: 13.96 : ; 75,66 2 —— 12 1881: 67,6 64.00 . 6-12 :

Im Jahre 1861 waren von je Hundert italienischen ——— 69,46 des Leſens und Schreibens unkundig; dieſe Ziffer hatte ſich 1886 auf 53,31 Procent vermindert. Im Jahre 1866 waren von 100 Rekruten 64,01, im Jahre 1886 44.42 leſens- und jchreibensunfundig. A

Aus dem modernen Italien. 265

Dieſe Ziffern laſſen ficherlich noch viel zu wünſchen oder vielmehr zu thun übrig. Allein fie reichen Hin, um die bedeutenden Anftrengungen zu charakteri- firen, welche das italienijche Volk für die Verbeſſerung feines Unterrichts macht, und fie verdienen in feiner Weiſe den Spott und die Geringichäßung, mit welcher M. Mereu auch Über dieſe Seite des italienischen Volkslebens abſpricht. Seiner Schilderung, die der italienischen Schule den Vorwurf macht, die ideale Seite des Interrichts, die Bildung de3 Gemüth3 und des Charakters, gegenüber einer utilitariftifchen Anhäufung von SKenntniffen zu vernadläffigen, werden gewiß auch viele deutjche Leſer die gemüth: und herzvolle Darftellung entgegenhalten fönnen, welche Edmondo de Amicid vor einigen Jahren in feinem trefflichen Volksbuche „Cuore“ von dem Leben und Treiben in der italienifchen Volksſchule entworfen hat.

Aber laſſen wir Herrn Mereu und ſein Buch. Er iſt hier Lediglich als harakteriftiiches Berfpiel von der Ueberhebung und der Oberflächlichkeit angeführt worden, mit der ein Theil jeiner Landsleute troß der ſchlimmen Erfahrungen von 1870 über benachbarte Nationen abzuurtdeilen liebt, al3 ein Beifpiel davon, wie bedenklich und wie unfruchtbar es ift, in allgemeinen Redewendungen über ein ganzes großes fremdes Volk richten zu tollen.

II.

Von dieſem Fehler haben ſich die Verfaſſer der beiden Schriften, die ſich mit einer Lebensfrage des modernen Italiens, mit dem Zuſtande der Landwirth— ſchaft beſchäftigen, in bemerkenswerther Weiſe freizuhalten gewußt. Sowohl Herr Werner Sombart, der in ſeiner ſocialökonomiſchen Studie über die römiſche Campagna einen alten ſchweren Schaden der Apenninen-Halbinſel mit Freimuth und Sachkenntniß erörtert, als Mr. Beauclerk, der in feinem „Rural Italy“ eine auf perſönliche Anſchauung geſtützte Ueberſicht über die Er— gebniſſe der großen italieniſchen Ackerbau-Enquéête gibt, ſtehen durchaus auf objectivem, wiſſenſchaftlichem Standpunkt. Frei von Vorliebe und Abneigung laſſen ſie die Thatſachen reden, auch da wo ſie dem Bilde nicht entſprechen, das unſere Sympathie für das befreundete Volk ſich zu entwerfen gern geſchäftig iſt.

Italien, wie bereits geſagt, iſt ein vorwiegend ackerbautreibendes Land und wird es, da ihm die Haupttriebfedern der modernen Großinduſtrie, Kohlen und Eiſen, auf eigenem Boden verſagt ſind, vorausſichtlich auch in Zukunft bleiben. Von der Geſtaltung der Landwirthſchaft hängt daher in Italien das Wohl und Wehe des ganzen Staates in noch höherem Grade ab, als bei anderen europäi— ſchen Culturvölkern. Die Erkenntniß dieſer Sachlage und das Bewußtſein von den ſchweren Uebeln, mit denen die italieniſche Landwirthſchaft zu kämpfen hat, Uebel, die ſich durch den Wettbewerb Amerika's, Aſiens und Auſtraliens auf dem europäiſchen Markt naturgemäß erheblich geſteigert haben, hat bekanntlich in Italien bereits vor längerer Zeit zu dem Entſchluſſe geführt, die geſammte Lage der Landwirthſchaſt und der ländlichen Bevölkerung einer umfaſſenden amtlichen Unterſuchung zu unterziehen. Die Verhandlungen der zu dieſem Zwecke durch das Geſetz vom 15. März 1877 ins Leben gerufenen Enquéte-Commiſſion liegen ſeit einigen Jahren in nicht weniger als vierumdzwanzig Bänden in Großquart vor;

266 Deutiche Rundichau.

eine Ueberſicht über ihren reichen Inhalt ift deutjchen Fachkreiſen durch die im neunundzwanzigften Bande der Schriften des Vereins für Socialpolitik veröffent- lichte Arbeit von Herrn Profeffor K. TH. Eheberg: „Agrariſche Zuftände in Italien“ bereit? im Jahre 1886 ermöglicht worden. Während der deutjche Nationalötonom die Ergebnifje jener riefigen Arbeit, im Weſentlichen im Anſchluß an die Rubriken des von der Commiſſion aufgeftellten Fragebogens, nad) fachlichen Geſichtspunkten zujammengefaßt hat, folgt der engliſche Diplomat in feinem „Rural Italy‘ der regionalen Eintheilung, welche die Commiffion für die Löfung ihrer Aufgabe gewählt hatte, und jchildert demgemäß den Zuftand der Land: wirthichaft der Reihe nad) in zwölf großen Kreifen, die von Süden beginnend bis zum Nordoften je eine Gruppe von Provinzen der amtlichen Landeseintheilung umichliegen. Ein jo ungeheure Material, wie da3 durch die italieniſche Ader- bauunterfuchung zu Tage geförderte, verträgt nicht nur, jondern verlangt jogar eine mehrfache und von verjchiedenen Angriffftellen ausgehende Bearbeitung; die englifche bildet in manden Punkten um jo mehr eine mwillfommene Ergänzung der deutjchen, als Mr. Beauclerf vermöge feines mehrjährigen Aufenthalts in Italien in der Lage war, in den meiften Streifen von, den Zuftänden der Land- wirthſchaft perſönlich Kenntniß zu nehmen.

Das Bild, da3 beide Berichterftatter entwerfen, ift fein heiteres. Der italienifche Boden, zwar in einzelnen Niederungen ungewöhnlich fruchtbar, bleibt im Allgemeinen an Ertragsfähigfeit hinter dem anderer Gulturländer weit zurüch Nahezu ein Fünftel des gefammten Bodens ift gänzlich uncultivirt; von dem Ueberreſte wird die Hälfte als wenig ergiebig bezeichnet. Millionen von Hektaren werden durch die teilen, jpärlich bewaldeten Abhänge der Alpen und der Apen— ninen bedeckt, andere Millionen durch Verfumpfung oder als Weidegrund dem Pfluge entzogen. Die Folgen der von fünfzig Generationen rückſichtslos be: triebenen Waldverwüftung machen ſich ſowohl in der Bodenbeichaffenheit, als im Klima und in der Gejundheit des Landes bemerklich; weite Streden, die früher rei bebaut waren, find durch die Neberichtvemmungen ber jchlecht ge regelten Wafferläufe verfumpft und zu Brutftätten der Malaria geworden. Die ungleihe Bertheilung des Bodens, die hier ungeheuern Grundbefiß in einzelnen Familien zujammenhäuft, dort zu einer unglaublichen Zeriplitterung geführt hat, jteht in beiden Fällen einer intenfiven fapitalsfräftigen Bewirthichaftung hindernd entgegen. Ebenſo haben ſich die Formen, in denen die Bewirthſchaftung durch Andere bewirkt wird, Pacht, Theilbau u. dergl., vielfach überlebt. Es fehlt nahezu durchgehends an intelligenten und leiftungsfähigen Landwirthen, die auf eigene Rechnung und mit eigenen Mitteln wirthichaften. Ernſtliche Anftrengungen, eine den Bebürfniffen der Yandwirthichaft entiprechendere Bodentheilung herbei zuführen, find bisher vom Staate nit gemacht worden, in erfter Linie, weil man grundjäglich von einem Gingreifen der Gejeggebung in die Eigenthumsver- hältnifje und in privatrechtlihe Pachtverträge zurüdicheut, ſodann aber aud) wegen der Koften, die jede einigermaßen wirkſame Staatsthätigkeit auf dem Gebiete der Landescultur verurfadhen würde. Die günftige Gelegenheit, welde die Einziehung und Veräußerung der Kloftergüter darbot, ift ungenußt vorüber: gegangen, weil von wirkſamen Beichränfungen der Käufer im Intereſſe de

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kleinen und mittleren Grundbeſitzes abgejehen wurde; der „natürliche Lauf der Dinge“, auf den man fi allzu optimiftiich verließ, hat den größten Theil der geiftlihen Güter dem ſchon übermächtigen Befigftande der Großgrundbefiger noch Hinzugefügt.

Neben diejen Mißverhältniſſen, welche ſich aus der Beichaffenheit und aus der Bertheilung des Bodens für die italienische Landwirthſchaft ergeben, macht al3 ein weiteres ungemein ſchweres Hemmniß für jede Verbefferung ihrer Lage der harte Steuerdrud ſich geltend, mit welchem der Grundbeji in Italien be laftet ift. Die Grundftener, die theils als Staatsfteuer, theils in Zuſchlägen zur Staatöfteuer fir die Gemeinden und die Provinzialverbände erhoben wird, ift an fich fehr hoch; zufammen mit der Gebäudefteuer beläuft fie fich auf über 300 Millionen Lire jährlich; in feinem anderen Lande wird ein jo großer Theil des landwirthſchaftlichen Reineinfommens durch diefe Steuern abjorbirt wie in Ytalien. Diefer Drud wird noch erhöht durch die Ungleichheit, in welcher die Grundfteuer von den einzelnen Provinzen aufgebraht wird. Da «8 an einem ducchgreifenden, auf übereinftimmenden Grundlagen beruhenden Katafter mangelte, jo hat die Ausgleihung dev Verjchiedenheiten, die fich bei Errichtung des neuen Königreichs auch in diefer Hinficht zwiſchen den einzelnen Landestheilen vorfanden, nur jehr ſummariſch vorgenommen werden können; e3 wird bei Aufbringung der auf die Provinzen repartirten Steuerquoten im Weſentlichen noch die alte Einſchätzung zu Grunde gelegt, und es ergeben fid) daraus jehr beträchtliche Ueberlaſtungen einzelner Diftricte, die die heftigiten Klagen hervorrufen. Während auf den Kopf der Gefammtbevölferung durchſchnittlich 9,15 Lire an Grundfteuer und Zus ihlägen zu derſelben entrichtet werden, fteigt diefer Durchſchnittsbetrag in der Lombardei auf 12,13 Lire, in dev Provinz Cremona jogar auf 18,55 Lire, fo daß fi) die Abgabe dort auf nicht weniger als 60 Prozent des Neinertrages, aller: dings nad einer alten, Hinter dem wirklichen Ertrage zurückbleibenden Ein— ſchätzung, beläuft.

Die wirthichaftlie Lage de3 Heinen Grundbeſitzers, des Kleinen Pächters und Theilbauer® und des zahlreihen auf Zagelohn angewieſenen ländlichen Proletariats ift dieſen Verhältniſſen entſprechend im Allgemeinen nicht3 tweniger al3 erfreulih. Sie haben neben dem Steuerdrudf mit einer wachſenden Schulden» lait zu kämpfen; der landwirthichaftliche Kredit ift ungenügend organifirt; es fehlt an Betriebskapital, das Inventar ıft mangelhaft, nicht felten noch überaus primitiv. Fortſchritte im Betriebe durh Anwendung von Maſchinen, von tationellen Wirthihaftsmethoden, dringend nöthige Verbeſſerungen in Cultur— zjweigen , die für die Gefammtwirthichaft des Landes vom höchiten Belang find, wie im Weinbau, in der Delgewinnung, müfjen aus Mangel an Mitteln zurück— geftellt werden. Die Wohnungen, namentlid” der ärmeren Landbevölferung, bleiben hinter den allereinfadhiten Anforderungen der Gejundheit und des An- ftandes vielfach weit zurück; fie gewähren jelbft unter diefem milden Himmel oft nur unzureichenden Schuß gegen die Einwirkungen der Witterung. Ueberaus dürftig ift e3 endlich mit der Nahrung beftellt; fie veicht troß der durch das Klima begünftigten großen Bedürfnißlofigkeit der italienischen Landleute häufig nit aus, um ihren Hunger zu ftillen, bietet nicht hinlänglichen Erſatz für die

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in harter Arbeit verbrauditen Kräfte und xuft durch ihre Gintönigfeit und Dürftigkeit nichts als Polenta, und zu wenig Polenta, wird in amtlichen Berichten al3 Nahrung der Landbevölferung in verjchiedenen Provinzen bezeichnet Krankheiten hervor, die ſich in fteigendem Maße einniften und recht eigentlich) am Marke des Landes zehren. Den Abjchnitt, welchen Der. Beauclerf am Schluſſe feines Buches der Entftehung und der DBerbreitung der Pellagra widmet, die namentlich in den öftlichen Theilen von Oberitalien zu einer itehenden Plage der Landbevölterung geworden ift, wird Niemand ohne herzliche Theilnahme lejen.

Gegenüber diejen ſchweren Schäden und Gefahren, welche die ernftefte Für- forge erheifchen, darf allerdings auf manche Vorzüge hingetwiefen werden, welche die italienische Landwirthichaft vor anderen Ländern bejißt. Die herrliche Sonne, da3 reichte und unerichöpflichite von den natürlichen Hülfsmitteln Italiens, zeitigt früher und mühelofer als in minder begünftigten Himmeläftrichen bie Früchte des Feldes und des Gartend, und fie bringt Erzeugniſſe hervor, die in diefer Güte und Fülle anderen Ländern verjagt find.

„Beben?’, wie Sonnenwärme wirb zum Weine, Bereint mit Saft, der aus ber Rebe flieht, * läßt Dante im 25. Gejange des Tregefeuer den Statius ſprechen; ihm ftand auch in der Verbannung das Bild der toscanischen Rebenhügel vor Augen, die noch heute den exportfähigften der italienijchen Weine erzeugen. Und wie viel andere tmeingejegnete Landſchaften laſſen fich daneben nennen, von den Ab— dachungen der Alpen an, auf denen in Venetien, in der Lombardei und in Piemont edle8 ZTraubenblut gedeiht ber feurige Walpulicella, der kraftvolle Barolo, der rothſchäumende Nebbiolo, der goldig jprudelnde Afti, e tutti quanti bis zu den Vorgebirgen der trinakriſchen Inſel, die rebenumfränzt in die ſchimmernde Meeresfluth Hinabfteigen. Gewiß ift Italiens Weinbau verbefferungsfähig; jo- wohl die Pflanzung und Behandlung des Weinftodes als die Kelter der Trauben geichieht vielfach nad) altväterlihem Brauch, ohne die Fortſchritte anderer wein: bauender Länder zu benußen; die Aufbewahrung und Pflege des Weins ift eine mangelhafte, ſchon weil es vielfach ar geeigneten Kellern fehlt. Aber troß diejer Mängel ift der italienifche Wein ein mächtiger Reichthum des Landes, er hat fi) namentlich) in den Jahren, in denen der franzöfiiche Weinbau mit der Reb- laus zu kämpfen hatte, zu einem Ausfuhrartifel von hoher Bedeutung entwidelt, und er ift noch weiterer, ſehr erheblicher Entwidelung fähig, wenn auf die Ab- jtellung der vorhin berührten Mängel mit Nachdruck und Nachhaltigkeit hin- getwirkt wird. Wehnliches wäre von dem Delbau und von den Südfrüchten zu jagen, deren Gultur namentlih in Liqurien, den calabriichen Provinzen und Sicilien mit fteigender Intenfität und gutem Ertrage betrieben wird. Zu einem ungemein wichtigen und einträglichen Nebengewerbe der Landwirthſchaft hat ſich ferner die Seidenraupenzucht entwidelt, die vor Allem in der lombardiichen Hügel- region zu hoher Blüthe gelangt ift. Nachdem es dem thätigen Eingreifen ber Regierung, der landwirthichaftlichen Vereine und der reichen Seideninduftrie ge lungen ift, die ſchweren Kriſen, welcher diefer Zweig der Landwirthichaft mehr- fach durd) verheerende Erkrankungen der Seidenraupen ausgeſetzt geweſen ift, durch

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die Einfuhr japanischer Eier, ſowie durch befjere Zucht und forgfältige Behand» lung der Raupen zu überwinden, hält fich ber Jahresertrag der italienischen Cocons gegenwärtig auf der jehr bedeutenden Höhe von durchſchnittlich 40 Mil— lionen Kilogramm; er liefert damit nicht allein der nationalen Seideninduftrie da3 erforderliche Material an Rohjeide, fondern bildet auch einen werthvollen Ausfuhrartikel, der in der Handelsbilanz von Italien Hoch zu Buche jchlägt.

Hervorzubeben ift ferner, daß die alte Cultur des Landes ſich doch an vielen Stellen in einer anderwärts faum erreichten Antenfität feiner Bewirthſchaftung ausprägt. Die gartenähnliche Bebauung ber terra di lavoro in den Umgebungen von Neapel, die Sorafalt, mit welcher die jchmalen, wein- und olivenbepflanzten Terraſſen an den Felſenufern der Riviera culturfähig erhalten werden, die Citronen- haine an den Geftaden der ſchönen Seen von Norditalien bilden hervorftechende Züge unter den auch dem flüchtigen Bejucher des Landes zugänglichen Eindrüden. Die lombardiiche Ebene hat vermöge ihres, aus dem frühen Mittelalter ftammen- den Bewäſſerungsſyſtems einen Anbau erreicht, der, wie Mr. Beauclerk mit Recht Hervorhebt, in der ganzen civilifirten Welt kaum feines Gleichen findet. Die vereinigten Wirkungen von Sonnenjdhein und Wafler zeigen fi in dem erftaunliden Wahsthum von Reis, Mais und Wiefengräjern; hier, zum Theil in der unmittelbaren Nähe von Mailand, liegen jene herrlichen Wiefen, die ſechs, fteben, ja neunmal im Jahre gemäht werden, und deren Heuertrag die geradezu unmwahricheinliche Höhe von 250 Gentnern auf den Hektar erreicht.

Vielleiht den größten Vorzug der italienifhen Landwirthichaft bildet in- defien ihr Menjchentapital. Ueber das Worurtheil, das im Auslande früher viel» fach über die Trägheit und Läſſigkeit der Staliener beftand, Lohnt es fih faum noch ein Wort zu jagen, jeitdem italienische Arbeiter in ganz Europa für die ſchwerſten und mühevollften Tunnel, Kanal» und Eifenbahnbauten allenthalben begehrt und als bejonder3 nüchtern, fleißig und jparjam geſchätzt werden. Es ift eins der erfreulichften Ergebniſſe der italienijchen Aderbau:Enquete, die aus: gezeichneten Eigenjchaften der Landbevölterung in allen Berichten übereinftimmend in das rechte Licht geftellt zu haben. Bei immer noch jehr mangelhaften Unter: richt, bei oft Fraffem Aberglauben und bei mitunter ſchwach entwicdelten Recht— Lichteitäbegriffen Trelddiebftahl gilt vielfach nicht al3 Unrecht, nad) dem be= zeichnenden Sprihwort: „la roba che & nei campi & di Dio e dei Santi* erweift ſich der italienijche Landarbeiter doch faft durchgehends als ein ganz her- vorragend tüchtiges und brauchbares Material; feine Anftelligkeit, feine Ausdauer, feine Bedürfniklofigkeit, meift auch der Frohſinn und die Zufriedenheit werden von den Berichterftattern aus allen Diftricten gleihmäßig gelobt. „Sober, hard- working, parsimonious“: dieſe Ausdrüde ehren zur Charakterzeichnung der italieniſchen Landbevölkerung faft in allen Abjchnitten des Beauclerk'ſchen Buches wieder; es ijt deutlich erkennbar, einen wie großen Eindrud insbejondere die Anjpruchslofigkeit in der Nahrung auf den in bdiefer Hinficht freilich an ganz andere Berhältnifje gewöhnten Engländer gemadt hat.

Darf nad) alle dem „Rural Italy“ als ein ſchätzenswerther Beitrag zu einer allgemeinen Ueberſicht über die agrariichen Zuftände Italiens willlommen geheißen werden, jo haben wir in der Schrift von Herrn Werner Sombart

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über die römiſche Campagna eine auf den eingehendſten und gründlichſten ört— lichen Selbſtſtudien beruhende Darſtellung eines der ſchwierigſten Specialprobleme der italieniſchen Landescultur zu begrüßen. Von gleich hohem Intereſſe für den theoretiſchen Nationalökonomen wie für den praktiſchen Landwirth durch werth— volle Aufſchlüſſe für die in der Campagna herrſchenden Wirthſchaftsformen und ihre Ergebniſſe, verdient das kleine, aber inhaltreiche Buch des jungen deutſchen Forſchers weit über den Fachkreis feiner Berufsgenoſſen hinaus als ein äußerſt belangvoller Zuwachs unſerer Kenntniß von der Landeskunde und von den ſocialen Verhältniſſen Italiens die allgemeinſte Beachtung. Denn die römiſche Campagna iſt trotz der charaktervollen Eigenart, mit der nicht nur ihr Land— ſchaftsbild, ſondern auch ihre Bewirthſchaftungsweiſe ſich jedem Beſucher Roms ſogleich und für immer einprägt, keineswegs eine Ausnahmserſcheinung, ſondern wirthſchaftlich und ſocial ein Prototyp für weite Gebiete der Apenninenhalb- injel; das Latifundium und die nomadifirende Weidewirthſchaft, welche die Gam- pagna beherrichen, dominiren auch in den Südprovinzen und auf weiten Flächen der mittleren MWeftküfte. Ueberdies greift die Weidewirthſchaft der Campagna und der ihr verwandten Provinzen mit ihrem Wirthichaftsorganismus in große Theile von Mittelitalien hinüber, injofern die Almen auf den Bergen der wanbdernden Herden als Sommerweiden dienen. Sodann aber erftredt das focialpolitifche Problem, das in den Zuftänden dev Campagna vorliegt, ſeine Bedeutung weit über die Grenzen ihres Gebiet? hinaus. Dies Problem if um es furz zu jagen, fein anderes, als die Löjung des Conflict zwiſchen ben allgemeinen und den Privatintereffen, dev hier in einem wahrhaft claffiichen Beiipiele, in einer geradezu muftergültigen disharmonie &conomique in die Gr: iheinung tritt. Endlich haben die Forſchungen von Herrn W. Sombart aud für die Wirthichafts- und Nechtsgeichichte des Landes ungemein reihhaltige Aut: ſchlüſſe zu Tage gefördert, welche über die wirthſchaftliche Entwicelung Italiens in vieler Hinficht ein neues wichtiges Licht verbreiten, nicht nur vermöge der ſorg— fältigen Benußung der ausgedehnten Literatur es eriftiren nicht weniger al: zweitaufend Bücher und Schriften jedweden Anhalt, welche die römische Can: pagna zum Gegenftande haben —, fondern aud durch die Bearbeitung eine umfangreichen, zum Theil noch unbefannt gewejenen archivaliſchen Quellenmaterial:.

Noch in der römischen Kaiferzeit ein blühendes Gefilde von intenfivfte Gultur, umgibt die römiſche Kampagna jeit Jahrhunderten Rom mit einer Ein öde, deren großartig ernſte Wellenlinien zwar von jeher das Entzüden der Male und Dichter gewefen find, die aber mit den wirthſchaftlichen Anforderungen an die Umgebung einer modernen Großſtadt im grellften Widerfpruche fteht und für das Gedeihen der Dietropole de3 neuen Königreich eine ernfte Gefahr bilkt. Die Gefundung und die Wiederbelebung der Gampagna, il risanamento ed | bonificamento dell’ Agro Romano, ift, nachdem Rom Landeshauptftadt gemworder war, von der italienifchen Regierung alsbald in? Auge gefaßt worden; du königliche Decret, welches zu diefem Zwecke eine bejondere Commiſſion einſebtt, datirt vom 20. October 1870, ift alfo gerade einen Monat nach dem Einzu ergangen. Seitdem find Reformprojecte aufgetaucht, es haben fich Geſellſchaften zur Melioration dev Campagna gebildet; Roms Bevölkerung hat fich nabaı

Aus dem modernen Stalien. 271

verdoppelt: aber die Campagna ift immer ftiller, bder, menjchenleerer getworben. Inmitten eines Landes, da3 an liebervölferung leidet, in welchem der Mangel an Lebensunterhalt jährlich Hunderttaufende über den Ocean treibt, dehnt ſich um die Hauptjtadt eine Wüſte aus, die für mehrere hunderttaufend Menichen !) Raum bieten könnte, während ihre ftändige Bevölkerung, nad) der amtlichen Volkszählung von 1881, fi) auf wenige hundert Verwalter und Hirten bejchränft. Wenn die von Sombart mitgetheilte, unglaublich) geringe Zahl von 764 ftändigen Bewohnern richtig ift, jo meift die Gampagna von Rom eine Bevölkerungsziffer von 0,264 Menichen auf den Quadratkilometer auf (Deutichland 82, Italien 94, Merico 5): ein Saß, der an Niedrigkeit etwa dem der Pampas von Argen- tinien gleicht.

Als die Urſachen diejes umerhörten Zuftandes hat man ſeit langer Zeit theil3 die natürlichen Bedingungen der Gampagna, theils ihre vechtlich-politifchen Verhältniffe zu betrachten fi) gewöhnt. Die Sombart'ſche Schrift tritt den Nachweis an, daß Beides unrichtig if. Die Bodenbeichaffenheit der Gampagna ift zufolge ihrer geologifchen Structure und ihres Waſſerreichthums eine günjtige; neben dem fetten Alluviallande de3 Tiberthal3 und am Mteeresftrande findet ſich vorwiegend guter Mittelboden, der feine Spur von Erihöpfung zeigt, wie denn überhaupt die Anficht, als ob Südeuropa abgewirthichaftet und feiner Berjün- gung fähig jei, durch die glänzenden Entgegnungen Unger's, Hehn's, Theobald Fiſcher's u. U. als endgültig widerlegt angejehen werden fann. Für die Game yagna findet Sombart noch immer den Ausſpruch Columella’3 richtig: „Non fatigatione et senio sed nostra inertia minus benigne nobis arva respondent.“ Ebenſowenig jet das Klima der Campagna ihrer Wiederbebauung ein wirkliches Hinderniß entgegen. Zwar ift ein großer Theil ihres Gebiet3 von fiebererzeugen- der Malaria heimgefucht. Allein die neueren Forſchungen über die Urjachen und dad Weſen der Malaria haben dargethan, daß fie von der Cultur oder Nicht: culture de3 Bodens gänzlich) unabhängig ift; nicht nur auf den römiſchen und apulifchen Steppen, jondern auch in dem blühenden Garten der Campagna felix um Neapel, in den fruchtbaren Gefilden der Poniederung jchleicht dies Gefpenft umber: nach den Ergebniſſen des großen Werkes von Sforza und Gigliarelli „La Malaria in Italia“ (Roma 1885) ift mehr al3 die Hälfte der gejammten besperifchen Halbinfel von diejer Krankheit inficirt. Man darf als munmehr feftgeftellt betrachten, daß intenfiver Anbau nicht genügt, um die Gegend vom Fieber freizuhalten; daß aber andererjeit3 die Malaria keineswegs eine von Kleinbauern ausgeübte intenfive Cultur hindert. Für irrig hält Sombart ferner die Meinung, als jei die Verödung der Campagna dur die Mißwirthſchaft der Päpfte verſchuldet; er ftellt ihr die Thatſache gegenüber, daß große Theile des früheren Kirchenſtaats unter den Päpften vortrefflich angebaut geblieben find, und daß andererjeits ähnliche Zuftände wie in der Campagna auch in anderen weiten Gebieten Italiens vorliegen, die niemal3 zum Kirchenſtaate gehört haben. Endlich weift der Verfafjer nad, daß auch die rechtliche Gebundenheit des Bodens nicht als die Urſache des Uebels angejehen werden könne, und daß die weſentlich

') Sombart's Ziffer, zwei Millionen, muß auf einem Drud: oder einem Rechenfehler beruhen.

272 Deutſche Rundſchau.

auf völlige Befreiung des Grundbeſitzes von rechtlichen Schranken der Veräuße— rung gerichtete Maßnahmen der italieniſchen Regierung das Elend der Campagna nicht beſeitigt, ſondern eher noch verſchlimmert haben.

Die wahre Urſache der immer weiter um ſich greifenden Verödung der Gampagna liegt nad) Sombart’3 Ueberzeugung darin, daß die Steppenwirthichaft, welche dort in immer größerem Umfange und unter allmäliger Zurüddrängung des Aderbaues betrieben wird, von rein privatwirthichaftlihem Standpunkt jo wohl für die wenigen Großgrundbefiter, denen der Boden gehört, als für die noch Kleinere Zahl von Großunternehmern, durch welche er bewirthichaftet wird, ebenjo ficher als mühelos und einträglich ift. Sombart führt den Nachweis, dat nad dem Wirthihaftsbetriebe, wie er fi in der Gampagna im Wejentlichen bereit3 jeit dem fünfzehnten Jahrhundert ausgebildet hat, die Schafzucht, die den allergeringften Aufwand an Menſchen- und Betrieböfapital erfordert, am rentabelften, die Großviehzucht Schon weniger einträglich, der Ackerbau endlich, dev die meifte Menſchen- und Kapitaläkraft verlangt, am menigften gewinn- bringend ift. Die Pacht, welche die Großgrundbefiter der Campagna von ihren faft ausſchließlich als Schafweide benußten Latifundien beziehen, erreicht an- nähernd den Durchſchnittsſatz der preußiichen Domänenpadten; jie ift jeit hun— dert Jahren um mehr ala hundert Procent geftiegen und gewährt in vielen "Fällen dem Eigenthümer eine Bodenrente bis zu zehn Procent, während andererjeits die Großpächter, die mercanti di Campagna, für ihr ſehr geringes Anlagefapital eine vollfommen ausreichende Verzinſung herauswirthichaften, weil ſich die Pro— ductionsfoften bei größerer Ausdehnung des Betriebes immer mehr einjchränten lafjen. Der Großpächter Ferri, deffen Haus feit lange die Latifundien der Fa— milie Torlonia pachtweife bewirthichaftet, kommt auf einer Fläche von 15,000 Hektaren mit einem Perfonal von 15—20 Menſchen aus. „Vom privatöfono- mijchen Standpunft aus betrachtet ift die Campagnawirthſchaft eine der idealften Productionsweifen, die ſich, zumal heutigen Tages, denken laffen; in dev That, während beinahe da3 ganze übrige Wefteuropa in einer fürchterlichen Kriſe ächzt und ftöhnt, während allerort3 die Pacht» und Kaufpreife ſinken, die Sub- hajtationen von Gütern an der Tagesordnung find, floriren Eigenthümer und Pächter der römiſchen Campagna; für fie ift es die befte der Welten, in welcher fie leben.“

Dem gegenüber ftehen nun die ungeheuren volkswirthſchaftlichen und focialen Schäden und Gefahren, die fi) aus dieſem Zuftande ergeben: volf3wirtbichaft- lid die unerhörte Vergeudung weiter Gebiete, welche, ftatt durch intenfive Gultur zur Vermehrung des Nationalvdermögens nußbar gemacht zu werden, nun im Dienfte einiger weniger Eigenthümer das kiimmerliche Futter für eine verhältnif- mäßig geringe Zahl von Schafherden hervorbringen; jocial aber die Aus beutung des ländlichen Proletariats, welches als Hirten, Wald» und Feldarbeiter die Tagelohnarbeiten zu verrichten hat, und deifen materielle Lebenshaltung jeit einem Bierteljahrtaufend jo gut wie unverändert geblieben, ja jogar in biefem Zeitraum ſich vielfach verjchlehtert hat. In diefen Feldtagelöhnern, die jahraus jahrein, vom Hunger getrieben, aus den Bergen Umbriens, Samniums und Apuliens in die Steppen und Sümpfe der Campagna hinabfteigen, um dort

Aus dem modernen Stalien. 273

acht Monate lang bei kärglichem Lohn und jchlechtefter Nahrung größtentheils obdachlos oder in Erbhöhlen und Ruinen niftend harte Arbeit zu verrichten, erblicken einfichtsvolle Italiener die wahre Italia irredenta; dieſe körperlich geiftig und moralijch verfommenen Mafjen aus ihrem Elende und ihrer Ver— wilderung zu exlöfen, bezeichnen fie ala ein Werf der Barmderzigkeit und als eine patriotifche Prlicht.

Die Maßregeln, welche die italienische Regierung bisher zur Abftellung diefer jchweren Mebelftände ergriffen hat, werden von Herrn Sombart einer ſcharfen Kritif unterzogen. Sie find bisher im Wejentlihen auf die Verbeſſe— rung des Klimas dur Austrocdnung von Sümpfen, Regelung von Wafjer- läufen und auf Befreiung des rechtlich) gebundenen Bodens? Aufhebung der Fideicommiffe und Majorate und Einziehung de3 Beſitzes zur todten Hand gerichtet geweſen und, da hier der Urſprung des Uebels nicht liegt, wirkungslos geblieben. Richtiger hat die im Jahre 1880 eingeſetzte Commiſſion für Agrar- reformen gejehen; fie erkannte, daß nur durch feftes und zielbewuhtes Eingreifen in den cireulus vitiosus der bisherigen Campagnawirthſchaft wirkſame Abhülfe zu erreichen ift, und fie ſchlug zu diefem Zwecke die Anfiedelung von Kolonien in vier ftaat3jeitig anzulegenden Dörfern im Bereiche der Haupteifenbahn vor, denen der Staat den Grund und Boden durch Enteignung der bisherigen Befiber fowie das nöthige Betriebafapital vorzufchießen hätte. So wäre der Anfang zu einer Durchbrechung jenes Ringes, welchen das Privatinterefie der Großgrund— bejiger und Großpächter jeht den Forderungen des öffentlichen Wohls entgegen= jegt, gemadt und die Bahn einer pofitiven Agrarreforın eröffnet worden, tie fie durch den hochverdienten Vater de3 Verfaſſers unferer Schrift bekanntlich bei uns zur Stärkung des bäuerlichen Grundbeſitzes mit Erfolg bejchritten worden ift, und wie fie die preußiiche Staatsregierung, unter Wiederaufnahme eines von den größten brandenburgifch= preußifchen Herrichern eifrig betriebenen Landes— culturtverkes, durch die Anlegung deutſcher Bauernfolonien in den polnijch reden- den Zandestheilen neuerdings kraftvoll eingefchlagen hat. Allein die Abneigung ber leitenden Kreiſe Italiens gegen ftaatlihe Eingriffe in den natürlichen Lauf der Privatwirthichajt ift zur Zeit noch jo groß, daß jene pofitiven Vorſchläge ion in den Gejeßentwurf über die Verbefferung des agro romano nur arg ver: ftümmelt bineinfamen, in dem Geſetze jelbft aber ganz bejeitigt wurden. Da das Boniftcationsgejeß jtatt des nothtwendigen feften Eingriffs im Mejentlichen an dem quten Willen der Privatintereffenten appellirt, fo wird e8 nad Herrn Sombart’3 Ueberzeugung vorausſichtlich ebenjo wirkungslos bleiben wie feine Vorgänger.

III.

Eine ungemein bezeichnende Yluftration der Nothlage, in welcher ein be= trächtlicher Theil der italienischen Landbevölkerung fich befindet, zugleich aber eine dringende Aufforderung zu wirkſamer und jchleuniger Abhülfe ift in dem Anjchwellen der Auswanderung gegeben, bie in ben leßten Jahren einen ganz ungewöhnlichen Umfang angenommen hat. Der Menjchenreihthum Italiens und

der Mangel an Induſtrie haben allerdings ſchon ſeit Langer Sn einen Ueber⸗ Deutihe Rundſchau. XVI, 8.

274 Deutſche Rundſchau.

ſchuß an Arbeitskräften zur Folge gehabt, der im Auslande Verwendung zu ſuchen genöthigt war. Indeſſen pflegten die Italiener, welche im Frühjahr ihre Heimath verließen, um in Italien, Oeſterreich, Deutſchland, der Schweiz als Erdarbeiter, Steinhauer, Maurer u. ſ. to. Arbeit zu ſuchen, im Beginn der rauhen Jahreszeit nach Haufe zurüczufehren, ihre Familien blieben überhaupt dort zurüd; es fand alfo keine eigentliche Aufgabe, fondern nur ein zeitweiliges VBerlaffen des Vaterlandes ftatt; die Fälle wirklicher Erpatriirung gehörten zu den Selten- beiten. Jetzt hat fich das Verhältnig völlig anders und ungünftiger geftaltet. Während die temporäre, innereuropäifhe Auswanderung jener Arbeitägänger fich jeit zehn Jahren auf gleicher Höhe durchſchnittlich 90,000 Köpfe er- halten hat, ift die permanente, überjeeifche Auswanderung, welche ſich vor zehn jahren auf 20000 Perſonen beſchränkt hatte, im Jahre 1886 auf 85000, 1887 “auf 127000, 1888 fogar auf 196000 Perſonen geftiegen. Sie hat damit eine Höhe erreicht, hinter welcher Deutichland mit feiner um fünfzig Procent ſtärkeren Gejammtbevölferung und feinem altgermanifchen Wanbertriebe bei weitem zurücbleibt.

Unter den überjeeifhen Auswanderern, die Italien im Jahre 1888 verliehen, haben ſich 68000 Berfonen weiblichen Gejchlechts und 48000 Kinder unter vier- zehn Jahren befunden; diefe Ziffern beftätigen, daß zwar noch immer die Zahl der arbeitsfähigen Männer, welche ihr Glück jenjeit3 des Oceans zu ſuchen ent» Ichloffen find, weitaus übertviegt , daß aber die Familien nachzufolgen beginnen, und es läßt dies für die Zukunft auf ein weiteres erhebliches Wachsſsthum der Auswanderung jchließen.

Das Hauptziel der italienifchen Auswanderung ift Südamerila. Das fub- tropiiche, an Italiens Himmel erinnernde Klima der Südprovinzen Brafiliens und der Republifen am Rio de Ia Plata jcheint dazu den ftärkjten Anreiz zu geben. Bielleiht tragen auch die Stammverwandtichaft mit den dort heimiſchen Abkömmlingen der lateiniſchen Raſſe, fowie die Handeld- und Schiffahrtäbezie hungen, die namentlich zwischen Ligurien und jenen Strichen von Alters her beitanden haben, dazu bei. Der Nizzarde Joſeph Garibaldi war ſchon vor 1848 in Uruguay anfällig geweſen und hat bekanntlich an den Unabhängigkeits— kämpfen dieſes Freiſtaats ala Soldat und als Seemann lebhaft Theil genommen. Grunderwerb, dad A und O für die meiften Einwanderer, ift in den fruchtbaren Gebirgathälern von Südbrafilien und auf den unermeßlichen Ebenen von Argen- tinien nicht ſchwieriger und nicht ungünftiger zu erhalten, als in den Weftftaaten von Nordamerika.

So ſchwimmt denn alljährlid in fteigendem Maße eine Fülle von italies niſcher Volkskraft und Betriebfamkeit von der Apenninenhalbinjel über den Dcean nad) jenen fernen Geftaden, um lohnendere Arbeit, veichlicheren Lebens: unterhalt und freieren Grundbefiß zu fuchen. Das ftatiftiihe Bureau in Rom hat mit der ihm eigenen Sorgfalt eingehende Exrmittelungen über diefen Ziveig der Bewegung der Bevölkerung veranftaltet und veröffentlicht, in denen u. N. der Verſuch gemacht worden ift, den Beweggrund feftzuftellen, welcher die Aus— wanderer in die fremde zieht. Unter den Antworten, welche auf den amtlichen Fragebogen extheilt worden find, kehrt feine jo häufig wieder als miseria und

Aus dem mobernen Stalien. 275

mancanza di lavoro, namentli in den Provinzen, wo bie ländliche Austwande- zung übertviegt.

Die Landbevölkerung ift es überhaupt, die den weitaus ftärkften Antheil zu diefem Menſchenſtrome hergibt. Unter den Auswanderern des Jahres 1888 werden in der amtlichen Statiftif fiebzig Procent als agricoltori aufgeführt; es ift nicht unwahrjcheinlich, daß auch don dem Refte, unter welchem 11,79 Pro- cent ald Erd» und Feldarbeiter, 5,20 Procent al3 Maurer und Steinhauer be zeichnet find, ein nicht unbeträchtlicher Theil zur Landbevölferung gehört. Unter den Aderbauern überwiegt die Zahl der Theilpächter und Lohnarbeiter, jedoch werden einzelne Provinzen genannt, in denen auch Grundbefißer in beträchtlicher Menge auswandern. Aus der Provinz Udine wanderten im Jahre 1887 unter 2600 Aderbauern 900 ländliche Eigenthümer aus.

Eine jo auffallende Erſcheinung, wie dies plößliche und fteigende Anfchwellen der überfeeifchen Auswanderung, erregt naturgemäß in Italien das Yebhaftefte Aufjehen und beihäftigt in hohem Maße die öffentliche Meinung. Bereits im vorigen Jahr hat Luigi Bodio, der hochverdiente Leiter der italienijchen Statiftit, in der Academia dei Lincei, der vor hundert Jahren auch Goethe als Mitglied angehört hat, einen Vortrag über dieſes Thema gehalten, in welchem er auf die Dichtigkeit der italienischen Bevölkerungsziffer, ſowie auf den jehr hohen Ueber— ihuß, den die Geburten über die Todesfälle in Italien alljährlich ergeben, hin— wies, indeffen anerkannte, daß die Auswanderung in einzelnen Theilen Italiens eine beunruhigende Höhe erreicht hat. Unterm 30. December 1888 ift ein neues Austwanderungsgejeß erlaffen worden, da3 an dem Grundjaße der Aus— wanderungsfreiheit jefthält, aber dem Mißbrauch und der Ausbeutung dieſer Freiheit durch die Ausſchließung aller nicht conceffionirten und fcharfe Ueber— wachung der concejftonirten Vermittler entgegenzutreten jucht.

Inzwiſchen hat Edmondo de Amicis, der fih nicht nur in feinen bes liebten Reiſeſchilderungen, jondern auch in feinen Darftellungen aus der Heimath ala ein feiner Beobachter zeitgenöffiichen Lebens bewährt hat, in feinem neueften Buche „sull’ Oceano* die italienische Auswanderung zum Gegenftande einer um— faffenden Studie gewählt. Er beichreibt von der Einjchiffung in Genua bis zur Landung in Montevideo die Fahrt des „Galileo“, eines mächtigen Dampfers, der, außer den Geſchäfts- und Vergnügungsreifenden der erften und zweiten Gajüte, ſechzehnhundert Zwiſchendeckpaſſagiere, faft lauter italienische Auswanderer, übers Meer führt. Sn ficheren Strichen wird die Scenerie gezeichnet und das Perſonal vorgeführt: im Salon und den Gabinen de3 Hinterded3 die elegante Gejellichaft, die der Zufall hier zufammengebradht Hat und durch vier Wochen unausgefeßter Tiſchgenoſſenſchaft und gleihmäßiger Beihäftigungslofigkeit in mehr oder minder intime Beziehungen bringt; auf dem Vorderdeck das dichte Gewimmel der Auswanderer, eine ftändige Volksverſammlung, in welcher alle Leiden und Leidenschaften, alle Abneigungen und alle Triebe der unterften Be— völkerungsklaſſen auf das mannigfaltigfte vertreten find und im bunteften Wechfel zur Anſchauung gebracht werden. inmitten beider Dede als neutrale Gebiet die Kommandobrüde de3 Schiffscapitäns, eines ligurifchen Seebären, der indeſſen ſchließlich dem Verdachte nicht entgeht, für Frauenhuld zugänglich zu fein, und

18*

276 Deutjche Rundſchau.

die Gabine des Polizeikommiſſars, dem die jchwierige, mit unendlicher Geduld und unvergleihlidem Humor gelöfte Aufgabe obliegt, Ordnung und Ruhe unter diefen müßigen Menfchenmaffen aufrecht zu erhalten.

Von dem Beobachtungspoften der Commandobrüde aus, den Gommiljar als Rathgeber zur Seite, muftert unfer Reifender jein Studienfeld. Das Ded de3 „Galileo“ gleicht einem Dorfplage, auf dem ſich die ganze Bewohnerſchaft zufammenfindet, um fitend, liegend, ftehend, auf: und abgehend den Sonntag« vormittag zu verbringen. Wie dort auf der Kicchentreppe und vor den Haus: thüren, jo Haben fic Hier längs des Schiffsbords, zwiſchen Waarenballen und Taubündeln allerorten Gruppen von Familien und Bekannten niedergelaffen; man frühftüctt, man bejorgt die Kinder und auch die eigene Toilette mit italie: niſcher Unbefangenheit, man tauſcht die Schieffale der Vergangenheit, die Eleinen Erlebniffe der Gegenwart mit füdlicher Plauderluft aus. Bei ruhigem Meer und unter dem Einfluß der friichen Seeluft echeitern fi die Gemüther; es werden Scherze laut, einige hübſche Mädchengefichter finder Iebhafte und ftille Bewunderer, die Charakterköpfe einzelner Originale machen ſich bemerflich. Allein im Ganzen ift der Anblick doc ein trüber. Es ift dem Beobachter nicht zweifel— haft, daß ſich unter diefer großen Zahl von talienmüden Viele befinden, denen e3 daheim ganz leidlich ergangen ift und die nur austwandern, weil fie mit ihren bejcheidenen Berhältniffen unzufrieden find; viele Andere laſſen leichtſinnige Schulden und einen fchlechten Ruf zurücd und gehen hinüber, weil fie drüben ein günftiges Feld für ihre Trägheit und ihre Unredlichkeit zu finden hoffen. Aber den Meiften ift es auf die Stirn gejchrieben, daß fie der Hunger aus dem Lande treibt, nachdem fie Jahre lang unter dem Joche des Elends für ihr Da- jein gefämpft haben. Hier fieht Amicis Tagelöhner aus Vercelli, die mit Weib und Kind in härtefter Arbeit e3 nicht fertig bringen, fünfhundert Lire im Jahr zu verdienen, wenn fie überhaupt Arbeit finden; dort jene Tyeldarbeiter aus dem Mantuaniſchen, die in der falten Jahreszeit die Schwarzen Schneden am Poufer jammeln und kochen, um nicht im Winter Hungers zu fterben,; Reisbauern aus der lombardijchen ZTiefebene, die für eine Lira täglich ihren Schweiß vergiehen, unter der Gluthjonne, das Fieber im Leibe, mitten in den giftigen Ausdünftungen des Sumpfwaſſers; Landleute aus Pavia, die, um ihre Hypothekenzinſen aufe zubringen, von Jahr zu Jahr in ſchlimmere Schuldfnecdhtichaft gerathen, aus der fie Schließlich nur der Tod oder die Flucht befreien kann. Mit Trauer nimmt er ferner jene Galabrefen wahr, die ihren Hunger mit einem faft ungenießbaren Gebäck aus wilden Linfen zu ftillen gewohnt find und in ſchlechten Jahren das Unkraut de3 Feldes, ja rohe Weideniproffen verzehren ; jene Ochjentnechte aus der Bajilicata, die, ihr Adergeräth auf dem Nüden, tagtäglich fünf oder ſechs Miglien gehen müffen, um an ihre Arxbeitsftätte zu kommen, und die mit dem Vieh zufammen auf dem nadten Erdboden in jämmerlichen Steinhütten ohne Kamin und ohne Feuerung übernachten; nicht wenige von jenen Stleingrund- befißern, die durch die Laft der ihnen auferlegten Steuern viel ſchlimmer daran find, als die Proletarier und die fih in Behaufung und Ernährung den ärgften Entbehrungen ausjeßen, um fi) und ihre Familien durchzubringen.

Aus dem mobernen Stalien. 277

Es wird unſerem Reiſenden nicht leicht, mit einzelnen Auswanderern Ge— ſpräche anzuknüpfen oder gar ihr Zutrauen zu gewinnen. Denn die Meiſten von ihnen ſind von einem tiefen Mißtrauen gegen Alle erfüllt, die in ihren Augen zur Klaſſe der „Herren“, zu ihren Unterdrückern gehören. Noch lebt in ihrem Gedächtniß zu friſch all die Plage, die ſie von Gutsherren, Großpächtern, Verwaltern, Advokaten, Gerichtsvollziehern zu erdulden gehabt haben. Als de Amicis ſich unter das Gedränge auf dem Vorderdeck miſcht, ruft eine höhniſche Stimme hinter ihm: „Platz für die Signori!“, und als er die Hand ausſtreckt, um ein Kind zu ſtreicheln, entzieht es ihm die Mutter mit einem finſtern Ge— ſicht. „Und ich mußte mir ſagen, daß dieſer Groll nicht unverdient iſt, daß an dem Elend dieſer Menſchen unſere Hartherzigkeit und Selbſtſucht einen großen Theil der Schuld trägt: ſo viel gleichgültige Grundbeſitzer, die ihr Landgut lediglich auf einige Tage zum Vergnügen beſuchen, und die das kummervolle Daſein ihrer Arbeiter für nichts als hergebrachte Klagen utopiſtiſcher Humani— tärier halten; ſo viele Pächter ohne Rückſicht und Gewiſſen, ſo viele Wucherer ohne Herz und Rechtsſinn; der ganze Schwarm von Unternehmern und Geſchäfts— leuten, die auf jede Weife verdienen wollen und die ihr Vermögen einer endlofen Reihenfolge von Knickereien, von Kleinen Betrügereien und Kleinen Gaumereien ver: danken, dem Bilfen Brot und den Heller, den fie denen entziehen, die nicht jatt zu efjen haben. Und wenn mir die anderen Taufende in den Sinn famen, die fi Baumwolle in die Ohren fteden, ſich die Hände reiben und vergnüglich trällern, dann muß ich mir jagen: das Elend ausbeuten und verachten ift ſchlimm, aber noch ſchlimmer ift e3, fein Vorhandenfein abzuleugnen, während es vor unjerer Thür jammert und Ichluchzt.“

Im Bewußtjein diefer füdlich Iebhaft empfundenen Mitſchuld bleibt unfer Verfaſſer gelaffen und nachſichtig, und e3 gelingt ihm allmälig mit einzelnen weniger Verbitterten befannt zu werden und Einblick in ihre WVerhältniffe zu gewinnen. Im Schiffslazareth erzählt ihm ein alter, magerer Bauer aus Pignerolo, daß fein jüngerer Sohn vor drei Jahren nad) Argentinien gegangen und ihm jeßt, nad) dem Tode des älteren, einen Bon zur Ueberfahrt geichickt hat; er weiß jeine Adreffe nicht, aber er hat einen Zettel mit dem Namen eines Dorfes in der Provinz Buenos: Ayres, wo er bei einer piemontefifchen Familie bleiben joll, bi3 ein Landsmann, ein Kamerad fommen wird, um ihn zu feinem Sohne, „'I me Carlo“, zu geleiten. In einem Winkel des Vorderdecks hat fi) eine Bauernfamilie aus der Umgegend von Meftre eingeniftet, Mann, rau und drei Kinder (ein viertes wird mährend der Meberfahrt geboren). Sie hätten von einem Onkel ein Stüdchen Land geerbt, gerade genug, um durchzukommen, wenn man tüchtig arbeitet. Aber er hatte eine Hypothek darauf und dann die Steuern, und gleih im Anfang zwei ſchlechte Jahre, kurz, er und feine rau hatten fi fünf Jahre lang abgequält, waren aber immer mehr in Schulden gerathen, dabei nur Polenta und immer Polenta, und die Kinder fielen täglich mehr ab, endlich Krankheiten: e allora, buona notte, So Hat er denn verkauft, was er noch hatte, und will num jehen, ob man nit in Amerifa mit qutem Willen und fleißiger Arbeit weiter fommen kann. Ein Anderer erzählt, tie man ihn abgerebet hat, Stalien zu verlaffen, wie man ihn auf alle die Ver—

278 Deutiche Rundſchau.

befferungen Hingewiejen hat, die für die Landwirthichaft geplant werben, die Bonification in Sardinien und den Maremmen und im agro romano, die Spar» öfen und bie Darlehnafaffen: „aber was hilft mir das, se intanto mi non magmo, wenn ich inzwijchen nichts zu effen habe?“

Die italienifche Kritit hat de Amicis vorgeworfen, daß fein Bild zu einfeitig und zu büfter jei; fie vermißt die Heiterkeit und den Frohſinn, die den Italiener auch in trüber Lage jelten ganz verlafjen, und fie hat auch an der Compoſition des Buches, das abwechjelnd Scenen aus dem Salon und Erlebnifje aus dem Zwiſchendeck vorführt, Manches auszufegen gefunden. Es mag dahin geftellt bleiben, wie weit diefe Ausftellungen zutreffen. Ohne für alle Einzelheiten ein- treten zu wollen, darf die Schilderung der Auswanderer, aus der hier nur ein- zelne Züge mitgetheilt werden konnten, im Großen und Ganzen al3 treue AWieder- gabe eigener Erlebniffe anerkannt werden. Sie wird die Verdienfte, welche ihr Autor fih um jein Vaterland erivorben hat, vermehren, wenn fie dazu beiträgt, auch in Italien da8 Gefühl der Verantwortung zu ftärken, welche den Mohl- habenden und Gebildeten an dem Looſe der Armen und Ungebildeten überall obliegt.

Zeitgenöffifhe Hedankenſtrömungen.

Bon Lady Blennerhaffett.

Wer in diefen Tagen Umſchau Hält in den höher gelegenen Regionen der zeitgenöffiichen Literatur, den mag ein Gefühl beichleichen, ähnlich” demjenigen, da3 den Zeugen eines furdhtbaren Naturereigniffes, eines Erdbebens etwa, oder einer verheerenden Hochfluth, mit ahnungsvollem Grauen erfüllt.

Jahrzehnte hindurch Hat der Forſcher, dad Mikroſkop oder das Scalpell in der Hand, dem verborgenen Walten der Natur im unermeßlichen Reich des un- endlich Kleinen nachgeſpürt, die Atome in Atome zergliedert, die Stoffe aufgelöft, da einen Mikrokosmos gefunden, wo die Vorfahren nur das Stück Kohle oder den Steinblod vor fich jahen. Der Entdeder hat untergegangene Welten erweckt, da3 Erſcheinen eines Himmelskörpers am vorgeichriebenen Punkte vorausgejagt, geheimnißvolle Kräfte entjeffelt, au dem anfcheinend todten Material die jchlum- mernde Seele hervorgeloct, die räumlichen Entfernungen jo gut wie überwunden, die menschliche Stimme über den Ocean, den lichten , elektriſchen Funken bis in die Tiefen der Erbe geleitet. Und in dem Maß, als die fichtbare Welt reicher, die Kraft fih unerſchöpflicher erwies, iſt das Univerfum relativ erreichbarer, annäherungsweife verftändlicher getvorden. Wir wiſſen heute, daß Welten, Die in nächtlicher Pracht unferem Auge erkennbar find, aus chemiſchen Subftanzen beftehen, gleich denjenigen, aus welchen der Erdball zufammengejeßt ift, daß fie denjelben phyſiſchen und mechanifchen Gejegen gehorchen wie dieſer, daß die Möglichkeit des Dafeins für menſchliche Organismen keineswegs auf unjeren Heinen Planeten bejchräntt ift. Nach wie vor vermag die Einbildungskraft die Entfernungen nicht zu faffen, die zwijchen diefen Welten liegen, aber die Wiſſen— ihaft hat Mittel gefunden, fie zu beftimmen; fie iſt ebenjo verſchwenderiſch mit dem Raum tivie mit der Zeit geworden; ihre Hypothefen jchreden vor feinen Zahlengrößen mehr zuxüd, und auch vor ihrem Blie find die Jahrtaufende wie ein Tag.

Diefelben eifernen Gejee, welche von Anbeginn die Welt regieren, find, fo wird von allen Seiten behauptet umd wiederholt, auch im Menſchen thätig.

280 Deutſche Rundſchau.

Ebenſowenig wie in den uns umgebenden Phänomenen iſt in unſerem individuellen Leben Spielraum für den Zufall, für das Eingreifen eines höheren Willens. 63 ift Alles vorausbeftimmt, nothiwendig, unabänderlid. Ebenſo wie der Stein oder die Pflanze, oder der Wurm, der fich unter feinem Fuß krümmt, ift der Menſch geworden, nach unzähligen Anläufen der Natur, nach ungemefjenen Zeit: räumen, nad unabläffig ſich wiederholenden Zerftörungsproceffen und immer neuen Combinationen, nad) einem Durcheinanderſchütteln der Würfel, bis endlid die Nieten verſchwanden und in diefem ungeheuren Ringen um das Sein der Treffer, der Herr der Schöpfung blieb. Aber die Bedingungen ſeines Daſeins find die Bedingungen feines Entſtehens. Es ift für immer vorbei mit jeinen anthropocentrifhen ZTraumgebilden, vorbei mit der Vorausjegung, als ob um diefes Atom ein Univerfum gravitirte, vorbei mit dem kindiſchen Wahn, als ob jemal3 ein menjhliches Flehen, ein irdiſches Gebet etwas über die kosmiſchen Kräfte vermocht hätte, deren Schaffen wir belaufchen,; al3 ob jemals ein fterb: liher Wille in das Räderwerk unerbittlicher Geſetze eingreifen fonnte, das nimmermehr, jeit Menjchengedenfen, aus dem Takt gelommen, nimmermehr durch eine wahrnehmbare höhere Einwirkung beeinflußt worden ift. Ebenjo gewiß ala daß, im Lauf von Neonen, die Mifroben Continente bauen und zerftören, oder in der Spanne weniger Secunden da3 Dafein hervorrufen und wieder ver- nichten, ebenjo gewiß find die Erfcheinungen, die wir als Krankheit und Ge fundheit, als Leben und Tod bezeichnen, bloße Wandlungen, die den gleichen Urſachen ihr Entftehen verdanken, und die ihrerjeit3 twieder auf die Zuftände zurüd- wirken oder fie direct hervorrufen, die wir bis jet ald Aeußerungen eines höheren, leelifchen Lebens zu betrachten getwohnt waren. Nicht etwa dem Herzen ober dem Gefühl, dem Phyfiologen nur ift es erlaubt, zu jagen, was Liebe ſei, umd durch welches Spiel der Organe, durch welche Regungen der Nerven oder der Sinne die Empfindungen eine Caliban von denen eines Hamlet ſich unter- jcheiden. Eine faum wahrnehmbare Veränderung in den Windungen des Gehirns, ein faft unmerkliches Mehr oder Weniger von der grauen Maſſe, in welcher die Gedanken fich erzeugen und ſchlummern, die leiſeſte Verlegung der eleftrijchen Batterie, die fie in und vermittelt, und ftatt eines General Gordon, eines Pater Damien3 wird der Welt ein Troppmann oder Jad the Ripper geboren werben.

Kaum mehr als fünfzig Jahre find es her, daß die quite Eleine Brigg the Beagle, mit Charles Darwin an Bord, 1836 von ihrer 1831 begonnenen Fahrt um die Welt zurückkehrte. Dann dauerte es weitere zwanzig Jahre, bis die Beobachtungen über den Urſprung der Arten zur Evolutionstheorie auf Grund der natürlichen Zuchtwahl ſich entwicelten. Wie jo manche andere große Ent- deckung Hat auch dieſe fich faft gleichzeitig dem geiftigen Auge zweier Forſcher enthüllt. Man weiß, twie zwölf Monate vor dem Erjcheinen der „Origin of Species“ Charles Darwin die langfam in jeinem Geiſte gereifte Theorie mit neidlojfem Erjtaunen in einem Manufeript von Wallace wiederfand. Auch dieſes weiß man, weil er es jelbjt erzählt, daß er lange in Zweifel blieb, ob er ber Welt die Ergebniffe einer epochemachenden Entdeckung oder einer bloßen Mono— manie zu bieten habe. Das Urtheil darüber ift nicht lange zweifelhaft geblieben. Auf wiſſenſchaftlichem Gebiete find ſeitdem Groberungen gemadt und Siege

Zeitgendjfiiche Gedantenftrömungen. 281

errungen worden, deren Tragweite und Bedeutung dem Stimmberechtigten nicht geringer als die Reſultate der Gedankenarbeit von Darwin erſcheinen. Allein eine Rückwirkung gleich der ſeinigen auf die Anſchauungen der Zeitgenoſſen hat feine derjelben geübt. Vergebens haben die Größten, die Urtheilsfähigſten zur Vorficht gemahnt, vergebens ift der Damm des Pofitivismus auch gegen gewagte Hypotheſen und unberehtigte Schlußfolgerungen aufgerichtet worden. Der Cynismus der ftet3 vorhandenen materialiftiichen Strömungen und Tendenzen auf der einen, die Hoffnungslofigkeit der nicht weniger in der menschlichen Natur begründeten und fat gleichzeitig mit dem Darwinismus wieder zum Syftem ausgebildeten peſſimiſtiſchen Lebensauffaffung auf der anderen Seite verſchworen fi, um dem Erfolg die Wege zu bahnen, der die Einen von den unerträglich gewordenen Feſſeln des Pflichtgebots befreite, den Anderen wie die Probe der längft geftellten Rechnung erichien, nach welcher Alles, was befteht, werth ift, daß es zu Grunde geht.

Auch dieſes iſt verftändlih und im Welen der Dinge begründet, daß eine folche Lebensauffaifung in dem Maße fühner und zuverfichtlicher auftritt, als fie an wifjenfchaftlicher Berechtigung und intellectueller Vertiefung verliert. In die Sprade des Winfelblattes und der pornographiichen Literatur übertragen, er— fcheint der Kampf um das Dafein als die wilde Sättigung der Begierde, die Rechtfertigung des brutalen Inſtinctes, die Freiiprehung der Sünde von ber Verantwortung, des Verbrechens von der Strafe. Höher oben, in einer gebildeten Sprache und mit jubtilerer Sophiftif wiedergegeben, wechjelt zwar der Ausdrud, die Doctrin aber bleibt diejelbe. Sie verwirft die religiöfe Disciplin, untergräbt alle ethifchen Begriffe, erichüttert die Erziehung in ihren Grundfejten und ftellt das Geſetz in Frage. Ihr kämpft, jpricht fie zum Priefter, zum Lehrer, zum Erzieher, nicht etwa gegen einen freien, bewußten Willen, jondern gegen einen blinden und eben deshalb unmiderftehlichen Inſtinct, der ftatt des Selbftbeftimmungsrechtes de3 Individuums nur das Bedürfniß der Gattung fennt. Ihr vermeßt euch, im Namen einer Gottheit zu ſprechen, die nicht exiftirt, eine Moral zu predigen, die ihr erfunden habt, und da3 Joch fittliher Verpflichtungen uns aufzuerlegen, die unfere beſſere Erkenntniß von heute in Vorurtheil, Eitelkeit, Menſchenfurcht und Aberglauben zergliedert. Ihr beruft euch auf die Vergangenheit und Enechtet die Natur: wir verwerfen die Erfahrung und befreien die Zukunft. Sie wird nur wiſſen, nit glauben, jede Autorität ablehnen und für jede eurer Behauptungen den wiſſenſchaftlichen Beweis von euch fordern. Dann werdet ihr das cerebrale Thänomen, den Intellect, nicht mehr mit dem Schattenbild eurer Phantafie, der Seele verwechſeln, und den ftärkften aller Triebe al3 das erkennen, was er ift, als die Manifeſtation des einen, unbewußten Willens zum Zweck der Fort— pflanzung des Geſchlechtes. Wie die Pflanze oder das Thier, jo ift der Menſch ihm unterworfen. Wie feinen Magen, jo erhält ex feinen Charakter fertig mit auf die Reife, und e3 iſt an der Zeit, die Gefängniffe in Spitäler zu verwan— deln und ftatt des Henkers den Arzt zu rufen. Er wird euch jagen, daß, was ihr ald Verbrechen bezeichnet, nichts Anderes als eine Krankheit ift, ein Ergebniß des Zufalls und der Heredität, die mit dem Blut auch das Laſter oder die Tugend in die Adern gießt und mit dem Bewußtfein der Schuld auch den Be—

282 Deutſche Rundſchau.

griff der Neue aufhebt, bis von ber ſittlichen Verantwortung des Ethikers und des Theologen kein anderes Reſiduum zurückbleibt, als der pathologiſche Fall.

L

Wer geneigt wäre, diefe Auffaffung der Dinge parteiifh und die aus ihnen gezogenen Schlußfolgerungen ungerechtfertigt zu finden, der nehme einen der piychologiichen Romane des Tages, etwa „Le diseiple“* von Paul Bourget zur Hand. Dort rechtfertigt Robert Greslou feine Niedertracht durch den Hinweis auf „Die Theorie der Leidenfchaften“ und „Die Anatomie des Willens“, zwei Werke jeines Lehrers, Adrien Sirte, die laut herausſagen und wiſſenſchaftlich zergliedern, was auch der letzte der Verbrecher vor ſich ſelbſt zu verbergen ſucht. Dder er jchlage eine der großen engliſchen Revuen, das „Nineteenth Century“ zum Beifpiel, auf, und leſe, wie Würdenträger der Kirche und de3 Staates, voran Mr. Gladftone, es nicht verichmähen, neunzehnhundert Jahre religiöfer Bildung und Enttwidelung, chriſtlicher Gedankenarbeit und Liebesthätigfeit alles Ernftes gegen eine Dame in Schub zu nehmen, die für gut gefunden hat, die Leetüre einer Anzahl von Werken der deutichen Hiftorifchen Kritik in einem drei» bändigen Roman zu veriwerthen. Die Gentralfigur diefe® Romans, die her: gebrachte Bezeihnung „Held“ ſei mit Abficht vermieden, denn fie würde in diefem Tall Klingen wie eine graufame Ironie die Gentralfigur alfo, Robert Elsmere, Geijtlicher der anglifanischen Kirche, geräth durch Zufall in die Bibliothek eines englifchen Sonderling3, unterliegt widerftandslos den dort angehäuften, in Deutid- land geichliffenen Waffen gegen das Chrijtenthum, für welches Niemand als das Ewig-Weibliche in Gejtalt jeiner Gattin plaidirt, und beſchließt die Conſtruirung einer Religion der Zukunft, ganz nad) dem Recept von Renan:

„Die beiden fundamentalen Säbe des Glaubens, Gott und bie Unfterblichkeit, find rationell nicht zu beweilen, obwohl fi aud; nicht behaupten läßt, dab fie abjolut unmöglich find. Der Religion gegenüber bleibt die logische Stellung des Denters dieſe, fich fo zu verhalten, als ob fie wahr wäre. Man muß handeln, ala ob Gott und die Seele exiftirten. Damit tritt bie Religion in die Reihe jener zahlreichen Hypotheſen, wie der Aether, die eleltrifchen, caloriichen, luminofen und nervofen Fluida, wie dad Atom felbft, von welchen wir wohl willen, daß es nur Symbole, nur bequeme Mittel zur Erllärung ber Phänomene find, und bie wir dennoch aufrecht erhalten. Gott, bie Welt in Folge tieffinniger Berechnungen erfchaffend, ift eine recht rohe Formel; aber die Dinge tragen fich ziemlich fo zu, als ob das wirklich ſich ereignet hätte. Als felbftändige Subſtanz gedacht, ift die Seele nicht vorhanden, und dennoch ändert das am Kauf ber Dinge wenig. Keiner menichlichen Bereinigung ift jemals eine überirbifche Botfchaft zur geflommen; tropdem ift die Offenbarung eine Metapher, beren die Religionsgeſchichte nicht ent» behren fann. Das ewige Paradies, das bem Menſchen veriprochen wurbe, erweift fich ala Täufchung, und doch müfſen wir handeln, ala ob es beftände, und diejenigen, die nicht daran glauben, müſſen Diejenigen, die daran glauben, an Güte und Hingebung übertreffen... ..... Das Endergebuik ift biefes: das Vorhanbenfein eines dem Univerfum überlegenen Bewußtjeins ift viel wahrfcheinlicher, ala die individuelle Unfterblichkeit. In Bezug darauf haben wir feinen anderen Grund für unlere Hoffnungen, ala die wahricheinliche Vorausfekung von der Güte de3 höchften Weſens. Alles wird ihm eines Tags möglich fein. Hoffen wir, er werde bann auch gerecht fein wollen und ben jenigen, bie den Eieg bes Guten förberten, das Gefühl und das Leben zurüdgeben. Es wird das ein Wunder fein. Aber das Wunder, das heit das Eingreifen eines höheren Weſens, melde

jet nicht ftattfindet, fann eines Tags, wenn Gott bewuht geworden ift, der normale Zuftand bei Univerfums fein.“

Zeitgenöffifche Gebantenftrömungen. 283

Dieſes Citat von Renan ift einem Aufſatz entlehnt, der unter dem Namen „Examen de conseience philosophique* im vorjährigen Auguftheft der Revue des deux mondes abgedrudt ift. In diefer Form find die Denkrefultate des franzöſiſchen Gelehrten demjelben Publicum zugänglich gemacht, das eben noch den geiftvollen Roman von Paul Bourget lad, oder den „Robert Elsmere“ von Mrs. Humphrey Ward durchblätterte; und ebenfo mühelos, wie im erjteren jeine Ethik, im Leßteren jeine Theologie, kann e8 vom größten lebenden Profaiften der lateinischen Race feine philoſophiſche Weltanſchauung beziehen.

Es kann nit Wunder nehmen, wenn jehr viele Leute gegen diefe Art, die folgenſchwerſten und entjcheidendften Probleme zu behandeln, proteftiren zu müſſen glauben. Sie erjcheint ihnen, wenn auch nicht ftet3 al3 ein Aergerniß, jo doch nod immer al3 eine Thorheit, und Renan insbeſondere hat in den lebten Jahren den Vorwurf der Frivolität geradezu provocitt.

Der Einwand, daß nur Jgnoranten oder Gegner der freien Forſchung über: baupt einen ſolchen Proteft erheben, ift durchaus nicht ftihhaltig. Denn einerjeits hat Niemand eindringlicher als der gewifjenhafte Forſcher, Darwin jelbit, vor der Gefahr gewarnt, bloße Hypotheſen al3 feitgeftellte Thatſachen auszugeben, oder da, wo die Thatjachen feftjtehen, vorjchnelle oder zu weitgehende Folgerungen aus denjelben zu ziehen. Sein Syſtem, jagt er ausdrücklich, „hat feinen Auf- ihluß über den Urſprung geiftiger oder vitaler Kräfte zu geben”. Andererjeits ift die Wiffenichaft weder für die Logik der Abbesse de Jouarre nod) für die Pſychologie von Nana verantwortlid. Sie hat im Gegentheil allen Grund, fi) bon beiden loszuſagen, gerade jo wie fie fi) weigert, dem Unverſtand des Patienten Morphium oder Arjenik in die Hand zu geben.

Dagegen wird die Wiſſenſchaft jederzeit der ernften Polemik Rede ftehen, die den Werth der Thatjachen anerkennt und bereit ift, fich ihnen zu unterwerfen, unter der einzigen Bedingung, daß ein Zweig der Erkenntniß nicht dem anderen geopfert werde, daß der Forſcher, deſſen Gebiet die Phänomene des organischen Lebens find, das Recht des Forſchers nicht beftreite oder beeinträchtige, der ſich den metaphyſiſchen und pſychiſchen Problemen zugewendet hat. Das ijt der Standpunkt des Franzoſen Brumetiere unter Anderen, der, ebenfalls in der Revue des deux mondes, auf die ſchönen Worte von Pascal fich ftüßt:

„Aus allen Körpern aufammengenommen wird man niemald auch nur einen kleinen Ge: banken gewinnen; das ift unmöglich und zu einer andern Ordnung gehörend. Aus allen Körpern und Geiftern wird man niemals eine Regung ber Liebe (charitas) gewinnen; das ift unmöglich und zu einer andern, der übernatürlichen Ordnung, gehörenb.”

Und im Anſchluß an Pascal fährt der franzöfiiche Denker fort:

„Dhne jebe beleidigende Abficht ſei es geſagt: feit jechstaufend Jahren haben fo viele und große Fortichritte uns um feine Spanne weiter in ber Kenntniß unſeres Urſprungs, unferes Weſens, unſeres Zieles gebradyt. Das genügt. Denn jo lange die Wiffenfchaft keine Antwort auf diefe Fragen zu geben hat, wirb fie, wie die Religionen, die fie erjeßt zu haben glaubt. nichts Anderes als ba3 fein, was Pascal „un divertissement“ nennt, d. h. ein Auskunftsmittel, das ung verhindern foll, an bie einzigen fyragen zu denken, die von höchfter Wichtigkeit für uns find, das, mit anderen Worten, ben Schmerz unferer Seele täufchen fol. Unter ſolchen Bedingungen ift aljo nicht zu befürchten, daß die Wiſſenſchaft jemals zur Univerfalherrfchaft gelange, die man ihr jedesmal veripricht, wo fie den Eilmagen durch die Eifenbahn, oder die Colchicumtinctur durch das Salicyl erfeht. In biefer Hinficht beruhigt, erfreue ich mich, wie ed einem Bürger bes

284 Deutiche Rundſchau.

neunzehnten Jahrhunderts geziemt, ber neuen Hülfsmittel, die fie mir verſchafft (auf bie Geiahr bin, daß dieſe, wie man verfichert, mir das Leben verkürzen), meiner Machtbefugnifle, die fie er weitert, der Zerftreuungen, mit welchen fie mich faft erbrüdt, und ber weiten Horizonte, bie fie mir eröffnet.“

Diefelbe Meberzeugung von der Berechtigung nicht nur, fondern von der abſoluten Unentbehrlichkeit des Fefthaltens an einer höheren Ordnung der Dinge durchdringt die Gedankenarbeit des Engländer William Samuel Lily. Er iſt ſich wohl bewußt, wohin die Strömung geht, wie der Gedanke mehr und mehr der herrichende werde, daß die Wiſſenſchaft allein Gewißheit verſchaffen könne, daß außerhalb diejer rationalen oder experimentalen Gewißheit überhaupt keine jolde eriftire und daher jchließlih die Vernunft und der mathematijche Beweis bie Welt zu regieren beftimmt jeien.

Morauf Damon, ber, in einem Dialog des bedeutendften Buches von Lilly, „Ancient Religion and modern Thought“, da3 Wort für den Verfaſſer führt, unter Anderem diejes entgegnet: „Es gibt Argumente, die, obwohl an fi nicht entjcheidend, dennoch eine folche Getwißheit erzeugen, daß die Menſchen willig für fie in den Tod gehen. Dieſe Gewißheit ift nicht bloß das Refultat eines ethiſchen Proceſſes: ein anderes Element tritt dazu, und da3 ift daß Element des Glaubens.‘ „D, meine prophetiſche Seele,“ ruft Pythiad, Damon’ Antagonift,, und citirt Rabelais: „Il n’est rien creu si fermement que ce qu’on scait le moins, nf gens si assurez que ceux qui nous content des fables.“ Alles hat zwei Seiten, lautet Damon’3 Ertoiderung, und das ift die Kehrſeite einer großen Wahrheit. Am Unumftößlichften fteht uns feft, was wir niemals beweiſen fünnen. „Nichts,“ fagt Plato, „ift jo gewiß und Har für mich al3 diejes, daß ich jo gut und edel fein muß, als in meinen Kräften fteht, e8 zu fein.” Dieſe Ueberzeugung ift nicht da3 Ergebnig eines Vernunftſchluſſes. Die Schönheit des Sonmenunter ganges, die Heiligkeit de8 Schmerzes, der Edelmuth eines Regulus find Dinge, die ſich nicht beweiſen lafjen.

63 iſt mit anderen Worten der Standpunkt, den Newman ſich angeeignet und in dem Sab ausgedrüdt hat, daß Wahrjcheinlichkeit die Führerin durch das Leben fei.

logiſche Folgerung iſt nicht die Methode, die uns befähigt, zur Gewißheit über das Concrete zu gelangen, aber nicht minder gewiß iſt, welche Methode dazu eigentlich nothwendig ſei. Es iſt dies die Cumulation von Wahrſcheinlichkeiten, unabhängig von einander, und aus ber Natur und ben Umſtänden des bejonderen Falles fich ergebend, welcher ber Prüfung unterliegt; Mahricheinlichkeiten von zu feiner Unterjcheidung, ala daß jede für fich den Ausſchlag geben könnte, von zu fubtiler und umfchreibender Art, um fie in Syllogiämen umzufeßen; zu zahlreich und unter fich verfchieden, um zu einer ſolchen Uebertragung, felbft wo eine jolche möglich wäre, ſich zu eignen... ,. 63 ergibt fi) aus der Natur der Sache und aus ber Zujammenfekung de menfchlichen Geiftes, daß Gewißheit dad Ergebniß von Argumenten ift, die buchftäblich, und nicht ihrem vollen, implieite miteinbegriffenem Sinne nad) genommen, bloße Wahrjcheinlichkeiten find“ ')

Nicht minder gewiß ift diejes, und hier überlaffen wir dem oben genannten Autor das Wort: wenn das Chriftenthum, wenn der Katholicismus insbejondere bernunftwidrig wären, wenn fie nur unter der Bedingung, von unjeren Vernunft: und Verſtandeskräften ihnen gegenüber weiter feinen Gebrauch zu machen, an genommen werden könnten, dann wäre ihr Schicjal befiegelt, und es bliebe nichls

Y John Henry Newman, „Grammar of Assent“, 281, 286, 324.

Zeitgenöfiiche Gedankenftrömungen. 285

übrig, ald die Todten ihre Todten begraben zu laffen. Und hier kann ſich der Verfaſſer die Schönen Worte eines Glaubens und Berufsgenoffen aneignen:

‚Ih bin ein Chrift, und gerade heute, wo das Belenntniß jo Vielen ala ein jchimpfliches gilt, will id e8 um fo lauter ablegen. Zugleich aber bin ich ein Gelehrter, und ala folder fenne ich feine chriftliche oder nichtchriftliche Wiſſenſchaft. Wiſſenſchaft ift für mich nur eine, und fie bedarf feiner andern Bezeichnung ala ihren Namen, der alle theologifchen Fragen, als ihrem Gebiete fern liegend, ausſchließt, und deren Diener alle aufrichtigen, gewiffenhaften Forſcher find, weil Glaubens fie jonft auch jein mögen“ ?).

Das Gebiet, welches der Verfaffer von „Ancient Religion and modern Thought“ fich gewählt hat, ift das der vergleichenden Religionswiffenichaft, welcher durch Veröffentlichung dev „Sacred Books of the East“ ein zugleich jo mächtiger und jo lange exjehnter Impuls gegeben worden ift. Auch ohne unter die Bahn— brecher zu zählen, ift es möglich, auf diefem Felde viel des Wiſſenswerthen und Anziehenden zu Tage zu fördern, wenn ein geiftreicher Beobachter wie diejer fi der Aufgabe unterzieht, und insbejondere der Imftand Hinzufommt, dag ihm der Orient durch einen langen Aufenthalt in Indien nahe getreten und lebendig geworden ift. Auch auf ihn Hat jene tieffinnige, beichauliche und betrachtende Religion den Zauber ausgeübt, der ſeit num mehr als zweitaufend Jahren uns gezählte Millionen Menjchen ihr gewonnen hat. Noch heute, wo fich nicht mehr behaupten läßt, daß der Buddhismus Profelyten gewinnt, kann ebenſo wenig nachgewieſen werden, daß er in Verfall begriffen ift. Lilly leitet feine Studie über die Offenbarung des Cakia-Mouni mit einer foldhen über Schopenhauer ein, defjen Bedeutung als Denker wie als Schriftfteller er um jo mehr anerkennt, al3 er die are Schönheit der Proja des deutfchen Philofophen in der urſprüng— (ihen Form zu würdigen vermag. Daß er gegen dieſe Philojophie jelbft jeine Be— denten hat, braucht nicht exft gejagt zu werden. Auch ihm ift die Wahl nicht zweifel— haft zwiſchen dem orientalischen Weifen, deſſen Lehre noch) heute zwiſchen vierhundert- fünfzig bis fünfhundert Millionen Seelen beherrſcht und begeiftert, und dem abend» ländiſchen Sonderling, der an jeinem gewohnten Tiſch im Ruſſiſchen Hof zu Frankfurt niemal3 auch nur eine Tafelrunde von Anhängern unter der Bedingung um ſich bereinigt hätte, fie zur praftifchen Uebung defjen, was ex predigte, zu verpflichten. Die Lehre Schopenhauer’3, bemerkt Lilly, ift dev Buddhismus ohne die Poefie und ohne die Metaphyſik desſelben, das heißt ohne die beiden Elemente, welche die Quellen feiner Größe und feiner erftaunlichen Triumphe find. Der Buddha ift fein philanthropifcher Philoſoph, ex ift der legendäre Erlöſer, der jo viele Menjchenalter hindurch in den Herzen feiner Gläubigen gelebt und in denjelben,

wenn auch nur in unbeftimmten und halb verwiſchten Zügen, ein Bild feiner jelbit, einen Schatten wenigſtens feiner außerirdiſchen Majeftät zurüdgelafien hat.

Vom Weſen des Buddhismus urtheilt der Verfaffer, daß er weder ein Theismus

no ein Atheismus oder ein Antitheismus fei. Sein Grundgedanfe ift dev von der Unrealität der Erſcheinungswelt. Seine höchſte Weihe und Bekräftigung wird ihm durch jene unfichtbare, überfinnliche Wirklichkeit verliehen, die wir unter dem, und von allen Seiten einhemmenden Staubgewande nicht gewahr werden. Eher könnte man den Buddhismus als Pantheismus bezeichnen, weil er den Nachdruck auf die Einheit alles Lebens legt. Bon der höchften, ſchöpfe—

ı) Francois Lenormant, „Les Origines de l’Histoire d’apr&s la Bible“.

286 Deutſche Rundſchau.

riſchen und perſönlichen Gottheit der großen ſemitiſchen Religionen dagegen weiß er nichts. Die unbeſchränkte Macht, die Götter und Menſchen beherrſcht, iſt das Geſetz, das unerbittlich gerechte, abſolut vollkommene Geſetz.

Wie die Religion des Zoroaſter, jo war auch der Buddhismus eine Reform, zugleich im ethifchen und im religiöfen Sinne, auf den Begriff des „Karma“ oder den Willendact, durch welchen die Secle ihr eigenes Schidjal enticheidet, und auf die verfchiedenen Wiedergeburten begründet, durch welche dieſes Schickſal fich vollzieht. Allein der Buddhismus war noch mehr als dad. Er war ein Zurüd- greifen auf ältere und reinere Elemente. Wie dem Berfaffer der „Upanishads“, jener Perle der heiligen Bücher der Hindus, gilt aud) dem Buddha als Höcjftes dag Wiſſen, die Hare Erfenntniß nicht des Abjoluten, jondern der Facta, aus welchen jeine dreifache Welt befteht, fowie des wahren und eigentlihen Sinnes des höchſten Geſetzes und der Uebereinſtimmung mit ihm.

Der Buddha verfündet mit allem Nahdrud die freie Selbitbeftimmung und moraliſche DWerantmwortlichkeit des Menſchen. Bon einem ähnlichen hohen Zuge zeigen fi) die Avefta und Veda durchdrungen, beide der Wiberhall einer und der— jelben Stimme, der Abglanz de3 gleichen Gedanfens. Beider Quelle ift die Religion der gemeinjamen Vorväter der Jramanen und der Hindus, jene indosiramanifche Religion, die auf den beiden Grundbegriffen beruhte, daß in der Natur ein Geſetz waltet und ein Kampf ftattfindet, aljo einem latenten Monotheismus und einem unbewußten Dualismus. Bor faum mehr als einem Menjchenalter wurde Schopen- bauer durch eine jchlechte lateinische Meberjehung des Franzoſen Anquetil-Duperron mit den „Upanishads“, der myjtifchen Doctrin und Religionsphilofophie dev Veda befannt; auf diefem Wege hat er fie zu einer der Grundlagen feines Syftems gemacht, und Jahrzehnte jpäter hat Dar Müller in Bezug darauf von Schopen- hauer geurtheilt wie folgt: „Es möchte jcheinen, al3 ob er fi von der Be— geifterung für das weniger Bekannte zu weit habe fortreißen laſſen . . . Für die dunklen Seiten ber „Upanishads“ ift er blind und vor den lichten Strahlen erviger Wahrheit in den Evangelien verſchließt er wifjentlich fein Auge.“

Seitdem diefe Worte gejchrieben worden find, ift eigenthümlicheriveile ein ähnlicher Vorwurf gegen Mar Müller felbft erhoben tworden, und zwar bei Anlaß feines Beitrags zu den Gifford Leetures, in welchem er jeinem eigenen Geftändnig nach nichts Geringeres bezweckt, al3 in Bezug auf feine Stellung zu der religiöfen Frage überhaupt das Werk jeined Lebens zufammenzufafien. Wei diejer Gelegenheit ift die Deutung, die Mar Müller vom Weſen des Buddhis— mus gibt, in den Spalten der Londoner „Quarterly Review“ gleichfalls als durch— aus unzutreffend bezeichnet und ihm Folgendes entgegnet worden:

„Der Bubdhismus, als philofophifches Syſtem betrachtet, ignorirt die Gottheit vielmehr, ala er fie verneint. In der Praris erkennt er, nach dem Zeugniß aller Stimmberedhtigten,, viele Götter und viele Gebieter an. Wir bejchreiben Nirwana als eine Vernichtung, der Bubdhifl er- wartet es als das fommende Paradies. Wir bezeichnen dieſe Religion ala ein weites Gebiet des Atheismus, allein bie dreihundert Millionen bubdhiftifcher Bekenner find ihrer eigenen Neberzeugung nad durchaus nicht ohne Gott in der Welt. Die moralifche Macht des Buddhismus mit feiner Lehre vom Karma bietet viele ber wejentlichen Kennzeichen einer Religion, insbefonbere, wen man biefe mit der Thatſache der Deification des Buddha felbft zufammenhält. Auch Hier trifft die Aeußerung des Profefjor Thiele zu. In feinem Grundriß der Geſchichte der Religionen fagt er: „Die Behauptung, daß es Völker oder einzelne Stämme gibt, die feine Religion befifen, beruht

Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 287

entweder anf einer ungenauen Beobachtung ober auf einer Verwechſelung ber Begriffe. Kein Stamm, fein Volk unter allen bis jet befannten entbehrt des Glaubens an das Vorhandenfein höherer Weien, und Reifende, welche ein folches Vorhandenfein in Abrede ftellen, find Hinterher durch die Thatjachen ihres Irrthums überführt worden.”

Don ſolchen Controverſen mag der Laie den Eindruck behalten, daß es auch heute no, mit allen Hülfamitteln des modernen Verkehrs, nach der Gedanken— arbeit und den Beobadjtungen von Jahrhunderten der Forſchung, durchaus nicht leicht ift, fich ein zutreffendes Bild von und jo fern liegenden geiftigen Zu— ftänden und Verhältniffen zu machen. Wie mächtig aber der Zauber gerade der bubdöhiftiichen Weltanſchauung auf die ihr anfcheinend jo fremde abendländifche Gultur wirkt, jo daß es jcheinen möchte, als ſei eben die ftille, beſchauliche Ruhe, die der Lehre des indischen Werfen zu Grunde liegt, dem raftlojen Thätigkeits— trieb de3 Dccidentalen zum unmiderftehlichen,, inneren Bedürfniß geworden, das beftätigt unter Andern eine höchft merkwürdige Studie von Emile Bournouf, der, unter dem Titel „Der Buddhismus im Abendlande”, in der Revue des deux mondes vom 15. Juli 1888 erichienen, durchaus nicht an die gelehrte Welt, jondern an ein weitere, wenn auch gewähltes Publicum fi) wendet. In diejer Studie num wird der Buddhismus geradezu al3 die Umiverjalteligion, ala „das Gejeh der Gnade für Alle“ gefeiert, ohne Unterichied der Kafte, der Ab— ftammung, der Nationalität, der Farbe, des Geſchlechtes. E3 wird daran er— innert, daß die bubddhiftiichen Mönche den Brahmanen nicht weniger überlegen find, als die Chriften den Heiden, daß die freiwillige Armuth, die Ehelofigteit, die Demuth, die Nächftenliehe, die Brüderlichkeit, das Weſen ihrer Lehre und der Vorſchrift und Uebung ihres Lebens find. „Mie fol ih mich in Bezug auf die rauen verhalten?“ fragt der Lieblingsjünger den fterbenden Buddha. „Wenn fie jung ift,“ antwortet diefer, „jo nenne fie Schweſter; iſt fie alt, jo fage ihr Mutter!“ Bournouf verfolgt die Wege de3 Buddhismus vom Ort feines Urſprungs aus, jenen Thälern des Ganges in der Imgegend von Benares, von two jein Stifter die einundjechzig auserwählten Jünger auöfandte, um der Welt „den Buddha, das Gejeh, die Verſammlung“ zu verkünden. Er verweilt mit Vorliebe bei dem Gonftantin der neuen Lehre, dem weijen und in lebter Zeit jo vielgenannten König Acoka, defjen im Jahre 250 v. Chr. erfolgte Bekehrung die äußern Scicdjale der Lehre entſchied, und jchildert Hierauf, wie diejelbe durch die ſtark von ihr beeinflußten Eſſäer das vermittelnde Glied, gleihjam die geiftige Brüde, zwijchen den Nabbinen, den jüdifchen Gnoftifern, den Platonikern und Pythagoräern einerjeit3 und den Parſees und den Buddhiften andererjeit3 gebildet hat. Der Name jelbft der Eijäer, jchreibt Bournouf, be— deutet „Täufer“. Sie übten den Brauch de3 heiligen Bades, der Taufe, wie die Brahmanen und die Buddhiften; wie der Buddha und die Synagoge verurtheilten fie die blutigen Opfer, verfündeten fie die Gleichheit; fie verurtheilten die Sklaverei, beobachteten das Faſten, die Gütergemeinſchaft wie diefe. Die erften Chriſten, Johannes der Täufer, waren Eſſäer; Jeſus Chriftus „s’affile à eux*. Der Manichäismus ift ein effäiiches Reis, das dem ifraelitiichen Copulirungs— proceß zu entgehen geſucht hat. Seine letzte Phaje findet fid) bei den Albigenjern wieder, bei denen wie ein ferner Nachklang indiicher Vorftellungsart und Ge» danfenmwelt vernehmbar ift. In unferen Tagen hat der ausſchließlich jüdiſche Begriff

288 Deutjche Rundſchau.

eines einzigen, perjönlichen Gottes die Oberhand gewonnen: das bubddhiſtiſche Element der Liebe, der Charitas, Hat fich verhüllt. Seine Anziehungskraft und Berechtigung aber find nicht vermindert, nicht verloren gegangen. Zahlreiche Gemeinden, nicht nur in der abendländijchen Welt, jondern über dem Ocean, im modernften aller Staatsweſen, wirken in feinem Geifte fort.

So hat fi im Jahre 1875 zu New-York eine jogenannte theojophiiche Ge ſellſchaft gebildet, twelche die Freiheit und Unabhängfeit des individuellen Strebens nah Wiflenihaft und Tugend verkündet. Das Gentralcomits der Gejelliait ift in Madras, und dev Präfident desfelben redigirt den buddhiftiichen Katechis— mus. hr ausgefprochener Zweck ift die Bekämpfung des Lafter3 und der Selbit- ſucht. Sie ftrebt nad Vereinigung und Unificirung der Religionen und zählt heute bereit3 158 Zweiggejellichaften oder Gantone. Sie kennt fein höheres Ziel al3 die jelbftlofe Erforichung der Wahrheit, die Begründung einer allgemeinen, über alle Länder und Völker ſich erſtreckenden Brüderlichkeit. Der Politik ift fie gänzlid fremd. In zweiter Reihe Hat fie fid) das Studium der arifchen und orientalijchen Religionen und Literaturen zum Zweck gejeßt. Ihre Organe find in Paris der „Lotos“, in London der „Lucifer”. Ihr gilt der Buddhismus nicht als eine Sefte oder eine Religion, fondern als eine moraliſche und intel- lectuelle Reform. Sie ift vor Allem die Reaction gegen den Kampf um das Dafein.

Soweit Emile Bournouf. „Den Buddhismus mag er fennen, aber das Chriſtenthum, wenn er es überhaupt jemals kannte, hat ex vergefjen,“ meinte eine kluge Frau, nachdem fie den eben beiprochenen Aufjat gelefen Hatte. Die jelbe Quelle uralter Weisheit, die den inmitten der driftlichen Gultur aufge wachjenen Franzoſen in die immer noch halb verichlofjenen Tiefen des Orients lodte, hat einen modernen Reformator de3 Brahmaismus der hriftlichen Welt: anſchauung näher gebracht. Ueber ihn, den 1774 in Indien geborenen Rammo— hun Roy, unterrichtet am beiten Max Müller jelöft.

„Sin Mann,“ jagt er, „ber in feiner Jugend ein Buch „Gegen die Jdolatrie in allen Re— ligionen“ jchreiben konnte, und ber jpäter in Haren Worten feinen Glauben an die göttliche Au— torität Chrifti ausgeſprochen hat, war ficherlich nicht geneigt, irgend etwas von bem heiligen Büchern feiner eignen Religion beizubehalten, e3 jei denn, baf er dort diefelbe göttliche Autorität vertreten fand, die er in ber Lehre Jeſu Chriſti wiedererfannte. Er verwarf die Purämas; die Autorität der Gejehgebung von Manu oder jelbft der heiligen Zerte der Vedas würden feine Ueberzeugung nicht erfchüüttert haben. Er war über alles diejes erhaben. Allein er fand im ben Upaniſhads und in ben fogenannten Bebänta etwas von allem Uebrigen durchaus Verſchiedenes. Etwas, das bewahrt zu werben verdiente unb ba3, recht verftanden, das Erbreich vorbereitete, in welchem allein bie wahre Religion, ja das wahre Chriftenthum in Indien Fuß faffen und ſich ausbreiten fonnte, fo wie es ſchon einmal auf Grund ber Philofophie bes Origenes und Eynefis der Fall war... .. Der Tod diejed wahrhaft großen und guten Mannes, ber 1833 in England erfolgte, war einer ber empfindlichften Schläge, die jemals bie Ausfichten auf die Zukunft in Indien trübten. Allein fein Werk, deſſen bin ich gewiß, ift nicht umfonft gethan worden. Wie ein Baum, deſſen erfte, frühe Schößlinge der Froft verbrannte, hat es andere, ftärfere Zweige getrieben, und in einer oder der andern Form, unter einem oder bem andern Namen wird @ wieder aufleben und dauern” !).

E3 ift hier von Gedankenftrömungen die Rede. Während Rammohun Roy durch indifche Kosmogonien und Religionzfyfteme hindurch zum Glauben an

1) F. Mar Müller, „The Upanishads“. Sacred Books of the East, Vol, I, Intro» duetion, LXIT- LXIV.

Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 289

Jeſus Chriftus den Weg fi) bahnt, ſprach Schopenhauer im Vorwort zur erften Auflage des Buches: „Die Welt als Wille und Vorftellung“ die Erwartung aus, der Einfluß der Sanskrit» Literatur auf unfer Denken und Leben werde nicht geringer fein, als es dereinft, im viergehnten Jahrhundert, die Wiederauferwedung griechiichen Geiftes gewefen ıft. Seitdem ift mehr al3 ein halbes Jahrhundert verftrichen, und obwohl buddhiftiiche Ideen einzelne geiftige Richtungen dev gegen= wärtigen abendländifchen Givilifation ohne Zweifel beeinflußt haben, ift feine Aus— fit vorhanden, ala ob unſere moderne Welt gejonnen ſei, in ihren herannahenden alten Tagen plößlich buddhiftiich zu werden. Es ließe fich vielmehr mit ungleich größerem Recht behaupten, daß die Weltanſchauung der Gegenwart dem diametral entgegengejeßten Pol zufteuert, demjenigen nämlich, defjen durchaus pofitiviftiichem Ideal nicht etwa das träumerifche Indien, ſondern das nüchterne China entſpricht. „Denn,“ tie ein gelehrter Kenner altchineſiſcher Literatur ſich ausdrückt, „die alten Chineſen waren lauter Diesfeiter, von einem Jenſeits wußten fie nichts; Himmel oder Hölle, Belohnung oder Beftrafung nad diefem Leben, davon ift nie die Rede“ '). Diefe Aeußerungen beziehen ſich auf die Lage der Dinge im Reich der Mitte vor viertaufend Jahren. Allein feit diefer Zeit hat fih, in Bezug darauf, nur wenig verändert. Als das gefuchte Muftervoll, dem die Vernunft als das Höchſte gilt, „ein Volk von Bauern“, erwedten fie die Betvunderung der Fran— zojen des achtzehnten Jahrhunderts. Nicht nur die Anhänger der phyfiokratifchen Doctrinen, ſondern alle gefühlvollen Herzen ſchwärmten für fie, und den Pariſern Ludwig's XV. wurden die Chinefen al3 Vorbilder gepriefen. Auch Hat jelbft- verftändlich in der Proceffion von Vertretern aller Völker der Erde, die Anacharſis Gloot3 der Conftituante vorführte, der weiſe Schüler des Lade nicht gefehlt, deſſen Rolle wohl ein in der Nähe wohnender Haarkünftler übernommen haben mag, weil ihm der Zopf am nächſten hing.

Dann allerdings fam ein Rückſchlag. Zuerft entdedte man, „daß dieſes wunderbare Volt weder athmete noch ſich bewegte, noch überhaupt Iebte, daß jeine ganze Weisheit nichts Anderes erzielt hatte, als kunſtvolle Automaten zu ſchaffen. Zunächſt deshalb, weil dort der Menich eines fich jelbfl überlegenen Ideales beraubt ift”. Und hierauf, mit den peinlichen Erfahrungen, welche der Gultur des Weſtens von San Francisco bis tief nach Auftralien hinein in Bezug auf John Chinaman vorbehalten waren, traten noch andere, hier nicht näher anzugebende Gründe hinzu. Trotz Allem aber ift die von Gonfucius vor— gefundene und von ihm weiter ausgebildete Lehre, nach welcher der Menſch ur- iprünglich gut und alles Böje auf dev Welt die Frucht jchlechter Erziehung oder ſchlechter Gejehe ift, jo daß der Staat Heilend einzugreifen hat, von demjelben utilitarifchen Zug durchdrungen, der am Schluß diejes Jahrhunderts die moderne Weltanſchauung zu beherrichen droßt.

!) Dr. Blath, „Zwei Sammlungen chinefiicher Gedichte.“ Situngsbericht der bayrifchen Alademie ber Wiſſenſchaften, 1869, S. 245. (Ein Schlukartifel im nächften Heft.)

Deutſche Rundigau. XVI. 8. 19

Franz Pingelftedt. Blätter aus feinem Nadlaf.

——

Mit Randbemerkungen von

Julius Rodenberg.

IV. Der Ausgang der Stuttgarter Zeit.

Die Zeit war ſtiller und die Welt ruhiger geweſen, als einmal, während jenes Ausflugs nad Holland, deſſen er in dem Brief vom 8. September 1845 an feinen Vater Erwähnung thut und den er hernach in feinem „Jusqu'à la mer“ !) fo reizend bejchrieben, Dingeljtedt an einem Sommernahmittag im Hang vor dem Kaffeehauje jaß, von welchem aus der Blick auf den Buitenhof geht. Der Zufall Hat e3 gewollt, daß ich jelber, auf einer Reife nad) England, einen Tag dor dem 15. Mai 1881, an welchem mein unvergeglicher Freund feine Augen für immer ſchloß, an derjelben Stelle mich befand. Vor mir lag das alter graue Gemäuer, welches, mitten in der heut jo behaglichen, baum- und garten- reihen Refidenz, die düftren Zeiten des 16. und 17. Jahrhunderts zurüduuft. Erſt einige Tage jpäter, al3 die Todesnachricht in London mich erreichte, gewann mit jo vielen andren Reminiscenzen, welche grade da Iebendig wurden, ihre volle Bedeutung auch dieſe. Im Rückblick auf das nun abgefchloffene Leben, ward dies Stück Vergangenheit ein ſichtbares Theil meiner eigenen Erinnerungen an ihn; feine Schilderung belebte den wafler-umjchloffenen, feftungsartigen Bau mit jeinen mannigfadhen Flügeln, Stodwerten, Erkern, Winkeln, Brüden und Thorbögen, aus welchen Dingelftedt einft zwei Geftalten hervortreten jah, zwei Schatten: den de3 Statthalter der niederländiichen Union, des Oraniers, mit dem Bei: namen des Schweigjamen, und den des Großpenfionärs, Jan's von Dlbenbarne: veldt. Diefe Figuren, die der Einunddreigigjährige geſchaut, hat ex feftgehalten; der Eindrud war jo mädtig, daß er fich ſogleich vor feinem Auge dramatiſch

!) Jusqu’ä la mer. Erinnerungen an Holland. Bon Franz Dingelftedt. Leipzig, J. I- Weber. 1847. Erſchien zuerft in der „Novellen Zeitung” und ift in bie „Sämmtlichen Werte“ nicht aufgenommen.

Franz Dingelftebt. 291

geftaltete, wie e3 denn auch in feinen Reifenotizen von damal3 heißt: „Wenn Hugo Grotius und jeine Flucht ein Stoff für dad Gymnase dramatique in Paris wäre, jo fteht dagegen die Gedichte der Söhne Oldenbarneveldt’3 wie eine fertige Tragödie da, für deren Bearbeitung ich mir eine glüdliche Stunde und eine ge- Ihicte Hand wünſche“1). Diesmal blieben beide nicht aus, und ihnen, ſowie den Studien, welche Dingelftedt mit gewohnter Gewiffenhaftigkeit an Ort und Stelle machte und die fich, unter dem Niederjchreiben, zum vollftändigen Scenarium enttwidelten?), verdanken wir „Das Haus des Dldenbarneveldt, Trauerfpiel in fünf Aufzügen.” Es ift das einzige dramatifche Werk im hohen Stil, welches wir von Franz Dingelftedt befiten, nicht von jenem gewaltigen Zuge, der über alle Bedenken fiegreich Hinwegreißt; in den Motiven nicht völlig ficher: die Gattin Wilhelm’ Tiebt deifen Bruder und opfert ihn doch, um ben ungeliebten Gemahl zu retten; nicht durchaus original: der Mtalaie Siad erinnert fehr an den Mohren in Schiller’3 „Fiesko“ dennoch ein Stüc von theatralifch ftarker Wirkung, in zahlreihen Aufführungen erprobt, und, wenn man e8 als den An- fang einer dramatiihen Production betrachtet, voll großer Verheißungen für die Zukunft. Aber auch ihnen war Erfüllung verfagt. Außer dem allerliebjten Feitipiel zur Enthüllung der Weimarifchen Dichter-Standbilder „Der Erntekranz“ und den höchft verdienftlichen Bearbeitungen von Shafejpeare’3 „Sturm“, „Winter- märchen“ und „Königsdramen“, ſowie von Moliere'3 „Geizigem“ und „Figaro's Hochzeit“ von Beaumarchais, hat Dingelſtedt dev Bühne nichts weiter gegeben und diefe Bearbeitungen jelbft entiprangen eher dem Bedürfniß des Directors, al3 dem des Dichterd. Auch hier Hat Dingelftedt mehr verſprochen, als gehalten, und abermals fragt man fich, wo, bei feiner unzweifelhaften Begabung, feinem ftarfen Willen und unermüdlichen Fleiß der Defect zu juchen fei, ber ihn immer, im legten Augenblick, beftimmte, den Teichteren Erfolg demjenigen vorzuziehen, der mit einer gewiljen Entjagung verbunden war? Das Tagebuch de3 Knaben, welcher fiegreih um die höchften Preife der Schule wirbt und zugleich fih am Gomödiejpielen ergößt, beanttwortet dieje Frage nicht oder läßt fie wenigſtens offen; aber wenn man das Gonvolut von Papieren in Dingelftedt'3 Nachlaß betrachtet, auf welches er mit Rothftift und in den großen Zügen feiner jpäteren Sahre: „Dramen-Stoffe” gejchrieben hat, dann hat man doch das Gefühl, ala ob er, mit einem halb fchmerzlichen, Halb jpöttiichen Lächeln, Abſchied nehme von den ſchönen und Hohen Träumen feiner Jugend. Und auch das war Reſig— nation, und eine größere vielleicht als die, welche den Abftand zwiſchen Wollen und Vollbringen ausfült. Denn Hier finden ſich vereint all’ jene dramatijchen Entwürfe, welche, zum Theil bereit3 in ziemlich ausgeführter Geftalt und ſchon vor diefer Stuttgarter Zeit angefangen, ihn weit über diejelbe hinaus bis in die Weimarer begleitet, und immer wieder, in längeren oder fürzeren Abftänden, beihäftigt haben: hHiftorifches Trauerjpiel, Tragödie, Schaufpiel, Luftipiel, Con- verjationd- und Volksſtück mit Gejang Nichts hat er unverfucht laſſen wollen und nichts fertig gemacht. Die beiden Sujet3, welche ihm vor Allen am Herzen

!) Jusqu'à la mer, S. 131. 2) Daf., S. 131 —137.

292 Deutiche Runbichau.

gelegen und auf welche ex die meifte Zeit und Arbeit verwandt hat, find Milton und Andre Chenier die große englifche und die große Franzöfifche Revo- lution. Daneben liegt, aber offenbar aus einer früheren Periode ftammend, ein Plan zu „Caglioſtro“, wie denn überhaupt, bei dem Fehlen jedes anderen ficheren Nachweiſes, die hronologifche Reihenfolge hier einzig aus den fuccejfiven Veränderungen der Handſchrift und gelegentlichen Erwähnungen gleichzeitiger Er⸗ icheinungen fi annähernd beftimmen ließe. Was aber diefen Blättern, welde die Spuren fo vieler Jahre tragen, einen ganz eigenthümlichen Reiz verleiht, ift der Umftand, daß Dingelftedt fie zur Begutachtung einigen Freunden mittheilt, von denen einer, der fih „G.“ unterzeichnet, wahrſcheinlich der Hofichaufpieler Grunert war, auf deffen Urtheil (laut den Tagebüchern) Dingelftedt viel gab, während die beiden Andren der Identität ihrer Perfon nach unzweifelhaft feit- geftellt werden fünnen: Eduard Devrient, der verdiente Gejchichtichreiber der deutſchen Schaufpielfunft und feit 1852 Leiter des Karlsruher Hoftheaters, der Eine, F. W. Hadländer, der Verfafjer einiger feiner Quftipiele, welche die beutjche Bühne heut noch zu ihren Repertoirftücden zählt, dev Andere. Die Zeit, in welcher dieſe Notizen gemacht worden find Devrient jchreibt mit Blei: feder, Hadländer mit Tinte kann nach den oben angedeuteten Merkmalen nur ganz im Allgemeinen al3 das Decennium vom Ende der vierziger bis zu dem ber fünfziger Jahre bezeichnet werden; doc kommt es darauf nidht an, um dieſe Blätter zu einem literariſchen Guriofum zu machen und bem vertraulichen Meinungsaustaufch dreier Männer Werth zu verleihen, welche jo vortrefflide Dramaturgen waren, wie Dingelftedt, Devrient und Hadländer.

Wir beginnen mit Milton, welcher fi, nad mannigfacdhen Abwandlungen des Plans und de3 Titels, in dem legten Brouillon: „Ein blinder Seher, Schau: jpiel in fünf Aufzügen“ überjchrieben findet. „ft der Stoff nicht zu kitzlich im Augenblid und auf dem Hoftheater?” fragt Dingelftedt. Darunter jchreibt Devrient: „allerdings“.

Dingelftedbt: „Sinb die Dramen, beren Helden in ber Literaturgefchichte ſtehen, nicht Nococo ?*

Devrient: „Je nachdem.“

Dingelftedt: „Jamben oder Proja?“

Devrient: „Jamben.”

Dingelftebt: „Wird bie hier nothwendige puritaniiche fyarbe nicht als Gopie ber temonftrantifchen bei Barneveldt erjcheinen ?“

Devrient: „Wenn der Stoff einmal angegriffen wird, jo darf man fi mein’ id vor allen möglichen Aehnlichkeiten nicht ſcheuen.“

Dom „Chénier“ haben wir drei Vorlagen: ein kurz gefaßtes Expoſé und zwei Scenarien mit dem veränderten Titel: „Ein Opfer der Zeit, Trauerjpiel in fünf Aufzügen,“ das erſte mit vollftändigem Perfonenverzeihnig und erheblid breiter ausgeführt als da3 zweite, welches in feiner knappen Faſſung die zum ersten gemachten Ausftellungen theilweife ſchon berücdfichtigt.

Wir betrachten zunächft jenes.

Dingelftedbt: „Doch wohl Jamben?“

Devrient: „Ich glaube nicht. Dieſe Zeit darf man dem Boben ber Wirklichfeit nicht entheben.“

j Dingelftedt: „Iſt diefe Zeit jchon wieder möglich auf ber Bühne?“

Franz Dingelftebt. 293

Devrient: „Ich Halte fie überhaupt noch für zu früh, indeß käme es auf den Tichter an.“

Dingelftedt: „Sind die Dichter als dramatische Helden nicht Rococo?“

Devrient: „Der Dichter dürfte eben nur dem Menjchen ein jchöneres Golorit geben.”

Dingelftedbt: „Iſt das Publicum unbefangen genug, um ein Gedicht Hinzunehmen, das fich feſt auf royaliftiiche Seite ftellt?*

Devrient: „Das müßte e& doc nicht. Joſeph Chénier mühte doch die republitaniiche Idealität aufs Glängenbfte repräfentiren.”

Dingelftebt: „Ter Brüder Bruch ſchließt den Aufzug. Iſt das (ober fcheint es) Copie aus Barneveldt ?“

Devrient: „Die völlig verjchiebenen Motive werben die Aehnlichkeit ſchon ausſchließen.“

Der Gedanke, die franzöſiſche Revolution in dem Conflict der beiden Brüder darzuftellen, von denen Andre, der ältere, Girondift und Joſeph Convents— mitglied war, muß an ſich ein ſehr glüclicher genannt werden ; wenn freilich aud) beide Scenarien zeigen, daß Dingelftedt ji nur in den äußeren Umriſſen feines Trauerſpiels an die hiftorifchen Vorgänge zu halten gedachte, während namentlich die Figur feines Helden dem rührenden und idealen Bilde wenig gleicht, welches der hiſtoriſchen Wahrheit entiprochen Haben würde. Faſt jcheint ed, als ob Dingelftedt einige von den weſentlichen Zügen desjelben in tendenziöjer Abficht verändert hätte, worauf auch der in einer der obigen Tragen ausgedrücdte Zweifel hindeuten mag: es ift André's leidenichaftliche Liebe zur Königin, die diefen ins Verderben ftürzt. Um ein ſolches Motiv möglich und annehmbar zu machen, mußte jein notorifches Verhältniß zur Frau von Lecouteur, der „Fanny“ feiner Dden, völlig aus dem Spiel gelafjen und die reizende Vtademoijelle de Coigny, Herzogin von Fleury, der er fein Schwanenlied, „La jeune captive* gejungen bat, in André's Milchſchweſter, Gabrielle, verwandelt werden. Der Schaus plaß des erften Actes ift das Gut des Heren von Chenier, des Vaters, in Süd— frankreich, und die Zeit der Sommer 1789. Dan feiert das Nojenfeft; die Liebe Gabrielle'3, die von Andre nicht erwidert wird, während Dominique, der im Dienfte der Chenierd fteht, vergeblih um fie wirbt, offenbart fi), ala plötzlich Sofeph erſcheint und die Nachricht von der Erftürmung der Baftille mitbringt. Begeiftert von dem erften Aufflammen der Revolution folgt Andre dem Bruder nad Paris, und weinend entblättert Gabrielle ihren Rojenkranz. Hier menden wir und zum Scenarium Nr. I

Dingelftebt: „?. Scenenfolge fehlt mir noch, während fie in ben vier anderen Aufzügen gegliedert und lebhaft vor mir ſteht. Ich bitte um Hülfe.“

Devrient: „Kann fi) nur der Autor jelbft gewähren, weil ſich's hier nicht um Gruppirung der Handlung, jonbern um Anlage der Charaktere handelt, von denen Niemand weiß ala der Autor.“

Don unbetannter Hand (gleichfalld mit Bleifeber): „Derjelben Meinung.“

Dingelftedt: „Soll Gabriellens Mutter zum Schluß eine Vifion haben, die Anmwejenden ohne Köpfe, ihre Tochter mit blutigen Roſen gekrönt ſehen? Soll die Alte überhaupt verlommen? Die Folge braucht fie eigentlich nicht; ich meine aber, da3 junge Mädchen bürfe nicht allein in das Stüd hinausgeſtoßen werben?!“

Devrient: „Sch bleibe dabei, daß die Alte eine überflüffige und bloß theatralifche Figur ift.“

Bon der unbetannten Hand: „Die Alte könnte jchon kommen, aber ohne Pifion.“

Der zweite Act jpielt in Paris, in Chenier’3 Haus, 1792. Dominique, welcher der fiegenden Sache ſich angeichloifen, ift Gefängnigtmärter geworden ;

294 Deutſche Rundicau.

und von Gabrielle zurückgewieſen, Hat feine Wuth gegen Andre fi aufs Aeußerfte gefteigert. Diefer, „im Stillen der ſchönen Königin einen ritterlichen Gult weihend,“ ift ganz auf die Seite der Befiegten getreten, ala Ariftofrat jchon verdächtig geworden und in einer „visite domieiliaire* jucht man ihn im Haufe feines Vaters, wo der erwähnte Bruch mit dem Bruder erfolgt.

Dingelftedbt: „Soll ber Act am 10. Auguft felbft ſpielen?“ (Es ift der Tag, an welchem ber Pöbel bie Tuilerien flürmt und die königliche Familie gefangen genommen wirb.) „Andre fommt mit gezüdtem Degen aus ben Zuilerien, bie Verfolger hinter ipm? Draußen Gemehrfeuer?*

Devrient: „Ja wohl!”

Act drei ſpielt im Temple, 1793, im Vorzimmer des zum Tode verurtheilten Könige. Andre Chenier dictirt Gabriellen den „appel au peuple“, mit welchem der König fi an die Nation wenden joll. Gabrielle beſchwört ihn, von dem gefährlichen Unternehmen abzulafjfen: er jchreibe fein eignes Todesurtheil. Aber, „tiefglühend für Marie-Antoinette,” ftürzt Chenier ab, um jein Werk dem König und deſſen Vertheidigern vorzulegen.

Dingelftebt: „Gabrielle hat einen Monolog, in Gebet auslaufend.“

Devrient: „Ja keine preghiera!“

Andre kommt zurück, verklärt, bejeligt die Königin hat ihm ihr Tafchen- tuch gejchentt.

Dingelftedt: „Vielleicht könnte der Dauphin hier felbft flüchtig und nur mit drei Worten ericheinen?“

Devrient: „Ich glaube nicht. Der Dauphin darf nicht für einen bloßen Moment ber Theaterrührung mißbraucht werben.“

Der Het ſchließt damit, daß ein Deputirter eintritt, der den Bürger Chenier im Namen de3 Geſetzes verhaftet.

Dingelftebt: „Graufen, inftinctmäßige. Wer war ber Mann? Marimilian Robespierre!“

Devrient: „Noch weniger Nobeapierre; ich bleibe babei, fein Zufchauer wird zufrieden jein, ihn bloß ala Statiften für einen blinden Theaterconp verwendet zu ſehen.“

Von ber unbelannten Hand: „Sehr wahr!“

Die beiden lebten Acte des erften Scenariums jpielen im Gefängniß von St. Lazare. Der vierte zeigt und im Beginn das Leben der Gefangenen, von denen Einige, jo dicht vor dem Tode noch, Proben echt gallifchen Leichtfinns, Andre Beifpiele hohen Heldenmuthes geben. Man hört den Henkerskarren heran- rollen; der appell nominal, die Opfer de3 Tages bezeichnend, wird von Dominique verlefen, und die Hefatombe fährt ab. Andre bleibt zurück. Robespierre, in ben furchtbaren Kämpfen, die feinem Sturze vorangingen, hat ihn vergeiien. Ta tritt, ganz zerichmettert, der alte Chenier ein: er fommt von Robespierre. Durch jeine Fürbitte hat der Unglücdliche den Tyrannen an fein Opfer erinnert und das Leben, das er retten wollte, dem Untergange preißgegeben. Wenn Gabrielle nicht noch zu helfen vermag, ift keine Hoffnung mehr.

Devrient: „Es ift eine Graufamkeit, den alten Bater in feiner Liebe den Tod dei Sohnes verſchulden zu laffen. Welch’ ein fittliches oder tragiiches Moment ſoll dadurch lebendig werbn? Ich finde e3 nicht. Zudem ift dadurch num das eigentliche Stüd zu Ende, ber äußere Aufichub, ben das Publicum aus Gabriellens Vermittlung hoffen fol, ift ein mechanifcher, d. h. er geht aus der Idee des Stüdes, aus der Entwidlung der Charaktere nicht organifch hervor. Es ift ein Theaterhülfsmittel für die Virch- Pfeiffer, nicht für Franz Dingelftedt.“

Franz Dingelftedt. 295

Diefer Scheint das Bedenken Devrient’3 anticipirt zu haben: da, wo zum Schluß, Dominique erjcheint, um Andre vor das Revolutionstribunal zu citiren, und über den Worten Gabrielle 3 „Rette ihn, umd ic bin die Deine!“ der Vorhang fällt, Schreibt Dingelftedt:

„Dber fol Dominique jagen: „Wenn ih Did) noch will?" Oder foll er „ſich's über: legen?” Die Spannung zum fünften Aufzug muß bier ftarf gemacht werden; wie ? —)“

Der fünfte Aufzug fpielt zwei Tage vor dem 9. Thermidor und in André's Zelle.

Devrient: „Wefentlich ift biefer Act nur bie Fortſetzung des vorigen, d. h. in Entwidlung ber eigentlichen Materie; Beweis, daß der vierte Act nicht richtig ift und neu erfunden werben muß, ein befferes, aus der Anlage des Stüdes mehr organifch hervorgehendes Glied ber Vers längerung der ‘Peripetie, damit die Kataftrophe dem lebten Act rein verbleibe.“

Andre ſchlummert auf feinem Lager, der Morgen jeiner Hinrichtung ift an— gebrodhen. Sein Schwanengefang liegt neben ihm. Der Bater und Joſeph treten leife herein. Das Lied von der „jeune captive“ wird verlejen, Andre erwacht und lieft e3 jelber zu Ende, legt die Hände von Vater und Bruder zur Berjöhnung ineinander und nimmt Abjchied, als Dominique und Gabrielle her— zufommen. Sie hat das Opfer gebradht, der Gefangenwärter will den Gefangenen in feiner Uniform entfliehen laffen. In diefem Augenblik erhält etwa un- glaubliher Weife! Andre Kunde von der (beveit$ dor länger als einem halben Jahre erfolgten) Hinrichtung dev Königin: nun will er die VBorangegangene nicht überleben, ex überliefert fi) dem Henker, und Gabrielle erfticht fich zu feinen

üßen. * Devrient: „Ich weiß nicht, mit welch” einem Intereſſe der Dichter Gräber begaben müßte, daß dieſer Tod nicht ganz nebenfächlich ſcheinen follte.“

Dingelftedt jelber war übrigens zweifelhaft; nah dem Worte „Schluß“ jchreibt er:

„(Zt der Selbfimorb des Mädchens nöthig? Nah meinem Gefühl: unbedingt ja. Ich möchte nur für Andres Tod ein anderes Motiv, aber welches?! Phrajen, daß die Welt zu schlecht ſei zc. genügen im fünften Aufzuge nicht; ich brauche eine That.)“

Devrient: „Hier frantt es eben, das fühlt der Autor; mit kleinen Mitteln ift aber nicht zu helien, die Architektonik der beiben leiten Acte muß gefunden werben.“

Seltjam, daß weder Dingeljtedt noch Devrient ſich hier des hiſtoriſchen Factums erinnert haben, nach welchem Chénier in den Tod ging, indem ex fid) vor die Stirn jehlug mit den Worten: „C'est dommage, il y avait quelque chose la!“ Das hätte wohl ein befjeres Motiv ergeben!

Eine Hand, in der wir diejenige Hadländer’3 erkennen würden, auch wenn die Zeilen nicht mit einem „H.“ unterzeichnet wären, jchrieb an den Rand des Bogens:

„Bon allen Bemerkungen be3 Herrn Devrient Scheint mir feine einzige jchlagend.“

Dennoch ift Dingelftedt den Winken Devrient's in einigen Hauptpunkten gefolgt. Abweichend vom erften Scenarium, in welchem Robespierre am Schlufje de3 dritten Actes nur auftritt, um ſogleich wieder zu verjchtwinden, führt der vierte de zweiten Scenarium3 und direct in „die Höhle des Löwen“, und Dingel- ftedt bemerft dazu:

296 Deutſche Rundſchau.

„NB. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß Robespierre fein Griepenferl!) iſt; er ſpricht im Profa, wenig, kurz, kalt, in unerbittlicher Logik.“

Auf dieſe Weiſe waren in der That denn die beiden letzten Acte gänzlich umgeſtaltet: was im erſten Scenarium nur referendo mitgetheilt wird, begibt ſich hier in lebendiger Handlung vor den Augen der Zuſchauer. Der alte Chénier und Robespierre ſtehen ſich hier perſönlich gegenüber. Zwar das von Devrient ſo hart getadelte Motiv, daß der Sohn durch den Irrthum des Vaters fällt, konnte nicht beſeitigt werden, und Dingelſtedt beruft ſich zu ſeiner Recht: fertigung auf Alfred de Vigny, der in feinem „Stello“ die Scenen zwiſchen Chénier, Vater und Sohn, und Robespierre Thon erzählt hat. Aber Gabriele gibt ſich nicht ſelbſt den Tod. jondern geht unter in einem verunglüdten Mord: verſuch auf Robespierre. Diejer erfcheint no einmal am Ende des fünften Auf: zugs in André's Zelle: der Drache hat den Schwan überwunden, die Perfpective auf den 9. Thermidor ſchließt das Stüd.

Devrient’3 lebte Bemerkung lautet:

„sm Uebrigen ſchließe ich mich der Anficht an, daß dad Gtüd, welches vortrefflich werden gann, jet nicht den Theatern anzubieten ift, und aljo ala ein Mittel, Sie zur Zeit auf ber Bühne zu Habilitiren, nicht zu betrachten ift. Dichteriſch ift der Stoff ſehr zu empfehlen, praftiih ar nicht.

a o Das Belte, dad Du willen fannft, Darfft Du den Leuten jetzt nicht jagen. Ed. Di.“

Es folgt nun eine Reihe dramaticher Entwürfe, deren Annotationen, nad dem „SH.“ der Unterjchrift und dem Ergebniß der Schriftvergleihung von feinem Andren, als Hadländer herrühren können. Das erfte der hier in Rede ftehenden Stüde jollte „Der Ungar und jein Kind“ heißen; und jchon der „Schauplat: „Ungarn 1849” deutet darauf hin, um was es ſich handelt. Bei feinem Anden der literariichen Generation, zu der er gehörte, oder der Schule, von der er aus— gegangen, drängt ſich die politiiche Tendenz, die Neigung für das, was „zeit: gemäß“ ift, immer jo fehr in den Vordergrund, wie bei Dingeljtedt, der es an mehr al3 einer Stelle feiner Briefe ſowohl als gedrudten Schriften ausfpridt, welchen Reiz für ihn die Laufbahn eines Staat3manns oder Diplomaten gehabt haben würde. Nachdem er die Handlung feines Stüdes entwicelt, macht er den

Zuſatz: NS

„Diejer Plan liegt mir fehr nah und faft mehr als jeder anbere in meiner Sphäre. €:

fragt fih nur:

„1. Ob der Berluft aller öfterreichifchen Bühnen jebes Falls, vielleicht der meiften deutſchen Hoftheater, nicht wichtig genug ift, um namentlid am Anfang einer Garriere von beijen Behandlung abzubringen?

„2. Ob die ungarische Revolution nicht noch zu dicht vor uns flieht, um behanbelber zu fein?

') Robert Griepenterl, Profefjor der Literatur an ber Braunfchweiger Gadettenanftalt, hatte damals eben, zu Anfang ber fünfziger Jahre, durch feine beiden, nach heutigem Geſchmack etwas ſchwülſtigen, aber durch bie Bewegung der Zeit getragenen beiden Trauerfpiele „Marimilien Robespierre* und „Die Gironbiften", zu welchen Litloff eine lärmende Ouvertüre gefchrieben, großes Auffehen erregt.

Franz Dingelftedt. 207

„Derjelbe läßt fich auch öfterreichiich umkehren: Mikloſch und Wilma werben Tiroler, Bäarday ein Wälfchtiroler, Fürftin Weißenfels eine Belgiojofo. Dann hätte das Stüd in Wien x. ſpecifiſches Schidfal, vielleicht aber in Deutjchland feinerlei Sympathien. Man müßte dann „jodeln“ darin!

„Endlich ift er auch möglid in ber Vendéec. Mikloſch und Wilma werben xoyaliftiiche Bauern, Bürday ein mit der Revolution (1830!) ralliirter Edelmann. Diefe Wendung fagt mir jedoch am wenigften zu!!).

„Das Hauptmotiv: Gegenjah der Bolksthümlichkeiten innerhalb des öfterreichiichen Kaiſer— ftantes, möchte ich nicht verloren gehen jehen!”

Darunter jchreibt Hadländer:

„Bon biefem Gegenftand rathe ich ab.“

Der nächſte Stoff ift noch fragwürdiger und ſcabröſer. Auch ohne daß Dingelftedt neben den Titel: „Armida“ mit Rothftift in kräftigfter Fractur (Lola!“) gejet Hätte, würde man, durch die leichte WVerjchleierung, die wahren Figuren erfennen: die jpanifche Tänzerin und ben deutjchen Fürſten. Abweichend von der Wirklichkeit, die doch nur eine Farce war, hebt der Dichter den Vor— gang in die tragische Sphäre von „Kabale und Liebe" obwohl er an der be= treffenden Stelle bemerkt: „feine Nahahmung der Milford-FFerdinand-Scene, weil moderner!” und läßt das Stüd al3 Trauerſpiel enden: der Erbprinz, um dad Land zu befreien und feine Mutter zu rächen, zugleich im Conflict mit der eigenen Leidenſchaft, erftiht die ehemalige Tänzerin, die Mätrefje des Herzogs, jeineg Water, zu deſſen Füßen.

Dazu bemerkt Dingelftedt:

„NB. Mein Lieblingeplan. Zeitgemäheft. Aber unmöglichl?! —“

Bon unbefannter Hand: „Ganz nur nach innerer Mahnung.“

Hadländer: „Der Stoff ift jehr gut, muß aber durchaus jo behandelt werben, daß ber Prinz in dem abenteuerlichen Weibe, das fi ihm fo geheimnigvoll nähert, erft jehr fpät und im entiheidenden Moment die Geliebte ſeines Vaters erkennt. (Hier ift, zum beſſeren Verſtändniß, einzufchalten, dab ſchon bei Dingelftebt der Erbprinz als aus ber Fremde heimkehrend gebadht wird.) Das ift auch leicht zu machen, indem der Armiba jelbft daran liegen muß, unerfannt zu bleiben, jo lange es geht, ba fie mit dem Inſtinct ber Gefallenen wohl ahnt, wie ber in erfter Liebe für fie erglühte Jüngling fie betrachten wird, wenn er weiß, wer fie if. Sie fpielt daher fortwährend Verſteckens mit ihm, fieht ihn überall, nur nicht bei fich, und läßt ihn ruhig feine Träumen fpinnen und rathen und meinen. Je mehr er fie nun in feiner Phantafie zum deal der Weiblichkeit fleigert, die Fremde, Geheimnißvolle nämlich, deſto tiefer finft bie wirtlide Armida in feinen Augen, jo da er ihr überall aus dem Wege geht und nirgenba ericheint, wo er fie erwarten darf. Der Dichter darf jogar eine fühne Scene wagen, wo er flütigft mit ihr zufammentrifft, und, da fie ſich raſch abwendet, gar feinen Verdacht ber Iden⸗ tität faßt, ſondern nur mit ber Natur hadert, daß fie ihre ebelften Formen nicht beſſer zu Rathe hält. Wenn nun der Enthufiaamus auf der einen und ber fanatifche Abjcheu auf ber anderen Seite ben höchſten Grab erreicht haben, die Kataftrophe. Große Scene mit dem Vater; Kampf, aber für die Mutter; Armiba erfcheint; der Prinz wird furchtbar enttäufcht und erfticht fie und ſich.“

Einen allexliebften Luftipielftoff erzählt der Entwurf: „Herr Oberfellner!“ Graf und Baron treten, um zu frühftüden, in das Gaftzimmer eines Bade— orte3, während im Hintergrunde der Oberfellner den Speijezettel enttwirft. Der

1) Den Papieren Liegt ein Brouillon bei, in welchem dieje „Wendung“ dennoch verjucht wird: „Angelifa. Trauerfpiel in fünf Aufzügen. Zeit: Frühjahr 1832. Ort: Vendée, Paris, Marſeille.“ Unnöthig zu fagen, dab ber eine Plan jo wenig wie der andere zur Aus: führung gelommen if.

298 Deutſche Rundſchau.

Graf vertraut dem Baron, daß er heut und Hier feine Zukünftige erwarte, die Tochter eines reichen Landedelmannes, die ex jeit ihrem zehnten Jahre nicht mehr gejehen hat, aber, feiner derangirten Lage wegen, zu heirathen entſchloſſen ift. Ihm graut vor dem erften Begegnen. Der Baron, um dem Freunde Ge— Yegenheit zu geben, die Braut unbefangen fennen zu lernen und mit einer Poſſe in die Eheftandstragödie einzutreten, räth ihm, mit dem „Herrn Oberfellner“ Kleider und Rolle zu taufchen. Dies geihieht. Die Braut jedoch, die das Bild des jeit der Kinderzeit geliebten Jünglings treuer im Herzen beivahrt, erkennt unter der Maske den ihr Beftimmten: und um Gleiches mit Gleihem zu er: widern, führt ihrerjeit3 fie mit der Zofe dasjelbe Spiel auf. Das Reſultat er- räth ſich: zwei Liebespaare, der vermeintliche Oberfellner mit der vermeintlichen Zofe und der wirkliche Oberfellner mit der wirklichen Zofe beſchließen das Stüd.

Dingelftedt: „Wenn die Beichäftigung mit einem ſolchen Stoff und Plan nicht ein zu tiefer Fall oder Rüdichritt von den Anläufen zu hoher Tragödie ericheint, jo habe ich nicht übel Luft, zu eigener und fremder Erheiterung dies „Gonverjationsftüd“ recht bald auszuführen. Es fehlt fo durchaus an Komödien, daß hier auch das Werth: und Weſenloſe guter Aufnahme faft überall gewärtig fein darf. Ich denke dabei an beitimmte und vortreffliche Darfteller an ber Wiener Burg, wo Wilhelmi den alten Edelmann Luiſe Neumann feine Tochter die Wildauer ihre Zofe Fichtner den Grafen Meirmer den Oberfellner ſehr hübſch machen würden.“

Hadländer: „Der bloße Stoff degrabirt ben Werth eined Dramas nie und nimmer, und ich fenne feinen glüdlicher gewählten. Dies Stüd lönnte ein treffendes Abbild umferes ganzen modernen Lebens werben; was hinderte den Dichter 3. B., bei einem Rahmen, der feiner Ratur nach breit jein muß, auch die in Wirthöhäufern aus: und einftrömenben Nomadenfiguren der Reifenden zu benußen und jo die Symbolifirung unferer Zeit zu vollenden? Mein Rath märe: daran! Und das jobald ala möglich!”

Ber Gelegenheit eines „Volksſtückes“, welches den Titel „Muſikaliſche Zwil- linge“ führen joll, wird die frage nad) Anwendung des Hans-Sachſiſchen Senittelverfes auf der modernen Bühne, und anläßlich eines Schaufpieles „Vier Jahreszeiten” die Berechtigung des Künftlerdramas erivogen. Die vier Jahre: zeiten gruppiren fid) jo, daß im Frühling, dem exften Akt, Ellinor, das Mit glied einer in England umberziehenden Gomödiantentruppe, dem Sohn eines Friedensrichters, Frank, zuerft begegnet und zugleid; von dem Impreſario der italienifchen Oper in London, der fie das Lied der Ophelia im „Hamlet“ fingen hört, „entdeckt“ wird. Der zweite Alt, Sommer, zeigt fie im Zenith ihres Nuhmes, ald Königin der Saifon „(Poſition A la Lind!)“ bemerkt Dingel— ſtedt dazu. Sie beichließt ihre Carriere damit, daß fie der Werbung eines Lords Gehör gibt; und Frank, der ihr gefolgt iſt, verflucht fie für ihren doppelten Verrath: 1. an der Kunſt, 2. an der Liebe. Im dritten Alt, Herbſt, erbliden wir Gllinor mitten in der Welt der Herzoginnen und Gräfinnen. Sie ift unbefriedigt, und im vierten Akt, Winter, Echrt fie zur Bühne zurüd, unterliegt aber den Intriguen einer Nebenbuhlerin und endet in ihrer alten Mutter und Frank's Armen,

Dingelftedt: „Sollten Künftlerdramen nit noch eine Weile ruhen?"

Hadländer: „Diefe Art Rüdfichten fommen nicht in Betracht; das Vortreffliche ift zeitlos. Aber das Thema ift, jo weit der flüchtig aufgezeichnete Plan ein Urtheil geftattet, zu äußerlich gefaht. Gin Künftlerdrama entfteht nur dann, wenn das Schickſal des Menichen ber unmittels bare Ausfluß feiner Künftlernatur if. An diefer Wechielbeziehung fehlt es aber, fie müßte er— funden werden und troß bes allgemeinen Fundaments ganz ins Individuelle verlaufen. Lieben

Franz Dingelftebt. 299

bürfte die Heldin ben frank auf feinen Fall, wenn fie fpäter einen Lorb heirathen foll; fie müßte ihn nur zu lieben glauben oder vielmehr in ihrer unbewußten Naivetät gar nicht wiſſen, ob fie liebt oder nicht. Den Lord dagegen müßte fie allerdings lieben, während er jelbft nur die berühmte Künftlerin im Auge hat und feinen Stolz darein jet, diefe ber Deffentlichkeit zu ent⸗ ziehen und hinter feinen Theetifch zu ftellen. Das gäbe eine tiefe piychologifche Verlreuzung nad) allen Seiten und eine Reihe echt dramatiſcher Scenen; zwijchen ihr und Frank, der fie zerfchmettern will und von ihr zerfchmettert wird, da fie, zur Erkenntniß ihrer felbft gelangt, fich auf bie Naturmacht berufen kann; zwiichen ihr und dem Lord; ja, in einem Monolog, zwifchen ihr unb ihrem Gewiflen jelbft, das ihr ben Treubruch an der Kunſt vorwirft, die Zurüdnahme des einmal gelobten Opfers. Die Kataftrophe wäre dann fo herbeizuführen. In der Ehe geht es, wie es nicht jelten gebt: ber Lorb wird nad) und nad warm, weil er einfieht, daß ein edles Weib immer noch mehr ifl als bie größte Künftlerin; fie aber wird kalt, weil fie erfennt, daß ein einzelnes Individuum ihr für die reiche große Welt, bie fie aufgab, nimmermehr Erfah zu leiften vermag. Nun fucht fie in einer Nüdkehr zur Bühne eine Vermittlung, bie er natürlich ver: abichent. Sie läßt fich nicht zurüdhalten , er will fie nicht aufgeben, und fpielt ihr nun jelbft aus befter Abficht all’ die Intriguen, bie fie vernichten. So hat man überall tragiſche, b. 5. unlösbare Gegenfähe; die Mijere darf nicht wiederkehren.“

Das merfwürdigfte der zu dieſer Kategorie gehörigen Blätter ift vielleicht dasjenige, weldhes „Keime zu Dramen“ überjchrieben iſt, mit dem Hinzu— fügen: „[NB. Des Meifters Auge möge entjcheiden, welche triebkräftig find und jeiner Zeit gelegt werden jollen.]* Diejes Blatt ift Beiden, zuerft Devrient, dann Hadländer unterbreitet worden, und der biäherige Dialog entwidelt ſich Hier ftellenweife zum Dreigejpräd).

1. Ludwig ber Fromme. (Ein deutjcher Lear!)

Dingelftebt: „Liegt er nicht zu fern?”

Devrient: „Grabe, daß er jern liegt, gibt ihn dem Dichter zu freiem Schalten.“

Dingelftedt: „Darf man auf die ewige beutfche Wunde (Zerfplitterung) die Hand Legen?”

Devrient: „Man fann e8 nicht genug thun, glaube ich.“

Hadlänber: „Würde fich ſchon aus dem Grunde fehr gut cignen, weil man doch vor ber Zerfplitterung noch das Ganze jehen könnte.“

2. Roufjeau in Motierd. Der Weife unter dem Pöbel. Wahre und falſche „Freiheit“.

Hackländer: „Widerftrebt wohl der dramatiſchen Behandlung, indem ber Weiſe ſich fo wenig barftellen läßt, wie die reine Linie eine Geftalt gibt. Wir müffen überall das Krumme aufjuchen, um es grade zu biegen.“

3. Florian von Geyer. (Bauernkrieg.)

Dingelftebt: „Führt wohl zum Zendenzdrama? Iſt die Concurrenz mit bem „Propheten“ zu Halten? Die gleichftoffigen Stüde von Bauernfeld und Mofen jcheinen vergeſſen.“

Devrient: „FA ein ſehr jchöner Stoff; ich fenne ihn genau, da ich ihn für Mendelsjohn zur Oper bearbeiten wollte. Goncurrenzen muß man nicht fcheuen; ift der Stoff ergibig, fann er immer wieber gebraucht werden.“ .

Hadländer: „Ohne Zweifel höchſt ergibig; die Klippe wird fein, daß ber Dichter hier mit der bloßen Realität nicht ausfommt, da fie zu wüſt war und fich auch nicht in ben Idealismus verlaufen darf. Doc das wäre eben das Problem.“

4. Catilina. Claſſiſcher Spiegel für moderne Zeit. (In Cicero die Uebermadt des Wortes!)

Hadländer: „BVortrefflicher Griff; Cicero könnte bis in die franzöfiichen Kammern hinein fpiegeln.“

5. Heinrid der Löwe. (Kaijer und Fürft, Reich und Land.)

Hadlänbder: „Hier hätten wir unfer altes Reich ala Mittelpunkt, e3 nimmt fich aber nur als Hintergrund erträglich aus. Ich wäre nicht dafür.”

300 Deutihe Rundicau.

6. Goethe's Wahlverwandtihaften. Dramatifirt.

Hadländer: „Kaum! Wohl zu erwägen!“

7. Eine Epifode aus den deutjchen TFreiheitäfriegen, etwan Körner, unter dem Titel „Leier und Schwert”. 1. Akt: Sein Wiener Theaterleben. 2. Akt: Am Lager der Freiwilligen, Lützow's wilde veriwegene Jagd. 3. Akt: Kampf und Tod.

Hadländber: „Wiürbe etwas geben; nur mühte hinter dem guten Hörner, der gar nicht wußte, was eigentlich in ber Welt vorging, eine höhere Potenz flehen, ein Staatömann, ber ihn magnetifirte, ohne daß er's merkte“ !).

8. Der deutſche Figaro. Ein Barbier als politiicher Agitator. Satire auf 1848,

Hadländer: „Sold’ ein Etüd, das all! die Erfahrungen jenes Jahres über die In: verwüftlichkeit der Vanfennatur?) auffummirte, wünjchte ich mir, mur bürfte es nicht bei der blohen Satire ftehen bleiben, jondbern müßte, wern auch nur wenig, ind Tragiſche fallen.“

9. Ein politijher Fauft, der die Freiheit judt. Von Mephiſto begleitet und enttäufcht, durchtvandert er Europa vom 24. Februar 1848 (in Paris) bis zum..... (Termin der Entſcheidung in Paris.)

Borjpiel im Himmel: Sturm der Titanen (Strauß, Teuerbad, Hegel 2.) gegen den alten Gott. Borjpiel auf dem Theater: Jetzige Theatermijere, (zwiſchen Dichter und Schaufpieler erörtert) Prolog, von Goethe'3 Schatten an unfere Zeit geſprochen.

Einzelnheiten: In Auerbach's Keller die politifche Lyrit Walpurgisnadt im Meßkatalog. Straßentampf in Wien, Dresden, Berlin.

Dingelftedt: „Nicht für das Theater, fondern für bie Literatur?“

Hadlänber: „Nur für die Literatur; theatraliich-dramatiich würde es jchwerlich ausfallen.‘

Daß wir ftatt all’ diefer Dramen, oder doch einiger davon, nur ein geift: reiches Trrag- und Anttwortipiel haben, mag ganz im Charakter Franz Dingel: ftedt’3 jein; aber es ift nicht weniger jchade darum, bejonder3 wenn man fieht, wa3 er aus ſolchen Anfängen zu machen wußte, ſobald er es ernft damit nahm und nicht fi begnügte mit dem bloßen Einfall. Inter den Entwürfen if einer, aus dem etwas geworden, fein Drama zwar, aber ein Roman und jein befter: „Die Amazone”. Hier, im Brouillon, wo der Dichter noch an die dra- matiſche Geftaltung dachte, lautet der Titel „Kreuz » Mariage”, der fpäter, im Roman, in der Ueberſchrift des zehnten Capitels als „partie carrde* wieder zum Vorſchein fommt. Die Skizze, wie wir im Nachlaß fie finden, ift bezeichnend für Dingelftedt’3 Verfahren bei der Arbeit. Von einer fortlaufenden, oder nur einigermaßen firirten Handlung ift in diefen Blättern feine Rede; jo daß e— fcheint, wenn man da3 zu Stande gefommene Wert mit ben vielen nicht zu Stande gefommenen vergleicht, al3 ob fein Intereſſe am Stoffe ſich mit dem

I) Hier können wir freilich, in der Auffafjung der hiftorischen Bewegung, welche damals bie ganze Jugend ergriff, mit dem guten Hadländer nicht übereinftimmen, der doch ſonſt immer, in theatralibus, ben Nagel fo ziemlich auf ben Kopf traf.

2) Diefe Anipielung auf dem „ſchlechten Kerl" in Egmont klingt jaft wie eine Gonfeffior Hadlänber’s und bezeichnet die Stimmung in gewiffen Kreifen unmittelbar nad) 1848.

Anm. des Herausg.

Franz Dingelftedt. 301

Vergnügen des Fabulirens und Erfindens erſchöpft habe. Keine Geſchichtserzäh— lung, wie in den oben mitgetheilten Entwürfen. Dagegen finden fich die dra- matis personae ziemlich ſcharf umriffen, und jede hat ihr eigenes Blatt, ganz und gar, die Kreuz und Quer, mit raſch hingeworfenen Aphorismen und Glofjen bedeckt, aus denen alle weſentlich individuellen Züge der Figur hervorfpringen mit Scenenanjäßen und Dialogfragmenten untermifcht, twelche diefem Embryo Ihon einen Pulsſchlag dramatiichen Lebens verleihen. Diefe Blätter, mit den Figuren darauf, jehen ſich an wie die Blätter eines Kartenjpiels, welche hernach Hug zu combiniren, Sache des günstigen Augenblids ift. Aber an den Figuren jelbft ift fein Zweifel; man würde fich ein Bild von- ihnen machen künnen, auch wenn man fie nicht aus dem Buch fennen Iernte; fie ftehen feft und deutlich in dem dramatischen Entwurf aus den fünfziger Jahren, wie wir jie fpäter in dem Roman vom Ende der jechziger Jahre!) wiederfinden mit all den raſch Hin- gejchriebenen Bemerkungen, welche zumeilen im Entwurf noch exrpreifiver find als im Roman. So 3. B. wenn der Diplomat der alten Schule, Guftel Wallenberg, „Le Comte Auguste de Wallenberg, Chambellan et Ministre de... und jo weiter, zwei Reihen voll ftolger Titel” zu feinem Attachs fagt, dem Fürften Paul Seh zu Neuje » Seffenheim, der „der jüngften Jugend unjerer Zeit“ angehört: „Ihre Mutter hat meine Erziehung gemacht; das war die qute Zeit, als man noch im Salon und durch Frauen erzogen wurde.“ Oder wenn er, im Entwurf, ihm vertraut, was Dingelftedt nachmals im Roman ihn Klüglich verſchweigen läßt: „Die Völker wollen ſchon lange nicht3 mehr von uns (den Diplomaten) wiſſen; wenn num die Fürſten erſt anfangen, ihre Gejchäfte jelbft zu machen, dann Gut-⸗Nacht unfere ganze Herrlichkeit." Ebenfo der Maler: „Nach Cornelius, Kaulbach Landfeer, fajhionable Maler in Paris und London”; Seraphine, „die leidenſchaftliche Künſtlerin“, Armgard, „das wohlerzogene, ſchlaue Weltkind“, und deren Vater, der reiche Bankier und self-made man, „ein jehlichter, einfacher Bürger”, wie er bei jeder Gelegenheit wiederholt „der Herr Principal”, wie er fih nad alter quter Sitte von feinem Gomptoirperfonal nennen läßt Geldftolz gegen Adelftolz, mit dev Devife: „Time is money* und ber Erklärung für den heutigen Weltſpruch „Ora et labora“: „Die eine Hälfte herrſcht, indem fie betet, die andere, indem fie arbeitet.” „Arbeite ich nicht?“ fragt der Künft- ler. „Sa, ja, jo, jo,” antwortet der Kaufmann; „die Leinwand, welche die deutichen Maler verbrauchen, reicht hin, um die ganze deutſche Handelsmarine mit Segeltuch zu verjehen.“ Ein Mann, der fi) fühlt; „was ift Bildung?“ ruft er aus. „Das ftolze Modewort de3 Tages 75% Einbildung und 25%

Nahbildung.” Das Problem ift die Künſtlerehe. „Eine Primadonna heirathet man nicht.” „Warum nicht?” „Sängerinnen find Fresken; man bewundert fie von

Weitem, man betet fie an, man liebt fie meinethalben bis zum Wahnfinn. Aber heirathen? Nie!” ... „Sie, Roland, der Mann einer Sängerin, ein QDueen-Gonjort, ein Schatten? Ueberall im Genitiv ftehen? ...“

1) Die „Amazone* erichien zuerſt 1868.

302 Deutiche Rundſchau.

Aber Dingelftedt wußte, daß e3 auch jehr glüdliche Künftlerehen gibt, jelbft wenn bie Sängerin nicht eine „Geborene“ war, eine verfappte Gräfin aus Schottland, wie Seraphine, die Amazone, jondern ein einfaches Bürgermädel aus Prag, wie Jenny Lutzer.

Roland und Seraphine, der Maler und die Sängerin, auf der einen, Guftel MWallenberg und Armgard, der vornehme Herr und da3 Bankierdtöchterlein, auf der anderen Seite, dazwiſchen, feinen Segen ſpendend, Hans Heinrich Krafft, der Millionär aus dem „ff“ fürwahr, es würbe fein übles Tableau getvejen jein zum Schluß des fünften Aktes. Doc) die Frage beifeit gelafjen, ob Dingelftedt vermocht, es auf der Bühne jo vor ung hinzuftellen, wie e8 im Romane jet vor ung fteht: diefer hat durch feine Genefis eine dramatiſche Lebendigkeit und ftellen: weiſe jogar eine ſceniſche Anichaulichkeit gewonnen, die jetzt exjt, jeitdem der Entwurf vorliegt, auf ihren legten Grund zurücgeführt werden kann.

Tür das dramatiiche Können indefjen gibt „das Haus des Barneveldt“ vollgültiges Zeugnig. Das Stüd, vom 27. April bis 31. Juli 1850 gejchrieben. machte raſch jeinen Weg über die großen Bühnen Deutſchlands. Am 20. Or tober 1850 berichtet Dingelftedt feinem Freunde Vogel über eine „jehr günſtig ausgefallene Darftellung in Dresden“, und jendet ihm zugleich ein Eremplar für die Stadttheater-Direction in Nürnberg. „Es wird mich freuen, wenn es dort ebenfall3 recht bald zur Aufführung gelangt. Du kannſt meine Stelle dabei ver- treten, aud) das nad) dortiger Hebung zu bemefjende Honorar für mich einziehen und brüderlich mit mir theilen.“ Am 26. October an denjelben: „Ueber die hiefige (Stuttgarter) Aufführung will ih Dir eine Originalcorrefpondenz ſchicken; nod werthvoller wäre mir’3, wenn Du über die Münchener eine ſolche brächteſt. Da ih dann wahrjcheinlich jelbft nad; München gehe, werde ich Dich entweder dorthin einladen, oder dafür jorgen, daß der „Correſpondent“ qut bedient ſei. Ach will und bedarf feine Gevatterbriefe, aber perfönliche Feindfeligkeiten, in Kritiken maskirt, wie die de3 Dresdener Journals, muß ich mir auf einem ohnehin ſchwierigen Wege und bei den erften Schritten auf demjelben doch vom Hals zu halten und durch wahrheit3gemäße Berichte zu balanciren juchen. Ueber die Wiener Aufführung halte Dih an den Lloyd... . Nah Wien gehe id noch nit, in die Neichäzeitung am wenigften. Du nah Schmalkalden? Das wäre ſcheußlich; ich würde Dir meinen väterlichen Fluch (portofrei) nad jenden.”

Um 9. December gleihfall3 an Vogel: „Mein Stüd bricht fi Bahn. Am 5. diejes war es in Mannheim; Oberregiſſeur Düringer fchreibt mix, „es habe tiefften Eindrud gemadt.“ In München, wohin ich morgen früh gehe, joll es am 15. oder 17. fein. Won dort aus werde ic) Dir vertraulich fchreiben .. . Am beften wär's, Du fämft jelbft, um zu jehen und gejehen zu erden.“

Hier num beginnt die Zeit der „Münchener Bilderbogen“, in welchen es, ©. 15, heißt"):

„Mittwoch, ben 18. December, ging das Haus bes Barneveldt endlich glüdli in Scene. Glücklich: denn der Grfolg war ein echter, voller, nicht einmal durch das Decrescendo des Stüdes beeinträchtigter, der die ſtärlſten Accorde im erften Aufzug anſchlägt. Wie viele Epigonen können

!) Münchener Bilderbogen. Von franz Dingelftedbt. Berlin, Gebrüder Paetel. 1879.

Franz Dingelftedt. 303

einen fünften Act fchreiben? Wie oft ift er ben Heroen, ben Glafjifern geglüdt? Der verehrte Dichter wurde dreimal gerufen und erichien mit liebenswürbiger Bereitwilligfeit, an ber linken Hand feine „Mutter", Fräulein Denker, an ber rechten feine „Heldin“, Fräulein Damböd, galant vorführend. Nachdem der Vorhang gefallen, große Gratulationscour auf den Brettern, und bann fibele Kneiperei im „Stubenvoll* der Maler. Mitternacht war längft vorüber, ala mich Freund Zeichlein zum Baprifchen Hof geleitete. Aber ich war und blieb nüchtern, wie mir auch hinter ben Gouliffen weder ein tüchtiges Kanonenfieber noch eine trunfene Siegerftimmung gelommen war.“

Aber dennoch flogen die folgenden Tage in Saus und Braus dahin; „id ließ mic feiern und ging von ber einen Hand in die andere, aus dem Salon in die Kneipe, vom häuslichen Heerd zur feftlichen Tafel,” und am 31. December, immer noch in München, erhielt ex ein von Pfiftermeifter unterzeichnete Cabinets- ſchreiben, des Inhaltes: „Seine Mtajeftät der König, mein allergnädigfter Herr, haben unter dem heutigen Sich zu entichliegen geruht, die Leitung des Königlichen Hoftheaterd dahier Ihnen . . . zu übertragen.“ Am 1. Januar 1851 fuhr Dingel- ftedt, zum legten Male, nad) Stuttgart heim. Das erfte Blatt des Tagebuches von 1851 enthält die Worte: „Neujahrsgeſchenk: Intendanz. 11 Uhr früh von Münden. Kurze Raft in Augsburg. Von 3—11 nad) Ulm. Einer der ſchönſten Tage meine? Lebens ;" und am 3. Januar, „am Tage der Erlöfung“ , jchrieb er folgendes Gedicht, tweldhes wir aus dem Nachlaß mittheilen:

Meiner Jenny. Harre noch ein kleines MWeilchen In dem bumpfen, büftern Haus, Und wie diefe Winterveilchen Wieder blühend fchlägft Du aus. Günftiger ald Schwabens Boden MWird ber bayriſche Dir fein; Friſcher Lüfte freier Odem Ladet dort erwedenb ein. Auferfteh’n, ja auferftehen MWirft Du aus dem engen Grab, Das mit Kämpien und mit Wehen Hier Dein Leben rings umgab. Drum ein Weilchen noch geduldig, Liebes Weib, im alten Haus.

Diel ift dad Geſchick Dir ſchuldig, Und Dein Gatte zahlt es aus.

Nach der Poeſie die Profa; jedoch eine von Frohſinn und freudigem Lebens— muth überfprudelnde: Dingelftedt lädt die Schwefter jeiner zweiten Mutter, das alte treue Hausmöbel ein, aud im neuen Heim zu München ihre Stelle wieder zu übernehmen. Sie hatte früher ſchon, als Jenny Dingelftedt, während der Satjon von 1847 in London neue Lorbeeren erntete, bie Stelle der Haus- frau zu Stuttgart vertreten, die Kleinen Kinder verhätſchelt und die „Rekruten“ berangebildet, nämlih Köchin und Stubenmädchen ... „jene Künftlerin beſitzt ſchon meine ganze Hochachtung, und Sie wiſſen, das will was heißen. Dann war fie nach Hefjen zurückgekehrt, in die ftille, Ländliche Heimath unter den Kloftermauern von Möllenbeck, die Dingelftedt mit feinem Water, dem Herrn Kloftervogt, in den Kinderjahren jo manchmal beſucht Hat. Ihr, und durch fie

304 Deutihe Rundſchau.

den Seinen, theilt er num die große Neuigfeit mit, indem er ihr zugleich, durd) die Schilderung der Verhältniſſe Luft zu machen juht, mit nah München zu fommen. Und wenn Dingelftedt fih auf Bitten und Schmeicheln verlegte, da fonnte gewiß fein Herz ihm twiderftehen, am wenigſten da3 einer alten Tante. Hier iſt der Brief:

Ich begrüke Sie liebe Tante, mit herzlichem Neujahrswunſch und mit einer jehr, ſehr jrohen Nachricht, an welcher Ihre treue Seele ben lebhafteften Antheil nehmen wirb.

Geftern bin ih von München zurüdtehrt und zwar ala Intendant be3 dortigen Hoftheaters. Ihnen Jenny's Freude und Glüd zu ſchildern verfuche ich gar nicht: wiffen Sie doch, wie dad arme Weib nad einer Erlöfung von hier fich jehnte. Eine ſolche hätte ihr in angenehmerer Weiſe ala durch meine neue Stelle nicht werben können: biejelbe ift 1) fehr glänzend, weil ich das ganze, große Theater unter mir habe, unmittelbar unter dem König ſtehe und thun fann was ich will; fie ift auch 2) jehr vortheilhaft, weil ich ein höheres Gehalt als hier, geficherte Penfion, Umzugskoſten u. ſ. w. kriege; fie ift endlich 3) jehr angenehm, weil München eine reizende Stabt ift, babei nicht theuer, mitten in der Welt gelegen. Zu arbeiten wird es freilich geben, manches auäzuftehen auch; indeß das Ziel ift der Mühe wert. Sobald ich meinen Abſchied hier erhalten habe, breche ich auf, wahricheinlih ſchon in vier Wochen. Jenny mit den Kindern folgt zu Georgii im April. Gott wirb feinen Segen zu bem neuen Leben geben, welches wir dort beginnen werben!

Daß ih an Sie die Nachricht fchide ftatt an den Vater oder an Auguften, benen Eie biefelbe jebocd gleich mittheilen werben, hat feinen beſonderen Grunb.

Ach flelle nämlih an Sie nun die wiederholte Bitte und frage, ob Sie nicht zu ums zurüdtehren wollen, bürfen, können? Ach fpreche Ihnen nicht davon, wie lieb dies uns perfönlic fein würde, lafjen Sie mich vielmehr darauf Hinweifen, dba Sie es in München umenblich befjer bei una finden, als in Stuttgart. Wir müßten bort ein Haus machen, beifen Führung Jenny, die wieder Weltdame werden muß, Ihnen unbedingt in die Hände legt; Sie werben mitten in einen luftigen, prächtigen Kreis treten, ber Ihnen Unterhaltung bieten wird, nicht blos Arbeit, Einjamfeit, Sorge. Unſere Reifen hören auf, alſo aud Ihre Verlafienheit. München bat Ahnen auf ber Durchreife gefallen, es wird als Aufenthalt Ihnen noch befjer behagen vom bayrifchen Bier nicht zu reden, von Fränzchen, Jella und Willi auch nicht, die Ihnen jetzt ſchen unendlich mehr Freude ala Laft machen werben, von meinem Theater auch nicht, gegen welches ba3 hiefige eine Hütte ifl. Für heike Sommermonate haben Sie das bayrifche Hochland im ber Nähe, das wir in allen feinen Reizen kennen lernen, bejuchen, genießen werben. Laflen Eie fich verführen, liebe Tante; denken Sie nicht blos an bie Mama, für beren Pflege Sie ja bort wohl die rechte Hand finden werben, benten Sie vielmehr zunächſt an Ihr Leben, an Ihre Zu: tunft, die Sie mir vertrauensvoll anheimftellen dürfen, und ein bischen an und, bie wir, im ber neuen Lage, bei jeder Wendung Sie vermiffen und bedürfen werben. Wenn Sie irgenb können, fo beichwöre ich Sie, meiner Einladung zu folgen, und zwar fo bald als möglich, etwan Embe März, damit Sie meiner Frau bei der Mobilmachung des Hauſes Hilfreiche Hand leiften. Ich werde faum wieder von München fort können, um fie zu holen: eine furdptbare Maſſe von Ger ichäften wartet dort auf mich, und in ber erften Zeit werde ich für Weib und Kind nicht auf ber Welt fein. Ueberlegen Sie ſich, ich bitte dringend darum, die Sache genau und jagen Eie recht bald mir Beicheib: können Sie nicht was id) indeh nicht annehmen mag jo mühte ih in Münden für eine fremde Stellvertreterin forgen. Mein ganzes Haus aber erwartet und rehnet auf Sie!!

Neues weiß ich nichts Hinzugufügen: Jella und franz fpielen unter ihrem Ehriftbaum, Willi Schläft mit der Uhr ein, welche ex feiner Nana (Karoline) beicheert hat. —- Ich war wieder auf Ehriftabend fern von Haus, aber wir haben geftern Abend das Verfäumte nachgeholt und einander fchön befchenkt. Ihr Zeller liebe Tante, bleibt leer bis zum nächften Jahr.

Herzlichſte Grüße an die Unſrigen; jagen Sie dem Alten: der Sohn, auf weldyen er am wenigften gehalten, werbe ihm am meiften Ehre und Freude machen!

Ihr Etuttgart 4. Jan. 51. Franz Tingelftebt mp.

Politische Rundſchau.

Berlin, Mitte April.

Eine hiſtoriſche Begebenheit vollzog ſich am 29. März auf dem Lehrter Bahnhofe zu Berlin, als Fürſt Bismarck nach ſeinem Rücktritte ins Privatleben die Reichshauptſtadt verließ, um ſich nach Friedrichsruhe zu begeben. Als ob die Dankbarkeit des deutſchen Volkes für die unauslöſchlichen Verdienſte, die Fürſt Bismarck um ſein Vaterland ſich erworben hat, in einem hochbedeutſamen Acte zuſammengefaßt werden könnte, lieh die hauptſtädtiſche Bevölkerung ihren Sympathien für den Staatsmann, deſſen Wirken und Schaffen in goldenen Lettern in den Annalen der Weltgeſchichte verzeichnet ſteht, beredteſten Ausdruck. Sind Kaiſer Wilhelm I. und Kaiſer Friedrich, die Be— gründer der deutſchen Einheit, vom Tode abberufen worden, jo weilen die beiden Männer, welche an dem großen Werke der nationalen Wiedererſtehung in hervor— ragendſter Weiſe mitwirkten: Fürſt Bismarck und Graf Moltke, glücklicherweiſe noch unter uns, allein ſie ſind von dem Schauplatze abgetreten, auf dem weltgeſchichtliche Thaten zu verrichten ihnen beſchieden war.

Im Gegenſatze zur Heldenverehrung Thomas Carlyle's möchten wir jedoch daran feſtgehalten wiſſen, daß ſelbſt die größten Männer einer Nation nur deren eigene Tüchtigfeit widerfpiegeln,, jo daß das deutjche Volt, welches im Jahre 1870—71 zugleich mit feiner Opferwilligfeit auch feinen inneren Werth an den Tag legte, nur ſich felbit geehrt hat, ala es dem Fürſten Bismard beim Abjchiede in ergreifender Weiſe feine Erkenntlichkeit befundete. Wer, wie der Schreiber diejer Zeilen, an jenem dentwürdigen Juliabende des Jahres 1870 den patriotifchen Scenen beimohnte, die fi) damals vor dem Palais des Königs Wilhelm, vor den Minifterien der Aus— mwärtigen Angelegenheiten und des Krieges abipielten, ala dem Könige jowie feinen treueften Ratbgebern, dem Grafen von Biömard und dem Sriegäminifter von Roon, in enthufiaftiicher Weile zugejubelt wurde, befitt den Maßſtab für die Beurtheilung des Abjchiedes vom 29. März 1890. So darf denn von einem Augen» und Obren- zeugen dieſes Abjchiedes auf dem Bahnhofe jelbft die Vorgänge in den Straßen bildeten nur die Ginleitung der Hauptbegebenheit verfichert werden, daß die fran— zöfifchen Blätter nicht übertrieben, die in ihren Berichten hervorhoben, daß Aehnliches in Berlin noch nicht erlebt worden fei. Die Hauptjtädtiiche Bevölkerung wollte feinen Zweifel über ihre Werthichägung des Fürſten Bismard beftehen laſſen. Die Gefinnungen, welche fich gewiffermaßen mit elementarer Gewalt an jenem denfwürbigen Tage kund— gaben, bieten aber auch die volle Bürgichaft, daß des früheren Reichskanzlers Ausſpruch in Bezug auf die Furchtlofigfeit der Deutichen in vollem Maße berechtigt ift. Nicht von bangen Zweifeln zeigten fich die Theilnehmer an jenen Kundgebungen dantbarer Sympathie ergriffen; vielmehr gelangte auch das berechtigte Selbjtvertrauen eines in barter Schule erzogenen, durch bedeutfame Lebenserfahrungen gereiften Volkes zum harakteriftiichen Ausdrude.

Deutihe Rundſchau. XVI, =. 20

306 Deutſche Rundſchau.

Daß die Widerſacher Deutſchlands, die jedes politiſche Ereigniß in ihrem Sinne deuten, fich beeilten, den Rücktritt des Fürſten Bismarck als ein Symptom für den bevorftehenden Zufammenbruch des europäifchen Friedensbündniſſes, der ZTripelallianz zu bezeichnen, kann nicht überrafchen. In folchen Fällen zeigt ſich eben am bdeut- lichten, wie unbequem und verhaßt diefes Bündniß allen Störenfrieden in Europa ift. Um fo empfindlicher muß daher die Enttäufchung diefer Elemente fein, wenn fie nun— mehr der Weberzeugung fich nicht verjchließen können, daß die Friedenspolitik, welche den Kern der Allianzverträge Deutjchlands mit Jtalien und Defterreich-Ungarn bildet, auch in Zukunft maßgebend bleiben fol. Deshalb wurde auch in dem Grlafie, in welchem Kaifer Wilhelm II. das Demiſſionsgeſuch des Fürften Bismard genehmigt, vor Allem der Hinweis mit Genugtduung begrüßt, in welchem die Verſicherung, den Frieden nach Kräften zu wahren, von Neuem enthalten ift. Es heißt dajelbit: „Was Sie für Preußen und Deutjchland gewirkt und erreicht haben, was Sie meinem Haufe, meinen Vorfahren und mir gewejen find, wird mir und dem deutjchen Volke in dank— barer, unvergänglicher Erinnerung bleiben. Aber auch im Auslande wird Ihrer weiien und thatlräftigen Friedenspolitit, die ich auch künftig aus voller Ueberzeugung zur Richtichnur meines Handelns zu machen entjchloffen bin, alle Zeit mit ruhmvoller Anerkennung gedacht werden.“

Da die chauviniftiichen Organe in Frankreich, jowie die panjlawiftiichen Blätter in Rußland nicht ermangelten, aller Welt zu verfündigen, der von ihnen dem Kaiſer Wilhelm II. zugefchriebene ungeftüme TIhatendrang könnte den nunmehr feines beften Rathgebers in der auswärtigen Politik entbehrenden Souverän zu kriegerischen Abenteuern verleiten, jo darf im Zufammenhange mit den mitgetheilten Abjchiedsworten an den früheren Reichskanzler auf die feierliche Verpflichtung Hingewiejen werden, die Kaiſer Wilhelm II. nach feiner Thronbefteigung in der Thronrede zur Eröffnung des deutichen Reichdtages freiwillig übernommen hat. Dieje bedeutfamen, ſelbſt die zaghaiteften Gemüther beruhigenden Worte lauten: „In der auswärtigen Politik bin ich entichlofien, Frieden zu halten mit Jedermann, jo viel an mir liegt. Meine Liebe zum deutfchen Heere und meine Stellung zu demjelben werden mich niemals in Verfuhung führen, dem Lande die Wohlthaten des Friedens zu verfümmern, wenn der Krieg nicht eine durch den Angriff auf das Reich oder deſſen Verbündete uns aufgedrungene Noth— wenbdigkeit ift. Unſer Heer ſoll uns den Frieden fichern und, wenn er uns dennoch gebrochen wird, im Stande fein, ihn mit Ehren zu erfämpfen. Das wird es mit Gottes Hülfe vermögen nad) der Stärke, die e8 durch das von Ihnen einmüthig be fchloffene jüngfte Wehrgeieg erhalten hat. Diefe Stärke zu Angriffsfriegen zu benußen, liegt meinem Herzen fern. Deutjchland bedarf weder neuen Kriegsruhmes noch irgend welcher Eroberungen, nachdem es fich die Berechtigung, als einige und unabhängige Nation zu beitehen, endgültig erkämpft hat.“

„Ein Kaiferwort ſoll man nicht drehen noch deuteln“ jo daß alle freunde bes europäischen Friedens, infofern Deutjchland in Betracht fommt, der Zukunft um jo ruhiger entgegenjehen können, als die vom Kaiſer Wilhelm II. in großem Stile geplanten jocialen Refdrmen die Aufrechterhaltung des europäifchen Friedens zur erften Borausjegung haben. Diejenigen, welche dem deutjchen Kaiſer behufs Irreführung der öffentlichen Meinung gefliffentlich kriegeriſche Beſtrebungen zuſchreiben, laſſen ſich denn auch ſelbſt von nicht gerade lauteren tactiſchen Erwägungen leiten. Iſt in dem verbündeten Dejfterreich - Ungarn fogleich nach dem Nüdtritte des Fürſten Bismarck deutlich erfannt worden, daß dieſes Ereigniß troß feiner politischen Tragweite keines» wegs im Ffriegerifchen Sinne aufgefaßt werden dürfte, jo ift diejelbe wohlberechtigte Meinung auch in den maßgebenden Streifen Italiens zur vollen Geltung gelangt. Nicht verhehlt werden darf, daß, wie in Italien feit geraumer Zeit die Franzoſen⸗ freunde bemüht find, an der Tripelallianz zu rütteln, auch der jüngjte Anlaß zu folchen Verſuchen benußt werden follte. Will die weit überwiegende Mehrheit der italienischen Bevölkerung das europäifche Friedensbündniß erhalten jehen, fo richtet fich der Aniturm der weniger zahlreichen ala geräufchvollen Widerfacher insbefondere gegen den leitenden

Politifche Rundſchau. 307

Staatsmann, den Gonjeilpräfidenten Crispi. Wird diefer num auch mit Recht feiner Züchtigkeit und Zuverläffigleit wegen vom Fürften Bismarck als Staatdmann und perlönlicher Freund hochgeſchätzt, jo verbürgt doch gerade das Berbleiben Crispi's in feiner leitenden Stellung, jowie ala Minifter des Auswärtigen, daß, wie in Deutjch- land und Defterreich- Ungarn, auch in Stalien eine ausgeprägte Friedenspolitif nach wie vor die Richtſchnur bilden fol. Daß parlamentariiche Schwarzfeher den durch liberale Diffidenten unter der Führung Nicotera’8 herbeizuführenden Sturz des gegen- wärtigen italienischen Gonfeilpräfidenten prophezeien, ändert an der friedlichen Situation um fo weniger, al3 längjt befannt ift, daß, jelbjt wenn Nicotera wider Erwarten in abjehbarer Zeit berufen fein jollte, die Leitung der Staatögeichäfte zu übernehmen, der Charakter der Tripelalliang nicht im geringſten abgefchwächt werden würde. Nur die Sranzojenfreunde wären um eine Enttäufchung reicher. In diefem Zufammenhange darf auch betont werden, daß Diejenigen irren, welche dem europäifchen Friedens— bündniffe eine Lediglich dynaſtiſche Bedeutung beimefjen. Vielmehr entipricht es zu- gleih auch in vollem Maße den Lebensinterefjen der betheiligten Staaten und Völker. Hieraus erklärt fich der Haß, mit welchem die Tripelallianz, der ſelbſt alle Angriffs- bejtrebungen fern liegen, von den Gegnern bedacht wird, jo daß jedes geringfügige Symptom, das auf eine bevorjtehende Störung des Bünbdniffes fchließen laffen könnte, zu einer Haupt und Staatsaction aufgebaufcht wird.

Bedürjfte es aber noch eines weiteren Beweifes für die Ihatfache, daß Kaifer Wilhelm II. feine unzweifelhaft friedliche Gefinnung auch in Werten des Friedens zum Ausdrude bringen will, jo braucht nur auf die am 29. März d. 9. gejchlofjene Berliner Arbeiterfchuß Conjerenz hingewieſen zu werden. Selbſt Diejenigen, welche in ihrer Stepfis jo weit gehen, daß fie daß von der Gonferenz erzielte Ergebniß für bedeutungslos erachten, müſſen zugeftehen, daß die Einberufung der Gonferenz von einer durchaus jriedfertigen Gefinnung vollgültige® Zeugniß ablegte, und daß eine Verwirklichung ſolcher Socialreformen ſelbſt in beſcheidenem Maßſtabe, wenn überhaupt, nur in tiefem Weltfrieden möglich iſt. Wie charakteriftifch erſcheinen in dieſer Hinſicht die Vorgänge, die fich mach der Unterzeichnung des Schlußprotocoll® der Berliner Conferenz abipielten! Sämmtliche Delegirte zollten der Anfprache des Vorſitzenden, des preußiichen Handelsminifters von Berlepſch, Beifall, ala eines der von der Konferenz erzielten GErgebniffe dahin formulirt wurde, daß eine Grundlage gefunden wäre, auf welcher der Gedanke, der arbeitenden Glaffe in den induftriellen Staaten Europa's einen erhöhten Schuß, eine größere Sicherung ihrer materiellen, phyſiſchen, moralifchen und intellectuellen Kräfte zu gewähren, fortleben und weiter ausgeitaltet werden könne. Nicht minder wurde in der Ansprache hervorgehoben, wie die Feſtſtellung gelungen jei, daß es einheitliche internationale Gefichtspuntte gebe, nach denen die Löfung der Trage des Arbeiterſchutzes von den Regierungen der einzelnen Länder ins Auge geiaßt werden könne, natürlich unter Berüdfichtigung der eigenthümlichen Berhält- niffe ihres Landes. freilich verhehlte der Worfiende der Gonferenz andererfeits nicht die Schwierigkeiten, die in Betracht fommenden Fragen des Schubes der Arbeit durch deren Beichränkung nach Art, Zeit und Dauer auch nur von einem einheitlichen Gefichtspunkte aus zu betrachten. Sicherlich ſprach dann der englifche Vertreter, Sir Hohn Gorft, zugleich allen übrigen Delegirten aus dem Herzen, ala er das erfreuliche Ergebniß der Berliner Gonferenz dahin zujfammenfaßte, daB diefe Zujammenkunft Hoffentlich nicht die lebte fein, und daß man fich jpäter nur mit Dankbarkeit der Spnitiative des Kaiſers Wilhelm II. erinnern werde, wenn Millionen von Kindern dem Elend entzogen und ebenjo viele Frauen dem häuslichen Leben wiedergegeben fein würden. Die Solidarität der Delegirten der verfchiedenen Staaten war auch bereit3 am Abende vorher zum erfreulichen Ausdrude gelangt, ala unter Anderen ber Vertreter Dänemarks, Tietgen, und derjenige Frankreichs, Jules Simon, die menjchen- freundlichen Beitrebungen der Berliner Gonferenz in den Vordergrund rüdten. Nur Utopijten können wähnen, daß durch diefelbe alle politiichen Gegenſätze aus der Welt gebracht werden könnten; immerhin bleibt aber die Thatſache beftehen, daß es außer

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308 Deutfche Rundſchau.

den Gegenſätzen im Leben der Völker auch verjöhnende, bindende Elemente gibt, und daß deren Pflege und Ausgeftaltung wiederum der Givilifation, den Werten des Friedens dient. Mögen auch die volkswirthſchaftlichen Autoritäten in überzeugender Weiſe Hlarlegen, daß eine internationale Regelung der Arbeitözeit der Ertwachjenen im Hinblide auf die Verfchiedenheiten der Production, des Klimas u. ſ. w. unmöglich iſt, jo erfcheint doch nicht ausgefchloffen, daß in Bezug auf die Regelung der Aıbeit in Bergwerfen, jowie der Kinder: und Frauenarbeit dankenswerthe Reformen erzielt werden. Man braucht nur an die in Emile Zola’3 Roman „Germinal” gejchilderten Mibftände im Bergbau zu erinnern don Sachverftändigen wurde beim Erſcheinen diefes „Sittenromans“ die Treue mancher Schilderung zugegeben um zu zeigen, daß es fich bei den geplanten Reformen des Arbeiterfchußes nicht etwa um ein fpecielles Intereſſe Deutjchlands Handelt.

Die Arbeiten der Berliner Arbeiterfchuß-Eonferenz werden unzweifelhaft zunächſt in der Vorlage fich fruchtbar erweifen, welche dem auf ben 6. Mai einberufenen deut- ſchen Reichätag in der bevorftehenden oder einer jpäteren Seſſion unterbreitet werden fol. Der neue Reichskanzler von Gaprivi, der in parlamentariichen Berhältnifien bereitö wohlerfahren und von der Zeit her, in welcher er mit der Leitung der Admi— ralität betraut war, wegen feiner Pflichttreue und feines Entgegenfommens allgemein geihägt ift, wird in einer der erften Seffionen des deutjchen Reichstags auch Gelegenheit haben, eine neue colonialpolitifche fowie die militärifchen Vorlagen zu vertreten, welche leteren unter Anderem eine wefentliche Verſtärkung der Feldartillerie bezweden. Im der Sitzung des preußifchen Abgeordnetenhaufes vom 15. April entwidelte der neue Reichskanzler und Minifterpräfident feine allgemeine Auffaffung der Lage. Er lieh der Ueberzeugung Ausdrud, daß das Gebäude, das unter der hervorragenden Mit- wirkung des Fürſten Bismard, feiner genialen Kraft, feines eifernen Willens , jeiner tiefen Baterlandäliebe entjtanden, jet genug gegründet und gefügt ift, um auch, wenn feine jtüßende Hand fehlt, Wind und Wetter wibderftehen zu können. Iſt an diefer Stelle ftet3 von Neuem darauf hingewiejen worden, daß das Staatswohl durch öden PBarteizwift nicht gehindert werden kann, jo durfte in der Rede des Reichskanzlers der jenige Theil mit bejonderer Genugthuung begrüßt werden, in welchem hervorgehoben wurde, daß die Regierung das Gute nehmen würde, von wo und durch wen es aud fomme, und daß diefem Guten Folge gegeben werden folle, wenn dies mit dem Staats wohle vereinbar wäre.

Was die auswärtige Politik betrifft, jo Liegen bereits authentifche Kundgebungen des zugleich mit der Leitung des Minifteriums des Auswärtigen betrauten neuen deutjchen Reichskanzlers vor, aus denen erhellt, daß das Bündniß Deutjchlande mit Italien und Oefterreich- Ungarn auch in Zukunft die fichere Grundlage der auswärtigen Politik Deutichlands bilden wird. Die Schreiben, welche General von Gaprivi an die leitenden Staatsmänner der verbündeten Monardhien, an Crispi und den Grafen Kalnoky, ge richtet hat, laſſen über die Herzlichen Beziehungen zwifchen Deutjchland, Defterreich- Ungarn und Italien auch nicht den geringften Zweifel .beftehen. Wie ſehr dieſes Bündniß der Aufrechterhaltung des Friedens dienen ſoll, erhellt auch daraus, daß die dem italienischen Gonfeilpräfidenten nabeftehenden Organe einftimmig verfichern, die Tripelalliang werde keineswegs freundnachbarliche Beziehungen Italiens zu Frankreich verhindern. Gegenüber den Verſuchen eines Theils der franzöfiichen Prefie, die Politik Crispi's als eine agreffive darzuftellen, darf auch auf den Act internationaler Höflich- feit bingewiefen werden, welcher ſogleich nach dem Bekanntwerden der Abficht des Präfidenten der jranzöfifchen Republit, bei Gelegenheit feiner neuen Rumdreife fih in der Nähe der italienischen Grenze aufzuhalten, bejchloffen worden ift. Ein italienisches Geſchwader begrüßte bei diefem Anlaffe Herrn Garnot, ein Act der italienifchen Negierung, welcher nicht verfehlt hat, auf die maßgebenden Sreife in Frankreich den günftigften Eindrud zu machen. Die aus Princip Uebelwollenden werden allerdings auch durch jolche friedliche Vorgänge nicht eines Befjeren belehrt werden.

Politiſche Rundichau. 309

Daß es fi in der That in den Betrachtungen vieler Schwarzjeher auf dem Ge- biete der auswärtigen Politit um einen grundfäßlichen Peſſimismus handelt, ergibt ih auch aus der Fülle völlig grundlojer Gerüchte, die ſich an die Erſetzung des Fürften Bismard durch einen General fnüpften. Ein Theil der auswärtigen Preſſe verwechjelte offenbar den an ftrenge Pflichterfülung und Disciplin gewöhnten, zugleid) im parlamentarifchen Verkehr bewährten preußifchen General mit eigenen Muftern. Beinahe hätte man glauben können, daß jenen Organen die fprichwörtlichen cosas di Espaüa vorjchwebten, welche gerade in diefen Tagen durch das an ein Pronunciamiento anflingende Rundjchreiben des Generals und Senator? Daban dabei wieder ind Ge- dächtniß gerufen wurden. Durch rafches und energifches Eingreifen hat dag Minifterium Sagajta zwar die augenblidliche Gefahr bejeitigt und der militärischen Disciplin Achtung verschafft; da jedoch General Daban zugleih Mitglied des Senates ift, wurde die Angelegenheit auch zu einer parlamentarifchen Streitfrage aufgebaufcht, welche in Spanien das gefammte öffentliche Intereffe in Anjpruch nahm. General Daban, der als einer der Theilnefmer am Pronunciamiento von Sagunt zu Gunjten der Wieder- beritellung der Monarchie unter Alfons XII. fih auf feine royaliftifche Gefinnung beruft, forderte in dem erwähnten Rundjchreiben die übrigen Generale auf, gegenüber einer Reihe von Vorlagen des Minifteriums Stellung zu nehmen. So befämpfte er die Abänderung der Regierungsgewalten in den Golonien, die Aufhebung der dajelbit beftehenden Generalcapitanate, die Veränderung des Truppenbeftandes in den Colonien u. j. w. Hätte General Daban feinen Widerfpruch gegen diefe Vorlagen im Senate zur Geltung gebracht, jo würde dagegen ficherlich nichts einzuwenden gewejen jein. Der General forderte aber mit Haren Worten zu einem formellen Protejte auf, indem er betonte, daß Diejenigen, welche Eraft des Geſetzes mit einem öffentlichen Charakter be— fleidet wären, der gefchädigt werden würde, falls die Pläne der Regierung zur Aus- führung gelangten, im Hinblik auf die in Zukunft für das Land und die Stärke des Heers zu befürchtenden Folgen nicht ruhig bleiben könnten. Noch entjchiedener richtete fi) das Rundfchreiben des Generald Daban gegen andere von der Regierung in den Eolonien geplante Reformen, durch welche der Givilgewalt ein maßgebender Einfluß gefichert werden foll. Hier forderte der Urheber des Rundfchreibend an die Generale diefe direct zur Auflehnung auf, indem er hervorhob, daß Generale von anerkannter, durch langjährige Dienfte erworbenen Urtheilsfähigkeit fich nicht den Befehlen von Männern fügen werden, deren Bedeutung in den meiſten Fällen eine jehr geringe oder gar feine Gewähr für die großen Verantwortlichkeiten bieten könne, die mit den höheren Regierungsftellen in den überjeeifchen Befigungen verbunden find. Durch die gegen den General Daban wegen feines Rundjchreibens verhängte Digciplinarftrafe ſpitzte fich bie Angelegenheit fogleich auch zu einem parlamentarifchen Gonflicte zu, in welchem die Oppofition heftig den Standpunkt der Regierung befämpfte. Bedenklicher ericheinen muß, daß eine Anzahl Generale das Verhalten deö Generald Daban, abgejehen von der conjtitutionellen frage jelbit, ob ein Mitglied des Senats ohne Befragen dieſer parlamentarifchen Körperjchaft disciplinarifch bejtraft werden könnte, vollitändig billigte. General Salzedo 3. B. ergriff in einem fpanifchen Blatte für General Daban durchaus Partei, worauf die Regierung das Berfahren gegen ihn einleiten ließ. Die heftigen parlamentarifchen Scenen, die fih in den Kammern abfpielten, find ebenfalla von fomptomatifcher Bedeutung. Andererjeitd muß zugeftanden werden, daß Gagafta die Zügel der Regierung bisher nicht aus den Händen verloren hat, jo daß gehofft werben darf, dieſer militärifche Anjturm werde feine ernfteren Folgen haben. Immerhin wird die Regierung in Spanien wohl daran thun, das Treiben der noch immer zu Pronunciamientos neigenden Generale nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Gegen- ftüd zu dem Verhalten der Generale bildeten die Ruheftörungen in Valencia, die zu— nächft gegen den Karlismus gerichtet waren.

Während in Spanien, dem claffiichen Lande der Pronunciamientos, die höchſt— geftellten Officiere für die in der Armee herrſchende Disciplin durch ihr eigenes Verhalten ein jchlechtes Zeugniß auaftellten, und ein Theil der Berölferung von Valencia die

310 Deutſche Rundſchau.

ſchlimmſten Ausſchreitungen beging, haben auch in einigen Vororten Wiens nach den Oſterfeiertagen arge Ausſchreitungen ſtattgefunden, die allerdings mit einem Maurerſtrike in der öſterreichiſchen Hauptſtadt in Zuſammenhang gebracht wurden, in Wirklichkeit aber lediglich als Exceſſe des Pobels angeſehen werden müſſen. Die „Baſſermann'ſchen Geſtalten“, welche bei dieſen Ausſchreitungen den Pöbel zur Plünderung, ja ſelbſt zur Brandſtiftung aufforderten, haben ſicherlich andere Intereſſen als die am Maurerſtrike betheiligten wirklichen Arbeiter. Andererſeits würden die Maurer ſelbſt nicht nur vor verbrecherifchen Acten zurückgeſchreckt fein, fondern vorgezogen haben, ihre Demonftrationen am 1. Mai d. J. zu infceniren. Soll doch an diefem Tage auf Grund eines Beſchluſſes des vorjährigen in Paris gehaltenen internationalen Socialiftencongrefjes eine allgemeine Demonjtration der jocialdemokratifchen Arbeiter aller Länder ftattfinden. Dieje Hunde gebung bezwedt, im deutlichiter Weife das Feithalten der Arbeiter an der Forderung des achtjtündigen Arbeitätages jowie des internationalen Arbeiterfchuges zu betonen. Wie wenig einig und zielbewußt die Theilnehmer an dem Beichluffe des Parijer inter nationalen Socialiftencongrefjes ſelbſt geweſen find, erhellt daraus, daß fie über die Ausführung ihres Bejchluffes keinerlei beftimmte Vorſchriften machten, vielmehr Alles den Arbeiterorganijationen der verjchiedenen Länder überließen. Daher kann es nicht überrafchen, daß die jocialdemokratifchen Parteien der einzelnen Staaten keineswegs in der Auffaffung der von Paris her ertheilten Loſung übereinjtimmen.

Diefer Streit der Meinungen jehte fi dann innerhalb der jocialdemofratijchen Partei eines jeden Landes fort; die radicalen Elemente verlangten, daß der 1. Mai zum Arbeiterfeiertage gemacht werde, damit der Bourgeoifie die Symbolik eines ſolchen Feſt— tages in deutlicher Weife zu Gemüthe geführt werde, während die befonneneren Mitglieder der Partei die allgemeine Demonftration der Socialdemofratie auf Mafjenverfammlungen und Feitlichkeiten bejchränft willen wollen, jo daß die Arbeit jelbft an diefem Tage nicht ruhen würde. In den Verfammlungen follen Beichlüffe gefaßt werden, in denen die Forderung des Parifer internationalen Arbeitercongrefjes zu Gunjten des acht— ftündigen Arbeitätages und des Arbeiterſchutzes aufrecht erhalten wird. Zunächft leuchtet ein, daß, wenn die Socialdemofraten von Anfang an in einer jolchen Ans gelegenheit in Streit gerathen, diejenigen, welche durch die Großartigfeit und All gemeinheit der Kundgebung belehrt und befehrt werden jollen, feine Veranlafjung haben, die internationale Tragweite der Parifer Beſchlüſſe anzuerkennen. Hierzu kommt dann, daß gerade innerhalb der deutichen Socialdemofratie die in Bezug auf dieje Beichlüffe beitehenden Gegenſätze am deutlichjten zur Ericheinung gelangt find. Mögen nun auch die focialdemofratiichen Parteiführer wie Liebfnecht, wenn fie fich gegenüber dem „Weltfeiertage” ablehnend verhalten, durch taktijche Erwägungen beftimmt werden, weil fie das Fehlſchlagen einer univerjellen Kundgebung fürchten, jo ijt doch in hohem Grade bemerkenswerth, daß die von den focialdemokratiichen Organen bei jeder Ges legenheit gerühmte Parteidisciplin in demjelben Augenblide verfagte, in welchem der internationale Charakter, die Solidarität der Socialdemokratie aller Länder die Feuer— probe bejtehen jollte. Bier zeigt fich auch in draftiicher Weife, wie die Parteigenofien jogleich unter einander in den heftigiten Conflict gerathen würden, falls es ihnen in der That einmal wider alles Erwarten irgendwo in der Welt gelingen follte, ihren Staat verwirklicht zu jehen. Fehlte doch jetzt nicht viel, und die rückſichtslos an— jtürmende junge Socialdemofratie hätte die biäherigen Führer zum „alten Eifen“ ger worfen, weil diefe, anitatt einen unmöglichen „Weltfeiertag” zu organifiren, fich zu— nächft auf eine Reihe platonifcher Refolutionen und minder platonischer FFeitlichkeiten beichränten wollten.

Literarifhe Rundſchau.

Neue Actenſtücke zur Revolutionsgeichichte.

Collection de Documents inedits sur l’Histoire de France, publies par les soins du Ministre = l’Instruction eng Recueil des Actes du Comite du Salut public, publi& par . A. Aulard. Paris, Imprimerie nationale. 1889. Tome deuxieme, 1890.

F. A. Aulard, einem Hiſtoriker, der an der Pariſer Univerſität über Revolutionsgeſchichte lieſt und bereite Verſchiedenes über dieſen fpeciellen Gegenjtand feiner Studien veröffentlicht hat’), wurde vom franzöfifchen Unterrichtsminifterium der Auftrag ertheilt, die Acten des Wohlfahrtsausſchuſſes zu veröffentlichen. Die beiden eriten ung vorliegenden, von der Staatödruderei mit aller Sorgfalt ausgeftatteten Bände diefer Publication umfaffen den Zeitraum zwiſchen der thatjächlichen Gründung des erjten Comit& du Salut public, nach dem 10. Auguft 1792, bi8 zum 31. März 1793, und enthalten, nebft den genannten Actenftüden, die officielle Gorrefpondenz der in die verjchiedenen Provinzen gejfandten Volksvertreter und ein Regijter der Verhandlungen de3 prodiforifchen Executivcomites. Nicht alle diefe Documente find den Forjchern bis jet unbefannt geblieben, denn Vieles wurde während des Gonvents von der Regierung ſelbſt veröffentlicht, Anderes den Zeitungen mitgetheilt oder von den Nächit« betheiligten in bejonderen Schriften verwerthet; insbefondere enthält unter Anderem der Rechenſchaftsbericht Danton's und feiner Gollegen über ihre Miſſion in Belgien bereitö ſolche Briefe der Commiſſäre des Convents, die einen genauen Einblid in die Art und Weife geftatten, wie diefe „Miffionäre von 1793“ ihren Beruf auffaßten und durchführten. Dagegen beanjprucht die Veröffentlichung von Aulard das Berdienft möglichſter VBollftändigfeit und Genauigkeit in Bezug auf die Wiedergabe von Terten, die er jelbft alö die Grundlage der ganzen Regierungägefchichte Frankreichs unter der Herrſchaft des Nationalconvents bezeichnet. Mit der Einfchränkung freilich, daß zu verfchiedenen Zeiten, und ganz befonders unter der Herrichaft der Thermidorianer, ver— ſchiedene Mitglieder dee Wohlfahrtsausfchuffes aus Rückſicht auf die eigene Sicherheit allen Grund Hatten, die wichtigften Documente aus feinen Archiven verjchtwinden zu machen. Bon diefem Auskunftsmittel iſt denn auch jo auögiebig Gebrauch gemacht worden, daß die Actenftüde für ganze Zeitabjchnitte fehlen, während die Berathungen deö allgemeinen Sicherheitsausfchuffes überhaupt nicht zu Papier gebracht wurden.

Weit lüdenhafter ala dieſe, theils auf die innere Verwaltung, theils auf die Vertheidigung des Landes bezüglichen Weröffentlichungen, erweift fich der zweite Abjchnitt der vorliegenden Sammlung, die Gorreipondenzen nämlich der Commiſſäre des Gonvent3, die mehrfach in den Originalen, öfter jedoch in Copien oder bloßen Analyſen und unter den verjchiedenften Rubriken, ſich im Nationalarhiv und in den Archiven der einzelnen Minifterien vorfanden. Dollftändig aber ijt feine diefer Samm— (ungen, und nur in einzelnen Fällen ift e8 Herrn Aulard gelungen, fie durch Briefe und Actenftüde zu ergänzen, die, im Privatbefig befindlich, fich bis heute den Nach» forfcehungen der Gelehrten entzogen Hatten und zum großen Theil noch entziehen.

Aus diefer dreifachen Duelle hat der Herausgeber feine Documente gewonnen, in Hronologifche Ordnung gebracht und mit erläuternden Noten, meift biographifchen Inhalts, verjehen; allein er hat noch mehr als diejes gethan, und in feiner Einleitung auf die Entwidlung der Dinge zurüdgegriffen, wie fie vom Augenblid an fich geftaltete, wo die Legislative, durch Einjegung der Commission des Douze, der Erecutive auf diefe vorläufig indirecte Art und Weiſe fich zu bemächtigen fuchte. Das geichah am

1) F. 9. Aulard, „La Revolution frangaise“ Revue —— par: „L'éloquence parle- mentaire pendant la Rövolution frangaise. Les Orateurs de l’Assemblee constituante“. 1 Vol. „Les Orateurs de la Legislative et de la Convention“. 2 Vol. Paris, Poitier. 1882, 1885.

312 Deutfche Rundſchau.

9, März 1792, unter dem Gindrud der Panik, die der Ermordung des Maire von Gtampes folgte, und damit war der erjte Schritt zur Gründung des Wohlfahrts- ausschuffes getan und die revolutionärfte aller Maßregeln durchgeführt, wonach die Träger ber gejeßgebenden Gewalt zugleich mit der Ausführung der don ihnen erlaflenen Geſehe betraut wurden, und zwar nicht als verantwortliche Minifter der Krone oder der Verfammlung, fondern ala Mitglieder oder Bevollmächtigte, zuerft einer provifo- riſchen Erecutive, und dann jenes MWohlfahrtsausfchuffes, der die Kriegsgefahr aus— beutete, um die Herrichaft des Schredens zu begründen und die Volksvertretung nicht weniger als die gegnerifchen Parteien terrorifirte.e Unter folchen Umftänden war an eine objective Darftellung der Verhältniffe durch die Commiſſäre des Gonvents, les commissaires patriotes, wie fie bezeichnend genannt wurden, gar nicht zu denken. Sie fungirten ala geheime Agenten, ald Spione, nicht nur der Bevölkerung, fondern mehr noch den Regierungsorganen gegenüber, und ihre officielle Miffion bot nur den Bor: wand für diefe ihre eigentlichen Zwecke: „Um die Sicherheit von Meb verbürgen zu können,“ fjchrieb der dortige Maire Anthoine am 30. Auguft 1792, „brauche ich drei patriotiſche Commiffäre, um im Einverftändniß mit mir auf das Volk, die Garnifon, die Armee einzuwirken, und dem Minifterrat Bericht zu erftatten.” Das Vorgehen der Municipalität von Sedan, die bekanntlich die Commiſſäre der Legislative, Antonelle, Kerfaint und Peraldy, am 14. Auguft 1792 verhaften ließ, um die Gegen: bewegung zu unterftügen, die La Fayette zu Gunften der gejtürzten Conftitution an der Spitze der Nordarmee verfuchte, blieb in den Annalen der Revolutionsgejchichte vollftändig vereinzelt. Der General entlam mit genauer Noth über die belgifche Grenze, wo er den Defterreichern in die Hände fiel. Die Behörden, die zu wider: ftehen verfucht Hatten, wurben fuspendirt, dann abgejegt und verfolgt, und neue Commiſſäre emannt, die kraft ihrer VBollmachten jede gegnerifche Regung zu unterdrüden wußten. Die Erecutive von Danton aber, durd die Erfahrung gewarnt, ſprach ſich durch ein befonderes Decret vom 27. Auguft 1792 das Recht zu, ohne jede weitere Formalität und Verzögerung überallfin, wo fie es für nützlich und zweckdienlich erachtete, Agenten in geheimer oder bejonderer Miffton abzufenden. „Il faut nous montrer terribles, c’est du caractere qu'il faut pour soutenir la liberts,“ erklärte Danton unter dem Beifall jeiner Eollegen, als er die Abfegung von Montesguion decretirte, welcher mit der Südarmee nach Savoyen vordringen follte, jedoch ala Eonftitutioneller den Machthabern des Tages längjt verdächtig geworden war und ihrer Rache zum Opfer fiel, obwohl aus den Actenftüden nachgewiejen ift, daß in feinem Tall jelbft die Commiſſäre feinen militärifchen Fähigkeiten ein glänzende® Zeugnif gaben. Ganz anders Elangen die Berichte aus dem Lager von Dumouriez, der, dem Anscheine nah, ſich noch im vollften Einverftändniß mit der Erecutive in Paris befand. Don feinem Heere jchrieben die Abgefandten, es erjcheine ihnen wie eine Verſammlung von Brüdern, eine wahre Gejellfchaft von Freunden der Freiheit und Gleichheit, von echten Republifanern. Die Nation könne feine wärmeren Bertheidiger des Vaterlandes fi) wünſchen. Als die Commiſſäre in den Reihen diefer Tapferen zwei Frauenzimmern, den Bürgerinnen Fernig, begegneten, fannte ihr Enthuſiasmus vollends feine Grenzen mehr. „Dieje beiden jungen Mädchen,“ fchrieben fie, „find ftets in den vorderen Reihen am gefährlichiten Posten zu finden, und in diefer Armee von jungen Bürgern genießen fie nur Achtung und Verehrung. Dad war ftetö der Lohn wahrer Tugend. Es wird dem Nationalconvent nicht entgehen, daß unter der Regierung ſtarl's VII. ein beroifches Mädchen den König auf den Thron zurüdführte. Nun befißen wir deren zwei, die für umfere Befreiung dom vielhundertjährigen Joch der Tyrannei kämpfen.“ Die Schweitern Yernig, deren Spuren die Gejchichte zu wider: holten Malen gefolgt ift!), rechtiertigten diefe Erwartungen ſehr unvollftändig. Sie verfhwanden vom Schauplag, nachdem fie fich einige Male ganz tapfer geichlagen hatten: den Ruhm von Jeanne d’Arc verdunkelten fie nicht.

1,9. Bonhomme, „Melle de Fernig, Aide-de-camp du general Dumouriez. Correspondance inedite*, Paris, Mesnil. 1878.

Literariihe Rundſchau. 313

Eine andere Art, das Wohlgefallen ihrer Auftraggeber zu erweden, vernachläffigten die Commifjäre ebenfo wenig. Sie fchilderten in den jchwärzeften Farben das Ver— halten des Feindes und berichteten unter Anderem nach der Beſetzung von Lille, am 6. October 1792, wie die Grzherzogin Chriftine, Schwefter der Königin Marie Antoinette, perfönlich Gefallen daran gefunden Habe, mit eigener Hand Kugeln in die verhaßte Stadt zu werfen. Die Defterreicher werden in dieſen Berichten nie anders als Barbaren, Briganten, Räuber und Plünderer genannt. Schlimmer noch freilich erging es den politiichen Gegnern. Pier derjelben, die in Lille während der Be— lagerung eine Adrefje an den König unterzeichnet Hatten, wurden augenblidlich ver— haftet: „Ils avaient sign& une flagorneuse et feuillantine adresse,“ jchrieben die Gommiffäre, die im königstreuen, ruhigen Flandern ganz bejonders viel zu thun fanden, bis der Widerftand gebrochen war. Ein von ihnen unterzeichnete Actenſtück, vom 7. November 1792, aus Lille datirt, beweift wie ſehr fie jelbft fich überwacht und in Gefahr wußten, jelbft wieder verdächtigt zu werden; und es ift bemerfenawerth, daß zwei derfelben, Delmas und Duquesnoy, ſpäter durch Selbftmord ums Xeben famen. Grfreulicher ala eine Thätigkeit, die fie dazu verurtheilte, zuerjt die Angeber, dann die Verräther und Berfolger jo vieler ihrer Mitbürger zu werben, gejtaltete fich ihre Aufgabe, jo lange fie von republifanifchen Siegen zu erzählen hatten. In ihren Berichten wird die Kriegsgeſchichte manche Aufklärung einzelner Thatjachen und Epifoden finden. Für Diejenigen aber, die fich der Mühe nicht unterziehen können, das hiftorische Material aus erjter Quelle zu beichaffen, hält H. Wallon ein Werk bereit, das unter dem Zitel: „Les Representants du peuple en mission“ die vor— liegende Documentenfammlung zum anjchaulichen Bilde zufammenfaßt und verwerthet.

Erinnerungen eines Schleswig-Holſteiners.

Erinnerungen eines Schleswig-Holſteiners. Bon Rudolf Schleiden. Neue

Folge. 1841—1848. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1890.

Den „Jugenderinnerungen“ Rudolf Schleiden's, welche vor vier Jahren erſchienen find, folgt nunmehr eine Fortſetzung, welche die Jahre 1841—1848 behandelt und an Intereſſe der erjten Folge nicht nachiteht. Schleiden hat diefe Jahre verbracht zuerft als Amtejecretär in Reinbeck an der boljteinijch - Hamburgifch » lauenburgifchen Grenze, dann als Auslultant und ordentlicher Gommittirter an dem General-Zollkammer— Gommerzcollegium in Kopenhagen; alfo anfänglich in ziemlich jubalternen, bald aber in höheren und einflußreichen Stellungen. Bon Anfang an bewährte er fich als tüchtiger, auch den jchwierigiten Arbeiten gewachjener Jurift; es ift daher wohl begreiflich, daß er frühzeitig in die Hauptftadt und in die Gentralverwaltung gezogen wurde und bier als Gommittirter, d. h. ala Stellvertreter des Sectionschefs verwendet ward.

Entjprechend diefer amtlichen Stellung Schleiden’3 liegt das Intereſſe des Buches guten Theild darin, daß wir einen genauen Einblid in die Verwaltung Holjteing, bezw. Dänemarks, wie fie im fünften Jahrzehnt diefes Jahrhunderts war, erhalten. Unmerflich verbindet ſich aber mit dieſen ftaatsrechtlichen und verwaltungstechnifchen Dingen doch ein weiterreichendes Interefje; es formen fich vor unferen Augen Gultur- bilder aus jenen Tagen, da das Dänenthum den Verfuch machte, ſich die Elbherzog- thümer für immer anzugliedern. Schleiden’s ebenjo fachliche als den Stempel einer marligen, zielbewußten Perfönlichkeit tragenden Aufzeichnungen führen uns von dem Umkreis in den Mittelpunkt jenes geträumten Gejammtjtaates, gegen welchen 1848 der erfte, 1863 der zweite und dann fiegreihe Gegenftoß erfolgte. Wir lejen von der bänifchen und deutſchen Gejellichait in Kopenhagen und verftehen es volltommen, wenn Schleiden fi) nur in letzterer wahrhaft heimiſch fühlte: „in der ersteren wurde ein viel größeres Gewicht auf die materiellen Genüffe gelegt, und die Zahl der Auftern, welche man dort verzehrte, überftieg häufig diejenigen der quten

314 Deutiche Rundſchau.

Gedanken, welche man zu hören befam .... Vielleicht fam mir das aber nur jo vor, weil ich dort meiflena nur bei größeren Vergnügungen bingezogen ward; denn in dem einzigen dänifchen Haufe, in welchem ich jehr viel und gern ein» und audging, in demjenigen meine® verehrten Kammerdirectors Bluhme, herrfchte, wenn es nicht gerade zu repräfentiren galt, ein jo behaglicher Ton ala möglich... . Erfreulich war es, daß in den Gefellfchaiten, wo Deutjche und Dänen zujammentrafen, jedes Geipräd über die politifhen Differenzen möglichft vermieden ward. Denn jo gerne meine Greunde und ich uns über die unfeligen Berhältniffe ausgefprochen Hätten, hielten wir es doch für geboten, uns einftweilen zurüdzuhalten, um nicht durch unzeitiges Reden die Möglichkeit zu verlieren, künftig in einflußreicher Stellung für das Wohl des Baterlardes wirken zu können. Wir wußten, daß die dänifchen Politiler fein Mittel jcheuten, ihre vermeintlichen Gegner zu Falle zu bringen.“ Die angedeutete Möglichkeit ſchwand freilich völlig durch den „offenen Brief" König Chriſtian's VIII. (8. Yuli 1846), welcher die Ueberzeugung des Königs befundete, daß für Schleswig und Lauenburg diejelbe Erbfolge gelte wie für Dänemark, und nur für einzelne Theile von Holftein dasjelbe nicht mit gleicher Beftimmtheit ausgeſprochen werden könne; der König verhieß aber, daß er unabläffig bejtrebt fein werde, die vollitändige Anerkennung ber Untrennbarfeit des däniſchen Gefammtftaates zu Wege zu bringen. Ueber die Ent ftehung des offenen Briefes macht Schleiden (S. 148 fi.) ſehr intereffante Angaben, aus welchen erfichtlich wird, daß derſelbe im allererjter Linie des Königs eigenfter Gedanke geweien ift: in faſt dreivierteljtündiger Nede hat er in einem großen Krontath feine Anficht von der Nothwendigkeit einer folchen Erklärung begründet, mit welcher er den Plan feines Ahnheren Friedrich's IV. vom Jahre 1721 zur Ausführung bringen und den Wünfchen der Roeskilder Ständeverfammlung entjprechen wollte. Der Eindrud der Rede des Königs war jo mächtig, daß alle dänijchen Mitglieder des Kronratbs bis auf drei dem Monarchen beipflichteten; die Deutjchen aber, der Minijter des Aus: wärtigen, Graf Heinrich Rewentlotw -Griminil und fein Bruder Graf Joſeph, der Kanzleipräfident, blieben ftandhaft dabei, daß ohne vorausgehende Verhandlung mit den Großmächten eine jolche Erklärung höchſt bedenklich fei. Graf Joſeph „Itand da bei da wie eine Eiche“. Wenn troßdem der Minifter und der Präfident im Amte blieben, jo geichah e8 nach Schleiden, um die Aufregung in den Herzogthümern nit durch ihren Rücktritt noch mehr zu fteigern, in welchem Falle ein Aufruhr zu be fürchten war; Graf Heinrich hat jpäter, kurz bevor er am 9. April 1848 der vorläufigen Regierung Schleawig-Holfteins jeine Dienfte anbot, bezeugt, daß er eine Verftändigung auf dem Boden der Perfonalunion und der Erbfolge der Verwandten ohne gewaltjamen Umfturz immer noch für möglich gehalten habe, was aber durch den Tod des Königs (am 20. Januar 1848) allerdings ganz ausgejchloffen wurde. Chriſtian's VIIL Sohn, Friedrich VII., ließ fich von der populären Agitation vollends ergreifen und erflärte am 24. März 1848, wo die von Paris ausgehenden Wellen auch Kopenhagen überfluthet hatten, daß Dänemark und Schleswig durch eine freie Verfafjung vereinigt werden, Holjtein dagegen ala deutjcher Bundesftaat feine eigene freie Berfafjung haben folle. Aljo Dänemark bis zur Eider: angefichts dieſes Sieges des national-däniſchen Fanatismus hielt e8 Schleiden für feine Pflicht, feine Entlaffung zu nehmen, „da et unter den gegenwärtigen Umftänden dem König nicht mehr mit dem Gifer umd der Hingebung dienen könne, welche Allerhöchitdiefelben mit Recht von ihren Beamten verlangten“. Noch am gleichen Tage verließ er nebſt zahlreichen Landsleuten Kopen- bagen und fuhr nach Kiel: ohne feinen Koffer mitzunehmen, reifte er ab; eine Anzahl Frauen hatten all’ ihr Gepäd in ihrem Arbeitsbeutel beifammen: der Boden des eid- brüchig getvordenen Dänemarks brannte allen Deutjchen unter den Füßen.

Damit fchließen die „Erinnerungen“ ; wir dürfen einem dritten Bande wohl ent- gegenjehen, welcher von den zugleich jo ftolzen und jo traurigen Schidjalen Schleimg- Holfteins in den Jahren 1848—1851 berichten wird: ein rechter, pflichttreuer, maß- voller, aber im Gefühl des Rechts unbeugfamer Mann hat ung die vorliegenden jchmud- lojen und doch fo anziehenden Blätter gegeben. m.

Literarifche Rundſchau.

«3. Sociale Wohlfahrtdeinrichtungen im Etaate, in der Gemeinde und im Fabrik: betriebe. Bon C. 9. Zander. Düffel- dorf, E. Kraus. 1890.

Die Erlaffe Kaifer Wilhelm’s II. vom

4. Februar d. J. haben eine Fluth von Bro-

Aurenliteratur hervorgerufen, die felbft für

den mitten in diefen fragen Stehenden ſchwer

bewältigen ift. Ein großer Theil der:

elben ift allerdings zu jehr der Abficht ent-

fprungen, durch den Titel Käufer anzuloden, als daß es fich lohnte, auf den Inhalt einzu- gehen. Eine Neihe anderer beaniprudt ein rg Intereffe, und zu dieſen gehört die ier in Rede jtehende Schrift, jhon um desmwillen, weil fie der Feder eined aus dem

Arbeiterftande hervorgegangenen Autors ent-

ftammt. Der Berfafler ift Werfmeifter, Vor—

figender des Deutichen Werktmeifterverbands, und

fein Elaborat ftellt die Ausarbeitung eines im

Bergiichen Berein für Gemeinwohl gehaltenen

Vortrags dar. Derfelbe ift nicht nur geeignet,

im Allgemeinen zur Drientirung über bi

der Discuffion jtehenden Arbeiterwohlfahrts- beftrebungen zu dienen; er bringt auch bead)- tenswerthe und aus der praftiihen Erfahrung geichöpfte eigene Gedanken des Verfaſſers, na- mentlich über die Fragen der Einigungsämter, Arbeiterfammern und ähnlicher Inſtitute, wie fie feitens einiger weniger Gemeinden Bres— lau, Kempten in Bayern, Dffenbah und vor Allem Frankfurt a. M. in den legten Jahren mit Gtüd eingeführt find. Die Statuten von muftergültigen Einrichtungen diefer Art find

der tüchtigen Schrift im Wortlaut eingefügt, | und dadurd dürfte Mandem das PVerftändniß Inſti—⸗

für ſolche durchaus erſtrebenswerthe tutionen näher gebracht werden. Im Sinne der Kaiſerlichen Erlaſſe legt der Autor überhaupt das Schwergewicht ſeiner Erörterungen auf die Schaffung geeigneter Arbeitervertretungen, ſei es gegenüber Staat und Gemeinde, ſei es gegenüber dem Arbeitgeber, obwohl er nicht verkennt, daß gerade letztere ſowohl ſeitens des Arbeitgebers, als auch beſonders ſeitens der Arbeiter ein jo hohes Maß von Einſicht, Opfer- willigfeit und Mäßigung vorausfegen, daß

es eingehender Erwägung bedarf, ob ihre Ein-

führung zur Zeit jchon möglich it.

a. Stanley au secours d’Emin-Pascha. Von A. J. Wauters, Chefredacteur des „Mourve- |

ment geograpbique*. Paris, Maifon Quantin. 189%.

Es war vorauszufehen, dab nad) der glück— lihen Rückkehr Stanley’s in Begleitung Emin Paſcha's, Cafati’s und des Gefolges des Erfteren alsbald eine Beſchreibung diejes in den Annalen der Afrifaforihung ewig denfwürdigen Zuges im Drud erjcheinen würde. Man kann fich be- glückwünſchen, daß der Erfte, welcher es unter: nommen hat, der Eulturgefhichte diejes Blatt einzuverleiben und um das Haupt des fühnen und erfolgreichen Neilenden den erften Yorbeer zu winden, fein Anderer ift, als der Chefredaf: teur des „Mouvement göographique“, welcher durch feine Stellung ſowohl wie feine Ber-

die fpringenden Punkte der heute im Mittelpuntt |

315

trautheit mit afrifanifhen Berhältniffen ins—

bejonders zu obiger Aufgabe berufen erjcheint.

Während wir dem Werke, in welchem Stanley

felbjt, gleih Xenophon, feinem claffiihen Vor—

gänger, feinen Zug durch Afrifa zur Befreiung

Emin Paſcha's beichreiben wird, mit berech—

tigter Spannung entgegenjehen, dürfen wir eine

vorgängige kurze Schilderung, wie fie uns in dem vorliegenden Bude geboten wird, mit um fo arößerer Freude begrüßen, alö die in ver» ſchiedenen Blättern zu verichiedenen Zeiten ver- öffentlichten Briefe Stanley’8 an Männer der

ı Wiffenichaft oder an deffen Gönner und freunde

dem intereffierten Publicum ein überfichtliches

Bild nicht gewähren können.

Wir müflen zunädhft danfbar anerkennen, daß der Berfaffer in der Widmung feines Buches und in der Borrede zu demfelben un- 'ferem Zandömann, Dr. Junker, ein ehrendes Denkmal gejegt hat. Denn diejer darf für fich in Anfpruch nehmen, zuerft die Aufmerffamteit der Welt auf jenen anderen berühmten Sohn Deutichlands, Dr. Schnitzer, beſſer befannt unter dem Namen Emin Bafcha, Hingelenft zu haben, welcher als Gouverneur von Wadalai im Sudan das letzte Bollwerk der Eivilifation gegen die Barbarei vertheidigte. Das Werken ſelbſt behandelt in den ſechs eriten Kapiteln kurz zu— fammengefaßt die Gefhichte des Sudan in den legten zehn Jahren, den Siegeszug des Mahdi, den Fall Chartums, die Ernennung Dr. Schnitzer's zum Gouverneur von Wadalai, die Rüdfehr Dr. Junters nah Sanfibar; in eindringlicdher Meife beleuchtet es dann den Gedanken einer Erpedition zur Befreiung Emin Paſcha's, um endlih den Zug Stanley’s mit beredten, oft begeifterten Worten zu ſchildern: er lieſt ſich wie ein Indianerroman Cooper's. Hat man an der Hand dieſer Darſtellung Stanley bi8 nad Bagamoyo begleitet, dann begreift man, wie er von Mioua aus jchreiben konnte, daß er fich wie ein Arbeiter fühle, der nach ge- thaner Arbeit am Sonnabend nad Haufe fommt, feinen Lohn in der Taſche und im Gedanken ichwelgend, daß der nädfte Tag ein Sonntag jet. Das Bud ift mit den mwohlgelungenen Bildniffen Stanley’s und Emin Paſcha's, ſo— wie mit mehreren er ge von Sand und Leuten und einer vorzüglichen Karte der Marſch— route Stanley's veriehen.

x. Brandenburg:Breufens Kolonialpoli: tif unter dem Großen Kurfürften und feinem Nachfolger (1647—1721) von Dr, Shüd. Xeipzig, F. W. Grunow. 1889.

Das Werk, das mit einer Borrede des Geh. Legationsraths Paul Kayier verjehen ift, ver- dankt feine Anregung einem Bortrage, den Kayier im Frühjahr 1887 in der „Juriſtiſchen Geſellſchaft“ über die Nechtöverhältnifje der „Deutichen Kolonialgeſellſchaft“ gehalten, und ift gerade im gegenwärtigen Augenblid mit Freude zu begrüßen, da es bisher an eingehen- den Unterjuhungen über die Colonialpolitif des Großen Kurfürften und ebenfo an einer um— faffenden Benutzung der zahlreichen, diejelbe betreffenden Urkunden, die die Archive bewahren, gefehlt Hat. Ohne Zurüdgreifen aber auf jene -

316

Zeit bleiben alle Schilderungen der entfprecdhen- den heutigen Unternehmungen ohne das ge nügende Fundament. Diezeitgenöffiihen Schrift- fteller, vor allen Dingen der Hiftoriograph des Großen Kurfürften, Bufendorf, berühren faum jene Materie, fo daß bereits die Zeit Friedrich's des Großen umfaffende Arbeiten über dieſe interefjante Epifode aus der Geichichte des Großen Kurfürften vermißt. Damals hatte denn auch F. Hertzberg (1755) eine „Geſchichte der Marine und der Mfrifaniichen Compagnie Preußens“ verfaßt, die im Manufeript in der Königlihen Bibliothef zu Berlin aufbewahrt wird. Spätere Verfuche unjeres Jahrhunderts * ungenügend geblieben, und erſt unſerem erfaſſer iſt es gelungen, eine wirklich prag⸗ matiſche Geſchichte der Colonialpolitik des Großen Kurfürſten zu ſchreiben. Vor allen Dingen iſt die Entdeckung eines Convoluts im Geheimen Staatsarchiv, das von der Hand des damaligen | Arhivard den Vermerk trägt „Project einer | Afrikaniihen Compagnie mit dem Haufe Defter- reich“, das Berdienft von Schüd. So er- möglichen die von ihm neuaufgefundenen Ur- funden eine Ergänzung der bisher ſchon be- fannten und geben ein nad allen Richtungen bin klares Bild. Ganz befonderö werthvoll ift der zweite Theil des Schück'ſchen Werts, welder das im erften Theil in ſyſtema⸗— tiiher Darftellung Borgetragene urkundlich be: | legt; denn mag man aud) jenen Ausführungen, die oft genug das Beftreben verrathen, die heutige Colonialbewegung mit der der Ver- gangenheit in Zufammenhang zu bringen, nicht überall folgen wollen, und felbft den, wie Kayſer meint, „auf jelbftändigen wirthichaftlichen und politiihen Grundlagen“ erwadienen An- fängen eines deutichen Colonialreihs nicht ganz ohne Vorbehalt gegenüberftehen, jo wird doch für jeden denkenden Leſer und zumal den Hiftorifer eine Durchficht diefer Documente vom höchſten Intereſſe fein, von denen neben 46 bereits früher abgedrudten, 167 an dieſer Stelle um erjten Mal veröffentliht werden. War * das gedruckte Material zum Theil ſchwer zugänglich, ſo haben wir nun eine vollſtändige Sammlung, in welcher auch die Neudrucke mög— lichſt genau collationirt find. Dem immer größer werdenden Publicum, das fich eingehend mit der brandenburgspreußiichen Geſchichte be- jäftigt, darf die qut durchgeführte Arbeit von r. Schüd angelegentlih empfohlen werden. xo. Die Gefangenen und die Verbrecher unter dem Einfluffe des Chriftenthums, Geſchichtlicher Ueberblid, umfaffend die erſten fiebzehn Jahrhunderte. Bon F. A. Karl Krauß, Gefängnißgeiftlicher in Freiburg i. Br. (Separatabdr. aus den „Blättern für Ge— fängnißfunde“). Heidelberg 1889, G. Weih. Zu den Aufgaben der Humanität und Eultur, weldhe der antiken Geſellſchaft als folche faum zum Bewußtiein gelommen, welche das Mittelalter wohl geahnt, oder ſich aud aus- drüdlich geftellt hat, deren Ausführung der Staat aber meift der Kirche und der Privat- thätigteit überließ, aehört die Ausbildung des Strafrechtsweſens und fpeciell die Behandlung

Deutſche Rundichau.

der Gefangenen. Erft in der neuejten Zeit it unfer Rectäftaat fih der auf ibm rubenden Verpflichtung nad diefer Seite völlig bewußt geworden und hat er jeither Anftalten getroffen, um diejer Pflicht nachzukommen. Es ıft jelbits verftändli, daß die mit der Ausführung dieler

Aufgabe betrauten Factoren ſich die Frage vor:

legen, was nun in diefer Richtung in frübern Seiten geichehen ift, wad wir von der Ver: gangenheit zu lernen haben. In unierer Yite: ratur war die Thema noch nicht zufammen- hängend und ex professo behandelt worden: es war daher ein glüdliher Wurf, daß ein Seit langen Jahren auf dem Gebiet des Gefängnii- weſens praftiih thätiger Geiftlicher ſich die biftoriiche Darlegung deffen zum Vorwurf nahm, mas unter dem Einflufle des Chriſtenthums in alter, mittlerer und neuerer Zeit zu Gunften einer humanen und erziehenden Behandlung der Gefangenen geichehen war. Die Schrift dei Herrn A. K. Krauß zeigt nach der fritiichen und biograpbiihen Seite einige Unebenheiten, die übrigend ohne Belang find. Was er leiften wollte, hat er geleiitet, und das in einer alles Lob verdienenden Weife. Niemand wird ohne Nutzen die Kleine Schrift aus der Hand legen, in der jeder Sa dafür zeugt, wie tief der trefl« lihe Berfaffer von feinem Gegenſtande ergriffen ift und wie warm fein Herz für die Yeiden jenes unglüdlihen Theiles der Gejellicait

ſchlägt, an dem fi die Sünden der legten

felbft nur rächen. Es gereiht uns zu mwahrem

Vergnügen, die Lectüre des Buches weiteren

Kreiſen zu empfehlen, und wir hoffen, der Ber-

faffer werde diefe Studien fortjegen und zu

einer größeren, auch die legten zwei Jahrhun— derte umfaflenden Daritellung erweitern.

?. Reus Descartes’ philofophifche Werke überfegt und erläutert von 3. 9. von Kird: mann. Dritte Abtheilung: „Die Principien der Philoſophie“. 2. Auflage. Heidelberg, Georg Weiß’ Verlag.

„Die Principien der Philoſophie find das Wert, in welchem daß erfte Mal, feit die Welt ftand, eine wirkliche Philoſophie der Natur den Menſchen geboten worden if. Es ift ein Werl, befien Größe, Harmonie und Confequen im Rückſicht der Zeit, zu welcher es erfchien, nicht genug bewundert werden fan. Hier wird zuerft ber Berfuh gemadt, mit Ausſchluß aller Wunder und aller geheimnißvollen Ouali- täten aus wenigen einfachen Principien bie Welt ſowohl in ıhrem organifchen wie umorga- nifhen Theile zu erllären und alles Einzelne mit mathematifher Strenge und Genauigleit daraus abzuleiten.” Mit diefen Worten gibt I. 9. von Kirhmann felbft der von ibm ver anftalteten vorliegenden Ausgabe des Descartes: ſchen Hauptwerles das Geleit. Man wird feiner Anfiht von der eminenten Bedeutung dieſes Wertes im Wefentlihen nur beiftimmen fünnen; e8 verdient im weiteften Kreiſen gelefen zu wer- den, und die Kirhmann’fche Bearbeitung gibt jedem Gebildeten die Gelegenheit, fich mit dem— felben vertraut zu machen, an die Hand. Eine befondere Empfehlung diefer Bearbeitung if überflüffig; die Kirhmann’ihen Ausgaben älterer

Literariſche

philoſophiſcher Werle mit ihren, dem Tert bei—

erläuternden Anmerkungen, die ben tandpunlt des Herausgeber präcifiren und

auch bem, ber biefen Etanbpunft nicht theilt,

willlommen fein werben, find längft in weiten

Kreifen rübmlichſt befannt.

Bxy. Kunftfritifche Studien über italie- nifche Malerei. Die Galerien Borgheſe und Doria Banfili in Rom. Bon van Xermolieff. Mit 62 Abbildungen. Xeipzig, % A. Brodhaus. 1890.

Der Berfafjer, deffen Name ein Pjeudo- nym iſt, gilt feit längerer Zeit als ausgezeich— neter Kritiker der europäifchen Galerieen. Eben- jo befannt ijt, daß er verſchiedene Kunftgelehrte, um ein indifferentes Wort zu brauchen: nicht mag. Anfangs erwedte dieje Gegnerſchaft ein ge- wifjes Intereſſe bei den Lejern der Werke Lermo- lieff's, dann erregte fie Verdruß, und endlich hat fie zur Folge gehabt, daß man feine neu erfchei— nenden Schriften nicht gern in die Hand nimmt. Eeine trodene, fatale Ironie entipricht weder dem Ernſte wifjenjchaftlicher Forſchung noch dem natürlichen Wunfche, über die Werke großer Künftler mit unfchuldiger, freudiger Begeifterung reden zu hören. Ein Bud fann noch fo geiftreich und gelehrt fein, es darf uns mit feinem un- behaglichen Gefühle erfüllen.

Denen, welche Lermolieff's Schriften fennen, ift wohl erinnerlich, daß ihm zumal die Herren Crowe und Gavalcajelle widerwärtig find. Er hat jih jchon früher in allerlei Tonarten gegen

te verjucht. Wir wollen den Ruhm der beiden Forſcher beeinträchtigen, daß wir ſie hier in Schutz nehmen. Die europäiſche Kunſtwelt ift ihnen Dank ſchuldig und hat dies Gefühl nie verleugnet. Greift ſie jetzt ein Italiener an, fo iſt das deſto ſchlimmer für ihn. Wenn L. ſich C. und CE. gegenüber jedod) einfad) als Macht gegen Macht ausfpielt, fo waltet bier ein Unterichted, den zu erörtern angemeilen ericheint.

Lermolieff gibt jeinem Buche Geipräde zur Einleitung und Ausleitung, und verleiht ihm fo eine gewiſſe Einheit. Aber es befteht, gleich den meiften uns bekannten Arbeiten feiner jeder, aus einer Auffammlung zufälliger Gedanken. E. und E. dagegen behandeln die italienifhen Künftler von einheitlichen, großen Gefichtspunften aus; ihr Buch ift ein Stüd italienifcher Geſchichte; fie beurtheilen die Gemälde als Producte bedeutender Charaktere und befchreiben fie. Sie find pofitiv fchöpferiich zu Werke gegangen.

Sie haben literariihe Werthe geihaften. Um |

es zu wiederholen: fie find Geſchichtſchreiber.

Yeuten, die fo ungeheuere Mafjen von Stoff zu umfaffen, zu ordnen, und zuleht orga- niſch neu zu beleben hatten, Irrthümer nachzu— weiſen, mag ein verdienftliches Beginnen fein, ift feines aber, das den, der fich deſſen unters fängt, auf gleiche Höhe mit ihmen erhöbe, noch den Werth der ſchönen Reihe ihrer Bände irgend berminderte. Das, was den Erfolg eines echten pofitiven Geſchichiswerkes bedingt, wird von boshaften Kritifern entweder nicht berührt oder nicht gefannt. Zurüd- oder Zurechtweiſung wäre bier überflüffig. Aber man will denn dod) ein- mal ausſprechen, wie die Dinge liegen.

und Geihichtichreiber nicht dadurd) |

Rundichau. 317

Dagegen muß eine Feindſchaft anderer Art ernfter zur Sprade fommen: L.'s Stellung zu Berlin und Norbdeutichland, die ihm ebenfalls fatal find. Der von 2. gemadjte Unterfchied zwifchen Berlin fammt Norbdeutichland und den übrigen Theilen unſeres gemeinfamen Baterlandeö eigt, wie er den veralteten Standpunkt noch innehält, auf Unfrieden und Eiferfucht im eigenen Haufe bei uns zu rechnen. Wer fich mit Kunft- aeihichte befchäftigen will, muß mit unfchuldiger freude an die Dinge herangehen. Und wer dies ald Deutfcher thut, wird fich vor bös— artigen nfinuationen, von wo aus fie aud) über die Gebirge importirt werden, zu hüten willen.

Das Buch hat 62 Abbildungen, meiſt im

| Facfimiledrud reproducirter Handzeichnungen, \fo daf, wo der Verfaſſer Behauptungen aufs ftellt, das Material oft glei zur Stelle ift. | Befondere intereffant find L.“s Aeußerungen über Handzeihnungen Raphael’s, Blätter, Die er zum Theil anderen Meiftern zufchreibt. Da er die Meinungen Anderer beipricht, jo ge— winnt der Anfänger zugleich von dieſer Seite her Einblid in das, worauf es bei folchen Streitig- feiten anlommt, und jieht, wie immer wieder auf das eigene Gefühl als das Enticheidende von ihm ſelbſt recurrirt werde. Wechſelt dieſes „Gefühl“, wie nicht jelten der Fall tft, fo ftür- zen die kritiſchen Yuftichlöffer zufammen, um in anderer Geſtalt oft fotort wieder aufjuitehen. Diefe deftruirende und reconftruirende Arbeit aber ift eine nothwendige. Die Werfe der Er Meifter und der von ihnen abhängigen rbeiter müſſen immer von Neuem in Betracht gezogen werden, wenn ihre Eigenjchaften in vollem Umfange erfannt werden follen. Falſche und richtige Meinungen find hier beide werth- voll. Der fritifche Blick ſchärft fih. Und was für den, der fich diefen Bemühungen widmet, zuerſt nur ein perfönlicher VBortheil war, fommt mit der Zeit einem fich ftetS vergrößernden Kreife zu Gute In diefem Sinne ift aud Lermolieff's mit Scharfjinn geichriebene® Bud eine Erfcheinung, die fördernd wirken wird. Viele Seiten darin wurden ohne böfe Nebengedanten

niedergejchrieben, und man freut fi, bier mit X. übereinftimmen zu dürfen. So bei

dem, was er ©. 251 über den einft in der Sammlung Borgheie fihtbaren Heiligen Ba er nus des Francesco Francia fagt, dasjenige Werf des Meifters, das allein die volle Kenntniß feiner Kunſt gewährt und das, in den großen Untergang jo vieler Reihthümer vielleicht bereits mit bineingeriffen, im Palaſte Borgheſe zu Rom nicht mehr fichtbar ift. „Wenige,“ jagt der Verfafler, „bauhen jo voll das Arom jener goldenen Kunftblüthe aus, mie jener Stephanus.“ Warum muß in dem Buche neben jo ſchönen Säten fo Widriges ftehen? dry. Maffael- Studien mit befonderer Bes rüdfichtigung der Handzeichnungen des Meifters von Dr. ®. Hoopmann. Mit 36 Abbil- dungen, darunter 21 Abdrüde nah Hand— jeihnungen Naffael'S in der Größe der Driginale. Marburg, Elwert'ſche Berlagd- buchhandlung 1890.

318 Deutſche Rundicau.

Eine hübſch ausgeftattete Bublication. Will | Wir begreifen nicht recht, warum ein (do& ein beginnender Verehrer Raphael's dem Meifter er jüngerer?) Schriftfteller nicht lieber eine in genauerem Studium nadgehen, jo möge er Geſchichte der Jugendzeit Raphael's geſchrieben diefe Beobachtungen eines ſehr vorfichtig auf: | hat, die, ohne vielleicht größeren Umfang zu tretenden Forichers in die Hand nehmen. Aber | beanipruden, feine Leſer und ihn jelbit mehr er muß, was durchaus nothwendig ift, Wort für | befriedigt haben würde.

Wort aufmerkfam verfolgen. Er wird dann lernen, | 6. Brinz Noſa Stramin. Bon Eduard wieviel die liebevolle Betrahtung eines Hunft:| Helmer. (Ernit Koh.) Fünfte Auflage. liebhaber8 aus Bandzeichnungen eines großen) Mit einem Geleitswort. Kaſſel, Georg 9. Meifterd herauszulefen im Stande je. Db| Wigand. 1890.

wir mit dem in dem Hefte Vorgebracdten s ift des Defteren ſchon in dieſen Blät- einverftanden feien (mad wir nicht find), fommt | tern von Ernjt Koch die Nede geweſen und bei diefer Würdigung der Arbeit deö Herrn | feines Buches „Prinz Roſa Stramin“ Erwäh— Dr. Koopmann nidt in Betradt. | rung gethan worden, welches lange nur in der

Wasman „wiflenichaftlihe Methode“ nennt, | engeren Heimath des Tichters, in Kurheſſen, ift nur ein anderer Ausdrud für „Anwendung | gefannt und geſchätzt ward, und auch dort zu— der gefunden Vernunft“. Bei der ungemeinen | erft nur von Wenigen. Ein trauriges Geihid Fülle des mit Raphael's Thätigfeit in Ver- | hatte Ernft Koch feinem Vaterlande entfrembdet, bindung gebradten Materiales nöthigt die ge- | und weit weg von demielben iſt er vorzeitig funde Vernunft, unter den ihm zugeichriebenen ragen fcheinbar vergeflen, wie fein „Prinz Arbeiten diejenigen zufammenzulegen, welche Roja Stramin*. Da nahm ſich, im Jahre 1872, dur Inſchrift oder durch glaubwürdige Nach- ein poetifch reichbegabter Landsmann, Karl richten fih als ihm und feinem Anderen zu- | Altmüller, des Büchleins an, deſſen eigent- gehörig ermweilen. Treffen wir bei Raphael liches Yeben nun erit, vierzehn Jahre nad diefe Auswahl, jo findet ſich, daß die ficheren | dem Tode feines Verfaſſers, begann und fort: Gemälde und Zeichnungen gewiſſe gemeinfame |an aud die Namen der Beiden lebendig er— Eigenfchaften haben, die als ihre Befonderheit | halten wird, deffen, ber es fchrieb, und deſſen, erfennbar find. Die nächte Frage wird fein, ob | der es der Welt zum zweiten Male gab; denn unter den übrigen, nicht fo ganz ficheren Werfen auch dieſer ift jung geftorben. Es braudite einige diefe Befonderheit gleichfallsverrathen. Aus | zweiundzwanzig Jahre, bis die zweite Auflage diefen wird dann eine zweite Nategorie zu bilden erſchien; jet, nach weiteren ſiebzehn Jahren, fein. Als dritte Operation bietet fi darauf liegt die fünfte vor. „Prinz Roſa Stramin’ dar, den gefammten Beftand der Raphael zu= | ift ein Haushaltsbud in öeffen geworden, und geichriebenen Arbeiten auf die Aehnlichkeit ge- wir jehen nicht ein, weshalb es den Platz, den wiſſer Sachen unter fih zu prüfen, ꝛc. Dies | es verdient, fich nicht auch im übrigen Deutid- fchafft Gelegenheit zu weiteren VBermuthungen. | land gewinnen ſollte. Denn wir haben nidt

Es gibt aljo eine Straße der Erfenntniß. | jo viel qute neue Bücher, um nicht gern zu den Mill man im Herauserfennen der Werke Raphael’S | guten alten zurüdzugreifen, zu denen, die nicht fich größere Freiheit geftatten, jo wird man fich |veralten. Ein folhes Bud ijt „Prinz Roſa mehr und mehr ind Neich des Ungewifjen ver- Stramin“, das in feiner gegenwärtigen Geftalt lieren. Wer an fih jelber alaubt, fühlt fich ſich gar gefällig präfentiert und immer mehr auf dieſer verlängerten Strafe vielleiht am |iympathiichen Zefern auf feinem Wege begeanen wohliten und am fiherften! Denn ohne die | möge. ſelbſt ertheilte Erlaubniß, aus perfönlicher o. Gefpenfter im Sonnenfchein. Mertwür- Neigung Vermuthungen auszjufprehen und an dige Alltagsgefchichten von Ernit Wechsler. ie zu glauben, wird Niemand jich funfthiftori»- | Yeipzig, Wilhelm Friedrich. den Unterfuhungen bingeben wollen. Wir In einem hübſchen Bud über „Wiener nehmen es Keinem alfo übel, wenn er jene Autoren“, das wir an diejer Stelle früher be- Straße vom abjolut Sicheren zum abfolut Un: reits angezeigt haben, jpricht Ernft Wechsler fiheren jomweit als möglich verfolgt. Aber wer ſich höchſt verftändig über die feuilletoniftiice das thut, muß die eben angedeuteten drei IInter- Production aus, der, auf Koften der eigentlid fhiede wenigitens kennen. Wir find nicht ganz | poetiihen, das Bedürfniß der Tagesblätter und überzeugt, daß der Verfafler unferer Raphael» | die Gunſt des Bublicums entgegentommen. Den— Studien fhon jo weit gefommen jei. 'felben Gedanfen, aber in das Gewand des

Wir haben noch ein Anderes dem Verfaſſer Märchens gekleidet, nimmt der junge Schrift nicht gerade vorzumerfen, aber doch als Eigen- |jteller in der erften der Stizzen wieder auf, Schaft feiner Arbeit anzumerfen. Ueber die welche, die vorliegende Sammlung einleitend, meiften der von ihm befprochenen Werte befteht | zugleich fein äfthetiiches Glaubensbekenntniß ent: eine Yiteratur, die fie zum Theil ik ange- hält. Als „die Töchter der Muſe“, denen Beifall legentlich befpridt und no in Fluß ift. Herr und Yohn der Menge gehören, werden Feuilleton Dr. Koopmann discutirt die Meinungen feiner und Operette dargeftellt, während die hoch und Mitforſcher nicht, nennt deren überhaupt jo qut |einfam im Wolkenſchloß Thronende nur menia wie feinen. Wir haben nicht die Abficht, dies von den fubftantiellen Freuden diejer Welt zu zu tadeln, glauben aber, er würde, wenn er bieten hat ein geiftreiches Capricio, jchillernd nur die Schriften Derer z. B. eingehend be- von Farben und Gejtalten, und mit einem handelt hätte, die fih mit dem venezianiichen | bitteren Kern von Wahrheit. Diejelben Züge Skizzenbuche beihäftigten, feinen Studien fefteren des Vhantaftifhen und Sroniichen, bald mebr Grund und Boden unterbreitet haben. ind heiter Spielende gewandt, bald mehr ins

Xiterarifhe Rundichau.

düfter Grübelnde, finden fid in den übrigen Stüden des Bandes wieder. Nicht alle And von gleichem Werth; aber den erniten Sinn, der den bedeutenden Fragen des Dafeins nicht gleichgültig vorbeigeht und auch in den bejchei- denen Eriftenzen jeine Poefie zu finden vermag, erfennt man in allen, und fat alle haben eine Pointe. So die Fabel, oder wie man es nennen mag, vom „Zuhören“: „Es ift ein trauriges Factum, daß in Gejellihaft jo unendlich viel geiproden, und jo unendlich wenig zugehört wird“; fo ferner, in dem jonft ein wenig carri— fierten Vortragsabend eines ‚mufitafifchelitera- riichen Familienvereins“, das überaus treffende Wort: „Selig find die Einfältigen und die Dilettanten“. Wahrhaft frappant wirft der Schluß der Heinen Geſchichte „Drei Schneider“ ; aber worin die Überrafchung bier befteht, wollen wir dem Leſer nicht verrathen, um ihm das Vergnügen nicht vorwegzunehmen. Aus einer mehr oder minder handgreiflichen Realität her—

‚wohlwollende common-sense aus

vorgehend oder fie fpiegelnd, jcheinen dieſe „Ge—

fpenfter im Sonnenſchein“ durd ihren Titel an-

deuten zu wollen, daß in Yeben und Did

tung von den Gebilden der Naht nur das

Licht befreien fann.

07. Herr Paulus. The Inner House. By Walter Besant, Taucnig » Edition. 2541/42. 2553. Leipzig, B. Tauchnitz. 1888.

Mr. Belant ift einer der eifriaften und betriebiamften engliihen Romanjchriftiteller, und in Bezug auf feine Arbeiten, jowie die Pünft- lichkeit ihres Erjcheinens der Nachfolger von,

Anthony Trollope, mit dem er jonft auch einige |

Aehnlichkeit befigt. Erft die Verbindung mit |

betannten Romanfirma BesantandRiceführte ihn diefem Beruf zu, deſſen er nunmehr allein pflegt. Seinen vielfeitigen praktiſchen Inter— eſſen entipriht es, daß er fidh gerne fociale Probleme der Gegenwart zum Vorwurf wählt, wie vordem Charles Reade, und mit Erfolg, was man aus der Errihtung des Vergnügungs- ortes für arme Yeute The People's Palace in London jchließen darf, welcher gemäß feiner Schilderung in der Erzählung All Sorts and Conditions of Men erbaut wurde. Auch in den vorliegenden Bänden greift Beſant ähn— liche Aufgaben an. die kurze Laufbahn eines amerifaniichen Ge- danfenlejerd und Hypnotifeurs in der Yondoner Gejellihaft und benugt die Gelegenheit, jehr verſchiedene Typen aus fpiritiftiichen Kreiſen vorzuführen. Der aufſteigende Theil der Ge— ſchichte iſt ſpannend geſchrieben, der zweite Band fällt dagegen ſehr ab und wird in Erfindung und Darſtellung häufig trivial. The Inner House iſt ein polemiicher Roman, der in Ge

einem ſeither verftorbenen Freunde zu der wohl— | 1

‚rinnen etwas gefichtet wurde. Herr Baulus beichreibt |

ftalt eines wunderlich phantaſtiſchen Zufunfts-

319

reien, ſowie gegen die Wünfche nach dauernder Verlängerung des menjchlihen Lebens Fehrt. Diefes Buch ift jedenfalld geiftreih und an- vegend, obgleich es, wie das vorgenannte, der forgfältigen Compofition und damit des rechten fünftleriihen Werthes ermangelt. o8y. Concerning Men and Other Papers. y Mrs. Craik. London, Macmillan & Co. 1888. Diefe Auffäge enthalten das Letzte, was die vortreffliche Verfafferin von John Halifar, Gentleman geichrieben hat. Wir erfennen fie auch hierin wieder. Mag fie über die Ehe reden, über den Kryſtallpalaſt, über eineSommer- friihe für Londoner Ladenmädchen, oder von einem jchottiichen Volksfeſt und Shafefpeare- aufführungen erzählen, immer fpricht derielbe ihren Eifays, die wahre Menfchenfreundlichkeit, die Milde ihres Wejens. Nicht ohne Heine Schwächen natürlid. So überfieht fie, wenn fie vom

Müßiggang in Jrland fpricht, daß diefer vor

Zeiten dem Volke durch die engliiche Regierung aufgezwungen worden tft; daß die Habgier der Fabrifanten von Mancheſter und Liverpool ver- mitteljt der hohen Sätze eines Zwiſchenzolles die einft blühende iriſche Hausinduftrie (wer wüßte nicht von irländifcher Yeinwand ?) ſyſte— matiſch zerftört hat. Das wird jedoch dem Buche nit abträglid, ruft uns nur die Liebens— würdigfeit und Thatlraft der begabten Er— zählerin ins Gedächtniß, der auch in Deutſch— land viele Leſer qute Stunden verdanken.

). Deutſcher Literatur:ftalender auf das Fahr 1890. Herausgegeben von Jojeph Kürfhner Zwölfter Jahrgang. Stutt- gart, of. Kürfchner’s Selbftverlag.

Früher als jonft und in erweitertem Um— fang liegt dieſer Jahresalmanach, der für jeden mit der Yiteratur in Verbindung Stehen- den unentbehrlich ift, vor und erfreut uns von Neuem durch die Sorgfalt und Umficht feiner

Zufammenftellung wie durh den Reichthum

jeines Inhalts. Der Letztere ift zur Ges nüge befannt; erwähnen wollen wir nur, daß der Drud größer geworden ift und das Adreſſen— verzeihnii der Schriftiteller und Schriftſielle— Wir haben dies mit befonderem Vergnügen bemerkt, denn fo angenehm in diefem Falle auch ein Biel ift, jo ftörend wirft ein Zuviel, und und dünft, daß die legten Jahrgänge des Kalenders hieran ge- litten. Der Herausgeber verjpridt, daß er auch ferner mit „dem großen Kehrbejen durd die Spalten feines Buches jchreiten wird“; wir find gewohnt, daß er jeine Verſprechungen er- füllt, ja, zumeift noch übertrifft; das jehen wir am deutlichiten bei einem Vergleich des neuen Yiteratur-flalenders mit feinen Bor»

bildes fich aegen die fommuniftiichen Schwärmer | gängern.

vor

Menger.

320

Bon Neuigkeiten, melde ber 12. April augegangen find, verzeihnen wir, näheres her nah Raum und Gelegenheit uns ebaltenb: Anne-Paule-Dominique de Nonilles, marquise de Montai Nouvelle edition. Paris, E. Plon, Nourri & Cie. 1800 Bauer. Naturalismus, Nihilismus, —— in der ruiflihen Dichtung. eiteratur-biftorl de und fritifche Streifziige von Erwin Bauer. Berlin, Hans Lüften öber, 1590, Bergmann. Die letzte Stiftung der Kaiserin Augusta von Ernst von Bergmann. Berlin, August Hirschwald. 1%. Bibliothek dentwürdiger —— reiſen, heraus⸗ gegeben von C. Fallenhorſt Lfrg. 1. Stuttgart, Union.

—— Erg . Bas nun? Blide in die ber —— von Aurt von Breslau. Berlin, ffirer & Danzige Correspondance 0 Icielle des Pachas ot des Deys d’Al pr avec la Cour de France. 1579-1833. Re- eueillie dans les depöts d’archives des affaires etrangeres, de la marine, des colonies et de la chambre de commerce de Marseille, et publiee avec une introduetion, des eclaireissements et des notes Eugene Plantet. 2? tomes. Paris, Felix Alcan. David. ee Hofe Recht. Eine Erzählung von J. J. David. Dresden und Leipzig, Heinrich Minden. Dollinger. Atademiſche erg von X. von Döllinger.

Eriter Band. Zweite Auflage ünden, €. 9. Beide Verlagsbuhhandlung (Tscar Bed), 18%. bner » @fhenbad. Unſuhnbar. Srrählung von Marie von Ebner-Eſchenbach. Zwei Theile in einem Bande, Berlin, Gebrüder Partel. 1890

irdofi’d Königebuh (Schahmame), Friedrib Nüdert. Aus dem Wa . a ag mean von €. 4. Bayer. Sage I—- XII. Berlin, Georg —— 1890.

rapan. Zwiſchen Elbe und Alſter. Hamburger Novellen von Alle Arapan, Berlin, Gebrüder Paetel. Ko. Fulda.

—— von Ludwig Fulda. Berlin, F. ontane.

Fürft —ãA— * Politik jeit Begründung des neuen Reiches. Bon B. von U. Yeipiig, Dito Spamer. Gautlier. Daniel Cummings, Paris, E. Plon, Nourrit & Cie. @erof, Troſt und Weihe. Neden und Predigten von Karl Gerot. Stuttgart, Karl Arabbe. 1890. @erot. Vor Feierabend. Karl Gerot's legte Pre- biaten. Stuttgart, Karl Arabbe. 180 Dadye. Aus dem deutihen Walde, Alle Zeit bereit | fur des Waldes Herrlichkeit! Stimmungsbilder und Erzählungen aus dem Walde von Hermann Hadıs. Gajiel, €. Nidharg. 1800. Bildebrandt. Dbne Bismard, Eine nüdterne Be- 78 der Lage von Wartin Hildebrandt. Berlin, u ein

"überfegt von

1890, Par Henri Gaullier.

1800

Kinder-Gartenlaube. Band 5. Nürnberg, Verlag der |

Kinder-Wartenlaube,

fllein. Schmerzlide Wonnen. Roman von Ostar Klein. Elberfeld, Verlag bes Beriaflers,

veber. Nepetitorium ber Geſchichte der Philoſophie. ton Dr. Raphael Koeber. Stuttgart, Carl Conrabi. 180,

Kohut. Ein Liebesarchlv und mandes Andere. Von Dr. Adolph Kohut. Leipzig, Georg Meyet's Berlan. 180

Levbekomw, Aus ben Erinnerungen eines Schleswig geiheintiden Dffipiers von A. von vevegom, 1. Kfrg. Schleswig, Julius Bergas. 1890.

Maltan, Der tobntampf. Bolksjhaufpiel in fünf Aufzügen von Hermann freiberen von Malgan. Olben— burg, Schulze ſche ——— A. + age 180,

as bürgerliche Recht und

losen Volksklassen. eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche

Reich von Dr. Anton Menger. Tübingen, H. Laupp'-

sche Buchhandlung. 1890.

Redaktion bis zum | Müller «Guttenb

Bröll. Bogelbeeren. Kleine Reclam’d Univerfal:Bibl

1890 von Subel. -

Zolftoj.

Warnow. Chauvinismus., Weitbredht.

Zander. Sociale

Zeit⸗ umd Gtreitfragen, deutliche.

die besitz- | Eine Kritik des Entwurfes '

Teutihe Rundichau.

runn. Das Biener Tbeaterleben. et Adam Müller-Guttenbrunn. Leipzig, Otto Epamer, aaff. Aus dem Dornbuſch. 7*8 vom

N Fee Auquit Naaff, Dresden

dmer. Raijer Wilhelm a die ee a: Elife je Hab X und die Kaiſerin Augufta, Mit Bri bes "at Wilhelm. Herausgegeben von Gneomar Emft von Nagmer. Berlin, Gebrüder Paetel. 1890. chichten und Plaube- ans Yilftendber. 1890, 28 Eolo»Epiele, —— und ie, Dec von Gar! fr. Bittmann.

reien von Karl Pröll. Berlin,

1I. Bohn. Leipzig, Pb. Reclam jr.

Grillparzer’d Aunftpbilojopbie von Dr. Emil Reid. Wien, Manz'ſche t. f. Hofe, Verlags⸗ und Uni«- ——

he —*5* ology of By Th. Ribot. —— Open Court Pub. Co. ]

Richter Bus Deutſche Keic. Zune Baterland#-

tunde. Bon Yrofeflor Dr. J. Dtto Richter. Mit ne artenbeigaben, 532 Otto Spamer. 1

h. Adolf Diefterweg, ber Reformator bes en Volksſchulweſens im neunzehnten Jahrhundert. Feftichrift zur Feier feines bundertjäbrigen Geburts— tages, den 29. October 1890, von —— Rudolph. —— Nicolai’jche Berlagsbuchbandlung Strider.

Schaff. Literature and poetry. Studies on the

english language: the poetry of the bible; the dies irae; the stabat mater; the hymns of St, Bernard; the universit ancient and modern; Dante Al- lighieri ; the divina commedia. By Philipp Schaff. New York, Charles Seribner's Sons. 1890. warzkopf. Moderne Tupen. Rovelliftiihe Studien von Guſtadv Schwarzkopf. Stuttgart, Aboli Bons

& Comp.

- Die Begründung des Deutſchen Reiches Vornehmlich nad den preußiihen einrih von Subel. Bierter Band. —— Minden und Leipzig,

durch Wilbelm 1.

Staatsacten von

ao. unveränd Oldenboura.

——— Umateur: tograp * von für N. Biete. ——— —— Rudoelf

uctenberger

die a onate. Don Leo Tolftoj. Weber: fegt vom Bibliographiiden Bureau zu Berlin. Wit einer Einleitung von Raphael Lömenfeld. Berlin, 8, Bebr'3 Buchhandlung.

Volz. Geſchichte Deutihlands im neungehnten Jabr-

um Zobe . Abtblg.

Ein Zeitbild von Aranz Barnom. Dresden und Yeipsig, Seintid Minden.

Sonnenwende. Neue Dichtungen von Earl Weitbredt. Etuttaart, Adolf Bon; & Comp. 1.

hundert vom Xuneviller Arieden an bis Kaiſer Wilhelms I. Von Dr. Bertbold Volz. veipzig, Dito Spamer. 18.

Wilbrandt. Der Meiiter von Palmyra. Dramatiſche

Dichtung in Fünf Aufzügen von Adolf Wilbrandt. Stuttgart, X. G. Cotta’jde Buhbandlung, Nabfolger, 1889

Wilkinson. The brain of an BT: ze y

account of the german general Sta ucer London, Maemillan and Co. Wohlfahrts- Einrichtungen im Staate, in der Gemeinde und im Fabrikbetriebe von ©. H. Zander. Düsseldorf, C. Kraus. 189%. pp. im neuen Eparta. Roman von Artbur Jarp. Berlin, a Edftein Nadfolger (dammer & Runge). Begründet von gran von Holgendorfl, berausgegeben von Nürgen ona Meyer. Neue Folge. Vierter Jahrgang. Heft 59: Eittenlehre und Strafredt. Bon Conrad Tblmmel. Heft @0,61: Neber litterariſge Aälfhungen, Bon Dr. Herm. Hagen. Heft 62: Ueber Budgetredt. Bon Dr. . Hamburg, Verlagsanftalt und Truderei. an Die Hobenzollen in Rumänien. Cine

Wilkinson.

3 N nottitiee Koßanklunn von Dr. A. Th. Zingeler.

Bonn, Emil Etrauß. 18.

Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin.

Drud der Piererjchen Hofbuchdruderei in Altenburg.

für die Redaction verantwortlih: Paul Lindenberg in Berlin.

Unberechtigter Abdrud aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt.

Ueberfegungärechte vorbehalten.

Zwiſchen Kirche und Daflorat.

Novelle von

Mite Aremnitk.

Die Kreisiynode tagte in der Kirche zu Brinkhof. Es war ein regneriſcher Augufttag, und alle Wege der Umgegend aufgeweicht; trogdem waren die Paftoren mit ihren Synodalen vollzählig erjchienen: wichtige Fragen follten discutirt und der Jahresbericht zufammengeftellt twerden. Auf dem breiten Chor, der fi an der einen Seite ber großen Kirche hinzog, ſaßen jogar einige Damen.

„Wer find die Damen, Jenſen?“ fragte ein älterer Geiftlicher mit langem, weißen Haar und glatt rafirtem Geficht Teije jeinen Nachbarn, einen jungen, Ihlanfen Mann, deffen unteres Geficht ein ſich kräuſelnder Vollbart bederfte und deſſen blaue Augen einen faſt erfchredend idealen Ausdrud hatten: Augen, bie verflärt ausſahen, al3 jeien fie nicht von diefer Welt.

„Es find meine Schtweftern,“ entgegnete der Angeredete lächelnd.

„Ah richtig, ich erkannte fie nicht in den großen Hüten“ er grüßte hinauf „aber die Andere, die Kleine mit dem runden Gefiht, den frifchen Farben und den lustigen braunen Augen?“

„Ich glaube, e3 ift die Nichte de3 Propftes,” antwortete er erröthend.

Trat ihm das Blut in die Wangen, weil er „ich glaube” gejagt, obgleich er es doch genau wußte, oder weil er bisher nicht hinaufgeichaut Hatte? Auch jet that ex es nicht, jondern nahm feinen Pla unter dem Chor ein, biß er ala Schriftführer heraustreten und fih an den Tiſch vor den Altar ſetzen mußte: der Jüngſterwählte der Propftei fungirte immer als Schriftführer; Jenfen war erſt jeit zehn Monaten im Amte.

Der ältere Herr, Paftor Hinderjen, blieb auf der Seite der Kirche fißen, die ihm geftattete, die jungen Damen zu jehen; als eifriger Botaniker liebte ex die Blumen in jeder Form. Er war der einzige der anweſenden Paftoren, ber, obgleich zwanzig Jahre Lang verheirathet geweſen, nie Kinder gehabt hatte. Viel— leicht gefiel ihm darum die kindlich anmuthige Nichte des Propftes jo gut. In

der Paufe erfundigte er fi) darnach, wer fie jei? Ihr Vater —— als Deutſche Rundſchau. XVI. 9.

322 Deutſche Rundſchau.

Regimentskommandeur von Königsberg in eine Garniſonſtadt der Herzogthümer verſetzt worden, und ſie war ſeit drei Wochen in Brinkhof zum Beſuch. Sie ſollte ſchon vierundzwanzig Jahre alt ſein! Das war nicht zu glauben, fie ſah wie ſechszehn aus mit ihrem frifchen runden Gefidht.

Nachdem er fie eine Weile angejehen, wußte er auch, woran fie ihn erinnere: an die Mohnblume. Ihre Augen waren der reife, Schwarze Stern, die reizende weiche Form der Wangen entſprach dem rundlichen Kelche.

Unterdeß hörte er nur mit halbem Ohre auf den Bericht über eine Kirchen— reparatur, welche von den Bauern einer Gemeinde aus eigener Initiative vor: genommen war, und auf die fi) daran fnüpfende Discuffion, ob dies Factum in den Jahresbericht aufzunehmen fei oder nit. Dann begann Paftor Peterin einen Vortrag über „die Mittel zur Bekämpfung der Bagabondage“.

Die Fräulein Jenſen droben auf dem Chor langweilten fi; fie hatten über dies Thema ſchon oft im Haufe ihres Bruder reden hören und fanden die Land ftreicher eine große Plage, doch unintereffant. Fräulein Hartmann aber wohnte gern einem Wortrage bei; in Königsberg, als ihr Vater dort noch geftanden, hatte fie bei feinem wiſſenſchaftlichen Vortrage gefehlt; einmal in Berlin war fie fogar im Reichsſtag gewejen. Eine Verfammlung wie die gegenwärtige amüftrte fie außerordentlich, jaft jo jehr wie eine Parade. Männer in Uniform batte fie bisher eigentlich) vorgezogen, nur in leßter Zeit Hatten fi) unangenehme Gr: innerungen mit der Uniform vermifcht: Premierlieutenant von Klee Hatte ihr den ganzen vorigen Winter jo auffallend den Hof gemacht, daß fie von Tag zu Tag auf jeinen Antrag gewartet; im Mai hatte er ſich aber mit feiner reichen Goufine verlobt. Das war ein harter Schlag gewesen, der Johanna nur dadurd erleichtert wurde, daß, ihr Vater in derjelben Woche jo weit weg verjett wurde. Mit ihrer Stiefmutter ftand fie ſchlecht; vor ihr hatte fie daher ihren Kummer verbergen müſſen; ihr Vater war ein Falter, harter Dann.

Als fie nun in die neue Heimath gefommen, war es natürlich, daß fie einmal zum Bruder ihrer verftorbenen Mutter auf3 Land ging. Sie hatte fich bei ihm denn auch für den Monat Auguft angemeldet, während ihr Vater feinen Urlaub benußte, um mit feiner Frau eine Harzreije zu machen, und Johanna war auf das Freundlichſte von ihrem Onkel in Brinkhof empfangen worden. Schon am erften Sonntage hatte fie den Paftor des Nachbardorfes, Mlaus Jenjen, getroffen, und hatte im Lauf dev Woche mit ihrer Tante feine Schweftern aufgeſucht, die mit ihm in dem jchönen Paftorate lebten. Ihn Hatten fie nicht zu Haufe ge troffen, da er gerade einen Krankenbeſuch im Dorfe machte; aber am Sonntag darauf war er mit feinen Schweftern nad) Brinkhof gefommen.

Seht jah Johanna ihn zum dritten Male, und fie war fich ganz Klar, daß fie Herrn von Klees über ihn vergäße. Ja, fie dachte zum erften Male: „Wir gut, daß nichts daraus wurde!”

Es war jo wunderfchön auf dem Lande! Sie hatte bisher nur in der Stadt gelebt, und jet war ihr zu Sinn, als könnte fie nie twieder fort, als müßte es ein Himmel auf Exden jein, nur zwiſchen Kirche und Paftorat jein Leben zu verbringen. Natürlich war der Onkel Propft und feine Frau jehr er: freut über ihr Entzüden, das fie nur auf ihr Heim bezogen. Auch fie waren

Zwifchen Kirche und Baftorat. | 323

immer gern auf dem Lande geweſen, waren aber doch ſchon etiwas gleichgültig geworden gegen die Reize desjelben; Johanna brachte ihnen, jo zu jagen, erſt wieder ind Bewußtſein, wie herrlihd am frühen Morgen die Sonne durd bie Linde ſchien, und wie thaufriich der Blumengarten war. Sie ſahen jebt Alles wieder jung durch ihre jungen Augen. Es war ja aud) feit langem fein junges Mädchen im Haufe geweſen: die beiden Töchter Hatten ſich früh verheirathet; zwei Söhne ftudirten, und der jüngfte war noch auf dem Gymnafium in Schleswig.

Johanna ſah hier die Religion zum erften Dtale in [ebensvollem Lichte. Sie war nie unfromm getvejen, nein, fie tvar fogar regelmäßig zur Kirche gegangen, aber nur aus gedanfenlojer Gewohnheit. Die Religion hatte ihr tägliches Leben nicht durchdrungen. Seht, jeitdem fie in Paftor Jenſen's Augen geblict, war fie jo leidenfchaftli Fromm, da ihr bei jeder Kleinen Beichäftigung Bibelſprüche einfielen, über die fie den ganzen Tag nachdenken mußte.

Die Kirchenluft war es, die ihr auch die Synode jo beſonders anziehend machte. Sie war jo aufmerfjam, daß fie der Feder des Schriftführer mit den Augen folgte. Er hatte noch gar nicht zu ihr hinaufgefchaut. Hielt er es für unpafiend in einer Kirche?

Das ältefte Fräulein Jenſen ließ jet deutlich merken, daß fie fortgehen wolle; Johanna konnte ihr nicht zureden, zu bleiben, da fie doch bie Wirthin jpielte. Sie wußte zwar, daß die Tante noch mitten in den Vorbereitungen zum Mittageffen ſteckte, aber es war doc nicht zu ändern, und fie konnte ja mit den jungen Mädchen etwas muficiven. Die Fräulein Jenſen, ohne ſchüchtern zu fein, fühlten fich nicht wohl mit Johanna, die ihnen in Kleidung und Bee nehmen zu jtädtijch war: beſonders der modiſche Schnitt de3 Anzugs beunruhigte fie. Da Johanna immer nur mit Officierddamen verkehrt hatte, verwandte fie viel Sorgfalt auf ihre äußere Erſcheinung, und befonders heute hatte fie ſich jehr Schön gemadt: fie trug eine rothbraune Sammettaille, die ihre mädchenhafte Geitalt eng umſchloß, und einen Gachemirkleiderrod von derjelben Farbe, reich mit Sammet bejett. E3 ſaß alles adrett und elegant, während die Fräulein Jenſen, welche fi) ihre Kleider immer ſelbſt arbeiteten und fi) außerdem ganz gleich anzogen, etwas Typifches an fi) hatten: Ein Kleid jah immer aus wie das andere, da es ftet3 denjelben Schnitt hatte und meift diejelbe unbeftimmte Farbe, und wer fie nur einmal gefehen, erkannte fie daran jchnell wieder. Die Aeltere aber Hatte die Geihmadlofigkeit in der Kleidung zum Princip erhoben, weil fie meinte, daß man in einem Paftorate de3 guten Beifpield wegen nicht einfach genug fein könnte: die Bauerfrauen jeien fo wie jo ſchon zu pußfüchtig, und fie brannte eigentlich darauf, dieje ihre Meinung Johanna zu jagen; es wäre eine Art Proteft gegen die beneidete rothbraune Sammettaille geweſen!

Der Weg zwiſchen Kirche und Propftei war kurz, aber in dem Weichen Lehmboden doc nicht Schnell zurüczulegen, obgleich der Regen gerade ausgeſetzt hatte. Die Uhr zeigte ſchon dreiviertel Zwölf, als die Mädchen ins Haus traten, und das Eſſen war auf halb Eins feſtgeſetzt. Die Herren ſpeiſten gemeinjchaft- lich drüben im Wirthshauſe. Johanna nahm ihren Gäften Hut und Mantel ab

und führte fie in das bejte Zimmer, wo das Piano ftand. 21*

324 Deutiche Rundichau.

„Spielen Sie Clavier, fingen Sie nit etwa?” Dieje Vorfragen wurden erledigt, und die beiden Fräulein Jenſen entichloffen fi, da fie feine Handarbeit mitgebracht hatten und nicht gern ftille jaßen, etwas Vierhändiges vorzuipielen. Die Heine Frau Propftin, eine ſchon jehr bejahrt ausjehende Dame, mit grauen Löckchen vorn im Gefiht und einer jaubern weißen Haube, kam aud) ins Zimmer und hörte zu. Sie war vor ihrer Heirat Gouvernante geweſen und hatte fih daher auch viel mit Clavierfpielen abgegeben. Zwölf Jahre lang war fie verlobt geweſen, und bis ihr Mann eine Pfarre gefunden, Hatte fie fich in fremden Häufern ihr Brot verdient. Darum war fie doch eine jehr praktiſche Hausfrau geworden und hatte daneben ihre beiden Töchter allein unterrichtet. Der Propft erzählte da3 jo gern jo eine Frau, wie er, hätte wirklich ſonſt Niemand!

Kohanna achtete nicht auf das ſehr mittelmäßige Spiel ihrer Gäfte, mur machten die Töne fie unbewußt traurig; fie jaß am Fenſter und jah auf bie Kirche. Wenn er doch herausfäme und den Kleinen Pfad entlang ginge! Aber es war jehr unwaährſcheinlich; erft nad) dem Meittagefjen würde er auf einen Augenblid fommen, jeine Schweftern zur Heimfahrt abzuholen, und dann war der Tag vorbei, auf den fie ſich jo lange gefreut hatte, und ihr geſchwelltes Hey würde wieder flein werden! Sie würde ihn gewiß nicht allein Sprechen. Ad, die beiden glücklichen Mädchen, die mit ihm in fein Haus fahren durften, bie immer um ihn waren, die ihn jtet3, wenn fie wollten, jehen konnten !

Johanna trat an die Tante heran und fragte fie leife, ob fie allein wohl noch einmal in die Kirche gehen dürfe? Die Mädchen hätten fich gelangweilt, ihr hätte e3 aber jehr gefallen, und fie Hätte fort müfjen, noch ehe der Ontel das Wort ergriffen. Die Tante nickte, und Johanna ging, jo glüdfelig, da fie am liebften gefprungen wäre. Es wäre beinahe wie mit ihm jpredden, ihn immerfort anjehen zu fünnen noch dazu ohne dat es Jemand merkte; denn er jaß neben dem Propft, auf den fie doch blicken mußte!

War er ganz bei feiner Beichäftigung des Schreibens? Hatte er nicht ge merkt, daß fie wieder da ſei? Der ältere Herr mit dem glattrafirten Geſicht und den langen weißen Haaren hatte es doch gleich gefehen und fie angelächelt! Warum fonnte er denn nicht ein einziges Mal aufbliden? Sie ſuchte ihn mit ihren Augen dazu zu zwingen, allein e3 gelang ihr nicht, und nun mußte fie au, daß er nicht wollte. Warum nit? Wie ſchön jah er aus! Wie ein Chriftusbild. DO, ihr war, als möchte fie die beiden Arme ausftreden und io vor ihm niederfinfen, um fi von ihm jegnen zu laffen.

63 regnete wieder ftark, und der Wind jeßte ein; eine große Trauerweide dicht an der Kirche ſchlug mit ihren naſſen Neften hart an das Kirchenfenfter, jo dat Johanna erfchroden zufammenfuhr. In demjelben Augenblick jchaute er unwillkürlich auf, und eine Secunde trafen ſich ihre Augen. Er erröthete bis in die glatte Stirn, und Johanna's Herz klopfte laut. Der Propft ſprach weiter, und der Regen rauſchte ftarf und einfürmig nieder, fo daß ihr ganz traumhaft zu Muthe wurde. War fie es wirklich, die hier jo allein auf dem Chor ber Dorflirhe ja? ES war fo anders als ihr bisheriges Leben, ganz als ob fie eine Kindergejhichte von dev Wildermuth exlebte, oder ala ob fie eine Heldin aus Marie Nathufius’ Romanen geworden jei. Bejonder das merkwürdig ge

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ſpannte Gefühl in ihr, die zitternde Erregung, in der Gott, Kirche und der Diener der Kirche in Eins verſchmolzen, in der fie nicht wußte, ob es heilige Schauer waren, die fie erfaßten, wenn fie den Prediger mit dem jchmalen, durchgeiftigten Geficht anblicte, oder ob e3 nur der Mann war, den fie in ihm liebte. Aber wie liebte fie ihn! Sie konnte fi nie anderd vor ihm ala Enieend denten; fie jah ihn auf der Kanzel ftehen und fi darunter, zu ihm hinauf: blickend. Dabei kannte fie feine Kirche noch nicht einmal. Würde fie ihm je dort jehen?

Plötzlich fiel ihr ein, daß die Zeit verrönne, ja, al3 fie nach der Uhr jah, merkte fie, daß fie ſchon über die feftgejehte Eſſensſtunde ausgeblieben, und jchnell eilte fie in die Propftei zurüd. Die Tante war nicht böfe über ihre VBerfpätung, zumal da Johanna jagte, fie hätte nicht mitten in der Rede des Propftes auf- ftehen wollen.

„Richt wahr, eine ſolche Stimme twie der Onkel hat feiner?“ meinte die bewundernde Gattin, und Johanna flimmte ihr gedantenlos bei. Das ältere Fräulein Jenſen meinte, auch Paftor Hinderjen Habe ein recht anfprechendes Organ, und als Johanna bemerkte: „Ihr Bruder fpricht gewiß jehr ſchön?“ bejahten die Schweitern e3 fühl.

63 war merkwürdig, welche Feindſeligkeit Johanna in den beiden Fräulein Jenſen jpürte; fie juchte diefelbe auf jede Weiſe zu befeitigen und überhäufte fie mit Freundlichkeiten, denn ihr Herz zog fie warm zu ihnen hin e8 war ums ſonſt. Die Pröpftin merkte e3 nicht; fie war in Gedanken nur damit beichäftigt, ob ihr Dann fi auch nicht erfälten würde, da er ſechs Stunden lang in ber feuchten, falten Kirche fiten mußte, und ob das Efjen im Gafthaus durch Die Verzögerung nicht ungenießbar geworden wäre? Auf Ein Uhr war es angejeht worden, aber nad) der Länge de3 zu diöcutirenden Programms konnte ed Drei werden, ehe die Herren frei waren. Sie hatte eigentlich Luft, nach dem eigenen Mittagefjen, das jchon faft beendet, einmal zur Krugwirthin Hinüberzugehen ; der Regenguß war ja vorüber.

Die jungen Mädchen fprachen jet über einen neuen Stih in der Woll- ftidferei, und Johanna verſprach, denjelben den beiden Fräulein Jenſen zu lehren ; außerdem hatte fie kürzlich eine Art Patentftriden gefehen, das viel dauerhafter al3 das gewöhnliche fein ſollte. Das ältefte Fräulein Jenſen meinte, ihr mache nur Klöppeln Freude, weil Johanna nicht? vom Klöppeln verftand; als nun letztere bat, e8 fie zu lehren, wenn fie einmal zu ihnen käme, antwortete Marie Senjen, da3 ſei zu umftändlid. Die jüngere Schwefter Anna aber verabredete fich ſchließlich mit Johanna auf den nächften Tag, und wenn Marie auch meinte: „Du weißt, Anna, wir haben morgen den ganzen Tag mit der Wäſche zu thun,” fo ließ Johanna ſich doch nicht abjchreden. Die Ausfiht, in das jchöne Dorf, in da3 Pajtorat von Klaus Jenſen zu gehen, war zu verlodend, auch auf Koften ihrer Eigenliebe. So lag ein Morgen vor ihr, wenn der heutige Montag grau zu Ende dämmerte!

Allein das Wetter jchien anderer Anficht getvorden zu fein; um vier hr fam die Sonne heraus, und gleich darauf trat der Eleine Propft mit dem jchlanfen Baftor Jenjen auf den Kirchpfad, der zum Haufe führte. Johanna jah fie und

326 Deutiche Rundſchau.

wechſelte die Farbe: jeht fam ex! Was würde er mit ihr ſprechen? Würde er lange bleiben oder nur die Schweftern abholen?

„Sie find den Verhandlungen mit großem Intereſſe gefolgt, Fräulein Hart: mann!“ jagte Paſtor Jenſen lächelnd, nachdem er Alle begrüßt.

Sie hatte ihren Pla am Tyenfter wieder eingenommen, er ftand ihr gegenüber in ber Fenſterniſche.

„Meinen Sie etwa, daß ich nicht im Stande fei, dieſe Verhandlungen zu verftehen ?” entgegnete fie, zu ihm aufblidend.

„Wie gefalfühtig fie ift,“ dachte Marie Yenjen, die gerade mit dem Propft ſprach.

„Nein,“ meinte der junge Paſtor, „mich wundert nur, daß Sie verwöhnte Stadtdame Gefallen an unjern Angelegenheiten finden.“

„Aber wir find doch auch Chriften!“

„Iſt die Kirchenverwaltung darum intereffanter ?“

„Dich intereffirt Alles, was mit der Kirche zufammenhängt, das Aeußerliche und da3 Innerliche.“

„Hoffentlich nicht gleich jehr?“ unterbrach. mit jcharfer Betonung Fräulein Marie.

„Natürlich nicht,” lachte Johanna, die fich über nichts ärgern konnte, wenn Klaus Jenſen in ihrer Nähe war. „Wäre ih ein Mann, ich würde ficher Lande paftor geworden jein.“

„Und doch wifjen Sie nicht, wie ſchwer da3 gleichförmige einfame Leben mit den harten Anforderungen des Tages Jhnen geworden wäre; Ihre Natur eignet fich nicht dazu.“

„Was wiffen Sie von meiner Natur?” fragte fie übermüthig.

„Run, die ift doch in Allem ausgeprägt, in der Erſcheinung“ jein Blid glitt über ihre elegante Kleidung „in der Stimme... ."

„Der Kern der Menfchennatur verbirgt ſich aber doch ſcheu vor Anderen,“ fagte fie leifer.

Er ſchwieg einen Augenblid. Es war höchſt reizvoll, ihr gegenüberzuftehen. In ihren zierlichen Fingern hatte fie eine Stiderei, arbeitete aber nicht daran, fondern ftecte die Nadel immer nur Hinein und holte fie wieder heraus. Sie war bei ihren letzten Worten roth geworden, und er ftand da und ſah fie um- verwandt an, ohne eigentlich zu wiſſen, daß er e3 that.

„Wollen Sie fi) nicht ſetzen?“ fragte fie ſchließlich. Er rückte fich einen Stuhl heran und fragte fie, was fie arbeite? Ahr brannte das Blut in den Wangen, troß der Unverfänglichkeit der Frage; fie wußte nur, daß e8 wunderbar wohlig war.

„Eine unnüße Arbeit, die man madt, nur um etwas in der Hand zu haben.”

Fräulein Marie trat an die Beiden heran und meinte: man dürfe nie etwas Unnöthiges arbeiten, wenn fo viele Leute zu dem Nöthigften nicht die Zeit hätten und des Nöthigften entbehrten. Johanna erwiderte: „Sie haben gewiß Recht.“ Der junge Mann aber jagte: „Dein Puritanismus ſchickt fich nicht für Alle“

„Wollen Sie mich damit herabjegen ?" fragte Johanna, ihn groß anblidend, al3 ob jeine Schwefter nicht piquirt daneben ftünde. Wenn fie mit ihm ſprach,

Zwiſchen Kirche und Paftorat. 327

waren ihr alle Uebrigen jo gleichgültig, als Hätten fie weder Augen noch Ohren. Gr erwiderte ihren Blick, ohne auf das, was ſie jagte, zu anttworten, und fie la3 nur Bewunderung und Liebe in feinen Augen. Nach einer Weile jagte er plöglih: „Ich glaube, Sie könnten fi) an unfer hausbadenes Leben nicht gewöhnen.“

„Wie können Sie die leibhaftige Poefie nur hausbaden nennen! In einem Paftorat ift Alles durchleuchtet vom Glanz, den der Sonntag auf die ganze Woche wirft! Hausbaden ift das Stadtleben. Die gewöhnlichfte Verrichtung, Grünzeug pußen und Schweine füttern, fieht auf dem Lande, in der weiten, freien Luft, äſthetiſch aus zumal wenn man an die engen, büftern Höfe der Städte denkt. Sie wiſſen gar nicht, wie gut Sie es haben.“

„Aber nur Arbeit, nie eine Zerftreuung!” fiel Marie ein.

„Ist ein Tag wie der heutige feine Zerftreuung? Iſt ein Beſuch in der Nachbarſchaft nicht mehr, al3 ein Koncert oder ein Ball?“

„sa, nachdem man fich jatt getanzt hat,“ entgegnete Marie; fie wurde ganz unruhig: jo etwas Unverfhämtes war ihr noch nie vorgekommen! Diefes Fräulein Johanna warb förmlich öffentlih um ihren Bruder, und der ſaß da, als müfle e3 jo jein! Sie wandte ſich darum an ihn: „Klaus, es ift Zeit, aufzubrechen !“

Langjam und träumeriſch zog er jeine Uhr umd ſchob fie wieder in die Taſche, ohne gejehen zu Haben, wie jpät es jei.

„Warum find Sie jo eilig, Fräulein Jenjen? Sie haben doch feinen weiten Weg, und noch ift Niemand abgefahren,“ fragte Johanna.

„Ich habe zu thun; morgen wird gewaſchen, und da will ich heut Abend noch einweichen, ehe e3 dunkel wird.“

„Waſchen Sie jelbft ?”

„Natürlich; meinen Sie, die Magd würde allein damit fertig ?“

Johanna jah unwillkürlich auf ihre Finger und erfchrat vor ihren Gedanten. Der junge Paftor war ihrem Blick gefolgt und Hatte leicht gelächelt. Johanna empfand dabei einen fcharfen Schmerz aber fie konnte doch nicht jagen: „Für Sie fünnte ih Alles lernen!” Er hatte ihr ja eigentlich nie ein Wort von dem gejagt, wa3 ihr jo natürlih und unausbleiblich ſchien von ihrer gemeinjamen Zukunft!

Marie wandte ſich zu ihrer Schweſter, um den Aufbruch zu betreiben, und Johanna ſagte bittend zu Klaus:

„Wollen Sie nicht noch ein bischen bleiben; die Sonne ſcheint jetzt, und wir könnten die halbe Stunde bis ans Meer gehen.“

„Ich möchte wohl und habe auch Zeit, wenn aber die Schweſter nicht kann —“

Johanna war verleßt. Ließ er fi) jo von der Schwefter beherrſchen? Das wäre jehr traurig!

„Bitte, bitte,“ begann fie noch einmal, als handele es fi um etwas von höchſter Wichtigkeit.

„Alfo auf morgen, jo um fünf Uhr,” fagte Anna, an Johanna herantretend.

„Oder übermorgen, wenn e3 Ihnen befjer paßt?“ entgegnete diefe.

„ja, übermorgen wäre noch beſſer!“

328 Deutſche Rundſchau.

„Wißt Ihr,“ ſagte Klaus, als die Schweſtern auf dem Wagen ſaßen, den ein Bauer des Dorfes ſelbſt kutſchirte, „ich werde zu Fuß nachkommen; ich will noch einmal zu den Herren in den Krug gehen; vor acht bin ich ficher zu Haus.‘

Damit gab er dem Bauer-das Zeichen zum Abfahren, jo daß die Schweitern nicht3 mehr einwenden fonnten.

Der Propft fand es viel verftändiger, daß Jenſen zu Fuß ginge, nachdem er den ganzen Tag ftill gefeilen hätte; die Frau Pröpftin wurde mit einem Mal nachdenklich, als fie Johanna's ftrahlendes Geficht jah.

Paftor Jenſen ging allerdings zuerft in den Krug, Tehrte aber bald zur Propſtei zurüd und ſchlug nun den Spaziergang and Meer vor, die Wege wären ſchon ganz aufgetrodnet. Als er aber ſah, daß die alten Herrichaften keine große Luft hatten, war er e3 aud) ganz zufrieden, im Zimmer zu fiten. Er raudte nit und konnte daher Johanna helfen, verhedderte Wolle zu entwirren; und als der Propft fich zurückgezogen Hatte, las er den Damen ein Rückert'ſches Sonnet vor; fpäter begleitete, auf Vorfchlag der Tante, Johanna ihn zu einem Schubert'ſchen Liede, das er jehr hübſch fang, obgleich ihm Singen wie Rauden eigentlich verboten war. Johanna wollte die Augenblide fefthalten, aber fie hatte fein rechtes Bewußtjein davon; fie fühlte nur Eins: daß er geblieben war, weil fie ihn darum gebeten!

Als die Pröpftin am Abend zu Bett ging, fragte fie ihren Mann, ob er glaube, daß e3 was werden Könnte zwiſchen Jenjen und Johanna? Er lächelte und erzählte feiner Frau, daß Paftor Hinderjen jo begeiftert von Johanna's Geficht geweien ei, daß er nächſten Sonntag gewiß vorſpräche; er wäre nur aus Angft vor Marie Jenſen heute nicht in die Propftei gefommen. Darüber lachten Beide und jchliefen leicht ein.

Johanna aber war von ihrem Glück wie in Banden gehalten. „ch liebe Dich, Klaus,” jagte fie einmal leiſe, verfteckte fi) dann aber fchnell im ihr Federbett, und am nächſten Morgen wußte fie nicht, ob fie überhaupt geichlafen hatte.

——

Am zweiten Tage darauf brach Johanna etwa um vier Uhr Nachmittags auf, um bei Anna Jenſen das Klöppeln zu erlernen. Es war ein herrlicher Sommertag, ein jo wolfenlojer Himmel, dag man traurig werden konnte im Gefühl der ſeeliſchen Unzulänglichkeit, ſolche Schönheit ganz zu genießen. Der Meg führte zwijchen den hohen, itppigen Heden entlang.und geftattete nur jelten Ausblide auf das wogende grüne Land. In den Heden blühte noch da3 gelb: liche Jelängerjelieber, deſſen ſüßer Duft ſommerlich beraufcht; doch die grünen Hajelnüffe waren ſchon groß in der febrigen Hülle, und die Hedenrofen, lange vom Winde verweht, hatten fich zu den ftachlichen, noch nicht reif-rothen Hage butten geformt. Johanna achtete nur auf das Selängerjelieber; Anfangs ver: fuchte fie, fi) einen Zweig davon abzubrechen, als fie aber nicht heranreichte, fagte fie fih, es jei auch jchöner dort, wo es fich zwiſchen das volle Buſchwerk hindurch rankte: es gehöre ihr auch jo, und brauche fie e8 in der Hand zu halten, um ſich daran zu freuen?

Zwiſchen Kirche und Paftorat. 329

Der Gedanke aber machte fie traurig: mande Dinge muß man durchaus in ber Hand halten, um das Gefühl des Beſitzes zu erlangen nachdem fie eine WViertelftunde weiter gegangen, verfuchte fie doch twieder, ſich eines Zweiges Selängerjelieber zu bemächtigen. Es war ihr ein Symbol geworden; und ala fie die graziös gewundene Blume in der Hand hielt, jchritt fie noch einmal fo froh den Hedenmweg meiter. Sie wollte nicht jchnell gehen, um die freude bes „untertvegs“ zu genießen, und doch trieb etwas fie eilig vorwärts.

Da lag das Haus. Sie ftand ftille; es ſah unreal ſchön aus; nicht als ob Arbeitshände es nach eines Bauführer® Plan gemacht, nein, als wäre eines finnigen Künftler3 höchſte Schöpferftimmung dort verkörpert worden: das hohe Strohdach, das ſich wie lebendig, wie ein bewußt Schirmendes und Schützendes, auf den weißen Mauern aufbaute die Baumgruppe dahinter, die wunderbare Linde vor dem Haufe und daneben der gepflegte Garten, theilweiß verborgen durch die dichte Rothdornhede, über die nur eine zarte Blutbuche Hinausragte und einige hohe Nofenftöcde ihre weißen Blüthen ftredten. Das Hofthor ftand gaftlih offen, aber Hof und Haus waren unbelebt. Johanna ſchaute auf dies Bild, bis ihr die Thränen in die Augen traten. Ja, dort wohnte er, und old) ein Haus gehörte zu ihm, wie er zu dem Haufe. Vor Klaus Jenſen war fein Vater dort Paftor geweſen; nad) ziwanzigjähriger Unterbredung war er ihm jet gefolgt und wohnte wieder in dem Haufe, in welchem er geboren var.

Als Johanna jo vor dem Paftorate ftand und es betrachtete, wurde ihr da3 Herz jo ſchwer, daß fie daran dachte, wieder umzufehren. Aber fie jchalt fich thöricht und legte den Reſt des Weges jchneller zurüd, jo daß ihre Wangen glühten, al3 fie die leiſe Elingelnde Hausthür öffnete. Anna kam ihr entgegen, und gleich darauf erihien Marie. Johanna war die Nichte ihres Propftes, und wenn fie ihr auch nicht ſehr willkommen war, zeigte fie es doch nit im eigenen Haufe.

„Wir haben den Kaffeetiih in der Laube zurecht gemacht,“ fagte fie und führte ihren Gaft in den Garten hinaus; „Unna, rufe Klaus!“

Bis diefer fam, betrachtete Marie Johanna’3 Anzug mit tadelnden Gedanken: e8 war nur ein Kattunfleid, aber die Hellxofa Farbe, der Schnitt und die große, jeidne Schärpe gaben demjelben den Anftrih höchſter Eleganz; es jchien ihr die ſchönſte Toilette, die fie je gejehen! Dazu Eleidete Johanna der weiße Strohhut, der wie ein umgekehrter Korb jchühend über den Kopf geftülpt und mit einem Kranz wilder Rofen garnirt war, ganz ausgezeichnet.

Klaus blieb einen Augenblid an der Gartenpforte ftehen, al3 ex die rofige, liebreizende Erſcheinung in der grünen Laube jah; ex wurde noch bleicher, als er ſchon gewejen, ging dann aber auf fie zu.

„Was ift Ihnen?” fragte fie erichroden, „find Sie nit wohl?“

„Doch, ganz wohl,“ meinte ex, trübe lächelnd.

„Aber Sie haben ſich jeit vorgeftern jo verändert!" Ihre Karen braunen Augen jahen ihn ganz verzweifelt an.

„Ihr Kaffee wird kalt,“ unterbrah Marie fie jchnell, und in Johanna entitand das Gefühl, ala jei Marie an der Veränderung des Bruders Schuld.

330 Deutſche Rundſchau.

Das Geſpräch wollte nicht recht in Fluß kommen. „Haben Sie die Kirche ſchon geſehen?“ fragte der Paſtor.

„Nein,“ antwortete Marie an Johanna's Statt; „aber wenn wir jetzt nicht mit dem Klöppeln anfangen, wird e3 wieder zu ſpät.“

„Wir können ja am Freitag fortfahren, wenn Sie dann zu und kommen wollen? Die Tante läßt ſchön darum bitten,” jagte Johanna.

„Bis Freitag ift noch lange,“ meinte Marie außweichend und jah ihren Bruder an, der ſich erhoben Hatte.

Johanna und Anna ftanden auch auf, Marie blieb zurüd, und nur die Drei chritten den Weg zur Kirche hinauf.

Die Kirche ftand auf einem Hügel, von dem aus man einen ſchönen Umblid über die Gegend hatte. Das Kleine Gotteshaus jelbft erſchien unendlich rührend; aus großen ineinander gefügten Steinen errichtet, hatte es noch das Gepräge alter Zeiten; dev Glodenthurm ftand daneben, er war aus Holz und der Kirche fpäter angebaut.

Sie fanden die Thüre verjchloffen: „Ach, Anna, bitte hole den Schlüflel vom Küſter,“ jagte der Paftor. „ZH zeige Fräulein Hartmann unterdeß bie Gräber.“

Er ging um die Kirche herum, die jet zwijchen ihnen und dem Dorfe lag, vor ihnen erftredte fich die wellige grüne Ebene im Sonnenſchein. Die meiften Gräber waren baumlos, der Wind Haufle hier oben gar zu jehr, nur dicht am Gotteshaus lag ein durch mehrere Trauerweiden bejchatteter Platz. Klaus Lehnte ih an die Kirchwand und fagte:

„Hier ruhen meine Eltern.“

Ein leifes „Ah“ entfuhr Johanna’3 Lippen. Sie trat heran und las bie Inſchriften der beiden Leichenfteine: „Klaus Jenſen“ „Johanna Jenſen.“

Der junge Paftor ftand noch immer ruhig an die Kirchwand gelehnt, dod hatten jeine Augen mit den ihren die goldenen, halb verwaſchenen Lettern gelefen, und nun jah er auf fie, die lebensfriſche, jugendliche Geftalt, die bei dem Namen Johanna, der auch der ihrige war, eine kleine Bewegung verrathen hatte. „So jung haben Sie Ihre Mutter verloren!” jagte fie, und Thränen traten in ihre Augen, ala fie fi zu ihm umwandte.

„Ich war drei Jahr alt,” erwiderte er in demjelben ruhigen, hoffnungsloſen Ton, der fie heute bei ihrer erften Begrüßung jchon erfchredt Hatte, „und ſechs, al3 mein Vater ftarb.“

„Dh, Sie armer Mann,” fagte fie ergriffen.

„Auch Sie haben Ihre Mutter früh verloren —“

„Ich war do ſchon fünfzehn.“

„Sie wird wohl an derſelben Krankheit geftorben jein, bie mir meine Eltern nahm; fie war ja auch aus unſerm Lande!“

Ueberraſcht blickte fie ihn an. „Meine Mutter ftarb am Nervenfieber,“ entgegnete fie.

„So?“ war Alles, wa3 er erwiderte. Sie beugte fich über die Gräber und zupfte ein Kleines gelbblühendes Unkraut aus dem Epheu heraus. Er jah ihr zu, und fie fühlte e3 wie ein heilige3 Band zwifchen ihnen, daß fie am Grabe

Zwiſchen Kirche und Paftorat. 331

feiner Eltern jäten durfte. Der Schref und die Angſt vergingen ihr in dem Schweigen, da3 jet eingetreten war, und die mächtige Glüdsftimmung über twucherte Alles, gehoben durch den Heiligen Ort.

Er fagte noch immer nicht3, weil er jo viel zu jagen hatte und wunderte fih nur, daß Anna noch nicht zurückkäme, obgleih er ihr Kommen fürdhtete. Anna aber jaß vorn auf den Kirchthürſtufen und fpielte gedankenlos mit dem großen Schlüffel.

„Man kann von hier aus da Meer jehen,” begann er endlich; „mir ift der Bli jo lieb, mit dem lichten Streifen im Hintergrunde. Es jollte und Menjchen allen ein Symbol jein: jenfeit3 der Erde die lichte Ewigkeit!”

„Aber die Erde davor ift auch ſchön,“ entgegnete fie, glückjelig lächelnd.

Er jah fie an, und einen Moment zudte es um feinen Mund und jchien fein Auge fi zu verdunfeln. Schnell aber wandte er ſich wieder der Andeutung de3 Meere zu, die er am Horizont zu ſehen meinte. Sie blieb mit den Augen an ihm hängen; dann, ohne weitere Befinnen, ergriff fie janft feine Hand und fagte: „Was ıft Ihnen feit vorgejtern gejchehen? Warum find Sie jo verändert?“

„Ich danke Ihnen für Ihre Theilnahme,” entgegnete er. „Wir wollen aber jeßt die Kirche bejehen.“ Damit ging ex einige Schritte weiter.

Sie blieb ftehen, und zivei Thränen vannen ihr über die Wangen. Und doch wollte fie ſich zuſammen nehmen; fie hatte ihm ja nichts vorzuwerfen, es war Alles ihre eigene Einbildung geweſen; nie hatte ex ihr ein Wort von Liebe geſprochen, ihr eigen Gefühl hatte fie irre geführt.

Er ftand unſchlüſſig etwa zehn Schritt von ihr entfernt; fie jah ihn gar nicht mehr, fie jah nur die grünen Blätter dev Trauerweide dicht vor ſich und fühlte, daß fie die Thränen verſchlucken mußte, um jeden Preis. Plötzlich ftand er dicht neben ihr, ja, er hatte ihre Hand mit beiden Händen ergriffen: „IK darf nicht, Johanna, ich darf nicht,” flüfterte er.

In demfelben Augenblid ertönten Schritte; Johanna fauerte fich neben die Trauerweide nieder, und Anna fragte, was fie jo lange dort machten? Dann, al3 fie die Thränen auf Johanna's Geficht jah, Iegte fie den Arm um fie:

„Wir find täglich hier, da find die Gräber ung vertraut und erichüttern una nicht mehr,” jagte fie.

„ya, es ift beffer, wenn die Todten mit uns fortleben,” meinte der junge Paftor.

„Meine Mutter ift in Neifje begraben, wo mein Vater früher ſtand; ich babe ihr Grab nie wieder gejehen,” jagte Johanna, „aber mit mir fortgelebt bat fie doch.“

„ft dies nicht ein reizender Plaß,” begann Anna nad einer Weile; fie ſchien aufzuthauen, wenn die ftrenge ältere Schwefter fern war.

Der Paftor ging einige Schritte weiter, an ein ganz friſches Grab: „Hier habe ich vor acht Tagen eine junge zweiundzwanzigjährige Frau beerdigt, die jo gern gelebt hätte!“

„War fie glücklich?" fragte Johanna, die ihm folgte.

„Sehr glücklich. Sie Hinterläßt ein zmweijähriges Kind; die Krankheit brach erft nach deifen Geburt aus; vor ihrer Heirath war fie ſtark und blühend.“

332 Deutihe Rundſchau.

„Die Krankheit” darunter verftand er die Schwindſucht, Johanna hörte die Bezeihnung zum zweiten Male, und plötli jah fie ihn mit ftarren Augen an. a, nun verftand fie Alles! Ya, gewiß, das war der überirdiſche Aus— drucd feiner Augen; jeine beiden Eltern waren daran geftorben, auch jene Schweſtern hatten die bruftlofe Geftalt und gebeugte Haltung: fie würden daran fterben, und ee au! Aber was machte da3? Noch lebte er ja, nod war er da, und ihr endlofes Schnen nad ihm würde ihn am Leben erhalten! Menn er nur ber Ihre würde ein Anderes fürchtete fie nicht, gewiß nicht den Tod, der hier inmitten al’ der Gräber fie umgab. „Wie heit der jchönfte Bibelſpruch?“ wandte fie fih an ihn und ſah ihn mit ftrahlenden Augen an: „Liebe überwindet auch den Tod!”

Er nickte leiſe: „Die richtige Liebe, die entjagen kann!“ Damit jchloß er die Kirchthüre auf und ließ fie vorangehen. Die Heine Kirche war intwendig mit hellblauer Waflerfarbe gemalt, nur über dem Altar hellrofa; dem Maler mußten Wolfen, von der Sonne durdpleuchtet, vorgejchtmwebt haben. Es war wenig darin zu bejehen, außer dem alten romanifchen Taufftein.

Klaus war, während die Mädchen die fteifen Reliefbilder desjelben ftudirten, unbemerkt zur Orgel hinaufgeftiegen und jpielte zu ihrer Ueberraſchung erft einige Aecorde, dann „Ein’ fefte Burg ift unfer Gott“. Johanna blieb regungslos ftehen,, die herabhängenden Hände loſe gefaltet, als die vollen Orgelklänge durd den Eleinen Raum tönten. Anna jegte fi in einen Kirchſtuhl, nachdem fie Sohanna zugeflüftert: „Jetzt befommen wir ein ganzes Kirchenconcert; wenn Klaus fich einmal daran fett, hört er jobald nicht wieder auf.“

Nach einer Weile ftieg Johanna leije die Stufen zum Chor hinauf, Anna im Worübergehen jagend, daß fie fi die Orgel in der Nähe betrachten wolle. Anna lächelte darüber; fie hatte eine unerflärliche Freude daran, dat Klaus und Johanna ſich Lieb Hatten; fie begriff nicht, wie Marie jo erbittert gegen dies freundliche Mädchen jein konnte: fie, Anna, hatte fi) immer eine Frau Paftorin gewünſcht; e8 war ja Pla genug für Alle im Paftorat, jelbft wenn fie Beide nicht heivatheten, was doch eigentlich nicht außgejchloffen war. Marie war zwar ſchon einunddreigig Jahre alt, aber fie, Anna, erſt fiebenundzwanzig, nur ein Jahr älter als Klaus. Marie dächte gewiß; daß die verwöhnte Johanna eine fchlechte Hausfrau werden würde; aber jo lange die Schweitern im Haufe twären, brauchte fie ih um nichts zu kümmern. Und tie reizend würde es fein, das Haus voll Kinder zu haben, wie drüben bei Detlefz!

Johanna war unterdeß langjam die Stufen zur Orgel binangeftiegen. Sie wußte genau, was fie ihm jagen wollte; feitdem fie verftanden hatte, was ihn quälte, war fie fo muthig, gar nicht mehr das junge Mädchen: fie kam ſich vor wie der Mann, der den erften Schritt thun muß.

Freilich, als fie ihn erblicdte, ſchwand der Muth, und fie blieb wie müde an der leßten Orgelpfeife ftehen. Er hatte fie bemerkt, und da er ihr nicht jagen durfte, was er fo gern wollte, jpielte er immer weiter, einen Choral nad dem andern; mandmal fang er mit leifer Stimme dazu es war doch der Schein einer.Unterhaltung; aber ihr Hang e3 wie Grabgefang. Und während die Töne fie jo umſchwirrten, ward ihr zum erften Diale die Vergänglichkeit des Seins Hat,

Zwiſchen Kirche und Paftorat. 333

daß die Menjchen über die Erde Hingefegt werden, wie Spreu vor dem Winde, daß die Stimmen der Lebenden fo jchnell verhallen, wie die Klänge der Orgel, daß um diefe Kirche herum jchon Generationen begraben lagen, welche fich dasjelbe gewünjcht, Alle dasjelbe gelitten Hatten, wie fie, und daß die unendlichen Jahre Hunderte der Zukunft immer das Gleiche bringen würden! Aber gerade darum wollte fie da3 Leben mit Treudigkeit genießen, wie der Herr es in fie gelegt; jo lange er ihr das Leben ließ, geihah e8 doch nur, auf daß fie fich desjelben freute! Wie war e8 möglich, daß Klaus, der ein Paftor war und in feiner Bibel lebte, diefe Anſchauung nicht hatte?

Wer weiß, wie lange Klaus fortgejpielt hätte, wenn Marie des Warten nicht überdrüjfig geworden wäre. Anna hatte fi) genug gewundert, dat Klaus nicht aufgehört zu jpielen, obgleich Johanna zu ihm hinauf gegangen war; ala fie ihre Schwefter eintreten jah, wußte fie, daß für die Beiden die Möglichkeit, allein und ungeftört mit einander zu reden, num vorüber war. Klaus und Johanna fühlten das auch; jet war es zu fpät, und eine kalte Traurigkeit legte fih auf Johanna's Geficht, unter der jelbft ihre rothen Wangen verblaßten.

Sie gingen zufammen in Pfarrhaus zurüd, Klaus in feine Stube, aus der er nicht mehr zum WVorfchein kam; die Mädchen ſetzten fich mit ihrer Klöppel— arbeit in die Laube. Johanna hatte viel gejelichaftlihen Schliff, der half ihr, fich zu überwinden.

Als fie wieder in? Haus trat, um fi Jade und Schirm zum Fortgehen zu holen, fiel es ihr auf, wie feucht die Luft drinnen war. Marie aber, gegen die fie diefes äußerte, entgegnete ganz verlegt, es gäbe fein trodeneres und ge- fünderes Haus al3 das ihre. Sie wären Alle ganz wohl, ihnen hätte dort nie ettva3 gefehlt!

Johanna brauchte lange Zeit zu ihrem Heimmwege. Sie mußte immer bie vom Winde gejagten dien Woltenmafjen anfchauen, die vor ihr hereilten und nur verſchwanden, weil neue Maffen fie drängten. Noch hielt dev Wind den Regen ab, der fi immer drohender über ihrem Haupte zufammenzog und exft begann, al3 fie jchon mit dem Onkel und der Tante beim Abendbrod ſaß. Nach demjelben las der Propft aus Fri Reuter vor, und Johanna lachte jo laut über die Scherze, daß ihre Verwandten fich beruhigten bei Tiſch war ihnen das Kind gar zu einfilbig und bleich vorgefommen: Marie Jenſen jei fein quter Umgang, jo hart und bitter, wenn auch eine außerordentlich tüchtige und brave Perſon.

Johanna war froh, als endlich Schlafenszeit war. Denken konnte ſie nicht, wie fie im Giebelzimmer in ihren Federbetten lag; fie war todtmüde, und der Wind heulte jo ums Haus, während der großtropfige Regen an die Kleinen Scheiben klatſchte, daß fie weinen und weinen mußte, bi3 fie einjchlief.

Um nächſten Morgen war Alles grau, jo viel Nebel und Regen, daß man nicht bis ans Ende des Gartens jehen konnte. Johanna verſpürte zum erjten Male hier feine Luft aufzuftehen. Ach, wie kannte fie dies Gefühl von zu Haufe her, wenn fie am Abend mit ihrer Stiefmutter einen Auftritt gehabt hatte, welcher mit ein paar harten Worten ihres Vaters über ihren Undank gegen dieſe aus— gezeichnete Frau zu endigen pflegte. Er verehrte an der „ausgezeichneten Frau“

334 Deutiche Rundſchau.

hauptſächlich den Stammbaum benn andere Reize Hatte die ihm an Jahren etwas überlegene Gräfin Grufa nie gehabt. Wie oft hatte Johanna hören müſſen, daß ihre Mutter, die einfahe Paftorstodhter, der Stellung ihres Mannes nicht recht gewachſen geweſen wäre, daß deſſen gejellfchaftliches Leben erft mit ber zweiten Frau begonnen hätte. Wie ſchal fam ihr jet dies ganze Treiben vor; ihr fiel da8 Bibelwort ein: „Denen, die Gott lieben, müſſen alle Dinge zum Beften dienen!" Die Gehäffigkeit ihrer Stiefmutter hatte ihr zum Beften gedient; nie wieder konnte fie in ihre alte Welt zurüd, nachdem fie Klaus Jenſen gefehen! Sie hatte das Gefühl, ald ob fie bisher ftet3 in der Verbannung gelebt ober nur im Traum gewandelt hätte, plöblich aber zum wirklichen Leben erwacht wäre. Und tie fie fich dies Alles überlegte, wurde ihr auch das Aufftehen nicht ſchwer; nod war fie ja auf dem Lande, in feiner Nähe, und das lähmende Gefühl, das ihre Glieder bedrüdt hatte, hob ſich von ihr.

Es war ein richtiger Regentag, bald mehr Regen als Wind, bald mehr Wind al3 Regen, wie im November, oder wie hier den größten Theil des Jahre. „Unfer Land ift hübſch,“ jagte der Probft, „aber unfer Klima —“ ex Tächelte, „ein Klima haben wir eigentlich überhaupt nicht!“

Johanna Half der Tante, welche nur eine Magd Hatte, beim Reinigen der Zimmer; wenn fie der Arbeit auch ungewohnt war, jo ging ihr diefe doch ſchnell von der Hand, denn mit jeder Tagesftunde wuchs ihre Freudigfeit, und bei der häuslichen Beihhäftigung, jo, wenn fie Efjen austheilte, um welches die Kranten de3 Dorfes ihre kleinen Sprößlinge gejendet Hatten, lebte fie fi) in die fühe Illuſion ein, fie jei jelbft ſchon eine Paſtorsfrau.

Nachdem Alles ſchön in Ordnung gebracht war, fetten fi) Tante und Nichte ins Wohnzimmer, und während die eine ftricdte, las die andere englifch vor, immer abwechſelnd. Sie laſen einen von Macaulay’3 Eſſays, denn die Frau Pröpftin hatte fih ihre Geſchmacksrichtung aus der Zeit ihrer Lehrthätigkeit bewahrt. Johanna war in einer guten Schule aufgewachſen und in Sprachen recht be- wandert, was der Tante viel Freude machte; ihre beiden eigenen Töchter Hatten, feitdem fie ſich verheirathet, alle geiftigen Intereſſen verloren; mit ihnen konnte, wenn fie zum Bejud da waren, die Mutter nicht einmal mehr ein englisches Bud) leſen.

So verging ber Tag, ohne daß Johanna ſich über irgend etwas klar geworden wäre, außer über ihren Wunsch, daß morgen, am Freitage, ſchönes Wetter ſei, damit die beiden Jenſens zu ihr könnten felbft wenn ex fie nicht abholte, würde fie doch Nahricht von ihm befommen.

Aber das ſchlechte Wetter hielt an, und erft am Sonntage, nad) der Kirch— zeit Elärte e3 fih auf. Johanna glaubte, der liebe Gott habe ihr Gebet erhört und war ganz ftolz und triumphirend, als während de3 Eſſens ein fahler Sonnen: ftrahl in die Suppe fiel. Nah Tiſch Ichliefen Onkel und Tante, und fie jehte fi in ihr Giebelzimmerchen an das Fenſter, von dem aus fie ein Stüd Weg— überſchauen konnte. Die Straße war ganz leer, und fie ſchloß die Augen und jah fein Haus vor ſich Liegen: fo beängftigend ſtill, nicht einmal ein Hund auf dem Hofe unter der Linde, jo ſchön, daß es wie ein Phantafiebild immer weiter und weiter zurückwich.

Zwiſchen Kirche und Paftorat. 335

Jetzt jchien die Sonne ganz heiß und trodnete die Wege. Nüftete ex ſich zum Gange oder jaß er an feinem kleinen Tannenſchreibtiſch in der niedrigen Stube, in die fie nur einmal einen kurzen Blick geworfen, al3 er die Thür geöffnet hatte? Es war gar nicht wie ein Herrenzimmer, da fein blauer Tabaksqualm aus ihm Herausdrang. „Johanna“ hatte er fie einmal genannt, fie wußte es wohl, aber es war in einem Augenblide jo großer Trauer gemwejen, daß fie nicht daran denken mochte. Sie hatte überhaupt keine Gedanken mehr, nur das Sehnen, an feinem Halſe zu hängen.

Es war ſchon drei Uhr. Vielleicht ging ihre Uhr vor? Nein, vom Kirch— thurm ſchlug es gerade. Drei war nicht jpät; er war neulich erft gegen vier geflommen. Sie mußte aber hinunter, um den Kaffeetifch zurecht zu machen. Sie fämmte ihre feinen braunen Haare noch einmal über und fprang dann die fteile Treppe hinab.

Wieder trug fie jenes tofa Kleid, und ihre runden Wangen wurden dunfel- roth, ala ein Wägelchen anfuhr.

Daß ein anderer Beſuch al3 der erwartete kommen konnte, nein, daran Hatte fie nicht gedacht, und obgleich es der freundliche Paftor Hinderfen war, der ihr in der Kirche während der Synodal-Verſammlung zugelädelt enttäufcht war fie do! Er war groß und ftarf, und jah troß feiner langen weißen Haare in der Nähe, vielleicht wegen feines jovialen Lächelns, nicht fo alt aus, wie er Sohanna in der Kirche erjchienen. Er war aud) erſt zweiundfünfzig Jahre alt und ein fräftiger, gefunder Mann, der allgemein beliebt, da er jo gern lachte und lachen machte.

Der Propft und er erzählten fi Schnurren aus dem Jahre 1848, wo aud) er den Feldzug troß feiner Jugend mitgemadt Hatte, da er als Holfteiner ein großer Dänenfeind geweſen war. Gegen die „Preußen“ hatte er allerlei, jo deutſch er war, und als er denjelben das „ih“ in Stod und Stein nachſprach, blinzelte ev nach Johanna hinüber, ob fie es auch nicht übel nähme? Johanna aber lachte und rühmte fich ihres Altpreußenthums, was ein Quell von Nedereien zwiichen ihnen wurde. Paſtor Hinderfen Hatte noch nie ſolch ein Mädchen er— blidt; da er jeit drei Jahren Wittiver war, jah er gar nicht ein, warum er ſich nicht verlieben jollte; übrigens war er jchon verliebt, feitdem er auf der Synode entdeckt Hatte, daß fie einer Mohnblume glich. Als er ihr das jagte, entgegnete fie: „So, alfo flatterhaft bin ih?“ Worauf er meinte: „Nein, beraufchend tie Dpium.“ Hätte fie noch vöther werden können, wäre fie e8 wohl geworden; aber Paftor Hinderjen’3 Scherze, zufammen mit dem Rauch feiner ftarken Cigarren, hatten ihr alles Blut ſchon ins Geficht getrieben, daneben auch der unausgeſetzte Gedanke: „Er kommt nit! Er kommt wirklich nicht!“

Ueber diefem Gedanken merkte fie gar nichts von Paſtor Hinderjen’3 ernftlichen Abſichten. Er ſah aus wie ein Mann, der mit Jedem ſcherzt daß er e3 mit ihr bejonders gern that, das war ihr feinen Augenblid aufgefallen.

Um ſechs Uhr fuhr Paftor Hinderjen wieder fort, jeine Pfarre lag über zivei Stunden weit ind Land hinein. Die Pröpftin war ganz unglücklich, daß er nicht zum Abendefjen bleiben wollte, fie hatte vom beften Schinten und von der Zunge aufgefehnitten und die letzten Erdbeeren gepflüdt. Aber er jagte, fi vor Lachen

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ichüttelnd, ſeine Wirthichafterin würde ihn jonft die ganze Woche jchelten, wenn er jie umjonft mit dem Nachtmahl warten ließe, er müfje wirklich heirathen, denn fie tyrannijire ihn zu ſehr.

Johanna war froh, daß er ging, denn fie hoffte immer noch, daß Jenſen's kämen: vielleiht hatte ein Beſuch oder irgend eine Amt3handlung Klaus abge: halten. O, möglich war e& noch, fie fühlte e3 in ihrem Herzen.

Aber ihr Herz betrog fie; e3 wurde fieben, acht, neun, und um zehn Uhr gingen fie zur Ruh'. Was jollte nun werden? Sie ſaß halbentkleidet auf der Bettlante und dachte nad. So weiter leben mit dem Bangen, mit dem Unauf— geklärten zwifchen ihnen, nein, das ging nicht! Der liebe Gott Hilft nur Denen, die fich jelber Helfen jie wollte ſich Helfen! Klaus Hatte ihr gejagt, daß er nicht dürfe: fie aber, fie durfte, und fie wollte auch! Und zwar gleich, morgen früh!

Am nächſten Morgen ftand fie früh auf, in der Abſicht, ind Nachbar: Paftorat zu gehen und zu fragen, warum bie „Eleinen Jenſens“, wie man fie troß ihrer Größe nannte, nicht wie verabredet am Freitag gefommen wären? Sie jah aber die viele Arbeit, welche dann der Tante allein verblieb, und gerade als fie ſchwankend geworden war, fam der Onkel aus dem Schlafzimmer und fagte, die Zante fühle fih jo unmwohl, daß er Luft hätte, zum Doctor zu ſchicken, obgleich fie dagegen wäre.

Der Propft wollte Yohanna’3 Meinung hören; er that nicht gern etwas felbftändig und ſah ungern die ſchlimme Seite ber Dinge.

„Es ift gewiß nur eine Erkältung,“ ſagte Johanna, nachdem fie bei der Tante fi umgefehen. „Wenn fie fich heute jtill hält, geht e3 gewiß jchnell vorüber!“

Dem Propft fiel ein Stein von der Seele. „a, das meine ih auch,“ jagte er. Johanna veiftand von Krankenpflege gar nichts, aber der gute Wille Half ihr. „Morgen ift fie wieder ganz geſund,“ vief fie dem Propſt noch zu, der ein paar weitab wohnende Pfarrfinder zu bejuchen Hatte Dann brachte fie der Tante eine von den Hausmitteln, welche die Pröpftin für alle ſolche Gelegen- heiten vorräthig hielt. „Es ift gewiß zu was gut”, jagte Johanna fich dabei, „daß ich heute nicht von Haufe fort kann,” und in dem Gefühl, der Himmel habe direct in ihre Herzensſorge eingegriffen, war fie fo fröhlich wie noch nie, jo daß die Tante ihre befondere Freude an ihr Hatte.

„Wir find dur) Johanna ordentlih ein umſchwärmtes Haus geworden,“ hatte fie am Abend vorher zu ihrem Manne gejagt; „mich wundert, was das werben fol! Wenn PBaftor Jenſen nur nicht jo viel mit feiner Geſundheit zu thun hätte!“ Der Propft hatte gemeint, ihm fehle ja gar nichts, ex fähe nur jo ſchmal aus, weil ex feine Frau hätte, die ihn ein bischen pflegte, und teil feine Schweſter zu hart wäre. „Sie hat eine gar zu ftarre Richtung, bei ber dem beiten Mann unbehaglid) wird; fie hält fogar das Tanzen für Sünde!”

Johanna's Fröhlichkeit war diesmal wirklich eine vorahnende geweſen. Um drei, als der Propſt noch bei ſeinem Mittagsſchlafe war, klingelte die Thür, und als Johanna ſchnell auf den Hausflur trat, um zu verhüten, daß man in des Onkels Stube ginge, ſtand Paſtor Jenſen vor ihr.

Ob ſie ſich „Guten Tag“ geſagt, wußten ſie nicht, jetzt ſaßen ſie Beide vor dem Sophatiſch, Johanna an der langen, Klaus an der ſchmalen Seite.

Zwifchen Kirche und Paftorat. 337

„Es ift Sehr Schön draußen, faft heiß!” meinte er, indem ex fi) mit dem weißen Zuch über das Geficht fuhr. „Was lajen Sie?” Sie wurde roth, als er da3 Bud in die Hand nahm. „Heine’3 Lieder,“ fuhr er fort, nachdem er hineingeſchaut.

Sie wollte etwas über Heine ſagen, aber das Blut klopfte ihr ſo in den Schläfen, daß fie fein richtiges Wort fand.

„Meine Schweiter würde Heine’3 Werke ind Teuer werfen,“ fagte er weiter und blätterte darin.

„Wodurch ift fie fo engherzig und befangen geworden?“ fragte fie.

Er antwortete nad) kurzem Befinnen: „Ich glaube, für ihre energifche Natur ift e8 ein Glück, daß fie dieſe Geiftesrichtung nahm, fie wäre font jehr unglüdlich geworden. Sie hatte einmal Jemanden jehr Lieb, durfte ihn aber nicht Heirathen, weil ſie dem feierlich ausgeſprochenen letzten Willen des Vaters, daß keins feiner Kinder heirathen möchte, nicht zuwiderhandeln mwollte.“

Einen Augenblic hielt ev an, dann, aufjtehend, fuhr er fort:

„Dein Vater muß jehr viel gelitten haben, um das zu wünſchen ich glaube, er hatte meine Mutter jehr lieb, jie befam die Krankheit erft durch ihn und ftarb doch vor ihm langjam, in unendlichen Leiden, befonders feelifchen: jie wollte ihren Mann und ihre fleinen Kinder noch nicht verlaffen —“

Die Uhr tickte laut im Zimmer; der Paftor ſchwieg, und Johanna hielt den Athem an. Er ſpielte mit dem Buche, das er noch in der Hand hielt.

„Aber Ihr Vater Hatte Unrecht,“ brach fie plötzlich aus. „Des Menſchen Leben iſt kurz und voll Leid, aber darum dürfen wir es doch nicht vernichten! Wir ſollen es ſo leben, wie es uns beſchieden iſt! Er hatte Unrecht, ganz gewiß, dies Verbot durfte er nicht ausſprechen!“

„Lange habe auch ich das geglaubt, ſonſt hätte ih —“ er ſchwieg cine Weile. „Uber meine Schwefter findet e3 gewilfenlos, wenn man Andere in fein Unglüd verftridt ....“

„In fein Unglüd ...“ wiederholte fie, und ihre Lippen zitterten. „Wenn nun das Unglüd die höchſte Seligkeit ift ... .?"

Sie konnte ihn nicht anjehen, fondern jtand auf und blickte zum Fenſter hinaus. Vor dem Fenſter ftand eine Kirjchrothe Malve im Sonnenjcein; deren Blüthen zählte Johanna mehrere Male. Sie wußte nicht, was fie gejagt, ach, fie hätte jo gern etiwa3 Ungeheures gejagt, ein Wort, das ihrem hämmernden Herzen entſprochen: es gab gar nichts, was fo ftarf war wie ihre Sehnſucht nad ihm!

Er ftand jet am Ofen und konnte ihr rundes Gefichtehen durch den Spiegel jehen; fie ahnte das nicht.

„Aber die junge Frau, die ich in voriger Woche begrub,“ fuhr er fort feine Erregung hatte ihn weiß, wie blutlos gemacht „die hatte ein Kind... .!”

Johanna's Kniee zitterten plößlich jo ftark, daß fie fich feit an die Wand lehnen mußte. Natürlih, fie wußte, daß man Kinder habe, wenn man ver— heirathet ift; aber dies Wort aus feinem Munde war etwas jo Schauriges, die Befinnung Raubendes, daß e3 ihr vor den Augen jchiwindelte. Er ſah fie jeßt direct an, nicht mehr durch den Spiegel; er hatte ihr jagen wollen, m fie an

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die Zukunft denken müßten, daß ſie die Krankheit nicht fortpflanzen dürften ja, was hatte er nicht Alles jagen wollen! Den ganzen ſchönen Heckenweg ent: lang hatte er e3 ihr in Gedanken gejagt: er war gefommen, um für immer Abſchied von ihr zu nehmen nun aber, num fagte er nur: „Johanna!“ und hielt fie in feinem Arme. Sie ſchmiegte ih an ihm mit jo inniger Leidenſchaft, als ftünde der Tod ſchon hinter ihnen, und als müßte fie ſich ſchützend zwiſchen ihn und den Gelichten ftellen.

Sie hatten abgemacht, daß * ſhrer Vaters Einwilligung erbitten ſolle, ehe ſie es den Anderen mittheilen würden. Aber als der Propſt ins Zimmer kam, war Johanna ſo glühend roth und die Erregung auf den Geſichtern Beider jo offenbar, daß fie es ihm nicht verſchweigen konnten, und er theilte es natür— lich gleich) der Tante mit. „Es ift viel Schneller gekommen, als ich dachte der arme Paftor Hinderjen!“ meinte er lächelnd. Seine rau jedoch erklärte, ehe die Einwilligung des Vaters da fei, wage fie nicht, fich zu freuen. Auch Jenſens Schweftern dürfe erft dann etwas gejagt tverden.

Wie gut, daß des Oberften Urlaub Yohanna wußte e3 genau gerade vor zwei Tagen abgelaufen, und er wieder zurüd war; fie fonnten alfo ſpäteſtens übermorgen die Antwort haben.

Der Onkel Propft empfahl Johanna, dem Bater gleich zu jagen, daß Paftor Jenſen von zarter Gefundheit fei.

Da Johanna wußte, daß es ihrer Stiefmutter fehr lieb fein würde, fie ver- heirathet zu wiſſen, jo zweifelte fie feinen Augenblid an ihres Vaters freudigem Ja; fie ging deshalb gern auf der Tante Bedingung ein, daß fie Pastor Jenſen vor der Zuftimmung des Vaters nicht wiederjehen folle: fie hatte ja das Leben vor fih und jo überwältigende Glüd in fi ein Jahr lang hätte fie davon auch ohne neue Nahrung zehren FANDEN:

Oberft Hartmann hatte ſich etunbigt und mit feiner Frau Raths gepflogen. Dann ſchrieb er feinem Schwager einen fühlen Brief, zwijchen deſſen Zeilen zu leſen ſtand, daß er bedauere, ihm jeine Tochter anvertraut zu haben. Er, ber Oberft, habe nicht die Mittel, nach Verlauf einiger Jahre feine Tochter als Wittive, womöglich mit einer Reihe kränklicher Kinder zu ernähren; zu der Ber- bindung Johanna's mit Paftor Yenfen, wiewohl er ein ehrenhafter Mann fein jolle, könne er darum feine Einwilligung nicht geben. Paftor Jenſen's Familie jei ſchwindſüchtig, Eltern und Großeltern früh geftorben; höchſt wahrſcheinlich würde auch er nicht alt werden und könne, dba er vermögenslos fer, jeine Wiltwe nicht in zufrieden ftellenden Verhältniſſen zurüdlaffen.

Seiner Tochter jchrieb der Oberſt nur wenige Worte: das jeien Narrend- poffen, und fie folle jo ſchnell als möglich nad) Haufe zurückkehren.

Der Propft und feine Frau waren aufridhtig betrübt und verlegt, durften e3 aber Johanna nicht zeigen, da ihnen die Autorität des Vaters unantaftbar war.

Johanna hatte ihren Brief im Garten gelefen; der Propft brachte es nicht übers Herz, ihr den jeinigen zu bringen, jondern beauftragte feine Frau, Johanna das Wichtigſte daraus vorzulejen.

Zwiſchen Kirche und Paftorat. 339

Johanna ſaß in der Laube, den Kopf auf die Hand geftüßt, und preßte die Lippen feft zufammen; der Tante ftanden die Tränen in den Augen, während fie de3 Oberften Worte vorlad. Johanna ſchwieg jo lange, da der Tante An gjt wurde.

„Das ijt eine ſchwere Prüfung, mein armes Mädchen! Onkel hat joeben an Paftor Jenſen gejchrieben; der Kleine Junge don Lorentzens ſoll den Brief Hinbringen.“

Johanna ſchwieg noch immer; es war ihr recht, daß Klaus e3 durch den Onkel erfuhr, denn was fie jelbft ihm zu Jagen Hatte, wollte fie ihm jpäter jagen.

„Du geftatteft do,“ fuhr fie plöglih auf, „daß auch ih an Klaus ein paar Worte jchreibe?" Als die Tante, welcher der Vorname anftöhig war, noch überlegte, ſetzte fie Hinzu: „Wenn Du willft, magft Du meinen Brief leſen.“

„Nein, nein,“ entgegnete die Pröpftin beivegt, „jchreib’ nur, mein armes Kind; der Junge kann fo lange warten.“

„Ih bin gleich fertig,“ rief Johanna, ind Haus eilend.

„Bitte, fommen Sie heute um zwei Uhr auf den Kirchhof!“ ſchrieb fie mit Bleiſtift, weiter nichts, ſchob das Blatt in ein Couvert und gab ed dem Jungen.

Als derfelbe fort war, fragte fie ih, ob Klaus auch verftehen würde auf welchen Kirchhof?

Die Tante war vertvundert darüber, daß Johanna nicht weinte, ſich nicht in ihr Zimmer einſchloß, jondern ihr, tie jeden Vormittag, bei der Arbeit zur Hand ging, daß fie jogar draußen im Garten, wo der Propft fich zu thun machte, ein ganzes Beet im grellen Sonnenſchein jätete.

Ihre Wangen glühten mehr al3 gewöhnlid, und in ihren Augen brannte ein unruhiges Licht, aber bei Tiſche ſprach und jcherzte fie wie font; nur während des Tijchgebetes hatte fie einmal aufgeſchluchzt.

Der Propft war höchſt erfreut darüber, er jah jo gern nur die fröhliche Seite des Lebens: „Sie ift ein ſehr vernünftiges Mädchen,” ſagte ex zu feiner rau, „fo einfichtsvoll, daß fie uns nicht darunter leiden läßt. Sie ift das gerade Gegentheil ihres altpreußiſchen Vaters wie meine Schwefter ben heirathen fonnte, habe ich nie begriffen; fie wird's auch genug bereut haben,“ ſchloß er den Sat.

Gleich nah Tiſch, ſowie Onkel und Tante fich zurückgezogen hatten, brad) Sohanna auf. Sie war jchon oft fpazieren gegangen, ohne fich vorher die Er- laubniß erbeten zu haben. Heute jah fie nicht von den Schönheiten des Hecken— weges, nicht3 von dem jonnigen, grünen Lande, fie ging mechanijch weiter, ihrem Ziele zu, an feinem Haufe vorbei, ohne in den Hof zu ſchauen oder daran zu denen, ob wohl Jemand fie bemerkt habe.

Noch war es nicht zwei Uhr, als fie fich Hinter der Kirche unter die Trauer- weide ins fpärliche, verwehte Gras ſetzte; kaum aber hatte fie Athem geſchöpft nad dem raſchen Gange, da hörte fie Schritte: er war «8, fein Geficht jah fo ihmal aus, und in feinen Augen lag etwas, das ihr die Thränen hervortrieb. Aber was fie zunächſt an ihm merkte, war, daß er twiderwillig fam. Warum hatte fie auch nicht bedacht, wie peinlich es für ihn, den Geiftlichen, fein mußte, hier am Grabe jeiner Eltern eine heimliche Zufammenkunft zu haben? „Kann

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ich zu Ihnen ins Haus kommen?“ fragte fie ſchnell, als er ihre Hand erquiff „Oder wollen Sie mich zurüdbegleiten ?“

„Lieber das Lebtere,“ entgegnete er, und ſchon gingen fie den Hügel hinab.

Eine Zeit lang ſchwiegen Beide. „Mir ift es nicht unerwartet gekommen,” begann er mit gepreßter Stimme; „jo leicht erwirbt man jein Glüd nidt. Aber Ahre Bitten Deine Bitten, Johanna, werden doch wohl etwas vermögen nur darf es nicht zu lange dauern: wer weiß, die Zeit unſeres Glüdes ift viel: Yeicht kurz bemeffen ... . .“

Sie fah ihn erftaunt an. Was halte der Onkel ihm gefchrieben, um das Nein ihres Vaters zu motiviren? Dem Ontel ſah es ähnlich, daß er die harte Wahrheit hatte mildern wollen.

„Meine Bitten vermögen niht3, Klaus; Du kennſt meinen Vater nidt, aber ich bin feft entichloffen, mir mein Recht zu holen ich bin vierundzwanzig Jahre alt!” Sie ftieß das hart und triumphirend heraus; er ftand ftille und jah fie an. Sie waren längft am Pfarıhaufe vorüber und auf dem Feldwege.

„Sie wiſſen es vielleicht nicht,“ fuhr fie erröthend fort, „aber ein Mädchen von bierundziwanzig Jahren kann auch ohne ihres Vaters Einwilligung heirathen. Das hat mir meine Freundin Ella erzählt es gehört nur eine Kleine redt- liche Formalität dazu.“

Er war weiter gegangen, und ſie ſah ihn ſcheu an; eine große Angſt ſchnürte ihr die Bruſt zuſammen, zum erſten Male ergriff ſie eine Ahnung davon, daß ex vielleicht doch für fie verloren wäre das aber könnte fie nicht ertragen!

Ihre Augen hingen an jeinem Profil, doch wie er fie num voll anblidte, brach fie in Thränen aus: es war nicht nöthig, daß er ſprach, in jeinem Blide lag Alles „id, ein verordneter Diener des Herrn, der dba predigt: des Vaters Segen bauet den Kindern Häuſer ich jollte mein eigen Weib beladen mit dem Fluche ihres Vaters in mein Haus führen? Ich, das Vorbild meiner Ge meinde, follte durch richterliden Spruch mein Glüd erzwingen?“

Er jagte kein Wort, fie hatte ihn ja verftanden; aber die Tiefe feine Schmerzes und ihres Jammerd ergründete fie nicht jo fchnell. Neben einander gingen fie den ftillen Weg entlang; fie weinte, er ergriff ihre Hand und führte fie weiter. Che fie ans erſte Gchöft des Dorfes famen, blieb er ftehen. „Sie fehren um?” fragte fie ſchluchzend.

„Iſt es nicht beſſer?“

„Nein, jagen Sie mir im Haufe Adieu,“ entgegnete fie; „morgen ſchon reife ih nad) Haus“ fie trocknete fich ihre Thränen.

63 war Niemand im Wohnzimmer; Johanna nahm ihren Hut ab, warf ih in die Sophaede und fagte, indem fie ihr Geficht mit beiden Händen bededt hielt: „Ich kann nicht, Klaus, ih kann nicht!“

Er ftand am Fenſter, ihm that es leid, hereingefommen zu fein fie durften fich ja nichts mehr jagen, durften nicht einmal ihren Schmerz gemein« ſam tragen!

Plötzlich Huftete er, zum erften Dale in Johanna’3 Gegenwart. Sie hordle auf und trat an ihn heran. „Klaus,“ fagte fie fie begriff nit, daß er jo

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kühl und fremd war „Klaus, denke doch nah! Gibt es feine Rettung für und? Können wir nicht wenigſtens zuſammen ſterben?“

Wußte fie, auf welche Folter fie ihn fpannte, wenn fie ihn jo anjah, wenn fie feine Hand zwifchen ihre Heinen, weichen Finger nahm? Bedachte fie denn nit, daß auch er ein Menfch, daß er ein Leidenjchaftlich Liebender” Mann war; daß alles Leben in ihm zuckte, fie in feine Arme zu jchließen und fie nie wieder frei zu geben?

Sie-fchmiegte fi an ihn, als horche fie auf feinen Herzihlag; krampfhaft ergriff fie ihn an der Schulter und zog feinen Kopf zu ſich herab; er küßte fie ein, zwei Mal, dann führte er fie jachte, wie ein Water fein Kind, ans Sopha zurüd, und ehe fie wußte, wie ihr geichehen, hörte fie die Hausthür-Glode gehen er war fort.

Sie blieb auf dem Sopha liegen, ihr Gefiht in den Kiffen vergraben; al3 fie aber im Vorzimmer Geräufh hörte, fchredte fie auf, eilte in ihr Giebel- zimmer hinauf umd warf fich faſſungslos auf ihr Bett.

Am nächſten Tage reijte fie nah Haus zurück.

„Sie ift doch nicht jo vernünftig, wie ich glaubte,“ jagte der Propft zu feiner Frau; dieje aber antwortete ihm: „Was glaubft Du denn eigentlich, daß Liebe jei? Sie Hofft vielleicht, ihren Vater umftimmen zu können.“

Am Tage darauf fuhr Pastor Hinderjen zufällig an der Propftei vor. Er war jo erfchroden über Johanna's Abreiſe, daß es den Propft dauerte und der— jelbe ihm geſprächsweiſe andeutete, es ſei auch Johanna jehr jchwer geworden. „Sie liebt das Landleben über Alles, zumal diefe Gegend gewiß mütterliches

Erbtheil!” „Könnten Sie das reizende Kind nicht gelegentlih ausholen, wie fie über mic denkt oder fcheint es Ihnen lächerlich, wenn ich in meinem Alter..... r

„Durhaus nit! Sie könnten ja mein Sohn fein. Und Johanna ift zur Raftorin wie gemacht.“

Kurz, noch am jelben Abend fchrieb der Propft jeiner Nichte, daß Paftor Hinderfen um fie anhalte; zwei Tage darauf fam Johanna's Antwort: fie ge- dächte fich nicht zu verheirathen, was der Propft feinem Gollegen folgendermaßen überjeßte: Johanna müſſe e3 ſich noch überlegen, fie bäte um eine Friſt zum Bedenken, er möge nad) einiger Zeit wieder anfragen. „Denn,“ ſagte ex jpäter zu feiner Frau, „hätte ich Hinderjen alle Hoffnung genommen, er twäre, heftig wie er ift, im Stande geweſen, feine Haushälterin vom Fleck weg zu heirathen! Die tradjtet fo wie jo danad), und was wäre das für eine Schande für die ganze Propfteii Wer weiß, ob es nicht noch Johanna's Glück wird!“

Die ganze Landſchaft war tief verjchneit; jeden Morgen lag der vom Winde friſch angehäufte Schnee jo hoc) vor der Thür von Klaus Jenjen’3 Paftorat, daß man fi einen Weg zum Leutehaus drüben ſchaufeln mußte. Dabei war e3 erft Anfang December. Seit vierzehn Tagen hatten die Fräulein Jenſen mit Niemanden außer dem Haufe gefprodden, nur zur Kirche waren fie gegangen. So vieler und tiefer Schnee war eine Seltenheit, zumal jo früh im Jahre, und Anna hatte ihrer älteren Schwefter zu deren großem Nerger erklärt, daß dies

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von übler Vorbedeutung ſein müſſe. Marie konnte ſelbſt im Scherz feinen Aber— glauben leiden, während Klaus die halb ernſten, Halb ſcherzhaften Vorbedeutungs- theorien Anna's nur mit leijem Lächeln hinnahm.

„Du bift gar fein richtiger Paftor, wenn Du ſolches Geſchwätz duldeſt!“ ſagte Marie, die im Grunde ihres Herzens jedoch große Achtung vor ihm hegte.

Der Roftbote war drei Tage lang ausgeblieben; dafür brachte er heute einen ganzen Stoß Zeitungen und für Marie einen Brief. Klaus ſaß in feinem Zimmer, als Marie mit unverhohlener Empörung die Thür aufriß’ und ihm zurief: „It es nicht unglaublid, Klaus? Paſtor Hinderjen Hat ſich vorgeftern mit Johanna Hartmann verheirathet!“

„Was ift daran jo unglaublich?“ entgegnete er ruhig.

„Nun, ic meinte ..... begann fie heftig, ſchwieg aber plötzlich; es lag etwas auf des Bruders Geficht, was ihr das Weiterreden unmöglich madte: er hatte es aljo ſchon gewußt, es mußte in dem Briefe, den er neulich aus der Stadt erhalten, geftanden haben. Wie qut Tonnte er fich verftellen! Die Ver: ftellung jet eines Paftors unmwürdig, und wenn er ed ſchon fo lange gewußt, mwarıım habe er «3 ihmen nicht gejagt? Statt ihm jedech diefe Vorwürfe zu machen, ftieß fie heraus: „Uebrigens an einem fo gefallfüchtigen Mädchen wundert mich nichts, fie twollte eben nur unter die Haube!“

Ihre Stimmung war eine jo gereizte, daß fie dem Bruder abjolut etwas Kränkendes hatte jagen müfjen.

Klaus’ Stirn färbte ih roth, mit ftarker Anftrengung aber beherrichte er feine Heftigkeit und erwiderte: „Marie, ich bitte Dich, jchweige von Johanna; ich dulde nicht, daß Du derartig über fie jprichit!”

„ber die Mahrheit mußt Du vertragen können Du mußt Ddieje Liebe aus Deinem Herzen reißen die Liebe zu der Frau eines Anderen!” fügte fie hinzu.

Er ftand auf: „Was ih muß, brauchſt Du mir nicht zu jagen,“ antwortete er, nahm fie feft bei der Hand und öffnete die Thür: „ch Habe für morgen zu thun, Su weißt, es ift Sonnabend.“

Als fie fort war, jehte er ſich nicht an feinen Schreibtiih, jondern warf ih in jein Sopha zurüd. Ja, gewußt Hatte er es feit faft einem Monat. Sie hatte ihm gejchrieben ad, ſolch einen Brief! Er Hatte ihn verbrannt , weil er ihn zu oft Hervorgeholt und immer wieder gelefen hatte. Sie könne da3 Leben im Vaterhauſe, wo fie wie ein Sträfling behandelt werde, nicht mehr er: tragen. „Ich bin jelbft daran ſchuld, denn anfangs Wollte ich mir bie Zuftimmung meines Vaters ertroßen.“ Dann habe fie verfucht, ſich eine Gouvernantenftelle zum 1. October zu verichaffen; ihr Water aber habe ihr er- Hört, ev jähe fie lieber todt, ald daß fie ihm, einem Oberſten der preußiichen Armee, jolde Schande anthäte. In diefem Zeitpunft jei plöglih Paftor Hinderien erihienen und habe ihre Lage noch erſchwert! Beiden Eltern habe er jehr ge fallen, außerdem jei es ja augenblidlih in höheren Kreiſen jehr Stil, ältere Geiftliche zu heirathen. Klaus ſolle ihr doch rathen! Solle fie Paftor Hinderſens rau werden oder nicht? „Glauben Sie nicht, daß ich mir die Lebenslaft dadurch erleichtern till, nein, ich will ihm dienen, will für ihn forgen und all

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Arbeit freudig auf mich nehmen, und ich will ihm Alles bekennen, was ich auf dem Herzen habe wenn Sie e8 mir geftatten ..... Mein, da8 hatte er nicht geftattet, jondern fie gebeten, da8 Geheimniß ihrer Liebe begraben zu Laffen ; es Fromme Hinderjen nicht, es zu kennen, wenigſtens jet noch nicht. Hätte er diefen Wunjch vielleicht nicht äußern jollen? Ex Hatte freilih Hinzugefügt, daß ihr eigenes Herz das entjcheiden müſſe. Am Mebrigen Hatte er fi von feinem Gefühl leiten laffen und nur an ihr Beftes gedacht, al3 er rieth, Ya zu Jagen.

Darauf hatte er noch einmal einen kurzen Brief von ihr erhalten: „Willen Sie, woran ich immer denke? An den lichten Streifen am Horizont, auf den wir von ben Gräbern Ihrer Eltern blidten; das Land zwifchen mir und jemer Ewigkeit jcheint mir jet nicht mehr blühend, ſondern eine öde Ebene; darım ſchaue ich nur noch hin auf jenes glänzende Meer.“

Sie war jeßt wirklich verheirathet! Litt er darunter? Nein, er glaubte fie gut geborgen, viel beffer, al3 im Elternhaufe. Sie war gefund und blühend, fie würde Segen ausſtreuen, und e8 war taufendmal jchöner jo, ala wenn fie, glei ihm, einfam verfümmern follte.

Doch aud er verfümmerte nicht, er hatte doch noch mehrere Jahre ſegens— voller Arbeit vor fih! Mit dem Gedanken jeßte er fi an feine Advent— Predigt, zu deren Text er Johanna's Lieblingswort wählte: „Liebe überwindet den Tod.“

—î

Die nächſte Synode fand wieder im Auguſt in Brinkhof ſtatt, und Paſtor Hinderſen fuhr ſchon früh Morgens dorthin, weil er in der Propftei zu thun hatte, und weil er fich jeit drei Tagen vor freudiger Erregung nicht laſſen konnte: die Pröpftin war zur Pflege feiner rau bei ihm, aber er hatte eine Fülle von Aufträgen wirthichaftlicher Art an den Propft und die Magd zu überbringen.

Vor der Kirche ftand jchon -ein halbes Dubend Paftoren, welche Hinderjen mit Glüdwünjchen empfingen. „Nicht wahr,” entgegnete er ihnen ftrahlend, „noch in meinem Alter, und fol’ ein Junge! Die Pröpftin jagt, man folle meinen, ex fer jchon drei Monate alt; und ich verfichere Sie, er lächelt ſchon!“

Paftor Peterfen, an den er ſich gewendet, jehüttelte ungläubig den Kopf er war Vater von neun Kindern: „Vor dem erften Vierteljahre laden fie nie!”

„Do, mein Junge lat! Das ift eben dad Merkwürdige,“ antwortete Hinderjen. „Das hat er von feinem Vater, jo alt der ıft!”

Nun trat er in die Kirche und blicdte zum Chor hinauf, wo er fie zuerft gejehen, und dann aufs Altarbild und faltete unbewußt die Hände: einen glüd- licheren Mann gab e3 auf der weiten Welt nicht, und ihm rannen zwei Thränen über da3 breite gute Gefidht.

„Wie geht es der Frau Paftorin?“ fragte Klaus Jenſen, al3 er an Hin— derſen Herantrat. Diejer jchüttelte ihm die Hand: „Dante, jehr gut! Sie wird gewiß wieder ganz die Alte werden; die lebten Monate ging es kümmerlich, ja, ziveimal hatten wir den Arzt von Queren bei und. Sie war viel zu thätig,

344 Deutſche Rundicau.

Jenſen, viel zu pflichtgetreu, die Eleine Mohnblume wer Hätte das gedacht nicht, Jenſen?“

Klaus ſchwieg.

„Nun wollen die Schwiegereltern durchaus ſchon über drei Mochen zur Taufe fommen, denn der Oberft kann fpäter nicht fort; da muß fie hurtig wieder wohlauf fein, fie will fi) doch vor der „rau Gräfin” als gute Hausfrau zeigen! Und Sie mit Jhren Schweftern werden doch auch zur Taufe kommen niht wahr?“

Der Propft erſchien, und die Eynode wurde eröffnet. Jenſen war nid! mehr Schriftführer, da jeither zwei neue Paftoren in der Propftei eingeſeht worden waren; er jaß dicht Hinter Hinderfen und mußte, fo oft er aus jeinen Gedanken aufſchreckte, immer den breiten Rüden jeined Vordermannes anſchauen war Johanna’3 Hand über den ſchwarzen Tuchrock gefahren, als Paftor Hinderjen fi) heute Morgen vor der Abfahrt über ihr Bett gebeugt hatte, um ihr Adieu zu jagen?

Klaus hatte Johanna nicht twiedergefehen. Der Winter war hart umd lang gewejen; Johanna war freilich einmal mit ihrem Manne zu Schlitten auf fein Paftorat gefommen, aber Klaus mar gerade zu einer Hochzeitöfeier im Dorf ge weſen, und als feine Schweftern den Beſuch erwiderten, war er nicht mitgefahren. Hier auf dem Lande hielt man nicht jo auf die Formen, und Hinderjen wohnte faft zwei Stunden weit von ihm.

„Wie gut Jenſen fi hält!“ bemerkte ein Paftor zu feinem Nachbarn. „Wenn der bi3 in die Dreifig kommt, führt er’3 am Ende weiter.”

„Sein Vater fam aud in die Dreißig, d. h. er ftarb mit Einunddreißig ...“

Man ſprach über die Trunkſucht; Jenſen hätte in der Discuffion Mande zu jagen gehabt, allein ev war jo müde, wie feit Jahren nicht, die Luft war dumpf, und der Chor hing ihm ſchwer über dem Haupte.

Er ging hinaus und wanderte auf dem Kleinen Pfade zwiſchen Kirche und Propftei auf und ab. E3 war fein Wind heute und fein Regen; die Luft war jo ftill, al3 ruhe fie fi) aus vor einem Sturm.

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Klaus ging nit zur Taufe des kleinen Hinderjen, wohl aber jeine Schweſtern; er konnte an dem Tage nicht abkommen, denn der alte Detlef lag im Sterben, in dem Haufe gleich link? auf dem Wege nad) Brinfhof, und der bejahrte Mann, dem ſchon Jenſen's Vater die erften Kinder getauft hatte, Hammerte ſich jürm- lich an ihn an. Ä

Marie und Anna kamen jehr zufrieden von der Taufe heim; es wäre ein tvenig fteif geweſen durch den Oberften, der fich übrigens ſehr angelrgentlid nad ihrem Bruder erkundigt habe; die „Gräfin“ dagegen ſei eine höchſt liebens— wiürdige Frau. Auch das Efjen ſei gut geweſen, und wenn Johanna nicht bei Tiſch einen Ohnmachtsanfall bekommen hätte, jo wäre Alles ganz glatt abge laufen. Die Pröpftin habe ihnen erklärt, daß Johanna fich zu viel zugemutde: fie babe ftet3 nach Allem ſelbſt ſehen wollen, fo viel fie auch abgemahnt; doch würde die junge Frau ſich Schnell erholen, wenn erſt die Eltern heimgereift wären.

Zwiſchen Kirche und Paftorat. 345

Klaus fragte, ob Johanna unverändert ausfähe? „DO ja,“ meinte Marie, aber Anna fiel ihr in? Wort und jagte: „Das ift nicht wahr! Sie fieht noch immer jehr gut aus, vielleicht beſſer als früher, und ihre rothen Baden hat fie auch noch, aber fie ift fehr mager geworben!“

Marie entgegnete: „Natürlich, der Kleine ift ja noch nicht vier Wochen alt.“

Klaus ging nad) einer Weile au dem Zimmer; e3 hatte fi vor dem Fenſter ein Rojenftod losgeriſſen, den band er wieder an feine Stüße und ſetzte fi dann zu feiner Arbeit nieder.

Die Tage vergingen. Es war eigentlich geboten, daß er ſich einmal nad) Johanna's Gejundheit erfundigte, und doch ſchwankte er, weil er nicht wußte, ob es nicht nur die Sehnſucht fer, fie einmal twiederzufehen. Durfte er hin— gehen?

Es wurde Ende September; ſchon Tießen fich einige gelbe Blätter, des langen Kampfes mit dem Sturme müde, vom Winde durch die Heckenwege tragen; und immer noch war Klaus nicht dort gemwejen. Da bejtellte er ſich zum nächſten Sonntagnadhmittage Peterjen’3 Wägelchen, und ohne den Schweftern zu jagen, wohin, fuhr er zu Paftor Hinderjen. Um drei Uhr war er dort.

Das fonntäglich faubere Mädchen fam vor die Thür, als der Wagen hielt und jagte, ber Herr taufe im Dorfe, fie wolle es der Frau jagen.

„Wie geht'3 der Frau Paftorin ?* fragte er.

„O, & geht jo jachte befjer, nur bewegen kann fie ſich noch nicht. Wir haben eine Kranfenpflegerin aus Kiel hier.“

„Liegt fie zu Bett?“

„Nein, meiften? auf dem Rollftubl, den die Frau Oberft der Pflegerin mitgegeben hat.“

Johanna hatte den Wagen vorfahren Hören und wunderte ſich über die lange Unterhaltung; fie ließ durch die Pflegerin fragen, ob der Beſuch nicht ein— treten wolle ?

Klaus legte Hut und Meberzieher ab und ging in da3 ebenerdige Zimmer. &3 war niedrig, und nur durch Eleine, mit Blumen verſetzte Fenſter ſchien die Herbitfonne. Johanna's Stuhl war den Fenftern zugewandt, jo daß das Licht vol auf fie fiel; neben ihr ftand der Kinderwagen.

„Wenn Sie auch heute nicht geflommen wären, jo hätte ich Ihnen morgen geichrieben —“ damit empfing fie ihm und ftredite ihm ihre beiden Hände ent- gegen, bie heiß und feucht waren. „Ich muß Ahnen doch mein Glüd zeigen!“ fie wandte fi) nad) dem jchlafenden Kinde um.

Klaus war in fafjungslofer Bewegung: das ift fie und doch iſt fie es wieder nit! Auf den erften Blick hatte er ihre Krankheit erkannt, o, er Hatte jo Viele daran fterben jehen aber fie, wie fam fie dazu? War es mög- lich? Nein, daran hatte er nie gedaht! Ihm fiel ihre Mutter ein. War es Doch ererbt?

Dabei trat er an das Hind heran, von dem er wenig fehen Konnte, jo ſehr war e3 eingepadt, und ſprach, ohne zu wiſſen, was er fagte, von dem jchönen Gefihtchen desſelben; auch fie fand er prächtig ausſehend, und fie lächelte erfreut und meinte: „Mir geht es auch täglich beffer, und ich bin fo froh darüber;

346 Deutſche Rundichau.

denn, jehen Sie, jeßt, jeitdem mein Knabe da ift, jet ift die Ebene, die zwiſchen mir und ber Ewigkeit Liegt, nur grünendes, blühendes Land! Man muß nur Geduld haben, der liebe Gott ift viel gütiger, al3 wir es je verdienen können Sie Huftete „diefe Erfältung! Jh muß fie noch vor dem Winter los wer— den, damit ich mit meinem Kleinen an bie Luft darf, ehe der Schnee fommt. Wie viel Schnee haben wir im letzten Winter gehabt! O Klaus, das war ein ſchwerer Winter! Nun erzählen Sie mir aber von Ihnen! Die Schweften haben jchon gejagt, dat Sie viel Fräftiger geworden jeien, ich finde Sie aber ſehr bleich. Es war auch nicht Yeicht, nicht wahr? Wie oft Habe ich geglaubt, mein Theil wäre das härtere, aber nun fage ich das nicht mehr —“ fie griff nad dem Wagen. „Als mein Knabe geboren wurde, da habe ich meinem Manne Alles gejagt nit Alles, nicht, wie ſchwer e8 mir geworben ift, ſeine Frau zu jein da3 kann doch der liebe Gott nicht wollen, daß man Jemanden jo kränkt? —“ Klaus nidte. „Aber das Andere, daß wir uns jehr gern gehabt hätten war e3 Unrecht, da3 zu jagen? —“

Wie fie fiebertel Ihre Augen glänzten, daß fie ihn beinah’ blendeten.

Er beruhigte fie: was fie gethan, ſei gewiß das Rechte geweſen. Er ſprach mit ihr nur noch wie mit einer Kranken; es war nicht mehr das geliebte Mädchen, es war eine fterbende rau, die vor ihm lag das gab ihm bie große Selbftbeherrichung.

„Und weil ich immer an Sie dachte, bei jeder Arbeit, jo Habe ich arbeiten fönnen! Was habe ich Alles gelernt: ich habe manchmal heimlich eine Nat durchgewaſchen e3 ging mir jchiwer von der Hand und ich hätte Ihnen dann jo gern meine Finger gezeigt jebt jieht man es nicht mehr, aber Klaus, ic) wäre Dir eine fo qute Frau geworden! Hier war e3 fein Verdienft, daß ich mich quälte: je elender ich wurde, defto glüclicher fühlte ih mid, id wollte jo gerne fterben! Aber gewiß war auch mein Zuftand daran ſchuld, def ich jo verzweifelt war, und ich bereue es fo jehr! Es war Sünde gegen Gott! Nicht wahr, Sie glauben, daß Er mir verziehen hat?“

Klaus beruhigte fie wieder.

„Wa3 am jchwerften war, das war die alte Wirthichafterin,, die ſich no im Dorf aufhielt und mir die Magd immer abipenftig machte; aber mın if fie fort, und ſchließlich find es ja alles Kleinigkeiten, die gar nicht werth find, daß man jo viel darüber weint! Aber mein Mann hat e3 nicht gemerkt, und jet weine ich nie mehr, weil ich den Kleinen habe!“

Sie jah wieder zu Klaus auf. „Einmal bin ich auch auf dem Kirchhofe gewejen, aber dad Meer jah ich nicht, denn e8 war dunkler Schneehimmel; ich meinte, Sie ſollten meine Fußtapfen erkennen . ....

Er ſtand auf und blickte aus dem Fenſter. „Wiſſen Sie, daß das Ihte Lieblingsftellung ift, jo am Fenſter zu ftehen?“ fragte fie lächelnd. „So habt ih Sie oft geſehen!“

„Ja, Jeder hat feine Angewohnheiten, von denen er nichts weiß,” e twiderte er; er wollte von Gleihgültigem ſprechen, und es kam ihm zu Hilfe, daß gerade Paftor Hinderfen zurückkehrte. Diefer freute ſich aufrichtig, ihn da zu jehen; Jenſen tranf mit ihnen den üblichen Kaffee, hörte das Kind noch

Zwifchen Kirche und Paftorat. 347

jchreien was es fonft nie thun jollte bewunderte die blauen Augen des— jelben und war vor Abend daheim.

In derſelben Woche fuhr plötzlich Paſtor Hinderſen bei ihm vor, und ehe er ihm entgegengehen konnte, war der alte Herr ſchon in ſeinem Zimmer, two er ſich auf den erſten Stuhl hinſetzte. Klaus jah ihn an und fühlte, daß fi in feinem Herzen etwas zujammenzog, aber eine Frage konnte er nicht hervor— bringen.

„Ich glaub's nicht,“ begann der ältere Dann. „Der Doctor hat e3 geftern gejagt, aber ich glaub’3 nicht! Dieje rofige, Fräftige Frau und Schwindſucht! Glauben Sie es?“

Jenſen nidte.

„Aber wie ift da3 möglih?” fuhr Paftor Hinderfen auf. „Eine Frau in dem Alter, mit den Kräften muß doch zu retten fein?“

Was jollte Klaus jagen ?

„Sie wiſſen nicht, wie gejund ſie ift,“ fuhr Hinbderjen fort. „Immer die Erſte auf und die Lebte zu Bett, immer heiter wie hat fie mid) gepflegt! Und nie eine Predigt verfäumt: ich predige doch zweimal Sonntagg in jedem Wetter ..... Er brach in Thränen aus. „Und nun jagt mir der Arzt, ich joll fie vorbereiten —“

Klaus wurde lebhaft: „Ach würde das nicht thun! Johanna's ganzes Leben war Vorbereitung, und fte ift jo glücklich und lebensfroh, Tafjen Sie fie unbewußt hinübergleiten!”

Hinderjen jah ihn an. Wie Klaus vom Tode ſprach! Als ob e3 nicht der Tod wäre. „Ih Hatte Sie bitten wollen, Jenſen, mit mir zu fommen und meiner rau und mir das Abendmahl zu reihen —“

Einen Augenblid durchzuckte Klaus der fjelbftfüchtige Wunſch, noch einmal mit Johanna zufammen zu fein und zwar in den heiligften, legten Augenbliden. Aber nein, nein, für fie war es beffer, wenn e3 ihr eripart blieb! Und auch für ihn. Ihm war fie ja nicht mehr Johanna! Sie war die Mutter ihres Kindes, die Frau Paftor Hinderfen’3, deren heiligfte Lebensinterefjen ihm fremd waren: fie war nicht mehr mit ihm Eins, wie fie e8 in jenen Sommertagen geweſen.

Nach einer Stunde fuhr Paſtor Hinderſen heim, entſchloſſen, ſeiner jungen Frau kurze Lebensfreude nicht zu trüben.

Klaus fand im Hauſe keine Ruhe und ging auf den Kirchhof. Es war ſo klar, wie es nur in der ſcharfen Herbſtluft iſt, leuchtend lag das Meer da; nicht nur als lichter Streif am Horizont als breiter Silbergürtel umſchlang es die Erde, die ſo farblos vergilbt vor ihm ſich ausbreitete. Und wie er dort an die Kirche gelehnt ſtand, ſchien ihm das Meer immer glänzender, immer leuchtender zu werden.

In derſelben Stunde, noch ehe ihr Gatte heimgekehrt, war Johanna ahnungs— los, mit glücklichem Lächeln in jene Ewigkeit eingegangen.

Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß

Mitgetheilt bon

Dr. Walther Vulpius,

Am 15. April 1885 ftarb während eines längeren Reifeaufenthaltes in Leipzig Walther von Goethe, der ältefte, aber lettüberlebende von Goethe's Enkelkindern. Seine Conftitution war von Geburt an eine äußerſt zarte geweſen, und ſchon frühzeitig hatte er unter den Symptomen einer chroniſchen Lungenerkrankung zu Yeiden gehabt, der er Schließlich in feinem achtundjechzigften Jahre erlag.

Faſt will e3 naturgemäß erjcheinen, daß mit diefem Enkel ſchon im der zweiten Generation das Geſchlecht erloſch, welches Goethe’3 gewaltiger Genius an Schaffenskraft und Lebensenergie erſchöpft hinterließ.

Uber das Hinſcheiden dieſes letzten Nachkommen bat das Intereſſe an Goethe's Verlaſſenſchaft nicht gemindert, ſondern iſt im Gegentheil die Urſache einer neuen Belebung und Vertiefung desſelben geworden.

Das Teſtament Walthers Hat gezeigt, worin beide Enkel ihre vornehmſte Lebensaufgabe erblickt denn unähnlich an Geſtalt und Erſcheinung, waren ſie auch an Charakter verſchieden; zwei vorwaltende Züge jedoch waren Beiden gemeinſam: mimoſenhafte Feinfühligkeit und tiefſinnige Pietät. Wie jene aber unter der Wucht des großen Namens, der ihnen ein nicht beglückendes Erb— theil geblieben, ſich manchmal als Empfindlichkeit zeigte und als ſolche von Mitlebenden getadelt wurde, ſo gelangte auch dieſe erſt zu allgemeiner Anerkennung bei der Teſtamentseröffnung Walthers von Goethe. Manch ungerechten, wenn auch nicht immer übelmeinenden Vorwurf Hatten die Brüder ſtillſchweigend er: tragen, als fie die Vorſchläge des deutjchen Bundes zum Ankauf des Haufes und der Sammlungen zurückgewieſen hatten: fie fühlen fi) gleichſam ala Ver— walter eines Gutes, welches der Nation nicht durch Kauf, fondern ala Erbe zu: fallen follte. So ging dies Amt in demjelben Sinne über an den weimarijchen Staat und feine hochherzige Fürſtin, und beide wetteiferten, fi) de3 Vertrauens würdig zu erweiſen, welches der Zeftator in fie gejeßt.

Diefem Beftreben verdankt das deutiche Volk die Begründung des Goethe Nationalmufeums und des Goethe: Archivs.

Stammbuchblätter aus Goethe's Nachlaß. 349

Nur was der eine oder der andere der Entel als jeinen perfönlichen Beſitz betrachtet, fiel den Anteftaterben zu, worunter auch eine Reihe Stammbücher, theil3 Goethe, theil3 jüngeren Yamilienmitgliedern gehörig.

Zwei derfelben liegen vor mir und erzählen von Epifoden gegenjäßlich verichieden wie Krieg und Frieden deren eine dem Dichter die fchiwerften Wirrſale feines fonft jo harmonisch verlaufenden Lebens, ja jelbft Bedrohung beöjelben brachte, die andere den heiterften, beſchaulichſten Genuß feiner jpäteren Tage gewährte.

Schon die äußere Erfcheinung der Bücher trägt den Stempel dieſes Gegen- ſatzes; das ältere, befjen lebte und intereffantefle Einträge im Jahre 1806 gemacht find, ift ein Kleiner, fechzig Seiten ftarker Band in Queroctavformat mit Gold» ichnitt. Der Einband von braunem Leder, mit einer zweifachen, ſchmalen Gold- druckkante verziert, ift alt, vergriffen, nachgedunkelt und an einigen Stellen von Holzwürmern angefreffen,; ein rothes Rückenſchildchen trägt die kaum noch les— baren Worte: Souvenir d’amitie. Der Einſchlag befteht aus groß marmorirtem, altmodiihem Papier, mit vortviegend grauen und blauen Feldern.

Troß vieler unbefannter Namen aus früherer Zeit mußte Angeficht3 der Einträge von 1806, wenigftens für oberflächliche Betrachtung, die Vermuthung nahe liegen, daß Goethe jelbft der urfprüngliche Eigenthümer bes Albums gewejen jei; bei näherem Eingehen jedod erwies ſich diefe Annahme bald ala irrthümlich, und ſchließlich gelang es, nad) mancher vergeblichen Konjectur, den erſten Beſitzer feftzuftellen in der Perſon des Secondelientenant3 Charles Marc Antoine Crayen, geboren zu Leipzig am 12. Mai 1785 ala Sohn von Augufte Guillaume Erayen, in deſſen Haus Goethe laut einer Tagebuchnotiz vom Jahre 1797 freundichaftlich verkehrte. Im weimariſchen Staatshandbuch wird der damals ziwanzigjährige Charles zuerſt im Jahre 1805 al3 Secondelieutenant aufgeführt. Der verhängniß- volle October de3 kommenden Jahres findet ihn wahrjcheinlich durch eine jpecielle Drdre an eine hervorragende Perjönlichkeit gefefjelt, welche der unglüdlichen Schlacht von era und Auerftedt fern blieb. Diefer unfreiwilligen Muße ver- danfen wir jene Albumsinjchriften, Niederichläge aus einer wildbewegten Zeit, welche wunderbar berühren durch die Nahbarichaft von Freundes- und Fyeindes- hand, jene hoffnungsfreudig vor der großen Entſcheidungsſchlacht, dieſe ſieges— trunten nach derjelben, Beide aber auf den Gebdenkblättern friedlich vereint in dem Beflreben, dem jungen Dann ein dauerndes Zeichen ihrer ſchnell erworbenen Achtung und Freundichaft zu Hinterlaffen. Am Ergreifendften jedoch wirkt auf ein deutjches Gemüth in dieſer Gejellfchaft die Handſchrift der Königin Louife, welche „Weimar am 8. October 1806“ !) folgenden Eintrag madt:

„Auch auf Thronen kennt man häuslich Glüd!

Dieſes fchrieb zur Erinnerung

Ihre wohlaffectionirte Rouife FH. v. Pr.

1) Die Oris- oder Zeitangabe muß, wie es bie Aufregung jener Tage leicht erflärlich er: jcheinen läßt, irrthümlich fein. Denn, nachdem die Majeftäten auf der Reife von Naumburg nad) Erfurt flüchtig am 4. October in Weimar gefrühftücdt hatten, famen fie erft am 11. October mit ber Berlegung des Hauptquartier? von Blanfenhain nah Weimar zurüd.

350 Deutiche Rundſchau.

Welch’ rührende Apologie enthalten diefe jchlichten Worte gegenüber der von Napoleon und feinen Anhängern gerade in jener Zeit häufig erhobenen Be: ſchuldigung, die Königin Louiſe mifche fich in unberufener und unmeiblicher Weiſe in das Getriebe der Politik; ein Vorwurf, den auch Gent nad) der am 9. October ihm gewährten Audienz und langen Unterredung mit der Königin al3 ungeredt- fertigt zurückweiſt.

Räthieldaft bleibt es, wie der junge Officier dazu fommt, der Königin fein Album zu präfentiren; war ex bei ihr zu perfönlicher Dienftleiftung befohlen, fo kann er dieſes Ehrenamt nur kurze Zeit bekleidet haben; denn während bie Königin am 13. October ſich zu ihrem erften Verſuch, von Weimar nad Berlin

aufzubrechen, beftimmen ließ, finden wir vom jelben Datum folgende Einträge: Mer vor der Nadelſpitze flieht, Bleibt nicht vor Degen ftehn.

Marichauartier Um Ihr ſtets freundichaft: Weimar liches Andenten bittet Ihr Freund ben 13. Octbr. 1306. Carl Morik von Lüftom.

K. Pr. Lieutenant des hochlöbl. Dragonerregimentö dv. Prittwiß.

und: Mer nicht liebt Wein Weiber und Gelang, Der bleibt ein Narr fein Leben lang! Martin Luther. Marichauartier Eben jo denkt Meimar Ahr wahrer Freund ben 13. Octbr. 1806. Adolph v. Winning Cornet beym K. Pr. Hufaren Rest. v. Moeck (?)

Eine Nachricht des Herzogs von Braunſchweig von der in der Richtung nad Auerjtedt zu erwartenden Schladht ſcheuchte die Königin noch einmal nad) Weimar zurüd, und erft am folgenden Morgen verließ fie endgültig die Stadt, über Mühlhauſen, Braunſchweig und Magdeburg, der Trauerfunde vorauseilend, die fie erft kurz vor Berlin erreichen jollte: die Schlacht war verloren!

Nachdem man in Weimar von frühen Morgen an die Stunden in quälen: der Ungewißheit hingebradht hatte, immer von Neuem erregt durch widerjprechende Nachrichten, war e3 der Major von Hinzenftern, der al3 Gouverneur des Prinzen Bernhard (Carl Auguft’3 Sohn) mit diefem in der dritten Nahmittagsftunde ins Schloß geiprengt fam und bei dem eiligen Wiederaufbruch noch auf der Treppe mit den Worten: „Kinder, es ift Alles verloren!“ jeden Zweifel benahm und jede Hoffnung knickte. Gine Stunde darauf rüdten die Franzoſen in bie Stadt ein und hatten ſich Abends, zum Theil wenigſtens, jchon jo weit häuslich eingerichtet, daß einer ihrer Generäle Muße fand, in unjer Album folgenden Eintrag zu maden:

Nulle rose sans &pines

Weimar Souvenez vous en le 14 Oct. 1806 lisant ces lignes au jour de la grande de votre ami bataille de Jena. Charles Desjardins

General de l’armee francaise et chef du 14 Regiment d’Infanterie.

Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß. 851

Dom folgenden Tag finden twir:

Vaincre ou mourir!

Weimar Monument d’amitie le 15 Oct. 1806. de le jour apres la grande Charles Leval defaite des prussiens General de Division et pres de Vierzehnheilig. Chef du 24me Rögt. d’Infan-

terie de Ligne.

Am weiteren Verlaufe der Napoleoniihen Unternehmungen nahm Crayen, nunmehr Officier eines verbündeten Truppencorps, mehr thätigen Antheil. Aus einem im Jahre 1811 abjchlägig bejchiedenen Entihädigungsgefuh für Unkoften eine ſechswöchentlichen Aufenthaltes in Perpignan entnehmen wir, baß der Premierlieutenant Grayen (jeit 1810) mit der Leitung eines Anvalidentransportes aus atalonien betraut tar.

Im ruffiichen Feldzuge theilte er das tragische 2008 jo vieler Taufende, die in einem Kriege ohne Begeifterung einen Tod ohne Ruhm fanden, gleichſam der Dünger einer erſt feimenden Saat der Befreiung und Vergeltung. Crayen erlag feinen Wunden in Wilna am 15. März 1813.

Seine Verlaffenihaft wurde, da er unverheirathet ftarb, verzettelt; aus ihr wahrjcheinlich ertvarb Goethe das Album, welches ihn hauptſächlich wegen des Autograph3 der Königin Louiſe intereffiren mochte; finden wir doch in einem am 13. Januar 1812 an Friderike, Prinzeffin von Solms» Braunfchweig, die Schweſter der Königin, gerichteten Brief den Wunſch ausgeſprochen: „Einige Zeilen von der Hand der verflärten Königin würden mich glücklich machen.“

Wenn jene Büchlein Goethe gleichzeitig an den früh verblicdenen Sohn einer befreundeten Familie und an die ſchweren Stunden erinnerte, wo er nur dem energifchen Auftreten feiner nahmaligen Gattin die Rettung aus drohender Lebensgefahr von Seiten franzöſiſcher Marodeurs verdantte, jo werden um fo freundlichere Bilder und Vorgänge in feinem Gedenken wieder aufgelebt fein beim Durhblättern des zweiten Albums. Es ift von gleicher Stärke und Größe wie da3 vorige, aber Hochformat. In gelbes, geripptes Leder gebunden, mit polirten Stahleden, :Schild und -Schlößchen, und den Einſchlag von citronen= gelber Moirsejeide, macht da3 wohlerhaltene Bändchen ſchon äußerlich einen an- mutbhenderen Eindruck. Merkwürdiger Weiſe ift auch Hier Goethe nicht der urfprüngliche Befiter geweſen; der unterfchriftslofe Eintrag ohne Orts- und Zeit- angabe: „O Fritz, toll bin ich, aber Ihr Freund,“ welcher ſich auf der fechften Seite befindet, fcheint auf den Oberforftmeifter Fri von Stein (von Nord» und Dftheim) Hinzubeuten, alle übrigen Anfchriften, die nur eine kurze Zeitipanne umfafien, beziehen fi) auf Goethe.

Den Wunjch, nad) fiebzehnjähriger Abweſenheit Frankfurt einmal wiederzu— fehen, äußert Goethe zuerjt in einem am 22. Februar 1814 an Fri Schlofjer gerichteten Brief; er dankt darin den Frankfurter Freunden für die freundliche Aufnahme, welche kurz zuvor fein Sohn bei ihnen gefunden, „der und noch mancherlei Angenehmes zu erzählen weiß, und den Wunfch, meine Vaterftadt zu jehen, in mir rege erhält.“

352 Deutſche Rundſchau.

Als um die Mitte des Jahres das Project feiner Reife in die Rhein, Main: und Nedargegend zur Reife gelangte, wurde e3 von allen dortigen Kunft freunden mit lebhafteftem Beifall begrüßt, und an jeine Ausführung die größten Hoffnungen auf Förderung und Anregung gefnüpft Erwartungen, toelden dann auf jeglichem Gebiete im vollfien Make entiprochen wurde. Aber aud für Goethe ſelbſt erwies ſich diefe Reiſe al3 eine große Wohlthat, indem fie ihm förperlih wie geiftig friſche Epannkraft und neues Leben jchenkte; „fe unterbrach die rejervirt eintönige weimarifche Lebensweiſe, die zwifchen ihm und dem Bürgerthum feine Verbindung eröffnete. Nun aber: Bejuche machen und empfangen, bedeutende Menjchen in ihrem eigenen Dafein beobachten, an den Meßbuden fih nah Waaren erkundigen, zu Dorf: und Gartenwirtbichaften gehen, bei Volksfeſten fi unter die Mienge miſchen da3 waren Dinge, die er feit Jahrzehnten faum geübt Hatte. Zudem waren die Reifetage, ja bie nächften zwei Jahre, fo liederreih wie faum eine Jünglingsperiode; mitunter famen ihm drei, vier und mehr Gedichte an einem Tage.” (Creizenach, „Goethe und Marianne Willemer.”) Den Grundton jener glüdlichen Epoche vernehmen wir am Hlarften und fräftigften in der herrliden Schilderung Goethe's: St. Rochusfeſt zu Bingen, einer Miſchung von erhabener Heiterkeit und menjd: liher Innigkeit im Beſchauen aller Lebenserſcheinungen.

Mas ich dort gelebt, genoffen, Mad mir all dorther enifproffen, Welche Freude, welche Kenntniß, Wär ein allzu lang Geftändnip. Mög es Jeden fo erfreuen, Die Erfahrenen, die Neuen! (Gedichte: Rhein u. Main.)

Nach viertägigem vorläufigen Aufenthalte in Frankfurt fuhr Goethe am 29. Juli zum Kurgebrauch nad) Wiesbaden. Außer mit Bergrath Cramer und Zelter verkehrte ex vielfach) in einem Bekanntenkreiſe, der aus folgenden im Album Eingetragenen beftand.

Die Schwefter de3 oben erwähnten Oberforftmeifterd von Stein jchreibt:

Möchte zuweilen dieſer höhere Blick, voll Ruhe, Geift und Größe hier verweilen, Und Sie leife den tiefen Wunſch meines Herzens zum Allfehenden für lange, heitre, jegenävolle Tage vernehmen; Ewig mit wahrer Verehrung und Liebe.

Miesbaben Eleonore v. Stein d. 19: Auguft | Aebtilfin im Stift 1814. Waizenbach

(Waizenbach iſt ein adeliges Fräuleinſtift in Unterfranken, bei Hammel—⸗ burg gelegen.)

Es folgt eine Verwandte ber Vorhergehenden, welche wahrſcheinlich Stifts— dame in Birke bei Bayreuth war:

Stammbuchblätter aus Goethe's Nachlaß. 353

Christiane von Stein Der Name einer aus treuem und Dankbaren Herzen fie innigft Berehrenben. Wiesbaden d. 20 Auguſt 1814.

Trerner eine Verwandte des in den Tagebüchern öfters genannten Grafen Hendel: Darf ih ala junge Freundin aud) bitten für Zukunft und ikt, dab bdiefer Name nicht ganz verſchwinde unter denen der Bittenden alle

um Anbenten und Gunft. Wiesbaben

b. 20ten Auguſt 1814. Luiſe von Wildungen.

Und Lotte von Bobenhaufen, ebenfalls Stiftsdame in Waizenbach: Dergebens flehte ich Apollo Hülfe an Die Krone ber jchönen Geifter nad Würde zu befingen; doch immer wäre mein Lieb nicht würdig gewelen, vor Ihrem Throne zu ericheinen, benn mir fehlen jelbft Worte, ben einzig frohen erhabnen Genuß auszudrüden, ben die Augenblide Ihrer Gegenwart auch mir gewährten. Die Erinnerung berfelben wird meine Zukunft erheitern, umb nur mit meinem Seyn ſchwinden; fo wie mein tiefes Dankgefühl, mich hier nennen zu bürfen als Ihre hochachtungsvollſte, innigfte Verehrerin

MWiesbaben am 20ten 7. (2) Lotte von Bobenhaufen. 1814. Der folgende Eintrag rührt wahrjcheinlih von bem oben erwähnten Grafen Hendel her, doch ift die Namensunterjchrift nicht deutlich zu erkennen: Wie vermag ich Ihnen der Ber: ehrung und bes Dantes Gefühle zu ſchildern? Wie lann ich es mehr, als wenn ich es laut belenne, wie ich des eignen Strebens bewußt, Doch deutlich erkenne: daß durch Ihrer Lehre geiſtvolle Helle, ich erlannt des Lebens innerſte Quelle, ſo weit mir das Erkennen beſchieden iſt. Und wie vermag ich es beſſer zu zeigen, daß ich gefaßt Ihrer Lehre erhaben liebevollen Sinn, Als wenn ich noch heute Ihnen und der Gottheit gelobe, daß ich feſt entichloffen bin: Nicht mit Kummer und ängſtlich forgenb oder zagend, aber mit Muth und thätiger Kraft, nicht allein das beichiedene Loos zu tragen, ſondern auch zu jchaffen und zu wirken aus ali meiner eignen Kraft, jo weit unb fo viel, als des Schidiald Güte es geftatten mag. Wiesbaden Henckel (?) d. 22ten Yug. 1814. Deutliche Runbihan. XVI, 9. 23

354 Deutſche Rundſchau.

Am 28. Auguſt betheiligte fich Goethe an einem Déjeuner des Herm von Holzhauſen; in ſeinen Aufſätzen über Kunſtſchätze am Rhein, Main und Neckar rühmt er ihn als den Sproß eines Geſchlechtes, „deſſen wohlerhaltene Familienporträts einen Begriff ſeiner Würde und der Kunſtliebe ſeiner Ahnen geben.“ Seine Gemahlin entſtammte der Familie Ziegeſar (auf Drakendorf), die Goethe feit langer Zeit in allen Verzweigungen kannte und jchäßte, und deren gejellig Heiteres und behagliches Leben bei feinem Aufenthalte in Garlabad er in den Annalen von 1808 mit bevedten Worten ſchildert. Die Gatten jchreiben:

Das Glück, Sie zu sehen, verdanke

ich dem Himmel, Ihnen den Genuss:

dass der Eindruck ihrer hohen

Würde mit der laengst empfundenen

tiefen Verehrung und Liebe unaus-

löschlich in mir lebt.

Wiesbaden Caroline v. Holzhausen d. 30. Aug. 1814. geh. v. Ziegesar. und: Welcher Eindrud auf ein jugenbliches Gemüth fann Wohl ftärker und bleibender ſeyn, ala das ſchon längſt ala Ideal bed Reinen, Weifen und Guten Aufgeftellte num in Ihrer fo werthen Perfon jo ſchön und edel perfonificirt zu ſehen! Gerade der Verein einer erhabenen Seele, eines fo hell erleuchteten Geiftes, mit einem liebevollen, mittheilenden, fich jo ſchön berablaffenden Aeußeren ift dad, was mein Gemüth fo unausfprechlich arreizt, fefthält und zu allem ſtärkt. Wiesbaden d. 1 Septbr. 1814. Earl von Holzhaujen.

Ueber feine Unternehmungen in der erften Septemberwoche fchreibt Goethe (Im Rheingau, Herbfttage) „Das Iebendige Schauen der nunmehr zu be ihreibenden Dertlichkeiten verdanke ich der geliebten wie verehrten Familie Brentano, die mir an den Ufern des Rheins, auf ihrem Landgute zu Winkel viele glückliche Stunden bereitete.” Das Haupt diefer Familie war Franz Domin. Maria-Joſeph Brentano, Schöff und Senator don Hrankfurt, ein Sohn erfter Ehe des nachmals mit Marimiliane von Laroche vermählten Kaufherm Peter Anton Brentano, aljo ein Halbbruber von Bettina d. Arnim. Seine Gemahlin Johanna Antonie Joſepha erbte die vortreffliche Gemäldefammlung ihres Vaters, des k. £. Hofraths Johann Melchior dv. Birkenſtock, welche dieſer während feines lebenslänglichen Aufenthaltes in Wien zufammengebradt hatte; Goethe rühmt die gute Aufftellung derjelben in Brentano's Haus zu Frankfurt

(Kunftihäte).

Stammbucdblätter aus Goethes Nachlaß. 355

Das Brentano’ihe Ehepaar machte folgende Einträge: Winkel im Rheingau. Hier ftand die Natur, da fie aus reicher Hand über Hügel und Thal belebende Schöpfung gok mit ver: weilendem Tritte fill bier gefiel es auch Ihnen acht ichöne Tage zu weilen, und Ihrer Gegenwart Sonnenblid ſchien mir der Anmuth Bollenbung. b. 8. Sept. Antonia Brentano 1814. gebohrene Edle von Birkenstock. und: Sp wie das wohlthätige Jahr 1811 bier ben eblen Rebenfaft zum Nectar erhob, jo verberrlichte in biefem Jahr Ihr freundlicher Beſuch unfre Gefühle! Das Andenfen daran wird mir unvergehlich bleiben.

Winkel im Rheingau d. 8. Sept. 1314. Franz Brentano.

Die Weinleje des Jahres 1811 war ſowohl nad) Maſſe ald Güte des Er— trages eine beſonders gejegnete geweſen: Goethe berichtet, daß in diefem Jahre achthundert Stüd Wein in Winkel gebaut wurden, und fügt feinen Aufzeichnungen über die Herbfttage im Aheingau die fröhlice Wendung an: „Und jo hätten wir denn abermal3 mit dem glüdlichen Rundworte gefchloffen: Am Rhein, am Rhein, da wachſen unſre Reben.“

„Auch die Kleinen ließen Sie zu ſich fommen,“ trägt die folgende Albumjeite als Ueberfchrift in ſchöner, aber fteifer, unausgefchriebener Kinderhand, worunter die Namen der Kinder des Haufe:

Georg Brentano Maximiliana Brentano Josephine Brentano Franciska Brentano Carl Brentano.

Der Name des damals einjährigen Carl und die Unterfhrift: „Winkel im Rheingau, den 8. Sept. 1814“, find von der Hand der Mutter.

Auf der folgenden Seite: „Auch wir gehören zu den Kleinen“, darunter die Namen der Frankfurter Vettern und Goufinen:

Claudine Brentano

Sophie Brentano

Franz Brentano

Ludwig Brentano mit der mütterliden Freundin ihres Haufes, von den Kindern „die gute Tante“ genannt, Claudine PBiautaz, welche ſchon im nächften Jahre berufen tar, Mtutter- ftelle an den verwaiften Seinen zu vertreten.

Aber Kinder find Ketzer, und die Verehrung, welche ihre Hände hier dem geihäßten Gafte bezeugen, ift feiner Zeit wohl nit ganz aufrichtig geweſen; dern das wilde Völkchen fühlte fi) durch die für den hohen Beſuch auferlegte Rüdfihtnahme mannigfach beeinträchtigt. Herr Anton Brentano, der nahmalige

23*

356 Deutiche Rundſchau.

Gemahl von Joſepha, dev Tochter des Haufes, deſſen Güte ich alle näheren Notizen über dieje yamilienbeziehungen verdanfe, jchreibt Hierüber in einem Briefe: „Die Lieben Kleinen haben fi gar nicht gefreut, wenn ber Gefeierte Mintel ala Gaft beehrte; fie mußten dann jehr brav und jehr ftill fein, durften nicht auf dem großen Speicher fpielen u. j. w. Dagegen hatten fie bei den Spaziergängen nebenher zu trippeln, um dem hohen Herrn die Steine, Muſcheln u. ſ. w. aufzulefen, die ex mit feinem Stod bezeichnete und mit feinem Bergmannz- hämmerchen unterfuchte.“ Als letzte Genoffen dieſes Kreiſes folgen noch der Haußlehrer: ÖOmne tulit puncetum qui miscuit utile dulei Vinicellae 8 Sept. 1814 Wildieyr. (Jedweden Schickſalsſchlag verwinbet, Wer Tüchtiges mit Lieblichem verbindet)

und Pauline Serviere, eine der Schweſtern, welche „ſich in den geiſtig hervor— tretenden Kreiſen des Frankfurter Lebens auszeichneten“, und unter den vertrau— lien Namen „Paule” und „Lotte“ in freundichaftlichften Beziehungen zu den Brentano'ſchen Familien ftanden, Beziehungen, die wohl ſchon in der zweiten Generation gepflegt wurden, da Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ bereits „die Geftalt einer wohlgebildeten, obgleich nicht jungen Frau, mit Namen Serviere* erwähnt, welche zu dem engeren Tyreundeszirfel von Peter Anton und Marimiliane Brentano gehörte. „Pauline“ jchreibt: Sonft konnt ich zu Gedanken Worte finden, Doch nun, ba ich fo nahe bei Dir wohne Traf mich ein Strahl aus Deiner Sternenfrone, Ich wurde ſtumm und fühlte mich erblinden. Ah, wer kann Deinem Zauber fich entwinden! Ich wag e3 nicht, dem guten Geift zum Hohne Mir würde Spott und Schande bald zum Xohne, Wollt ih mit Schwachheit fühnen Trotz verbinden. Ich jchleiche zum Parnak ala armer Kranter Da ſuch ich num mit tiefbewegtem Herzen Und vierzehn Helfern Linderung meiner Qualen An Deiner Güte lieg ich hier vor Anker, Ein freundlih Wort heilt alle meine Schmerzen Doch kann ich nie der Wohlthat Freuden malen. Winkel, d. &ten September Pauline Serviere. 1814.

Am 9. September fündet Goethe in einem Briefe an jeinen Neffen Frik Schloſſer, Oberſchulrath und Director des Frankfurter Lyceums, fein Kommen nah Frankfurt an: „Wermelde zugleih, daß ich Montag den 12. Abends bei Ihnen einzutreffen und in Ihrer Gegenwart noch einige Tage zu genießen hoffe. Unter vielen Empfehlungen an Yhre theure Frau Mutter und den lieben Bruder wünſche das Allerbefte.”

Während des nun folgenden zweiwöchentlichen Aufenthaltes in Frankfurt der erfte längere nad) dem Tode feiner Mutter (September 1808) haben nur

Stammbuchblätter aus Goethe's Nachlaß. 357

die Schloſſer'ſchen Verwandten, in deren Haus er lebte, Einträge gemadt. Zuerft die Wittwe feines verftorbenen Freundes Hieronymus Peter, der ältere von den in „Dichtung und Wahrheit“ geichilderten Brüdern:

Mit Heiterem und danfbarem

Herzen werbe ich jeder Zeit ber

Tage gedenken, welche Sie, Theuer:

fter Mann, unter unſerem Dache

zuzubringen bie Güte hatten.

Morge uns noch zuweilen ein

glüdliches Wiederjehen verliehen

feyn, und Ihre Güte und immer

freundlich zugewandt bleiben.

Frankfurt den 20. September 1514. Margarethe Schloſſer.

Wie jehr e3 die vortreffliche Frau verftanden Hat, durch ihr herzliches Weſen das Gefühl des jchmerzlichen Verluftes zu Iindern, und dem Dichter die Heim— gegangene zu erjeßen, geht aus dem Danfesbrief hervor, den er kommendes Neu= jahr von Weimar aus an fie richtete: „Und jo muß ich denn vor allem befennen, daß ich Frankfurt feit einigen Jahren fürchtete und vermied, weil ich meine Mutter dajelbft vermifjen würde, ohne welche ich mir diefe Stadt niemals ge= dacht Hatte.

Wie jehr bin ich Ahnen alfo, verehrte Frau, den aufrichtigften Dank ſchuldig, da Sie mir in Ihrem Haufe, an Ihrer Vorjorge, Thätigkeit und Langmuth, nicht fowohl im Bild dasjenige gaben, was ich verloren hatte, jondern es meinem Gefühl vollkommen erſetzten.“

Vom ſelben Datum find die Einträge des Rathes Schloſſer, der ſeit der Erbſchaftsregulirung der Frau Rath in allen Frankfurter Angelegenheiten Goethe's treuer Sachwalter war, ſeiner Gemahlin Sophie (geb. Dufay) und ſeiner Ge— ſchwiſter Suſanne und Chriſtian:

Schnell eilen die Tage vorüber, in welchen Sie, geliebteſter Mann, una mit Ihrer freund: lichen und erhebenden Nähe beglüdten. Nie aber wirb Ihr theures Bild und das Anden: fen dieſer köftlichen Tage in unſern Her: zen erlöſchen. Und fo möge auch Ihre Güte ber dankbaren Liebe und Verehrung, womit wir gegen Sie erfüllt find, zuweilen eine freundliche Erinnerung ſchenken. Frantfurt ben 20. Sept. 1814. Sufanne Schloſſer. und: .... Auf Gnade Sey es gethan! Möchten Sie immerfort uns Ihre Güte bewahren, und wir biefer großen Güte werth werden, Frf. 20ten Tber 1814. C. F. Schloffer.

358 Deutſche Rundſchau.

An Begleitung von Chriſtian Schloſſer reifte Goethe am 24. September nad Heidelberg und mwidmete fih dort in Sulpiz Boiſſerée's Gejellichaft ein- gchendfter Kunftbetrachtungen, kehrte aber am 10. October wieder nad) Frankfurt zurüd. Hier hatte fi während feiner Abweſenheit die Vermählung zwiſchen Marianne Jung und Geh. Rath Willemer vollzogen, im näheren Verkehr mit dem jungen Paar entwicelte fi die Freundſchaft zu Marianne, der wir die buftigften Blüthen der Goethe'ſchen Spätlyrif verbanfen.

Bon den nun folgenden Einträgen find nicht alle in Goethe's Anweſenheit gemacht; das Album blieb nach feiner Abreife in ben Händen feiner Freunde und wurde ihm wahrfcheinlich erft im December nah Weimar geihidt.

Am 20. October ging er nad Hanau), wo er im Mineraliencabinet des Geh. Rath Leonhardt Studien machte und fi mit der Induſtrie des Ortes beihäftigte, und traf am 27. October twieder in Weimar ein.

Hiernach kann man leicht erfehen, welche von den Einträgen, die ich im ber Reihenfolge wiedergebe, wie fie in den Albumblättern vorliegt, in des Dichters Gegenwart gemadt find.

Johann Iſaak Freiherr von Gerning eröffnet den Reigen in) dieſer letzten Abtheilung. Ein ſchätzenswerther Mäcen und vielfeitiger Sammler von Kunſt⸗ ſchätzen, hegte er auch den verfehlten Ehrgeiz, als Dichter glänzen zu wollen; Goethe erwähnt ihn fchon in der Schweizerreife ala bei jeder Gelegenheit Verfe machend und berichtet jpäterin „Kunftichäte”, daß er das Taunusgebirge zum Gegenftand feiner Dichtungen vorzüglich ‚gewählt Habe. Sein Hauptwerk auf diefem Gebiete ift ein großes Lehrgedicht in vier Gefängen über die Heilquellen de3 Taunus; Goethe's Wiesbadener Kur mag ihm wie eine Nutzanwendung des⸗ jelben erjchienen fein. Er jchreibt ins Album:

Taunus! gedankt sei Dir und Deinen verjüngenden Quellen,

Dafs wir jegliches Jahr wieder den Einzigen seh'n.

Frankfurt Zur Frinnerung an am 13ten gber frohe „Wiederkehr 1814. von Ihrem dankbaren Freund und Verehrer, Gerning.

63 folgt Goethe’3 alte Tante mütterlicherjeit3, von deren originellem , leb— baftem und entſchiedenem Wejen er in „Dichtung und Wahrheit” eine anziehende Schilderung entwirft, mit ihrem Sohn, dem Dr. D. Melber, ehemaligem Arzt der Frau Rath, und deſſen Tochter Jacquette:

Nur die Hoffnung bes Wieberfehene linbert bie Schmerzen, bie Ihr Scheiben Allen bereitet, welchen vergönnt warb, in Ihrer Nähe zu weilen:

Wird ber durch Sie geehrien Daterftabt das Glück, daß fie bald wieder Ihrer

Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß. 359

fich erfreut, nur dann werben jene

geftillt.

Ffurt. d. 12ten Oct. Mit innigſter Verehrung

von

Ihrem ergebenſten Vetter 3.6. D. Melber; med. Dr. Schon ala Kind, ald Yüngling liebte ich Sie; ald im Mannes: alter bie ganze Welt Sie hodhichäßte, blieb ich Hinter meinen Zeitgenoffen Hierin nicht zurüd. Nichts bleibt mir zu wünſchen übrig, ala Gott laſſe Sie jo alt werben und jo gefund bleiben,

ala Ihre Sie liebenbe im 81. Jahr noch immer lebhafte ihres Lebens Tante 1814 b. 14. 8br. Johanna Maria Melber

gebohrene Textor. Wittib. Gleich bem ruhigen Bach, der ſegnend bie Ufer benetzt, fliehe im Schoße bes Glücks Ihr Leben

freudig bahin. Nehmen Sie Theuerfter bie: je wenigen Zeilen mit jo gu⸗ tem Herzen auf, als es mir

Frankfurt, den 14. Vergnügen machen wirb, in October 1814. Hhrem gütigen Andenken zu ſeyn.

Ihre Sie liebende Nichte Jacquette Melber.

Die Eltern der vier Kinder, die wir als Beſuch in Winkel angetroffen

haben er: der älteſte Sohn von Peter Anton Brentano aus ſeiner zweiten Ehe mit Marimiliane von Laroche, fie: eine geborene Schröder, ſchreiben:

und:

Ihre freundliche Erfcheinung in meiner famille gab unferer unauslöfchlichen Verehrung

das lieblichfte Bild, möchte es

doch bald mwieber unter uns

treten, möchten Sie doch bey

Ihren im nächſten Jahr vorhabenden Wanderungen auf ben Taunus

unfer Landhaus am Fuße beöfelben Zum Ruhepuntt wählen.

Frankfurt d. 24. ber. 1814

George Brentano Laroche.

Meine Wünfche ſtimmen mit ben obigen zujammen, von Ihrer Güte hoffe ich, daß fie in Erfüllung gehen werben. Marie Brentano Laroche.

360 Deutiche Rundſchau.

Eine jüngere Schwefter des PVorigen: Marie Magdalena E. %. Brentano, gewöhnlich Meline genannt, war mit Georg F. von Guaita, und deren Tochter Ludovica mit Carl Jordi3 vermählt; diefem Familienkreis jchließt ſich die bereits erwähnte Charlotte Serviere an. Ihre Einträge lauten:

Belieben Sie fi bey dem Namen bei unterzeichneten eines Ihrer aufrichtigften Derehrer zu erinnern. Frankfurt, d. 24 October 1314 G. F. v. Guaita Brentano.

Auch ich möchte nicht von

Ihnen vergeflen werben.

Meline v. Guaita Brentano.

„Einen Kuß in Ehren

Kann Niemand verwehren * Mir gab ber große Göthe drey, Wofür er hoc) geprieien ſey, Und fommt ex wieder über's Jahr, Grbitte id; mir noch ein Paar.

Frankfurt d. 24 Sbr. 1:14

v.v

Möchte immer weiter ſchweifen, Weil dad Gute nicht mehr nah; Wollte gern dad Glüd ergreifen, Wär das Glück nur immer da!

Iſt ein ſchöner Stern verſchwunden, Der uns mild und freundlich ſchien, Möchten gerne nach ihm ziehn,

Doc es hält uns Zwang gebunden; Können nicht vom Schmerz gefunden, Weil nach fernem Gut wir greifen, Weil nicht alle Blüthen reifen.

In der Ortichaft voller Mängel Treibt uns dann ein böfer Engel, Möchten immer weiter ſchweifen.

Logik will nicht immer frommen, Ob uns glei die Schwefter lehrt, Dak nur fie den Sinn befehrt,

Der im Schmerz fid) übernommen: „Mub doc Feder zu fich kommen, „Bleibt noch immer Hoffnung ba; „Was auch Trübfinn ſich erſah, „Wär’ es unrecht zu erzittern, „Zuft und Freud ſich zu verbittern, „Weil bad Gute nicht mehr nah.“

Ludowica Jordis Brentano.

Wohl iſt es nicht ganz verſchwunden, Bleibt Erinnerung zurüd: Läßt fie und das Hohe Glüd Unvergeblich ſchöner Stunden! Hat bad Herz fie tief empfunden, Will es nicht mehr weiter jchweifen, Sieht die ſchönſte Blüthe reifen: Uns verjöhnt ein guter Engel Mit der Ortichaft voller Mängel; Wollen gern bad Glüd ergreifen.

Hat fi; dann das Gerz ergeben In ein bittres Mikgeichid, Bleibt ihm doch ein ftilles Glüd In dem tiefen inneren Leben. Nur nad) einem will es ftreben, Das es tröftlich fich erſah: Mann dad Gute nicht mehr nah, Will es jehnen fih und bangen, Will es wünſchen und verlangen: Wär das Glüd nur immer ba!

Franlkfurt den 26ten Sber 1814 Charlotte Serviere.

Willemer's freundſchaftliche Beziehungen zu Goethe reichen über mehr als zwanzig Jahre in das verfloſſene Jahrhundert zurück; Düntzer vermuthet, daß er nad ſeiner erften Vermählung mit Marianne Magdalene Lang aus Berlin zurück—

Etammbucblätter aus Goethe's Nachlaß. 861

tehrend, am 22. Februar 1781 mit feiner jungen Frau bei dem Dichter in Weimar vorgefprochen habe. Der literarifch vieljeitig gebildete und jelbftthätige, für das Theaterweſen lebhaft intereffirte Mann war ein enthufiaftifcher Verehrer der Goethe'ſchen Mufe, aber erjt feine dritte Frau Marianne, geb. Jung, ver— mochte durch ihr bezaubernde Weſen und ihre Hohe Begabung den Dichter mit den Banden innigfter Freundſchaft an Willemer’3 Haus zu feffeln.

Drei verheirathete Töchter erfter Ehe: Rofine (Rofette), Amalie (Dteline) und Marimiliane gehörten zu dem engeren Familienkreis, der fi) in den Sommer- monaten auf der Gerbermühle, einem der Stadt Frankfurt abgepacdhteten, eine halbe Stunde mainaufwärt3 gelegenen Beſitz zujammenfand. Beſonders die ältefte Tochter Rofette, verwittiwete Städel, war dem Dichter ſympathiſch durch ihr warmherziged, gediegenes Weſen, während auch fie fich in einer Aufzeichnung voller Begeifterung über den Eindrud äußert, den Goethe'3 perjönliche Bekannt: ihaft auf fie machte. „Den 18. September 1814. Tag mit Goethe auf der Gerbermühle.. Weld’ ein Mann, und welche Gefühle bewegen mi! Exit den Dann gejehen, den ich mir als einen fchroffen, unzugänglichen Tyrannen gedacht, und in ihm ein liebenswürdiges, jedem Eindrud offenes Gemüth gefunden, einen Mann, den man Eindlich lieben muß, dem man fich ganz vertrauen möchte.”

Willemer ſchreibt:

Der Wein begeiſtert den Verſtand, Die Liebe das Herz, Goethe beide, laßt uns trinken, lieben, Goethes Werke lejen, und ihn fennen. Hranff. aM. d. 9, Dec. 1814. Willemer.

Das reizende Gediht Mariannes, welches nun folgt, ift offenbar während Goethe's Anweſenheit in Frankfurt geichrieben. Es wird hier zum erften Male aus der Originalniederfchrift mitgetheilt, und die zierliche Handichrift ift zu klar auch in der Orts- und Zeitangabe, ala daß Creizenach's Bermuthung (in „Goethe und Marianne Willemer*), das Gedicht jei erſt nach Goethe’3 Abreiſe entftanden, noch ftatt haben könnte; auch jcheinen mir die Gründe für diefe Annahme durch— aus nicht jo zwingende: denn es ift wohl eine berechtigte Licenz, wenn Marianne, troß der Gegenwart de3 Freundes, die Vorftellung und das Gefühl dev bevor- ftehenden Trennung poetiſch präjumirt (in den drei lebten Verſen der zweiten Strophe):

Zu ben Kleinen zähl ich mich, Liebe Kleine nennft Du mich; Willſt Du immer fo mich heißen, Werd ich ftetö mich glüdlich preifen. Bleibe gern mein Leben lang, Zang wie breit und breit wie lang.

Als den Größten fennt man Did, Als den Beften ehrt man Dich, Sieht man Did, muß man Dich lieben, MWärft Du nur bei uns geblieben; Ohne Dich jcheint uns die Zeit Breit wie lang und lang wie breit.

362 Deutihe Rundichau.

In's Gedächtniß prägt’ ih Dich, An dem Herzen trag ich Dich, Nun möcht’ ich ber Gnade Gaben Auch noch gern im Stammbud; haben; Wär’ auch nur ben alten Sang: Zang wie breit und breit wie lang.

Dod in Demuth ſchweige ich, Des Gedicht? erbarme Dich; Geh’ o Herr nicht in's Gerichte Mit bem ungereimten Wichte; Find es aud Barmherzigkeit Breit wie lang und lang wie breit. Frankfurt &M. b. 11 &ber 1814. Mariane Willemer geb. Jung.

Zur Erklärung des Refrains in dem launigen Erguß jehreibt Creizenach: „Breit wie lang, lang wie breit“ war ein Lieblingsausdrud des Dichters; er fommt ſchon in den fiebenziger Jahren vor, in einer fpäter ausgeſchiedenen Scene des Jahrmarktsfeſtes zu Plunderöweilern, aber aud ein Epigramm aus dem Jahre 1815 ift überjchrieben „breit wie lang“.

Der folgende Eintrag von Roſette Stäbel bezieht ſich auf die in Goethe's Gemeinschaft verlebte erſte Gedenkfeier des 18. October. Mit Glodenläuten und Ghorälen von den Thürmen ward ber feftlihe Tag begonnen, und jollte einer Anregung von Ernſt Mori Arndt zu Folge mit abendlichen Feuern auf ben Bergen beichlofjen werden. Goethe genoß das herrlide Schaufpiel in MWillemer’3 Familienkreis vom Weinbergtfurm am Haineriweg aus; Marianne hatte auf einer Karte die Freuerftellen mit rothen Pünktchen verzeichnet.

Melde Gefühle mögen bei diejer Feier in der Bruft des Dichterd gewogt haben. In feinen Annalen von 1813 befennt er, wie er aus ber ihm unerquid=- lien politii den Spannung flüdhtend, fi) in das Studium des chineſiſchen Reiches vertieft habe, und gerade am Tage der Schlacht bei Leipzig jeinen Prolog zu Eifer dichtete. Als ein wunderbarer Zufall in ihm die Ahnung von Napoleon’s Sturz erwedte: ein eines Gipsmedaillonbild des Kaiſers war gerade am Schlacht- tage ohne erflärliche Urfadhe von feinem Nagel gefallen und dabei ein Stüd des Randes ausgeſprungen bezeugte ex dem ſinkenden Heros noch feine Bewunderung durch die Umfchrift, welche er dem beſchädigten Reliefbilde gab: „Seilicet immenso superest ex nomine multum.“ (Bon Deinem unermeßnen Ruhm bleibt Großes noch beftehen.) Und jet jicht er ſich, nach Jahresfrift, durch die warme vatriotiiche Begeifterung ihm lieber Menſchen mit fortgeriffen in den Freudentaumel über den Sturz des Gewaltigen.

Zur Erinnerung an dieje eier ſchrieb Roſette:

So oft fortan die Feuerzeichen

bes achtzehnten Octoberd dankbar zum Simmel lodern, gedenkt

ein fleiner Kreis guter Menichen eine? undergeblichen Abends. Mögen doch auch Sie fich zumeilen wohlwollend jenes Abends erin: nern, und möge bann unter den

Stammbuchblätter aus Goethes Nachlaß. 363

Bildern, die fi Ihnen darftellen, da3 einer innigen Berehrerin nicht ganz verwiſcht fein, bie

Sie früher bemunberte, nun

aber lieben barf, und dieſe freude um feinen Preis hingäbe.

Frankfurth Rosette Stadel den 9ten geb. Willemer. Dez. 1814.

Den Schluß bilden Einträge ber beiden jüngeren Töchter Willemer’s: Wenn Frankfurts Freunde an Ihrer Erinnerung vorüber: eilen, jo ſchenken Sie auch einen Blid dem Namen ber Sie innigft verehrenden

Frankfurt Meline Scharff d. 12ten Der. geb. Willemer. 1814.

Ein freundliches Geſicht erhielt ich vom großen Goethe für einen Honigluchen.

Kann ſich doch Manches, bad ‚größere Gabe gege⸗ ben, befjen nicht rühmen.

Mar. Anbreae Millemer.

Das Album ift nicht weiter benußt worden, und jomit die große Mehrzahl ber Blätter unbejchrieben geblieben. Aber wenn man fie auch füllen wollte mit glei überſchwänglichen Ausdrüden von Bewunderung und Verehrung, wie bie meiften der vorliegenden Ginträge, jo wäre doch Alles nur ein ohnmächtiges Dankesftammeln gegen das gütige Geſchick, welches in Goethe’3 Genius dem deutſchen Cultur- und Geiftesleben einen unerihöpflichen Born der Schönheit und Wahrheit erichloffen.

Zeitgenöſſtſche Gedankenftrömungen.

Don Lady Blennerhaffett.

II.

Zu wiederholten Malen und auf überzeugende Weiſe iſt ausgeführt worden, daß die Parole der großen Revolution, deren hundertjähriges Wiegenfeſt ſoeben begangen wurde, einen unlösbaren inneren Widerſpruch enthält, und daß Frei— heit und Gleichheit zwei Begriffe find, die fich weder vereinigen lafjen, nod in ihre vermeintliche Syntheje, die Brüderlichkeit, aufzulöjen pflegen.

Aehnlich verhält es ſich merfwürdiger Werfe mit der neuen fittlichen Welt anſchauung, welche nad) jo Vieler Urtheil die alte Ordnung erjegen joll, und gleichfall3 zu ganz anderen als den erwarteten Kefultaten geführt Hat. Der Grundbegriff, auf welchem diefe alte Ordnung beruht, ift vor Allem diejer, daß das menjchliche Herz, von Natur aus zum Böfen geneigt, durch göttlich vorgefchriebene Geſetze ſchützend eingehemmt ift. Der Begriff der Sünde und einer zu fühnenden Schuld durchdringt und erklärt die ganze hriftliche Lehre von der Willenzfreiheit und der Gnade, der Erlöfung und Heiligung. Das Chriſtenthum hat diejen Be griff vorgefimden. Er liegt dem antiken Fatum zu Grunde, und der Yrrthum, als ob die älteften, uns befannten Religionen ihn nicht gefannt hätten, ift längit widerlegt worden. Neuere Forſcher bezeichnen die allmälige Entfaltung der Lehre von der Sünde als eines der wichtigften Ergebniffe, dad unter Anderen aus dem Studium der Hymnen des Rig-veda gewonnen tworden ift!). Aller: dings aber ift das ChriftenthHum eben diejenige Religion, welche ohne dieſe Lehre völlig unverftändlich bliebe, jo daß es mit Annahme oder Verwerfung derſelben fteht und fällt. Als das „Leben Jeſu“ von Renan erſchien, urtheilte über diejes Bud) ein feiner Geift: „Charakteriftiich für diefe Analyie des Chriftenthums ift e3 vor Allem, daß die Sünde dabei gar feine Rolle fpielt. Und doch wäre es am Platz geweſen, einer Religion eine religiöfe Deutung zu geben und dem centralen

1) Max Müller, History of ancient Sanskrit Literature. 'Second edition, 1859, p. 540 segq.

Zeitgenöffifche Gedantenftrömungen. 365

Problem nicht gefliffentlich aus dem Wege zu gehen.“ Im innigften Zujammen- bang mit diefem Glauben an die geftörte Harmonie zwiſchen dem Schöpfer und feinem Gefhöpf und eben dadurch zwijchen dem Menſchen und ber ihn um- gebenden Natur fteht die Lehre von der Sühne und Buße, der entfchlofiene Ver— zicht auf jo Vieles, das allein dem gewöhnlichen Menjchen wichtig und begehrens- werth ericheint, die Verherrlihung der Armuth, des Gehorfams, der Demuth, die Verklärung des Schmerzes. Solde, die da8 Weſen des Chriftenthums ent- tweder gar nicht oder doch nur höchſt unvollkommen verftehen, haben ihm oft genug zum Vorwurf gemacht, daß e3 das Leben verbüftert und die Leiftungs- fähigfeit beeinträchtigt habe. Die Prüfung der Thatſachen und die Ergebniffe der Erfahrung würden fie bald davon überzeugen, daß das gerade Gegentheil davon der Wahrheit viel näher kommt. Ja, es darf geradezu behauptet werben, daß Denjenigen, die dem chriſtlichen Ideal am Nächſten ftehen, eine trübe und vejfimiftiiche Deutung des Lebens durchaus fremd geblieben ift. Sie, die ihr Leben al3 eine Pilgerfahrt betrachteten, die fie auf dornigen und gefahrbrohenden Pfaden ‚duch die Wüfte diefer Melt hindurch der beſſeren Heimath zuführen jollte, haben in der Vollftändigfeit diefer Entfagung den Frieden ihrer Seele gefunden. Wie ein Verfühnungsgruß an die erlöfte Kreatur dringt der Sonnen- gefang de3 heiligen Franz von Aſſiſi durch die Jahrhunderte. Im gleichen Licht, geführt von ihr, in der ſich ihm ber höchſte Begriff der Liebe darftellt, Hat Dante’3 zornige Seele verzeihen gelernt. Ein anderer geborener Peſſimiſt wie Dante, Blaiſe Pascal, der fi, jchon todkrank, den härenen Gürtel um bie Hüften preßte, um für die Verirrungen eines Lebens zu büßen, das wir heilig nennen würden, hat unter dem gleichen Einfluß de3 ChriftenthHums die Worte niedergejchrieben: „Niemand ift glücklich, al3 der wahre Chrift, Niemand ver: nünftig, gut und liebenswerth wie ex.” Aber freilich theilt Pascal die Anficht feines Lehrers Saint-Cyran, „daß die Ehriften, jo zu jagen, nur eine Handvoll Leute find,” daß zu allen Zeiten da3 Chriftenthum viel weniger herrichte und fiegte, al es den Anjchein Hat. Nicht hundert Jahre waren nad) dem Zod von Pascal verftrien, als das achtzehnte Jahrhundert fein Heil in einer Welt- anſchauung juchte, die im diametralen Gegenfaß zu den chriftlichen Ideen ftand. „Es ift Alles gut; jorgt, daß Alles beſſer werde;” im diefe Worte läßt ſich der Optimismus von Voltaire zufammenfaffen, ber übrigens die Chimäre hakte und icharffichtig genug war, wenn die Leidenſchaft nicht mitſprach. So in den Verſen, die, gegen Shaftesbury und feine Schule gerichtet, durchaus peifimiftifch gefärbt find: „Ainsi du monde entier tous les membres gemissent Nés tous pour les tourments, l’un par l’autre ils perissent:

Et vous composerez, dans ce chaos fatal, Des malheurs de chaque ötre un bonheur general!“

Dder wenn er in die Worte ausbrah: „Wie das ewige Leben beichaffen ift, weiß ich nicht; dieſes aber ift ein ſchlechter Spaß.“

Aus diefer Welt, die Voltaire einen jchlehten Spaß nannte, eine Stätte de3 Wohlergehen: und des Genuffes zu machen, ift fortan die Aufgabe der materialiftiichen Doctrinen. Sie wachſen und gedeihen in einer Atmojphäre ipottender Negation, die Leifing 1751 zur Neuerung veranlaßt: „Es wird eine

366 Deutiche Rundſchau.

andere Zeit fommen, und es wäre jchade, wenn fie nicht fommen jollte, da es der Wohlanſtändigkeit gemäß fein wird, ein guter Chrift zu beißen, jo wie es jet die Artigkeit erfordert, ſich für nichts Schlechteres als einen Atheiften, jo lange man gejund ift, halten zu laſſen.“ Die Generation, über welde Leifing fo urtheilte, erklärt die Revolution und bereitete fie vor. Gedankenarm und innerlich erſchöpft, war fie nicht mehr fähig zur That. Dieſe blieb dem durch leiden- ſchaftliche Rhetorik vermittelten Fanatismus überlaſſen. Seine Lehre, nach welcher der natürliche Menſch glücklich und gut und die Gejellichaft für alles Uebel ver- antwortlich ift; die das Individuum freifpricht und die AInftitutionen belaftet, die den materiellen Fortſchritt der Raſſe mit dem moralifchen Yortichritt des einzelnen Menjchen verwechielt und das ganze Problem, ftatt in die Tiefe der Seele, nad) Außen verlegt, dieje Lehre ift jelbft die Revolution. Mit Shakeſpeare's Edmund jpricht auch fie:

Thou, Nature, art my Goddess; to thy law

My services are bound.

Im Anflug an diejes Naturevangelium wurde der Menjchheit die Ausſicht auf ungeahnte Erfolge, ungezählte Güter, auf Ueberiwindung des Schmerzes, der Krankheit, ja ſelbſt des Todes eröffnet. Niemals ſchien das irdiſche Millenium fo nahe, die Herrſchaft des Optimismus fefter begründet.

Der Sturm fam. Als er fich verzogen hatte, zeigte das Bild ſich völlig verändert. An der Schwelle des neuen Jahrhunderts, des unfrigen, fteht „Rene, der Werther nad) der Revolution,“ leidenſchaftlich, einſam, enttäufcht, ein Kind des Zweifel und verzweifelnd wie diefer. Wehe der Frau, die ihn liebt, denn jein Schmerz ift unheilbar, und der Beweis feiner Größe ıft ihm eben in diejer Unfähigkeit, fich zu tröften, gegeben. Man hat „Rense“ das Sterbelied einer ver- ſchwindenden Gulturepoche genannt. Allein er, der nie Vater fein wollte, ift vielmehr der geiftige Ahnherr einer ganzen poetifchen Generation geworden. Manfred und Lara, Lelia und Jacques, Adolphe und Rolla, Shelley, Heine, Lenau und wie fie Alle heißen, die großen Enttäufchten, ex kann fie nicht ver- leugnen. Denn Züge von ihm Haben fie Alle entlehnt, felbft der fromm refignirte Lamartine in einigen feiner Meditationen, in der berühmten Stelle unter Anderem:

Quel crime avons-nous fait pour meriter de naitre? L’insensible neant t’a-t-il demandé l’ötre, Ou l'a⸗t· il accepte? Sommes-nous, ö hasard, l’oeuvre de tes caprices? Ou plutöt, Dieu cruel, fallait-il nos supplices Pour ta felicite ?

Biel tiefer als diefe Schwermuth greift der tragifche Peifimismus von Leo- pardi, deſſen unfterbliche Klage in Aller Erinnerung ift, der dem trüben Be: tenntniß der antiken Welt, e3 fei eine Gnade der Götter, jung zu fterben oder nicht geboren zu werden, die moderne Faſſung gegeben bat:

Mai non veder la luce Era, credo, il miglior.

Ale dieje Aeußerungen bewahren jedoch das Gepräge einer rein perjönlichen,

oft auch jehr vorübergehenden Empfindung. Sie find nicht frei von krankhafter

Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 367

Erregung und jubjectiver Laune. Der Peifimift Hobbes gefällt fi in politiichen Paradoren und reagirt gegen ben Mißbrauch, der mit Formeln und Theorien getrieben worden ift. Larochefoucauld, alt und grämlich geworden, verwirft den Genuß, nachdem er ihn erichöpft hat, und verallgemeinert die Züge des Höflings zum Begriff des Menſchen überhaupt. Byron hat die Gejellichaft herausgefordert ; er ift ein Empörter, vielmehr al3 ein Verzweifelter. Dem größten der engliichen fatyrifhen Dichter, Thaderay, fehlt es an verjöhnenden Zügen und Lichtblicen in das Menſchendaſein nit. Zum feften Syftem und zur abgeichloffenen Theorie wird ber moderne Peſſimismus erft dann, als ihm Schopenhauer die philoſophiſche, die neue Entwicklungslehre die wiſſenſchaftliche Grundlage verleihen. Eindringlich, aber in den meiften der Fälle, die hier in Betracht kommen, auch völlig vergebens, ift eingewendet worden, daß die Doctrinen von Schopenhauer feine andere ala eine lediglich jubjective Wahrheit beanjpruchen können, daß ex jelbft, der fie lehrte, fie durchaus nicht geübt hat, daß fie ich theils auf perfönliche Exlebniffe, theils auf phyfiiche Urſachen zurüdführen laffen und die tägliche Erfahrung den meiften feiner Behauptungen aufs Schroffite widerſpricht. Ebenſo hat man von berufener Seite entgegnet, daß, wie auch hier Schon betont, alle Entdeckungen auf naturwifjen- Ichaftlichem Gebiete die ewigen Probleme des Menſchenlebens, die ragen nad) dem Ziel und Ende, unangetaftet lafjen; daß es ganz unberechtigt ift, die dort getvonnenen Refultate auf die moralijche Welt zu übertragen, und ber bloße Ver: fuch, es zu thun, die Verwirrung ind Unendliche fteigern würde.

Die Verwirrung ift da, und zunächſt ift es an der Literatur, uns zu jagen, welche Verheerungen fie auf ihrem Gebiete angerichtet hat. Dieje find jelbit- verftändlich nad) den äußeren Einflüffen und nationalen Eriftenzbedingungen jehr verichieden, und von diefen ausgehend, kann es faum Wunder nehmen, daß e3 die Franzoſen find, die ih am Stärkjten von der pejfimiftiichen Strömung tingirt zeigen. Die Namen Sully-Prudhomme, Leconte de Lisle, Jules Lemaitre, Paul Bourget braucht man nur zu nennen, um Beiſpiele einer büfteren, ver— ftimmten, nicht jelten bis zur herausfordernden Verzweiflung ſich fteigernden Lebensanſchauung zu gewinnen. Die Klage wiederholt ſich jo beftändig, daf fie faft monoton Elingt. So ſchließt ein Sonnet der „Poömes tragiques* von Leconte de Liöle, an einen todten Dichter gerichtet, mit den Worten:

Que ton siecle banal t'oublie ou te renomme, Moi, je t'envie, au fond du tombeau calme et noir, D’ötre affranchi de vivre et de ne plus savoir La honte de penser et l’horreur d’ötre un homme.

Gegen den Willen zum Leben des deutjchen Verkünders des Peſſimismus find

die Zeilen von Sully-Prudhomme gerichtet: Reste dans l’empire innomm& du possible, O fils le plus aime qui ne naitras jamais .... · ..

Das allermerkftwürdigite Phänomen auf diefem Gebiete ift jedoch eine Frau, Madame Louife Adermann. Die äußeren Greignifje ihres Lebens Hat fie in ſchlichten Worten jelbft erzählt. Am Jahre 1813 als das Kind von Pariſer Bürgersleuten geboren, war fie die ältefte von drei Schweftern. Auf dem Lande, wohin ihre Eltern fich zurückgezogen hatten, durchlebte fie eine freudenloje Jugend, zwifchen dem Vater, der Voltairianer war, und der Mutter, die fich langweilte

368 Deutihe Rundihau.

und in die Stadt zurüdjehnte. In diefer Exiſtenz waren Bücher die einzigen Erlebniffe. Sie wurden unterſcheidungslos gelefen und erzeugten eine ſchwer— müthige, aber au ſchwärmeriſche Stimmung. Co entftanden die erften Verſe, die den Beifall von Victor Hugo fanden, während die Mutter fi) dem berufs- mäßigen Schriftitellerthum auf das Nachdrücklichſte widerſetzte. Doch gab fie nad dem Tode ded Vaters der Tochter die Erlaubniß zu einem längeren Aufent- halt ın Berlin, wo Louiſe 1838 in eine Mädchenerziehungsanftalt trat, die unter de3 Director? Schubart Leitung fand. Nah einem Jahr kehrte die fünfundzwanzigiährige Franzöfin „volftändig germanifirt“ und mit Heimweh nad) dem deutjchen Norden im Herzen nad Paris zurüd, wo bald darauf die Mutter ſtarb. E3 blieb die Wahl zwijchen dem Zujammenleben mit einer älteren Schweſter und der Rückkehr nad Berlin, denn fie bezeichnet ſich als „außer: ordentlich vorfihtig im Handeln, bei aller Verwegenheit in der philojophifchen Speculation,” und allein ftehen wollte fie in ihren jüngeren Jahren nicht. Sie entichied ich für die Rückkehr nad) Deutjchland. In Berlin, in der familie Schubart, Hatte fie einen Landsmann, Paul Adermann, kennen gelernt, der den ihm beftimmt geweſenen theologischen Beruf aufgab, al3 er zur Erkenntniß fam, daß er aufgehört Hatte, ein Chrift zu fein.

Nach und nad flößte ihm das jcheue, ernfte und in ſich gefehrte Mädchen eine Leidenſchaft ein, die Louife nicht den Muth Hatte, zurückzuweiſen. „So wie ich angelegt war,“ jagt fie, „konnte die Ehe für mich nur ausgeſucht unglücklich oder ausgefucht glücdlich jein.” Das Lebtere traf zu. Sie gab fid) ganz ihrem Manne Hin, opferte jeinen philologiichen Studien ihre perfönlichen Liebhabereien, verkehrte mit U. von Humboldt, Varnhagen, Böckh, Johannes Müller, und ver- rieth ihrem Manne nie, daß fie eine Er-Mufe ſei, „um feine Achtung nicht zu verlieren.” Nach zwei Jahren ſchon ward dieſem kurzen, tiefen Glüd ein Ende bereitet, indem Paul Adermann vierunddreigigjährig zu Montbeliard in feiner burgundiſchen Heimath ftarb. Das geihah im Jahre 1846, und von ferneren Erlebniffen hat Madame Adermann nicht? zu berichten. Sie zog fid nad Nizza zurück, deſſen wunderbare Naturbilder ihren erften Schmerz davor bewahrten, in Verzweiflung zu enden. Die Zeit brachte langjame Heilumg. Madame Adermann erwarb ein altes, verlafjenes Dominicanerklofter, hoch auf dem Hügel gelegen, verjah es mit einem Ausfichtsthurm, ſchuf wohnliche Räume und bebaute jhöne Gärten und Felder. Dann erwachte dad Bedürfnig nad geiftigen nterefjen wieder, und Bücher, Zeitungen und Revuen aus allen Ländern bevölferten ihre Einſamkeit. Sie war vierzig Jahre alt, als altfranzöfifche Ge dichte und indifche Legenden auch bei ihr die Luft zu veimen wieder anregten. Es entjtanden Erzählungen, deren Inhalt das jelige Glüd in heiteren, ja launigen Verſen ſchildert. „Ich bin nit aus einem Stück,“ jagt die Verfaſſerin, „Witz und Humor finden Widerhall bei mir.“ Doc machten die jpätgeborenen Kinder ihr bang, als jähe fie die Ruhe des Alters durch fie bedroht. Gleich— zeitig verfolgte fie aber mit höchftem Antheil die Arbeiten der modernen Wiflen- ihaft, „die Evolutionstheorie und die Lehre von der Umfehung der Kraft, die mit den pantheiftiichen Tendenzen meines Geiftes völlig in Einklang find.“ Auf diefem Boden gediehen die poetiichen Blüthen der ſpäteren Jahre.

Zeitgenöffiiche Gebantenftrömungen. 369

Verſchiedene Verſuche von Freunden, einzelne Gedichte von Madame Ader- mann zur Geltung zu bringen, waren an der Gleichgültigkeit des Publicums oder an den Bedenken von Verlegern und Redacteuren gejcheitert. Erſt nachdem fie die pejfimiftiiche Note angeichlagen hatte, drang fie durd).

Welcher Art diefer Peſſimismus ift, mögen folgende Beiſpiele darthun. Das erftere ift einem längeren Gedicht „L’amour et la mort“ entlehnt, in welchem, in Verſen von unzweifelhafter Schönheit, vor dem Vernichtungswerk gewarnt wird, da3 im ewigen Kreislauf zwiſchen Lieben und Sterben ſich wiederholt:

Ces delires sacres, ces désirs sans mesure, Deöchaines dans vos flancs comme d’ardents essaims, Ces transports, c'est d&jä I’humanite future,

(Qui s’agite en vos seins.

Die zweite Strophe ift einem poetijchen Dialog zwiichen der Natur und dem Menichen entlehnt. Raftlos Schafft und zerftört fie, zerichlägt immer wieder die Form, vernichtet unaufhörlich, um unaufhörlich wieder Hervorzubringen und das Hervorgebrachte zu vertverfen, bis endlich der Jdealtypus, der Sohn der Zukunft, entftehen wird, der von Anfang an ihrem geheimen Wirken vorgeſchwebt hat:

De toute &ternite, certitude sublime!

ll est congu; mes flancs l’ont senti s’agiter.

L’amour qui couve en moi, l’amour que je comprime, N’attend que Lui pour &clater.

Der Menſch aber verwirft die Kraft, die nur den Tod gebiert. Ich muß zu Grunde gehen, erwidert er; der Sohn aber, von dem Du träumft, Natur, wird niemals geboren werden:

Sois maudite, ô marätre! en tes oeuvres immenses, Oui, maudite à ta source et dans tes éléments Pour tous tes abandons, tes oublis, tes dömences, Aussi pour tes avortements!

Madame Adermann verwahrt fich dagegen, al3 ob die deutſche Philojophie von bejtimmendem Einfluß auf ihr Denken und Dichten geweſen wäre, und ver— weift auf Jugendarbeiten, welchen bereit3 dieje düftere Färbung eigen ift. „Meine perfönlihen Schickſale,“ fügt fie andererjeit3 Hinzu, „rechtfertigen meine Klagen und Verwünſchungen ebenſowenig. Die großen Kämpfe, die bitteren Ent— täufchungen find mir erjpart geblieben. Im Ganzen genommen tar mein Dafein angenehm, friedlih und unabhängig. Das Schickſal hat mir gegeben, {a3 ih am Dringenditen begehrte, Muße und Freiheit. Die jüngften Ergebniffe der Wiſſenſchaft haben mich nicht zu erjchüttern vermodt. Ich war auf fie vorbereitet, ja ich habe fie erwartet." Mean hat es aljo Hier, wenn auch nicht ausichliehlich, jo doc) vorwiegend mit einem theoretiichen Peſſimismus zu thun, dem das geſammte menschliche Gejchlecht ala der Held eines furchtbaren Drama's erfcheint. Der „Haß gegen das Ghriftenthum,“ von weldem am Schluß der Biographie die Rede ift umd den übrigens die Dihtung mit genügender Klarheit enthüllt, wird dadurch motivixt, daß es das Elend des Daſeins durch den Ver— ſuch ins Unendliche gefteigert hat, es durch das Eingreifen einer göttlichen Laune zu erklären. Diejer Auffaffung entjpricht denn auch ein längeres Gedicht, eine Art von Herausforderung an Pascal, da die Grenze des Könnens von Madame Adermann bezeichnet. Wie in der Hand von Voltaire, wie in der von Gondorcet,

Deutihe Rundigau. XVI, 9. 94

370 | Deutiche Rundſchau.

zerjplittert auch in der ihrigen der kalte, ſpröde Stahl der Negation an der Bruft des Athleten. Wohl nicht nur befümmert, jondern auch verdroſſen jcheibet der Lefer von diefen Blättern, die ſich durch Auszüge aus dichteriſchen Erzeugnifien des modernen Frankreich nad) Bedarf verlängern ließen. Zweckdienlicher dürfte e3 fein, ihnen das Stück englifcher Proja gegenüberzuftellen, da3 einem der Wort- führer der englifchen Demokratie entlehnt und von einem ähnlichen Geift bejeelt ift:

„Denkbar ift es,“ ſchreibt Mr. Morley, „dab die Welt von einem Weſen gejchaffen wurbe, das nicht gut, nicht barmberzig, nicht wohlwollend, nicht gerecht ift, ein Weſen, das fein befieres Unrecht auf unfere Verehrung befipt, ald es etwa Francesco Genci auf bie Liebe feiner unglüd: lichen Kinder zufam. Warum nicht? Der Sittlichfeitäbegriff gilt für das Verhalten und die Beziehungen menjchlicher Weſen und für diefe allein. Wir können nicht willen, noch läßt fih überhaupt leicht begreifen, wie die Principien, bie für die Facta focialer Beziehungen maßgebend find, beöwegen auch dazu geeignet fein jollen, bie Bewegungen eines Demiurgos zu beftimmen ober zu erklären, in deſſen hohler Hand bie gefammte Weltordbnung geborgen liegt“ }).

Vorübergehend jei hier erwähnt, da für den Verfafjer obiger Zeilen der göttliche Demiurg überhaupt nicht exiftirt. Von feinem Standpunft aus ift das auch kaum ala Verluſt zu erachten. Ein „Messer’ Cenei*, mit unbejchränften Vollmachten auf einem Wolkenthron fitend, ift nicht gerade einladend. Wichtiger ift für und die Wahrnehmung, daß der naturaliftiihen Auffaffung bei Morley die determiniftiiche zur Seite geht und die Lehre vom freien Willen ala „that fählich jeden Sinnes entbehrend“ genannt wird. Merkwürdiger Weiſe ift die Vertheidigung diefer Theje nicht etwa in die Hände zeitgenöjfiiher Poſitiviſten, fondern in die des Baron Holbach gelegt, dem das jeltene Glüd widerfährt, ganz bejonder3 wegen der muthigen und untiderftehlichen Logik feiner Argumentation gepriejen zu werden. Die Argumentation von Holbad) ift aber folgende:

„Es befteht keinerlei Unterfchied zwifchen dem Mann, ber fich zum Fenſter Hinauswirft und dem Mann, ben ich Hinauswerfe, feiner, wenn nicht biefer: daß ber Impuls, der auf bem zweiten einwirkt, von außen ber auf ihn einbringt, und daß ber Impuls, ber ben Fall des erften ver anlakt, aus dem Inneren feines eigenen Mechaniamus fommt. Es handelt fi nur darum, bis zum Motiv hindurchzudringen; und e8 wird fich ausnahmslos erweifen, daß das Motiv auker halb der Macht und Möglichkeit des Hanbelnden Liegt“ ?).

Der ſchon genannte engliſche Schriftfteller, Mr. Lilly, der die Bekämpfung folder und ähnlicher Anſichten al3 eine feiner Verpflichtungen betrachtet, umd für deſſen, von chriſtlichen Anſchauungen getragene, Ethik die Willenslehre jelbft- verftändlich grundlegend bleibt, begnügt fich, in Bezug auf Baron Holbad, dem übellaunigen, kurz angebundenen und ehrlichen Dr. Johnſon das Wort zu laſſen: „Sit, wir wifjen, daß unfer Wille frei ift, und damit iſt die Sadje aus.”

Auf die künſtleriſche Production, nicht nur in England, jondern auf im engliſch ſprechenden Amerika, ift der Einfluß folder Anſchauungen glücklicher Weiſe für die Kunſt ein jehr beichränkter geblieben. Mlgernon Swinburne, der ih al3 Schüler von Victor Hugo befennt, und in Bezug auf Formenreichthum, ſprachliche Schönheit und phantaftifche Geftaltungsgabe manchen verwandten Zug mit ihm gemein hat, ift längft der Sturm- und Drangzeit feiner Jugend ent- wachſen, und wo der Zweifel am Beſtehen einer idealen Welt de8 Guten ihn

') John Morley über 3. St. Mill, Fortnightly Review, XXIII, 122. *) J. Morley, Diderot, Bd. II, ©. 178.

Zeitgenöffiiche Gedantenftrömungen. 371

noch beherrſcht, gereicht e3 feinem Werk nicht zum Heil. Swinburne iſt nicht der einzige, aber er ift ganz gewiß der größte und begabtefte der engliſchen Dichter feiner Sinneart, und was ihm nicht gelang, ift auf engliſchem Boden keinem Anderen geglückt. Dagegen hat ein Amerikaner es verſucht und feinem Eintritt in bie Deffentlichkeit leuchteten günftige Sterne. „Unfer literariicher Banquier“, wie Emerfon von einem Landmann jehr bezeichnend genannt wird, jtellte dem Poeten, den er entdeckt zu haben fi rühmte, einen Wechjel auf die Anerkennung der Mit- und Nachwelt aus, der dem erften Werk desjelben, „Leaves of Grass“, raſch eine neue Auflage verschaffte. Am jo mehr als Walt Whitman, fo hieß der Verfaſſer, das Lob de3 erften lebenden amerifanijchen Kritikers feinen „Gras— halmen“ voranftellte. Emerjon hatte ihm einen Privatbrief gejchrieben und war etwas betroffen, al3 er jah, welcher Gebrauch davon gemacht worden war. Mit Walt MWhitmann ſchien das Ideal von Rouffeau verwirklicht, die Bildung überwunden, die Cultur verworfen, die Rückkehr zum Naturzuftande wenigſtens angebahnt. Der amerikanische Biograph von Walt Whitman fand ihn in den letzten fünfziger Jahren in der Nähe einer Art von Hütte im Gra3 bei einer Temperatur von 100° auf dem Rüden in der Sonne liegen. Er trug Arbeiterfleider und ver- fiherte jeinem Beſucher, in diefer Stellung und bei ähnlicher Hibe verfafje er feine beften Gedichte. Bücher habe er nicht, mit Ausnahme der Bibel und Shafefpeare'3; über die Durcchichnittserziehung jedes Bürgers der amerikaniſchen Staaten jei er nie hinausgedrungen. Als jeine beiden Studierpläße hezeichnete er ein verlaffenes Eiland im Ocean, das er oft beſuchte, und die Dede der Omnibuswagen in New-York. Der Biograph, dem wir dieſe Einzelheiten verdanken, jcheint dieje Angaben bezweifelt, dann geprüft zu haben, denn er verweift ausdrück— lic) darauf, daß ein jehr bedeutender Mann, Quäfer und Prediger feiner Gemeinde in New-York, großen Einfluß auf die Entwicdlung von Walt Whitman gehabt habe. Auch [a3 diefer viel mehr, als er eingeftand, und war zuerit Seßer, dann Zimmermann, aber auch Zeitungsredacteur, „der größte Demokrat, den die Welt je gejehen hat,“ wie abermals ein Amerikaner, Henry Thoreau, ſich ausdrüdt. Mean hatte e3 alſo Hier mit einem mehr fünftlichen al3 echten Wilden zu thun, einem Original immerhin, und einem, der fi rühmte, „prächtig mit Waſſer und Brot zu leben.“ Was nun feine Dichtungen betrifft, jo lautet das Urtheil über fie dahin, daß fie die Bibel an Ungeſchminktheit des Ausdrucks übertreffen, daß ein priapifcher Zug fie durchdringt, und empfindliche Leſer wohl daran thun werben, fich die Nafe zuzuhalten, weil der Verfafjer fich nicht ſcheut, den Kehricht im Empfangszimmer auszuſchütten, um zu beweifen, daß aud darin die chemischen Geſetze fortarbeiten. „Walt Whitman ift freier mit feiner Feder als Montaigne, einfach ſinnlich, ala wenn die Thiere ſprächen.“

Er bat noch einen anderen Punkt der llebereinftimmung mit Montaigne, von dem Pascal ausdrücdlich jagt, „er jei der Vermittler einer gewaltigen Ver— geltung.“ Denn feine Lehre hat „ben Menſchen vom Verkehr mit Gott, zu dem er fich durch die Schwachen Kräfte feines Verftandes hat erheben wollen, in den Zuftand des Thieres zurücgetvorfen.“ Montaigne ift aber aud) einer der nach— drüclichften Verkünder des „Ich“, fein eigener Prophet. Der Held feiner Schriften ift er jelbft, und auf ihn führen alle Memoiren und Dentwürdigkeiten, alle Auto—

24*

372 Deutſche Rundichau.

biographien und Belenntniffe zurück, in welchen jeit Rouffeau die Vergötterung der Perjönlichkeit verfucht worden ift. Nah Göthe, nah Byron, nad Chateau: briand, nad) Yamartine, nad George Sand, hat auch Walt Whitman „ſich“ erzählt. Don den neuntaufend Zeilen, aus melden „die Grashalme” beftehen, Berie fann man fie nicht nennen, denn fie befiten weder Wohlklang noch Rhythmus ift eine beträchtliche Anzahl der Selbftverherrlihung gewidmet. Sie hat ihn auch fpäter zu wirklichen Verſen begeiftert, und es ſoll nicht verjchtwiegen werden, daß ein Kritiker wie Dowden Walt Whitman „einen großen, lebenden Dichter“ nennt. Er jelbft hat einer Ausgabe der „Grashalme” die Abjchrift der Kritik vorausgeſchickt, die ihn „größer als Tennyfon“ bezeichnet, und es war fein Chr geiz, die Dichtkunft feines Heimathlandes neu zu jchaffen. Der Secejfionstrieg beeinflußte übrigens nicht nur fein Werk, fondern auch feine äußere Lebens- lage. Er verwerthete jeine perſönliche Macht über die Menjchen in der edelften Weiſe, ala Pfleger der Verwundeten, fang feinem freunde, Abraham Lincoln, die Todtenflage, und wurde nad Wiederherftellung des Friedens Glerk bei der innern Verwaltung. Zwar gelang e3 einem Stellenjäger, Walt Whitman dadurd aus der feinigen zu verdrängen, daß er feinem Vorgeſetzten ausgefuchte Stellen aus den „Grashalmen“ unterbreitete. Dies hatte die Entlaffung des Dichters zur Folge, die übrigens von kurzer Dauer war. Als Bibliothefar des Congreſſes bat Walt Whitman 1869 wahr genug der Convention für Socialwifjenidaften ala höchſtes Kriterium eines Buches die Frage bezeichnet: „Hat e3 einer Menſchen— jeele geholfen?“ ) Iſt fein eigenes Werk nad) diefem Maßſtab zu bemefjen, dann möge der Leſer entjcheiden, ob jpätere Erzeugniffe des Dichters für die entſetzlichen „Grashalme“ entjchädigen.

In Bezug auf die deutfche oder die in Deutfchland heimiſch getwordene dichteriiche Production würde unter anderen eine Studie über Ibſen ſolche Be tradhtungen fördern. Eine weitere Trage wäre die, welchen Einfluß die modernen Geiftesftrömungen auf den Idealismus der Dichtung von Paul Heyje gehabt haben. Allein derartige Probleme können nicht vorübergehend geftreift werden und mögen einer anderen Gelegenheit vorbehalten jein.

Derjenige unter den deutjchen Künſtlern der nicht nur im eigenen Lande, jondern weit über jeine Grenzen hinaus in der ganzen civilifirten Melt die größte Macht ausgeübt hat, ift in der zweiten Hälfte diejes Jahrhunderts unzweifelhaft Richard Wagner. Viel ift über den Zuſammenhang der Philojophie von Schopenhauer mit der Kunſt von Rihard Wagner gejchrieben und verhandelt und auch diejes oft erzählt worden, wie durch eine fonderbare Ironie des Schid- jal3 der Buddha in Frankfurt es nie über fich vermocht Habe, den Zönen zu laujchen, die al3 finnesverwandt mit feiner Gedankenarbeit ihm entgegenjchlugen. Daß aber dennod ein ſolcher Zuſammenhang befteht, joll um jo weniger be zweifelt werden, al3 aud in Schopenhauer ein Künftler lebte, der in Haffiider Formvollendung und in feiner Weife zum dramatijchen Effect gelangt, zur Götter: dämmerung eines hoffnungslos ringenden, ewig auf fich jelbft geftellten Geſchlechtes. Was aber hat die lichte Geftalt von Lohengrin, was Eliſabeth's verſöhnenden

1) Whitman, Democratic Vistas, 67.

Zeitgenöſſiſche Gebantenftrömungen. 373

Schmerz um den Geliebten mit jolchen Anjchauungen gemein? ft etwa ber Treuerzauber der „Walküre“, ift der Knabenchor im „Parcival“ auf fie zurück— zuführen? Oder ift das „Mitleid“ eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, und hätte die höchſte Kunft jemals aufgehört, die höchſte Begeifterung zu fein?

Die Wahrheit ift vielmehr diefe. Das Beſte, was in unjeren Tagen bie deutſche Kunft zu Teiften vermochte, ift dadurch erreicht tuorben, daß fie am Born der nationalen und religiöfen NMeberlieferungen ihrer eigenen Vergangenheit ſchöpfte. Es ift eine arge Verirrung der Begriffe, in Opernterten nach einer Theologie zu fuchen, und es ift auch feine da zu finden. Aber troß aller Schatten, von welchen Wagner's dichterifches Werk ftellenweife getrübt iſt, wird e3 dauern. Es fteht im Dienft des Graals. Und mit ihm die deutſche Kunft. Auch ihr ift es nicht eripart geblieben, an den öden Geftaden der jpottenden Verachtung, des Zweifels, der Verneinung umherzuirren und zu verfuchen, ob in dem unfruchtbaren Sande de3 Naturalismus und de3 modernen Epikuräerthums das Schöne ſich ver- wirklichen, Bleibendes ſich gewinnen laſſe. Sie wird doch ftet3 zum Ufer zurückkehren,

„das Land ber Griechen mit ber Seele fuchend”.

Und ftet3 wird fie es wieder finden. Denn ftammvermwandt find ihr die idealen Geftalten dieſer unfterblien Welt, und wer ihr die ethiſche Grundlage entziehen will, legt da3 Mefjer an ihren Lebensnerv. Der Tag, an dem fie aufhören wird, die Menſchen zu verbeffern und zu veredeln, wird ihr Sterbetag jein. Wenn e3 hierzu noch eine Beweiſes bedürfte, jo wäre er darin gegeben, daß diefe deutiche Kunft, was fie nicht ſoll, auch gar nicht kann. Sie befikt Ironie, Humor, fie verfteht auch zu fpotten, harmlos oder bitter, je nachdem. Aber e3 gelingt ihr nicht oder ſchlecht, frivol zu fein, und einer gewilfen jubtilen und raffinirten Gorruption wiſſen weder ihre Sprache noch ihr Pinſel ſich zu fügen. Mo fie e8 verfucht, bringt fie nichts als ſchlechte Copien Hervor, und Deutjche holen fi, wenn das Bedürfniß nach derjelben vorliegt, eine ſolche Waare viel befjer im Ausland. Oder was würde man in Deutfchland jagen, wenn dort ein Autor etwa die fyftematische Verhöhnung des Alters, feiner Schwächen und Ge- brechen verſuchte, die Alphonfe Daudet im Roman „l’Immortel“ Tieferte. Um fi an der Akademie, die ihn nicht gewählt hatte, zu rächen, hat Daubet da3 weiße Haar des alten Aſtier-Réhu, der zudem eine Art von Porträtftudie ift und durchaus Hundert Jahre alt tverden will, ein paar hundert Seiten hin— durch dem Gelächter preiögegeben. Und in demjelben Buch figurirt eine Herzogin, die ganz eigens dazu erfunden jcheint, die Behauptung des hier oft genannten deutſchen Philojophen zu rechtfertigen, „ihm fer es gelungen, ‚der Dame‘ in der Literatur ein Ende zu machen“. Im Tall dies wirklich jo wäre, hätte er einen Pyrrhusſieg erfochten. Denn mit der „Dame“ droht die Jungfrau, die Gattin, die Mutter, die Matrone, au dem Bereich der Kunft zu verſchwinden, und mit ihnen der Prototyp alles deifen, was heilig ift auf Erden, denn:

„Das Weib ift feufch in feinem tiefften Weſen, Und was die Scham ift, wei doch nur ein Weib!“

Auf dem feiner richtigen Deutung nach verftandenen Begriff der Dame

beruhte und beruht auch heute no das Weſen edler, vornehmer Gejelligkeit,

374 Deutiche Rundichau.

deren charakteriftiicher Zug es ift, daß der Lurus und das Raffinement des modernen Genußlebens fie viel eher beeinträchtigt als fördert. Ober wer hätte jemals daran gedacht, die Geftalt von Eleonore von Efte aus der edlen Großartig- feit ihrer Umgebung in den neuzeitlichen Salon zu verjeßen, der heute einer japanischen Dtarktbude, morgen einer Menagerie gleicht? Wer dächte optimiftiich genug, um die europäijche Gejellichaft, deren Biographie „Graf Vaſſili“, und deren Satyre Sardou, Emile Augier und „Gyp“ geichrieben haben, mit jener anderen europäiſchen Gejellichaft zu vergleichen, in welcher die Wittwe von Condorcet und Frau von Staöl, Lady Jerjey, Rahel, die Herzogin von Duras, um unter jo vielen nur einige Namen zu nennen, meift in der einfachſten äußeren Umgebung für die Unterhaltung jorgten? Sie erreichten ihren Zweck, indem fie durch wechjelnden und geichmadvollen Gedankenaustaufc den Geift anzuregen, viel mehr no), indem fie den Gemüthern dur die Wärme und Theilnahme des intimen Verkehrs die unentbehrliche Stüge und Erfriſchung zu geben mußten. Dazu bedurfte e8 vor Allem zweier Dinge, die unjer großftädtiiches Leben bereits nicht mehr fennt: Ruhe und Zeit.

Selbft wenn man die Veränderung als einen Verluft empfindet, kann man ſich doch füglich einen geſellſchaftlichen Zuftand denken, der ſich auch ohne dieje Art von Gefelligkeit wird behelfen müſſen. Zum großen Theil ift das ja ſchon der Fall.

Ganz undenkbar dagegen ift, daß die Nohheit, die der erperimentale Roman, die Evolutioniften, Naturaliften, Decadent3 und „Fin de siecle* zum Gegenftandb ihrer Lieblingsfchilderungen gemacht haben, andere Richtungen verdrängen oder jelbft auf die Länge neben ihnen fortbeftehen könnte. La bête humaine, da3 Produkt des Magens vielmehr al3 des Gehirns, das diefer Roman nad) rein phyfio- logiſchen Gejegen conftruirt, ift nit nur im höchſten Grad empörend, es ift auch im höchften Grad langweilig. Wir möchten den Menſchen kennen, der e8 über ſich brächte, ein zweites Mal und zu feinem Vergnügen, „Nana“ oder „La Terre* zu lejen.

Zola hat für fi und feine Schule die Ehre der Abſtammung von Diderot in Anſpruch genommen, und Stendhal, Balzac und Flaubert in diefen Stamm- baum eingereiht. In Bezug auf Stendal hat unter Anderen Taine proteftirt und betont, daß es fich Hier nicht um einen Phyfiologen, jondern um einen Piyhologen handle. Längft vor ihm hatte Stendhal das jelbft gethan. Gegen die Selbftverherrlihung der utilitariiden Schule, der Worgängerin der heutigen pofitiviftiichen Schule, behauptet er fein etwiges Anrecht „auf das Edle und Gute, auf Alles, was plötzlich al3 überflüffig über Bord geworfen werden joll und was die Staliener als Virtu bezeichnen“). Balzac it eine jchöpferiiche Kraft erſten Ranges, dem die Kunft als „die idealifirte Schöpfung” galt. Die ſocialen Zerſetzungsproceſſe, alle jchlimmen Inſtincte und verborgen geglaubten Lafter gehören mit zur Rollenbejegung auf den Brettern des Welttheaters, das er aufs ſchlägt, beleuchtet von der Tadel der Eumeniden. Gegen den Marniffe der „parents pauvres“ wie gegen ben „Fabrice“ der „Chartreuse de Parme“ hat jchon

!) Henry Beyle»-Stenbhal, D’un nouveau Complot contre les Industriels. Paris, 1825,

Zeitgendffiiche Gedantenftrömungen. 375

Sainte-Beude Einſpruch erhoben und davor gewarnt, abftogende Paradoren der Analyje zu conftruiren und diefe dann für Menſchen auszugeben. Nun kam Flaubert. Krank und in die Provinz gebannt, folterte ihn. fein Leben hindurch das doppelte fünftleriiche Bedürfniß, den Viſionen feiner erregten Phantafie und der Realität de3 engen, einförmigen Lebens, das trivial, vulgär und langweilig ihn umgab, einen flaren, formvollendeten, bis ins Kleinſte wahrheitgetreuen Ausdruck zu geben. Flaubert konnte es zuleßt nicht mehr hören, wenn die Leute ihn ftet3 als den Verfafjer von „Madame Bovary“ priefen. Denn er hatte Werke geichaffen, die ihm viel höher ftanden als dieſes. In „Madame Bovary“ aber erkannte fich die Welt de3 zweiten Kaiſerreichs im Spiegel eines Künftlers wieder. Ihre Philo- fophie ftand eben jo tief al3 die des unvergeßlichen Apotheker Homais; ihre Opfer hatten, gerade wie die unglüdliche Titelrolle de3 Buches, den Lurus mit dem Glück verwechjelt, und von Paradiefen geträumt, in welchen die Hleider aus dem Atelier von Worth famen. An der Leiche der Selbftmörderin hatte dann die Hand de3 Meifterd dad Scalpel geführt, und die wahren Schuldigen lieh er entfommen. Auch das traf zu. „Flaubert,“ jagt Sainte-Beuve mit gewohnter Divinationsgabe, „ift der erſte Schriftfteller dev modernen, demokratiſchen Ge- ſellſchaft.“

Und nun zu Diderot. Von genialſter Begabung, hat er ſelbſt empfunden und beklagt, daß ſein Leben verfehlt, ſeine Gedankenarbeit Bruchſtück geblieben ſei. Seine beſte Kraft hat er an der „Encyklopädie“, ſein Talent in der Kunſtkritik, feine Weltanſchauung in der Negation erſchöpft. Er hatte, wie geſagt, Augen— blicke aufrichtiger Reue, und viele ſolche, wo ſeine angeborne Gutmüthigkeit auf die Oberfläche kam. „Mich berühren die Reize der Tugend viel mehr als die Auswüchſe des Laſters,“ ſchreibt er. „Sanft wende ich mich von den Böſen ab und eile den Guten entgegen. Wenn ich, ſei es in einem Buch, in einem Bild, in einer Statue oder in einem Charakter eine ſchöne Stelle finde, ſo ſtehe ich ſtill, betrachte dieſe und vergeſſe alles Uebrige darüber. Was widerfährt mir erſt, wenn ich dem Schönen ſelbſt begegne!“ Von der Aeſthetik der naturaliſtiſchen Schule iſt dieſe Rede ſehr verſchieden. Andererſeits läßt ſich nicht beſtreiten, daß Diderot's Roman, „La Religieuse“, die kühnſten Wünſche derſelben erfüllt. Was überhaupt dieſe ganze Literatur kennzeichnet, iſt nicht die Betonung des Böſen, es ift die faſt vollftändige Abwejenheit de3 Guten. Jago ift da, aber Desdemona legt die heroijche Sanftmuth ihres Todes nicht in die Wagfchale, und Feine Gordelia breitet Ichügend ihre Hand über das greife Haupt von Lear, um den Wahnfinn zu bannen, den unmenſchliche Thaten heraufbeſchworen haben.

Bor Hundert Jahren ift in demjelben Frankreich, in welchem jo manche der modernen Geijtesftrömungen in der Politit und in der Philofophie, in der Kite ratur und in der Kunſt ihre typifche Geftaltung erhalten haben, eine Hypotheſe zur Grundlage einer Staat3ummwälzung gemacht worden.

Die Hypothefe war die von der eingeborenen Güte des menſchlichen Herzens, von der Untrüglichkeit der logiſchen Vorausſetzung, daß alle Mitglieder eines Gemeinweſens gleihwerthig find, Caliban mit Profpero, Wurm mit Poja; daß nichts einfacher zu conſtruiren ift, als der Mechanismus eines Staates nach dem Recept einer Conftitution; daß der Anfpruch auf Gleichheit der politiichen Rechte

376 Deutſche Rundichau.

jedem Einzelnen ganz ebenfo gebührt wie Gleichheit vor dem Geſetz, und da die Zukunft der egalitären Demokratie und einem ungemefjenen Fortſchritt gehört.

Während bie politiiche Bewegung der letzten hundert Jahre mit mehr oder weniger Erfolg an der Verwirklichung diefer Hypotheje gearbeitet hat, ift die Wiſſenſchaft ihrerjeit3 nicht ſäumig geweſen.

Sie lehrt gegenwärtig, mit mehr oder weniger Uebereinſtimmung, daß der einzelne Menſch durch rein pathologiſche Vorgänge, über die der Wille nichts ver= mag, beftimmt wird, daß er jeden Augenblick in den Zuftand thierifcher Wild- heit zurüdfinfen kann, aus dem er urſprünglich gefommen ift; daß die Natur den Kampf um das Dafein zur Bedingung alles Lebens macht; daß ihr nimmer rubhender Gvolutionsproceh das Individuum für nichts erachtet und nur die Gattung berückfichtigt; daß Tauſende Hingeopfert werden, damit Einer übrig bleibe, daß in der phyfiichen Welt kein anderes als das Recht des Stärkeren gilt und folglich nichts unberedhtigter ift ald der Optimismus. Denn das Walten des Geſetzes in der Natur ift unerbittlih, und über diejes Geſetz hin— aus zum vermeintlichen Gejeßgeber wird die menſchliche Erkenntniß niemals dringen.

Zwiſchen diefen Refultaten und dem Naturevangelium von 1789 Tiegt ein Abgrund, den fein Sophismus jemal3 wird überbrüden können. Mit dem ge» träumten Millenium des XVII. Jahrhunderts ift e8 gründlich zu Ende. Die Pofitiviften, die das Böſe leugnen, die Peſſimiſten, die an das Gute nicht glauben wollen, die Einen find jo verftimmt wie die Andern. Einer von ihnen, ein Forſcher und ein Dichter zugleich, Leconte de Lisle, möge für fie Alle ſprechen:

Hommes, tueurs de Dieu, les temps ne sont pas loin, Oü, sur un grand tas d’or vautres dans quelque coin, Ayant ronge le sol nourricier jusqu’aux roches

Ne sachant rien faire, ni des jours, ni des nuits, Noyes dans le n&ant des suprömes ennuis,

Vous mourrez betement en remplissant vos poches.

Ganz anders fteht biefen Problemen das Chriftenthum gegenüber. In Bezug auf feine Stellung zur heutigen Naturwiſſenſchaft jei ein letztes Mal auf den Hier wiederholt angeführten engliſchen Denter verwieſen, den & der Mühe Lohnt, felbft darüber zu vernehmen!) Die englifche gelehrte Melt rühmt an ihm befonders, daß er niemals eine Schwierigkeit umgeht oder den Lefer und fich ſelbſt mit Scheingründen abfindet. Mit den Leuten, melde eine Thatſache verwerfen, weil fie ihnen unbequem ift, hat er überhaupt nichts gemein. Im Lauf feiner Unterſuchung beruft er fi unter Anderem auf den Sat von Hurley „von einer Teleologie im weitern Sinn, die von der Evolutions: theorie nicht berührt wird, jondern vielmehr auf dem fundamentalen Satze der: jelben beruht“. Die Rückwirkung aber, die joldde und andere verwandte Theorien auf die Anjchauungen der Gegenwart ausgeübt haben, ift dem Chriſtenthum jelbft nichts weniger als fremd. Es hat ftet3 gelehrt, daß ein Kampf und Zwieſpalt durch die ganze Natur gehe, daß der Schmerz die Bedingung alles Seins, ber

1) MW. ©. Lilly, „A Century of Revolution“, bei. Kapitel IV, Revolution and Science. S. auch befjen neueftes Werk: „Modern Ethics“.

Zeitgenöffifche Gebantenftrömungen. 377

Mille ſchwach und ungenügend, da3 menſchliche Herz verkehrt ſei, daß nichts hienieden den Hunger und Durft nad) der Gerechtigkeit ftille. Allein dabei bleibt e3 allerdings nicht ftehen. Es jucht in einem Reich der Gnade die Löjung, die im Reich der Sünde nicht zu finden ift, und begeiftert die Seelen für ein deal, da3 ihnen gerade deswegen vollkommen genügt, weil e8 außerhalb diefer Welt ber Erſcheinung Liegt.

Darwin erzählt, wie ihm durch angeftrengte Geiftesarbeit auf dem Gebiete der Beobadhtung die Empfindung für Muſik verloren gegangen ei. Aehnlich jcheint e8 dev modernen Cultur in Bezug auf das ethifche Problem er— gangen zu fein. Ueber dem Studium der Phänomene ift ihr der Sinn für das abhanden gefommen, wa3 allem Phänomen zu Grunde liegt. Aber ebenfo wenig al3 es ftill geworden ift im Reich der Töne, weil ein Einzelner aufgehört hat, ihnen zu laufchen, ebenſowenig läßt fich die innere Stimme erftiden, die das Menjchengeihlecht immer wieder nach Oben verweift. Die wahrhaft Großen, die geborenen Herrſchernaturen wiljen das wohl. Am 28. September 1870, während de3 Duells, nicht zwijchen zwei Völkern, jondern zwiſchen zwei Welt- anſchauungen, jagte Graf Bismard: „Wie man ohne Glauben an eine geoffenbarte Religion, an Gott, der da8 Gute will, an einen höheren Richter und an ein zufünftiges Leben zufammenleben kann in geoxdneter Weife, da3 Seine thun und Jeden da3 Seine lafjen begreife ih nicht. . . . Wenn ich nicht auf meinen Gott rechnete, jo gäbe ich gewiß nicht3 auf irdiſche Herren.“

Zwanzig Jahre find indefjen verftrihen. Die damals nod) in voller Thätig- keit ftanden, find entweder zur Ruhe gegangen oder bereiten fich zum Abjchied vor. Zu den leßteren gehört Tennyjon, ein Gläubiger auch er. Auf der Fahrt zwiſchen der Inſel Wight und Portsmouth Hat der Achtzigjährige vor wenigen Monden das Schwanenlied niedergejchrieben, mit welchem der letzte Band feiner Gedichte ſchließt. Die jugendfräftige, feierliche Schönheit diefer Verſe hat bie angeliächfiiche Welt aufs tieffte ergriffen. Mit ihnen, wie mit einer guten Bot- Ichaft, jchließe auch diefe Betrachtung, bis für „Crossing the Bar“ der deutſche Ueberjeger fi) findet.

Twilight and evening bell,

And after that the dark!

And may there be no sadness of farewell, When I embark;

For tho’ from out our bourne of Time and Place The flood may bear me far, I hope to see my Pilot face to face When I have crost the bar).

1!) Demeter and other poems. By Alfred Lord Tennyson. London. 1889. p. 174.

Vekron's Gaftmahl des Vrimaldio.

Don S. Friedlaender.

In einer Anzahl mittelalterlicher Abjchriften haben fi Ercerpte aus einem altrömiſchen Roman erhalten, ala deffen Berfaffer ein Petronius Arbiter genannt wird. Die Erzählung geht öfter aus der Proja in Verſe über, auch find längere poetiſche Stüde eingeſchaltet. Der Roman beftand aus loje aneinander gereihten, doch durch ein leitendes Motiv zufammen gehaltenen, von einem Encol- pius al3 eigne Grlebniffe erzählten Abenteuern, enthielt zahlreiche Epifoden (unter andern die Geihichte der Witttve von Epheſus) und jcheint einen nicht unbeträdhtlien Umfang gehabt zu haben. Die erhaltenen Ueberrefte zeichnen ſich ebenjo jehr durch Geift, Wit und Eleganz der Form, wie durch zügelloje Frech— heit aus. Das größte und intereffantefte Fragment, die Schilderung eines von einem reichen Frreigelaffenen Trimalchio gegebenen Gaftmahls, wurde erft um die Mitte de3 fiebzehnten Jahrhunderts in Trau in Dalmatien gefunden und 1664 in Padua gedrudt.

Für den Berfaffer diefes Romans hält man einen Gaju3 Petronius, ber längere Zeit bei Nero in höchfter Gunft ftand, dann aber bei ihm verdächtigt, im Jahre 66 n. Chr. durch Selbftmord der Hinrichtung zuvorkam. Er war einer der auch in der neueren Gejchichte bier und da begegnenden Männer, die, nachdem fie in hohen Stellungen Befähigung und Thatkraft bewieſen, ſich mit Dftentation einem müßigen Genußleben hingeben und ihren Ruhm darin finden, elegante Roués zu fein. Diefen Ruhm erlangte Petronius in jo hohem Grade, daß er an Nero’3 Hof als Autorität in Allem galt, was Raffinement des Gr nufjes betraf, und von Nero jelbft ftet3 als „Schiedsrichter in Geſchmacksſachen“ (arbiter elegantiae) um Rath gefragt wurde. Seine bevorzugte Stellung zog ihm den Neid andrer Höflinge zu, und der Erfolg ihrer Intriguen trieb ihm zu dem Entſchluſſe, ji) die Adern zu Öffnen. Er bewies im Sterben diejelbe fühle, unerfchütterlihe und vornehme Gelafjenheit, die man während feines Lebens jo ſehr an ihm bewundert hatte. Er verzögerte fein Ende, indem er nach Belieben die durchſchnittenen Adern verbinden und twieder öffnen ließ. Er unterhielt fi

Petron's Gaftmahl bes Trimaldio. 379

mit feinen Freunden, doch nicht von ernften Dingen, etwa (wie es damals in den letzten Stunden häufig geihah) von Unfterblichkeit und den Anfichten der Philoſophen darüber, jondern lieh fich leichtfertige Gedichte vorlefen. Er beſchenkte einige jeiner Sklaven und ließ andere peitichen. Er begab fich zur Mahlzeit, und legte fich jchlafen, jo daß jein Tod faft wie ein natürlicher erſchien. Nicht einmal in feinem Teftamente dem Nero oder einem der Mächtigen zu jchmeicheln (was die unfreiwillig Sterbenden damals zu thun pflegten, um für die Ihrigen einen Theil ihres Vermögens zu retten), ließ ex fich herbei. Er jchrieb einen Bericht über Nero’3 Ausſchweifungen und Schandthaten mit Angabe der Namen der Betheiligten beiderlei Geſchlechts, ſandte ihn verfiegelt an Nero und zerbrad) feinen Siegelting, damit er Niemanden Gefahr bringe. So erzählt Tacitus; duch Plinius erfahren wir außerdem, daß Petronius vor feinem Tode eine ihm gehörige, mit mehr ala 60000 Mark heutigen Geldes bezahlte Schöpffelle aus Murrha (orientaliicher Flußſpath oder Achat) zerbrach, damit fie nit die Tafel Nero's zieren follte.

Die dur den Beinamen Arbiter veranlafte Vermuthung, daß dieſer Petronius der Verfaſſer des erwähnten Romans war, erhält eine weſentliche Unterftügung dadurch, daß der Roman offenbar in der Zeit Nero’3 gefchrieben ift, und ficherlich von einem Manne, der auf der Höhe der damaligen Bildung ftand und eine große Weltkenntniß befaß.

Das Intereſſe, da3 die erhaltenen Bruchſtücke auch außerhalb der gelehrten Welt erregten, veranlaßte 1693 einen Franzofen, Franz Nodot, den Roman mit Ergänzungen herauszugeben, die er in einem aus Belgrad ftammenden, voll- ftändigeren Eremplar gefunden haben wollte: eine Fälſchung, die troß ihrer Plump- heit mehrere damalige Philologen täuſchte. Um die Mitte des vorigen Jahr» hundert3 war Petron bereits jehsmal ins Franzöſiſche überjegt. Ins Deutjche überjegte ihn 1773 der Verfaſſer de3 Ardinghello, der in ihm einen Geiftes- verwandten zu erfennen glaubte. In einer unglaublid ſchamloſen Vorrede („geichrieben während meiner Reife nach Italien, um den Wintelmann’schen Apollo zu betrachten“) wendet er fi an die Anbeterinnen und Anbeter der Sofratiihen Grazien al3 Lejer und Leferinnen; die „triefäugigen, weinerlichen Dudeldumianer” jcheinen ihm nur ein „muthtwilliges Gelächter zu verdienen.“ Am Hofe von Hannover wurde im Karneval des Jahres 1702 das Gaftmahl des Trimalchio aufgeführt, wobei jehr ſtarke Scherze vorfamen. Eine ausführliche, von Leibnitz auf den Wunſch der Königin Sophie Charlotte von Preußen (die ſelbſt an der Aufführung Theil genommen hatte) für die Yürftin von Hohen- zollern-Hedhingen verfaßte Bejchreibung ift noch vorhanden). Trimalchio twurde von einem Neffen der Kurfürftin von Hannover, dem Raugrafen Karl Moritz, feine Frau Fortunata von der bei der Königin in hoher Gunft ftehenden ſchönen Hofdame Fräulein von Pöllnitz dargeitellt.

Einige Mittheilungen aus der Beichreibung dieſes Gaftmahl3 find am beften geeignet, eine Vorftellung von Petron's Art und Weife zu geben. Der Ort am

!) Leibnihz's Brief vom 25. Februar 1702 bei Vehſe, Geichichte der beutjchen Höfe, Bd. II 61 ff.

380 Deutfche Rundſchau.

Golf von Neapel, in dem es ftattfindet, ift wahrſcheinlich Cumä, eine urjprüng- lich griechiſche Stadt, die auch (nad) der Hier dur; Auguſt erfolgten Anfieblung von Veteranen) als römiſche Colonie ihren Urſprung nicht völlig verleugnete, wenn glei ihre Bevölkerung in viel geringerem Grade mit griedhiichen und orientalifchen Elementen verſetzt geweſen fein wird, als die des benachbarten Puteoli, de3 Haupthafens für den Verkehr mit dem ganzen Often (Pozzuoli), und als die Neapels, einer „hellenifchen Gulturinfel” in Gampanien. Trimalchio und feine Freunde find ſämmtlich Freigelaſſene, Gejchäftsleute und Gemerbetreibende. Wenn diefe auch oft jehr vermögend waren, jo blieben fie doch immer von dem ftädtiichen Honoratiorenftande durch eine nicht zu überſchreitende Mluft getrennt. Sie konnten weder ftädtifche Ehrenämter befleiden, noch in den Stadtrat (die Curie) eintreten. Dagegen ftand ihnen der Zutritt zu der anjehnlichen (für den Kaifercult beftimmten) Corporation der Auguſtalen frei, die ala ein ziveiter, zwischen den Herren und den kleinen Lenten die Mitte haltender Stand an- gejehen twurde. In diefer Corporation zu den jährlich wechjelnden, von den Stadt- räthen (Decurionen) ernannten ſechs Vorftehern (Sevirn) zu gehören, war em Biel ihres eifrigen Bemühen; eine Erhöhung diefer Ehre war e8, wenn bie an die neu ernannten Sevirn an die Stadtkaffe zu zahlende Summe erlaffen wurde‘).

Trimalchio gehört zu den Taufenden und aber Taufenden von Griechen und Afiaten, die (nicht felten von ihren eigenen Eltern und jchon als Kinder) als Sklaven verkauft und auf den Markt zu Rom gebradjt wurden. Nicht wenigen von biejen, befonder3 ſolchen, die in vornehme und reihe Häufer kamen, gelang e3, die Freiheit und Reihthum zu erwerben; ein großer Theil der Taufmänniihen und fonftigen Geſchäfte war in ihren Händen. Trimalchio erzählt jeinen Gäften einen quten Theil ferner Lebensgefchichte folgendermaßen ?). „Ich bitte Freunde,“ fagt er, „macht e3 euch gemüthlich. Denn ich bin auch jo gewefen, wie ihr je, aber durch meine Tüchtigkeit bin ich fo weit gelfonmen. Das bischen Grütze im Kopf iſt's, was die Menfchen macht, alles übrige ift Quark. Gut kaufen, gut verkaufen! Andre werden euch was anderes jagen. Ach plate vor Glüd. Aber was ich jagen wollte, zu diefem Vermögen hat mich mein gutes MWirthichaften gebracht. Als ich aus Afien fam, war ich nicht größer ala dieſer Gandelaber, und kurz und gut, ich pflegte mich alle Tage an ihm zu meffen, und um jchneller einen bärtigen Schnabel zu befommen, vieb ich mir die Lippen mit Lampenöl ein.“ Er erwähnt dann, in welcher Gunft er vierzehn Jahre lang bei feinem Herrn und zugleich bei der Prinzipalin 'geftanden habe: er wolle weiter nidt! jagen, da ex nicht zu den Prahlern gehöre. „Uebrigens wurde ich mit göttlichen Beiftande Herr im Haufe und hatte den Prinzipal ganz in der Taſche. Wozu viel Worte? Er ſetzte mic) neben dem Kaiſer zum Haupterben ein, und ich befam ein fürftliches Vermögen. Aber Niemand hat an nicht? genug. Ach befam Luft,

1) Vergl. Deutiche Rundichau, 1879, Bb. XIX. ©. 210 ff. „Stäbteweien in Jtalien unter ben römischen Kaifern”.

2) Die Ueberfegung ift (abgefehen von einigen Auslafjungen und Vlilderungen) bier und fpäter möglichft treu; vulgäre und fprichwörtliche Redensarten find fo viel ala möglich durd entiprechende jetzige erfeht. Die ſehr zahlreichen Idiotismen und Eprarhfehler find nicht wieder gegeben.

Petron's Gaftmahl des Trimaldio. 381

Geſchäfte zu maden. Um es kurz zu jagen, ich baute fünf Schiffe, lud Wein und dbamal3 war er Gold werth und ſchickte fie nad) Rom. Man jollte denten, ich hätte es jo beftellt: alle Schiffe litten Schiffbruch! Thatſache, feine Erfindung! An einem Tage jchludte der alte Neptun dreißig Millionen (6%: Millionen Mark). Glaubt ihr, daß ich die Courage verlor? Nein, meiner Treu! Ich baute andre, größere, befjere und glüdlichere, jo dat mich jeder einen tüchtigen Kerl nannte. Ein großes Schiff, wißt ihr, hat eine große Kraft in ſich. Ich Iud wieder Wen, Sped, Bohnen, Parfümerien, Sklaven. Damals bewies meine Fortunata ihre Anhänglichkeit; denn al’ ihren Goldſchmuck und all’ ihre Kleider verkaufte fie und gab mir hundert Goldftüde in die Hand. Das war der Sauerteig für mein Bermögen. Was die Götter wollen, geſchieht ſchnell. Mit einer Fahrt ſchlug ich zehn Millionen (über zwei Millionen Mark) zuſammen. Sofort Faufte ich alle Befigungen zurück, die meinem Prinzipal gehört hatten. Ich baue ein Haus, kaufe Wagen und Pferde, Sklaven. Was ih amrührte, wuchs wie eine Honigwabe. Als ich mehr hatte, als bei mir zu Haufe, Alle zufammen einen Strich gemadt. Ich z0g mid vom Handel zurüd und machte Geld- gejchäfte durch meine Tyreigelaffenen. Und, das ift wahr, als ich mich um meine Angelegenheiten nicht genug fümmerte, da hat mich ein Sterndeuter zurecht gewiejen, der gerade in unfere Stadt gefommen war, jo ein griechijches Kerlchen, Serapa mit Namen: der hätte im Rath der Götter ſitzen können! Der hat mir auch die Dinge gejagt, die ich vergefjen hatte, alles bis aufs Tüpfelchen. Er ſah mich durch und durch, bis ins Herz und die Nieren; es fehlte nicht viel, dann hätte ex mir gejagt, was ich vorgeftern zu Mittag gegeifen hatte. Wirklich ganz, als wenn er immer mit mir zufammen gewohnt hätte Ich frage di, Habinnas, ich denke, du bift dabei geweſen. „Du haft fein Glüd mit deinen Freunden. Niemand weiß dir jo viel Dank, als du verdienft. Du be— figeft große Begüterungen. Du nährft eine Schlange an deinem Buſen.“ Ind was ich andern als ihr nicht jagen möchte, ich habe jeßt noch 30 Jahre 4 Monate und 2 Tage zu leben. Außerdem werde ich bald eine Erbſchaft machen. So jagt mein Horoſtop. Wenn e3 mir noch glüdt, meine Befitungen bis Apulien auszudehnen, dann werde ich e3 weit genug gebracht haben. Unterdeß habe ich, während das Geichäft flott geht, dies Haus gebaut. Wie ihr wißt, war e3 eine Barade, jeht ift e3 ein Palais. Es hat vier Speifefäle, zwanzig Schlafzimmer, zwei mit Marmor ausgelegte Colonnaden, einen Speifejfaal oben, das Zimmer, in dem ich ichlafe, ein Wohnzimmer für diefe Kröte (feine Frau), eine jehr qute Portierloge. Die Gaftzimmer haben Raum für Gäfte Kurz und gut, wenn Ecaurus hierhergekommen ift, hat er nirgend anderswo logiren tollen, und ex bat ein Abfteigequartier am Meer von feinem Water geerbt. Und da ift noch vieles Andere, was ich euch gleich zeigen werde. Glaubt mir: Habe einen AB, jo giltft du einen As; was du haft, dafür wirſt du gehalten werden. So iſt euer freund, der nur ein Wurm war, jeßt ein großer Mann.“ In dem Be— wußtſein, Alles fich jelbft zu verdanken, ift Trimalchio weit entfernt, ſich feiner Vergangenheit zu ſchämen. Er Hat jogar an der Wand einer Golonnade in jeinem Haufe feine ganze Jugendgeichichte malen laſſen. Auf dem mit Inſchriften verjehenen Gemälde war ein Sklavenmarkt vorgeftellt; man ſah Trimaldio als

382 Deutiche Rundichau.

Knaben, mit dem Stabe des Mercur in der Hand, in Rom ankommen, von Minerva geführt; dann wie er rechnen lernte, wie er Caffirer wurde. Auf dem legten Bilde, am Ende der Wand, hatte ihn Mercur am Sinn in die Höhe ge hoben und führte ihn durch die Luft auf eine hohe Tribüne; zu feinem Empfang ftand Yortuna mit einem Füllhorn, und die drei Parzen, goldne Fäden ſpinnend, bereit. Auf feinem Grabmonument, da3 er nad) damaliger Sitte fich ſchon bei Lebzeiten beftellt, jollen Schiffe angebracht werden, die mit vollen Segeln fahren, außerdem das ruhmvollfte Ereigniß feines Lebend: eine von ihm veranftaltete Pe: wirthung der ganzen Stadtgemeinde, bei twelcher jeder Diann zwei Denar (Mt. 1,75) erhielt. Ihn ſelbſt ſoll man auf einer erhöhten Bühne figen jehen, mit der purpurumfäumten Toga angethan (welche die Sevirn der Auguftalen bei Amts handlungen anlegen durften), mit goldnen Ringen an allen fünf Fingern, wie er Geld aus einem Beutel jchüttet; ringgumher Tafeln mit dem jchmaufenden Volke. Daß Petron hier jo wenig wie ſonſt farikirt oder übertrieben hat, zeigt ein zufällig erhaltener Grabftein eines Sevirn aus Brescia mit Darftellungen, die den hier bejchriebenen ganz ähnlich find. Die Inſchrift auf Trimalchios Monument fol folgendermaßen lauten: „Gajus Pompejus Trimalchio Mäcena— tianus ruht hier. Ihm ift die Würde eines Sevirn während feiner Abweſenheit zuerkannt worden. Er hätte in Rom in alle Decurien (dev Subalternbeamten der Meagiftrate) aufgenommen werden können, bat aber nicht gewollt. Gr war anhänglich, brav, treu. Er hat Flein angefangen und ift groß geworden. Er hat dreißig Millionen (6%: Millionen Mark) Hinterlaffen und niemals die Vor- träge eines Philojophen bejucht.“

Auf jede Weife wird bei diefem Gaftmahl dafür geforgt, die zum erften Mal anweſenden Gäfte mit ftaunender Bewunderung vor der Größe und Pradt dei Hausherren zu erfüllen. Dem Erzähler, der fich über deſſen Verhältniſſe genauer zu unterrichten wünſcht, gibt fein Tiſchnachbar, ein Stammgaſt, fo bereittwillig Auskunft, daß es beinahe fcheint, er jei eigens damit beauftragt worden. „Ir maldio," jagt er, „weiß jelbft gar nicht, wie viel er hat, ſo ſteinreich ift er. Güter hat er, jo weit al3 die Habichte fliegen, und ein Heidengeld. In der Loge feines Portiers ift mehr Silber, al3 irgend Jemand im Vermögen bat. Aber erft feine Sklaven! Ad, du meine Güte! Ach glaube nicht, daß auch mur der zehnte Theil von ihnen dazu gelangt ift, ihren Herrn von Angeficht zu An geficht Fennen zu lernen. Kurz und qut, er ift im Stande, jeden von unjeren vornehmen Herrchen in ein Maufeloch zu jagen. Und du Eannft mir glauben, daß er nicht nöthig Hat, irgend etwas zu faufen, Alles wächft auf feinem eigenen Grund und Boden. Die Wolle, die er producirte, war ihm nicht fein gemug; da ließ er Böcke aus Tarent fommen, um feine Herde zu veredeln. Um attiſchen Honig bei ſich zu erzeugen, ließ er Bienen aus Athen bringen. Und was bat er in den lebten Tagen für einen Auftrag gegeben? Champignonſamen ſoll ihm aus Indien geſchickt werden. Unter feinen Maulthieren ift feines, das nicht von einem Wildefel ftammt. Unter all’ diefen Kiffen ift feines, das nicht mit Purpur- oder Scharlahtwolle geftopft ift. Ja, er kann Alles haben, was fein Herz begehrt.“

Trimaldio bejtätigt diefe Mittheilungen oder überbietet fie noch, indem er ſich bei jeder Gelegenheit in den ungeheuerlichiten Prahlereien ergeht. Dei der

Vetron's Gaftmahl des Trimaldio. 383

Erwähnung eines Themas zu einer Uebungsrede, welches anfängt: „Ein Armer und ein Reicher waren Feinde“, fragt er: „Was ift ein Armer?” An einen in den Speifejaal gerufenen Koch richtet er die Frage: „Aus welcher Abtheilung bift du?“ Als Jener geantwortet hatte: „Aus der vierzigften,” „Bift du an— gefauft oder im Haufe geboren?“ „Keine von Beiden," ſagte der Koch, „ſon— dern ich bin dir von Panfa im Zeftament vermacht.“ „Gib dir alio Mühe,“ ſprach Trimalchio, „deine Sache ordentlich zu machen; wo nicht, jo werde ich befehlen, daß du in die Abtheilung der Boten gefteckt wirft.“ „Wein,“ jagt er dann zu jenen Gäften; „brauche ich durch die Gnade der Götter nicht zu Taufen; fondern jet wächft mir Alles, was qut ſchmeckt, auf meinem Gute vor dem Thor, das ich noch nicht kenne. Es joll an meine Befitungen bei Terracina und Tarent grenzen. Jetzt will ich meinen Landbefig durch Ankäufe in Sicilien arrondiren, damit, wenn ich einmal Luft befomme, nad) Afrika zu fahren, ich die Fahrt ganz durch mein eigenes Land machen Kann.” Noch während der Mahlzeit lieſt ein Schreiber aus dem Hausbuche Folgendes vor: „Am 26. Juni: Auf dem Landgut bei Gumä, welches Trimalchio gehört, geboren 30 Knaben, 40 Mädchen. Dom Felde auf den Speicher gebracht 500000 Maß (gegen 44000 Hektoliter) Weizen; Ochſen eingefahren 500. Am jelben Tage: Der Sklave Mithridates wurde an Kreuz geichlagen, weil er unferen Heren Gajus geläftert hatte. In die Kaffe abgeführt, was nicht zindtragend angelegt werden konnte: 10 Millionen Sefterzen (2175000 ME). Am jelben Tage: Am dem Park bei Pompeji ift ein Brand geweſen; das Teuer ift im Haufe des Verwalters Nafta ausgelommen. „Wie?“ fagte Trimalchio, „wann ift der Park bei Pompeji für mich gekauft worden?“ „Im vorigen Jahr,“ antiwortete der Schreiber, „deshalb ift er noch nicht in Rech— nung geftellt worden.“ Trimalchio gerieth in große Aufregung und jagte: „Wenn ein Grundſtück für mich gekauft ift, es ſei welches e8 wolle, und ich es nicht innerhalb ſechs Monaten erfahren habe, verbiete ich, da es in meine Rechnungen eingetragen wird. Hierauf wurden Bekanntmachungen von Gutspolizeibeamten verlejen und Teftamente von Waldhütern, in denen Trimaldhio unter ehrenvollen Erklärungen von der Erbſchaft ausgeſchloſſen wurde‘), ferner Ernennungen von Gutsverwaltern und die Scheidung einer Freigelaffenen von einem Nachtwächter, weil es Herausgefommen war, daß fie mit einem Badediener zufammengelebt hatte, und die Verweifung eine Haushofmeifter nach (dem 4,4 Kilometer ent- fernten) Bajä; ferner die Verfegung eines Caſſirers in den Anklageftand und eine Gerichtsverhandlung unter den Kammerdienern.” Zur Belehrung der Gäfte über Trimaldio’3 Größe bieten übrigens auch einige Vorfälle Gelegenheit, die ſich toährend der Mahlzeit ereignen. Ein Sklave, der das Unglück gehabt hat, auf ihn zu fallen und ihm dabei einen Arm zu verleken, wird fogleich Freigelaffen, damit man nicht jagen könne, daß ein fo großer Dann von einem Sklaven be- Tchädigt worden jei; ein anderer, der die Wunde mit weißer ftatt mit Purpur— tolle verbindet, wird ausgepeitſcht. Als ein Sklave eine beim Abräumen der Tafel auf die Erde gefallene filberne Schüffel aufhebt, befiehlt Trimaldio, ihn

1) Ein Beweis fehr milder Gefinnung des Herrn, da den Sklaven, die fein Eigenthum hatten, auch bad Recht zur teftiren nicht zuftand.

384 Deutſche Rundichau.

zu obrfeigen und die Schüfjel nochmals Hinzumwerfen, worauf fie mit dem übrigen Kehricht ausgefegt wird.

Don jeiner Frau Fortunata wird Trimaldio in feinen Bemühungen, den neuen Gäften zu imponiren, in feiner Weiſe unterftüßt. Sie ift ſtolz darauf, eine trefflihe Haushälterin zu fein und hört auch während der Mahlzeit nicht auf, die Pflichten einer folchen zu erfüllen. Der Erzähler, der fie geichäftig hin und ber laufen fieht, erfährt erft von feinem Tiſchnachbar, daß fie die Hausfrau ift. „Das ift eine, die das Geld mit dem Scheffel mißt. Und ganz vor Kurzem, was war fie da? Mit Refpect zu jagen, du hätteft nicht ein Stüd Brot aus ihrer Hand genommen. Yebt ift fie, Gott weiß tvie und warum, Nummer Eins geworden und Trimalchio's rechte Hand. Kurz und gut, wenn fie ihm am hellen Mittage jagen wird, es ift finfter, wird er e8 glauben. Die Kröte hat die Augen überall und ift Hinten und vorn. Sie hat den Kopf auf dem rechten Fleck und weiß guten Rath; aber fie hat eine böje Zunge. Wen fie gern hat, den hat fie gern; wen fie nicht gern hat, den hat fie nicht gern.“ Ein Freund Trimaldio's, der Fabrikant von Grabdentmälern Habinnas, der mit feiner Frau Scintilla von einem anderen Gaftmahl fommend, fi noch in einer jpäten Stunde bei dem Trimalchio's einfindet, fragt jogleih, warum Fortunata nicht bei Tiiche je. Trimalchio erwidert, Habinnas kenne fie ſchlecht; ehe fie das Silbergeichirr ver wahrt und die Ueberreſte der Mahlzeit unter die Sklaven vertheilt habe, werde fie feinen Tropfen Waffer in den Mund nehmen. Auf Verlangen des Habinnas herbeigerufen, exjcheint dann Fortunata und begrüßt, nachdem fie die Hände an einem Tafchentuche abgetrodtnet hat, Scintilla mit einem Kuffe; die beiden rauen zeigen einander ihre Schmuckſachen, dann trinken fie ſich einen Rauſch, jo daß Fortunata ſich anſchickt, vor allen Gäften zu tanzen und Scintilla zu Allem, was die Andere thut, Beifall klatſcht. Als aber Trimaldio einen unter anderen Sklaven zur Aufwartung an der Tafel neu eintretenden, hübfchen Knaben ab: füßt, geräth Fortunata dermaßen in Wuth, daß fie ihn mit den gröbften Schimpfiworten überhäuft und endlich einen Hund nennt, worauf Trimaldio ihr einen Becher ind Gefiht wirft. Sie jhreit, ala ob ihr ein Auge ausgeſchlagen wäre, und hält die zitternden Hände vor das Geſicht; Scintilla und der Anabe bemühen ſich um fie, doc Trimalchio bleibt zornig. „Was,“ jagt er, „die Land: ftreicherin hat wohl gar fein Gedächtniß? Ich Habe fie von dem Gerüft auf dem Sklavenmarkt heruntergeholt und zu einer reputirlichen Perſon gemadtt. Aber fie bläft fich auf wie jener Froſch, und ſich in dem eigenen Buſen zu ſpucken!), fällt ihr nicht ein. Aber freilich, wer in einer Bude geboren ift, dem kann nicht von einem Palais träumen. So wahr mir mein Schußgeift gnädig jein joll, ich will dafür forgen, daß dieſe Gommißprinzeffin zur Raifon gebradt wird. Und ich dummer Kerl hätte zehn Millionen bekommen können. Du weißt, daß ich nicht Lüge. Agatho, der Parfümericehändler, hat mich noch neulich bei Seite genommen und gejagt: ich vathe dir, dein Geſchlecht nicht ausfterben zu faffen. Aber weil ich zu qutmüthig bin und nicht für unbeftändig gelten will, habe ich mix jelbft eine Art ins Bein gehauen. Schon vet, ich werde daft jorgen, daß du mid) noch einmal wirft aus der Erde Fragen wollen.” Und um

) Eine Selbfterniedrigung, durch die man ben Neid der Götter abzuwenden glaubte.

Petron's Gaftmahl bes Trimaldio. 385

fie die Schwere feiner Ungnade fogleich fühlen zu laſſen, nimmt ex die bereits bei Habinnas für fein Grabmonument gemachte Beftellung einer Statue For— tunata’3 (die eine Taube in der Hand und ein Hündchen an einem Bande halten ſollte) zurüd: er wolle nit noch nach dem Tode Zank und Streit haben. Habinnas und Scintilla bitten um Vergebung für die Schuldige, worauf Tri— maldio anfängt zu weinen und Habinnas auffordert, ihm ins Geficht zu ſpucken, falls er Ilnrecht gethan habe. Jenen Knaben habe er nicht feiner Schönheit wegen gefüßt, jondern weil ex brav fei; er könne bereit3 qut rechnen und geläufig lefen, man müfje ihm daher qut jein. Nachdem er dann die noch immer weinende Fortunata noch einige Male zornig angefahren hat, beruhigt er ſich allmälig.

Auch in jeinem Benehmen gegen feine Sklaven erſcheint Trimalchio fehr ungleih. Nur jo lange er nüchtern ift, bewahrt er ihnen gegenüber ein maje= ftätiich mürdevolles Welen. Sobald das Feſt einen tumultuariichen Charakter angenommen bat, zeigt ih, daß zwiichen Herrn und Gefinde eine große Ver— traulichkeit herrſcht. Die zu den Füßen dev Gäfte fitenden Sklaven erhalten zu trinken, und wer feinen Becher nicht leert, dem wird er über den Kopf ge- goflen. Dann werden noch jo viele hereingelafien, daß kaum Platz für die Gäfte bleibt. Neben dem Erzähler läßt ſich der früher erwähnte Koch nieder, der un— angenehme Küchengerüche verbreitet, er copirt einen damals berühmten Sänger und fordert jeinen Herrn zu einer Wette auf, ob bei ben nächſten Circusſpielen der Grüne den exjten Preis davontragen werde. Trimalchio jagt hierauf: „Freunde, auch Sklaven find Menſchen und mit ganz derjelben Milch genährt wie die anderen, nur ihr Unglück hat fie herunter gedrüdt.“ Er erklärt dann, daß er ie in jeinem Teftamente ſämmtlich freilaſſe, und dies ſchon jet befannt mache, damit fie ihn ſchon jeßt jo Lieben, wie nach feinem Tode. Darauf wird das Teftament unter lautem Stöhnen der Dienerichaft verlejen, und nachdem Trimaldio dem Habinnas die ausführlichften Anwerfungen in Bezug auf fein Grabdentmal ertheilt hat, fängt er jelbft an heftig zu weinen, und die Sklaven erheben eine laute Wehflage, wie bei einem Leichenbegängnif.

Andrerjeit3 ftehen die vornehmern unter Trimalchio's Sklaven Hinter ihrem Herrn in Großthuerei und Auffchneiderei nicht zurüd. Gleich beim Ein- tritt in den Speifefaal fällt dem Erzähler und feinen Gefährten ein entkleideter Sklave zu Füßen und bittet fie, ihn einer Beftrafung zu entziehen; fein Ver— gehen jei fein großes, er habe fich im Bade die Kleider des Kaſſirers ftehlen Laffen, die faum zehn Sejterzgen (wenig über zwei Markt) werth geweſen jeien. Jene wenden fi an den mit dem Zählen von Goldftücen beihäftigten Kaſſirer und bitten, dem Sklaven die Strafe zu exlaffen. Er erhob hochmüthig das Geficht und ſprach: „Mich ärgert nicht jo jehr der Verluft al3 die Unachtſamkeit de3 nichtswirdigen Burſchen. Ich bin durch ihn um meinen Anzug für die Tafel gefommen, den mir einer meiner Glienten verehrt hatte, allerdings echt tyriſcher PBurpur, aber jhon einmal gewaſchen. Was macht es aus? ch ſchenke ihn euch.“ „ALS wir durch diefen großartigen Beweis von Mohlwollen verpflichtet den Speijejaal aufs Neue betraten, kommt uns derjelbe Sklave entgegen, für den wir gebeten hatten, und überjchüttet ung, für unfere Güte danfend, zu unjerem

höchſten Befremden, mit einem Schauer von Küffen. Schließlich jage er: „Ahr Deutihe Rundſchau. XVI, ».

386 Deutſche Rundſchau.

werdet bald merken, wem ihr etwas Gutes erwieſen habt. Wer bei Tiſch von dem Wein bekommen will, den der Herr ſelbſt trinkt, muß mit dem Mund— ſchenken gut ſtehen.“

Bei dem Gaftmahl löſen Neuheiten und Ueberraſchungen aller Art einander ab. Nach dem Voreſſen erfcheint ein Speifebrett mit einem Korbe, in dem eine hölzerne Henne mit auögebreiteten Flügeln wie brütend auf Stroh fit; zwei Sklaven feharren unter einer raufchenden Muſik Pfaueneier, die aus Mehlteig geformt find, aus dem Stroh und vertheilen fie unter die Gäfte. Trimalchio äußert die Befürchtung, fie möchten ſchon angebrütet, alfo nicht mehr genichbar fein; der Erzähler ift bereit3 im Begriff, das feinige fortzuwerfen, al3 er durd jenen Stammgaft veranlaßt twird, deffen Anhalt genauer zu unterjuchen: er be fteht aus einer fetten Feigenſchnepfe in einer Kruſte von gepfeffertem Eidotter. Sodann wird ein rumdes Präjentirbrett aufgetragen, das die zwölf Himmels zeichen und neben jedem ein dazu pafjendes Gericht enthält, neben dem Stier ein Stüd Nindfleifch, neben dem Waffermann eine Gans, neben den Fiſchen zwei Seefrabben u. ſ. w. Die Gäfte, deren Erwartungen jo gewöhnliche Ge rite wenig entfprechen, wollen eben reſignirt zulangen, als vier Sklaven unter Drchefterbegleitung im Tanzjchritt Herbeieilen und den oberen Theil des Präfentir- brettes abheben: nun erblickt man ausgefuchte Lerkerbiffen in fünftlicher Anordnung, in der Mitte einen nad Art des Pegafus mit Flügeln außgeftatteten Hafen, an vier Punkten des Kreiſes Marfyasfiguren, aus deren Schläuchen eine pifante Fiſchbrühe auf Fiſche fließt, die im einer Art von ringsumlaufendem Ganal ſchwimmen. Alle klatſchen Beifall, wozu die Dienerfchaft das Signal gibt. Nachdem diefer Gang beendet ift, erſcheinen Diener, welche vor die den Gäften als Lager dienenden Polfter Teppiche legen, auf denen Jagdnetze, Jäger mit Spießen auf dem Anftande und alles was fonft zur Jagd gehört, eingewirkt if. Außerhalb des Speiſeſaals erhebt fich ein ungeheure Gejchrei, und plötzlich laufen große Hunde um den Tisch herum. Es folgte ein Speifebrett, auf dem ein ganzes Wildſchwein erfter Größe lag, und zwar mit einer Freiheitsmütze auf dem Kopfe, von deſſen Hauern zwei aus Palmzmweigen geflochtene Körbchen herabhingen, das eine mit friſchen, das andere mit trodinen Datteln gefüllt. Ferkel aus Kuchen: teig gebaden, die rund umher gelegt waren, al3 ob fie faugen wollten, gaben zu erkennen, dab der Eber eine Sau vorftellte. Um ihm zu zerlegen, erſchien en tiefiger,, bärtiger Kerl in Jägercoftüm; er führte mit einem Jagdmeſſer einen Träftigen Stoß gegen die Seite des Thieres, aus deſſen Wunde Krammetsvögel flatterten; Vogelſteller, die mit Leimruthen bereit ftanden, fingen fie ein, und jie wurden unter die Gäfte vertheilt; desgleichen die Datteln als Eicheln, die das Thier gefrefjen hatte. Dex Erzähler fragt dann feinen Eundigen Nachbar, warum der Eber eine Freiheitsmütze auf dem Kopfe habe, und erfährt, ex ſei bei der geftrigen Mahlzeit als Hauptgericht aufgetragen, doch unberührt in die Küche zurücgefandt worden, darum kehre er heute als Freigelaffener auf die Tafel zuräd. „Ich ichalt mich wegen meiner Dummheit und fragte nicht3 weiter, damit es nicht fo ausfähe, al3 ob ich niemal3 in anftändiger Geſellſchaft geſpeiſt hätte.“

Bald zieht ein neues Schaufpiel die allgemeine Aufmerkſamkeit auf fi. Nach einer unter Orcefterbegleitung erfolgten Säuberung der Tiſche werden drei weiße,

Petron's Gaftnahl des Trimaldio. 387

mit Maulförben und Glödchen ausgeftattete Schtveine hereingeführt, die nad) der Angabe des anmeldenden Sklaven je ein, zwei und ſechs Jahre alt fein jollen. Der Erzähler glaubt, fie jeien zu Kunſtſtücken abgerichtet, die fie vor den Gäften produciren jollen; doch Trimalchio läßt einen Koch rufen und befiehlt ihm, jofort da3 größte Schwein zu jchlachten und zuzubereiten. Nach jehr kurzer Zeit wird e3 aufgetragen, die Gäfte bewundern die Gefchiclichteit des Kochs, doch Trimaldio bemerkt, daß e3 nicht außgenommen jei. Der abermal3 gerufene Koch gefteht, dies vergefjen zu haben, und wird auögefleidet, um von zwei Prügelfnechten gegeißelt zu werden. Die Säfte bitten für ihn, worauf Trimalchio ihm befiehlt, e3 vor deren Augen auszuweiden. Der Koch erhält feine Tunica wieder und ſtößt mit einem Meſſer rechts und links in den Baud) des Schweine, aus dem dann verjchiedene Arten von Bratwürften in Menge berausfallen. Die Diener- ſchaft Haticht und ruft: „Gajus (Trimalchio) foll leben!“ Der Koch wird mit einem Trunk und einem filbernen Kranze belohnt und erhält außerdem einen Becher auf einer Schale aus korinthiſcher Bronze. Uebrigens befteht noch ein fpäterer Gang aus dem jehr beliebten und auf die verfchiedenften (nach Plinius fünfzig) Arten zubereiteten Schweinefleiih: der Koch hat daraus eine gemäftete Gans, Filhe und Geflügel jeder Art Hergeftellt.

Zwei fpätere Gänge der Mahlzeit werden durch dramatifche Aufführungen eingeleitet. Zwei Scharen in Coftüm und Rüftung Homerifcher Helden führen eine Scene au der Jlias auf. Plötzlich wird unter lautem Gejchrei ein ganzes gejottenes Kalb mit einem Helm auf dem Kopf auf einer Riefenjchüflel herein- gebracht und von einem zugleich auftretenden vajenden Ajar in Stüde gehauen. „Taktmäßig bald mit der Klinge, bald mit der Schneide fuchtelnd, fpießte ex die Stüde auf und vertheilte fie unter die erftaunten Gäſte.“ Endlich ericheinen gegen da3 Ende der Mahlzeit zwei Sklaven mit großen zweihenkligen Krügen am Halſe, al3 ob fie beim Holen von Waſſer aus einem öffentlihen Brunnen in Streit gerathen wären; Trimaldio jucht den Streit zu jchlichten, Doc) die Sklaven beruhigen fich bei feinem Ausfpruche nicht, jpielen die Betrunfenen und beginnen ein Hand— gemenge, in welchem jeder mit einem Knüttel den Krug des Andern entzweiſchlägt; aus beiden fallen Auftern und andere Mufcheln Heraus, die bon einem Knaben aufgelefen und auf einer Schüfjel herumgeboten werden.

Zu den Ungewöhnlichkeiten, an denen dieſes Gaftmahl jo reich ift, gehört e3 auch, daß den Gäften nad) jedem Gange nicht Waſſer, fondern Wein auf die Hände gegoffen wird, und zwar von zwei Mohrentnaben mit langen Loden. Zum Trinken werden gläferne, forgfältig mit Gips geichloffene Amphoren gebradt, auf deren Hälfen man die Aufichrift „Hundertjähriger Falerner vom Yahrgange des Opimius“ Tieft: auch dies eine, die grobe Unwiſſenheit des Hausheren ver— tathende Auffchneiderei, da ber berühmte Wein aus dem Jahre des Gonjuls Opimius damals etwa 180 Jahre alt getvefen fein würde. Trimalchio verfichert ausdrücklich feine Echtheit und fürgt Hinzu, daß er am Tage zuvor nicht jo guten vorgejeßt habe, obwohl viel anftändigere Leute bei ihm fpeiften. Das angebliche Alter des Weins veranlaßt ihm zu der melandolifchen Betrachtung, Wein lebe länger al3 ein Menjchentind. Auch dieje gehört zu dem offenbar bis in die kleinſten Einzelnheiten ausgearbeiteten Feſtprogramm, denn fte leitet eine Scene

25 *

388 Deutiche Rundſchau.

ein, deren einziger Zweck ift, dem Hausherrn zu einer (natürlich ebenfalls aus— wendig gelernten) poetiichen Jmprovifation Gelegenheit zu geben. Nach einer ägyptiichen Sitte, die ji) aus der den Verkehr mit Aegypten haupftſächlich ver: mittelnden Hafenftadt Puteoli in die Nachbarorte verbreitet haben mochte, bringt ein Sklave ein filbernes Gerippe mit beweglichen Gelenken auf die Tafel, um die Gäfte durch das Bild dev Wergänglichkeit zum Genuffe des Augenblids auf: zufordern. Nachdem er es einige Male in verichiedenen Stellungen auf den Tiſch hat fallen laſſen, ſpricht Trimalchio feine mit allgemeinem Beifall aufgenommenen er Ah wir armen Menjchlein Klein!

Alle werben jo wir fein!

Nichts von und bleibt ala Gebein!

Darum lakt uns fröhlich fein!

Schenket ein!

Endlich fehlt es auch bei der Vertheilung von Gejchenfen an die Gäfte, wie fie bei großen Gaftmählern üblih war, nicht an Ueberraſchungen. Zuerſt findet eine Verloofung von werthlofen Dingen mit Wortwigen im Geſchmack Trimalchio's statt: ein als Muräne bezeichneter Gewinn befteht 3. B. aus einer Maus und einem Froſch (mus-rana) u. ſ. w. Sehr viel jpäter erdröhnt dann plößlic die Dede des Speiſeſaals, ihre Täfelung jchiebt fi) auseinander, und aus der Oeffnung wird ein jehr großer Tonnenreifen herabgelafien, an welchem goldne Kränze und Flacons mit wohlriechenden Eſſenzen hängen: dieje ſowie jene erhalten die Gäfte als Geichente.

Pan darf glauben, daß Petron in der ganzen Schilderung dieſes Gaftmahla nicht3 erfunden, ja ſchwerlich auch nur farikiert hat. Zum Theil find Trimalchios Abjurditäten von einer Originalität, wie fie faum durd Erfindung erreicht werden fann; überdies wiſſen wir durch anderweitige Zeugniffe, daß Einiges, was uns jeltfam erjcheint, in jener Zeit keineswegs unerhört war. Mit derjelben Treue jind die den Gäften gebotenen Unterhaltungen nad) dem Leben geichildert. Allen denen, die in gebildeten Streifen üblich waren (Zither- und Flötenſpiel, Geſang, Tanz, Declamation, dramatische Aufführungen) befennt Trimalchio zweierlei vor- zuziehen: equilibriftifche Kunftftüce und Hornmuſik. Beides darf aljo auc bei jeinem Gaftmahl nicht fehlen. Ein Knabe führt eine Art Tanz auf den Sprofien einer Leiter auf, ſpringt durch brennende Reifen und hält einen Krug mit den Zähnen. Gegen Ende des auf da3 Gaſtmahl folgenden Gelages läßt Trimaldio, bereit3 völlig betrunfen, jeine eigene Beftattung aufführen: wie ein Todter ftredt er ſich auf feinem Polfterlager aus, und ein Chor von Horniften muß dazu eine Trauermuſik blajen. Wenn dies leßtere zu feinen originalen Narrheiten gehört, jo waren dagegen andre jeinen Gäften zum Beften gegebene Beluftigungen in Kreifen wie der Hier gejchilderte offenbar beliebt: Nahahmungen der Manieren und de3 ganzen Auftretens der zu gewiſſen Berufsarten gehörigen Leute, ſowie der Stimmen der Thiere und Vögel. Trimalchio felbft copiert Pofaunenbläfer, ein Sklave de3 Habinnad außer diefen noch andere Muſikanten und ftellt auch einen Fuhrmann mit Mantel und Peitſche vor; ein bei Tiſch aufwartender Knabe ahmt den Schlag der Nachtigall nad. Und wenn Tafelmufif in jener Zeit wie überhaupt im römijchen Altertfume ganz allgemein war, jo ift ihre

Petron's Gaftmahl des Trimaldio. 389

Verwendung bei diefem Gaftmahl ebenjo neu und überraichend, als für den Ge- ſchmack des Hausherrn charakteriftiih. Da bei der ganzen Bedienung der Tafel und der Säfte, jelbjt dem Auftragen und Herumbieten der Speifen, dem Abfegen und Abwiſchen der Tiſche u. ſ. w. Gefang und Muſik obligat ift, „mußte man glauben, nicht in einem Privathaufe, jondern im Theater zu fein.“

Die Dftentation, die Trimaldio mit feiner Liebe zur Mufik treibt, erklärt fih wohl daraus, daß fie durch Nero's Vorgang in der damaligen höheren Gejell- Tchaft zur Dtodeleidenichaft geworden war. Selbft während er fi in der Sänfte aus dem Bade na Haufe tragen läßt, muß ein Flötenſpieler dicht neben ihm gehend („jo daß es ſchien, al3 ob ex ihm etwas ins Ohr ſagte“) ihm vorblajen. Einer jeiner Gäfte, der früher als ein vorzüglicher Sänger gegolten, und fi) in feiner Jugend, wie ex jagt, „Faft die Schwindjucht an den Hals gefungen hatte“, wird von ihm vergeblich aufgefordert, etwas zum Beſten zu geben; jpäter „miß— handelt“ er ſelbſt die Arien de3 in jener Zeit berühmten Componijten Menecrates, „wie diejenigen ſagten, die fi) auf feine Stimme verftanden“. Auch fonft legt er offenbar großen Werth darauf, zu zeigen, dat er alle Intereſſen und Lieb» Habereien der Gebildeten theile. Ex rühmt die Meifterichaft feiner Fortunata in einem grotesfen Tanze, und nur durch fie läßt er fi abhalten, vor den Gäjten einen Tanz in der Weiſe eines damals berühmten Bühnenkünftlers aufzuführen. Seine Kennerſchaft in Sachen der bildenden Kunft möchte ex „für fein Geld ver- taufen“; befonders liebt ex alte Silberarbeiten (ein Hauptgegenftand der Leiden- ſchaft der damaligen Kunftfammler); ex hat große Pokale, „auf denen Kaflandra ihre Söhne tödtet, und die todten Knaben jo natürlich daliegen, daß man fie für Iebendig hält, und andre, auf denen Dädalus die Niobe in das hölzerne Pferd einjchliegt” (gemeint ift Meden und die Kuh der Paſiphae). Auch Hier aber zeigt ex dieſelbe Wielfeitigkeit des Geihmads wie in den Wandmalereien, mit denen er fein Atrium ausgeftattet hat, und die außer Scenen der Ilias und Odyſſee auch ein Kürzlich gegebene großes Gladiatorenfpiel vorftellen: ebenſo rechnet er zu den beften Stüden feiner Sammlung neben jenen angeblid alten Silberarbeiten auch Becher, auf denen die Kämpfe zweier berühmten Gladiatoren abgebildet find. Gefäße aus Korinthiicher Bronze (einer Mifchung, deren Ge— heimniß verloren gegangen war) von unzweifelhafter Echtheit beſitze ex allein; denn der Fabrikant, von dem er fie Faufe, heiße Korinthus. Uebrigens jei dies nur ein Scherz, ex wiſſe jehr wohl wie die korinthiſche Bronze entftanden jei: bei der Eroberung von Ilium babe Hannibal („ein jchlauer Kerl und großer Spitbube”) alle goldenen, filbernen und bronzenen Statuen zufammenjchmelzen laſſen: „jo ift das korinthiſche Erz entjtanden, von Allem etwas, nicht Fiſch noch Fleiſch. Nehmt es mir nicht übel: ich Habe Glas lieber, wenigſtens riecht es nit” ").

Befonders aber liegt ihm daran, den ftudirten Leuten, die er ausnahmsweiſe eingeladen hat, zu zeigen, daß er auch eine höhere Schulbildung beſitze. Bei dem Lehrer der Beredjamkeit Agamemnon erkundigt ex ji) nah dem Thema einer in der Schule gehaltenen Uebungsrede; auch er habe zum Hausgebraude Bildung gelernt, obwohl er es nicht nöthig Habe, und befite zwei Wibliothefen, eine

1) Die Kenner wollten die echte korinthiiche Bronze am Geruch erkennen.

390 Deutiche Rundſchau.

griechifche und eine lateinische. Ob Agamemnon auch die zwölf Arbeiten des Herkules wife und die Geihichte vom Ulyſſes, wie ihm der Cyklop den Daumen ausdrehte? „Ach pflegte Died in meiner Jugend im Homer zu leſen“. Das Griechiſche (feine Mutteriprache) ſcheint er übrigens völlig vergeffen zu haben; benn während jener Aufführung einer Scene aus der Ilias durch fogenannte, in griechiſchen Verfen redende Homeriften, lieft er mit lauter Stimme einen lateiniſchen Tert dazu. „ALS dann eine Paufe eintrat, jagte er: Wißt ihr, was für ein Stück fie aufführen? Es waren einmal zwei Brüder, Diomedes und Ganymedes, die hatten eine Schwefter Helena. Agamemnon raubte fie und jchob der Diana eine Hirſchkuh unter. Und fo erzählt Homer jeßt, wie Trojaner und PBarentiner miteinander fämpfen. Agamemnon fiegte nämlich und gab jeine Tochter JIphi— genia dem Achill zur Frau. Deshalb iſt Ajar raſend.“ Won feiner Fertigleit im Verſemachen (die die Gebildeten damal3 in ber Regel aus der Schule mit- braten), gibt ev außer der bereitö angeführten noch eine zweite Probe, und an dieie fnüpft ſich ein Gefpräch über Literatur. Trimalchio fragt, worin ‚der Unterihied zwiichen Cicero und Publilius Syrus (einem Poffendichter, deffen zahlreiche Sen tenzen in den Schulen auswendig gelernt wurden) beitehe, und beantwortet die Trage jelbft: der eine jei beredter, der andere moraliicher. Seine Kenntniß in der (damals als Wiſſenſchaft anerkannten) Aftrologie zu zeigen, gibt ihm jenes runde Speijebrett mit den zwölf Himmelszeichen Gelegenheit. „Man muß, fagt er, fi auc beim Eſſen mit Wiſſenſchaft befchäftigen. Mögen die Gebeine meines ehemaligen Herrn fanft ruhen, der mich nicht wie ein Stüd Vieh hat aufwachſen lafjen! Mir kann man nicht? vorbringen, was mir unbefannt ift. Diejer Himmel, in dem die zwölf Götter wohnen, verwandelt fi in ebenjo viel Figuren, und wird 3. B. ein Widder. Wer aljo unter diefem Zeichen geboren wird, hat viel Vieh, viel Wolle, außerdem einen harten Kopf, eine ausverſchämte Stirn, ein ſpitzes Horn. In diefem Zeichen werden viel Studirte geboren, auch Böchchen. Hierauf wird der Himmel ein Stierhen. Dann werben aljo Pferde geboren, die hinten ausſchlagen und Ochfenhirten und Leute, die ſich ihr Futter jelbft fuchen. In den Zwillingen werden Zweigeſpanne von Pferden und Ochſen geboren, und Maler, die die Stuben auf beiden Seiten anftreihen. Im Krebs bin ich geboren, daher ftehe ih auf vielen Füßen, und habe viel Eigenthum zu Lande und zur See; denn der Krebs paßt zu Beidem. Im Löwen werden Treffer und Groß: mäuler geboren, in der Jungfrau Weiber und weggelaufene und an bie Kette gelegte SHlaven, in der Wage Fleiſcher und Parfümeriehändler und Solde, die Geihäfte machen, im Scorpion Solche, die mit Gift und Dolch bantiren, im Schützen Schieläugige, die nach dem Speck jehen und nad) dem Gemüſe langen, im Steinbod Mühjelige, denen Hörner aus den Baden wadjen,; im Wafjermann Schenkwirthe und Schröpfköpfe, in den Fiſchen Köche und Profefforen der Rede: kunſt. So dreht fid) der Kreis wie eine Mühle und macht immer eine Hererti, daß Menſchen entweder fterben oder geboren werden.“

Trimaldio zeigt fild aber nicht bloß al3 ein Mann, der Vieles weiß, er hat auch über Natur und Leben nachgedacht. „Welche Kunft,” fragt er, „dünkt euch am ſchwerſten nächft der Gelehrfamteit? Ich meine, Arzt und Geldwechäler. Der Arzt, weil er weiß, was die Menjchen Hinter den Rippen haben, und wann da3

Petron’3 Gaftmahl des Zrimaldio. 391

Fieber kommt; obwohl ich fie nicht leiden mag, teil fie mix jo oft Entenbraten verordnnen; der Geldiwechäler, weil er durch die Silberplattirung da3 Kupfer jieht. Was das ftumme Vieh betrifft, jo find darunter die arbeitjamften die Ochjen und die Schafe: die Ochfen, denen wir es verdanken, daß wir Brod effen, die Schafe, weil fie machen, daß wir mit feinen Kleidern die thun können. Und es ift Ihändlich, Einer ift Hammelbraten und trägt dabei ein Wollhemde! Aber ganz himmlische Thiere find die Bienen, weil fie Honig jpeien, obwohl man jagt, daß fie ihn vom Jupiter bringen; daß fie aber ftechen, das gejchieht deshalb, weil, wo etwas Süßes ift, aud etwas Bittre fein muß.“

Die Tiſchgeſellſchaft Trimalchio's befteht einerjeit3 aus den zum erften Male eingeladenen, der gebildeten Gejellichaft angehörigen Gäften (dem erwähnten Aga— memnon, dem Erzähler und feinem Gefährten Ascyltos, welche von dem Pagen Giton begleitet werden); andrerjeit3 aus Treigelafjenen, meiftens desſelben Herrn, zu deſſen Sklaven auch Trimaldio gehört hat. Die Lekteren fühlen fich neben den „Studirten“ nicht behaglich, da fie nicht mit Unrecht annehmen, daß dieſe fih im Stillen über fie luftig machen. Sie find ſämmtlich Geſchäftsleute; einer ein Fabrikant von Lappendeden (die mit Waffer getränft zum Feuerlöſchen dienten), ein anderer ein Leichenbejorger (ein für unanftändig geltendes Gewerbe); die Ge— fchäfte der übrigen werden nicht angegeben. Man muß, wie der Erzähler von jeinem Tiſchnachbar belehrt wird, vor Allen Refpect haben, da fie „viel Moos“ haben. „Der Eine, der Heute feine achtmal Hunderttaufend (174000 Marf) gut iſt, hat mit nicht3 angefangen, noch vor Kurzem Holzbündel auf dem Rücken getragen. Aber wie die Leute jagen ich weiß nichts Sicheres, jondern habe e3 nur gehört er hat einem Kobold die Kappe weggenommen, und der hat ihm einen Schaf gezeigt. Kürzlich hat er folgende Anzeige anjchlagen Laffen: die Mietwohnung de3 Gajus Pompejus Diogenes ift vom 1. Juli ab zu vers miethen; denn er hat fi ein Haus gekauft." Gin Andrer, der Leichenbejorger, „hat einmal jeine Million (217500 Mark) beifammen gehabt, aber er hat auf der Kippe geftanden. Ich glaube, daß ihm nicht die Haare auf feinem Kopfe gehören, aber, jo wahr ich lebe, es ift nicht feine Schuld. Er iſt der beſte Menſch von der Welt, aber die Schurken von Frreigelaffenen, die Alles eingefact haben ! Du weißt, ift bei einem Geſchäftsmann erft Ebbe in der Caſſe, dann machen ſich die Freunde aus dem Staube. Er pflegte zu fpeifen wie ein König: ganze Wild- jchweine, Conditoraufjäße, feines Geflügel Köche, Conditoren! Unter den Tiſch wurde mehr Wein gegofjen, als Mancher im Keller hat. Nicht wie ein Menſch, nein, der reine Uebermuth! Als es anfing, mit ihm ſchief zu gehen, und er fürchtete, daß feine Gläubiger ihn für bankerott halten würden, zeigte er auf folgende Weife eine Auction an: Gajus Julius Proculus wird jeine überflüfligen Sachen verfteigern.“

Die ausſchließlich von diefen Freigelaſſenen geführten Tiſchgeſpräche drehen ſich zuerft um das Wetter, dann um einen kürzlich eingetretenen Todesfall. „Ic fonnte heute fein Bad nehmen,” jagt der Eine, „denn ich war zu einem Begräbniß. Der nette Mann, der gute Chryſanthus ift abgefragt. Noch ganz vor Kurzem bat er mich angejprodhen, mir ift, al3 ob ich noch mit ihm vede. Ad ja, ad) ja, wir gehen einher wie Schläuche, die mit Luft voll geblajen find. Wir find

392 Deutiche Rundichau.

nicht einmal jo viel werth wie Fliegen; Fliegen haben doch nod einige Kraft in fi; wir find nicht jo viel werth als Waſſerblaſen. Und wie wäre e8 ihm erft ergangen, wenn er nicht die Hungerkur gebraucht hätte? Fünf Tage hat er feinen Tropfen Wafjer in den Mund genommen, fein Krümchen Brot, und doch hat ex ins Gras beißen müſſen. Die Aerzte haben ihm den Garaus gemacht, oder vielmehr es war ihm jo beftimmt, denn ein Arzt ift weiter nichts als eine Beruhigung für das Gemüth. Aber fein Begräbnig war jehr anftändig, eine ordentliche Bahre, gute Tücher. Auch die Todtenklage war jehr gut er hatte Mehrere freigelaffen wenn auch feine rau ihn nicht aufrichtig beweint Hat. Und wie wäre es exjt geweſen, wenn er fie nicht fo gut behandelt hätte? Aber die Weiber, eine wie die andere, find alle faljche Katen. Dan muß Niemandem nichts Gutes erweiſen, es ift, al3 wenn man es in den Brunnen wirft. Aber freilich, eine alte Liebe hält feft wie mit Zangen.“

Hier Fällt ein Anderer ein: „Laßt uns an die Lebenden denken! jener hat, was ihm zufam: anftändig hat er gelebt, anftändig ift ev geftorben. Worüber hat ex zu Hagen? Mit einem As hat er angefangen, und es war ihm nicht zu Schlecht, einen Dreier mit den Zähnen aus dem Koth zu nehmen. Und jo ift er in die Höhe gegangen wie auf Hefen. Ich glaube wahrhaftig, daß er ganze Humnderttaufend (21750 Mark) Hinterlaffen hat, und er Hatte Alles haar. Uebrigens will ich die Wahrheit jagen wie Einer, der eine Hundszunge gegefien bat. Er Hatte ein böſes Maul, eine loſe Zunge, nicht wie ein Menſch, nein, der reine Krakehl! Sein Bruder, da3 war ein braver Mann, ein Freund für feine Freunde, mit offener Hand, und führte einen guten Tiſch. Als er noch ein Anfänger war, konnte er auf feinen grünen Zweig fommen, aber die erfte MWeinlefe ftellte ihn auf die Füße, denn damals konnte ex für feinen Mein fordern, fo viel er wollte. Und wodurch er recht in die Höhe kam, das ar, dag ihm eine Erbſchaft zufiel, von der er mehr bei Seite brachte, als ihm ver« madt war. Und jenes Stück Holz hat, weil er auf feinen Bruder böſe war, einem Andern, der ihn gar nichts anging, jein Vermögen vermadt. Wer fein Fleiſch und Blut nicht achtet, der achtet gar nichts. Aber er hatte Sklaven, die ihm immer in den Ohren lagen; die haben ihn zu Grunde gerichtet. Aber wer zu jchnell Vertrauen hat, der wird niemals das Rechte treffen, beſonders ein Geihäftsmann. Doch wahr bleibt, dad er ſich's wohl fein ließ, jo lange er lebte. Wem es zu Theil wird, dem wird es zu Theil, nicht wen es beitimmt geweſen iſt. Wahrhaftig ein Glückskind, in feiner Hand wurde Blei zu Gold. Mit einem Wagen, der von felbit Yäuft, ift leicht fahren. Und wie viele Jahre glaubt ihr, daß er auf dem Rücken hatte? Siebzig und drüber! Und er war wie von Eifen, das Alter Hatte ihm nichts an, ſchwarz wie ein Nabe. Ich fannte den Burjchen ſeit Olim’3 Zeiten, und er war immer no ein Mädchen: jäger. Ih tadle das nicht, es ift doch das Einzige, was er mit fi ge nommen bat.“

Hierauf folgt eine Unterhaltung zwiſchen zwei andern Fyreigelaffenen über die jtädtiichen Angelegenheiten, dev Eine findet, dat es damit jehr jchlecht ſtehe, früher ſei Alles beſſer geweſen; der Andere urtheilt jehr wohlwollend und meint,

Petron's Gaftmahl des Trimalchio. 393

dat man alle Urſache habe, zufrieden zu ſein!). Diefer letztere ſucht nun aud) einen der den Stammgäften Trimalchio's unheimlichen „Studirten“ ind Geſpräch zu ziehn. „Du fiehft jo aus, Ngamemnon, jagt er, ald ob Du jagen millit: Was plappert der langweilige Kerl? Weil Du, der jo gut ſprechen kann, gar nicht ſprichſt. Du bift nit von unſerem Schlage und machſt Dich über die Reden von und geringen Leuten luſtig. Wir wiffen, daß Du vor lauter Gelehr- famfeit nicht vecht Elug bift. Was macht es aus? Ich möchte Dich einmal be- reden, auf mein Gut zu kommen und Div meine Baraden anzufehn. Etwas zu beißen werden wir finden, ein Hähnchen, Eier; es wird gemüthlich jein, wenn auch der Sturm übel gehauft Hat; wir werden jchon etwas finden, wovon ir fatt werden. Und im meinem Jungen wächſt ein Schüler für Dich heran. Er fann ſchon einfache Zinsrechnung; wenn er am Leben bleibt, wirft Du einen kleinen Diener an ihm haben, denn wenn er nur Zeit hat, hebt ex den Kopf nicht von der Schreibtafel. Er hat einen guten Kopf und ift von guter Art, nur auf die Vögel zu jehr verſeſſen. Ich habe ſchon drei Stiegligen den Hals umgedreht und gejagt, das MWicjel hat fie gefreffen. Aber er bat ſich auf andres dummes Zeug gelegt und malt für jein Leben gern. Uebrigens hat ex ſchon Griechiſch angefangen, und zum Latein hat er rechte Luft, wenn auch jein Lehrer ein eingebildeter Menſch ift und nicht bei der Stange bleibt, jondern er fommt, ih joll ihm etwas zu fchreiben geben, arbeiten will ex nicht. Ich habe auch nocd einen andern, der zwar nicht viel gelernt hat, aber fid Mühe gibt und mehr lehrt, al3 er weiß. Er kommt an den Feiertagen, und was man ihm dann gibt, damit ift er zufrieden. Ich habe dem ungen einige ſolche Bücher mit rother Schrift?) gekauft, weil ich will, daß er zum Hausgebrauch etwas vom Aus profitiren ſoll. Diefe Sade gibt Brod. Denn von Bildung bat ex fchon genug weg. Wenn er abipringt, will ich ihn ein Gejchäft lernen laſſen, Barbier- laden oder Auktionskommiſſar oder wenigftens Anwalt®), und das fann ihm dann doch nur der Tod nehmen. Daher predige ih ihm alle Tage: Mein Sohn, wa3 Du lernjt, das lernſt Du für Dich jelber. Du ſiehſt den Anwalt Phileros: hätte ex nichts gelernt, fo hätte er heute nichts zu beißen. Es ift noch gar nicht lange ber, daß er Päcke zum Verkauf auf dem Rüden trug, jet macht ex ſich fogar gegen den Norbanus breit. Ya, ja, Bildung ift ein Kapital, und was man gelernt hat, da3 bleibt ewig.“

Doch diefe Annäherung bleibt vergeblid; die „Studirten“ betheiligen ſich auch ferner nicht an der Unterhaltung, und als Einer von ihnen, Ascyltos, den jene Verloofung von Gaſtgeſchenken begleitenden Witzen in ausgelafjener Luſtig— keit, bis zu Thränen lachend, ironijchen Beifall ſpendet, ergrimmt einer der Mit— freigelaffenen Trimalchio'ſs. „Was Haft Du zu laden, Schöps?“ jagt er. „Gefallen Dir die hübjchen Feinheiten unſeres hochgeehrten Hausherrn nicht? Du bift wohl reicher und an beſſere Bewirthung gewöhnt? So wahr die Schub-

1) Diefer Dialog ift in dem oben citirten Aufſatz „Städtewejen in Italien unter den römischen Kaifern“ (Deutfche Rundſchau, Bd. XIX, ©. 226 ff.) bereit3 mitgetheilt worden.

2) In ben juriftiichen Büchern waren bie Anfangäworte der Geſetze mit Röthel (rubrica) geichrieben.

3) Dieje bedurften keiner Rechtsgelehrſamkeit, jondern nur der Berediamteit.

394 Deutiche Rundſchau.

göttin diejes Ortes mir gnädig fein möge, wenn ich meinen Pla neben ihm hätte, würde ich ihm jchon eins verjettt haben. Ein ſauberes Früchtchen! und unterfteht ji, über andre Leute zu lachen. Irgend ein fortgejagter Thunicht— gut, der Nachts auf der Landftraße jein Wejen treibt! So wahr ich lebe, id gerathe nicht jo leicht in Kite, aber wenn das Fleiſch faul wird, gibt es Maden. Gr laht! Was hat er zu lachen? Iſt er aus andrem Material als andere Leute? Du bift ein römiſcher Ritter? Und id) aus Föniglihem Blut! Wes— halb ich alfo gedient habe? Weil ich freiwillig in Dienft gegangen bin und lieber römischer Bürger jein wollte als ein Kopffteuerpflichtiger‘). Und jeht ſchmeichle ich mir, jo dazuftehn, daß Niemand über mich laden darf. Ich bin ebenjo gut als andre Leute, ich brauche mich nicht zu verſtecken; ich bin Niemanden einen Kupferdreier Ihuldig; Niemand hat mir einen Termin zum Zahlen gejegt, Niemand hat auf dem Forum zu mir gejagt: Gib her, was Du ichuldig bift! Ich habe ein paar Stückchen Land gekauft, ich habe ein baares Sümmcden erworben, ich füttere zwanzig Mäuler und einen Hund; meine Mitſklavin Habe ich frei gefauft, damit fi Niemand an ihren Haaren die Hände abtrodnen fol. Tauſend Denare (870 Mark) Habe ich für meine Freiheit bezahlt. Ich bin mit Erlaß der Gebühren zum Sevir ernannt worden. Ich hoffe jo zu fterben, daß ich mich nach meinem Tode nicht zu ſchämen brauche. Du haft wohl fo viel zu thun, daß Du niemals in den Spiegel ſchauen fannft ? An einem Anderen ſiehſt Du das Hleinfte Läuschen, an Dir felbft nicht die aller- größte Laus. Du bift der Einzige, dem wir lächerlich vorfommen. Da ift Tein Lehrer, ein älterer Dann, der findet an una Gefallen. Du Grünſchnabel, kannt nit Mu, nicht Ma jagen, Du Wajchlappen! Bit Du reicher ald ih? Tann zweimal zu Mittag und zweimal zu Abend. Mir ift mein Credit lieber als alle Geldkaften in der Welt. Kurz und qut, wer hat mid; zwei Mal ge mahnt? Vierzig Jahre habe ich gedient, aber Niemand hat unterjcheiden können, ob ic ein Sklave war oder ein Freier. Ich war noch ein Junge, der langes Haar trug, als ich in dieje Stadt Fam, und die Bafilica war noch nicht gebaut. Ich habe gethan, was id) konnte, um meinen Herrn zufrieden zu ftellen, einen hoch nobeln und würdigen Mann, deſſen Kleiner Finger mehr wert war als Du von Kopf bis zu den Füßen. Und es gab Leute im Haufe, die mir ein Bein ftellen wollten; do, Dank und Preis meinem: Schußgeift, habe ich mein Schäfchen aufs Trodene gebradt. Das find die richtigen Proben. Denn frei auf die Welt fommen, ift jo leicht wie Brod effen. Was ftierft Du mich jebt an wie die Kuh den Kaiſer?“

Bei dieſen Worten brach Giton, der hinter uns ftand, höchſt ungeziemender Weife in ein lange verhaltenes Gelächter aus. Als dies der Gegner des Ascyltos bemerkte, richtete er jeine Scheltworte gegen den Knaben und jagte: „Du lachſt auch, Dur betroddelte Zwiebel? Hurrah Saturnalien! Ich frage, ſeit

!) Der durch bie Freilaſſung römischer Bürger gewordene Sflave nimmt nun eine höhere ftaatärechtliche Stellung ein als feine freigebliebenen Landsleute in der heimathlichen Provinz, bie Kopffieuer zahlten (was im Alterihum als Zeichen der Unfreiheit galt. Prahlerei mit einer Abftammung aus angeblich föniglichem Geichlecht wird unter Sklaven häufig geweſen fein.

Petron's Gaftmahl des Trimaldio. 395

wann haben wir December?!) Wann haft Du die Freilafjungsfteuer bezahlt ??) Du Galgenfutter, Du Rabenfrag! Ich will jchon dafür jorgen, daß Du den Zorn Jupiters fühlen jolft und auch jener, der Di nicht im Zaume hält. So wahr id don Brod jatt werden will, es gejchieht nur aus Reſpect vor meinem hochgeehrten Herrn Mitfreigelaffenen (Trimaldio), jonft würde ih Dir ihon Dein Theil gegeben haben. Das find Schlingel, die Dich nicht in Zucht halten. Natürlich, wie der Herr, jo der Knecht! Ich kann mich kaum halten, und ich bin do von Natur fein Hitzkopf, aber wenn ich einmal anfange, reipectire ich meine eigene Mutter nit. Schon gut, ih werde Dich ſchon einmal auf der Straße treffen, Du Wurm! Du Pilz! Ich will nicht nach oben und nicht nah unten wachſen, wenn ich Deinen Herrn nicht in ein Mauſeloch jage, und auch Dich werde ich nicht mit Handſchuhen anfaffen, magſt Du aud) den allerhöchften Jupiter anrufen. Ich will ſchon dafür forgen, daß Dir Dein drei Viertel Ellen langes Haar und Dein nichtsnutziger Herr nichts helfen foll. Schon gut! Du wirft mir einmal unter die Finger kommen! Gntweder id) fenne mich nicht, oder Du wirft aufhören über mid) zu laden, wern Du aud) ein noch jo feiner Käfer bift. Ich werde dafür jorgen, daß Du den Zorn ber großen Göttin Athene fühlen ſollſt, und auch der Kerl, dev Dich jo frech Hat werden lafjen. Ich Habe fein Geometrien und Wefthetifen und Ologien und Nomien gelernt, aber id Tann die Buchſtaben auf den Steinen Iefen, ich kann bie Procente in Münze, Maß und Gewicht ausrechnen. Kurz und gut, probire es: wir wollen eine Wette machen; komm her, ich lege da3 Geld hin. Du follit jegt erfahren, daß Dein Vater umfonft für Dih Schulgeld bezahlt hat, wenn Du auch Rhetorik weißt. Paß auf! Ich komme lang, ic) komme breit : num [öfe mich ! Mas ift das? Ich kann Dir aud) jagen, wer läuft und nicht vom Flecke fommt, und wer wächſt und dabei Kleiner wird?). Du mudjeit und ftierft und quälft Did ab, wie eine Maus im Nachttopf! Alſo entweder halte Dein Maul oder laß einen Befjeren ungejchoren, für den Du Luft bift! Oder glaubt Dein Herr vielleicht, ich füimmere mid) um bie Ringe au Bur, die ex feinem Liebchen ge ftohlen hat? Heiliger Greifzu! Er joll einmal mit mir aufs Forum gehen, und wir wollen beide Geld borgen: dann foll er fehn, daß ein eiferner Ring auch Eredit hat*)! So wahr ich gute Gejchäfte machen, jo wahr ich gut fterben will: wenn ih Dich nicht ins Bockshorn jage, joll man meinem Feinde ein Ende wünſchen wie das meine! Dex Lehrer, bei dem Du in die Schule gegangen bift, muß ein Affe geweſen jein. Zu meiner Zeit lernte man andere Dinge. Da jagte der Lehrer: Habt ihr alles in Ordnung? dann geradeswegs nad) Haufe, nicht umbergaffen, ältere Leute nicht jchimpfen! Ich, wie Du mid) hier fiehft, bin den Göttern dankbar für das, was ich gelernt habe.“

1) Die Saturnalien, an denen man ben Sklaven eine große Freiheit geftattete, dauerten vom 17. bis 23. December.

2) Eine im ganzen Reiche erhobene Abgabe von fünf Procent vom Werthe frei zu laſſender Sflaven, bie in ber Regel wohl bie Letzteren zu tragen hatten.

) Drei Bolföräthiel. Das erfte ift der Aufzug und Ginjchlag des Gewebes; dad zweite die tanzeude und doch auf derſelben Stelle bleibende Spindel; das dritte ber Faden, der auf ber Spindel länger wird, während er auf dem Roden abnimmt.

) Ascyltos hat ala römischer Nitter das Necht, goldne Ringe zu tragen, Männer bed dritten Standes trugen eiſerne.

396 Deutiche Rundſchau.

Hier legt ſich Trimalchio befhmwichtigend ins Mittel und ermahnt den Zornigen, ex möge al3 der Klügere nachgeben. Nach einiger Zeit fordert er dann einen andern feiner Mitfreigelaffenen auf, etwas zu erzählen. Diefer, durd die Leutjeligkeit feines Freundes hoch erfreut, jagte: „Mag mir jeder Profit an der Naje vorbeigehn, wenn ich nicht vor Plaifir platze, daß ich Dich jo ver: gnügt ſehe. Amüſement fol die Parole fein, wenn mir auch vor den Studirten bange ift, daß fie über mich lachen. Aber laß fie nur! Ich will doch erzählen, denn was nimmt mir einer, wenn ex über mid) lat?“ „Als ex ſolches geiagt,“ begann er folgende Erzählung:

„Als ich noch diente, wohnten wir in einer engen Gaſſe, jet gehört das Haus der Gavilla. Da verliebte ih mid” wie denn jo etwas wohl von den Göttern beftimmt fein mag in die Frau des Schenkwirths Terentius; ihr fanntet doch die Melilla, die Tarentinerin, ein allerliebites Weibchen. Aber id hatte fie nicht wegen ihrer Schönheit jo gern, jondern weil fie jo brav mar. Menn ich fie um etwas bat, wurde e3 mix nie abgeichlagen; machte fie fich einen A3, jo Hatte ich einen halben; Alles, was ich bei Seite legen Tonnte, wanderte in ihre Tafche, und nie wurde ich bemogelt. Da ftarb ihr Mann in dem Haufe an der Landftraße, two fie wohnten. Ich ſetzte alle Segel bei, um zu ihr zu gefangen: in ber Noth, wißt ihr, zeigen fich die Freunde. Zufällig war der Herr nad) Capua gereift, um allerlei Gejchäfte zu bejorgen. Dieje Gelegenheit benußte ich und beredete einen Fremden, der bei uns wohnte, bis zum fünften Meilenftein!) mit mir zu kommen. &3 war ein Soldat, ſtark wie der Teufel, Wir machen uns etwa um die Zeit de3 Hahnenfchreis auf die Sohlen, der Mond jchien jo heil wie die Sonne am Mittag, Wir fommen ztoijchen die Grabmäler, mein Mann geht bei Seite, ich jege mich, trällere ein Liedchen und zähle die Leichenfteine. Wie ic) mich wieder nach meinem Gefährten umſehe— zieht ex fi) aus und Legt alle feine Kleider neben die Landftraße Hin. Mir blieb der Athem im Halje fteden, ich ftand da wie ein Todter. Aber jener zog einen Kreis um feine leider und wurde plößlich ein Wolf. Glaubt nicht, daß ich ſcherze: man fünnte mir das größte Vermögen anbieten, jo würde ich dafür nicht lügen. Aber, was ich eben jagte, nachdem er ein Wolf geworden tar, fing er an zu Heulen und lief in die Wälder. Anfangs wußte ich gar nicht, too ich war; dann ging id) heran, um die Stleider aufzuheben: fie waren zu Stein geworden. Wer konnte da mehr als ich halb todt vor Furt fein? Dod ich zog meine Plempe und hieb auf dem ganzen Wege immerfort nad) den Ge ivenftern, bi3 ich auf den Hof meiner Freundin kam. Wie Einer, der ſchon im Grabe gelegen hat, fam ich an, beinahe wäre es mein letztes Stündchen geweſen, der Schweiß lief mir in zwei Strömen von der Stirn herunter, die Augen waren wie blind, faum konnte ich mid, erholen. Meine Meliffa wunderte ſich, daß id fo jpät unterwegs war, und jagte: Wäreft Du früher gefommen, jo hätteft uns wenigſtens beijtehn fönnen, denn ein Wolf brach in den Hof ein und fie alles Vieh an; wie ein Fleischer zapfte er ihnen Blut ab. Aber es iſt ihm übel befommen, wenn er auch davongefommen ift: unjer Knecht hat ihm den Hals

!) Eine deutſche Meile.

Petron's Gaftmahl des Trimalchio. 397

mit einer Lanze durchbohrt. Als ich das gehört Hatte, Konnte ich fein Auge mehr fchliegen, jondern wie es ganz hell geworden war, lief ich jpornftreichs nad dem Haufe unferes Gajus, und al3 ich an den Ort fam, mo die Stleider zu Stein geworden waren, fand ich nichts als Blut, Al ich aber nad) Haufe fam, lag der Soldat auf dem Bette und blutete wie ein O3, und ein Arzt verband feinen Haß. Da jah ich wohl, daß er ein Werwolf war, und ich £onnte jeitdem feinen Biffen Brod mit ihm zufammen eifen, nicht wenn man mich todt geichlagen hätte. Mögen Andre denken, was fie wollen, aber mir mögen eure Schußgeifter nicht gnädig fein, wenn ich Lüge.“

Als Ale vor Staunen ftumm waren, ſagte Trimaldio: „Ohne daß ich damit etwa3 gegen Deine Erzählung jagen will, mir, das könnt ihr glauben, haben fi) die Haare auf dem Kopf gefträubt, weil ich weiß, daß Niceros Feine laufen erzählt: nein, man fann ſich auf da3, was ex jagt, verlafjen, er ift fein Zungendreſcher. Ich will euch auch eine grufelige Gejchichte erzählen. Als ich noch langes Haar trug, ftarb der Lieblingsknabe unſeres Prinzipals, wirklich eine Perle, ein ganz varer Junge, in allen Stüden perfect. Als nun die arme Mutter ihn beklagte und mehrere von uns damals an der Trauer Theil nahmen, fingen die Nachtunholdinnen!) draußen am zu faufen: e8 war, als wenn ein Hund einen Hafen jagte. Wir hatten damal3 Einen aus Gappabocien, einen fangen Kerl, der viel Courage und riefige Kräfte Hatte: er konnte einen mwüthenden Stier aufheben. Der lief muthig mit gezogenem Schwert vor bie Hausthür, die linfe Hand jorgfältig eingewidelt, und bohrte die Here ungefähr an diejer Stelle was ich berühre, joll gejund bleiben! duch und durd). Wir hören ein Geftöhne, aber ich will nicht lügen, fie jelbft jahen wir nicht. Unſer Tölpel aber Fam zurüd und warf fih auf das Bett, und fein ganzer Körper war braun und blau, al3 wenn er mit Peitſchen gehauen wäre, weil ihn nämlich die böje Hand berührt hatte. Wir jchließen wieder die Hausthür und gehn an unſere Verrihtung; aber al3 die Mutter die Leiche ihres Kindes um— armen toollte, rührt fie fie an und fieht ein Bündel Stroh. Es hatte fein Herz, keine Eingeweide, Nichts: nämlich die Nahtunholdinnen hatten den Stnaben ihon geraubt und einen Wechjelbalg aus Stroh untergejchoben. ch bitte euch, dag müßt ihr glauben, es gibt Weiber, die Hexen können, es gibt Nacht» unholdinnen, und fie ehren das Oberfte zu unterft. Aber jener lange Tölpel befam niemals feine gejunde Farbe wieder, jondern nad) einigen Tagen ftarb er in Raſerei.“

Wir hörten dies ebenfo ftaunend als gläubig an, und den Tiich küſſend, baten wir die Nachtunholdinnen, zu Haufe zu bleiben, während wir von der Mahlzeit heimfehrten.“

Hier enden die Tiſchgeſpräche. Einzig in feiner Art, twie da3 ganze Fragment in mehr al3 einer Beziehung ift, vor Allem durch die unvergleichliche Meifterichaft, mit der der jonft jo qut wie unbefannte Autor uns da3 Thun, Denken und Reden diefer jüditalienischen Kleinftädter vor Augen ftellt, erinnert es zugleich, wie unermeßlich unfere Verlufte auf dem Gebiete der antiken Literatur find.

') Strigae, wovon das italienische strega.

Heilige Bäume und Pflanzen.

—ñ—ꝰ

Culturgeſchichtliche Skizze von

Dr. Ferd. Adalb. Junker von Fangegg.

„Und Gott ber Herr pflanzte einen Garter in Eden, gegen Morgen, und jehte ben Meniher darein, den er gemadjt hatte.

„Und Gott der Herr ließ aufwadien an: ver Grbe allerlei Bäume, luftig anzufehen und se! zu efien, und den Baum bes Yebens mitten im Garten, und den Baum bed Grfenntnifies Gute unb Böfes.” (I. Mofe 2, 8. 9.)

Die Verehrung gewifjer Bäume und Pflanzen, der fogenannte Baumcultus, läßt fich bis in die Vorzeit verfolgen, deren Dämmerjchleier die vergleichende Mytho— Yogie hin und wieder zu lüpfen vermag. Al: das erwachende Menjchengeichledt des MWeltentwunders, des geheimnißvollen Wirken und Webens der Natur ftaunend gewahrte, wähnte es, das Räthjelhafte deutend, in den kosmischen, zur Kenntniß der Sinne gelangenden Erſcheinungen das Walten belebender Geifter zu ahnen. und deren Verförperungen in allem Gejichaffenen, in allem am Himmel und auf Erden Sichtbaren zu ſchauen. So fam es, daß Fels und Berg, Quell umd Strom, Baum und Blume mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtet, und einer innewohnenden ſchützenden Gottheit geheiligt wurden. Und als die Götter fpäter vor dem Lichte de3 Kreuzes zerftoben, ward der alte Glaube zum Aber glauben, die Mythe zur Mär, und Elb, Nir, Gnom und Wihtel ſpukten fürder an einft geweihter Stätte und im Gedenken des Volkes. Um bie entthronten Götter vollends aus ihren Heiligthümern und aus dem Sinn der Neubekehrten au bannen, errichtete die Hriftliche Kirche aus den Trümmern der zerftörten heid- nijchen Altäre Schreine zu Ehren ihrer Blutzeugen und Heiligen und widmete ihnen au die Bäume, unter deren uraltem Laubdache vordem die Opfer ge taucht Hatten. Halbverjchollene Ueberlieferungen lebten in den jpäteren Legenden

—— auf, welche manche neu geleſene Blume mit in ihr myſtiſches Gefpinnſt oben.

Heilige Bäume und Pflanzen. 399

I.

Inwieferne die religiöfen Syfteme und Mythen der Culturvölker des Alter: thums durch die Geſchichte dev Schöpfung und des Falles, wie fie uns die erften Gapitel der Genefiß berichten, beeinflußt wurden, läßt ſich kaum ermitteln. Doch in Allen überrafhen uns gewilfe Aehnlichkeiten, wenn nicht Ueberein— ftimmungen, welche, je nach individuellem Dafürhalten, entweder durch unab- hängige Weberlieferungen oder durch die naturgemäße logiſche Entwidlung der erſten Mythenfeime der Vorzeit gedeutet werden mögen.

Mir finden Darftellungen de3 Baumes de3 Leben? und der Grfenntniß bereit3 in den älteften Bildiwerfen und Gemälden der Negypter und Afiyrier ebenjo wie in denen der Völker des fernen Oftens. Der „heilige Baum“ erſcheint in der Symbolik diejer Nationen als da3 Sinnbild des MWeltall3 und des Schöpfungsſyſtems, am häufigften aber al3 der Baum des Lebens, defjen Frucht den Gläubigen mit göttlicher Kraft erfüllt und ihn vorbereitei für die Freuden der Unfterblichfeit. Die älteften Vertreter des Lebensbaumes find die Dattel- palme, die Feige und die Föhre oder Geber.

Am früheften erfchienen die Darftellungen der Palme, der echten Dattelpalme (Phoenix dactilifera L.) des Nilthales und der großen alluvialen Ebene Baby- loniens, ein Baum, welcher an Höhe und erhabener Würde zwar von vielen an- deren Arten übertroffen wird, der fi aber al3 vorzüglichfter Nahrungsſpender über die zwei großen Bezirke der alten Givilifation verbreitet, und von jeltener Schönheit, wenn zur Zeit der Reife die goldenen Fruchttrauben unter dem Bal- dadjine dunkelgrüner Fiederwedel erglänzen. Wir fehen dieſe Palme als den Baum de3 Lebens auf einer ägyptifchen Stele (Grabtafel) dargejtellt, welche wahrjcheinlich aus der Zeit der achten Dynaftie (1701 1447 nad) Lepfius) ftammt, und jegt im königl. Mufeum in Berlin aufgeftellt ift. Zwei Arme reichen aus den Gipfel des Baumes, deren einer dem vor demjelben ftehenden Berftorbenen eine Schale mit Datteln reicht, während der Andere ihm das Wafler des Lebens bietet. Es find die Arme der Göttin Nepthys oder Neb-hat, „Frau des Haujes“ der Göttin der Unterwelt, welche in anderen und jpäteren Darftellungen in ganzer Figur erfcheint. Auf einer anderen, von Rojellini abgebildeten Stele erhalten mehrere Gejchledhtsfolgen einer vornehmen Familie Nahrung vom Baume de3 Lebens, welcher Hier durch den ägyptiſchen Feigenbaum (Fieus Sycamorus L., die Sykomore der heiligen Schrift) verfinnbildet ift. Auch hier erhebt fich die Göttin Neb-hat aus dem Gipfel de8 Baumes und hält, wie in den anderen Stelen, in einer Hand eine Schale mit Feigen und gießt mit der anderen einen Strom Waſſers aus einem Gefäß. Eine andere Feigenart ift der heilige Feigen— baum Indiens (Ficus religiosa L.) Aswathä, unter welchem Viſchnu geboren wurde, und den Brahmä zum Könige aller Bäume machte, als diefer die Könige der Thiere, Vögel und Pflanzen ernannte, auf daß fie Werkzeuge feien zur Er— haltung der Welt. Diefer Feigenbaum ift auch der heilige Baum der Buddhiſten, Pipul oder (ſiameſiſch Pothi), unter welchem Shakyamuni Gautama (Buddha) ruhte, al3 ex in das Nirwana verſank.

Der heilige Baum, welcher ftet3 auf aſſyriſchen Denkmälern abgebildet iſt, gleicht der herfömmlichen Darftellung der Dattelpalme; die Spitblätter, deren

400 Deutiche Rundſchau.

Fiederwedel, find jedoch häufig durch Föhren- oder Gedernzapfen erſetzt, wahr» jcheinlich durch eritere, da mehrere Föhrenarten auf dem aſſyriſchen Hochlande häufig vorfommen, während die Geder (Cedrus Deodara Roxb.), welche wegen ihres mächtigen Wuchjes in Nepaul im nordöftlichen Indien hochgeſchätzt und al3 ein heiliger Baum verehrt wird, nicht weſtwärts vom Himalaya- Gebirge verbreitet it. Achnliche Pinienzapfen halten auch die Priefter in ihren Händen, twahricheinlich von derfelben Föhrenart, welche in den religiöfen Proceffionen an dem Plinthe der Säulenhalle von Perjepolis zu ſehen ift.

63 wäre kaum möglich geweien, geeignetere Symbole des myftiichen Baumes de3 Lebens, deifen Frucht Kraft und Weisheit verleiht, zu wählen, als die Dattel- palme und den Feigenbaum, welche beide die wichtigften Nahrungserzeuger des Oſtens find. „Ehre,“ ſprach Mahomed, „Deine väterliche Muhme, die Dattelpalme, denn fie wurde im Paradieſe aus demfelben Exdenfloße geichaffen wie Adam.“ And eine jpätere mahomedanische Neberlieferung berichtet: „Es wurde Adam geftattet, drei Dinge aus dem Paradieſe mit ſich zu nehmen: eine Myrthe, die lieblichite der jüßduftenden Blumen auf Erden, eine Weizenähre, den vorzüglidften Nährftoff, und eine Dattel, die herrlichſte Frucht der Welt. Diefe paradiefiihe Dattel wurde auf wunderbare Weife nach dem Hejäz gebradht, und von ihr ftammen alle Dattelpalmen auf Erden, und Allah beitimmte fie zur Nahrung aller wahren Gläubigen, welche jämmtliche Yänder, wo fie wächſt, erobern jollten.“ Dieſe Legende beftätiget den hohen Werth, in welchem die Dattelpalme allgemein gehalten wurde, und jchließt die Vermuthung aus, daß fie ala ein heiliged Symbol von einem Lande aus dem andern geborgt wurde, oder daß in den goldenen Palmenbäumen de3 Tempels Salomon’s ägyptiſche Ginflüffe zu fuchen jeien. Sowohl die Juden al3 die Araber betrachteten diefen Baum al3 eine myſtiſche Allegorie des Menichen, denn gleich diefem ftirbt er, wenn ſein Kopf (die Gipfel: knoſpe) abgeichnitten wird, und ein abgehauener Arm (Ziveig) wächſt nicht wieder. Aus dem geheimnivollen Wallen der Blätter an windjtillen Tagen kann der KHundige gegenwärtige und fünftige Greigniffe deuten, glei Abraham, welcher, twie die Rabbiner berichten, die Sprache der Palmen verjtand.

Die Palme ift eines der biblischen Bilder des Geredhten, und auf fie werden vielfach die Worte der Offenbarung Johannis (22,2) gedeutet: „Mitten auf ihrer Gafje, und auf beiden Seiten des Stroms jtand Holz des Lebens, da3 trug zwölferler Früchte und brachte feine Früchte alle Monate; und die Blätter des Holzes dienten zu der Gefundheit der Heiden.“ Dieſe Auslegung ſcheint ſchon in früher chriftlicher Zeit anerkannt geweſen zu fein, und wir jehen den Baum de3 Lebens in mehreren der ältejten Moſaiken in den Apfen römiſcher Bafiliten durch eine Palme dargeftellt. In der Kirche der heiligen Gosmas und Damian (ehemaliger Tempel des Remus, zuerft dem heiligen Felix, dann 526 den beiden obgenannten Heiligen geweiht) erjcheint dev Phönir, die ältefte Verfinnbildlichung des Deren, auf dem Wipfel der Palme. Am den berühmten Moſaiken aus dem achten Jahrhundert, im Oratorio di San Venanzio des Baptifterium Gonftantin’s de3 Großen (S. Giovanni in Fonte) an der Bafılifla San Giovanni in Yaterano erhebt fi) eine Palme mit Gott, Vater und Sohn an ber Seite, aus einer Ginhegung, welche ein Engel mit gezüdtem Schwerte bewacht. Es wäre baber

Heilige Bäume und Pflanzen. 401

die Palme in den Händen der Märtyrer nicht allein al3 ein Zeichen des Sieges, nad heidniſchem Vorbilde zu deuten, jondern noch viel mehr unmittelbar auf „da3 Holz bes Lebens" zu beziehen, deſſen Blätter „dienten zu der Gefundheit dev Heiden“.

Palmenzweige wurden nach dem erften Kreuzzuge von den Kreuzfahrern, und nachher von den Wallern zum heiligen Grabe, in großen Mengen aus den Küften- ebenen Paläftina’3 hHeimgebracht, wodurch ich diefe, Häufig auch „Palmer“ genannt, von den Pilgern nad anderen Wallfahrtöorten, wie Rom, Compojftella u. a. unterfchieden. Um jene Zeit wurden Palmenblätter in den Bildhauer: werfen der Kirchen des nördlichen Europa’3, namentlich als Schmud der Säulen- fnäufe, zuerft eingeführt. Daher dürfte e8 überrafchend jcheinen, die Dattelpalme in ihrer älteften myjtiichen Geftaltung an mehreren franzöfiſchen Kirchen bereits in einer früheren Periode angebracht zu finden. Allein e3 läßt fich in diefer der heilige Baum des Lebens, wie er ftet3 an den Wänden der Paläfte Senna- cheribs und Eſar⸗-Haddons (702—667 dv. Chr.) dargeftellt wurde, erkennen, welchen die Bildhauer in Unkenntniß feiner Bedeutung und des uralt heidnifchen Urſprungs mit nur geringfügigen Veränderungen al3 Verzierung ihrer Kirchen nachgebildet hatten. Die erfte Einführung des affyrifchen Baumes des Lebens in die Orna- mentit Frankreichs mag durch die ausgebreiteten Handelsverbindungen, welche während der älteren merovingischen Zeit zwiſchen Gallien und dem öftlichen Borde des Mittelmeered beftanden, vermittelt worden fein. Syriſche Kaufleute hatten Geihäftshäufer in Gallien, wie aus Gregor’3 von Tours (geb. 546, 7 594) Schilderungen zu entnehmen, und viele derjelben jcheinen zu den reichften und angejehenften Fremden gezählt zu haben. Giner derjelben, Namens Eufebius, faufte fi) jogar nad dem Tode Ragnemodus, Biſchofs von Paris, die Nach— folge besjelben'). Alle dieje Tyriichen Kaufleute waren Chriften, und mit anderen MWaaren bradten fie Heiligenreliquien, welche unter den neubefehrten Franken und Burgundern großen Abſatz fanden, Wein aus Gaza und Ascalon, der zum heiligen Abendmahle gebraucht wurde, Wurzeln, wie fie die Anachoreten der thebaiſchen Wüſte genofjen, zur Nahrung für die Incluſi (in befonderen Zellen an den alten Kirchen eingemauerte Einfiedler, deren Gefhichte Gregor von Tours erzählt), und von den Mönchen der firengeren Orden gleichfalls begehrt, und die reihen Seidenftoffe des Orients, welche hauptjähli zu Meßgewändern und Altarbeden dienten. Derartige alte Kirchengetwänder findet man noch in manchen Saftifteren, namentlich de3 jüdlichen Frankreichs, aufbewahrt. Ahr Urfprung läßt fich leicht aus den Muftern nachweiſen, welche die gleichen Symbole, wie fie an den Wänden ber affyrifchen Paläfte und an den Gewandungen der auf diejen dargeftellten Figuren ericheinen, mit unbedeutenden Veränderungen zeigen, und in welchen wir befonder3 den Baum des Lebens mit der herfömmlichen Form der Blätter und Früchte wiedererfennen. Dieſe Gewebe famen wahrjcheinlid aus Baghdad und Baffora, wo fich die altertHämlihen Mufter am längften erhielten; zumal in Berfien wurde der Homa, der heilige Baum Zoroaſter's, in beinahe

!) Eusebius quidam negotiator, genere Syrus, datis multis muneribus, in locum ejus subrogatus est. Isque, accepto episcopatu, omnem scholam decessoris sui abjiciens, Syros de genere suo ecelesiasticae domui ministros statuit. (Gregorii Turon. Hist. Eccles. IX. 26.)

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unveränderter Geftalt in der Ornamentik bis zur Zeit der arabiichen Eroberung im fünften Jahrhundert n. Chr. vertvendet. Die Fremdartigfeit und Schönheit diefer Zeichnungen, wie fie in gold und farbenprädtigen Brofaten erichienen, fanden großen Beifall bei den römischen und einheimijchen Künftlern Galliens, welche fie in dem Bilderfhmude ihrer Kirchen nahahmten. So fieht man den aſſyriſchen Baum des Lebens zwijchen zwei wachehaltenden Löwen an den Giebel- feldern (Tympanuın) vieler Kirchenportale verjchiedener Perioden, jedoch ſämmtliche aus ältefter Zeit, 3. B. an den Kirchen von Marigny und Coleville im Departement Galvados in der Normandie. Die Geftalt de3 Baumes ift verjchiedentlich ver- ändert, und ftatt der Löwen erblidt man bisweilen Drachen und andere geflügelte Ungeheuer. Welche Veränderungen aber auch ftattgefunden haben mögen, in allen läßt fich die urfprüngliche affyriiche Form twiedererfennen.

Palmenblätter werden ſeit dem Mittelalter zum Kirchenſchmucke während der Dfterzeit in Fatholifchen Landen verwendet, und am Palmfonntage in Erinne- rung an den Einzug Chrifti in Jerufalem am Altare geweiht, und in den Pro— cejfionen, welche in früheren Zeiten in den Kirchhöfen abgehalten wurden, getragen. Sie werden aber meiftens durch die Käbchen dev Weiden, beſonders der Sahl- oder Palmweide (Salix caprea L.) erſetzt, welche daher, wie ein alter monaftischer Ders beſagt!), auh Palmen heigen. Die für die Kirchen Roms beftimmten Palmen werden vorzüglid aus Bordighera und San Remo in der Riviera di Ponente bezogen. In San Remo erhielt die Familie Bresca im Jahre 1588 vom Papſte Sirtus V. das Privilegium der Palmenlieferungen. Der Papft hatte, der Sage nad), bei Gelegenheit der Aufrichtung des Obelisken vom Circus des Nero auf dem St. Peteröpla durch den Architekten Domenico Tyontana bei fchwerer Strafe Stille anbefohlen. Während des Werkes, welches durch vierzig, von achthundert Menjchen und Hundertundvierzig Pferden getriebene Winden ausgeführt wurde, erichlafften die Seile und der werthvolle Monolith drohte zu ftürzen. Da rief plößli ein Matroje aus San Nemo, Namens Bresca, man ſolle Waſſer auf die Taue gießen. Als dies gejchehen, erftrafften die Taue fofort und das Denkmal kam in die Richte. Der Papft forderte den Matrofen auf, ſich eine Gnade zu erbitten, und dieſer forderte für feine Vaterſtadt San Nemo das Vorrecht der Palmenlieferung für Nom. Seit jener Zeit werden Dattelpalmen in den genannten beiden Orten und der Umgebung gezogen und bilden einen einträglichen Handelsartikel.

Der dritte der älteften Heiligen Bäume des Lebens, bie Föhre oder Eeder, vertritt einen ganz gejonderten Ideenkreis. Diefe Nadelhölzer vereinigen Zierlich— feit und Gefchmeidigkeit mit Stärke und Dauerhaftigkeit, und bie führen des oberen Afiyriens und Perſiens, obgleich fie nirgend die riefige Höhe der Deodora de3 Himalaya erreihen, bieten einen auffälligen Gegenjat zu den Dattelpalmen und Tamarinden, welche die vorwaltende Baumflora diefer alluvialen Striche darftellen. Alle Arten derjelben befiten jenen ernftzerhabenen Charakter, welcher feine höchſte Entwicklung in den alt ehrwürdigen Gedern des Libanon erreicht.

) „Albeseit palmae coma; ramus ejus Osanna Audit, Christicola vociferante viro.“

Heilige Bäume und Pflanzen. 403

II.

Es ift wahrſcheinlich, daß die Geder des Oſtens ſchon in jehr früher Zeit im Weſten durch verwandte Arten verireten war. Ihre vorzüglichiten Eigen- thiimlichkeiten, namentlid Hoheit und Kraft, finden ſich unter den europätfchen Bäumen am ausgeprägteften in der Eiche wieder. Als die erften ariſchen Ein— wanderer Europa betraten, war der größte Theil diejes Feſtlandes ausſchließlich mit Nadelhölzern beftanden, welche jpäter zuerft durch die Eiche und dann durch die Buche verdrängt wurden. Der berühmte englifche Geologe Sir Charles Lyell (geb. 1797, geft. 1875) führte den Beweis, daß eine ſolche Vegetations— folge in Dänemark ftattgefunden, eine Anſicht, in überrafchender Weije durch die Veränderungen beftätigt, welche die Bedeutung der älteften arifchen Bezeichnungen für „Föhre“ und „Eiche“ erfahren haben. Profeffor Mar Müller (Lectures on the science of language, 1863) erwähnt in der fünften Vorlefung, daß bie Steinzeit mit der Periode der Vegetation der ſchottiſchen Föhre (Pinus sylvestris L.) zufammenfalle und daß die arifchen Stämme, welche während dieſer Zeit in Europa ſich anfiedelten, unter ſolchen Berhältniffen natürlich” nur diefen Baum fennen lernten. Sie benannten ihn daher mit demjelben Worte, das Heute noch im Deutjchen als „Föhre“, im Engliſchen ala „Fir“, angelſächſiſch „Furh“, vor- handen if. Nah Grimm’3 Geſetz werden die gutturalen und labialen Töne mit einander vertaufcht, und jo führt Furh zu dem lateinifchen Quereus, Eiche. Am Althochdeutichen bedeutet Foraha: Pinus sylvestris; im Neuhochdeutſchen Hat „Föhre“ die gleiche Bedeutung, aber an einer anderen Stelle, die aus den longo— bardiſchen Geſetzen Rothar's citirt ift, wird Fereha, offenbar dasjelbe Wort, ala Giche erwähnt, „roborem aut quereum, quod est fereha,* und die Brüder Grimm deuten in ihrem deutfchen Wörterbudy Ferah im Sinne von Eiche, und fein ztoeites Neutrum Ferch oder Verch als „Fleiſch und Blut, Leben, Lebens- fraft, die Seele al3 Princip des Lebens“.

Dieſe ernften Baumriefen waren gewiß nit ohne Einfluß auf die Ent: wicklung der religiöjen Vorftellungen, welche unter ihrem düfteren Schatten auf— feimten, und die Attribute, welche zuerft mit der Föhre verknüpft waren, wurden fpäter auch auf die Eiche übertragen. Diefe, gleich der Ceder des Dftens, ward zum Sinnbild übernatürligder Macht und Kraft. „Quereus Jovi placuit.“ Die Eiche war dem Zeus geheiligt, weil er die Menfchen zuerft gelehrt, ſich von Eicheln zu nähren. Gichen überfchatteten fein Orakel in Dodona; aus ihrem Raufchen deuteten die Priefterinnen den Willen des Gottes. Die nordiiche Eiche zog gleich der Geder den Blibftrahl an, und war der heilige Baum Donar’3 oder Thor's, des hammerſchwingenden Gottes, deffen Name in dem deutjchen Worte „Donner“ (altdeutjch doner, dunre; englifch thunder) fortlebt.

Der Upoftel der Deutjchen, der heilige Bonifacius, ein edler Angelſachſe Namens Winfried aus Devonfhire (geb. 680, geft. 754), kannte aus feiner Heimath die heidniſchen Mythen und Formen von Aberglauben, welche fi) an die Eiche tnüpften, daher er dieje zugleich mit anderen heiligen Bäumen auszuroden beichloß und, wo immer er einen ſolchen auf feinen Wanderungen durch Deutjchland fand, die Art daran legte. Da ftand im Lande der Heffen, wo jet Geidmar Tiegt, eine riefige Eiche Thor's, welche, Gegenftand großer Verehrung des Volkes, der

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Apoftel bei feiner Ankunft im Jahre 732 auf Rath einiger Neubekehrten, jofort zu fällen begann. „Mentis constantia confortatus,* wie ſich fein Biograph MWittebord, der Augenzeuge geweſen, ausdrüdt. Das Volt, entjeßt ob jolden Frevels, brach in laute Verwünſchungen aus, wagte aber nicht, ſich der That zu twiderjegen. Als Bonifacius die Hälfte des Stammes durchhauen hatte, erhob ſich plöglih ein übernatürlicher Sturm, faßte die Krone mit all ihrem Geäfte und ftürzte fie, „quasi superni motus solatio,* in vier gleiche Teile gebrochen, mit einem fürchterlichen Arad) zu Boden. Die Heiden anerkannten da3 Wunder, und die Mehrzahl wurde fofort an diefer Stelle befehrt. St. Bonifacius erbaute aus dem Holze dieſes Baumes eine Gapelle, welche er dem heiligen Petrus weihte.

Die Zerftörung der heiligen Eiche Thor's war in der That eine nothwendige Mapregel, um der neuen Lehre Bahn zu brechen, und die zahlreichen, in den Pönitentialen bis ins 13. Jahrhundert erhaltenen Verordnungen und Beſchlüſſe gegen bie, welche heidnijche Geremonien und Hexereien unter Bäumen und in Maldungen ausübten, beweifen, wie hartnädig das Volk an den Meberlieferungen de3 alten Glaubens fefthielt, wie ſchwer e8 war, dieje vollkommen zu bannen und twie Died nur theilweiſe und unvolltommen durch Zerftörung aller Erinnerungs— zeichen gelang. Selbſt wenn ſolche heiligen Bäume in der Folge einem großen Heiligen der Gegend geweiht wurden, wie e8 häufig bei den Gelten, bejonders in Armorica („Land am Meere”, der tweftliche Küftenftrich Frankreich zwischen der Seine und Loire) und in Irland, geſchah, ſcheint es nicht immer von Erfolg geweſen zu fein. So wurde dem irländijchen Heiligen Columban (geb.550, geft. 615) eine berühmte Eiche geweiht, von welcher ein Splitter im Munde getragen vor dem Tod durch Erhenken ſchützte. Als die Eiche des heiligen Columban in Kenmare durd) einen Sturm gebrochen wurde, wagte es Niemand, das Holz zu jammeln, mit Ausnahme eine Gärtner3, welcher aus der Rinde derjelben Lohe für jein Leber machte. Er verfertigte jih aus dem damit gegerbten Leder ein Paar Schuhe; al3 er fie aber zum erften Male anlegte, wurde er fofort ausſätzig und blieb «8 bi3 an jein Ende. In der Abtei von Vetrou in der Bretagne ftand ein alter Eibenbaum, welcher aus dem Stabe de3 heiligen Martin, des erften Abtes dieſes armoriſchen Klofterd, (nicht des gleichnamigen Heiligen, des berühmten Biſchofs von Tours, geb. 316, geft. 400) gewachſen war, und unter deren Schatten die bretagnifchen Prinzen jederzeit, ehe fie in die Kirche traten, zu beten pflegten. Niemand vermaß ih, auch nur ein Blatt derjelben zu brechen, und jelbit bie Vögel verjchonten deren ſüße rothe Beeren. Nicht jo normanniſche Seeräuber, von welchen zwei auf den Baum des heiligen Martin Eletterten, um Holz für ihre Bogen zu ſchneiden. Sie ftürzten aber herab und brachen fich das Genid.

Viele diefer alten heidniſchen Bäume wurden durch ein eingehauenes Kreuz geweiht und auf dieſe Weife vor der Art gerettet. Sole Bäume findet man namentlih in England, wo fie von altersher als Grenzmarken dienen; 3. B. die riefige jogenannte Grafihaftseiche „Shire Oak“, welche an der Stelle fteht, wo bie drei Grafjhaften York, Nottingham und Derby an einander ftoßen, und daher gleichzeitig drei Shires befchattet. Ihre Krone übertrifft jene der berühmten Kaftanie, „Cento cavalli* genannt, am Aetna, da unter ihren Zweigen zwei—⸗ hundertunddreißig Reiter Schuß finden können. Ein gleich berühmter Baum ift

Heilige Bäume und Pflanzen. 405

die „Crouch-oak, befreuzte Eiche“, bei Addleftone in der Grafſchaft Surrey, eine Grenzmarfe de3 königlichen Forſtes von Windjor, welche ihren Namen einem in alten Zeiten in die Rinde eingehauenen Kreuz verdankt. Durch das Kreuz wurden jolde Eichen nicht nur der Macht Wodan’3 und Thor's, jondern auch der Elben und anderer Kobolde entzogen, und fie gewährten Schuß gegen jeglichen böfen Spuf, ein Aberglaube, der über ganz Deutjchland verbreitet war. So erzählt Prätoriug (Anthropodemus Plutonicus, Magdeburg 1666), daß ein- mal einem Bauer, Namens Hans Krepel, al3 er auf einer Haide im Salzburgijchen Holz fällte, zur Mittagszeit ein Moosweiblein erſchien und ihn bat, er möge,. ehe er Abends heim gehe, in den legten Baum, den er ſchlug, ein Kreuzlein fchneiden. Da er e3 zu thun vergeffen, erichien ihm das Weiblein am folgenden Mittag abermal3 und ſprach: „Ach, lieber Mann, warum ſchnitteſt Du geftern nicht das Kreuzlein? Es wäre mir und Dir zu Frommen geweien. Denn Abends und Nachts verfolgt uns oft der wilde Jäger, und wir können ihm nur entkommen, wenn e3 und gelingt, einen befreuzten Baum zu erreichen, wo der Böfe feine Macht über und hat.” Der Bauer erwwiderte unwirſch: „Wie jollte das nüßen? Wie könnte das Kreuzlein euch Helfen? Ich will euch nicht zu Gefallen thun.” Da aber jprang das Mtoosweiblein zornig auf ihn und würgte ihn jo hart, daß ex ganz fiech wurde, obgleich wie mein Gewährämann Prä- torius Hinzufügt: „er ein derber Kerl war.”

Wie von alteräher, jo fand auch bis in neuere Zeit der Volksglaube allerlei Porbedeutungen in der Eiche, namentlich) in dem Farbenwechſel der Blätter. Das Suiacheantas (gäliich für Abzeichen) des königlichen Hauſes der Stuart wurde von den Hochländern deshalb für unglüdlich angefehen, weil e8 der Zweig einer nicht immergrünen Eiche war, eine VBorahnung, welche das Schickſal diejer Familie nur zu jehr bewahrheitete. Die frühere oder jpätere Blattentwicklung gilt noch jegt an manchem Ort als ein Wetterzeichen, und in England hat ſich ein alter Reimſpruch im Munde de3 Landvolkes erhalten, in welchem die Eiche dieſe Eigen- Schaft mit der Eiche theilt:

„If the oak ’s before the ash, Then you may expect a splash; But if the ash is ’fore the oak, Then you ınust beware of soak.“

Don dem Wenigen, was wir über die alten Druiden!) wiſſen, ift ihre hohe Verehrung für die Eiche und die darauf wachſende Miftel fichergeftellt. Die weiße Miftel (Viscum album L.) galt als ihr mächtigſter Talisman und wurde unter myſtiſchen Riten mit großer Teierlichkeit von ihnen in den Wäldern Gallien und Britannien eingefammelt. Sie galt für heilig, da fie vom Himmel auf die Aeſte hoher Bäume niedergefallen war. Jedoch lange vor druidiichen Zeiten begegnen wir der Miftel in der ſtandinaviſchen Mythe. Baldur, der Lieblichite der Götter, wurde durch einen Miſtelzweig getötet, nachdem Freyja allen Gejchöpfen der Erde den Eid abgenommen hatte, den ftrahlenden Lichtgott nimmer zu ver= ehren. Nur ein Kleines Pflänzchen, das oſtwärts der Walhalla ſproßte, hatte

!) Der Name ift aus den gälifchen Wörtern: de „Bott“ und ronyd „Iprechend“, dem PBarlicip des Zeitwortes: ronyddim „Iprechen” gebildet.

406 Deutſche Rundichan.

den Schwur nicht geleiftet; es wuchs nicht auf der Erde, jondern hoch auf den Baumgipfeln, und war jo winzig und unbedeutend, daß Freyja es überfehen hatte. Doch Loki, der Zerftörer, legte den vergeffenen Miſtelzweig in die Hand des blinden Hodr, welcher ihn auf Baldur fchleuderte, als die Götter zur Zeit der Winterfonnenmwende ſich ergößten, mit den von Freyja beeideten Geſchöpfen ſich gegenfeitig zu beiverfen; Baldur wurde von dem ſchwachen Ziweiglein durch— bohrt und ſank todt zur Erde. Diefe nordiſche Mythe erinnert an eine ähnliche PVerfiens, welche und das Epos Shah Nameh erzählt: Isfendiyar war gegen alle Dinge unverwvundbar, mit Ausnahme des Dorned von einem Baume, twelder am fernftern Meeresufer wuchs. Sein Feind Deftham (Ruftem) fand diejen Dorn, härtete ihn im Feuer und ſchoß ihn mit dem Bogen in das Auge des Helden, welchen ex aljo tödtete. Lebterer konnte nur durch feinen Bruder das Leben verlieren. Profefjor F. Mar Müller (Comparative Mythology, Oxford Essays 1856) erklärt beide Mythen dur den Tod der Sonne, welche in ihrer jugendlichen Kraft entweder am Ende des Tages dur die Mächte der Finſterniß übertältigt, oder am Schluffe der ſonnenerwärmten Jahreszeit dur den Dorn de3 Winters zu Tode getroffen wird. Manches Schwert nordiſcher Reden hieß Mistilteinu (ein Wort, welches wir in dem englifchen Mistletoe wiedererfennen) nad) dem verhängnißvollen Wurfgeſchoß, welches den Sonnengott fällte. Die Miftel beißt geheime Zauberkräfte und bannt böſe Geifter, daber fie in Wales zur Weihnachtszeit über die Thüren gehangen wird. In England dient fie mit der Stechpalme (Holly, Ilex aquifolium L.) und anderem Immer— grün zum Weihnachtsſchmucke dev Wohnungen und verleiht dem, der ein Mädchen unter dem weißen Beerenzweige betrifft, das Recht, fie zu küffen: ein Gebraud), welcher der nordiichen Mythe entjtammt. Als Baldur auf Verlangen der Götter und Göttinnen wieder zum Leben gerufen, nahm Freyja, als Göttin der Liebe, die verhängnißvolle Pflanze in Verwahrung, und jeder, der unter diefes Zweig— fein fam, erhielt einen Kuß zum Zeichen, daß die Miftel in Zukunft ein Sinn bild der Liebe und nicht des Todes ſei. Sonderbarer Weiſe jedoch ift die Miftel von dem zum MWeihnachtsfefte üblichen Pflanzenihmude der Kirchen ausgejchlofien "und fehlt auch in den Bildhauerzievathen alter ecclefiaftiicher Gebäude, wozu fi doc) ihre ſymmetriſche Geftalt bejonder3 eignen würde. Noch gegenwärtig birgt fi hier und da im Norden der alte Aberglaube an die Zauberkräfte dev Miftel; er knüpft fi) in Holftein an den Maerentakken, der dem Befiter die Gabe det Geifterfehens verleiht.

II.

Gleich der Eiche war die Ejche (Fraxinus L.) Gegenftand hoher Verehrung bei den Gelten und Germanen, beſonders aber bei den ſtandinaviſchen Stämmen, in deren religiöjer Mythe diefer Baum eine hervorragende Stellung einnimmt. Den nordiihen Völkern galt die Eſche, Askr Yagdrafil, als das Sinnbild dei Weltalls. Die Eiche, „Ast“, der größte und heiligfte aller Bäume, war der Weltenbaum, der, ewig jung und thaubenett, Himmel, Erde und Hölle verbindet. Seine Aeſte treiben duch die ganze Welt und reichen über den Himmel hinaus. Die Mittelwelt, Muitgard oder Mannaheim, ift der Aufenthalt der fterblichen Menjgen. Drei Wurzeln brechen ſich nad drei Enden: eine ſchlägt nad) den

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Heilige Bäume und Pflanzen. 407

Ajen, den Göttern im Himmel, in Asgard oder Banaheim; die andern nad) den Reifriefen, den Hrim-thurſen in Jötunheim oder Utigard, die dritte nad) dem Aufenthalte der fterblichen Mtenfchen. Unter jeder Wurzel quillt ein wunder— barer Brunnen: bei der himmlischen Wurzel der Udarbrunur, bei der jener Riejen der Mimirbrunur, und bei der höllifchen Wurzel der Hvergelmir, der raufchende uralte Kefjelbrunnen. Alle drei Brunnen find heilig, und alles, was fie benetzen, färbt ich eigelb. An dem Uxrdarbrunur fiten die Schiejalsgöttinnen, die drei Nornen Urdr, Verdandr und Skuldr, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ihöpfen jeden Tag Wafjer daraus und begießen die Aefte der Eiche. Den zweiten Brunnen hütet ein weifer Mann, Namens Mimir. Bon der Ejche träuft bienen- nährender Thau, Hündngfall, „Honigfall”, genannt. Auf den Neften und an den Wurzeln des Baumes fiten und ſpringen allerlei Thiere, ein Adler, ein Eichhörnchen, vier Hirſche und die Schlange. Der Adler, defjen Name ungenannt ift, Hug und vielwiſſend, fißt auf dem Wipfel, und mitten zwiſchen jeinen Augen fit der Habicht Vedrfülmr, des Adlers Freund. Die Schlange, Nidhöggr, Liegt unten beim Svergelmir, dem alten Kefjelbrunnen. Zwiſchen der Schlange und dem Adler hufcht das Eichhörnchen, Ratatöskr, auf und nieder und ſucht Zwiſt zu ftiften. Unter der Eiche auf einem Hügel beim Urdarbrunur, dem Born der Normen, fien die Götter und vertheilen die Lebensloofe und halten Geridt. Das Horn Giallr, mit welchem dereinft Heimdallr die Welt zum letzten Kampfe auf: rufen wird, liegt unter der Eiche Wurzeln begraben. Bei deſſen Schalle

„Yggdraſil zittert;

Doc fteht noch die Eiche.

Es rauscht der alte Baum,

Da ber Riefe frei wird.

Sie bangen Alle

An Hela’3 Banden

i Bevor fie Surtur's Flamme verichlingt.“ (Ebenda Volo Spä Eirophe XLIN in Simrod’3 Weberfegung.)

Zuleßt verbrennt Surtur den Baum, doc) er erneut fich wieder frifch und grün, und die Götter verfammeln fi) nochmals unter feinem Geäfte. Allerlei Deutungen diefer nordiſchen Mythe wurden verjudt. Der berühmte Ausleger der Edda, Finnur Magnuffen, (Edda Islandorum, 1665, und Lexicon Mytho- logieum 1787) hält den Adler für den Himmel oder die Luft, dad Eichhörnchen Ratatösfr für die bejtändig von der Oberfläche der Erde auffteigenden Dünſte ꝛc.

Die Eiche, welche die Stalden für das Sinnbild des Weltenbaumes wählten, findet fi) weiter gegen Norden als die Eiche. Sie ift der häufigfte Baum jen- jeit3 der Oſtſee, und ihr Holz diente zu vielerlei Zwecken, zu welchen die Nadel- bäume des Nordens nicht verwendbar waren. Die Helden der Saga verfertigten ihre langen Speerjchäfte und die Hefte ihrer Aexte aus Eſchenholz, aus welchem fie auch Häufig ihre Schiffe bauten. Es mag entweder Lebteres die Urſache gewejen fein, weswegen der gelehrte Biichof Adam von Bremen, welcher im 11. Jahrhundert lebte, die dänischen und norwegischen Vikings „Afcheman“ nennt, oder, weil, wie die Edda erzählt, die drei Söhne des Reifriefen Bure, Odin, Vili und Be, welche Herricher über Himmel und Erde wurden, den eriten Menſchen aus einem Eſchenklotz formten, den fie am Strande gefunden.

408 Deutſche Rundſchau.

Der Weltenbaum Yggdraſil war, wie die Edda berichtet, obgleich eine Eſche, doch ein immergrüner Baum, und es waren viele heilige Bäume über ganz Nord-Europa zerftreut, welche Sommer und Winter grün blieben, und gleich der Eiche hoch verehrt wurden. Ein folder Baum ftand nad; Beriht Adam's don Bremen dor einem großen Tempel in Upjala, und in Dithmarſchen, , jorafältig eingehegt, war ein gleich berühmter Baum, welcher auf myſtiſche Weiſe mit dem Schickſale de3 Landes verbunden war. Als Dithmarſchen jeine Freiheit verlor, verdorrte der Baum; aber eine Elfter, einer der vorzüglichften Weisfagungsvögel des Nordens, fam und niftete darauf und brütete fünf volllommen weiße Jungen aus, ein MWorzeichen, daß das Land dereinft wieder feine alte Freiheit gewinnen werde. Derlei immergrüne Bäume waren entiweder vereinzelte lex = Arten oder die verjprengte Quereus Cerris Südeuropa's (von Virgil im Georgica erwähnt), welche ihre alten Blätter noch lange behält, nachdem die neuen fich bereits ent: faltet, und daher den Nordländern für immergrün gegolten haben mag. Ein noch viel berühmterer Baum, der al immergrün befchrieben wird, der von Romow, im alten heidnifchen Preußen, war fihherlid eine Eiche.

Im Widerjprucd mit der alten Eddafage, nach welcher die Wurzel Pag: drafil’3 durch die Schlange Halb zerftört wurde, gelten die Blätter und das Holz der Eiche im nördlichen Europa für einen mädtigen Schuß gegen Schlangen und anderes Gewürm. In der römiichen Ausgabe de3 Claus Magnus findet fh im Abſchnitt: „Wie man zur Erntezeit Schlangen von Kindern abbält“, ein Holzſchnitt, welcher Kinder in ihren Wiegen an den Aeften großer Ejchen auf: gehangen darftellt, während die Mütter im Felde das Korn ſchneiden. „Schlangen,“ fagte Claus, „haben eine Abneigung gegen Eichen und vermeiden deren Nähe.“ Wenn man mit einem Eſchenſtab einen Kreis um eme Viper zieht, ſoll dieſe darin gebannt bleiben und nicht mehr heraus können.

Die nordiſchen Altertfumsforjcher meinen, daß der Lebensbaum Yggdrafil jederzeit feine nachfolgenden Vertreter hatte und noch habe, und wollen einen ſolchen namentlih in dem in den Büchern der Minnefänger jo viel befungenen Maibaume erkennen, welcher mit feinem bunten Bänderfhmude, Gewinden und Vogeleiern in manden Gegenden fi noch erhalten hat; ferner im Weihnachts- baume, der nad) des gelehrten Isländers Finnur Magnuffen’3 Anficht in gerader Linie von der Weltenejche abftammt, und an den deſſen ſämmtliche als Zierath an ben Aeſten hängende Attribute, Adler, Eichhorn, Hirſch u. j. w. erinnern. Inwiefern diefe Annahme berechtigt, bleibe hier unerörtert; gewiß ift jedoch, daß die Erinnerungen an Yggdraſil nicht nach der Einführung des Chriftenthums ſchwanden und in merkwürdiger Weife mit manchen leberlieferungen über den Baum des Kreuzes im Mittelalter verquickt wurden.

Eilif, ein norwegischer Stalde, welcher vor jeiner Belehrung ein Diener Thor's geweien, jpriht, wie Finnur Magnuffen erwähnt, alſo von Chriftus: „Sie lehren, er fit auf einem Berg, füdbwärts von Urdr's Born; fo ift denn unbegrenzt die Macht des getwaltigen Königs der Götter Roms (d. i. der Engel)“. Eilif, noch ein halber Heide, ſetzt in feinen Verſen den Erlöſer auf denielben Hügel am Urdarbrunur, auf dem Thor und feine Brüder Urtheil ſprachen: „dömr qvidr* ein Beispiel zum Belege, wie willig ſich die Bilder des alten

Heilige Bäume und Pflanzen. 409

Glaubens dem Wechjel der neuen Lehre liehen. Die in Eilif3 Worten aus— geſprochene Rückbeziehung auf die Welteneiche betwahrte fi) noch lange, wie mehrere Gedichte des Mtittelalter3 bezeugen, welche Jakob Grimm in feiner deutjchen Mythologie aufführt. „Der Baum des Kreuzes” ift die Löjung des Räthſels, welches ein Sänger des Wartburgfreuges in feinem Liede aufgibt:

„Ein edel boum gewahsen ist

in eine garten der ist gemacht mit höher list,

Sin wurzel kan der helle grunt erlangen,

sin tolde rüeret an den trön.

da der süeze Got bescheidet vriunde lön;

sin este breit hänt al diu werlt bevängen,

der boum an ganzer zierde stät und is geloubet schoene,

dar üfe sitzent vogelin,

süezes sanges wise näch ir stimme fin,

näch mäniger kunst haltents ir gedoene.*

Der Weltenbaum der nordiihen Sage wurde Hier zum MWeltenbaum des

Chriſtenthums; als jolcher erſcheint er auch in den althochdeutichen Verſen:

„Ihes krüzes horn thar obana thaz zeigot hf in himila,

thie arma jöh thio henti zeigent woroltelti,

ther selbo mithilo boum ther scowöt thesan woroltfluom,

—J theiz innan erdu stentit,

mit thiu ist thar bezeinit theiz imo ist algemeinit

in erdu jöh im himile inti in abgrunte ouh hiar nidare.“ („Des Kreuzes Spitze dort oben zeiget nach bem Himmel, die Arıne und die Hände zeigen die Welt: grenze; berfelbige Mittelbaum jucht den Weltenftrom, der in der Erde entfteht; damit ift gedeutet, daß es allenthalben ift auf Erden und im Himmel, unten in ber Hölle aud) hier unten.“)

Hier iſt das Kreuz als Weltenbaum mit beinahe denjelben Worten gejchildert wie fie die Deutung enthält:

„Nam ipsa crux magnum in se mysterium continet, cujus positio talis ut, est superior pars coelo petat, inferior terrae adhaereat, fixa infernorum ima contingat, latitudo autem ejus omnes mundi partes appellat.“ (%. Grimm aus: „De divinis officiis“.) („Denn das Freuz felbft birgt ein groß Geheimniß: feine Stellung ift eine ſolche, daß der obere Theil den Himmel berührt, ber untere in der Erde wurzelt, feine Befeftigung in den Grund der Hölle reicht, feine Weite aber alle Theile biefer Welt umfaht.“)

IV.

Die geihichtlihe Wahrheit der Kreuzfindung durch die Kaijerin Helena im Jahre 326 ift nicht erhärtet. Als gewichtigfte Widerlegung mag das Schweigen des Euſebios Pamphili, Biſchofs von Caeſarea (geb. 270, geft. 340), eines Zeit- genofjen, gelten, welcher einer für die Gläubigen jo belangreichen Begebenheit fiherlih erwähnt hätte. Es ift jedoch erwieſen, daß ein Kreuz, welches vorgeblich da3 de3 Erlöſers geweſen fein joll, während des Bisthums des heiligen Cyrillus (geb. 350, geft. 386) in Jerufalem öffentlich ausgeftellt und verehrt wurde. Es war um jene Zeit, und wahrſcheinlich als natürliche Folge der durch dieſe wunderbare Auffindung angeregten Begeifterung, daß über den Urſprung des Kreuzbaumes ſich allmählicd die im Mittelalter allgemein geglaubte Legende zu bilden begann, welche in ihrer weiteren Entwidlung ältere Ucberlieferungen in fi aufnahm, namentlich die, dat Adam nad) der Vertreibung aus dem Paradieſe feinen Wohnfig in der Umgebung von Hebron aufjchlug. Diefe Sage findet ſich

410 Deutiche Rundſchau.

mit geringfügigen Abweichungen in allen Legendenbüchern des Mittelalters, namentlich in der Legenda aurea des Jacopo de Voragine (geb. 1236 in PVorazze bei Genua, Erzbiſchof dieſer Stadt). Trouvères und Troubadours machten dieſe Sage zum Vorwurfe ihrer Dichtungen. Die Legende wurde gleichfalls in zahl reihen Glasgemälden, Tapetengerveben und Wanbbildern dargeftellt, Berühmt find die Fresken des Agnolo Gaddi (geb. 1324, geft. 1387) im Chor von Santa Groce in Florenz und die des Piero della Francesca da Borgo San Sepolcro (auch Pietro Borgheje genannt, geb. 1398, gejt. 1484) im Chore von San Francesco in Arezzo, in welchen die ganze Kreuzlegende in einer Reihe von Bildern vorgeführt wird.

Die Legende in ihrer vollftändigen Form lautet: „Al Adam, welcher nad) feiner Vertreibung aus dem Garten von Eden im Thale von Hebron das Feld im Schweiße jeined Angefichtes bauete, in jeinem neunhunbdertunddreißigiten Lebensjahre das Ende nahen fühlte er hatte nad jüdischer Tradition auf fiebzig Jahre zu Gunften feines Nachkommen David verzichtet ſendete er jeinen Sohn Seth zur Pforte des Paradiefes, um von deſſen Wächter, dem Engel, der da hieß Cherubim, das Del der Gnade zu exbitten, welches Adam verjproden worden, al3 ihn Gott der Herr aus dem Garten gelaſſen. Seth begab fich daher auf die Reife und fand den Weg dahin, durch die Fußtapfen Adam's und Eva's geleitet, über welchen kein Gras mehr gewachjen, jeit fie aus dem Paradieje nad Hebron gewandert waren. Nachdem der Engel die Botichaft vernommen, befahl er Seth, jemjeit3 der Pforte in den Garten zu ſchauen und ihm zu berichten, wa3 er da jähe. Und Seth jah einen Garten von wunderbarer Herrlichkeit und Schönheit, und darin war ein Born, deſſen Strom neßte den Garten und theilete fich dajelbft in vier Hauptwafjer. Und am Rande des Borns ftand ein mächtiger Baum mit weit fi breitendem Geäfte, aber aller Rinde und Blätter bar. Hierauf befahl der Engel dem Seth, abermals zu ſchauen, und da jah Seth eine Schlange, die fih um den Baum gewunden; und als er auf de3 Engels Geheiß ein drittes Mal jchaute, jah er, daß der Baum emporgewachſen war, bis der Gipfel den Himmel berührte, und darob ein Kindlein ſaß, im glängender Ge mwandung. „Diejes Sindlein,“ ſprach der Engel, „wird Adam das Del der Gnade geben, wenn die Zeit gekommen.“ Unterdeſſen gab der Engel dem Seth drei Samen von der Frucht des Baumes, von welcher Adam gegeffen. Dieſe Samen jolle Seth in Adam’3 Mund legen, che ex ihn begrabe: drei Bäume würden daraus erwachſen, eine Eeder, eine CHpreffe und eine Föhre.

„Und es geſchah, twie der Cherubim verheißen: drei Bäume, eine Geder, eine Cypreſſe und eine Föhre wuchſen aus dem Samen neben einander im Thale von Hebron, an jener Stelle, wo Adam wieder zum Erdenfloß geworden ward. Und diefe Bäume find das Sinnbild der heiligen Dreifaltigkeit, ſowohl wegen ihrer Dreizgahl, als auch wegen der jedem Einzelnen innetvohnenden Tugend. Aus einem diejer Bäume verfertigte Noah das Ruder jeines Kaftend. Moſes, dem die wahre Natur diefer Bäume geoffenbart worden war, hub fie forgfältig aus und nahm fie mit ſich während der vierzig Jahre feiner Wanderung durch die MWüfte und pflanzte fie auf der Höhe Pisgah, in einem geheimnißvollen Thale, das da heißt Comfrafort (Comfort, Wallis Conſolationis). Von einem dieler

Heilige Bäume und Pflanzen. all

Bäume jehnitt er den Stab, mit welchem er den Fels in Horeb jchlug, um das Volk zu tränfen, von dem andern war Aaron's Steden, der grünte David brachte auf Jehovah's Geheig die Bäume von Comfrafort nad) Jerufalem und pflanzte fie in der Nähe feines Thurms an einen Brunnen, wo fie in der Nacht Wurzel ſchlugen und fi zu einem Stamme vereinigten. Als David am andern Morgen den Dreibaum fand, umgab er ihn mit einer Mauer und behing die Zweige mit koftbaren Steinen. Inter deffen Schatten dichtete David die Pjalmen und weinte über feine Sünden. Salomo Tieß den Baum ungeachtet jeiner Schönheit fällen, um jeinen Tempelbau zu vollenden; denn es fehlte ihm nod) ein einziger Balken von folder Länge, wie fie fein anderer Baum geben konnte, ALS aber diefer Balken, welder dreißig Ellen (630 Zoll) lang war, gerichtet werden jollte, da war er bei jedem Verſuche entweder zu lang oder zu kurz, und diejes Wunder wurde als ein Zeichen erkannt, daß der Balken nicht aljo ver- wendet werden dürfe. Darum wurde diefer Balken ehrfurchtsvoll im Tempel verwahrt. nd da geichah es eines Tages, daß eine Frau, Namens Dtarimilla, fih an den Balken lehnte und ihre Kleider in hellen Flammen aufloderten und fie vom Geifte der Weisjagung erfüllt, ausrief: „Jeſus Chriſtus, Sohn des alleinigen Gottes, Hilf mir!” Die Juden aber, welche ihren Ruf vernahmen, hielten fte für bejefien und vertrieben fie aus der Stadt. Alſo ward Marimilla, berichtet die Legende, die erfte Märtyrerin für unfern Herrn, Jeſus Chriftus.“

Dies iſt der Anhalt der verbreitetften Legende. Eine andere, welche die von Fauriel (Histoire de la Poesie Provencale. I, 263) angeführte provencgaliiche Ueberlieferung wiedergibt, erzählt, daß der Baum, weil er zum Balken für den Tempel zu kurz war, als unnüß in den Bad Kedron geworfen wurde, über den er als Steg dienen jollte. „AB Magueda (oder Balkis nah dem Koran), die Königin von Saba, nad) Jeruſalem kam, um die Weisheit Salomo’3 zu jchauen, und über den Bach fchreiten twollte, jah fie in einem Geſichte, wie der Welten- erlöjer an diefem Baume Bing; daher fie fich weigerte, denjelben mit den Füßen zu berühren, und fie fiel davor auf die Knie, um ihn zu dverehren. Salomo ließ den Baum auf Bitten der Königin mit Gold» und Silberplatten zieren und im Tempel aufbewahren. Nach der Plünderung des Tempel wurde diefer Baum, wie alle Legenden übereinftimmend berichten, in die Erde vergraben an jener Stelle, wo man jpäter den Teich von Bethesda („Heil- oder Gnabdenort”, jet Birket Israel) grub, und es war nicht allein, weil „ein Engel fuhr herab zu feiner Zeit und bewegte das Waſſer“ (oh. 5, 4), jondern vielmehr der Tugend des darin vergrabenen Holzes wegen, daß das Waſſer desjelben wunderbare Heil- fraft befaß. Und am Tage des Leidens unferd Herrn tauchte der Baum von jelbft in die Höhe und ſchwamm auf dem Waller. Da nahmen ihn die Juden auf Befehl des Hohen Priefterd und zimmerten da3 Kreuz daraus, an das fie unjern Heren ſchlugen. Nach der Kreuzigung wurde das Kreuz Chrifli zugleich mit den Kreuzen der beiden Mörder am Salvarienberg vergraben, an jener Stelle, wo jich jpäter ein zur Zeit Hadrian’3 erbauter Tempel der Venus erhob.

Drei Jahrhunderte verfloffen, ohne daß des heiligen Kreuzes gedacht wurde, bis das Zeichen desjelben mit der Umſchrift: „In hoc signo vinces“ dem Kaifer Gonftantin erfchien, al ein Geficht am Himmel vor der Schlat an der milvischen

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Brüde von Rom, in tvelcher er den Sieg über Maxentius erfocht (29. Oct. 312) oder, wie eine andere Legende befagt, al3 Traumbild in der Nacht vor einer entjeheidenden Schlacht gegen die Barbaren an der Donau. Conftantin wurde in Folge diejer wunderbaren Mahnung Chrift und fandte feine Mutter Helena nad Serufalem, um das heilige Kreuz zu juchen. Als die Ankunft der Katjerin befannt wurde, wunderten fich die Juden, bis Einer, Namens Judas, verfündigte, fie käme, um da3 Kreuz zu finden, denn jein Großvater Zaccheus habe jeinem Vater Simon diejes Ereignig prophezeit; Chriftus, den fie qefreuzigt hatten, jei der wahre Gott, und Chrifti wegen hätten fie den Stephanus gefteinigt, der ein Bruder war feines Vaters Simon. Da bdrohten die Juden dem Judas und warnten ihn, nicht3 zu verrathen, und al3 Helena fam, leugneten fie alle Kenntniß des Mreuzes. Und fie überlieferten den Judas der Kaiferin, welche ihn, da er nichts ausjagen wollte, bis zum Halje vergraben ließ. Als er endlich am ſechſten Tage geftand, wurde er aus der Grube gezogen und auf den Kalvarienberg ge führt. Da gruben fie nad) und fanden drei Kreuze. Das Wunder der Erweckung eines Zodten zeugte für das wahre Kreuz. Delena ließ den Tempel der Venus zerftören und an deſſen Stätte eine Kirche erbauen (die Kirche des heil. Grabes), in welcher fie eine Hälfte des heiligen Kreuzes niederlegte, während fie die andere mit fi nad) Conftantinopel nahm. Judas empfing fofort die Taufe und wurde in ber Folge Biſchof von Jerufalem, unter dem Namen St. Quiricus. Und dreihuindert Jahre jpäter eroberte der Perſerkönig Kosru IL, der Saflanide, welcher fich zum Herrn von ganz Syrien und Sleinafien gemacht hatte, Jeruſalem und raubte da3 heilige Kreuz. Vierzehn Jahre blieb es in den Händen der Un— gläubigen, bis im Jahre 628 der Kaiſer Heraflios nad) feinem Siege über die Perſer und dem Tode Kosru’3 e3 wieder nach Jerufalem zurückbrachte. Als der Kaifer an der Spibe jeines Heeres, da3 Kreuz von Soldaten vor ſich her tragen lafjend, im Triumphe feinen Einzug Halten wollte, jchloffen ſich vor ihm von jelbft die Thore, und eine Stimme wurde vernehmbar: „Nicht alfo, jondern in Demuth und Erniedrigung trug der Herr das Kreuz!" Da ftieg er vom Pferde und nahm entblößten Hauptes und barfuß das Kreuz auf die Schultern. Worauf die Thore fich wieder von jelbft öffneten und Heraklios zerknirſcht und demüthtg in Jeruſalem einzog.“

Die Gedächtnißtage an dieje beiden Ereigniffe werden von der katholiſchen Kirche ala die Feſte der Hreuzesauffindung: „Inventio erueis“ am 3. Mai, und der Sreuzeserhöhung: „Exaltatio erueis* am 14. September gefeiert.

Dies ift die wunderbare Legende, welche im Mittelalter allgemein verbreitet und geglaubt war, deren allmäligen Aufbau zu verfolgen, ſowie die Zeit ihrer erften Einführung in Guropa zu beftimmen, wir verzichten müfjen. Die Fuß— tapfen Adam's, welche jeither kahl geblieben, werden noch heutigen Tages auf dem Berge Gerizim gewieſen. Nach einer andern, ſehr alten Legende, wahr: icheinlich älter als die oben mitgetheilten, wurde das Kreuz felbft im Grabe Adam's gefeftigt und deffen Schädel zu Tage gebracht, ald man Erde aufgrub. Aehnliche Meberlieferungen, welche in der Nachbarſchaft von Hebron fortlebten, fcheinen in die jpäteren Legenden vertvoben tworden zu jein. Der Baum „aller Rinde und Blätter bar“ dürfte ſich auf jene merkwürdige Eiche beziehen, welche

Heilige Bäume und Pflanzen. 413

Sir John Maundeville, der 1341—42 Baläftina bereifte!), aljo bejchreibt: „Und nicht weit von Hebron ift der Berg Mamre, nad weldem da3 Thal genannt wird. Und dort fteht eine Eiche, welche die Sarazenen Dirpe nennen, die noch aus Abraham’ Zeiten ftammt, und die Leute nennen fie den dürren Baum. Sie jagen, fie ftünde dort bereit feit dem Anbeginne der Welt, und daß fie früher grün gewejen fei und Blätter getragen habe bis zur Zeit, al3 der Herr auf dem Kreuze für uns ftarb, und jeitdem ift fie dürre, denn alle Bäume, welche damals auf der Welt waren, verdorrten zur Stunde. Und da ift eine Weisſagung, dag ein Prinz aus dem Abendlande dereinft das gelobte Land, welches ift da3 heilige Land, mit Hülfe der Chriften gewinnen würde, worauf diefer Baum twieder grünen und Blätter und Früchte tragen werde. Und durch diejeg Wunder würden viele Sarazenen und Juden zum Chriftenthume befehrt werden. Ind darob wird diefer Baum in großer Verehrung gehalten und gar jorgjam behütet. Und obwohl ex dürre ift, befit ex doch große Tugenden, denn wahrhaftig, wer noch jo wenig von diefem Baume befttt, wird von der fallenden Sucht genejen, und jein Pferd wird nicht lahmen, und der Baum hat noch viele andere Tugenden, ob welcher ex jo hoch geſchätzt wird.” Diejer dürre Baum ift ohne Zweifel jene Eiche „aus der quten alten Zeit” rn» Ayuyırw nalöv uewev deö»*, deren Joſephus Flavius (geb. 37 n. Chr., geſt. 93) gedenkt, und melche al3 die lehte der Eichen im Hain Mamre, beſonders der Erinnerung an Abraham geweiht ift. Nach einer jpäteren Tradition entftand diefe Eiche aus dem Stabe einer der Engel, welche Abraham bewirthete, und die ftet3 grün geweſen, obgleich fie zu Zeiten in Flammen ausbrach. Lipſius (geb. 1547, geft. 1606), Gretjer u. A., welche ben Beweis zu führen juchen, daß das Kreuz des Herrn aus Eichenholz gezimmert war, ftühen ſich auf die heilige Verehrung, mit der die Kirchenväter bisweilen die Eiche von Mamre erwähnen. Der Glaube de3 früheren Mittelalterd bezog ſich offenbar auf jene Bäume, welche aus den drei Samen, die Seth vom Cherubim erhalten hatte, gewachſen waren, und wenn alte mönchiſche Verſe vier Holzarten de3 Kreuzes nennen: „In cruce fit palma, cedrus, cypressus, oliva,“ jo wird die Tafel der Ueberſchrift zugerechnet, twie folgende Verſe befagen: „Pes crucis est cedrus; corpus tenet alta cupressus; Palma manus retinet, titulo laetatur oliva.*

Beda, genannt Venerabili3 (geb. 672, geft. 735), baut das Kreuz gleichfalls aus vier Holzarten, von welchen die Cypreſſe den Balken, die Ceder das Quer-

) Sir John Maunbenville, geb. in St. Albans in Hertfordihire in England anfangs bes vierzehnten Jahrhunderts, trat feine ausgedehnten Reifen durch Europa, Afien und einen Theil Afrika's im Jahre 1322 an, und kehrte nach zweiunbbreikigjähriger Abwejenheit 1354 in jein Baterland zurüd, wo er 1356 fein Reifewerf, welches er in franzöfiicher Sprache geichrieben, vollendete. Er jchildert darin die verjchiedenen Länder und Sitten, indem er Selbfterlebtes und wunderbare Berichte gibt, welche er von Augenzeugen gehört zu haben vorgibt, in der That aber Plinius dem Welteren, Marco Polo und dem Franciskaner Oderich entlehnte. Er farb am 17. November 1371 in Lüttich und wurde in der Abtei „des Guillamites“ beftattet. Die einzige, dem franzöfiichen Manufcripte getreue Meberfegung: „Travels of Sir John Maundeville*, wurbe 1725 durch bie Cottonian Library (British Museum) veröffentlicht, in neuer Ausgabe 1839, von welcher, mit Weglaſſung der fabelhaften Berichte, ein Abdrudf in: „Early travels in Palestine*, in Bohn’® „Antiquarian Library“ (Henry ©. Bohn. London, 1848) erfchienen ift.

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hola, die Föhre den Kopftheil und der Buchsbaum da3 Suppedaneum (Fußſtütze bildeten. Nach dem apofryphen Evangelium des Nicodemus war das Kreuz aus zwei Holzarten, der Palme und der Olive, zufammengejeßt, eine Angabe, welde im Mittelalter als orthodor galt und nad) der noch jeßt die koftbareren Grucifire verfertigt werden. Der heilige Chryjoftomus (geb.347, geft. 407) erwähnt nur dreier Hölzer, fi auf die Worte Jefaiae (60, 13) beziehend: „Die Herrlichkeit Libanon’s foll an dic) fommen, Tannen, Buchen.und Buchsbaum mit einander, zu ſchmücken den Ort meines Heiligthums; denn ich will die Stätte meiner Füße herrlich machen.“

Aus welcher Holzart das Kreuz geweſen, möge jomit eine offene Trage bleiben; wir nehmen die Angaben de3 Lipfius als entjcheidend an, daß die Hol: ftüde, welche zu feiner Zeit als Reliquien des heiligen Kreuzes gezeigt wurden, Eichenholz geweſen. Die Bewersführung des Lipfius ift folgende: „Woraus war das Kreuz? Aus irgend einem vorfindigen und zur Hand liegenden Holze. Und woraus das unſers Erlöfers? Wir meinen aus der Eiche: erftend weil glaub— würdige Männer die Stückchen jenes heiligften Holzes, die heute noch vorhanden find, diefer Art zufchreiben; dann, weil jener Baum in Judaeg einjt gewöhnlich und häufig war und es noch jeßt ift; drittens, weil jenes Holz ſtark und zum Anheften und Tragen geeignet iſt. .... Wenngleich Schriftfteller einer früheren Zeit dreierlei oder viererlei Arten von Holz im Kreuze des Herrn annehmen, fo halten wir dies mehr für einen abjonderlichen, als für einen wahren Ausſpruch“!).

Die Legende, welche die Zitterefpe (Populus tremula L.) al3 de3 Baumes erwähnt, aus dem das Kreuz gezimmert war und deſſen Blätter jeitdem beftändig erbeben, ift jüngeren Urſprungs und nur auf beftimmte Gegenden bejchräntt. Diejes Zittern ift, wie in manchen Theilen Deutjchlands die Sage geht, die Strafe für den Hochmuth dieſes Baumes, welcher verweigerte, fi vor dem Heiland zu neigen, wie e8 alle anderen Bäume ehrfurchtsvoll thaten, als diefer einftmal3 durch die nordiichen Wälder wandelte. Dieſe Legende erinnert an die wunderbare Palme im apofryphen Evangelium der Kindheit Jeſu, welche bie Krone neigte, um ihre Früchte der Jungfrau zu bieten, als dieſe unter ihrem Schatten Raft hielt, und die durch das göttliche Kind mit den Worten gelohnet wurde: „Erhebe dein Haupt, o Palme, und fei du Gefährte der Bäume, die da find im Paradiefe meines Waters.“

Noch beſchränkter als die Ejpenlegende, und kaum weiter verbreitet ala in den mittleren Grafichaften Englands, war die Sage, daß der Hollunder das Holz für das Kreuz geliefert Hatte, daher in jenen Gegenden das Reifig dieſes Baumes nicht in Bündel für Brennholz gebunden oder zu anderem geringem Gebrauche verwendet wurde.

!) E qua materia crux? Ex obvio et prompto aliquo ligno. E qua nostri Salvatoris® Censemus e quercu. Primum quia viri fide digni asserunt frusta sacratissimi hujus ligni qua hodie extant, speciem hanc referre. Tuni quia rebra et freguens in Judaea olim et nunc quoque illa arbor. Tertio quia robustum lignum, et fixioni laturaeque aptum .... Nam quod superioris aliquot aevi scriptores tria aut quatuor genera ligni in cruce dominica agnoscunt, curiose magis dietum arbitramur quam vere. (Gustus Lipsius: De Cruce I. IN. cap. 13.)

Heilige Bäume und Pflanzen. 415

Dies ift um jo merfwürdiger, als der Hollunder im Mittelalter in böjem Rufe ftand, weil Judas Iſchariot an einem ſolchen Baume ſich erhentte. Diejer Hollunder, welchen Maundeville: „tre of eldre* nannte, durch diefe Bezeichnung die alte Volksſage des Weſtens beftätigend, wurde noch zu feiner Zeit (1341—1342) gezeigt: „Unter dem Berge Sion, gegen das Thal von Jehojaphat zu, iſt ein Brunnen, der Natatorium Siloae (dev Teih) von Siloah) heißt, darin unſer Herr nad feiner Taufe fi) wuſch, und wo er den Blinden jehend machte. Bier ift auch der Prophet Jeſaia begraben. Nahe am Natatorium Siloae ift ein Steinbild von alter Arbeit, welches Abjalom errichten ließ, darob es die „Hand des Abjalom“ genannt wird. Und knapp daneben fteht noch der Hollunderbaum, an dem fi) Judas in Verzweiflung erhentte, weil er unfern Herrn verkauft und verrathen Hatte.”

Die im Mittelalter allgemein verbreitete Volksſage, welche den Hollunder- baum mit dem Selbftmorde des verzweifelnden Judas in Verbindung brachte, erflärt jo mandjen an diefem Baume haftenden Aberglauben, welcher jedoch ohne Zweifel dem Heidenthume de3 Nordens entftammt und noch heute in Dänemarf, Holftein und Friesland fortlebt. Gar unheimlich ift’3, den Hylde-trae (Attich, Sambueus ebulus L., alth.: holluntar: niederj.: ellhorn oder ellorn) am Waldes- rande zu fchauen, wenn im Abendſchummer feine großen weißen Blüthendolden gleihjfam zu leuchten jcheinen. Der Baum jteht unter bejonderem Schuße der Hylde-moder, und e3 iſt gefährlich, ohme Bittſpruch Zweige oder Blüthen von ihm zu brechen. Auch wird fein Hausrat aus Hollunderholz verfertigt, am wenigften aber die Wiege, denn da würde Frau Ellhorn dem Kindlein die böfen Gichter bringen oder gar es im Schlafe erwürgen.

V

Seit den früheſten Zeiten der Ausbreitung des Chriſtenthums wurden, be— ſonders im nordweſtlichen Europa, Bäume und Blumen, welche ehedem heid— niſchen Gottheiten geweiht geweſen, mit Ereigniſſen des Lebens und Leidens Chriſti verknüpft, wie auch manche Thierlegende daran in ſinniger Weiſe ge— mahnet. So ſollen die Blätter einer Orchis, der gefleckten Ragwurz (Orchis maculata L.; in der engliſchen Grafſchaft Cheſhire „Gethſemane“ genannt), welche am Fuße des Kreuzes wuchs, von den herniederträufelnden Blutstropfen des Erlöſers für immerdar die dunkelrothen Flecken erhalten haben. Eine ähn— liche Legende erklärt auch den Urſprung der rothen Zeichnungen an der weißen Blüthe des gemeinen Sauerklees (Oxalis acetosella L.), welchen die alten italieni— fchen Maler, bejonders Fra Giovanni Angelico da Fieſole (Santi Tofini, geb. 1387, geft. 1455), im Worgrunde ihrer Kreuzigungen anzubringen liebten. Das dreizählige Blatt derjelben Pflanze, deffen, ſowie des Kleeblattes, der heilige Patrik, der Apoftel und Schubpatron Irlands fich bedient hatte, um die Lehre der göttlichen Dreifaltigkeit zu veranjchaulichen, mag die italienischen Künſtler veranlaßt haben, in gleicher Abficht den Sauerflee, welcher merkwürdigerweiſe in Italien auch „Alleluia* genannt wird, in ihre Bilder aufzunehmen, um durd) den Blumenſchmuck die göttlichen Eigenschaften des Gekreuzigten au verfinnbilden.

Das Rothfehlchen, welches in der Bretagne „Jean le gorge rouge“ genannt wird, trägt die Blutmarfe an Kehle und Bruft, ſeit es ſich vergeblich bemüht

416 Deutſche Rundſchau.

hatte, die Dornen aus der Krone des Heilandes zu entfernen; aus gleicher Urſache iſt der Schnabel des Kreuzſchnabels verbogen, denn all' ſeine Anſtrengung war erfolglos, die Nägel aus den Wunden des Erlöſers zu ziehen.

Hier ſei einer bezüglichen Vogellegende gedacht, wie ſie der Volksmund in Dänemark erzählt:

„Es war an jenem ſchrecknißvollen Freitage, als unſer Herr in Todespein am Kreuze hing. Und es war um die ſechſte Stunde, und es ward eine Finſterniß über das ganze Land, bis an die neunte Stunde; und die Sonne verlor ihren Schein. Da kamen drei Vögel geflogen vom Aufgange gen Untergang und er reichten die verruchte Stätte von Golgatha. Zuerſt fam Vibe, der Kibitz, und als er jah, was da verbrocdhen, umflog er das Kreuz und Freiichte mit böslichem Rufe: „Pin ham! pin ham! Peinigt ihn! peinigt ihn!” Darum ift der Sibik für ewig verfludht und findet nimmer Ruhe noch Raft. Er ift verdammt, fein Neft immer in angftvoller Klage zu umfreifen, denn feine Eier auf dem Moos werben ftet3 geraubt. Nach dem Kibitz kam Storf, der Storch, und bejammerte und beflagte die Unthat. „Styrk ham! styrk ham! Stärft ihn! ftärkt ihn!“ lautete fein dringendes Mahnen. Deshalb ift der Storch gejegnet und überall willftommen, two immer ev ſich niederläßt, und jein Neft auf dem Firſte bleibt bewahrt und behütet. Zuleßt erſchien Svale, die Schwalbe, und rief, als fie gewahrte, was da GEntjeßliches geichehen, mit flehender Bitte: „Sval ham! sval ham! Labet ihn! labet ihn!” Darum wird die Schwalbe von Allen geliebt, und ſicher baut fie ihre Neft unter dem Dache der menſchlichen Behaufung, qudt vertraulich durch das Fenfter und nimmt Antheil an dem ftillen Glüd des friedlichen Heims. Ungeftört und beſchützt wohnt fie im ftolzen Palaft wie in ber ärmften Hütte.“

In der gleichlautenden ſchwediſchen Legende gejellte fich noch ein vierter Vogel zu ben dreien. Es war Turtur duva, die Turteltaube, die fich aufs Kreuz nieder: ließ und mit angſtvollem Entjegen ftöhnte: „Kurrie! Kurrie Leison! Her! Herr, exrbarme di!" Und feit jener Zeit ward fie nimmer wieder froh und fliegt in zaghaften Bangen durch die Wälder mit ſtets gleich wehevoller Klage.

Don allen Pflanzen war es der Weißdorn oder Hagedorn, Auböpine (Crataegus Oxyacantha L.), welcher jeit älteften riftlichen Zeiten, namentlid im nordweſtlichen Europa, mit dem Leiden de3 Herrn in Verbindung gebradt wurde; denn es beftand der allgemeine Glaube, daß die Dornenkrone aus joldem gewunden war, was jedoch wegen des Fehlens dieſes Strauches in Paläftina un möglich der Fall gewefen jein konnte. Wohl aus diejer befonderen Urſache wurde der Hagedorn ehemals jo häufig an Kloftermauern gepflanzt, wofür defjen üppige: Wachsthum nahe diefen alten Ruinen noch heutzutage zeugt.

Bezüglich der Dornenkrone berichtet der bereits erwähnte Paläftinareifende Sir John Maundeville: „Denn Ihr follt wiſſen, daß unſer Herr Jeſus in der Nacht, als fie ihn gefangen nahmen, in einen Garten geführt und dort har verhört wurde. nd die Juden verfpotteten ihn und machten eine Krone aus den Zweigen ber Aubépine (des Weißdorns), welche in felbigem Garten wuchs, und drücken fie auf fein Haupt, jo feft und fo tief, daß das Blut herniederrann über fein Antliß, den Hals und die Schultern. Und darum hat der Weißdorn

Heilige Bäume und Pflanzen. 417

der Tugenden viele, denn wer davon ein Zweiglein an ſich trägt, den können weder Donner no Blitz jchädigen, und fein böjer Geift kann in ein Haus hinein, oder in irgend einen Pla, wo folder aufgehangen ift. Und in jelbigem Garten verleugnete der heilige Peter dreimalen jeinen Meiſter. Nachher wurde der Herr vor die Biſchöfe geführt, und vor die Schriftgelehrten in einen anderen Garten, der dem Annas gehörte, und auch hier wurde er befragt, gejcholten und veripottet und abermal3 gefrönt mit einem weißen Dorn, der Barbaryne (Berberite) heißt, und in diefem Garten wuchs, weshalb er gleichfalls viele Tugenden befift. Und dann twurde er in den Garten des Kaiphas geführt und da mit weißen Eglantines (Hagerofen) gekrönt. Und hierauf führten fie ihn in die Halle bes Pilatus, und dort wurde er nochmal3 verhört und gekrönt. Und die Juden jeßten ihn auf einen Stuhl und beffeideten ihn mit einem Mantel, und hier machten fie eine Krone aus Jones marines (Stechginfter) und knieten vor ihm und verhöhnten ihn und riefen: „Heil! König der Juden!“ Und die Hälfte diefer Krone ift in Paris (in der Sainte Chapelle) und die andere Hälfte ift in Conftantinopel. Und Chriſtus trug dieje Krone auf feinem Haupte, ala fie ihn ans Kreuz jchlugen, und darum müſſen die Menfchen fte Heilig halten und höher jchäßen al3 irgend eine andere Krone in der Welt.“

In diefem Berichte Maundeville'3 finden wir verjchiedene Ueberlieferungen wunderlich vermifcht. Nach dem in Nordeuropa allgemein verbreiteten Glauben war die Krone, wie bereit3 erwähnt, aus Weißdorn, deſſen ſüßer Duft die Luft erfüllte, al3, wie eine alte Romanze erzählt, die heilige Dornenkrone in Paris von Neuem erblühte, während der fiegreiche Kaiſer Karl der Große betend vor ihr auf den Anieen lag. Der Weißdorn wird überall vom Volke hochgeſchätzt; in der Bretagne und in Irland gilt e3 für ungeheuer, auch nur ein einzig Blatt von gewiſſen alten, einzelnftehenden Dornbüſchen zu brechen, welche in verſteckten Mulden der Moorlande wachſen, weil die Elfen darunter ihre Zufammenkünfte halten. Die Barbaryne (Berberis vulgaris L.) ift die Spina Santa einiger Gegenden Italiens, two die Berberige diefen Namen erhalten zu haben jcheint, weil fie bdreitheilige Dornen ala Sinnbild der heiligen Dreifaltigkeit trägt. Die Jones marines der Dornenkrone find eine morgenländiiche Tradition, welche jedoch ziemlich jener Pflanze entipriht, die möglicherweife zur Dornenfrone ge flochten twurde, denn fein Dorn ift häufiger in Paläftina, als der Judendorn (Zizyphus Spina Christi Tourn.) und der NebE der Araber (Paliurus aculeatus Tourn ), welche beide den Namen Spina Ehrifti führen. Der Nebt hat große grüne Blätter und trägt eine einkernige Steinfrucht, deren Geſchmack dem des gemeinen Holzapfel3 (Pyrus malus L.) ähnlid ift. Er fommt in großen Mengen in der Umgebung Jerufalems vor und ift identifch mit dem Atad des alten Teftamentes, welchen Luther mit „Dornbuſch“ überfeßt und den Viele für den in PBaläftina gleichfalls häufigen Bodsdorn (Lycium barbarum und Lyeium afrum L.) halten.

Seit der Dornbuſch aljo geheiligt worden, wurde er zum Könige der Bäume, welche fich der Hut feines Schattens vertrauten, wie die Gleichnißrede des Jotham verfündigt (Richter 9, 15): „Und der Dornbuſch ſprach zu den Bäumen: Iſt e3 wahr, daß ihr mich zum Könige jalbet über euch, jo kommt und vertrauet euch

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418 Deutſche Rundſchau.

unter meinem Schatten; wo nicht, jo gehe Feuer aus dem Dornbuſch, und ver- zehre die Cedern Libanons.“

Der heiligen Jungfrau find alle Blumen geweiht und werden darum ohne Auswahl in katholiſchen Landen zur Zier ihrer Schreine während des ihrer be- fonderen Andacht gewidmeten Marienmonates, des Mai’3, verwendet. Daher liebten die italienischen und vorzüglich die niederländifchen Maler, ihre Marien: bilder mit bunten Blumengetwinden jeglicher Art zu umgeben. Von Freyja, der hehren Göttin des Nordens, wurde der Begriff der höchſten Schönheit: „Friö seöniösta idieo seöniöst* auf die Gottesmutter übertragen, welde aud in bervorhebendem Sinne „Unfere rau“ genannt wird. Es wird deswegen bei dem Mebergange der heidniſchen Symbolif der Pflanzen in die des neuen Glaubens nicht überrajchen, wenn Blumen, die ehedem der Freyja gemeiht waren, fpäter der Jungfrau geheiliget wurden, wie 3. B. das Marien— blümchen oder Maßliebehen (Bellis perennis L.), die Mariendiftel, Chardon de Notre Dame (Silybum Marianum Gärtn.), ber Frauenmantel oder gemeine Sinau (Alehimella vulgaris L.), der Frauenjpiegel (Speeularia Heifter), der Frauenſchuh (Cypripedium ealceolus L.) u. A. Die Schlüffelblume (Primula veris L.) heißt in manchen Gegenden: „Frauenſchlüſſel“, weil diefe Blume, wie Jakob Grimm erflärt, den Frühling erfchlieht, und die glänzenden Tröpfchen an den Spiten des Sonnenthaues (Drosera L.) werden häufig: „Unferer lieben rau Thränen“ genannt. Eine andere der Jungfrau geweihte Pflanze ift die Sjerichorofe (Anastatica hierochuntiea L.), ein Kreuzblütler Aegyptens und Paläftina’s, deren Aefte beim Trocknen ſich kugelig, in Form einer Roje zuſammen— krümmen, ins Wafjer gelegt fich wieder entfalten, und welche früher zu allerlei abergläubijchen Gebräuchen diente. Mehrere Arten von Yarnkräutern: Adiantum, Polypodium, Asplenium heißen Frauenhaar, Jungfrauenhaar, Mariengras. Das Adiantum Capillus Veneris L. wird in Island Freyja-här, Frue-här, Venus- strua (Venusſtroh) und Venus-gräs, in Norivegen Marigräs genannt.

Diefer Wechſel des Namens der nordiſchen Göttin in den der heiligen Jungfrau war jedoch nicht auf Pflanzen allein beſchränkt. Jene drei Sterne im Bilde de3 Orion, welche unter den Namen: Orion’3 Gürtel, Jakob's Stab oder der Spindel (Colus) bekannt find, werden noch gegenwärtig vom ſchwediſchen Volke Friggerock, Fr&jerock oder Fröjasrock (Freyja's Rocken) genannt, heißen aber in Seeland Mariärock oder Marirock. Es ift wohl bderfelbe Roden, von welchem im Herbite das Mariengarn (auch „Alter-Weiber-Sommer“ hier und da vom Volke genannt) abgejponnen wird, bei deſſen Anblicke der Franzofe ruft: „C'est la Vierge qui file!* „Frevja’'s Fogel* hieß einft das „Fraua chueli*, unjer Marienwürmchen oder Frauenkäferchen (Coceinella septempunetata L.), welches in manchen Gegenden aud) „Marienvöglein, Marienfälblein“, in England „Lady-bird“, „Lady-cow“ oder „Lady-bug*, in Frankreich aber „Böte A Dieu“ (jeiner manchenorts in Deutſchland gebräuchlichen Benennung: „Gottesküchlein, Herrgottövöglein“ entjprechend) genannt wird.

(Schlußartitel im nächften Heft.)

Don @utzoffino.

——ñ——

Novelle von Salvatore Farina.

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Erſter Theil.

J.

Bis vorgeſtern haſt Du ſelber nicht einmal geahnt, daß Du Dir Deinen neuen Namen verdient habeſt; aber wenn ich hinginge, um ihn auf offenem Markt auszurufen, ſo würden ſicherlich Viele ſich mit mir vereinigen und ſagen, daß er Dir paſſe wie ein Handſchuh. Sei jedoch ohne Sorgen; ich werde ſchweigen. Ich habe Dir meinen Gedanken ausgedrückt, da ich wohl weiß, daß Du, weit entfernt, Dich aufzulehnen, mit mir vielmehr gelacht haben würdeſt über Dich ſelber; ich habe zu Dir mit lauter Stimme geſprochen, weil Niemand uns hätte hören können und mir daran lag, Dein Gewiſſen zu wecken.

Gib Acht, habe ich Dir geſagt; Du haſt immer die fixe Idee gehabt, mit Windmühlen zu kämpfen, welche Dir das menſchliche Gefühl zu beleidigen ſchienen; gepanzert mit guten Entſchlüſſen und heiligen Grundſätzen haſt Du in einen Helm von Pappe all die Grillen geſperrt, welche rings um Dich her ge— zirpt, die Schmetterlinge, welche, dicht an Dir vorüberflatternd, Dein Daſein bunt, vielleicht fröhlich gemacht haben würden. Du haft vorgezogen, melancholiſch für Ideale zu kämpfen, welche Dich nie befriedigt haben, weil fie... . Ideale waren. Du bift abwechjelnd gläubig und ſkeptiſch, aber in jedem Fall edel- müthig geweſen, niemal3 ein Spötter, immer verjpottet. Und auch jet, da Du mir erklärft, troftlos zu fein, weil Du wieder einmal zweifelt: fperre doch nur die Augen auf, um eine neue Spötterei zu verhindern. Glaube mir, der Spott wird nicht ausbleiben, ich verfichere e&8 Dir, und Du wirft die Hände in einander jchlagen, weil Dein Zweifel der Heilung bedarf.

Du Haft mir fchweigend zugehört, indem Du mir aus Deinem Winfel Blicke voll von einer Ergebung zufandteft, die mich verdroß, und erft ala ih mit dem Vorſatz ſchwieg, über dieſen Gegenftand den Mund nicht mehr zu Öffnen, Ächieneft Du mic zu verftehen und fagteft zu mir, indem Du zu Dir felber jagteft: „Armer Leone!“

27”

420 Deutiche Rundichau.

Hierauf erwiderte ich lachend:

Mer ift Leone? Gibt es einen Menjchen auf der Welt, der fich Leone nennt? Wenn es einen gibt, jo bift Du es nidt. Dein Name ift Don Quixottino, aber es ſoll ein Geheimniß fein zwiſchen Dir und mir, und kein Anderer joll jemal3 davon wiſſen. Was wirft Du nun thun? Das was Du bis jet gethan Haft und was Du thun wirft, jo lange e3 im Himmel eimen ewigen Water gibt, welcher Dich zu feiner Zerjtreuung leben läßt. Allem, was lahm ift, eine Krücke zu geben und diefe Krücken immer auf3 Neue herzurichten das ift Dein Geſchäft. Oder, wenn e8 Dir befjer gefällt und ich weiß, daß e3 Dir gefällt jagen wir: Deine Sendung auf Erden. Dir zur Seite find die Schelme, welche Dir folgen, um Dich auszulachen; Hinter Dir Her ift der Haufen, der Dich zum Beften hat und Du gehft immer geradeaus und merfft nicht? von alle dem.

Ich werde Dir Deinen idealen Narren zeigen, wie ex ift; über Dich lachend, werde ich die Thaten erzählen, die Du verrichtet Haft; ich werde Dih Dir jelber enthüllen, und jogar Du wirft lachen, mein Don Quirottino. Und bas werde ich thun mit dem vollftommenen Bewußtſein, auch meinerjeit3 ein Wert der Barmherzigkeit zu üben.

* x *

Deine Narrheit iſt alten Datums. Seit Du zur Schule gingſt mit dem Ränzel auf dem Rüden, jchieneft Du Dir auf dem Wege zu großen Unter nehmungen; und das erfte Mal, daß aus dem Buche mittelalterlicher Geſchichte die tapferen Ritterſcharen hervorbradgen, ihrer Dame Huldigend und der Ge rechtigkeit, jchien e8 au) Dir, daß Du zum Kriege gerüftet feift, tapfer und gerecht wie fie.

Du haft die Prügel nicht gezählt, die Dir zu Theil geworden; aber ihrer waren, ohne den Schatten eines Zweifels, ebenjo viele als Deine Schullameraden fie Dir, ohne den Schatten von Ritterlichkeit, angedeihen ließen. Um bie Wahrheit zu jagen, Du Haft ihnen ebenfo viele zurüdgegeben, nur mit dem Unterichiede, daß die Schuljugend ftark darauf loshieb und Du, Don Quixottino, in mitleidigen Fauftichlägen eben nur Deine Würde vertheidigteft, ohne Deinen Nächften zu verlegen. Wenn Hierauf der Friede gejchloffen war zwiſchen dem Gegner und Dir, fragteft Du ihn lahend: „Habe ih Dir weh gethan?“

Nein, Du Hatteft ihm nicht weh gethan; und er Dir au nit? Ya, er hatte Dir weh gethan, aber e3 jchmerzte nicht mehr. Der Gegner, wenn er verföhnt war, geftand freimüthig, daß er, wenn e3 ſich darum handele, die Hände zu rühren, auch ordentlich drauf loshaue. Er fagte, daß er nun einmal jo gemacht jet. Bei Dir jedoch folgte das Gegentheil; Du hätteft gekonnt, wenn Du gewollt hätteft.

Das wußte man; wenn Du zum Spaß mit Deinen Schulfameraden auf einem dazu hergerichteten Kampfplatze rangeft, wo es nicht möglicdy war, Yemandem etwas zu Leide zu thun, da Haft Du fie, Einen nad) dem Andern, alle zu Boden geworfen.

Es ereignete fi einmal, daß ein gewiſſer Peralda, ber fi berühmte, ftärker als Du zu fein und dennoch das Loos der Uebrigen erlitten hatte, be

Don Quigottino. 421

hauptete, Du habeſt ihm ein Bein geftelt. Da rief, unter Deinem PBapphelm, die Ungerechtigkeit nad Race, und Du hatteft fie vollftändig, indem Du zehn- mal, nicht einmal, den Berleumbder den Boden berühren ließeſt, ohne ihm weh zu thun; aber der Gefallene vergalt Dir dadurch, daß er Dir jedesmal einen Fußtritt gegen das Schienbein verſetzte. Du ließeft es mitleidig geichehen aus Erbarmen mit Deinem Opfer.

Und ala Peralda verföhnt war und Angeficht3 ber ganzen Schuljugend ver- fiherte, daß im Ringkampf Du ftärker feift al3 Alle, da fühlteft Du, wie, ftatt jeder Ruhmredigkeit, Dich eine unerklärliche Rührung ergriff und, und um Dich berabzufegen, jagteft Du zu ihm und den Uebrigen, daß es fein großes Verdienft jei, Andere auf die Erde zu werfen, daß es dabei nur auf das Rüdgrat anfäme. Deine Kameraden ftimmten diefem Gedanken bei; an dem Rüdgrat ift nichts be- ſonders Ausgezeichnetes, Fauftichläge dagegen darf man regnen Laffen, jo viel und jo ftart man will, ohne Rüdficht darauf, wohin fie treffen, und um die Rechnung auszugleichen, find auch Fußtritte in gewiffen Conjuncturen eine höchſt gerechte Vertheidigung. Da Du nicht nein fagen Eonnteft, jo zeigteft Du dem Herrn Peralda die Spuren der Tapferkeit, die er an Deinem Schienbein verübt, um fih für Dein Rüdgrat zu rächen; ex freute fi in aller Aufrichtigkeit und ging getröftet nach Haus.

Und wie vielen Peraldas bift Du in der Welt begegnet? Ob, vielen! 63 war nit immer die verlehte Eitelkeit, weldye fie, wie beim Ringkampf, auf: brachte, jondern es war der offenbare Neid, der weder durch Verdienft noch Ge— brechen entjchuldigt wird, diefer Heinliche, thörichte Neid, die ſchlimmſte der Un— gerechtigkeiten. Wenn Du mit vieler Mühe die Lection auswendig gelernt Hatteft und Peralda jeinerjeit3 vorzog, eine Halbe Stunde vor der Schule fie den Kameraden einzupaufen, indem er mit dem Textbuch heftig aufichlug, und ber Herr Lehrer nun Dich und ihn fragte war da nicht der Augenblid, um den Neid Schweigen zu laſſen?

Aber die Peraldas find immer ungeredt. Sie jammerten über jeden neuen Rod, den die Mama Dir angezogen hatte; zuweilen, wenn der Rod ihnen zu ſchön vorkam, jpotteten fie über Di und den Rod, aber meiften? wurmte und fchmerzte fie's. Eines Tages kam Dir ein jchredlicher Gedanke: vielleicht ift die Ungerechtigkeit in die Herzen der Menſchen eingezogen, weil der Himmel fi ein Vergnügen daraus gemacht hat, den Einen gemächliches Auskommen, Schönheit, Wohlbefinden zu geben, den Andern Gebrechlichkeit und Elend, weil nichts rings um die Greatur von Gerechtigkeit und Alles, was geichaffen ift, nur von Privileg ſpricht. Darüber dadhteft Du ein wenig nad; Einer jagte Dir: „Die Geredhtig- feit ift anderwärt3“, und weil Dir das nicht Hinreichend ficher geftellt ſchien, dadhteft Du noch einmal darüber nad. Aber die Gerechtigkeit fuhr fort, zu Deinem Herzen zu iprehen und Du wareſt getröftet.

Weswegen, jagteft Du, diejes heftige Verlangen, das Gute zu thun, es wenigstens zu denken; weswegen dieje Ungeduld, wenn uns eine Gewaltthätigkeit der Menichen oder des Schickſals unter die Augen kommt? Weil das Gefühl der Gerechtigkeit in ung ift und die wahre Ungerechtigkeit anderswo geſchieht vielleicht ...

422 Deutiche Rundſchau.

Das war der Tropfen gährenden Stoffes, welder Dich ein wenig nad und nach zu dem machte, was Du jetzt bift, Don Quixottino. Da Du nicht zögerteft einzuräumen, daß neben der Gerechtigkeit ein wenig Mitleid wohl beftehen kann, und manchmal die Nahficht nicht übel befteht, wurdeſt Du mitleidig und höchſt nahfihtig für die Gauner, auch wenn Du ftreng warft gegen die Guten. Dennoch bildeteft Du Dir ein, immer gerecht zu fein.

Erinnerft Du Did Albino’3? Er war ein armer Teufel, voll Herz und Verftand. Die Kajerne Hatte ihn mit zwanzig Jahren feiner jchönen Muſik entriffen, und ex duldete mit Gelafjenheit, feines Claviers beraubt zu fein; da ihm noch eine Ader des Philojophen geblieben war, jo lachte er viel, viel und jagte manchmal wie ein Stoiter, daß da3 Leben uns nicht gegeben fei, um fröhlich zu fein. Aber da er jelbft nicht recht wußte, weswegen e8 uns gegeben fei, jo neigte er zu dem Glauben an einen verborgenen Plan, und daß man es auf jeden Fall wie einen gelungenen Spaß nehmen und darüber lachen müſſe. So lange der Spaß der Kaferne dauerte (und er dauerte zu jener Zeit acht Jahre), lachte er immer; dann, al3 er nad) Rom gegangen, den Kopf vorzeitig kahl, aber voll von Hoffnung noch einmal, twiderftand er nicht der erften Gelegenheit, die das neue Leben ihm bot, und ſtürzte fi aus einem vierten Stockwerk, um einer übermäcdhtigen Liebe zu entfliehen, die in fein Knabenherz eingezogen war.

Dies ift feine ganze kurze Gefchichte, und wenn ich fie Dir jet wieder vor: führe, wiewohl ich weiß, daß Du bejtändig daran denkſt, fo geichieht es nicht, um Di mit Zorn zu entflammen gegen die Ungerechtigkeit der ſcheel blickenden Geſellſchaft oder des blinden Geſchickes, ſondern um Dich zu waffnen gegen Deine Ungerechtigkeit, welche, da fie Schon mehrfah in Deinen Kopf gedrungen, dort noch einmal Eingang finden könnte.

Als Albino in der Kajerne war, vergnügt mit feiner Philofophie und einem Glavier, da3 Du ihm verichaffteft, da Hatteft Du, ein fchlechterer Philoſoph al er, bemerkt, daß er zwei Schwächen, nein fogar drei habe: er war ein Kleiner Renommift, hinter dem Efjen her und verliebter Natur. Und Du, Don Quirottino, Ichalteft ihn jeden Tag. Seinen Appetit jahft Du ihm nad) (weil Du wußteſt, daß man von dieſem Uebel durch die Sättigung und manchmal durch einen ver- borbenen Magen curixt wird); gegen ein Verlangen, das mit der Sehnfucht wächſt, und eine Eitelkeit, die ſich durch nichts ftillen läßt, warft Du ungeredt. Du er- tappteft ihn auf einer Sünde zehnmal jeden Tag, und bei Gelegenheit einer große artigen Auffchneiderei zeigteft Du ihm alle Triebfedern, welche feine Eitelkeit heimlich in Bewegung gejeßt hatte, um zu prahlen, ohne Deine Strafpredigt hören zu müffen. Und Albino late. Sein großer, guter Mund jchien einzig gemacht, um über fich jelbft zu lachen und harte Eier zu verſchlingen; aber er jagte auch vernünftige Dinge. Einmal jagte er:

„Lieber Leoncino, Du durchſuchſt mir die Seele, um meine Eitelkeit zu ver- beffern; ich bin Dir dankbar; aber hüte Dich felbft ein wenig vor der Eitelkeit, die Eitelkeit zu befämpfen da3 würde recht eigentlich die vanitas vanitatum, ein Kampf mit Windmühlen fein.“

Du lachteſt damals, aber Du haft einen ganzen Tag und eine ganze Nadt darüber nachgedacht, weil Dein Gewiſſen immer voll von Zweifeln geweſen iſt.

Don Quirottino. 423

Albino ftand ſich nicht beifer al3 zuvor. Den Tag darauf bei Tiiche, als er, im Begriff ein wenig zu renommiren, die Augen ſchloß, um Dir nicht ins Geficht zu jehen, da faßteft Du ihn Hurtig und graufam, wie eine Zange, auf Frifcher That, jo daß er Dir nicht entwiichen konnte. So machteſt Du’ alle Tage.

Nun ift der arme Burj todt, und Du Haft ihm alle Fehler vergeben; oft, in Gedanken, jeßeft Du feinen zerfchmetterten Kopf wieder zufammen, um ihn lachen zu jehen wie einjt; und Dich erfaßt das Verlangen, dieje dicken Lippen zu fühlen, die Dir jo ſinnlich erfchienen, aber niemals eine Lüge hervorbraditen. Du würdeft zufrieden fein, daß er die Augen halb jchlöffe, um ſich noch einmal etwas zu Gute zu thun, oder daß er fie voll auf Dich richtete, um zu fehen, ob es Dich verdroffen babe. Ihm würde jet ein gutes Mittel, um Deinen Skepticismus zu heilen, nicht fehlen. Aber zu Deinem Unglüd ift auch ex ge— gangen wie jo viele Andere, die gut waren, und Dir blieb die Reue zurück, hart geweſen zu fein gegen die verzeihlichen Sünden eine wahren Freundes und Deine Nahficht aufbewahrt zu haben für die Todjünden Derjenigen, die, da fie Dich nicht unterkriegen können, über Dich lachen oder wenigſtens ſich nichts aus Dir machen.

Hugo und Guido, erinnerft Du Dich ihrer? Sie waren zwei gute Menſchen, auch fie; der Eine ift auf dem Kirchhof, der Andere ift für Dich gleichfalls todt. Ahr waret durch Freundichaft verbunden, ihr machtet einander vertrauliche Mit- theilungen, bereit, euch gegenjeitig beizuftehen in der Noth. Da ihr mußtet, daß ihr Einer auf den Andern zählen konntet in jeder Lage, jo waren eure Beziehungen Herzlich und von Dauer. Aber Hugo und Guido Hatten ſich Beide denjelben Fehler angeeignet, um einen anderen zu verbergen, der unbefieglich war und ihnen der ſchlimmſte von allen ſchien: fie fpielten ſich auf die Hoch— müthigen hinaus und machten alle Beide dasſelbe geringſchätzige Gefiht Hugo, kühner darin, mit lauter Stimme Ympertinenzen zu jagen, Guido, ge ſetzter und vorfichtiger, indem er fie mit ſarkaſtiſchem Lächeln kaum andeutete. Du, Don Quizottino, wiewohl Du wußteſt, daß fie Beide gute Kerle feien, Kitteft unter ihrem vornehmen Weſen, das fie niemal3 gegen Di, immer nur gegen Andere herausfehrten; aber e3 wurmte Di, daß Du fie nicht nad) Deinem Bild umgeftalten fonnteft; Du hätteft aus ihnen ein paar Narren gemadt, um fie der Nohheit de3 Pöbels preiszugeben.

Einmal fürchteteft Du, fie möchten in der Comödie, die fie vor dem Publicum aufführten, dahin kommen, fich ernft zu nehmen; Du folgerteft das aus einem Nichts. Ahr ginget jpazieren, Hugo fragte, Guido gab feine Antwort; Hugo wiederholte die Frage nicht, die do ihm am Herzen lag; Guido, nachdem er ſchweigend eine ganze Weile gewartet hatte, fing wieder an: „Sagteft Du nicht eben etwas? Entſchuldige, ich war zerftreut.” Aber Hugo blieb unverſöhn— lich und erwiderte, daß er fich nicht mehr befinne. Nunmehr trateft Du, der bisher geichwiegen hatte, mitten zwiſchen Beide und, fie an den Armen faffend, bielteft Du folgende Herrliche Rede: „Wißt ihr, was ich euch jagen muß? Daß ihr zwei Comödianten jeid. Schon eine Weile hab’ ich euch beobachtet, und ich verfichere euh, daß ihr ſchlechte Comödianten jeid. Was für Gefichter madt ihr euh? Zu welchem Zweck?“

424 Deutihe Rundſchau.

„Bilt Du ein Narr?” fragte Hugo; Guido gab feinen Laut von fid, und Du ſchoſſeſt los:

„Ja, ich bin ein Narr, weil nur Thoren ehrlich find, wenn man ſelbſt unter den beſten Freunden Comödie ſpielen und verſuchen muß, einander an— zuführen. Aber laßt dieſen Narren nun Alles ſagen, was er in euren Seelen geleſen hat. Du, Guido, hatteſt ſehr wohl verſtanden, als Hugo Dich gefragt hat, aber es gefiel Dir, den Zerſtreuten zu ſpielen, damit Dein beſter Freund genöthigt werde, die Frage zu wiederholen; Du, Hugo, wollteſt fie nicht wieder: holen, weil es Dir guter Ton ſchien, zu machen, als ob Du ſie vergeſſen hätteſt. Und das thatet ihr, weil ihr euch Beide kennt und Furcht habt, daß Einer vom Andern untergekriegt wird. Aber geſteht es euch endlich ein und machet ein Ende damit; wenn es euch ſcheint, daß vor den Leuten die Maske der Ueber— legenheit wirklich nothwendig oder nützlich ſei, ſo maskirt euch nur vor den Anderen, aber ſpielen wir unter uns mit offenen Karten.“

„Biſt Du toll?“ fuhr Hugo fort, zu wiederholen, während Guido un— erſchütterlich ſchwieg.

„Weil ich denn toll bin, laßt mich endigen. Ihr, die ihr ſtolz ſcheinen wollt, ſeid einfach ſchüchtern, und Du, Guido, der Du aus Hochmuth nicht ſprichſt, bift ſchüchterner als er und als ich.“

Guido hatte fi von Deinem Arme losgemadt, und an der Ede der Pia de Giuſeppe angelangt, ſagte er lachend:

„Servus. Es thut mir leid, die Lection unterbrechen zu müflen, aber id werde in der Patriotiichen Gejellfchaft erwartet; Dur wirſt einen anderen Abend fortfahren können.“

„Servus,“ erwiderteft Du traurig.

Mährend Du ſogleich einjaheft, daß die Lection bei Deinen guten Freunden zu nicht3 gedient hatte, fingeft Du zu fürchten an, daß ſeit jenem Tage Hugo und Guido nicht mehr diejelben gegen Dich fein würden wie früher. m ber That verzieh Dir Guido innerlich niemals, daß Du ihm unter die Maske ge Ihaut Hatteft, ließ Di dom andern Tage an merken. daß er ſich unbehaglid mit Dir fühle, fürzte dann nad und nad die Dauer und Häufigkeit der Spaziergänge in Deiner Geſellſchaft ab und hörte damit auf, ſich überhaupt um Did zu kümmern. Ad ja, es war immer feine Stärke geivejen, in dem, was Andere thaten, wie in einem aufgejchlagenen Buch zu Iefen, ohne jemals zu ver jtehen zu geben, was in der eigenen Seele vorging.

Hugo, nein; armer Kerl, er war eine gröbere Natur; ex fpielte die Comödie, anmaßend zu jein, weil die Menſchen fie ihn gelehrt hatten, nahm es Dir aber nicht jehr übel, daß Du feinen Betrug entdeckt hatteft, und würde Dir Alles verziehen haben, wenn ex ein Jahr jpäter nicht geftorben wäre.

Dir zwar mußte feit jener Zeit die erjchredende Wahrnehmung kommen, ein Tchlecht conftruirter Don Quixottino zu fein, und dennoch fuhreft Du fort in Deiner Mijfion. In der Einbildung, alle Schäden und Mißſtände in ber Natur Heilen zu können, zogeft Du aus, um bie Krüppel und die Lahmen zu ſuchen.

DO, das ſchöne Leben, das Du in diefer Geſellſchaft geführt haft!

Don Quirottino. 425

I.

Und auf der Univerfität, wie viele ſchöne Unternehmungen! Erinnerft Du Did ihrer

Du wareſt feit Kurzem in Pavia; noch trankeft Du nicht, aber Du folgteft den hemdärmeligen Kameraden zur Schenke, fcheinbar mit dem Eylinder auf dem Kopf, der die Nerven der Spitbuben beleidigte, heimlich jedoch bewaffnet mit dem bewußten Helm de3 finnreichen Junkers de la Mancha. Häufig geihah es, daß der Wein Deine Eollegen aneinander brachte; es war die hochmögende Mtedicin, twelche ihre ſchwachen Inftrumente ſchlecht anwandte, um auf eine unfchuldigere Disciplin, die Pharmacie oder die Mathematik zu fticheln, am meisten aber auf die Deine, welde Dir von Natur und durch Wahl gehörte, diejenige, welche, weil fie das Geſetz gibt, das Recht Heißt. Die Anderen wurden heftig, . Du nit. Du wareft es immer, der ihre Streitigkeiten jchlichtete, und wenn, um fie zu ver— fühnen, Deine gerechteften Argumente fi) ſämmtlich als nichtig erwiejen Hatten, griffeft Du zum leßten, welches niemals verjagte, zu einem Doppelliter vom Heurigen, den Du auf dem Altare des Friedens opferteft. Dann ließ bie allopathijche Medicin ihr Glas zufammenklingen mit dem des Homdopathiichen Rechtes, auf das Wohl des Don Quirottino.

Don Quixottino, außer fid) vor Freude, bezahlte die Rechnung.

Aber Du bift fein Narr; Du warſt e3 wenigftend damals nicht, und begriffeft bald, daß Deine Kameraden ſich gern in der Schenke zankten, weil der enthalt- fame FFriedenäftifter den Heurigen auf den Tiſch ftellen ließ. Und da die Sache von allen Anderen auch begriffen ward, von Allopathen und Homdopathen der Zukunft, von PBharmaceuten und Mathematifern in spe, riefeft Du einmal, ala fie fi) wieder an den Köpfen Hatten, mit lauter Stimme nad) dem Wirth. Die Widerſacher fenkten die Stimme um eine Octave, damit dev Wirth feine Silbe von dem erwarteten Doppelliter verliere; doh Du, zum unermeßlichen Erftaunen aller vereinigten Facultäten, beftellteft ein Glas, nur ein Glas jüßen, weißen Weine; dann mit einem janften Lächeln erflärteft Du den Streitenden, die fich verföhnten und verftummten, daß Du nun auch trinken lernen mwollteft, um nicht mehr der Gimpel in der Gejellichaft zu jein.

„Braviffimo !” jagte der Chor, und es war ein aufrichtiges Wort, denn die Wahrheit und die Gerechtigkeit jprechen zuweilen ohne Souffleur.

Das Fünftelchen des jühen Weines fam, und Du tranteft es, und e3 that Dir nicht Schlecht; aber wie viel befjer würde Dir's noch gethan Haben, wenn Du die Meinung, welche die Kameraden fi von Div gebildet hatten, lange hätteft beftehen laſſen. Statt deſſen ſchien es Dir, daß die Lection hinreichend deutlich ſei, und aus Befriedigung darüber, fie ertheilt zu Haben, wollteft Du, wenn der gewohnte Heutige twieder auf den Tiih fam, ihn nun auch unter allen Umftänden bezahlen, Don Quirottino.

Dann, müde der Schenke, welche den Unterweifungen der Univerfität wenig hinzufügen konnte, veränderteft Du da3 Jahr darauf wenigſtens ben Si für Deine Thaten. Du verlangteft einen günftigeren Boden für die Ausbildung der been, welche Dir in den Kopf gelommen waren und in langem Zuge immer noch nachkamen. Es waren, verfteht ſich, großartige Jdeen, edelmüthige und vor

426 Deutſche Rundſchau.

Allem gerechte, in welchen die Frau, ja ſogar die Frauen ſtets den erſten Platz hatten; bleiche, empfindfame und zarte Frauen, welche Du gejehen hatteft in Deinen Träumen mit offenen Augen; junge Frauen, welche nad dem eriten Honigmond durch die Gleichgültigkeit des Gatten in Gefahr geriethen, Mädchen, welche frauen geworden auf höheren Befehl und fi in den Gedanken nicht er geben konnten, einen zu häßlichen oder zu alten Gemahl zu haben; unvorfichtige und neugierige Geihöpfchen, welche aus der Nähe alle die von der Männerwelt gelegten Fallen bejahen. Du bildeteft Dir nicht ein, die Kraft zu haben, vide von ihnen it den feierlichen und aufrichtigen Worten, die von Deinen Lippen fließen würden, ſtark zu maden, aber Dir jchien, daß Dein Gewiſſen Dir be- fehle, wenigftens ein paar zu retten, wenigſtens eine.

Und die jungen Damen würden nicht Dein ganzes Erbarmen, all’ Deine Liebe zur Gerechtigkeit erichöpft haben; denn der armen Menſchheit ift noch viel anderes Elend zugetheilt. Wenn fie mit Eiferfucht liebt, wenn fie ohne Hof: nung begehrt, wenn fie fih müde vingt, um die Gleichgültigkeit zu befiegen und aus dem Dunfel herauszufommen; und, um eine alte Mutter oder eine kranke Frau oder ein Neft voller Kinder zu jättigen, fi) das Brot vom Munde nimmt; wenn fie ein edles Gefühl aus Furcht vor der Welt verbirgt, wenn fie an einem anderen Leben zweifelt, oder nicht mehr zweifelt und kämpft, um fich im die ver- haßte Ungerechtigkeit des Nichts zu ergeben: dann würde Dein Priefterthum, welches heilig ift, jegensreich haben fein können.

Schon oft Hatteft Du gegen ein eingebildete3 llebel Front gemacht und taujend quite Worte gefunden, um es zu heilen; und nachdem Du Dich an Deiner Fiction jo jehr erregt, daß Du darüber weinteſt, haft Du die Thränen ab- getrocknet, um Di Deiner Beredtjamkfeit zu freuen.

Du wareſt in eine bejcheidene Trattoria de3 Borgo Nuovo zu Turin ge fommen. Zuerft wareft Du allein am Tiſch und konnteſt nicht? Anderes thun, al3 nach der benachbarten Tafel hinüberbliden, um einen Gaft zu juchen, der durch jeine Art zu jchweigen oder zu ſprechen oder zu eſſen, Dir unter irgend einer Ingerechtigkeit zu leiden ſchien. Aber es war dies eine [uftige Tafelrunde von jungen Leuten, mit gutem Appetit und gutem Humor, die manchmal, um da3 Mahl mit ihren Geliebten zu theilen, doppelte Portionen kommen ließen, mit lauter Stimme zur Vorjpeife Capri bejtellten, Marjala zum Obſt und Früffeln. Du beobadhteteft fie verftohlen jeden Tag, und wenn es ſich ereignete, daß Einer von der Tiſchgeſellſchaft ſchweigſamer war, jo durchforſchteſt Du ihn genau, um zu jehen, ob Hier nicht ein Fall vorliege, der Dir gebot, mit Deiner troftreihen Beredtfamfeit zum Vorſchein zu fommen. Es dauerte zwar nidt lange, jo nahmeft Du wahr, daß, wenn an diefem fröhlichen Tiſch Einer einmal weniger ſprach als gewöhnlich, jein Schweigen nur dadurch veranlaßt ward, daß er am Abend vorher zu viel gegeffen hatte. So Eonnteft Du ruhig und zufrieden fein; aber Du, nein, Don Quixottino, Du verzichteteft nicht; Deine Miſſion ver- langte leife ein Opfer aber wie und wofür Dich opfern?

Dir war der Wunſch nicht gefommen, Dich in dieje heitere Geſellſchaft ein zuführen, um wenigſtens einige Worte bei Tiſch wechjeln zu können; wenn bieie Leute Div melancholiſch, oder Frank, oder in irgend einer Weiſe heimgejucht er:

Don Quixottino. 427

jchienen wären, dann würden Dir bie Gelegenheiten nicht gefehlt haben, Dich einzumifchen, um Theil an ihren Leiden zu nehmen; aber gegen glückliche Menſchen bift Du jtet3 auf Deiner Hut gewejen. Indeſſen, was Du nicht thatejt, da Du wußteſt, daß Du der Sorglofigkeit Deiner Nachbarn nichts hinzufügen könnteſt, das thaten dieje Sorglofen jelber an einem Tage größerer Fröhlichkeit. Während Du Did fiher glaubteft, weil fie Dir ein wenig über den Durft getrunfen zu haben fchienen, und aus Deinem Winkel fie der Reihe nad) betrachteteft, ihren Yuftigen Späßen mit Nachſicht lächelnd, vertwundete ſich Einer, indem er einer Flaſche den Hals brach, an der Hand.

Seine Geliebte, eine Blonde mit feinem Näschen, eilte fogleich herzu; fie ſchien verſucht, zu weinen und jagte gleichſam zu fich jelber: „Guter Gott, das hatte noch gefehlt.” Aber in ihrem Schred, in ihrer Bläffe fand fie doch die geichicktefte Art, mit ihrem Taſchentuch die Hand zu verbinden, während zwei andere Dämchen und alle Zijchgenofjen ſich nicht weiter nützlich zu machen wußten, al3 indem fie fragten: „Daft Du Dir weh gethan?“

Der Verwundete jchüttelte dern Kopf; lachend und verfichernd, daß es nichts jei, gewährte es ihm offenbar Vergnügen, mit feinem Heldenthum etwas Staat machen zu fönnen; und er fieß Huldvoll gejchehen, was feine Geliebte für ihn that. Die Gelegenheit war für Dich wie gemacht, Don Quixottino.

Du erhobeft Did von Deinem Sitz, nahmeft aus Deiner Brieftafche ein Stück engliſchen Taffet3, der gut ift, wenn man fich gejchnitten hat, und ein Riechfläſchchen, das probat gegen Ohnmachten, und gabeft Beides der barm— herzigen Samariterin. Dieje ſagte „Danke!“ mit einem bezaubernden Lächeln und fügte hinzu: „Wie wird es gemacht?“ Nun war der Augenblid gefommen, um Dich wirklich Deiner irdiichen Miffion hinzugeben; noch einmal öffneteft Du die Brieftafhe, nahmeſt eine Eleine Schere heraus und, Dih an die Arbeit madjend, legteft Du mit eigenen Händen das Pflafter auf.

„Er ift ein Doctor!“ fagte Jemand neben Dir. „Nein, er ift ein Student der Medicin, der ein guter Doctor werden wird,“ verfichert der „Mtagre” mit leifer Stimme und jener ſelbſtbewußten Miene de3 Kellners, welcher das Ver— trauen feiner Kunden befißt.

AB das Merk unter der Bewunderung der Umftehenden vollbracht, die Blonde, auf deren Wangen die Farbe wiedergefehrt war, die fie vor der Kata— Strophe gehabt, Dir noch einmal mit einem Blick voll Freundlichkeit gedankt hatte, und Du Dich eben in Dein Eckchen zurücbegeben wollteft, da jagte Einer von den Conviven:

„Die Bouteille, welche das Unheil angerichtet hat, joll wenigſtens zu etwas Guten dienen; leeren wir fie zufammen wollen Sie?“

„Ja, ja,“ eriwiderte der Chor.

„Sagen Sie nicht nein,“ bat die Blonde.

Du gabeft nad, und da Du, aus Liebe zur Gerechtigkeit, anerkannt Hatteft, daß die jühnende Flaſche alten Barolo enthielt, jo hatteft Du jeden Abend Deinen Pla an der Tafel.

Nicht immer theilten die Tiichlameraden das Mahl mit ihren Geliebten, zuerst und vor Allem, weil fie faft ſämmtlich Angeftellte der Oberitalienijchen

428 Deutiche Rundſchau.

Eifenbahn waren und die Dämchen eine ganze Portion bezahlen mußten, umd dann, weil die Damen, von welcher Kategorie fie auch fein mögen, und wären fie jelbft ſolche Leichtfertige Dinger, bei Tifh immer ein wenig genieren wegen des Bischens Zurüdhaltung, die fie vor dem Publicum mindeſtens nie ganz ablegen. Dem Manne dagegen, ber fie gefunden, nachdem er fie lange geſucht bat, gefällt es zumeift, nach einem fröhlichen Mittageffen, fi) ganz aufzufnöpfen, Leib und Seele, den Leuten Derbheiten ins Geficht zu jagen, bei denen die Serviette des Kellners erröthen könnte, vor Allem die Frauen jchlecht zu machen, welche jammt und jonder3 von einem Sclage find, indeſſen er, wohlverftanden, fh jelbft, den übrigen Tiſchgenoſſen und dem ganzen männlichen Geſchlecht die nothwendige Ehrenhaftigkeit vorbehält.

Mit diefer ift es jedoch nicht weit ber, wie Du Deinen neuen Freunden ſcherzend bemerfteft, al3 ihr ein wenig vertrauter mit einander geworden. Sie fagten nicht gleich weder ja noch nein, denn fie hatten noch nicht gemug getrunten, um den Geift des Widerſpruchs in fich zu jpüren; aber Du nahmeft plößlich wahr, daß einer der Genofjen, der mit der Wunde und der hübjchen Blondine, fi Mühe gab, über Deine Worte nacdjzudenten. Welcher Lurus für ihn und welcher Triumph für Did! Es that Einem ordentlich weh, zu jehen, welch harte Arbeit es für die Gedanken war, in diefen frifirten Kopf hineinzukommen. Um einen davon zu zwingen, daß er fich nicht al3bald wieder davonmache, tie er gewöhnlich that, fondern eine Form annehme und fi in Worte Eleide, hielt diefer Ejel die Augen feſt auf eine Scheibe Gorgonzola geheftet, welche der „Magre“ ihm vorgefegt hatte. Er wandte fie zweimal Hin und ber, als ob fie ihm zu dünn erfcheine und er fich verſucht fühle, fie wieder in die Küche zurüd- zufchicen, jo daß der Kellner betreten und ungewiß ftehen blieb.

Du fagteft lachend zum „Magren“:

„Sehen Sie nur; der Gorgonzola ift vortrefflich.“

„Ach ja, der gefällt mir auch,“ fagte Dein Denker, „aber Ihre Worte ge: fallen mir nicht.“

„Welche Worte? Wenn ich Etwas verjehen habe, bin ich bereit, Buße zu thun,” gabeft Du fcherzend zurüd.

„Sie ſprechen von der Ehre des Mannes... ald ob die rau... al ob die Frauen ...“

„Als ob die Frauen,“ kam ich feinem Gedanken zur Hülfe, der noch nicht einmal jo viel wie im Hemde war, „als ob die Frauen ihre Ehre nicht nod höher halten müßten? Nun wohl, es ift wirklich) jo; der Mann Hält es fin erlaubt, ja für anftändig, ſogar für rühmlich, hinter einem ſchönen Mädchen herzulaufen, ihr zu jagen, daß fie anbetungswürdig und angebetet fei, fie auf taufenderlei Weiſe in Verfuhung zu führen, dur Worte, dur Thaten, und zulegt duch Geld, indem er einige Liebe und einen Heirathscontract verſpricht wenn das Mädchen ihn erhört und einmal ftolpert, fo ift fie Eine, wie alle Anderen; wenn fie zweimal nachgibt, jo ift fie eine Dirne. Scheint Jhnen das Gerechtigkeit zu fein?“ Ä

„Es ift wahr,” verjeßte der Andere; „ich habe mir genau dasſelbe gebadıt; aber jehen Sie, die Frau daB heißt, der Mann das ift doch ein Inter ſchied!“

Don Quirottino. 429

„Sehen wir einmal den Fall, da in der Gejellichaft die Frau die Rolle des Mannes übernähme .. .“

„Aber das ift unmöglich,” erwiderte man Div im Chor; und Alle waren darin einig, den Satz zu betätigen, welchen der Liebhaber der Blonden auöge- ſprochen: mit dem Mann jei da3 eine andere Sadıe.

„Dem iſt aljo Alles erlaubt? Auch einen Freund zu verrathen und ihm die Geliebte zu ftehlen; auch den Hader in ein kaum gebautes Neft zu tragen?“

Freilich! Alles war erlaubt. Sie überlegten nicht viel, ſondern ftellten ihren Gedanken immer von berjelben Seite dar, twie wenn fie niemals etwas Anderes gethan hätten, als über diefes Problem nachzufinnen und ftet3 zu dem gleichen Reſultat gekommen wären.

Hätteft Du da wirklich nit in Verfuhung kommen follen, Dir ihre Ge- liebten zu nehmen, und wenn nicht alle, jo doch wenigftens eine, zum Beiſpiel die jentimentale Blonde, welche beim Anblid von etwas Blut bleich geworben war? Dir jchien, daß fie nicht jehr glücklich fei, ihre Liebe diefem Hohlkopf zu ſchenken; vielleicht würde fie fich nehmen laffen, ohne Dich erſt lange zu quälen, da fie fi jagen mußte, in Dir einen ernften Mann zu finden, ehrlicher Liebe fähig, nicht jo wohl frifirt wie ihr Gebieter, auch nicht jo hübſch, aber dod) auch nicht ganz zum Fortwerfen und ficherlich fein Narr.

MWareft Du wirklich ficher, nicht doch ein wenig der Narr zu fein?

Dieje inftinctive Verſuchung ging vorüber, nachdem fie Deine Gedanken eben berührt, ohne irgend welchen Schaden zu thun, weder Dir noch den Anderen, nicht jo jehr, weil Deine Sinne disciplinirt waren, ald weil Deine Willenskraft e3 war oder wenigften3 jein mußte. Was würde aus der großen dee geworden jein, die Du mit dem Eifer des Apoftels auf allen Altären zur Schau ftellteft, wenn das erfte bleiche Geſichtchen Dich zum Verräther gemacht hätte?

Es ift wahr, daß Lucietta’3 Augen um Etwas zu bitten ſchienen und daß ihr ſchwermüthiges und janftes Lachen von Ergebung ſprach; es ift wahr, daß manches jhüchterne Wort, mit welchem fie andere, ungeduldige oder rohe Worte aus jeinem Mund erwiderte, Dir die Meberzeugung gaben, daß Lucietta ein Opfer jei und ihr Geliebter ein Tyrann, und daß zwiſchen ihnen Beiden, unter bem Vorwande der Liebe, ſich eine Ungerechtigkeit vollziehe. Aber andererjeit3, wenn Du, Don Auixottino, Dir in den Kopf geſetzt hätteft, dieſes Opfer von einer graujamen Liebe dadurch zu befreien, daß Du felber fie liebteſt, in einer veineren MWeife, mwäreft Du dann ganz ficher geweſen, die Dinge auf den Punkt gebradht zu haben, wohin fie, der Gerechtigkeit gemäß, gehörten? Und wenn diefer Eijen- bahnbeamter in Wirklichkeit nicht der Tyrann wäre, ber er Dir jebt ſchien? Wenn jtatt deſſen fie es wäre, die bleiche Mleine, die ſich unbefriedigt ftellte, zum Scherz jeufzte und die Märtyrerin machte, um Dich zum Beften zu haben? Wenn ihre Bläffe nichts Anderes wäre, als ihr Temperament, ihr Lachen eine Kofetterie, um ihre ſchimmernden Zähnchen zu zeigen, und ihre beftürzten Augen und ihr blondes Haar und die ganze Lucietta nichts Anderes, als eine wohlgelegte Falle?

Doch angenommen jelbft, daß diefeg arme Mädchen nihts als die Wahr: heit ſpräche, und wenn fie Dich heimlich) anjah und wenn fie Dir zulächelte, Dir jagen wollte, fie würde fich bei Dir befjer befunden haben weißt Du denn,

430 Deutſche Rundſchau.

wie er ſich befunden hätte? Er war vielleicht ein Geck, der ſich einbildete, Alles aufs Beſte zu machen, damit ſeine Geliebte zufrieden ſei. War er nicht jung, ſchön, kräftig und ein bischen einfältig? Und aus dieſem Stande der Glückſelig— feit, der vollen Befriedigung darüber, daß man auf die Welt gefommen, ſich bortrefflich befindet von einer Mahlzeit zur anderen und höchlich von fich jelber erbaut ift, hätteft Du ihn reißen wollen in die Hölle der Eiferfucht, in die Ver— laffenheit, jedes Lichtes beraubt?

Ah! nein, Don Quixottino, Du würdeft etwas Aehnliches nicht gethan haben. Zucietta war Schön, oder fie gefiel Dir wenigſtens (Du kannſt es nun gefteben, da die Schlacht vorüber), fie gefiel Div jehr, und es lieh fih annehmen, daß, da Du fie dem Eijenbahnbeamten nicht geraubt hatteft, ein Anderer, vielleicht ein College von der Verwaltung oder ein Kamerad desjelben Bureaus, fie zum Entgleifen gebracht hätte; aber gerade Du wirft nicht der Mann fein, eine jolche Sataftrophe herbeizuführen.

Nun Eonnteft Du ihr ruhig in die Augen blicken, ohne Furcht, Deine Faſſung zu verlieren, oh, wenn Du etwas mehr hätteft thun fünnen, um fie in einen ficheren Hafen zu führen, Dein gewohnter Eifer würde Dir nicht gefehlt haben!

Lucietta erſchien felten in der Trattoria während der Woche, aber am Sonn- tag und den anderen gebotenen Feſten fehlte fie niemals in der Gejellichaft ihres Liebhabers, welcher von Sonntag zu Sonntag ein alberneres Gefiht machte. Nach der Urt, wie er beim Kaffee fi auf den Seffel ftredte, nad) der bewußten Manier, feiner Dame zu anttvorten, mußten alle Tiſchgenoſſen glauben, daß er dieſer Liebe bis zum Ueberdruſſe jatt ſei, daß dieje Zärtlichkeiten ihm wider— ftanden und daß er gern Jedem bie Hand gereicht hätte, der ihn von ber Laft Luctetta’3 befreien möchte. In Wahrheit aber verhielt fi Alles ganz anders. Deinem Scharfblid war es nicht entgangen, daß er bloß Comödie jpiele, wie fo Viele thun; er agirte die Rolle de3 gelangtveilten Mannes, des gleichgültigen, wiewohl unmmiderftehlichen Mannes; aber im Grunde war er eiferfüchtig. Auf DiH? Ja, wahrhaftig, auf Did. Und Du Hatteft den Haren Beweis davon an dem Tag, wo Du ihnen begegneteft, als fie eben im Begriff waren, das Haus zu verlafjen, um ein paar Schritte auf dem Hügel zu machen, und ber Erfte, der Dich aufforderte, fie zu begleiten, gerade er war. Er hatte den Vorſchlag des— halb gemacht, damit weder Dir noch ihr der Gedanke fommen möge, er jei eiferfüdhtig, und auch, weil er wußte, welche Langeweile ihm bevorftand, ihm, der das Grün des Feldes nur im Salat liebte, wie er fich elegant ausdrüdte; und endlich, weil Du ſehr wahrjcheinlich das edelmüthige Anerbieten ablehnen mwürdeft, um nicht das fünfte Rad am Wagen zu fein.

Er hatte es geradezu gejagt: „Wenn Sie nicht fürchten, das fünfte Rad am Wagen zu fein, dann gehen Sie mit ung.“ Lucietta fagte nichts, fie lächelte nur in der ihr eigenen Weiſe. Und Du exlärteft muthig, Du fürdhteteft Dich vor dem fünften Rabe.

II.

Aber einige Zeit Hierauf ereignete ſich's öfter, da Du, nad) der Vorlefung über das Civilrecht, duch die Straßen von Turin ſchlendernd, Dich zufällig, ohne es recht zu merken, in der befandeft, in welcher Lucietta wohnte. Wer

Don Quirottino. 431

weiß, vielleicht war es ein Unglüc, welches die Laune des Schickſals Div zube— reitet; oder vielleicht war es ein Inſtinct; oder vielleicht ein Geſchäft Deiner Sendung als Apoftel. Die Sache ift noch heute nicht ganz aufgeklärt; aber e3 geichah einfach dieß, daß ihr eines Tages, Lucietta und Du, euch Angeficht m Angefiht einander gegenüberjtandet ; fie lächelte melancholiſch, als fie Dich zuerft von Weiten jah, und bot Dir die Hand zum Gruß, als fie Did) erreichen konnte, und Du drückteſt fie ftark, aber mit ftrengem Antlitz. Die Eifenbahn hielt ein Opfer in ihrem Bureau feſt, während ihr langjam, unter den Pappeln, gegen den Hügel ginget.

Du Hatteft niemals diefes Mädchen jo genau betrachtet, wie Du e8 num tonnteft. Neben Dir gehend, hatte fie gewiſſe Bewegungen, wie die eines Tinten, die wirklich allerliebft waren; dennod hatte ihr Schritt etwas Gemefjeneg, wenn er auch hüpfend war, und wenn fie den Kopf nad Dir wandte, ihn ein wenig erhebend, um Deine Augen zu juchen, und fie immer findend, jo jchien fie e3 zu thun, ohne einen Schatten von Kofetterie oder Schelmerei, jondern nur mit einer ihr natürlichen Anmuth. Bei diejen Kleinen Wendungen, wie wenn fie nad Etwas juchte, was Du ihr nicht geben wollteft, zeigte Lucietta Div ein Drei— viertelprofil, welches bezaubernd war, ein Profil, welches einen Seligen in Ver: züdung bringen und einen einfachen Sterblichen zum Seligen hätte machen können. Und & war damals, daß Du bemerkteft, wie jedes menſchliche Geficht einen Aſpect hat, aber nur einen, in welchen es jehr ſchön if. Die Frauen wiſſen das meistens nicht, und fünnen, aud) wenn fie e8 willen, dem männlichen Auge nicht immer die vortheilhaftefte Linie zeigen; wäre dem ander, armes, ftarfes Geſchlecht! Auch Habe ic) gedacht, daß der, welcher die Verliebten Iehrte, in dem Geficht ihrer Schönen die äfthetiiche Linie zu juchen, der armen Menſchheit einen Dienft erweifen würde verfteht fich, diefer armen männlichen Menſchheit, welche, nad) Deinem Dafürhalten, nicht viel verdient, nicht einmal Mitleid. Diefe Gedanken famen Dir in den wenigen Augenblicen de3 Stillſchweigens, während Du ihr von der Schönheit des jungen Frühlingsgrüns fpracheft, von dem großen Silberband, welches der Po zu den Füßen Turins, der Stadt des Stiered, auöbreitet und ähnlichen Nichtigkeiten.

Lucietta hörte lächelnd zu, fagte verichiedene Male, daß der Po jchön, das Grün Herrlich fei, und wandte Dir, um dieß zu fagen, ihr Engels-, ihr Teufels— profil zu. Man kann allen Verfuhungen widerftehen, in vielen Fällen muß man es ſogar; aber eine Wahrheit, die Einem auf der Seele brennt, allzulang für ſich behalten wollen, dag heißt nicht, der Gerechtigkeit einen Dienft erweijen.

„Wiffen Sie, was ich Ihnen jagen muß?“ fuhr e8 auf einmal aus Dir Heraus, mit einer Anmaßung, ganz Dein eigen, indem Du das harmloje Geſpräch fallen ließeft und Dich mitten auf den Weg pflanzteft, um Deine Begleiterin zu zwingen, Dich anzufehen „wiſſen Sie, was ich Ihnen jagen muß?“

Lucietta wußte es wirklich nicht.

63 war ein Augenblid de Kampfes in Deiner Bruft. Die Worte, welche Du auf der Zunge hatteft, waren die folgenden: „Ich muß Ahnen jagen, wenn Eie fortfahren, mir zu zeigen, wie ſchön Sie find, wenn Sie ſich zu mir wenden, um mich anzujehen und mir jo zulächeln, dann widerſtehe ich nicht länger und

432 Deutiche Rundſchau.

erkläre Ahnen, daß Sie mir gar zu jehr gefallen, daß ich verliebt in Sie bin, daß Sie mir nur im Geringften Muth zu machen brauchen, und ich entführe Sie der Oberitalieniſchen Eiſenbahn.“

Aber andere Gedanken ließen fih unter Deinem geflictten Kriegshelm ſehen; edelmüthige Gedanken, opferfreudige Gedanken, und wa3 Du wirklid jpracheft, lautete alſo:

„Nicht wahr, Sie wiſſen es nit? Es kommt Ihnen nicht einmal in den Sinn, daß ich mich mit Ihnen und Ihrem Geliebten beſchäftigt habe, um in Ihren Herzen zu leſen?“

Zucietta hatte jenes erftaunte Gefiht, da3 man immer hat, wenn man aus den Wolken fällt; man hat fich zwar Nichts zu leide gethan, aber man fühlt ſich nicht recht jicher.

„Und... was haben Sie in meinem Herzen gelejen ?”

Du Hatteft Nichts gelefen, aber Du verlegteft Did aufs Rathen, mit der Angſt, das Gegentheil zu denken und ein vollendeter Jeſuit zu fein.

„Ich Habe gelejen, daß Sie Ihrem Geliebten jehr gut find ift es viel» leicht nicht jo?" ?

Lucietta war aufrichtig; fie jagte nicht ja, fie ſagte nicht nein; fie fagte, daß fie e3 jelbft nicht einmal wiſſe, und lachte jo heftig, daß ſich ein Flug Sperlinge von der nächſten Pappel erhob. Aber Du wareft unerfchroden im Lügen, denn Du wollteft das Opfer bringen um jeden Preis.

„Sagen Sie mir nur, ob es nicht wahr ift, daß Ihnen ein häßlicher Ge- danke gefommen ?“

„Was für ein Gedanfe?“

„Daß Ahr Geliebter Jhnen nicht genug ergeben fe? Nun wohl, Sie irren fi; ic) habe mit diefen Augen gefehen, daß er eiferfüchtig if. Wenn er bie Zeitung bei Tiſche zu leſen jcheint und Ihnen den Rüden wendet, dann beobachtet er Sie heimlich, und nicht nur Sie, jondern uns Alle, Einen nad) dem Anderen. Er will den Inbefangenen ſpielen, um mit feiner Gleichgültigkeit zu renommiren; aber er ift vajend verliebt und eiferfüchtig auf alle Tiſchgenoſſen ... er ift eifer— jüchtig jogar auf mid... .“

Lucietta jperrte die Augen weit auf, um Deine Einfalt zu betrachten; fie lachte nicht einmal, jo groß war ihr Staunen über den feltjamen Fall.

Du, nahdem Du Dein ganzes Opfer vollbradht Hatteft, wareft immer nod nicht zufrieden, ſondern juchteft, ob nicht etwas zu fagen übrig ſei, damit das ihöne Geſchöpf jpäter erſt recht über Dich lachen könne.

„Ich weiß, daß er eiferfüchtig auf Sie ift,“ jagte Lucietta.

Sie jagte nichts mehr. Wir machten ſchweigend ein paar Schritte über den Hügel; dann fagte fie:

„Sollen wir umkehren?” und alsbald ftieget ihr nach der Stadt Hinunter,

Du hätteft gern eine Frage gethan, und zehnmal fam fie Dir auf die Lippen während diejes ſchweigſamen Heimmegs. Das elite Mal widerftandeft Du nicht mehr.

„Woher wiſſen Sie, daß er eiferfüchtig auf mich ift?“

Don Quirottino. 433

Und Deine Frage wurde mit leifer Stimme gemacht, wie ein Bekenntniß.

Lucietta blidte Dich mitleidig an; umd weil fie Dir nicht gleich) antworten wollte, jagteft Du:

„Er hat Recht, verzeihen Sie mir.“

Recht wozu? Verzeihen was? Da wareft Du nun glüdlich weit, Deinen Gewiſſensfall ins rechte Licht zu ſetzen, Dich ganz zu enthüllen, Don Quixottino, Dich mit Lächerlichkeit zu bedecken, während Du ſchmähteſt auf Deine gebrechliche Natur und die noch gebrechlichere Deiner Nebenmenjchen. Lucietta betrachtete Dich unausgejegt mit offenem Munde.

Und Du, Du jaheft gar wohl die rofigen Lippen, die glänzenden Zähne, die ſchönen erftaunten Augen und einen Schleier von Mißvergnügen über ihrem etwas bleichen Geficht. Aber Du ftandeft darum von Deinem Vorhaben nit ab. Du ſaheſt Alles, aber Du beachteteft es nicht. Dein Auge war in Dein Inneres hin- abgejtiegen, um in jenem großen Buche des Herzens zu blättern, in welchem fo viel Niedrigkeiten eingetragen find, jo viel Enthufiasmus, jo viel edle Kraft dicht neben erbärmlicher Schwäche zarte Empfindungen, gejchrieben wie mit einem Haud, Graufamkeiten, eingegraben wie mit Krallen.

Indem Du alles Das, was Dir entgegentrat, aufrihtig lafeft, fandeft Tu eine Thräne im Auge Deiner jchönen Begleiterin; da verſtummteſt Du. Sie war wenige Schritte von ihrem Haufe; ein trauriges Lebewohl und nichts teiter.

Du bliebeſt allein auf der Straße, wieder ergriff Di der Verdacht, ein Narr geweſen zu fein, aber Dein Opfer war wenigſtens vollbracht, Lucietta mochte nad) vierundzwanzig Stunden nicht ein Wort von allen behalten haben, welche Dir bei Deiner eigenen Verjpottung zu Hülfe gelommen waren; aber wenigftens würde das jchöne Mädchen auch nicht Dein, noch irgend eines Anderen geworden fein, bis Ippolito wieder mit ihr zufammengetroffen, um ihr jeine zufriedene Liebe ind Geficht zu gähnen.

Kurze Zeit hierauf geihah Dir's, daß Du Di mit der Geliebten Ippolito's bei Tisch befandeft, und nad) ihrem und feinem Benehmen jchien es Dir nicht, al3 ob Du von Deinem Don Auirotte» Werk jehr befriedigt fein könneft; denn Lucietta lächelte ganz eigenthümlih und die Blicke des Eifenbahnbeamten waren ficherlich auch nicht folche, mit welchen man in diejer niederen Welt die Schulden der Dankbarkeit bezahlen jolltee Du hatteft damals die Empfindung, ala ob Deine große Entjagung nicht gewürdigt worden ſei, wie fie es verdient hätte, aber was thun? Dir blieb das Bewußtſein, Du geblieben zu jein Du, der Starke, Du, der Gerechte, Du, dev Edelmüthige, während Lucietta und Ippolito ſich luſtig über Dich machten, indem fie fid) jogar unter Deinen Augen küßten. Du ertrugeft die Qual ſchweigend, und nicht ohne eine Art von Wohlgefallen; wenn fie Deine Wunde wieder aufriß, wenn fie Deiner Eigenliebe Stiche gab, jagteft Du ſcherzend: si possibile est, transeat a me calix iste. Seiner von den Cum— -panen verstand Lateinisch, und es reizte Dich deötwegen, die Worte zu überjeßen, damit fie aus Exrbarmen nicht fortführen, unter dem Tiſch ſich die Hände zu drüden und am Tiſch fich zu küſſen, indeſſen .. .. si possibile est. Es war

nicht möglid). Deutſche Runbdſchau. XVI, 9, 28

434 Deutſche Rundſchau.

Und eines Sonntags ſchwureſt Du einen feierlichen Eid: nicht mehr an den Tiſch zurückzukehren, an welchem es jeden gebotenen Feſttag Dein Loos war, einen Theil Deines Herzens im Angeſicht der ſchönen Lucietta und der anderen Dämchen, die in die Anderen verliebt waren, als Weihgabe darzubringen. Es wurde Dir nicht leicht, Deinen Vorſatz zu halten, weil Du eben ſo begierig biſt, ein Opfer zu fein, als Du Dich kühn und tapfer fühlſt, Andere, die ein Opfer geworden, wieder aufzurichten, aber endlich gelang Dir diefeg Wunder, wohl oder übel. Eigentlich fogar nicht übel Du veränderteft den Kampfplat.

IV.

Heberfpringen wir ein kurzes Stück Deines ſchlachtenreichen Lebens; Tu bift Doctor beider Rechte geworden, Du haft vor dem Präfidenten des Appell hofes gelobt, die Sadje der Unmündigen und Wittwen zu führen, und es ift Dir nicht jchiwer geworden wären nur recht viele troftlofe Wittiwen und Unmündige dagewejen, um fie mit Deinem Wort zu beſchützen! Du haft die Freiſprechung von einem Dutzend gewohnheitsmäßiger Diebe gegen Dein wahres Gewiſſen be wirkt, indem Du da3 forenfifche Gewiſſen annahmft, welches etwas ganz Anderes ift; jchon beginnen unter dem Helme Don Quixotte's Deine Haare grau zu werden; Du bift fünfunddreißig geichlagene Jahre alt, und noch jcheint es Dir, als hättejt Du nichts von Dem gethan, was Deine Miffion auf Erden verlangte.

Doch Haft Du Andere viele Schöne Dinge thun jehen. Zwei davon kommen Dir häufig in den Sinn.

Einer Deiner Collegen im lebten Semefter de3 Rechtsſtudiums, der im Rufe ftand, reich zu fein, weil er der einzige Sohn eines hohen Staatsbeamten war, lieh im Nathhaus jein eigenes Aufgebot anſchlagen. Er war faum zweiund— zwanzig Jahre alt; aber deswegen würde dennoch die Sache der Welt nicht tadeln werth oder lächerlich erfchienen fein, und um jo weniger der Studentenſchaft, welche bei ähnlichen municipalen Verkündigungen leicht im Stande geweſen wäre, ſich mafjenhaft in die Ehe zu ftürgen Dir war fie jonderbar vorgelommen, nichts mehr. Du hatteft an diefen jungen Mann gedacht, der die eigene Seele noch nit Fannte, den Kampf des Lebens noch nicht von fern gejehen, und dennoch die Schwierigkeit de3 Sieges verdoppelte, indem er eine unerfahrene Gattin ſich zur Seite ſetzte. Du mollteft diefen Doctoranden fennen lernen, um ihm zu fagen was? Um ihm ein gutes Wort zu jagen, welches ihm in der Stunde der Verzagtheit wieder in den Sinn käme, um ihm die Treue, den Muth, das Opfer zu lehren. Aber ald Du von jeinen eigenen Lippen vernahmft, daß feine Braut Wittwe und arm, daß fie zwei Jahre älter al3 er und drei Kinder aus ber erften Ehe habe, daß fie aber gut und ſchön, o jo qut und fo jchön fe! ba fing der Heirathscandidat an, Dir ein wenig närriſch zu erfcheinen und flößte Dir ein großes Mitleid ein.

Ohne feinen Fall noch verihlimmern zu wollen, machteſt Du Did an ihn heran, gewanneft jein ganzes Vertrauen und erfuhreft Folgendes: Der zukünftige Gatte war auch ſeinerſeits keineswegs reich; er hatte nur den Schein gemächlichen Auskommens, weil fein guter Vater ſich einen Theil der Bejoldung vom Munde abjparte, um ihn auf der Univerfität zu erhalten und einen Advocaten aus ihm

Don Quirottino, 435

zu maden, und der Gottverlaffene, nachdem er die Eramina des canonifchen und römijchen Rechts mit höchſter Auszeichnung beftanden, wollte, wenn ex nur erft den Doctorhut gewonnen und die Toga abgelegt hätte, die Codices beim Büchertrödler an der Straßenede verkaufen. Iſt es möglih? Ja, gewiß; denn er hatte feft bejchloffen, fich feiner geliebten Kunft zu widmen. Und welche war feine geliebte Kunft? O, Du Ejel die Literatur!

Man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren laffen, er ſprach von feiner Schwäche mit feiner lebendigen Seele, aus Scham; aber er jchämte fich auch ſchweigend; nur hatteft Du ihm ein ſolches Zutrauen eingeflößt, daß es ihm wohl jcheinen mochte, er könne fein Verhalten Jemandem anvertrauen, der fähig fei, ihn zu verftehen. Er wartete auf ein Wort, verjchieden von den wenigen, die Dir auf die Lippen famen und immer diejelben waren: „DO, Du Ejel!“

Im Grunde jedoch betwunderteft Du, damals wie heut’, diefen unerſchütter— lichen Entſchluß, ſich jelbft zu ruiniren. Diejer Jüngling lebt noch, er hat wohl ein mühjeliges Leben gehabt, aber er wurde geliebt und liebte ebenſo jehr; und man Tann nicht jagen, daß er viel unglüdlicher jei, al3 die Anderen. Du mußt darum nicht denken, daß er jei wie Du; nichts weniger. Er ift niemals aus— gegangen, nad) einem Opfer juchend, durch welches er die verrenkten Ideen der Menjchen wieder zurechtftellen, oder die Ungerechtigkeiten und focialen Schäden verbefjern könne; und wenn er verftanden hat, da3 eigene Herz und feine ehr- geizigen Gedanken zu befriedigen, jo hat er da3 Leben wohl verbradt. Unter— deifen bewunbderteft Du, und bewunbderft noch immer, dieje Chryjalide des ledigen Advocaten, aus welchem ein verheiratheter Poet nebſt Nachkommenſchaft Hervor- ging. Nicht als ob dieje feine tapferen Thaten eigentlich die Ideale wären, denen Du bis hierher nachgegangen; möge ſich nur die Gelegenheit darbieten, und Du, Don Quixottino, wirft ebenjo viel, und mehr thun, und einzig aus Liebe zum Dpfer! Aber ficher waren die Dinge doc ſchwer genug, um Deinen Reſpect zu verdienen.

Aber das Schwerere ſchien Dir immer jene That Deines Freundes Vittorio.

Dan kann fie in wenigen Worten erzählen, jo einfach ift fie.

Meinem Freunde Vittorio, der von der eigenen Arbeit lebte, gelang e8, bie Schulden eine Bruders zu bezahlen, welcher vorgezogen hatte, alle Rechnungen zu begleichen, indem ex ſich eine Revolverfugel in den Kopf jagte.

Mein Freund Vittorio that das in aller Stille, indem er die alte blinde Mutter glauben machte, daß der jelbftinörderiiche Sohn nad) Amerika gegangen fei, um dort Geld zu erwerben; und ex jelbft jchrieb jeden Monat lange Briefe, die er der Mama vorlag mit welchem Herzen kann man fi) denfen.

AH! das ift in der Wirklichkeit ſchwer; ich jage nicht, daß Du nicht fähig geweſen wäreft, e8 zu thun, denn Einer wie Du weiß niemals recht, weſſen ex nicht fähig jein würde; aber gewiß, das Unternehmen Vittorio's läßt ſich mit Nichts von Allem vergleihen, was Du zu thun Dir einbildeteft, mein Don Quixottino, als die Begierde Dich trieb, Dich zu opfern für die Gerechtigkeit.

Seht zählft Du fünfunddreigig Jahre, haft ein wenig weiße Haar an den Schläfen und viele Silberfäden, welche Yucietta im Dickicht Deine ſchwarzen

28 *

436 Deutiche Rundicau.

Bartes entdeckt hat. Denn Du haft Lucietta wiedergefunden und haft ein zweites Mal fie verloren. Die Geſchichte ift eine von jenen, welche den Leuten Mitleid machen, wenn fie fie nicht zum Lachen bringen. Dich hat fie eine Enttäuſchung gefoftet, bitterer noch al3 die anderen.

Alſo Du fandeft Lucietta in Mailand wieder mit dreizehn Jahren mehr, aber noch ſchön; vielleicht war ihr Liebhaber ihrer müde geworden, oder fie des Liebhaberd, Du bift nicht genau darüber unterrichtet, denn als Du zu willen begehrteft, was aus ihm geworden, erwiderte fie Div: „Er mußte eine rau nehmen; vielleicht hat er fie genommen, vielleicht hat er ein Neft voll Kinder, welche die öffentlichen Schulen beſuchen oder er ift geftorben, ich weiß es nicht.“

Jenes melancholiſche Gefichtchen, welches Dir fo jehr gefallen hatte, welches Dir noch gefiel, denn die Zeit war faft ſpurlos an ihm vorübergegangen , hatte nur die jhöne Bläffe verloren, welche Dir einft das Mädchen jo bezaubernd er- jcheinen ließ. Du, ber Du aufrichtig bift, bateft fie, fich feine Schminke auf bie Wangen zu legen, damit Du fie lieben fönneft wie früher, und fie willigte mit Freuden ein.

„Haft Du mid damals jehr geliebt?“

„Und ſag': wirft Du mich noch lieben? Wirft Du mich immer lieben? Ich bin wie ein Blatt am Baum .. .“

Sie jagte nicht3 weiter, aber es war mehr ald genug für Did, Don Quirottino.

Du dachteſt an den bevorftehenden Herbft diefer Armen, welcher das Leben noch wenige Jahre der Schönheit verſprach; dann würde der October über den Baum berfallen und ihm aller feiner Blätter berauben; der Nordwind würde Lucietta erfaſſen und fie dahintreiben auf der Heerftraße in einem tollen Tanz mit den anderen welfen Blättern, bis auch fie, fie, jo Schön und jo geliebt, in diefelbe Vergeffenheit aufnehmen würde der gemeinjame Kehrichthaufen !

Du konnteft fie lieben und das war Dein Net; aber Du faßteft den jchönen Gedanken, fie zu retten.

„sch bin zur rechten Zeit gekommen,“ ſprachen unter dem Ritterhelm bie Stimmen Deines Gewiffens; „ich halte fie feit am Rande des letzten Sturzes, ich breite über den Abgrund meine ganze Liebe, und nicht die Liebe allein, ſondern mein ganzes Selbft, die Schmerzen, die ich erduldet, und die Qualen meiner Träume; ich laſſe wieder auferftehen alle Todten meiner Schlachten, den Enthu— fiagmus, die Gläubigkeit, die Kraft meiner Beredtfamteit, und alles Das breite ich über die Tiefe, damit Lucietta nicht hineinftürze, wie es ihre graufame Be- flimmung war. Dann laß’ id jie die Augen erheben zu dem harten Aufftieg und fie ermunternd und fie unterftügend bei jedem Schritt und fie liebend zu jeder Stunde unjerer Wanderung, laß’ ich fie wieder emporfteigen eine nach der anderen die Stufen, welche fie hinabgeglitten ift, faft ohne des Böſen gewahr zu werden. Wenn wir auf dem Gipfel angelommen jein werden, weit von Allem, was häßlich ift, dann wird die Gourtifane ftill weinen und fi an meine Bruft ichmiegen, um mid) al3 Weib zu Lieben.“

Ad, welches Feſt alddann, Don Quirottino!

Don Duigottino. 437

Du dachteſt nicht viel darüber nad: ohne Weiteres machteft Du Lucietta den Vorichlag ihrer Rehabilitation; fie lachte zuerft, weil fie den praftifchen Werth der Sadje nicht recht begriff; aber ohne aud nur einmal zu überlegen, Tagte fie ja.

Ans Merk, Don Quirottino!

Es war nicht leicht, eine Wohnung zu finden, die Lucietta gefiel; fie wollte fie im erften Stod, höchſtens im zweiten, mit einem enfter, wenigſtens mit einem nad der Straße, mit der Entreethür an der Treppe, nicht über einer jener Hinterftiegen, auf welchen bie klatſchſüchtigen Frauenzimmer ſich begegnen. Jeder Gedanke hatte eine vernünftige Grundlage; fie machte wohl lange Spaziergänge auf ebenem Wege, aber es ward ihr ſchwer, Treppen zu fteigen, e8 war vielleicht ein organijcher Fehler. Und in den Stunden der Langenweile (die fie natürlich) haben würde, wenn Du nicht bei ihr wärefl), welche unfchuldigeren Zerftreuungen tönnteft Du Deiner Gefährtin bieten, al3 ihr erlauben, an ein Fenſter nad) der Straße Hin zu treten?

Du billigteft Alles; fandeft Alles, was fie wünſchte.

Sie hatte ihre eigenen Möbeln; aber es war eine Freude für Di, im Gedanken an die geheime Freude diefer wiedergeborenen Seele, die Tapete ihres Gabinet3 und ihres Heinen Salon3 zu erneuern, einen Anrichtetiſch, der in der Küche, eine Garderobe, die im Vorzimmer fehlte, anzufhaffen. Und Du dachteſt weiter daran, fie ganz unvermuthet über dem Tiſch de3 Eleinen Salons eine prachtvolle Petroleumlampe finden zu laffen, weldye Dich achtzig Lire Koften follte. Du bift nicht rei und Hatteft es Lucietta gejagt, nit um ihre Launen zu zügeln benn e8 war jelbftverftändlich, daß fie Launen nicht mehr Haben dürfe, daß die Zeit der eitlen Wünſche vorüber ſei fondern damit fie, von Deinen Verhältniffen völlig unterrichtet, den Beweiſen Deiner Zärtlichkeit den rechten Werth beilegen könne.

Die Bedingungen waren Elipp und Har: Du hatteft ihr verjprocdhen, all’ Deine freie Zeit bei ihr zugubringen, fie fpazieren zu führen in den Morgen— ftunden ; manchmal wolltet ihr den ganzen Weg um die Wälle maden und als- dann hungrig in eine entfernte Trattoria fallen, wo nicht einmal die Luft hätte ahnen fönnen, wer ihr eigentlich wäret; aber fie ihrerjeit3 jollte gewiſſen langen Promenaden entjagen (von zwei bis vier, welche die Stunden des Gewühls auf dem Gorjo find) Promenaden für ihre Gejundheit, jagte fie, an denen fie jo jehr hing, bevor fie mit der Verführung eines ſchelmiſchen Blickes Dich ein zweites Mal entflammt hatte.

Und da Du Dir am Ende der Rechnungen doch nicht gerade ein X für ein U vormachen läßt und gewiſſe Dinge, die fich in diefer niederen Welt zutragen, Dir nit unter der Nafe vorübergegangen find, ohne daß Du Deine Lection daraus gelernt hätteft, fo Hatte fie Dir verſprechen müfjen, daß poftlagernde Briefe für fie nicht mehr anfommen dürften, daß fie in das Haus gewiffer in= timer Bekannten (intim natürlich im Sinne von Angelegenheiten der Wäſche, de3 Friſirens und der Toilette) den Fuß nicht mehr fee, bei Strafe bei Strafe der Trennung für immer. As Du jagteft: „Trennung für immer“, küßteſt Du fie auf die Stirn, fo daß die harten Worte ihr eine Liebfojung

438 Deutfche Rundſchau.

jcheinen konnten. Aber Du wareſt feft entichloffen, daß, wenn Du zu ihrem Unglüf (jagen wir die wahre Wahrheit: zu Deinem Unglüd) fie auf einem Fehltritt betreffen würdeſt, Du fie einfach aufgegeben hätteft.

Sie hatte lachend zugehört und fchtveigend dem Pakte zugeftimmt; fie hatte fogar ein neue Schloß an ihrer Hausthür haben wollen, damit fie Dir feierlich die Schlüffel übergeben könne und e3 Dir jcheine, als empfingeft Du die Schlüfel ihres Herzens,

Und jo jchien e8 Dir. Aber zwei Monate find vergangen, eine lange Zeit für gewiffe Arten von Liebe, die Schlüffel des unfeligen Schloſſes wurden Dir zehnmal abverlangt, mündlich und jchriftlich, und immer vergebens, und nun haft Du fie vor den Augen zugleich mit dem Schloß; denn Lucietta hat e8 vom Schmied abnehmen laſſen und Dir die ganze Geſchichte zurückgeſchickt.

Was ift geichehen? was hat fich in zwei Monaten jo Seltjames ereignen können, um eine ſolche Kataftrophe herbeizuführen? Ich brauche nicht einmal zu fragen, ich errathe e3, was übrigens nicht ſchwer ift.

Denn Lucietta ift großmüthig; fie hat ihre Freiheit wieder erlangen wollen, aber Deine Befuche nicht zurückgewieſen, wenn Du fie ihr noch machen willft; Du jollteft fie nur einen Tag zuvor benachrichtigen.

Ach, welch' ein Jammer, zu denken, daß fie dem erften Beften einen Schaf hinwirft, um im Austausch dafür ein Almoſen zu empfangen!

Nicht wahr, Don Quizottino, ift e8 nicht ein Jammer?

Ich habe mein Verſprechen gehalten, welches ih Dir gegeben; ich habe Dir Alles enthüllt. Aber heben wir noch einen Schleier; bekennen wir Eines, was uns zu verſchweigen gefiel, da wir wohl willen, daß in jedem fterblichen Menſchen zwei Menfchen find, einer, welcher nachdenkt, richtet, Urtheile Fällt und leidet; ber andere, welcher liebt, ſich quält, genießen will und gleichfalls leidet. Bis hierher habe ich zu dem „Andern“ geſprochen; aber die beiden ‘Berjonen, melde in Don Quixottino waren, find ganz und Beide ich ſelbſt. Don Quirottino bin ih, ich allein. Wollte der Himmel, daß e3 feine anderen diefer Gattımg mehr gebe, nachdem er jeine Luft gebüßt, und ein jo herrliches Exemplar der» jelben geichaffen hat !

Werfen wir Alles in die Luft, was bis jetzt unfere Qual geweſen, laſſen wir die Schmetterlinge Hineinflattern in unjer Leben und die Grillen um uns her zirpen, betrachten wir und al3 geheilt und jeien wir entichloffen, ein Menſch zu fein, nur einer, völlig verjchieden von den beiden anderen.

(Fortießung folgt.)

Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter.

Don Iul. Pof (Hannover).

Zur Beobachtung des Kampfes zwiſchen der Londoner Noth und der Londoner Hülfe (im weiteſten Sinne dieſer Worte) gibt es fein günſtigeres Gebiet als das „Ditende” und feine pafjendere Zeit als die fpäteren Nachmittags: und Abendftunden des Sonnabend?. Dann Hat eigentlich der Sonntag jchon begonnen, und ber Eaſtendman jchlürft in fo vollen und jo tiefen Zügen, wie ihm der frifchgefüllte Geldbeutel geftattet. Dabei ihn aufzufuchen, müſſen wir diefen Stabttheil nach allen Richtungen kreuz und quer durchwandern.

Nur ein Blid jei im Borübergehen in diefen Prachtbau geworfen, der fih ins Proletariatviertel verirrt zu haben ſcheint. Das Schild befagt, daß wir eins ber Geſchäftshäuſer der vereinigten englichen Arbeiter- Gonjumpereine vor uns haben. Der zwölf Arbeiter umfajlende, von den verjchiedenen Ortsvereinen des Landes erwählte Leitungsausſchuß Hat fich gerade Heute hier verfammelt, um die jährliche Theeprobe abzuhalten und über das Wohl feiner zahlreichen Arbeiter und An— geitellten zu berathen. Nicht weniger ala vierhundert zählt diejes Haus. Sie ſpeiſen in parfettirten Zimmern, befiten ihre reich ausgeftatteten Hülfscaſſen, Abendeurſe und Clubs ja eine eigene Mufifcapelle. Der erſte Blid in den ung überreichten, 542 Seiten umfaffenden Jahresbericht Fällt auf die Abbildungen der Niederlaffungen in Birmingham, Mancheiter, Newyork, fogar in Hamburg, auf die Chofoladen=, Cakes⸗ und Schuhfabriken, auf die Bankhäufer, ja die Schiffe auf See insgeſammt alfo Eigenthum der in Conſumvereinen verbundenen englifchen Arbeiterariftofratie, die fich jtärker ala der deutjche Bürger vom deutjchen Fabrikarbeiter von den Menſchen abhebt, deren Woge mit dem Vorrüden des Stundenzeigers immer mächtiger auf den Straßen anſchwillt. Sie ftodt an den Straßeneden. Im Erdgeſchoß faſt jeden Eckhauſes haben nämlich die Volksbeglücker oder Vollsvergifter je nach dem Stand- punkt ihre Apotheken aufgeichlagen.

In dem Lande der großen Gegenfäße ift mir fein größerer entgegengetreten als der zwifchen den jchmuden, mit blinfenden Kannen und Kännchen bejegten, mit Meifing beichlagenen Schenktifchen und den zerlumpten Gäften, die Hier verfehren. Männer ohne Hemd auf dem Leibe, Hbalbwüchfige Jungen aus Haut und Knochen, rauen» jimmer mit verthiertem Geſichtsausdruck; aber das Bejammernswertheſte: dieſe jungen Weſen, noch im kurzen Kleidchen, die Ponylocke ſchon auf der Stirn, einen greiſen⸗ haften Zug im Antlitz auf dem Arme das eigene Würmchen. Ahnen Allen öffnet der Schnapsteufel feine Arme, um fie in Bam Rauiche das namenlofe Elend vergeflen zu machen.

440 Deutiche Rundichau.

Wer demjelben einmal Aug’ in Aug’ gegenübergeftanden, nimmt jelbft die uns bier komiſch erfcheinenden Kampfmittel gegen den Branntwein ernſthaft und wundert fich nicht mehr, daß es vielfach zum guten Ton gehört, auch auf den Balfam fürs zerriffene Herz zu verzichten und fich „einzufchwören”, um die Maſſen mitzureißen.

Ohne Zweifel entfremden die Paufen und Trompeten der Heildarınee den Gin— paläjten eine ganze Anzahl von Kunden. Wäre die Art nur feine jo unwürdige. Während der eine Dfficier feine Belehrungsgeichichte ergreifend erzählt, unterhalten fich feine Gollegen ganz munter und fallen nur dann aber auch mit Händen und Füßen in den Gaffenhauerrundreim ein, mit dem die Erwedung geichloffen wird.

Uebrigens befigt die Heilsarmee bereitö eine ganze Reihe von Goncurrenten. Die Grove» Mijfion zieht e8 vor, jtatt durch Uniform durch feine Gejellichaftstoilette das Publicum heranzuziehen. Mitten auf der Straße wird unter weithin leuchtender Laterne eine fliegende Rednerbühne errichtet, zu der das Harmonium die VBorüber- gehenden anlodt. Dort macht ein Mann mit feinem Karren Halt und beginnt aus der Bibel vorzulefen. Das neugierige Publicum ſammelt fih um ihn, der Karren wird zur Kanzel und die Predigt beginnt. Sie richtet anfcheinend mehr aus ala die der zahlreichen Kirchen und Gapellen, die heute Abend glänzend erleuchtet find. Die Gloden ſummen das Didens’sche: „Es kommen Keine, es kommen Seine.“

Um jo mehr Menjchen drängen fich in die geräumige Halle der Temperance» Geſellſchaft. Schon eine Viertelitunde vor Beginn ift Alles fo dicht bejet, daß man fih nur hineinzwängen fann. Es wird dies übrigens nicht übel genommen; namentlich die zahlreich anmwejenden Mütter find zur Rücdfichtsnahme geneigt, denn etwa der fünfte Theil der Anmejenden befteht aus babies.

Aber welche Enttäufchung! Statt einer jener vielgepriefenen „popular concerts“ die Productionen eines gewöhnlichen Caf6-chantant, in dem nicht einmal mit dem Genre, nämlich dem Gouplet, gewechjelt wird. Die fromme Temperance -society hat es jogar für feinen Raub gehalten, eine kurz geſchürzte Schöne, die ihre Geſänge mit entiprechenden Tänzen begleitet, auftreten zu laffen. Die Unmöglichkeit, hier Brannt— wein zu erhalten, und der Temperance- Vers, den jedes Gouplet enthält, find das Einzige, was diefe Anftalt von den anderen Londoner Belujtigungsftätten für die unterfte Million unterſcheidet. Im „Queens-palace*, nicht weit von bier, geht es mindejtens ebenſo ordentlich zu. Es Liegt dies daran, daß der Herr Director nicht hinter der Bühne, jondern vor derjelben auf einem erhöhten Pla im Orcheſter förmlich thront. Er überficht das ganze Publicum, verfolgt aber zugleich in einem Spiegel die Vorgänge auf der Bühne und fteht mit dem Leiter derjelben telephonifch in Ver— bindung. Sobald der Hammer in feiner Rechten niederjällt, richten ſich Aller Augen auf den Gewaltigen, um zu fehen, wen eine Grmahnung, ein Verweis, oder gar die Ausweilung trifft.

Auf dem Wege von diejen Stätten der Luſt durch die engeren Nebengaflen be— gegnen wir dem bitterften Elend: Heimathloſe Jungen haben fi auf den Häuſer— treppen zum Schlaf zufammengelauert. Eben um diefe Zeit durchfährt der Dr. Barnardo die Straßen und händigt den Knaben ein Zidet zu einer Abenderquidung in feinem „Home“ ein Die Burfchen follen dadurch mit dem Heim befannt gemacht, in das— jelbe hineingelodt werden. Sie drängen fich auch nach den Karten vielleicht weil es neben dem Imbiß noch ein Sirpenceftüd gibt. Ya, eine ganze Anzahl macht ein Geichäft daraus, am felben Abend nacheinander in verfchiedenen Straßen und ver- Ihiedenen Stellungen einmal wird 3. B. die Jade umgekehrt angezogen die Aufmerkfamkeit des Doctors auf fich zu lenken. Die eingeheimften „Tickets“ werden dann unter den Kameraden verauctionirt.

Genau jo wie die Jungen mit Barnardo, verjährt er mit feinen Kunden. Wer ihm einmal eine Unterftügung geichidt hat, wird an die Wiederholung feiner Gabe häufig dadurch erinnert, daß er eine Doppelphotographie zugefandt erhält. Auf der einen Ceite ein verfommener, abgemagerter, zerlumpter Junge, auf der anderen ein wohl« genährter, ſauberer und munter breinfchauender. Man erwartet denjelben Knaben in

Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter. 441

den beiden Bildern. Weit gefehlt, e& find zwei beliebig zufammtengefegte. Die Reclame fpielt bei Barnardo überhaupt eine große Rolle. Warum ijt er mit diefer Unſtalt nicht auf das viel gefündere und billigere Land gegangen? Schon beim Herannahen ftiert einen das weit hinausfchauende Schild mit der Rieſenaufſchrift „3000“ entgegen. So viel Knaben find bereit? durch Barnardo’s Hände Hindurchgegangen, jo viel hat er durch Gewöhnung an Ordnung, Reinlichkeit und Arbeit zu nüßlichen Gliedern der Gejellichaft, größtentheils zu Goloniften in Ganada, ausgebildet.

Bor den Häufern angelangt, berühren den Deutjchen die Barnardo » Scenen un— angenehm, mit denen die Wände und Fenſterſcheiben bemalt find. Wir betreten den großen Geſchäftsſaal im Erdgejchoß, in welchem etwa dreißig Beamte die Scyreibereien beforgen, namentlich die Briefe erledigen, deren neunhundert etwa täglich eingehen. Hier werden wir auch einer Führerin überliefert, welche uns die geradezu mit englifcher Behaglichkeit ausgeſtatteten Schlaf, Speife- und Erholungejäle zeigt. An dem großen überdadhten Schwimmbad iſt das Schönite die Empore für die Beichauer. Jedes Handwerf hat hier eine Werkſtatt. In der Buchdruderei finden wir die Knaben gerade dabei, zu jegen, und zwar die Sündengejchichten ihrer Kameraden.

Noch kennzeichnender für die Barnardo’sche Art iſt die Thatiache, daß er wiederholt in Proceffe mit den Eltern feiner Schüßlinge verwidelt wurde. Dieſelben erheben Anklage, daß er ihnen ihre Kinder geraubt Habe, ja daß er diefelben vor ihnen veritede natürlich in beiter Abficht.

Bemerfenswerth it, daß man dies Alles vecht gut weiß; vom oberjten Minijterial: beamten bis zum ungelernten Arbeiter hat mir Jeder darin zugejtimmt, daß in dieſem Barnardo ein gut Stück Barnum ſtecke. Trogdem fließen ihm 2. Millionen Marf jährlich zu.

Etwa ebenfoviel hat eine Veranſtaltung gefoftet, von der gleichialld bislang nur Rühmendes in Deutjchland berichtet wurde.

Ein Roman von Walter Bejant!) war für den Gedanken eingetreten, den Londoner Heloten, die ihr Leben in den elenden Hütten, ungefunden Werkjtätten und Fabrik— fälen zuzubringen gezwungen wären, möchte doch die Möglichkeit gegeben werden, die wenigen Stunden der Erholung in behaglichen, jchönen, ja, da es nur kurz fein könnte, ſehr jchönen Räumen zuzubringen. Der Gedanke zündete: der Prinz von Wales legte den Grundſtein, die Königin jelbjt eröffnete im fernen Oſten einen wahren Palajt fürs Dolf. Er iſt noch nicht ganz vollendet, aber jchon jet kann das Theater mit manchen unferer Hofbühnen wetteifern. Die Laboratorien und Hörläle find reicher ausgeſtattet als die unferer Eleineren Univerfitäten. Wohl noch nie ift ein jo mannigfaltiges Lehr— programm wie für den „Peoples palace* aufgejtellt. Außer den Schulen für Knaben und Mädchen foll Unterricht für Erwachiene jtattfinden: im Tanzen, in Inftrumental- mufil, Rollihuhlaufen, Radfahren, Rudern, Bogen- und Gewehrſchießen, Billardipielen, Borlefen, Declamiren, Blumenpflege, Gärtnerei, Kochkunſt, Schneidern,, Brieffchreiben, Versmachen, Malen, Zeichnen, Modelliren, Photographiren, Holz und Elfenbein— fchnigerei u. j. w. Die Bibliothek befindet fich in einem hohen Kuppelbau, an deflen Wänden die Bücher aufgeftellt find. Rings herum führen Galerien, und von dieſen aus laufen auf Seilbahnen Kaften nad) dem Mittelpunkte, der Ausgabejtelle, um die bier verlangten Bücher herbeizuſchaffen. Alſo Alles auf größtem Fuße eingerichtet, aber leider nicht entiernt dementiprechend benugt. Wenn wir die zweiundzwanzig größten deutjchen Städte, d. h. die über 100000 Einwohner, aneinanderlegen, jo befommen wir noch lange nicht das eine London heraus. In dem verhältnißmäßig feinen Theile, in dem wir uns augenblidlich befinden, Hätte Berlin reichlich Plab. Für die Mehrzahl Derjenigen, denen der Palaft beitimmt wurde, ift daher der Weg zu demjelben viel zu weit. Es herrfcht darüber auch nur eine Stimme, daß man befier gethan, mit den hohen Beträgen, die der Palaft verfchlingt, die zahlreichen Arbeiterclubs und »Vereinigungen in ihren Bildungäbeftrebungen zu unterftüßen.

z * „All sorts and conditions of men“; man vergl. unſere Notiz darüber im vorigen Hefte,

442 Deutſche Rundſchau.

Dieſelben wurden aber bei der Einrichtung nicht einmal nach ihren Anſichten und Wünſchen gefragt.

Das Lob, welches den eben geſchilderten Veranſtaltungen meines Erachtens in zu reichem Maße bei uns gezollt wird, möchte ich aber für eine der neueſten Schöpfungen Octavia Hill's erbitten. Dieſe Dame geht in ihren Bemühungen, die kleinen Leute an Ordnung und Reinlichkeit zu gewöhnen, bekanntlich darauf aus, ihnen das Heim möglichſt behaglich und feſſelnd zu machen. Hier in der Wüſte jener übel berufenen ſchwarzen Häuferblods hat fie ſich nun faſt überboten. Ein anmuthiger, mit Blumen— beeten und Teichen, mit Brücken und Laubgängen gezierter kleiner Park iſt von zwei— ſtöckigen Einfamilienhäuſern eingefaßt, in denen beſſer geſtellte Arbeiter, und zwar ohne jedweden, auch verkappten Zuſchuß wohnen. Einen hübſchen Abſchluß des Bildes liefert die ſtattliche Spiel- und Erholungshalle, in der auch die Wochenconcerte ſtattfinden, wenn es im Pavillon des Parkes zu rauh iſt. Das kleine Idyll iſt natürlich nicht nur den nächſten Anwohnern beſtimmt. Friſche Luft und Sonnenſchein ſchöpfen aus ihm auch die in den höheren Stockwerken der umliegenden Miethskaſernen Wohnenden. In einem diejer, die Allerärmten beherbergenden Häufer, vier Treppen hoch einem Haufe, von dem Octavia Hill mit Stolz erzählt, daß fich die Kinder, als fie es übernahm, in dem ZTrinktwafjerbehälter auf der Plattform badeten hat ein junger, reicher Mann dauernd feinen Wohnſitz aufgejchlagen, ich möchte jagen ein moderner Einftedler, mindeſtens einen Sonderling würde man ihn bier nennen. Mr. Broofe wirkt gleichzeitig ala Agent der Charity association und Octavia Hill’s, jedoch nur, um dadurch den Boden für eine ganz befondere Wirkfamkeit zu gewinnen, nämlich zum Beiten der Fabrikjungen des Viertels.

Gerade am Sonnabend Nachmittag gegen ſechs Uhr ſtrömen fie in dem Hofe diefes Haufes zufammen, das Veſperbrot noch in der Hand, entrichten ihren Penny, werden darauf in eine ſchmucke Uniform geſteckt, und num geht's unter dem Commando eines alten Gorporal® und dem Obercommando eines alten Major ans Soldatenipiel. Ich Hätte nie geglaubt, daß nach einer fauren Fabrikwoche den Jungen das Erercieren einen jo außerordentlichen Spaß machen könnte. Sie fennen freilich den Ernſt desielben nicht, und können, da es bier feine Spielpläße gibt, dem eingeborenen Hang nicht anders genügen. Sobald der Curſus beendigt iſt, empfangen die Zöglinge, welche regelmäßig theilgenommen, die Hälfte ihrer Einzahlung zurüd.

Mr. Brooke betrachtet übrigens das Gadettencorps eigentlich nur als Lockmittel für feinen „Boyclub“. Es ift geradezu rührend, ihn Abends in dem bejcheideniten Glublocal, das gedacht werden kann, zu jehen, wenn die Jungen ihn umtoben, um— lärmen, mit Fragen bejtürmen, mit Gigarrettendampf anqualmen. Er lieft ihnen vor, befieht mit ihnen Bilder, turmt vor, lehrt fie regelrecht boren, kurz, ift ihr guter Kamerad.

Wie die gleichalterigen Fabrifmädchen, die in diefen Räumen an den Abenden, an welchen die Knaben nicht erjcheinen, von einigen jungen Damen mit Singen, Spielen und Tanzen unterhalten werden, an diejen ihren Patroninnen das ganze Leben hindurch hängen und haften bleiben fie haben ſich an ihnen beinahe feitgefogen fo geht's auch Mr. Brooke mit feinen Zöglingen. Sie lafjen ihn nicht (od. Wenn fie erwachfen, wird er mit in ihr Vereinsleben Hineingezogen. Sie machen ihn mit ihren Bätern befannt, jo daß der verhältnißmäßig junge Mann ſchon jetzt in zahl- reichen Arbeiterclubs des Eaſt-Ends als Vorjtandsmitglied eine angejebene und ein- flußreiche Perfönlichkeit ift.

Gerade während ich in London war, erreichte ihn eine eigenthümliche Berufung, und zwar von Geiten eines Freundes, der, von gleichem jocialen Eifer wie Broofe bejeelt, dadurch fi an der Löfung der focialen Frage verfucht, dab er fein Landgut parcellirte, an die bisherigen Arbeiter verpachtete und aus denjelben eine Productiv- genofjenjchaft bildete, der er bei der gejchäftlichen Leitung, dem Abſatz der Erzeugnifie, der Beihaffung der Düngeftoffe, Majchinen u. ſ. w. feinen Beijtand unentgeltlich zur Ver— fügung ftellt. Brooke follte nun die Gaftwirthichaft für die Genoffenichait übernehmen.

Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter. 443

Ein anderer junger Freund, der Sohn eines reichen Fabrifanten in Halifar, den ich dort befuchte, hat den naturgemäßeften und daher vielleicht erfolgreichiten Weg eingefchlagen: er widmet feine freie Zeit den jugendlichen Arbeitern feines Waters. Nicht nur den Abendunterricht leitet er, auch die Vergnügungen gibt er an und bes jchreitet dabei neue Wege. Im Hochjommer nämlich vereinigen ſich Mr. Whitwell und etwa zwölf jeiner Freunde, um mit den Jungen auf einige Wochen ein Lager an der See zu beziehen. Da bricht an einem jchönen Morgen die ganze Schar mitteljt Ertrazug auf, ala ging's in die Wildniß. Nicht nur die Zelte, Tiſche und Stühle, der Kochherd und das Kochgejchirr werden mitgenommen, nein, auch die Nahrungs- mittel. Das Hauptvergnügen für die Jungen ift, daß Jeder wie in einem ordnungs— mäßigen Feldlager, beim Zeltaufichlagen,, Feueranmachen, Kartoffelichälen, Reinigen und jo fort mit Heran muß. Alles mit militärischer Pünktlichkeit. Selbft beim Baden und Spielen, der Hauptbeichäftigung des Tages, geht's nach Trompetenftoß und Trommeljchlag.

Ih kann nur einige Vertreter diefer Gruppe junger Wohlthäter hier vorführen. An einer Erfcheinung dürfen wir aber nicht vorübergehen: Mr. Laurie bekleidet eine Lehreritelle an dem vorhin erwähnten „People's Palace”. Als ich ihn dort auffuchte, follte ich zudörderft bei ihm frühſtücken. Wir begaben uns in feine befcheidene, in der Nähe belegene Wohnung und fanden dort einen halbwüchfigen Jungen, den Hut auf dem Kopfe in einem „easy chair“ vor dem Kamin. Auf feinen Knieen lag ein Reißbrett, beinahe größer als der Kerl jelber, und auf demjelben entitand ein eigen— thümlicher, mit Bildern verzierter Anjchlag, der die Auffchrift Jahrgang III Nr. 5 „Ihe rose and the ring“ trug. Es war die Zeitung des gleichnamigen Boyclubs, der nicht reich genug ift, fein Blatt druden zu laffen. Der Rebacteur faßt daher die einlaufenden Beiträge auf einem großen Blatt zufammen und beftet diejes bei den Zufammenküniten an die Wand. Da wird von einem Befuche bei einem Künftler erzählt, der aus dem Kreiſe der Jungen hervorgegangen ift. Seine Schöpfungen find in wohlgelungenen Skizzen der Zeitung einverleibt. Ein anderer Mitarbeiter macht Borichläge zu einem Ausflug. Gin Dritter erzählt von feinen Grlebniffen. Ein Bierter beipricht die Verfchönerung des Glublocala.

Wo mag fich dasjelbe befinden? Hier in Mr. Laurie'3 Wohngemach. Ja, am Kaminfims haben die „Knoſpen“ (fo heißen die jüngjten Glubmitglieder) ſogar be= gonnen, das Thema „Roje und Ring“ in vielverjchlungenen Arabesfen zu variiren.

Aus der Vertraulichkeit, ja Zärtlichkeit, mit welcher der Junge am Kamin Laurie umfaßte, jchloß ich zunächſt auf eine verwandtjchaftliche Beziehung. Aber die, wenn» gleich unbeholfene Herzlichkeit, mit der faſt alle Burjchen, die uns begegneten, ihren Lehrer und Freund außzeichneten, belehrte mich eines Befferen.

Und diefes Vertrauen und diefe Anhänglichkeit hat von den Knaben fich natur= gemäß auf ihre Eltern übertragen, jo daß Der. Laurie eine vielleicht noch angejehenere und einflußreichere Perfönlichkeit in den Londoner Arbeiterkreifen iſt als Broofe, Bei Gründung von DBereinen und Genofienjchaften wird er zu Rathe gezogen. Sein beionderer Stolz ift eine fleine, aber blühende Productiv » Affociation, Man fieht, nicht die Form, ſondern die Perfon verbürgt den Erfolg.

Das tritt in der gelfammten Wirkſamkeit diejer jüngjten Schule zu Tage. Abweichend von der Londoner Mafjenwohlthätigfeit, verzichten fie auf einen rajchen, in die Augen fpringenden und daher für die Reclame verwerthbaren Erfolg. Sie find deshalb im fajhionablen London ganz unbekannt. Zu ihnen vorzudringen, hat mir große Opfer gelojtet.

Aber noch bemerfenäwerther ift ihr Verzicht darauf, von einer anfehnlichen, zahl» reichen Gemeinschaft getragen zu werden. Brooke jchlägt ſich manchen Abend mit nur acht jeiner Jungen herum. Dieſe Beicheidung auf eine verhältnigmäßig Kleine Anzahl bedingt freilich den Hauptvorzug diefer Schule, nämlich eine eingehende Ver— tiefung in die Eigenart der Schüßlinge.. Die Broofe, Whitwell, Laurie u. ſ. w. brauchen die Gejchichte ihrer Anbeiohlenen nicht wie Dr. Barnardo für die Regiftratur

444 Deutſche Rundſchau.

drucken zu laſſen, fie kennen ſie in- und auswendig. Ihre Kunſt haben fie allerdings förmlich ſtudirt, und zwar in einem Seminar ſo würde man es hier wohl nennen welches mit Unterſtützung der Univerfitäten Oxford und Cambridge errichtet worden ift, um Denjenigen, die ihre Studien dort beendet und den Wunſch begen, die fociale Frage mit eigenen Augen kennen und mit eigener Fauft bearbeiten zu lernen, hierzu den Boden zu fchaffen. Ein frühverftorbener junger Gelehrter hat den Gedanken zuerit ausgeiprochen und lebhaft verfolgt. Ihm zu Ehren wurde der anmutbige, grünumrantte Bau Toynbee-Hall genannt. Die Verwirklichung des Gedankens ift aber das Berdienft des Geiftlichen diefes Kirchſpiels und feiner thatkräftigen Gattin, Mr. und Mrs. Barnet, in deren Händen auch gegenwärtig die Leitung der Anftalt liegt. Dieſelbe bietet zwölf bis zwanzig jungen Leuten gegen mäßige Vergütung angemefjene Wohnung und Verpflegung, vor Allem aber mannigialtige Anknüpfungspuntte für angewandte fociale Politik.

Eine große, von den Toynbeeleuten verwaltete Volksbibliothek ift jeden Abend geöffnet. Ebenſo finden fat jeden Abend öffentliche belehrende Vorträge oder volls— thümliche Goncerte jtatt. Sogar eine populäre Gemäldeausſtellung mit wirklich gemein- verftändlichem , erläuterndem Verzeichniß hat Toynbee-Hall ſchon zweimal beherbergt. Zur eigentlichen perfönlichen Berührung führen die Vereine für gemeinfames Spiel und Ausflüge, das Leſen mit vertheilten Rollen und vor Allem die Kleinen jocialen „Supper@”, an denen noch jüngit Burns und andere Führer der Strifebemegung theilnahmen, und darüber bericht nur eine Stimme durch den freundlichen Verkehr mit Mr. Barnet und feinen Jüngern befänftigende Eindrüde für den Kampf mit hinwegnahmen.

Kein Wunder, daß Toynbee= Hall bereits Nahahmungen, 3. B. das gleichtalla im Dftende belegene, einen firchlicheren Charakter tragende „Bethnal Green“ gefunden bat. Auf dem Feftland befifen wir Derartige noch nicht. Sollte fich vielleicht ein Neis vom Toynbee-Hall auf deutjchen Boden verjegen laſſen?

Ich glaube, ja ich Hoffe fogar, daß ein folches bei und nicht angehen wide. Nicht etwa aus Mangel an Noth. Uns fehlt aber der englifche Kraftüberſchuß. Nachdem der deutfche Student fein Staatseramen glüdlich beſtanden, können wir ihn nicht noch ein paar Jahre lang auf feine Koften in ein focialpolitiicheg Seminar fteden. Der deutiche Idealismus macht aber den deutfchen Studenten ſchon während der Studienjahre für Anregungen zur Bekämpfung von Noth und Elend, welche bie Gegenwart zeitigt, jo empfänglich, daß ich zum Beifpiel meine Zuhörer, um ihnen die afademifche Stille zu wahren, jchon Habe davon zurüdhalten müſſen, daß fie jelbft mit Hand anlegten,

Mir brauchen aber Gottlob auch feine Männer, die ihren Zebensberuf ausſchließlich in der Erfüllung gemeinnügiger Pflichten fuchen. Zwiſchen uns und den Betten drüben beſteht in diefer Beziehung ein Unterjchied, der unter Anderem aus einer Inſchrift in dem Kleinen hübſchen Bart von Octavia Hill, in welchen wir vorhin einen Blick warien, herausklingt. Die Inſchrift befagt, daß die Anlage der Freigebigkeit eines einzigen Mannes zu danken fei, welcher 2000 £ für das Unternehmen ftiftete. Sie läßt aber auch die Bedingung durchſchimmern, welche er an feine Gabe knüpfte: daß er nämlich nie von der Sache etwas zu ſehen und zu hören brauche.

Noch deutlicher läßt die Verschiedenheit in der focialpolitifchen Anfchauungs: und Arbeitsweife das Verhältniß zwifchen dem englifchen Arbeitgeber und -Nehmer erkennen. Das Großartigfte, was ich in der Welt und ich habe fie. darauf bereift auf dem Gebiete der Fürſorge der Fabrikherren für ihre Angehörigen gejehen habe, ift die Arbeiterſtadt Saltaire, unweit Bradford. Die Häufer, Kirchen, Schulen, Speiir ballen u. |. w., welche der dieferhalb zum Baronet erhobene Titus Salt den Ans gehörigen feiner Alpacca- und Mohairfabrif erbaut hat, find bis zum Armenhauie abwärts durchweg ornamental. Der Part macht einen geradezu fürftlichen Gindrud. Ein kleines Dampfboot fteht auf dem ihn durchfließenden Air den Arbeitern zur Ber: fügung. Zur Ueberwinterung ihrer Blumen find Glashäufer erbaut. Die Zöglinge

Die jüngfte Schule Londoner Wohlthäter. 445

der Kunjtjchule traten vor einiger Zeit erfolgreich mit denen vom Kenfington-Mujeum in Wettbewerb. Wenige unjerer Provinzialjtädte dürften ein Muſeum befigen wie die Angehörigen der Salt’jchen Fabrik.

Trotz all’ diejer Herrlichkeit, trogdem, ja vielleicht weil der hochherzige Begründer auch gleich die Beträge aur Erhaltung feiner verfchiedenen Einrichtungen jtiftete, machen diejelben einen ruinenhaften Eindrud! Die Beziehungen zwijchen der Familie, den Nachfolgern von Sir Titus und der jegigen Arbeiterichait find mehr ala fühl.

Es gibt auch bei uns folche prunfende Einöden, aber doch nur vereinzelt. Das Gepräge der Mehrzahl derjenigen Fabriken, in denen mit Herzlicher Freigebigkeit für die Leute gejorgt wird, iſt die Königs- und die Mannentreue des Nibelungenliedes, die in dem Verhältniß von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer widerflingt.

Die Toynbeemänner wollen ſich nun beinahe jportsmäßig zwiſchen dieſe beide Factoren, überhaupt zwifchen Geber und Empfänger einjchieben, und darum fönnen wir fie nicht gebrauchen. Aber wir können von ihnen lernen, nämlich für die Arbeitsart. Bezüglich diefer wird die Gefchichte unferer Zeit bei aller Anerkennung der Wucht, mit der wir gegen die taujendföpfige Noth vorgegangen, den Vorwurf einer gewiſſen Einjeitigfeit und Oberflächlichfeit nicht erſparen. Die ftattlichen Brüden, welche wir über die „große Kluft“ gejchlagen haben, vermögen dieſelbe nicht zuzu— deden. Dies fünnen nur zahlreiche Einzeljtege, die von Menschen zu Menjchen, vom Herzen zum Herzen führen; die den Gebenden in unmittelbare Berührung mit dem Empfangenden bringen, ihm dadurch bereitwilliger machen und in feiner Liebesthätig- feit friſcher und beharrlicher erhalten; welche die Gaben dem Empfangenden genau anzupaflen und ihn vor der Almojenerniedrigung zu ſchützen geitatten.

Die prunfenden Brüden find unjere großen Wohlthätigfeitsvereine, deren Organe es manchmal, da fie im Kleinen nichts zu verrichten vermögen, im Großen anfangen ; die oft vergeffen, daß in jener erhabenen Verheißung nicht geichrieben fteht: „Ich bin Hungerig und durftig und frank und gefangen gewefen, und ihr habt Geld zuſammen— gebracht, damit ich jatt, gefund und frei würde”, jondern „ihr Habt mich gefpeift, getränft, beſucht“ u. j. w. Im Gier des Gejchäites überjehen die Vereins— vorjtände Leicht, daß ihr Ziel nicht in erſter Linie darin bejtehen darf, gleichjam die Noth aus der Welt zu treiben, jondern dem Einzelnen bei der Erfüllung derjenigen Pflichten des Wohlthuns behülflich zu jein, zu denen ihn feine Lebensftellung und Lebenswirkfamkeit berufen bat. Daher jo Häufige Uebergriffe der demokratifirenden Dereinsthätigfeit in dasjenige Gebiet, welches der ariftofratijchen Einzelleiftung vor— behalten ift, und damit die Geiahr, den Ginzelnen in die Verfuchung zu führen, der er jo geneigt ift, zu unterliegen: fih von feinen perfönlichen Pflichten durch den Vereinsbeitrag loszulaufen, fich da vertreten zu laffen, wo Vertretung Berfäumniß bedeutet. Selbit die wegen ihrer genauen und gründlichen Ginzelbehandlung der Bedürftigen vielgerühmte Elberielder Armenpflege hat, mit der Jndividualifirung nach oben, in den Kreiſen der Bemittelten jtatt bei den wohlhabenden Familien jchon bei einzelnen, verhältnigmäßig wenigen Samilienhäuptern, die das Amt eines Armenpflegers befleiden, Halt gemacht.

Jedoch nicht gegen dieje Hervorragende Schöpfung und überhaupt nicht gegen die, Verftändigung und Anregung herbeiführenden Organifationzbeftrebungen, gegen unjer ftolges Vereinsweſen als jolches, welches ja für viele Zwede centralifiren muß, find diefe Ausführungen gerichtet. Nur wie wir uns in demjelben vor Einfeitigkeit und Verflachung jchügen können, läßt fi) meines Erachtens von der jüngften Schule der Londoner Wohlthäter lernen.

Wie Brooke, Whitwell und Laurie widmen auch unfere Socialingenieure der heranwachienden Jugend, namentlich der der VBerwahrlofung ausgeſetzten, ihre beiten Kräfte. Die armen Jungen, deren Eltern nicht mehr am Leben oder durch ihre Berufes arbeit tagsüber vom Haufe ferngehalten find, verfammelt man in der fchulfreien Zeit, jucht ihnen durch anregende und zugleich müßliche Beſchäſtigung, durch Gartenarbeit, Blumenpflege, Holzichnigerei, Papparbeiten und dergleichen Luft und Liebe zur Arbeit

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anzubilden, um ſie dadurch gegen den Teufel des Müßigganges mit ſeiner ganzen Gefolgſchaft zu feien. Aber erſt ganz vereinzelt, faſt ſchüchtern beginnt man in die Fußtapfen der jungen Londoner „Toynbee-Aſſociates“ zu treten und neben dem Arbeitshort jedem Knaben einen lebendigen, perſönlichen fürs Leben zu ſchaffen. Hier in Hannover haben z. B. einige Officiere und Beamte, die mit der Berufsthätigkeit abgeichlofjen, einen Theil ihrer Zeit den Jungen, und zwar jeder nur einer Kleinen Anzahl derart gewidmet, daß fie fich als väterliche Freunde um fie befümmern, Kleine, aber regelmäßige Dienfte von ihnen verrichten laſſen, den Lohn nebft fonftigen Er— Iparniffen auffammeln, ihre Zuneigung, ihr Vertrauen zu gewinnen fuchen und fo ein Patronatsverhältniß herjtellen, welches, wenn e8 wahr und echt ift, die Knabenjahre überdauern muß. Diefe Männer waren geradezu gerührt, als ihnen der Dank ihrer Schützlinge jüngjt eine jelbjtgeiertigte Eleine Arbeit unter den Tannenbaum legte. Mas werden fie jagen, wenn ihnen in bdiefem Jahre der Eeine Geſangchor ein Geburtötagsmorgenftändchen bringt? Bislang hat derjelbe fich über die gemeinjamen Feſte nicht Hinausgewagt. Auf Ddiefen erjcheinen ala Ehrengäſte die Eltern. Die Stege zu ihnen bilden ungezwungen die Kinder, denn in diefen fühlen die Eltern fich gefefielt und geehrt; die Unterhaltung über des Sohnes Eigenart, feine Neigungen, feine Zukunft find des Vaters Lieblingsgeſpräch.

In Leipzig hat die Gattin des Pandectiften Windjcheid in ihrem Mädchenhort ähnliche Erfolge erzielt. In Leipzig gibt es fogar in den vornehmſten Gejellichaits- freifen ſchon „Ketzer“, die mit dem Arbeiter auf der Kegelbahn regelmäßig zufammen- treffen.

Das mag wohl nicht Jedermanns Sache fein. Aber Niemand follte ausweichen, wenn ihn fein Lebensweg an die trennende Kluft führt. Jeder muß einmal an ihr vorüber. Ya die Meiften wandern das ganze Leben hindurch an ihrem Rande, nämlich in ihrer Beziehung zu den Dienjtboten. Da muß zuvörderſt wieder angeknüpft werden.

Mancher, namentlich jungen Frau, geht's dabei freilich wie dem Herm Güldenjtern mit dem Prinzen Hamlet, als diefer jenem die Flöte reichte und verlangte, er jolle ihm etwas vorjpielen. Giüldenjtern konnte e8 nicht, er kannte ja nicht die Griffe. „Ihr wollt auf mir fpielen und fennt nicht die Griffe? Ihr könnt mich höchitens verſtimmen.“

Die ſocialen Griffe ſind eben das Problem, nicht nur der kleinen, ſondern auch der großen ſocialen Frage.

Die Berliner Thenter.

vn

Berlin, 6. Mai 1890.

So mannigfaltige Aufführungen auch die vier letzten Monate der diesmaligen Spielzeit dem ſchauluſtigen Publicum gebracht haben, eine bedeutſamere Erſcheinung von dauerndem literariſchen Werthe iſt nicht hervorgetreten. In dieſer Hinſicht iſt noch immer Hermann Sudermann's Schauſpiel „Ehre“ das Ereigniß dieſer Saiſon geblieben. Nicht nur darum, weil es ein neues, kräftiges und originales Talent unſerem Bühnenweſen zugeführt hat, ſondern weil es die Bahn andeutet, welche die dramatiſche Kunſt einzuſchlagen hat, um die Theilnahme des Publicums zu gewinnen und ohne völligen Bruch mit den Ueberlieferungen und Gewohnheiten der deutſchen Bühne zu neuen Geftaltungen zu gelangen. Gegenüber den lauteiten Stürmern und Drängern der naturaliftifchen Schule iſt Sudermann freilich nur ein bejcheidener Reiormer, ſogar mit einem fchüchternen, zaghaften Zug, aber gerade dies Maßhaltende in ihm, die Abſicht, das deutjche bürgerliche Schaufpiel durch die Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens, durch die Fragen und Beitrebungen der Gegenwart zu erneuern, verfpricht feinem Werke die Dauer, feiner Begabung eine reiche Enttwidelung.

Der Kampf zwifchen dem alten und dem jungen Gefchlecht in unferer Literatur, der fich fchon eine geraume Zeit, außerhalb des eigentlichen Bublicums, in dem Streife der Schriftiteller bemerklich gemacht hatte, ift jet, nachdem er auch die Bühne er— griffen, zu einer Öffentlichen Angelegenheit geworden. Die Confumenten, an die fih zulegt doch auch das Kunſtwerk wie jede andere Waare richtet, werden zum Urtheils— ſpruch aufgefordert, nicht ala einfame Lefer, die ein Buch mit Genuß oder Verdruß aus der Hand legen, fondern ala zuichauende und zubörende Mafle, die unmittelbar unter dem Eindrud des Gejehenen ihren Wahrſpruch abgibt. Den Theatern fällt damit, merfwürdig genug durch die realiſtiſche Bewegung, wieder jene idealiftifche Aufgabe zu, die ihnen Schiller jtellte, wenn er die Schaubühne als eine moralische Anftalt betrachtet willen wollte. Dreißig Jahre hindurch ift die Schaubühne eben nichts mehr ala ein Bergnügungsort, im bejten Falle eine Schule des Gefhmads und der feineren Bildung bei ung gewejen, wie eine Gemäldegalerie, ein Kunftgewerbemufeum: den erziehenden Zweck Hatten ihr die Nednertribüne und die politische Zeitung weggenommen. Setzt, in dem Drang gejellichaftlicher und pädagogifcher Ummälzungen, möchte man auch das Theater in den Dienjt bdiefer Gedanken ftellen. Was fich in den nordiſchen Staaten jchon vollzogen bat, daß die dramatifche Kunſt zur Waffe in dem politifch- focialen Kampf wird, bereitet fich bei uns immer unabweislicher vor. Wenn e8 bis jegt nur freie Vereinigungen find, die diefem Ziele zuftreben, bald genug werben fich auch die öffentlichen Bühnen diefer fpcialen Tendenzpoefie öffnen; die Mode wird auch die Luxustheater der oberen Zehntaufend zwingen, auf ihren Brettern das „graue Elend“ und die Verkommenheit auß dem Hinterhaufe, vier Treppen hoch, in Lebens: größe darzuftellen. In feiner ganzen Schärfe kömmt der Gegenjaß zwifchen der alten und der neuen Bühnenpoefie in den Vorftellungen des Schaufpielhaufes auf der einen,

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der „Freien Bühne“ auf der anderen Seite zum Ausdruck. Hier Erhaltung, dort Umſturz um jeden Preis; hier Stüde, die in der Kindlichkeit ihres Inhalts, in der Schablonenhaitigkeit ihrer Durchführung von aller Wirklichkeit, von den Empfindungen und Anſchauungen de Publicums abjehen und zur Puppentomddie herabfinken, dort breite und öde Schilderungen, in denen das Alltagsleben und »Leiden der Heinen Leute, mit dem Dunft der Krankenftube und dem Schnapägeruch, mit der Rohheit des Herzens und der Gemeinheit der Sprache, ala ob es allein in der Welt wäre, fi behaglich und jelbjtbewußt entjaltet; Hier die Bourgeofie, die auch fünjtlerifch abdantt, dort der vierte Stand, der auch in der Kunſt die ausjchließliche Herrichaft beanſprucht.

In der Leitung dee Schaufpielhaufes hat der neue Director, Dr. Otto Devrient, allmälig eine größere Sicherheit gewonnen, aber er beſitzt in der Aus— wahl der Neuigkeiten feinen glüdlichen Griff. Eine und die andere einzulöfende Schuld iſt ihm freilich noch von früher her geblieben, und die geringen Griolge faſt aller neuen Stüde, die jeit dem September des vergangenen Jahres bis heute über die Bretter gegangen find, kommen nicht ausſchließlich auf fein Conto. Allein aud ihm fehlt wie jeinem Vorgänger, Herrn Anno, der friſche Wagemuth und die fräftige Snitiative. So ärmlich wie die moderne Production auf der Hofbühne erjcheint, ift fie doch nicht. Innerhalb des Hiftorischen Schaufpiela und des Salonluftipiels laflen fi) doch noch hervorragendere Sachen finden, ala fie uns das Schaufpielhaus brachte. Eine Literarifche Würdigung verdient nur das geichichtliche Trauerfpiel in fünf Aufzügen „Erich Brahe“ von Otto Girndt, dad am Freitag den 17. Januar zur eriten Aufführung gelangte. Es ift um fünfundzwanzig Jahre zu jpät gefommen. Damals würde es, neben den Hijtorischen Dramen Gottihall’s, eine ftattlichere Figur gemacht Haben. Jetzt liegt auf diefer afademifchen Nachgeburt eine Wolfe Staub. Uns berührt dieje Verbindung einer politifchen Staatsaction mit einer Höfifch-romantifchen Liebes- und Giferfuchtögefchichte wie etwas Unmwirkliches und Künftliches, und die bilderreiche Sprache, in regelmäßigen gut gebildeten Jamben, im Munde jchwediicher Grafen und Gräfinnen, im Zeitalter Friedrich’ des Großen, drüdt dem Ganzen noch mehr den Charakter des Phantajtifchen auf. Otto Girndt's Mufe Hat fich in beiteren Komödien bisher noch immer wirkfamer erwiejen ala im ernjten Schaufpiel; mit liebens- würdigem Humor würzt er allerlei Auftritte auß dem Kleinleben und beutet die Mißverjtändniffe und Verwechslungen, die mehr noch der Bühne ala der Wirklichkeit angehören, geſchickt und zuweilen geiftreich aus, Seine Bildung wie fein Feingefühl verhindern ihn, gar zu tief in die Plattheit zu fallen; leider ift fein Talent nicht ftart genug, aus der Situationsfomik zum Charatterluftipiel vorzudringen. Er begnügt fid) meijt mit dem bloßen Umriß der Figuren und treibt mit den Tendenzen und Ge danfen, die feinen befjeren Komödien als tiefere Grundlage dienen, ein leichtes Spiel, während wir ihre Durchführung erwarten. Aber neben dem Humorifien und Satirifer ſteckt in Girmdt auch der Keim zu einem tragischen Poeten. Wiederholt Hat er fi in gejchichtlichen Stoffen verfucht, bald an dem Schidjal und der Schuld der Borgia’s, bald an dem Glanz und dem Sturz Dankelmann’s, nur daß dieje Seite feiner Ber gabung den Lefern befannter ift ala dem Theaterpublicum. Mit der Zeit ift er nicht fortgefchritten, jondern in dem alten Schema der hiſtoriſchen Jambentragddie haften geblieben. Sein „Erich Brahe” iſt ein Zwillingabruder von Michael Beer's „Strucniee”, in der Form, wie in der Verwidlung und der Gefinnung. Aus der unwürdigen Knehtichait, in der die Dligarchie der Stände ihn hält, will der Oberft der Leibwache Graf Erich Brahe feinen ſchwachen gutmüthigen König Adolf Friedrich befreien und ihn zu einem unumfchränkten Monarchen erheben. Er ftößt jo politijh mit dem Reichstagsmarjchall, dem Grafen Ferſen, hart und umverföhnlich zuſammen. Ein perfönlicher Gegenſatz verfchärft noch den Haß, den fie gegen einander hegen. Ferſen's Gattin, die ftolze und nachtragende Juliane, hat als Mädchen Erich Brahe geliebt: nur widerwillig, aus beleidigtem Selbftgefühl, hat fie Ferſen geheirathet, weil Brahe jein Herz und feine Hand der faniten Chrijtine, einer Tochter des Grafen Piper, ge ichentt hat. Im ihrer Eiferfucht ftachelt ſie Ferſen's Groll gegen den Mann, der fie

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verjhmäht Hat, immer heftiger an und läßt fich fogar zu einem BVergiftungsverjuch gegen Ghriftine Hinreißen. So verfchlingt fich die politische Verſchwörung mit der Leidenſchaft eines dämonifchen Weibes, die erjt den geliebten Mann verderben und dann bereuend retten will. Warum nun Brahe’3 Verſchwörung jcheitert, worin die Macht der Stände wurzelt, wird den Zufchauern aus der Dichtung jelbjt nicht klar. Der willenloje, eines energiſchen Entjchluffes unfähige König, der doch im Herzen mit den Verſchwörern, jeinen Dfficieren , einverftanden ift, verhindert ihre Gejangennahme nicht, vermag nicht bei den Ständen ihre Freilaffung durchzufegen und kömmt ſchließlich jelbft mit feiner Begnadigung zu jpät, da Graf Ferſen die Berurtheilten raſch aus einer Hinterthür des Gefängniffes auf das Schaffot hat führen laſſen, als der König vor demjelben erjcheint. Der Handlung, wie man ſchon aus diefen Andeutungen merkt, jehlt der rechte Nerv und die ftärfere Anziehungskraft. Wir bleiben dem Grafen Ferſen und der Berfafjung, die er vertritt, gegenüber gerade jo gleichgültig wie dem Grafen Brahe und jeiner Soldatenverfhwörung. Der haltloje König verdient nicht die Treue und Hingabe diefer Männer, und da wir nicht erfennen, welches Böfe die Berjafjung dem Gemeinwohl zufügt, verjtehen wir auch ihre Handlungsweife nicht. Wildenbruch würde durch die Einfügung von Volks- und Goldatenmaffen in die Handlung, durch eine Reichsrathäfigung mit leidenjchaftlichen Debatten dem Ganzen einen Rüdhalt gegeben haben, bei Girndt bleibt Alles in dem befcheideneren Rahmen eines höfiichen Ränkeſpiels. Er bringt fich dadurch jelbit um den Nachhall im Publicum. Mehr Originalität als in der Fabel offenbart fich in der Charakteriſtik: die Schwäche des Königs, der fröhliche Leichtfinn und das goldene Herz des Volksdichters Michael Bellmann find in eigenartigen Zügen geſchildert; der alte, brave, von dem Mißgeſchick, das ihn verfolgt, überzeugte, aber nicht gebeugte Stalſwärd mit feinem Stich in das Myſtiſche ift jogar ein fein gezeichneter Charakterfopf, und die Scene, in der er ber ſchuldigen und trokigen Juliane das Gewiffen rührt, befigt einen hohen Schwung und eine ergreifende Macht der Wahrheit. Von einem Erfolge des Stüdes fonnte jchon wegen des fern liegenden Stoffes und feiner akademiſchen Behandlung nicht die Rede fein: immerhin würde man der Hofbühne feinen Vorwurf machen, wenn fie mehr Werke Hiftorifchen Inhalts, von einem gewifjen literarischen Werthe, aufführte, denn diefe Gattung der dramatischen Kunft kann nirgends anders als hier eine wirkjame Pflege finden. Wenn in der Jugenderziehung fortan auf die Mutterjprache und die Kenntniß der vaterländifchen Gefchichte, der Heimaths- und Volkskunde ein größeres Gewicht ald bisher gelegt werden ſoll, dann bedarf auch das hijtorifche Drama, das diefe Erziehungsmethode im jchönften Sinne vollendet und frönt, einer jtärferen Berüdfichtigung und einer lebhafteren Theilnahme. Den Elenditüden, voll Laftern und Verbrechen aus der Alltagäwelt, müſſen die Darjtellungen aus der Gefchichte und der Entwidlung der Gultur das Gegengewicht halten.

Dtiomar Beta’3 Charakterbild in fünf Aufzügen, „Feurige Kohlen“, das am Dienftag den 11. März zum erjten Male aufgeführt wurde, verſprach feinem Titel nach mehr als es hielt. Denn das Gharakterbild des alten, kränklichen, troßigen und proßigen Hamburger Kaufmanns Hänfner, das der Verjaffer in den Mittelpunkt der Handlung jtellt, wird durch zu viele abenteuerliche Zuthaten in feiner Wirkung eingejchräntt. Beta hat einen feiner Romane, „Peregrine”, zu einem Theater— jtüd verarbeitet, in dem fich Romantik und Kleinbürgerlichkeit, Politit und Börfe verjchlingen. Ein Kleiner Drehorgelipieler, Peregrine Cherutti, ift von einer reichen wohlhabenden Kaufmannswittwe in ihr Haus aufgenommen und erzogen worden. Sie möchte ihn am liebſten zu einem Künftler heranbilden, Peregrine aber Hat fich in die einzige Tochter feiner Wohlthäterin verliebt, und will, um ihre Hand zu er= ringen, denn ihr Gerz befit er längft, rafch ein reicher Dann werden. Troß feines Talents und feiner Neigung hängt er darum feine Geige an den Nagel und tritt in die ftrenge Schule des mürriſchen Hänfner's. Bald erweift er fi) als ein kauf— männijches Genie, während er und fein Principal in italienischen Speculationen un— geheuere Summen gewinnen, verliert Frau Siüllmann darin ihr Vermögen. Natürlich

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kann ihr nun der Pflegeſohn ihre früheren Wohlthaten reichlich vergelten und das alte Original Hänfner „feurige Kohlen“ auf das Haupt der Frau ſammeln, die als Mädchen feine Werbung verſchmäht. Bon einer dramatiſchen Handlung, die fich vor uns abjpielte, ift nicht eigentlich die Rede; das Unglüd der Frau Süllmann und das Glück Peregrine’3 werden Hinter der Scene durch Thatſachen und Mächte hergeitellt, die wir weder jehen noch Fennen. Die Figuren felbft erwecken in dem Zufchauer feine rechte Sympathie; es ift ficherlich eine jehr zweifelhafte Weife, Dankbarkeit zu beweiſen, indem man feine Wohlthäterin jchädigt. Dazu kömmt, daß der „alte Hänfner“, jo gut er im einzelnen Zügen beobachtet und individuell durchgeführt ift, eine unverfenn- bare Aehnlichkeit mit dem Stephy Girard, aus Gealäfield’3 Novelle „Morton oder die große Tour“ Hat, den Rudolf Gende ſchon vor zwölf Jahren in einem einactigen Luftjpiel wirkungsvoll auf die Bühne gebracht Hat. Der Charakter ift eben nur für einen Act ausreichend, wenn eine bewegliche Phantafie nicht eine gut verſchlungene, fich fteigernde und gipfelnde Handlung, deren Fäden er leitet, zu erfinden vermag. Dies Hat Beta nicht vermocht, und unfer Intereſſe an feiner Hauptfigur erjchöpft fich in den zwei erjten Acten. Um es feſtzuhalten, rüdt er für die legten drei Acte einen [uftigen Mädchenkobold mit flinfer Zunge und zierlichen Händen in die erjte Reihe; Clärchen Burnier macht aus allen Menfchen, was fie will, und überliftet den alten Mucdebold Hänfner wie einen richtigen Komödienonkel. Dem Stüd haftet etwas Mühſeliges und Gequältes an, das jelbft die frifcheren Scenen nicht zur Geltung fommen läßt. Immerhin ift der Ernſt und die gute Abficht Hervorzuheben, einmal wieder eigenartige Figuren, die außerhalb der Schablonentechnik jtehen, auf die Bühne zu führen: Beta's Talent hat nur nicht auögereicht, die Charaktere, die er offenbar aus eigener Erfahrung und Beobachtung gefchöpft, in einer Handlung fi) vor unferen Augen entfalten und ausleben zu laffen. Mit allen feinen Schwächen bewahrt jein Schauspiel doch noch den literarischen Zug, während das Quftjpiel in fünf Aufzügen von Zeopold Günther, „Loni“, dag am Dienjtag den 18. März zur Auf führung gelangte, nur die Zahl unferer Puppentomödien um eine vermehrte. Gin jrüheres Stüd des Verfaſſers, „Der Leibarzt”“, das wir am 19. April 1881 zum eriten Male jahen, Hat ſich auf der Bühne: des Schaufpielhaufes, nicht zum geringjten Theil wegen feiner trefflichen Darftellung, bis jet in der Gunft des Publicums er: halten; ein Luftipiel, das ihm im Jahre 1883 folgte: „Der neue Stiftsarzt”, brachte es dagegen nur zu acht Vorjtellungen, und „Loni“ iſt noch fchneller von den Brettern verſchwunden. Als Regiffeur des Hoftheaterd zu Schwerin verfügt Leopold Günther über ein nicht unbedeutendes theatralifche® Geihik in der Verknüpfung der Scenen, in der Herausarbeitung des Effects und über eine Fülle von Erinnerungen aus den Stüden Anderer. Das fnüpft und jchlingt er harmlos mit eigenen Erfindungen zu⸗ jammen, Menfchen, Dinge und Gejchichten, die einzig in der Atmoſphäre der Bühne leben können, nur auf ihre Beleuchtung, nur für ihre Decorationen berechnet find und von jeder Wirklichkeit und Wahrheit abjehen. Spielt fich ein ſolches Stüd flott und munter, mit luftigen Schwänfen und einer Handvoll Uebertreibungen wie ein buntes Feuerwerk ab, fo ift man zufrieden; dehnt es fich aber, wie diefe „Loni“, in die Länge, bleibt die dürftige Handlung, troß aller Epifoden, auf einem Flecke ſtehen, jo ift die Niederlage undermeidlih. Ein Oheim will feinen Neffen mit feiner Nichte verheirathen: Beide lieben fich auch im Stillen, haben es jedoch verſchworen, diefe Neigung fich zu befennen, er aus Troß, fie aus Eiferſucht ſelbſt ein größeres Talent ala das dei Verfaſſers würde aus diefem dürftigen Kern, aus diefer auf der Bühne uralten Ber widlung faum etwas Neues und Anziehendes geftaltet haben. In der breiten Be handlung, die Leopold Günther dem Stoffe gegeben Hat, ward er vollends zur kraft lojen Waflerjuppe.

So wäre dieje ganze Spielzeit für das Schaufpielhauß eine berlorene geweſen, wenn es nicht zuleßt noch mit der Aufführung des „Sturmes“ am Dienftag den 8. April einen Treffer gezogen hätte. Auf den meiften größeren Bühnen gehört Shakeſpeare's „Sturm“ jchon längſt zu dem jtehenden Repertoire, das Schaufpielhaus

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bat ihm erjt jet den verdienten Pla neben dem „Sommernadhtstraum” und dem „Wintermärchen” angewiefen. Eine Darjtellung des „Sturmes“ verfeßt unwillkürlich auch den müchternen und fühlen Zufchauerr in dad Land ber Holden Märchen. Wagner's Geſammtkunſtwerk kommt auch Hier zum Ausdrud. Zu Shakeſpeare's Dichtung hat Wilhelm Taubert eine ftimmungsvolle Muſik componirt, die fich im Rhythmus und in der Melodik den verfchiedenen Leidenjchaften und Stimmungen der Hauptfiguren und den Wandlungen der Fabel harmoniſch anjchließt. Iſt fie auch fein jo eigenartige Kunſtwerk wie Mendelsſohn's Muſik zum „Sommernadtstraum“, denn nur er verftand das Geflüfter und den Geſang der Elfen und die Laute der monddurcdhglängten Sommernacht, fo begleitet fie doch das Stück anmuthig und ge— fällig durdy alle Phafen und hebt Ginzelnes, hier in den Liedern das Weſen Ariel’s, dort in dem Trio Galiban’s, Stephano’3 und Trinculo’8 dag Thieriſche und Täppijche vortrefflich hervor. Zu der Poefie und der Muſik gejellt fich die Malerei, die in prächtigen Decorationen das Ganze umfchließt, und die Tanzkunſt, welche die Paufen der Handlung reizvoll durch Reigentänze und Gruppirungen belebt. Dieſem Ballet in der Zauberfomdödie ift auf umferer Bühne für mein Gefühl ein zu großer Raum gegönnt: ihm Haben die Feittafel, an der fich der König von Neapel und fein Gefolge niederjegen wollen, und die Ariel ala Harpye umſtößt, und die Erjcheinungen der Iris, der Ceres und der Juno, welche die Verlobung Miranda's und Ferdinand's feiern und ſegnen, weichen müffen. Freilich ift die Handlung des „Sturmes” im Vergleich zu der Fülle der Abenteuer im „Wintermärchen“ und dem anziehenden Wechſel zwiſchen Ernſt und Scherz, zwifchen den Launen der Menſchen und dem Spuk der Elfen im „Sommernachtstraum” eine bürftige und bedarf bei der Darftellung allerlei Zuthaten, um die Aufmerkſamkeit des Publicums dauernd feitzuhalten. Der wunderbare Zieffinn und der Märchenzauber der Dichtung kömmt bei der Lectüre ungleich mehr zu feinem Recht; die unbegrenzte Phantafie des Leſers baut ſich noch eine ganz andere Welt für Prospero und Ariel, für Caliban und Stephano, für das Liebespaar auf, als fie auch die Kunft des größten Mafjchinenmeiftere von Holz und Pappe errichten kann, und fein Ohr und fein Gemüth jchlürfen noch mit feinerem Behagen den Wohllaut der Verſe ein als bei einer theatralifchen Aufführung. Die Borftellung war eine wohl abgetönte und gelungene; für Miranda und Ferdinand befigt da3 Schaufpielhaus in Frau von Hochenburger und Herrn Matkowsky unvergleichliche Künftler voll Anmuth, Friſche, Liebenswürdigfeit und Natürlichkeit, in Herrn Grube für den Galiban einen Schaufpieler, der das Groteöfe, den Ueber— gang des Uraffen zum Urmenjchen, Humoriftifch verkörpert, und in Fräulein Hellmuth» Bräm ein zierliches Figürchen mit einer Lieblichen Gejangjtimme für den Luft— geift Ariel.

Gern wiegt man fich in den Gedanken, daß der „Sturm“ der Abjchied Shake— fpeare’3 von der Bühne gewejen; daß nicht Prospero, fondern er damit feinem Ariel die Freiheit gegeben und fein Zauberbuch und feinen Stab ind Meer verjentt; daß nicht nur Prospero nah Mailand, fondern Shafejpeare nach Stratford am Avon zurückkehrt, und daß nach diefem Schluffe feiner Zaubereien fein Sinnen fich allein noch auf das Grab und die Gnade Gottes richten joll. Für den nachbenklicheren Zuſchauer gewann diesmal die Aufführung des „Sturmes“ auf der Bühne des Schau— ipielhaufes noch eine tiefere Bedeutung. Sie erichien gleichjam wie der Abjchied der romantischen Dichtung überhaupt von dem Theater der Gegenwart. Andere Aufgaben haben ſich der dramatischen Dichtkunft gejtellt, andere Geftalten drängen fich auf die Bretter, an andere Vorftellungen und Anjchauungen, um das verpönte Wort Ideale nicht zu gebrauchen, hängt fich das Herz der Jugend. Es wird fchon ala ein Sieg der Kunft, im alten Sinne des Wortes, betrachtet werden müfjen, wenn fich das biitorifche Drama neben dem bürgerlichen Schaufpiel behauptet. Man braucht nur die Aufführungen der „greien Bühne“ anzufehen, um die Richtung zu erfennen, in die eine rührige und eifrige Partei in der Literatur die Bühne, mit der dramatiſchen Schrifttellerei auch die Schaufpieltunft treiben möchte. Seinem Programm gemäß

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bat der Verein „Freie Bühne“ zu feinen erſten vier Vorſtellungen im vergangenen Jahre vier neue gefügt: am Sonntag den 26. Januar ein bramatifches Sitten bild aus dem ruffiichen Volksleben von dem Grafen Leo Tolſtoi: „Die Madt der Finfterniß"; am Sonntag den 2. März ein Volksſtück im vier Acten von Ludwig Anzengruber: „Das vierte Gebot”; am Montag den 7. April ein Drama in drei Acten von Arno Holz und Johannes Schlaf: „Die Familie Selide* und am Sonntag den 4. Mai ein Schau— jpiel von Arthur Fitger: „Bon Gottes Gnaden“. Am bezeichnenditen für die Tendenz und das Ziel, dem die Macher der „Freien Bühne“ zujtreben, zweifellos von dem Geſchmack und der Gefinnung gewifler Kreiſe des Publicums unterftügt, find die Dramen von Tolftoi und Arno Holz und Johannes Schlaf; Anzengruber’s Volls— ftüd hat ſich ohne Anftand, aber freilich auch ohne nachhaltigen Erfolg auf die öffent: liche Bühne des Leffing » Theaterd übertragen laſſen, und mit dem Fitger'ſchen Stüd fönnte, wer wollte, denfelben Verſuch wagen.

Graf Leo Tolftoi ift ein großer Schriftfteller und wunderlicher Heiliger. Seine myſtiſch gefärbte, auf die Lehren und Grundfäge Chriſti geſtützte MWeltflucht und Ent- fagung hat ihn halbwegs zu einem fyeinde der Gultur und der menjchheitlichen Entwidelung gemacht. Er ift ſelbſt wieder zum Bauer geworden, weil er diefen Stand und feine Arbeit am nächjten mit der Allmutter Erde und der Beitimmung des Menſchen, wie er fie auffaßt, verwandt glaubt, vielleicht aus dem dunklen Gefühl, daß feine Refignation fich leichter in den bejcheidenen Verhältniffen des Dorfes als in dem Drang und Wettfampf der Stadt üben läßt. Aber er fieht auch troß feiner Schwärmerei die ungeheuere Kluft, welche die Menfchen und die Welt, wie fie find, von feinen Jdealen trennt. Auf dem platten Lande fo gut wie in der Großſtadt. Ein Zeugniß dafür ift fein Schaufpiel „Die Macht der Finſterniß“. Da zuletzt jedod Ormuzd über Ahriman den Sieg davonträgt, lautete der Titel beffer „Der Triumph der Reue”. Cine jchlichte Gefchichte aus dem bäuerlichen Leben, die fich jeden Tag ereignen kann, ift in dramatiiche Form gebradht. Ohne feinere Kunft. Zwiſchen den einzelnen Acten liegen Monate und Jahre und die Entwidelung der Charaktere vollzieht fi) mehr Hinter der Scene als vor unjeren Augen. Anisja, die zweite Frau eines reichen Bauern, hat fich in den Knecht Nikita verliebt; in ihrer Sinnlichkeit geräth fie außer fih, als er den Hof verlafjen will, und gibt den boshaften Rathichlägen feiner Mutter Matrona Gehör, die eine Art Dorfhere und Giftmijcherin ift. Im ihr verkörpert fich die Macht der Finfterniß, nicht dämoniſch und gewaltig, jondern Liftig und heuchleriſch. Dabei handelt fie nicht aus bloßer Liebe zum Böſen: fie will ihrem Sohn zu einer reichen Frau verhelfen. Dem kranken Peter ftiehlt die rau im Schlaf den Geldbeutel, den er an einer Schnur um den Hals trägt in einem Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachen ſoll. Sie hat ihm die Pülverchen, die ihr Matrona für einen Rubel gegeben, in den Thee gejchüttet. Im dritten Net ift Nikita der Wirth im Haufe. Er hat Anisja geheirathet und vertrinft und verjchlemmt das Geld mit feiner Stieftochter Akulina, Peter’3 Tochter aus erjter Ehe. Zwiſchen den beiden Weibern herricht beftändiger Streit, und Anizja fühlt oft genug Nikita’ ſchwere Hand. Zu feinem Unglück hat er Akulina verführt; fie gebiert ein Kind, und da fie ver- heiratet werden ſoll, zwingen ihn feine Frau und feine Mutter, das neugeborene Kind zu tödten: eine jchauerliche Nachtjcene. Der Unfelige treibt ſich auf dem Hot umber, Anisja kommt mit dem Kinde und wirft es in den Keller. „Erwürg' es jchnell,“ ruft fie ihm zu und ftößt ihn die Treppe hinab, „Dich geht’ an, Du führ's zu Ende!” Nikita legt ein Brett auf das Kind, jet fich darauf und zermalmt es To, während die beiden Megären oben an der Treppe horchen. Fortwährend hat feitdem Nikita das Gewinfel des gemordeten Kindes im Ohr. DBergebens jagt ihm jeine Mutter mit greulichem Cynismus: „Aber wo lebt's denn, Du haft es ja wie einen Pfannkuchen zerdrücdt.“ Bei dem Hochzeitöfefte Akulina’s, wo es hoch hergeht, und die Brautmutter Anigja jelber im heiteren Raufch einmal über das andere verfichert, dab Alle betrunken feien, ergreift es ihm mit übermächtiger Gewalt; inmitten der Gäfte

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gefteht er feine Schuld. „Höre mich, rechtgläubige Gemeinde!” ruft er ihnen zu: er befennt, den Bauer Peter vergiftet, Akulina verführt, ihr Kind getödtet zu Haben. Alle Schuld nimmt er allein auf fi; er ift der von der Reue und der Buße ge= rührte Menjch, wie -fein Vater Alim dem Verwalter jagt. Wie Matrona die Ver— treterin des Böfen, ift ihr Gatte Akim der Vertreter des Guten, etwas wie der Genius des ruſſiſchen Volkes in feiner Treuherzigkeit und Unſchuld. Der Tolſtoi'ſchen An— ihauung gemäß erfcheint er in der dürftigften, armjeligften und ſchmutzigſten Schale: Akim ift „ein unanfehnlicher, gottesfürchtiger Bauer, der ftammelt und hüſtelt.“ Während des ganzen Stüdes bat er zum Guten geredet und ift immer zurückgewieſen worden, jebt fieht er doch noch den Sieg des Lichte. Ein Drama möchte ich die Dichtung nicht nennen, es find Sittenfchilderungen aus dem ruffiichen Dorfleben, die wahrfcheinlich auf der ficherften Beobachtung beruhen, aber darum nur einen um fo düfterern Gindrud des Aberglaubens und der Verkommenheit, der Trunkſucht und Lafterhaftigkeit machen. Aus diefem Elend und diefer Verrohung erhebt fich das Ende mit faſt märchenhaftem Glanze; der bis dahin ganz in Sinnlichkeit befangene Nikita wird don der Gnade Gottes berührt und umleuchtet. Das Stüd ift jchlicht und volfsthümlich in der Verknüpfung der Scenen wie im Auzdrud, epifch geht es in Nebenfiguren und Epifoden auseinander. Auf ein deutjches Publicum wirkt es der Natur der Sache nach mehr durch feine Fremdartigkeit als durch die Gräßlichkeiten feiner Handlung.

Aber es ift nicht nur grufeliger, ſondern auch in feiner Ausführung kräftiger und originaler ala dad Drama von Arno Holz und Johannes Schlaf, „Die Familie Selide“. Während in dem Tolftoi’schen Schaufpiel fich wenigſtens einige Scenen dramatisch fteigern und die Handlung von Act zu Act fortjchreitet, bietet „Die Familie Selide” nichts ala ein Berliner Stimmungsbild, Grau in Grau. Ohne jeden Gonflict, ohne jede Bewegung. Am Meihnachtsabend erwarten Frau Selide, eine verdrießliche, fummervolle, nörgelnde Frau, ihre ältefte Tochter Toni, ein braves, rechtichaffenes Mädchen, das fich und die anderen durch ihre Arbeit erhält, zwei Söhne und das feine im Sterben liegende Lieschen den Vater. Eduard Selide ift Buch— halter dem Zettel nach, für die Verfaffer ift er der Trunfenbold, wie er im Buche fteht. Um zwei Uhr Nachts ftolpert er die Treppen hinauf, einen Weihnachtsbaum in der einen, eine Pfannkuchendüte in der anderen Hand. Nun beginnt eine Lärm- und Heuljcene, die an Naturwahrheit und Dede ihres Gleichen ſucht. Viele Schrift: fteller haben die Trunkſucht gejchildert, aber treuer, platter und gemeiner als Arno Holz und Johannes Schlaf ift es bisher feinem gelungen. Denn bei Gerhart Haupt- mann ift gleich die Bevölkerung eines ganzen Dorfes, bis zu den Säuglingen herab, der Branntweinpeft verfallen, und das Widerliche der Schilderung jchlägt beftändig in die groteöfe Ungeheuerlichkeit um, in der „Familie Selide” fällt alles Licht auf den einen Zrunfenbold, der eine halbe Stunde auf der Bühne hin- und hertorfelt lallt und rülpft, um fich fchlägt und ftinkt, bis zu feiner Entnüchterung und unferer Erlöfung Lieschen ftirbt. Das gibt der verlogenen Sentimalität der Verfaſſer die willfommene Gelegenheit, die „Familie Selicke“ malerisch um das Sterbebett zu gruppiren. Noch verlogener ift der Entſchluß Toni's, die Hand eines Gandidaten Guftav Wendt auszu- ichlagen, der ihrettivegen zwei Jahre bei ihren Eltern als Chambregarnift ausgehalten und gerade jebt eine Stelle ald Doripfarrer befommen hat. Sie will fich ihren Eltern opfern. Welche Romantik in der Dachlammer, vier Treppen hoch, in dem Herzen einer Mäntelnäherin! Und wenn es nun wenigſtens bei dem Opfer diefer neuen Iphigenie bliebe, aber der Gandidat, der am Vormittag des erjten Feiertags abreifen muß, drüdt ihr die Hand zum Abjchied: „Ich komme wieder!” Drei Acte hindurch haben wir die Seefranfheit erdulden müffen, um zu diefem gewiß nicht ungewöhnlichen und gar nicht naturaliftifchen Schluffe zu gelangen. Mißbräuchlicher als auf dieje Simpelei ift nie der vornehme Name Drama angewandt worden. In dem berlinifchen Dialekt, deffen humoriſtiſcher Kraft fich die Verfaſſer, da fie ihn mehr radebrechen als iprechen, auch nicht in einem Zuge bewußt find, geben fie eine Photographie der

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Alltagswirklichkeit, der man die Schärfe und Genauigkeit der Beobachtung und der Wiedergabe gern zugefteht. Mit der dramatifchen Kunſt Hat das Merk nichts zu ſchaffen, es ift eine Notiz aus dem Polizeibericht unter dem pejfimiftischen Ber: größerungsglafe.

Obgleich das geheimfte Weſen und der innerfte Kern der Anzengruber’jchen Volls— ftüde von einem norddeutſchen Publicum ſchon ihres Dialekts und ihrer Stammesart wegen nicht völlig verftanden und genoffen werden können, faflen fie doch beftändig ftärfere Wurzeln bei und. „Der Pfarrer von Kirchjeld* „Der Meineidbauer" „Die Kreuzelichreiber” gehören ſchon zu dem jtändigen Repertoire unferer Theater. Ihnen Hat fich jetzt das Wiener Volksſtück „Das vierte Gebot”, wenn auch mit ge ringerem Erfolge, zugefellt. Die beiden Fabeln, auß denen fi) das Schaufpiel zu: fammenfeßt, find nicht innig genug mit einander verbunden, um eine dramatiiche Steigerung zu ermöglichen. Statt fi in einem Höhepunkt zufammenzufchließen, fließt das Ganze auseinander. Zu diefem Mangel in der Compoſition tritt eine ge wiffe Unklarheit des Grundgedanken. Wenn Hedwig Hutterer, die um ihren Eltern zu gehorchen, ihrer Jugendliebe zu ihrem Klavierlehrer entjagt, einen reichen Wüſtling geheirathet hat und in der Ehe krank umd unglüdlich geworden ift, in jchmerzlicher Anklage ſich gegen das vierte Gebot erhebt, defjen Verheißung an ihr nicht in Erfül- fung gegangen ift; wenn die Kinder des Ehepaars Schalanter die Frau ift eine finnlich gemeine Natur, der Mann ein Bummler, Wirthahausläufer und Prahler ins Elend gerathen, die Tochter eine Dirne, der Sohn ein ZTodtjchläger wird, der im Jähzorn feinen Feldwebel erjchießt, jo hat das Mißgeſchick Hedwig's wie die Ver: ſchuldung Martin’s mit dem vierten Gebot nichts zu jchaffen. Es wird immer beſſer fein, daß die Kinder auch fchlechte Eltern lieben und ehren, als daß fie fich von ihnen abwenden, ihnen troßen und fie verachten. Daß oft das böfe Beiſpiel der Eltern die Kinder verdirbt, daß wir zuweilen eher unjerm Herzen als dem Befehl eine Vaters folgen jollen, kann dem Dichter billig zugejtanden werden, aber das vierte Gebot wird davon nicht berührt. Der Reiz des Stüdes beruht in der Klein— malerei, mit der die Berhältniffe des Wiener Bürgerftandes, oben und unten, feine Lebensgewohnheiten, jein Leichtfinn und feine Vergnügungsfucht dargeftellt werden. Der verfommene reihe Wüftling Stolzenthaler, der gegen ihren Willen die arme Hedwig heimführt, und der proßige und polternde Hutterer, der in blindem Gigen- dünkel feiner Klugheit fein Kind opfert, um nachher bei dem Anblid ihres Jammers in Thränen zu zerfließen, find eben folche Typen von überzeugender Wahrheitskraft, wie Vater und Sohn, Mutter und Tochter Schalanter und die alte Großmutter, in der ſich wie in Tolſtoi's Alim das Gewilfen des Volkes verkörpert. Es ift nicht fowohl die glüdliche Verſchlingung und Löfung feiner Fabeln, als die Kunſt feiner Charakteriftit, die Anzengruber unter unfern modernen Dramatifern einen jo hervor— ragenden Pla angewieſen hat. Er fchafft immer lebendige Gefchöpfe, nicht nur Bühnenfiguren, aus der Fülle feiner Erfahrung, aus der Unmittelbarfeit der Wirk: lichkeit kühn und feſt herausgegriffen und mit einer Sicherheit, die felten ihres Ein- druds verfehlt, Hingeftellt. Die Unficherheit beginnt bei ihm, jo bald er fich in die Sphäre des höheren Geſellſchaftslebens und in das feinere Nervengeflecht der Bildung verirrt. Im „vierten Gebot“ leidet das Verhältniß Hedwig's zu ihrem Klavierlehrer Robert Frey, dem wir fpäter ala Feldwebel begegnen, an jolcher unwahrjcheinlichen Romantif. Aber man fieht über diefe Schwächen hinweg, jo lange man im Theater jaal gleihfam im Bann der Naturwüchfigkeit Tiegt, in der die Familie Schalanter wie leibhaftig vor uns fteht.

Ganz aus dem Rahmen der Anjchauungen und Beltrebungen, welche die „Freie Bühne“ auf ihr Programm gejchrieben, fiel das Trauerfpiel in fünf Acten von Arthur Fitger „Bon Gottes Gnaden“. Der Dichter der „Here“ iſt in dieſem phantaftiich romantifchen Puppenfpiel nicht wieder zu erfennen. Höchſtens in ber Vorliebe für das bunte Bühnenbild, in dem er und bald ein Feſt der vornehmen Gefellichait im Walde, bald einen Aufzug der Armen und Waifen, der Blinden, Krüppel und Lahmen

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im Thronfaal eines fürftlichen Schloffes vorführt. Schon der Gegenfaß, von dem er ausgeht, daß Gottesgnadenthum und reine Menjchenthum fich gegenjeitig ausfchließen, ift eine demofratifche Mebertreibung und die Form, in der er ihn zum Ausdrud bringt, eine Unmöglichkeit. Zur Zeit, ala der König von Preußen gegen Paris vorrüdt und von Dumouriez durch die Kanonade bei Valmy in feinem Marjche aufgehalten und zum Rüdzuge gezwungen wird, heirathet eine deutiche Fürftin Anna Zeonore, in einem „SKleinjtaat am linken Rheinufer”, ihren Milchbruder, einen Forjtwart Wolfgang. In einer wunderjchönen Herbjtnacht, in der Waldcapelle traut fie der Klausner. Selbſt in einem Märchen aus dem Mittelalter würde dies der Gipfel des Phantaftifchen fein, und nun. denfe man e& fich in der breiten Schilderung aller Uebel und Schwächen, aller Schändlichkeiten und Lächerlichfeiten des Kleinfürſtenthums in der Zopfzeit. Auf der einen Seite das verliebte Ehepaar, auf der andern Willkür, Laſter, Elend und Unterdrüdung, der rechte Höllenbreughel. Schnell genug zerreißt denn auch der romantifche Schleier für die Liebenden; in ihr kämpft beftändig die Fürſtin von Gottes Gnaden mit dem verliebten Weibe, in ihm erwacht der Mannesſtolz und der demo= kratiſche Fanatismus. Er ftellt fih an die Spike der Aufrührer und nöthigt die Hürftin in einer grotesfen Scene, Krone und Hermelinmantel abzulegen und gleichjam ihr Gottesgnadenthum abzuſchwören. Gehorjam, aber innerlicdy gebrochen, folgt fie ihm in fein einfames Forſthaus. Einen Verſuch, den ihre Verwandten und Anhänger wagen, fie wieder in ihre Rechte einzufeßen, jchlägt er blutig nieder und fchilt fie, die Unfchuldige, die von dem Unternehmen nichts gewußt hat, Lügnerin und Ver: rätherin. In feiner rohen Weife mißhandelt er fie noch mehr mit feinen Liebkojungen, ala mit feinen Schlägen: in ihrer Verzweillung ergreift fie im letzten Aufflammen ihrer edlen Seele ein Meffer und ftößt es ihm in die Bruft. Ueber den Sterbenden wirft fie fich aufgelöft in Schmerz und Thränen Hin, und das eindringende Volk ichleppt fie ala Mörderin zum Tribunal. Die Abenteuerlichkeit des Trauerſpiels ver— Ihärjt fich für den feiner empfindenden Zufchauer noch durch den unbejchreiblichen Schwulſt der Sprache, die nicht den leifeften Anklang an den Ton der Zeit befikt, und bie bejtändige Gegenüberftellung der blaueften Romantik und der plumpjten All— täglichkeit. Man jollte meinen, der demofratifche Haß des Dichter gegen die Fürſten müfje feine Phantafie zur Erfindung ſchwerer Unthaten gegen Unjchuldige beflügelt haben, aber er weiß uns nichts als eine Mädchenverführung und die unmenfchliche Beitrafung eines zuchtlofen Soldaten ala die große Verjchuldung des Gottesgnaden- thums gegen das arme Volk zu zeigen. Im Uebrigen bringt er „olle Kamellen“ vor, den vom Dache herabgeichofjenen Dachdeder und den bemitleidenswerthen Diener, der fi) eine Lähmung zuzog, weil er des Nachts in den Teich ſteigen mußte, die Fröſche zu beruhigen, deren Gequad die „hochjelige Tante der Fürftin Anna Leonore” im Schlafe ftörte. Auf dem Parodie- Theater hätte das Trauerjpiel einen raufchenden Erfolg erworben, auf der „Freien Bühne“ konnte es nur ernfthaft genommen werden und erlag dem einjtimmigen, fröhlichen Gelächter.

Das Deutſche Theater Hat mit feinen Neuheiten jo wenig wie das Schau— fpielhaus einen durchichlagenden Erfolg zu verzeichnen, den beiten Treffer hat e8 noch mit einer Neubelebung des Volkajtüdes „Mein Leopold“ von Adolph 2’Arronge gezogen. Die Neigung des Publicums für das Einfache und Volksthümliche ift auch diefem vbortrefflichen Stüde zu Gute gefommen und hat den leichten Staub verwifcht, den fiebzehn Jahre darauf gehäuft. Die eigentlichen Neuigkeiten, die uns das Theater bot, waren am Sonnabend, den 15. Yebruar, ein Luftjpiel in vier Auf- zügen von Adolf Wilbrandt „Der Unterftaat3fecretair”, und zwei nor» diſche Dramen, ein Hiftorifches von Henrik Ibſen in vier Aufzügen „Nordiſche Heerfahrt” am Mittwod, den 12. Februar, und ein moderne „König Midas“ in vier Aufzügen von Gunnar Heiberg, dag am Sonnabend, dem 29. März zur erften Aufführung fam. Wilbrandt’3 Luftfpiel iſt eine liebenswürdige Grille, in der die Wirklichkeit anmuthig auf den Kopf geftellt wird. Was uns der Dichter vorführt, Fällt nicht gerade in das Weich der vierten Dimenfion, gehört aber

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auch nicht zu den Wahrſcheinlichkeiten in der Welt, wie fie nun einmal iſt. Marianne, ein geiftreiches, unbejchäftigtes Mädchen über die Zwanzig hinaus, kommt, da fie nicht weiß, was fie mit fich und ihrer Zeit anfangen foll, auf den Gedanken, poli= tiiche Feuilletons zu jchreiben, in denen fie den Unterftaatsfecretair Helmuth von Stargard mit wüthendem Haß und Teidenjchaftlicher Beredtfamkeit angreiitt. Was bat ihr der Unterftaatöfecretair getfan? Sie kennt ihn gar nicht, in der Mittelftadt, in der fie Tebt, fcheint ihm auch fein Menſch gejehen zu Haben, und Photographien gibt es von Helmuth von Stargard nicht: er läßt fich nicht photographiren. Aber ihr Bruder Kurt hat ihr gejagt, daß diefer Mann ein Volksfeind und der Fluch des Landes jei, und da fie im Grunde nur das Sprachrohr ihres Bruders ift, denn er ift der Gorrefpondent der demokratiſchen Zeitung, hat fie billigerweife feinen Haß zu dem ihrigen gemacht. Drollig genug find diefe radicalen Gejchwilter die Kinder eine gutmüthigen penfionirten Oberften yelfing, der von ihrer Schreibthätigfeit nichts ahnt und mit dem Interftaatäfecretair gemüthlich Schach jpielt, während Marianne am Nebentiſch ihre Brandbriefe, unterzeichnet Marius, verfaßt. Herr von Stargard verweilt nämlich, natürlich unter einem fremden Namen, im Schuß feiner Photo- graphielofigkeit, in der Stadt; in einem kleinen Seebade hat er die Pflegetochter des Oberſten kennen gelernt, Feuer gefangen und fie zu ihren Verwandten zurüdbegleitet. So hat er fich harmlos in Felſing's Haus eingeführt und verliert dort fein Herz nad alter Comödienſitte im Augenblid an die fchelmifch geiftreiche Marianne. Da er auf Urlaub ift und fi) mit Staatägefchäften und Politit jo wenig müht, daß er nicht einmal die Artikel von Marius lieſt, hat er Muße genug, außer Mariannen noch einer reichen und hübjchen Wittwe, die er aus den Geſellſchaften der Hauptftadt kennt, den Hof zu machen. Nun gibt es drei Acte hindurch ein Blindekuhfpiel und die be— fannten Berwechjelungen und Mifverftändniffe, die fich auf der Bühne um fo Luftiger ausnehmen, je unmöglicher fie in der Wirklichkeit find; muß doch jogar Herr von Stargard nad Mariannens Dictat eine Satire gegen fich jelbit, feine Perfon und Amtsführung, für die demofratijche Zeitung fchreiben, bis jchließlich Alles entdedt wird und drei verlobte Paare auf der Bühne ftehen. Wilbrandt’3 Heldin ift eine jener nedifchen, widerfpruchsvollen, koboldartigen FFrauengeftalten, in deren Zeichnung er fich gefällt; fie jpringt aus einem Aeußerſten in das andere; heute ſchreibt fie die fchneidigiten Marius-Artikel, morgen bädt fie den beiten Eierfuchen; eben noch hat fie die begeiftertfte Rede für die Gleichberechtigung des weiblichen Gejchlechts gehalten und finft gleich darauf dem geliebten Manne als unterthänige Sklavin and Herz. Ihr ganzes Hin und Her, Unruhe und Haft ift nichts ala Liebesfehnfucht nach dem Rechten. Man empfängt von dem Stüd, troß des Anfcheina unmittelbarer Gegen- wärtigfeit, den Gindrud einer anmuthigen, aber altmodifchen Saloncomödie, in der die Plauderei über Alles und Nichts die Handlung und die Gharakteriftil in den Hintergrund gedrängt hat.

Ibſen's Drama „Nordifche Heerfahrt“ gehört einer früheren Periode feines Schaffens an und berührt fich noch am nächiten mit feinem Schauspiel „Die Kron— prätendenten”, nur daß bier das Hiftorifche, während in der „Norbifchen Heerfahrt“ das jagenhaftmythifche Element vorherriht. Das Stüd ift eine Art freier Phantafie über die Giegfried- und Brunhildenjage. Sigurd der Starte hat dem Gunnar die dämonifche Hjördis zum Weibe gewonnen, indem er in Gunnar’s Kleid und Waffen in ber Nacht den Eisbären tödtete, den fie in ihrer Kammer hielt: nun kommt er nad) Jahren zu Gunnar’ Hof in Helgeland mit feinem Weibe, der lieblichen Dagny. Zwiſchen den Frauen und den Männern entbrennt durch Hjördis' Eiferſucht und Stolz Biwietracht und Kampf. Und da fie überzeugt ift, daß Gunnar in dem Zweilampf gegen Sigurd unterliegen würde, tödtet fie jelbft den Mann, den fie liebt, mit einem Pfeilſchuß und ſtürzt ſich darauf von der Klippe ins Meer. In der „wilden Jagd, die durch die Luft ſauſt“, erkennen die Ueberlebenden ſie auf einem ſchwarzen Pferde, allen voran. Die knappe, wuchtige, dunkeltönige Sprache, welche die unklaren, un— bewußten und unausgeſprochenen Empfindungen dieſer Nordlandsmänner und der wal⸗

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fürenhaften rau trefflich wiedergibt; die Dämmerung zwifchen Heidentfum und Chriſtenthum, die über der Handlung liegt, machen die Entwidlung und Löfung ber Fabel noch unverftändlicher für ein modernes Publicum, als fie e& ſchon an ſich ift. Für das Deutjche Theater war die Wahl diejes Stüdes zur Aufführung ein um fo größerer Fehlgriff, da ihm die fchaufpielerifchen Kräfte fehlen, welche Figuren wie Hiördis, Sigurd und dem alten Dernulf eine gewiffe Leibhaftigkeit geben könnten. Nicht viel beſſer ala der „Nordifchen Heerfahrt“ erging e8 Heiberg’3 „König Midas“, Unfer Publicum bringt diefen nordifchen Stüden, deren Berechtigung auf ihrer heimath- lichen Bühne und deren Bedeutung für die Entwidelung des Theaters in Dänemarf, Schweden und Norwegen ich nicht beftreite, eine bewunderungswürdige Geduld ent- gegen, aber zuweilen reißt ihm denn doch ihrer anfpruchsvollen Wunderlichkeit gegen— über diejer Geduldsfaden. „König Midas“ ift wie Ibſen's „Wildente” eine Varia— tion des Kampfes gegen die gejellichaftliche Lüge und der idealiftifchen Forderung nah umbedingter Wahrheit. Grade wie Ibſen empfindet auch Heiberg, daß in diefem Stoffe im Grunde ein Luftipiel jtede, daß die Leute mit der beftändigen Moralpredigt auf den Lippen, die Wahrheitsjäger um jeden Preis, in der gebrechlichen Einrichtung diefer Welt ebenjo lächerlich und jchädlich feien, wie die Dutzendmenſchen, welche fich die Lebenslüge nicht allzufehr zu Herzen nehmen, aber er vermag fich ebenjo wenig wie Ibſen auf die freie Höhe des Humors zu erheben. Björnfon, Ibſen, Strindberg, Heiberg fie alle find Satirifer mit einem Stich in das Bittere, Herbe und Tra= giiche, ohme jede feelifche Heiterkeit und Freiheit. In der „Wildente“ muß ein uns ichuldiges Kind den thörichten Wahn des jungen Phantaften büßen, aus Alltags- geichöpfen, die vortrefflich im Sumpf vegetiren, Adelsmenſchen machen zu wollen; im „König Midas“ wird eine Lebensluftige Wittwe durch die Entdeckung der Wahrheit um den Berftand gebradt. Nur daß bier fich die Sache noch graußlicher, herz— fränfender und nichtswürdiger abfpielt, ald in Ibſen's Schaufpiel. Denn Gregers Werle iſt ein ſelbſtloſer Narr der idealiftifchen Forderung, Heiberg’3 Held dagegen, der Redacteur Johannes Ramfeth, ein Wahrheitslämpfer um feines Vortheils willen. So jehr ift er von Selbſtſucht und Heuchelei angeſteckt, daß der deutſche Zufchauer unwillfürlich auf den Gedanken fommt, daß eine perfönliche Satire diefer Schilderung zu Grunde läge. Ramſeth verficht in feinem Blatte die Mäßigfeit, die Sittlichkeit, die Wahrheit, die Grundjäße der äußeriten Linken. Wenn er einen Gegner trifft, iſt er jchnell fertig, ihn für einen Trunkenbold oder einen Wüftling zu erklären. Einen guten, bejchränkten Storthingsmann, deffen Wahl die Partei durchgejegt hat und ber fih anmaßt, nach feinem Gewiffen abjtimmen zu wollen, droht er mit der Entziehung jeines Mandats. Seine Handlungen ftrafen feine Worte Lügen. Trotzdem ift e8 ihm gelungen, einen Verein verzüdter Frauen zu gründen, die ihn ala Sittlichfeitsapoftel vergöttern. Die ganze Figur Fällt zunächit, wie ihre Umgebung, in das Komifche, und der weile Narr des Stückes hänjelt fie denn auch weidlich im erften Acte durch. Da jchlägt die Fabel durch die Liebe Ramſeth's zu der reichen jungen Wittwe Anna Hielm um. Biäher ift er ihrer ficher gewejen, jet verräth fie eine Neigung für einen andern Mann, Kai Dahl, und erweckt dadurch feine Giferfucht und feinen Groll. Um ihr zu beweifen, daß alle jüngeren Männer treulos und wetterwendijch find, erzählt er ihr, daß ihr verftorbener Mann, mit dem er jelbft eng befreundet war, ein ftraf- bares Verhältniß mit ihrem Dienjtmädchen gebabt und tritt den Beweis der Wahr- heit an, den zu führen für ihm nicht jchwer ift, da das Mädchen nachher einen Setzer in feiner Druderei geheirathet hat. Diefe Enthüllung ift für Anna ein Himmelsfturz: mit jchwärmerifcher Neigung hängt fie noch jeßt, zwei Jahre nach feinem Tode, an ihrem Gatten; jterbend hat er ihr verfichert, daß er, feit er fie geheirathet, fein anderes Weib geliebt habe als fie. Warum hat er fie belogen? Die ewige Grübelei darüber wird für fie etwas mie die verhängnißvolle Gabe des Königs Midas; unter feiner Hand verwandelte fich Alles, was er berührte, in Gold, für fie wird Alles zu ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung. Mit dem Ausbruch des Wahnfinns jchließt das Stück; „König Midas! König Midas!“ fchreit fie dem hochmüthigen Ramfeth zu.

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Man meint, er müßte von ihrem entſetzlichen Lachen wie von Gottes Hand berührt zuſammenſinken, er richtet ſich indeſſen bald aus ſeiner erſten Verſtörung wieder auf und ruft aus: „Aber es war doch die Wahrheit!” Als ob die Wahrheit den Seelen— mord, den er begangen, entjchuldigen könnte. Das pſychologiſch Unmwahrfcheinliche ber Fabel fpringt aus der Berichterjtattung ſchärfer hervor , ala im Theater: die be— ftändig aufgeregte und nervöfe Frau Anna Hielm erjcheint da don vornherein in einer Ueberjpannung der jeelifchen Thätigkeit, jo daß ihr Wahnfinn nicht völlig unerwartet auftritt. Nur daß dadurch das MWiderliche des Vorgangs nicht gemildert wird, eben fo wenig wie durch die eingeitreuten Luſtſpielſeenen. Es mag, wie Gerhard Hielm einmal ausruft, in Norwegen jehr nöthig fein, Luft zu fchöpfen, Humor zu haben und hell aufzulachen aber die Schaufpiel it doch das Gegenteil eines humoriſtiſchen befreienden Gelächters; es legt jich den Zufchauern wie ein Alp auf die Brut.

Das Berliner Theater erweitert vor Allem jein Repertoire: Bühne und Publicum find in gleicher Weife für die Pflege des claffiichen Drama’s und des hiſtoriſchen Schaufpiels geftimmt. Hierin ruhen die Wurzeln feiner Beliebtheit und jeiner Anziehungskraft. Die vergangenen Monate haben das Repertoire erfolgreich mit Schiller's Trauerfpiel „Wallenjtein’s Tod“ und mit dem „König Dedipus“ des Sophofles bereichert. Das griechifche Trauerſpiel hatte Eugen Zabel in Anlehnung an die Ueberſetzung von Wilhelm Jordan und die Bühnenbearbeitung Adolf Wilbrandt’3, die vor einer Reihe von Jahren im Schaufpielhaufe zur Auf führung gelangte, gejchiet für da8 Berliner Theater eingerichtet. In angemeflener Darftellung und Ausftattung übte die Dichtung auf ein Publicum, das ihr in jeiner überwältigenden Mehrheit zum erften Male entgegentrat, ihre alte ergreifende Gewalt. Ihr Kern berührt fich mit der modernen Lehre von der Vererbung der Eigenſchaften und ftellt in feiner Verſtrickung von Schuld und Schidjal eine Familientragödie dar, wie fie Ibſen zu fchildern liebt. Weniger Glück hatten die Verſuche, den „ge: fefjelten Prometheus“ des Aeſchylos und die Scenen aus den „Bhöni: cierinnen“ des Euripides, die Schiller überjegt hat, auf die Bühne zu bringen. Das Schiller’sche Fragment ift ſchon durch ſeine Schlußloſigkeit bei einer Aufführung zur Wirkungsloſigkeit verurtheilt und das Drama des Aeſchylos, das Mittelſtück eines Myſteriums, entzieht ſich völlig mit ſeinen allegoriſchen Geſtalten, Göttern und Okeaniden, mit den fortwährenden religiöſen und mythologiſchen Andeutungen und Beziehungen dem modernen Verſtändniß. Dafür geftaltete ſich am Freitag den 2. Mai die Feier des bdreißigjährigen Künftlerjubiläums Ludwig Barnay’s zu einem Feſttage für das Berliner Theater. Don Nah und Fern wurde der Käünſtler begrüßt und geehrt; die großen englifchen Schaufpieler brachten ihm ihre Huldigung dar, und am Abend überfchüttete das Publicum feinen Liebling mit Kränzen und Beifall. In Shakeſpeare's „Julius Cäſar“ fpielte er den Marcus Antonius, die erfte Rolle, in der er am 1. Mai 1874 als Mitglied des Meiningen’schen Hoftheaters vor dent Berliner Publicum erfchienen war. Seitdem ift troß aller feiner Wanbderzüge Berlin die Heimftätte jeines fünftlerifchen Ruhmes geblieben; Hier Haben ſeine Leijtungen die freudigjte, beinahe eine ungetheilte Anerkennung gefunden; bier ilt er durch die Begründung des Berliner Theaters den Bedürfniſſen gerade des gebildeten Mittelftandes nach theatralifchen Genüflen jowohl durch die Auswahl der Stüde wie durch eine große Anzahl billiger Plätze entgegengefommen. Sein hervorragendes Regie talent, dag fich in der Schule der Meininger gebildet hat, wetteifert mit feiner ſchau⸗ ipielerifchen Begabung, die Vereinigung beider macht die Bedeutung und das Glüd des Berliner Theater? aus. So war es natürlich, daß fich der Kreis der feier weit über die Berufsgenoſſen Barnay's und das Schriftitellertfum hinaus auf die Mafle des Publicums ausdehnte. Gegenüber diefen Vorgängen können die Neuheiten, die das Theater brachte, faum eine eingehendere Erwähnung beanfpruchen. Ein Schauipiel in bier Acten von Hans Norweg und Gurt Kraatz „Antoinette“, das in einer breiten und wunderlich verjchlungenen,, zuleßt ſich gar in das Tragiſche ver⸗ ſteigenden Handlung den Gegenſatz wiſchen der leichten und fröhlichen Lebens—

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anſchauung eines Weltlindes, einer Schaufpielerin, die einen jungen Kaufmann ges beirathet Hat und den PVorurtheilen der Gefellichaft in einer Heinen Provinzialftadt nach der alten Schablone jchildert, erlitt eine völlige Niederlage, und von den vier Luſtſpielen in je einem Act, die Emil Granichftädten unter dem Gejammt- titel „Salante Könige“ am Donnerjtag den 13. März aufführen Ließ, haben fich nur zwei auf dem Üepertoire erhalten; das eine die Annäherung Ludwig’ XIII. an feine lange vernachläffigte Gattin Anna don Defterreih, das andere die Werbung Ludwig's XIV. um die Wittwe Scarron’s, die jpätere Marquiſe von Maintenon, darftellend. Den beiden anderen, die ein verunglüdtes Liebesabenteuer Heinrich's IV. und Ludwig’ XV. fchilderten, vermochte das Publicum feinen Geſchmack abzugewinnen. Granichſtädten's Idee erjcheint reicher und auägiebiger, als die Aus— führung fich fchließlich zeigt. Die Wiederholungen, diejelben Accorde haben fich troß des Geſchickes, mit dem er im Einzelnen verfchiedene Töne anjchlägt, nicht vermeiden laffen, und das Spielerifche, Nichtige und in fid) Dede diefer „Galanterien” erweckt feine wärmere Theilnahme. Am eigenthümlichjten nahm fich noch ein phantajtifcher Scherz in einem Act von Hans Hopfen „Hexenfang“ aus, der am Mittwoch den 5. März zur erften Aufführung fam und in der originellen und Eräftigen Weife des Dichters tolle Leidenſchaft und treue Liebe, die Luſt einer Nacht und die Hingabe für das Leben Iebendig einander gegenüberjtellte.

Die größte Beweglichkeit nnd die reichjte Mannigfaltigkeit in der Vorführung der Neuigkeiten hat wieder das Leffing= Theater bewiefen. In jedem Monat hat es mehrere neue Stüde zur Aufführung gebracht. Daß es mehr ala eine Niete dabei gezogen, Tann fein Wunder nehmen. Ein Schaujpiel in vier Acten von Ludwig Ganghofer und Marco Brociner „Die Hochzeit von Baleni“, dad in dem deutſchen Bolfstheater zu Wien das Publicum immer von Neuem anzieht, jcheiterte bei uns am Donnerftag den 27. Februar völlig. Es ift ein Stüd wüjter Zigeuner: und Bojarenromantit aus Halbaſien, für die unjeren Zufchauern jedes Verſtändniß abgeht, dabei vorgetragen in jenem jchwäüljtigen Stil, der an den Ton der Haupt: und Staatsactionen erinnert. Auch Anzengruber's Voltaftüd „Das dierte Gebot“, welches das Lejfing- Theater von der „Freien Bühne“ über- nahm und am Sonnabend den 15. März aufführte, brachte e8 nur zu einer geringen Anzahl von Borftellungen. In dem Vergleich, zu dem e8 herausforderte, zwiſchen der Wiener Verlumptheit und dem Berliner Leichtfinn in Sudermann’s „Ehre“, zwiichen den Schalanter’3 und den Heinicke's, find zuletzt die Heinicke's Sieger geblieben. Ein Schauspiel in drei Acten von Octave Feuillet „Ju— liette“ fam ebenfalla ohne Erfolg am Montag den 31. März zur erjten Aufs führung. Zwiſchen Ernſt und Scherz behandelt es die Scheidungsfrage, die jet auf der Tagesordnung des franzöfiichen Theaters jteht. Eine junge Baronin Juliette entdedt, daß ihr Gatte ein fträfliches Verhältnig mit ihrer beften freundin, der Gräfin Glotilde, unterhält derfelben, die ihre Ehe vermittelt hat. Es war ber einzige Ausweg, den Glotilde fand, fich und ihren Geliebten vor der Eiferfucht ihres Gemahls zu retten. Raſch entjchloffen beantragt Juliette die Scheidung: aus dem tragischen Ton fällt die Fabel damit in den fomifchen. Denn der Eluge Advocat merkt gleich, daß die beiden Gatten fich troß alledem gut find und im Ernſte gar nicht an eine Trennung denken. Roger fett fich mit Glotilden auseinander und kehrt reuig zu Julietten zurüd. Bei aller Feinheit des Dialogs und der Charakteriſtik ift da3 Ganze doch nur Paftellmalerei, ohne den luſtigen Uebermuth in Sardou's „Divorgons“, ohne Frifche in der Erfindung, ohne tiefere Wahrheit in den Charakteren. Ein echtes Schaufpielerftüd war das Quftjpiel im drei Ucten von Hans DOlden und Paul von Shönthban „Die Geigenfee“, da am Mittwodh den 22. Januar zum erjten Male gegeben wurde. Ein lächerlicher Impreſario, der immer auf der Suche nach Talenten it, glaubt in einer Kleinen Stadt in der jungen Tochter eines Lehrers eine Geigenfee gefunden zu haben. Er nimmt fie und den Vater mit fi nach Berlin, um fie dort in Goncerten auftreten zu lafjen. Allein die Liebe

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macht ihm einen Strich durch die Rechnung, Gretchen findet in der Hauptſtadt ihren Otto wieder und entſagt dem Virtuoſenthum. An allerlei luſtigen Scenen, an ver— ſchiedenen lächerlichen Marionetten aus der Schaufpielerpraris iſt kein Mangel; wie in Günther's „Loni“ find Menſchen und Dinge einzig aus dem Gefichtäwinfel bes Theater? betrachtet und in die befannten Schablonen gepreßt. Daher fommt der Zufchauer ihnen gegenüber weder zu einem rechten Lachen noch zu einer wärmeren Theilnahme. Diefe Stüde ftehen weder auf dem Boden der Wirklichkeit noch jchweben fie in der Sphäre der Phantafie; fie bewegen fich in einer Art vierter Dimenfion, der das Publicum feinen Glauben mehr jchentt. Intereſſanter geftaltete fich die Vor— ftelung am Sonnabend den 2. Mai: fie brachte uns eine Komödie in zwei Acten von Eduard Bauernseld „Mädchenrache* und das in Dänemark viel- beiprochene und vielgejcholtene Schaufpiel in zwei Acten von Eduard Brandes, dem Bruder des Litterarhijtorifers Georg Brandes, den die „Deutjche Rundſchau“ zu ihren hervorragendſten und berühmteften Mitarbeitern zählt, „Ein Befuch“ in einer Ueberjegung von Julius Hoffory.

Glüdlih ahmt Bauernfeld in feinem anmuthigen Scherzipiel die jpanifche Komödie in Erfindung, Tracht und Versmaß nad. Man merkt diefen leicht und glatt dahin- fließenden Trochäen, diefem Bilderreihthum und diefer munteren Laune das Alter ihres Verfaſſers nicht an. Eine junge, ftolze, reiche und jchöne Donna Aurora nimmt an einem Don Pacheco, der fie, al fie vom Pferde ftürzend in feine Arme fiel, ge füßt Hat, eine unblutige Rache: fie macht den Ritter, der in Salamanca fich zu einem juriftifchen Examen vorbereitet, in fich verliebt in der Abficht, ihm, jobald er fidh erklärt hat, ſchmählich abzuweiſen. Selbftverftändlich bleibt fie in der eigenen Falle ſtecken. Das Zierliche des Dialogs und die Lebenäheiterkeit, die das Luftipiel um— Ihimmert, muß mit der Schwäche der Fabel verfühnen. In dem dänifchen Stüd ift die Tendenz die Hauptjache, das Poetifche die Nebenfache. Seit zwei Jahren ift der reiche Gutsbeſitzer Kai Neergard glücklich mit feiner jungen Frau Florizel verheirathet, der Bater eines Kindes, das beide Eltern vergöttern. Da trifft ein freund, den er feit drei Jahren nicht gefehen und von dem er auch Feine Photographie befiht, der Aſſeſſor Emil NRepholt, auf feine Einladung zum Befuche bei ihm ein. Zum Entſetzen ber Frau, denn fie erkennt in Repholt den Mann, der fie vor Jahren verführt hat. Auf einer Reife, während eines Tages, den fie nach einer ftürmifchen Seefahrt gemeinfam in einem Wirthshauſe zugebracht haben. Am anderen Morgen haben fie fich getrennt, fie haben fich nicht wieder geſehen, fie fennen ihre Namen nit. Nun hat Repholt bei der Wiederbegegnung mit dem Freunde nichts Beſſeres zu thun, als ihm das Abenteuer zu erzählen, er ift ein cynifcher Verächter der Weiber und der Ehe. Aber auch das Gaftrecht achtet er jo wenig, daß er mit der Frau des Freundes das Abenteuer, das er mit dem unjchuldigen und unerfahrenen Mädchen gehabt hat, fort- jeen möchte. Florizel ftößt ihn mit Abjcheu zurüd und verlangt, daß er auf der Stelle das Haus verlaffe. Ihr Zorn, ihre Thränen, das bejtürzte Ausſehen Repholt's verrathen dem anfänglich arglofen Kai fchließlich Alles. In der erften Wuth will er den Freund niederftoßen, aber zur Befinnung gekommen, weifl er ihm die Thür; er will die Frau verftoßen, aber behält fie am Ende als Mutter feines Kindes im Haufe. Das Ding, wie man fieht, ift nicht Wleifch, nicht Fiſch. Wie das Stüd vorliegt, tft es ein erfter Act, dem noch zwei folgen müßten, um das Verhältniß zwifchen den Gatten wieder auszugleichen oder tragifch zu löſen. Der Schluß, den ihm Eduard Brandes gegeben, läßt die aufgeworfene Frage ohne Entſcheidung. Dom chriftlichen Standpuntt „wer fi ohne Sünde fühlt, werſe den erjten Stein auf fie" ift die brutale Wuth des Mannes gegen die arme Frau durchaus verwerflih; von dem Standpunkte eines neuen Sittengefeßes, dem ja der politifche Reformator Brandes zu— neigt, ift fie unmenjchlich und halbwegs lächerlih. Denn wenn auch in der Liebe die Freiheit gilt, ift e8 ein Mißbrauch der Gewalt, Florizel wegen eines Fehltrittes mit Vorwürfen und Nichtswürdigfeiten zu überhäufen, den fie begangen, ehe fie Kai kannte. Und auf welche Vergangenheit blickt Kai jelber zurück, der diefen Repholt jeinen beften

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Freund nennt! Dieſe Herren ziehen fortwährend gegen die gefellfchaftlichen Lügen und Einrichtungen mit großmächtigen Worten zu Felde und gerathen außer fich, wenn fie jelbft unter der Offenbarung der Wahrheit leiden. Sie erklären die Frauen für gleich— berechtigt und möchten ihr eigenes Weib erwürgen, weil fie ala Mädchen eine Lieb» ichaft gehabt. Zu diefer moralischen Jnconfequenz und Schwäche des Stückes gejellt fi ein künftlerifcher Mangel. Wir fehen feine Handlung vor uns, fondern hören zwei Erzählungen und den Grörterungen darüber zu. Und wenn uns diefe Gejchichten auch feinen Zweifel über die Schuftigfeit Repholt's laſſen, jo klären fie uns doch feineswegs über Florizel's Charakter auf. Wir müflen uns das junge, tweltfrembde, pbantaftifche Mädchen conftruiren, das in halber Unbewußtheit fich dem erſten Beten hingibt, aus der Frau, wie fie vor und Hintritt, ift es micht zu erfennen.

Die bedeutſamſte Neuigkeit des Leffing » Iheaterd war ein Schaufpiel in vier Acten von Conftantin Prachs, „Das Bild des GSignorelli“, bad am Mittwoch den 5. Februar zum erften Male auf der Bühne erſchien. E& machte ung mit einem neuen charakterijtiichen Talente befannt. Um feinen Sohn, einen flotten Lieutenant, aus feinen Spielfchulden und vor dem Selbftmorde zu retten, er= klärt der Profeſſor Waede, ein gelehrter Kunftlenner, wider beſſeres Gewiſſen ein Gemälde, das der Kunfthändler Pfeiffer als ein Werk des Signorelli gelauft hat und gegen eine bedeutende Summe dem Fürſten anbietet, für eine Schöpfung jenes Meiſters. So wird der Kunſthändler ſein Bild los und ſchießt das Geld vor, das der junge Waede zur Bezahlung feiner Schulden braucht. Aber die Lüge zehrt an dem Xeben und der Seele des unglüdlichen Vaters; er wird wahnfinnig und zerjeßt das Bild des Signorelli mit einem Meffer. Der Werth und der Reiz des Schaufpiels beruhen in der Charakteriſirung. Wie die urfprünglich reine, ftille und befchauliche Gelehrten- natur des Profefjors, die fich gegen die Prunkfucht und Eitelkeit feiner Frau, gegen die Adelöverleihung fträubt und doch immer im Kampfe gegen den ſtärkeren Willen unterliegt, allmälig in die Schuld fich verjtridt und aus dem Neb feinen Ausgang findet, ift vortrefflich geichildert. Auch die Zeichnung der beiden Brüder, des älteren Oscar mit feiner heimlichen Leidenschaft zu der Verlobten feines Bruders, die er in einem großen Bilde als Loreley verherrlicht, und des leichtfinnigen, aber gutmüthigen Fri, des Kunſthändlers Pfeiffer, in deſſen Charakteriftit jede Aehnlichkeit mit der Schablone des Theaterböfewichts vermieden ift, verrathen eine fichere Hand. Schwächer find die Frauengeftalten: die Verlobte, die jchließlich auß der Hand des Officiers in die des Malers übergeht, und die muntere Schweiter, die nebenher läuft. Iſt es dem Verfafſer, gerade wie Hermann Sudermann, noch nicht gelungen, einen feſten drama— tiſchen Faden zu ſpinnen, iſt die Bervegung feiner Handlung auch noch fchwerfällig und gedehnt, jo kündigt fich doch zweifellos ein originelle® Talent mit kühnem Griffe an. Das Gejuchte und Künftliche in der Fabel hält man einem Erſtlingswerke wie billig zu gute.

Von dem Rejidenz- Theater und dem Wallner- Theater ift diesmal wenig zu melden. Das erjte Hat zum hundertſten Male die Sardou'ſche Poſſe „Marquiſe“ aufgeführt: ein Dämchen, das fich ein Vermögen erworben hat, jucht einen Gatten mit adligem Namen, um in die Gefellichaft der anftändigen Leute ein- ireten zu können, und findet in einem verlumpten italienifchen Marchefe den ihrer würdigen Mann. Wie fich Beide gegenfeitig betrügen, bildet den nicht jauberen, aber [uftigen Inhalt des Stüdes, deffen Moral nad) dem Dichter darin befteht, daß es die Eine zu ihrem Reichtum ohne Achtung und den Anderen zu feiner Armuth ohne Ehre, troß all’ ihrer Berechnungen und Bemühungen, zurüdverjegt. Dem Wallner- Theater wollte in diefer Saijon fein Spiel gelingen, bis es ebenjalla in den Hafen einer franzöfifchen Poſſe, „Rigobert“, deren Inhalt fi) aus fortwährenden Miß— verftändniffen und Berwechjelungen zufammenfeßt, mit vollen Segeln einlie. Wie laut fi) auch die Jbjen- Gemeinde gebärdet, in der Mafle des Publicums ift die Tranzdfelei noch immer der Norwegerei thurmboch über.

Karl Frenzel.

Politifhe Rundſchau.

Berlin, Mitte Mai.

Die Thronrede, mit welcher KHaifer Wilhelm II. am 6. Mai die erjte Seſſion der achten Legislaturperiode des deutfchen Reichstages eröffnete, hat im In- und Aus: ande bei allen Anhängern des Friedens einen durchaus günstigen Eindrud gemadjt. Wie die ohne jeden Mißklang zum Abſchluß gebrachte Berliner Arbeiterfchug-Gonferenz unter den in gleichartiger Wirtbichaftslage befindlichen Staaten Europa’3 einen Aus: taufch der Meinungen darüber herbeiführen jollte, bis zu welchem Maße eine gemein: fame Anerkennung der gefeßgeberifchen Aufgaben in Bezug auf den Arbeiterſchutz fid feftftellen und durchführen laffe, wird diejer Gefichtspunft auch in der Thronrede im Zufammenhange mit der Ankündigung des weiteren Ausbaues der in Betracht fommen- den Gejehgebung geltend gemacht. Handelt es fich dabei in erfter Linie um die den Arbeitern zu gemwährleiftende Sonntagsruhe, ſowie um die durch Nücdkfichten der Menjchlichkeit und im Hinblide auf die natürlichen Entwidlungsgejeße gebotene Be ichränkung der Frauen» und Kinderarbeit, jo wird hervorgehoben, daß die von dem früheren Reichdtage gemachten Vorſchläge ihrem wejentlichen Inhalte nach ohne Nach— theil für andere Intereffen zu gejelicher Geltung gebracht werden können, daß ſich aber noch eine Reihe weiterer Beitimmungen ala der Verbefferung bedürftig und fähig erwiejen habe. In diefer Beziehung fommen namentlich die gefeglichen Anordnungen zum Schuße der Arbeiter gegen Gefahren für Leben, Gefundheit und Sittlichkeit, jowie über den Erlaß von Arbeitsordnungen in Betracht. Eine andere Vorlage joll die beifere Regelung der gewerblichen Schiedägerichte, ſowie eine Organifation diefer herbei— führen, die es ermöglicht, folche Gerichte bei Streitigkeiten zwiſchen Arbeitgebern und Arbeitern über die Bedingungen der Fortſetzung oder Wiederaufnahme des Arbeits- verhältnifjes als Ginigungsämter anzurufen. Wie anerfennenswertd nun auch das Beitreben ift, einen weiteren bedeutjamen Fortſchritt in der friedlichen Entwidlung der Arbeiterverhältniffe herbeizuführen, wird doch zugleich in der Thronrede auf die Ge— fahren hingewieſen, die fi) au8 der Geltendmachung maßlofer und unerfüllbarer An— forderungen von Seiten der Arbeiter ergeben müſſen. So wird denn auch betont, daß jedem Berfuche, an der Rechtsordnung gewaltfam zu rütteln, mit unbeugjamer Entjchlofjenheit entgegengetreten werden joll.

Der Mißerfolg des von focialdemokratijcher Seite geplanten „Weltfeiertages“ hat gezeigt, daß das entfchiedene Vorgehen des Bürgerthums eine mächtige Waffe gegen maßlofe Forderungen ift, wie fie von dem vorjährigen in Paris gehaltenen internationalen Socialiftencongrefje in Bezug auf den achtitündigen Arbeitstag, ſowie den internationalen Arbeiterihuß ohne Rüdficht auf die volfswirthichaftlichen Bedingungen der verjchiedenen Länder erhoben wurden. Andererfeits darf e8 mit hoher Genugthuung begrüßt werden, daß ein großer Theil der deutjchen Fabrifanten den Arbeitern mit Entfchiedenheit far gemacht Hat, daß, wenn dieje jelbjt die gewiſſenhafte Erfüllung des Arbeits— vertrages von Seiten der Arbeitgeber verlangen, fie an denfelben ebenfalls gebunden

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ſind. In Deutſchland haben denn auch die vernünftigen Erwägungen des weit über— wiegenden beſonnenen Theiles der Arbeiter über die demagogiſchen Beſtrebungen und Hetzereien einiger Führer einen glänzenden Sieg davongetragen, der um jo bemerkens— werther erfcheint, als zugleich dadurch jeftgeftellt wurde, daß im focialdemofratifchen Teldlager keineswegs diejenige Gejchloffenheit und blind gehorchende Disciplin herrſcht, welche nach der Auffaffung der Parteiführer im Kampfe gegen die Bourgeoifie den unbedingten Erfolg fichern ſoll. Vielmehr treten innerhalb der Fraction der neu— gewählten jocialdemokratifchen Reichstagsabgeorbneten jelbft fachliche und perfönliche Gegenfäge in die Ericheinung, aus denen hervorgeht, daß in dem phantaftifchen jocialiftifchen Zufunftsftaate der verheißene ewige Friede keineswegs feine Verwirklichung finden würde. Tür die bürgerlichen Glaffen müfjen daher der Mißerfolg des focialiftifchen „Weltfeiertages“ vom 1. Mai und die tiefgehenden Gegenſätze innerhalb der focialdemofratifchen Partei jelbft als Anjporn dienen, bei aller Anerkennung der berechtigten Anfprüche der Arbeiterbevölferung fich nicht durch wüſtes Gefchrei ein- Ihüchtern zu laſſen, vielmehr mit klarem Blicke angeblichen Gefahren entgegenzutreten, die ſich dann jchließlich bei energifchem Handeln als eitel Dunft erweifen könnten. Beachtenäwerth ift auch der Rüdjchlag, welchen das Fiasco vom 1. Mai auf die jocialdemofratifche Bewegung jelbft, zunächjt wenigftens, ausgeübt hat. Wird doch in glaubhaiter Weife verfichert, daß fo ſchwach befuchte Verfanimlungen, wie fie in den Tagen nach dem 1. Mai gehalten wurden, feit einer Reihe von Jahren in Berlin nicht ftattgefunden haben, jo daß einzelne Berfammlungen überhaupt nicht erfolgen fonnten, weil die Zahl der Theilnehmer allzu gering war. Durchaus verfehlt wäre es, die Bedeutung jolcher Vorgänge, die vielleicht in einer gewiffen Ermattung nach der früheren hochgradigen Erregtheit eine ausreichende Erklärung finden, zu überjchäßen oder fich in eine voreilige Sicherheit eintwiegen zu laſſen; vielmehr gilt es im Hinblid auf die jüngjten Reichdtagswahlen an erfter Stelle ald eine unabweisliche Pflicht jämmtlicher Ordnungsparteien, alle Kräfte anzuſpannen, um einen hoffentlich zu ver— meidenden Anfturm gegen die Grundlagen des Staates und der Geſellſchaft erfolgreich zurückweiſen zu können.

Zu den Anfprüchen der Arbeiterbevölferung, welchen von Seiten des Staates Rechnung getragen werden muß, gehört unter Anderem derjenige auf ausreichenden Arbeiterfhug. Die dem deutjchen Neichdtage bereits vorgelegte Novelle zur Gewerbe- ordnung ſoll diefem von allen Seiten ala berechtigt anerfannten Zwede dienen. In diefer Arbeiterfchuß-Vorlage werden die Beitimmungen über die Beſchränkung der Arbeit von Kindern und jugendlichen Arbeitern, jowie von frauen ficherli” am wenigften Anfechtung erfahren. Waren bisher bereits Finder unter zwölf Jahren von der Arbeit in Fabriken ausgeſchloſſen, jo foll diejes Beichäftigungsverbot nunmehr auf die Kinder unter dreizehn Jahren ausgedehnt werden, auch jollen mehr als dreizehn Jahr alte Kinder in Fabriken nur bejchäftigt werden dürfen, wenn fie nicht mehr zum Befuche der Volksſchule verpflichtet find. Dankenswerthe Beichränkungen enthält der Entwurf au in Bezug auf die Arbeit der Frauen, die im Allgemeinen in der Nachtzeit von 8" Uhr Abends bis 5’/2 Uhr Morgens und an Sonnabenden, fowie an Vor— abenden der Feſttage nach 5/2 Uhr Nachmittags in Fabriken nicht bejchäftigt werden follen. Gegen dieſe, ſowie eine Reihe von anderen Gingzelbejtimmungen über bie rauenarbeit wird fich ebenfo wenig Widerfpruch erheben Laffen wie gegen diejenigen, durch welche Gefahren für Leben, Gefundheit und Gittlichfeit von den Arbeitern ab- gewehrt werden follen. Ausdrüdlich wird hier die Verpflichtung der Gewerbeunternehmer ausgejprochen, die Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen, Mafchinen und Geräthſchaften jo einzurichten und zu unterhalten, und den Betrieb jo zu regeln, daß die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Geſundheit jo weit geichüßt find, wie es durch bie Natur des Betriebes gejtattet if. Wie die Blumen des Feldes und die Bäume des Waldes bedarf auch die „Pflanze“ Menſch Vittorio Alfieri Hat diefen bezeichnen- den Ausdrud einmal gebraucht, indem er hervorhob, daß die „Pflanze“ Menſch in Italien robufter zur Welt fomme, als in jedem anderen Lande zu einer gefunden

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Entwicklung des Lichts und der Luft. Deshalb verdient die Beſtimmung volle An- erfennung, durch welche die Gewerbeunternehmer verpflichtet werden, insbejondere für genügendes Licht, ausreichenden Luftraum und Luftwechjel, jowie für Bejeitigung des bei dem Betriebe entjtehenden Staubes und der dabei entwidelten Dünfte und Gaſe Sorge zu tragen.

Nicht minder berechtigt erfcheint die Vorfchrift, nach welcher für jede Fabrik inner halb vier Wochen, nachdem die Arbeiterſchutz-Vorlage Rechtskraft erlangt haben wird, oder nach Eröffnung des Betriebes eine Arbeitsordnung erlaffen werden ſoll. Diele muß über Anfang und Ende der regelmäßigen täglichen Arbeitäzeit ſowie der für bu erwachjenen Arbeiter vorhergejehenen Pauſe und über Zeit und Art der Abrechnung und Lohnzahlung Beitimmungen enthalten. Die Arbeitsordnung foll ferner über bie Friſt der für jeden Theil zuläffigen Auffündigung, jowie über die Gründe volle Klar: heit gewähren, aus welchen die Entlaffung und der Austritt aus der Arbeit ohne Auffündigung erfolgen darf, fofern es nicht bei den gefjeglichen Beftimmungen bewenden foll. Werden Strafen vorgefehen, jo muß über die Art und Höhe derſelben ſowie über die Art ihrer Feitfegung und, falls fie in Geld beftehen, über ihre Einziehung und über den Zwed, für welchen fie verivendet werden jollen, Anordnung getroffen werden. Sehr wejentlich erfcheint auch die Vorfchrift, daß Strafbeitimmungen, durch welche das Ghrgefühl oder die guten Sitten verlegt werden, in die Arbeitsordnung nicht aufgenommen werden dürfen. Mit Recht wird hier davon ausgegangen, daß eine mächtige Waffe zur Verhütung von Ausjchreitungen die Stärkung des Ehrgefühls im Wrbeiter ift. Dieje Waffe könnte fich unter Umftänden fogar wirffamer erweiſen als Strafbejtimmungen, die der Staat unter gewifjfen VBorausfegungen erläßt. Dies gilt 3. B. vom Gontraftbruche, bei welchem der Staat nach der Arbeiterſchutz-Vorlage allerdings mit Recht Bedenken trägt, ftrafrechtliche Folgen anzudrohen, wohl aber eine eivilrechtliche Entichädigung oder Buße fejtgefegt wiffen will. Wenn ein Geſelle oder Gehülfe vor rechtmäßiger Beendigung des Arbeitsverhältniffes die Arbeit verlaffen bat, jo kann nach dem Entwurfe der Arbeitgeber an Stelle der Entfchädigung eine an ihn zu erlegende Buße fordern, welche für den Tag des Vertragsbruches und jeden folgen: den Tag der vertraggmäßigen und gejeßlichen Arbeitszeit, höchſtens aber für jeche Wochen, bis auf die Höhe des ortsüblichen Tagelohnes fich belaufen darf. Mit Fug wird in der Vorlage davon Abjtand genommen, für die Buße etwa im Unvermögens- falle eine Haftjtrafe zu fubjtituiren, wie denn überhaupt diefe Beitimmungen zunächſt in der Praris fich bewährt haben müßten, ehe fie ald ein wirkſames Mittel gegen den Gontraftbruch bezeichnet werden können. Dagegen darf nichts verabjäumt werden, wodurch das Ehrgefühl des Arbeiter im Gegenſatze zu dem von den focialdemo: kratiſchen Berführern großgezogenen Dünkel erhöht wird. Bei allzumeit gehenden Strafbeitimmungen liegt immer die Gefahr nahe, daß fie in Wirklichkeit ſich unaus- führbar erweifen oder mit der berechtigten Goalitionsfreiheit der Arbeiter im Gegen» jate ftehen. Dagegen ift es nur eine Forderung der Gerechtigkeit, wenn auf Grund ber neuen Vorlage mit Gefängniß nicht unter einem Monate bejtraft werden foll, wer es unternimmt, durch Anwendung förperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehr- verlegungen oder durch Verrufserklärung Arbeiter oder Arbeitgeber zur Theilnahme an gewiſſen VBerabredungen zu bejtimmen oder am Rücktritte von jolchen Verbindungen zu hindern, Arbeiter zur Einjtellung der Arbeit zu veranlaſſen oder von der Fortſetzung oder Annahme der Arbeit fernzuhalten, jowie Arbeitgeber zur Entlaffung von Arbeiten zu bejtimmen oder an der Annahme von Arbeitern zu hindern. Sind derartige Hand: lungen gewohnheitsmäßig begangen, jo tritt Gefängnißftrafe nicht unter einem Jahre ein. Diefelben Strafvorichriiten finden auf Denjenigen Anwendung, welcher Arbeiter zur widerrechtlichen Einſtellung der Arbeit oder Arbeitgeber zur widerrechtlichen Ent: lafjung von Arbeitern öffentlich auffordert.

Dieſe Beftimmungen, welche ebenfo den Arbeitgeber wie den rechtlich gefinnten Arbeiter zu fchüßen beftimmt find, werden kaum begründete Anfechtung erfahren können. Dagegen darf nicht verhehlt werden, daß die Arbeiterſchutz-Vorlage eine Reihe von

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Einzelbeſtimmungen enthält, die bei den parlamentariſchen Berathungen Widerſpruch hervorrufen werden. So iſt in den Beſtimmungen über Sonn- und Feſttagsruhe, ſowie in denjenigen über die Arbeit der frauen die Entjcheidung vielfach von den Ver— waltungsbehörden abhängig gemacht, jo daß mit Fug Gautelen für eine fachgemäße Ausübung einer weitgehenden diäcretionären Gewalt verlangt werden. Was ferner die bereitö erwähnten Arbeitsordnungen betrifft, jo wird es auch hier nicht an lebhaftem Widerfpruche gegen diejenige Einzelbeftimmung fehlen, nach welcher vor dem Erlaſſe der für Arbeitgeber und. Arbeiter rechtöverbindlichen Wrbeitsordnung oder eines Nach— trages zu derjelben den in der Fabrik beichäftigten Arbeitern Gelegenheit geboten werden ſoll, fich über den Inhalt diefer Beftimmungen zu äußern. Für Fabriken, für welche ein jtändiger Arbeiterausfchuß befteht, würde diefer Vorfchrift durch Anhörung des Ausſchuſſes Genüge geleitet werden. Selbft von Seiten arbeiterfreundlicher Indus ftriellen wird nun der Ginwand erhoben, daß die Nothwendigkeit der Verhandlungen über die Arbeitsordnung der Fabrik leicht zum Widerfpruch gegen unumgänglich ge- botene Beftimmungen herausfordern könnte, die andernfalla von Seiten der Arbeiter unbeanjtandet geblieben wären. Allerdingg wird in der Arbeiterfchuß - Vorlage die Gültigkeit der Arbeitsordnnungen keineswegs von der Zuftimmung der Arbeiter ab» bängig gemacht. Gerade hieraus können fich aber wieder neue Gonflicte entwideln, falls der Widerfpruch der Arbeiter unberüdfichtigt geblieben ift. Es genüge, einige Bedenken in diefer Hinficht hervorzuheben, die jedoch an Bedeutung wejentlich Hinter den in der Vorlage angeftrebten Berbefferungen des Loofes der arbeitenden Klaffen zurüditehen müffen.

Bei der Ausarbeitung der Arbeiterfchut » Vorlage waren zumeijt die Gefichts- punkte maßgebend, die auf der jüngjten Berliner Gonferenz allgemeine Anerkennung fanden , ohne daß jedoch die Vertreter der verjchiedenen europäifchen Induſtrieſtaaten in der Lage geweſen wären, die entiprechenden Befchlüffe zu faffen. Deutſchland geht alfo auch hier in einem eminent friedlichen Werke bei der Verwirklichung der auf der Berliner Gonferenz entwidelten Jdeen den übrigen Staaten mit gutem Beifpiele voran, von denen einige allerdings bereit? im Beſitze einer den bisherigen Berhältniffen an- gemefjenen Arbeiterſchutz- Geſetzgebung fich befinden. Was diejenigen Yänder betrifft, die auf dem Gebiete der jocialpolitifchen Maßnahmen zurüdgeblieben find, fo darf mit Sicherheit vorhergefehen werden, daß die Macht der BVerhältniffe mit der Zeit alle noch obwaltenden Bedenken zurüddrängen wird. Gricheint doch eine derartige den be= rechtigten Anfprüchen der Arbeiter Rechnung tragende focialpolitifche Gejeßgebung ala eine Art Sicherheitäventil gegen drohende Ausschreitungen der Socialdemofratie, deren Führer denn auch, infofern fie der janatifchen Richtung angehören, von den auf Ver» der verſchiedenen Schichten der Geſellſchaft abzielenden Beſtrebungen wenig erbaut find.

Daß in der Thronrede zur Eröffnung des deutichen Reichdtags der Ausbau der Arbeiterichuß = Gejeßgebung an erjter Stelle angekündigt wurde, entjpricht vollftändig der hohen Bedeutung diejer Frage, deren Löfung wejentlich zur friedlichen Geftaltung der inneren Verhältniſſe in den europätfchen Induftrieftaaten beitragen würde. Des— halb erjcheint e8 als eine durchaus logiſche Entwidlung im Gedanfengange der Thron= rede, wenn unmittelbar an .dieje friedlichen Bemühungen im Innern der Hinweis fich anschließt, daß Kaifer Wilhelm die dauernde Erhaltung des Friedens als das Ziel ſeines Strebena betrachte. In diefem Zufammenhange lieh der Kaiſer der Ueber— zeugung Ausdrud, daß es ihm gelungen fei, bei allen auswärtigen Regierungen das Vertrauen zu der Zuverläffigfeit jeiner Friedenspolitik zu befeitigen. Den Widerjachern der letzteren war es andererjeitö wenig erfreulich, das treue Feſthalten an der Tripel« allianz mit aller Entjchiedenheit in der Thronrede betont zu jehen: „Mit mir und meinen hoben Verbündeten erfennt es das deutſche Volt ala die Aufgabe des Reiches, durch Pflege der zu unferer Vertheidigung geichloffenen Bündniffe und der mit allen auswärtigen Mächten beitehenden freundichaftlichen Beziehungen den Frieden zu jchüßen, um Wohlfahrt und: Gefittung zu fördern.“ Die Widerfacher der Aufrechterhaltung

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des europäiſchen Friedens ſuchen denn auch einen Gegenſatz zwiſchen den bezüglichen Berficherungen der Thronrede und dem unmittelbar daran geknüpften Hinweiſe zu con« ftruiren, nach welch’ letzterem Deutjchland zur Durchführung der ihm geftellten Kultur aufgabe der feiner Stellung im Herzen Europas entjprechenden Heeresmacht bedarf. In Wirklichkeit gefährdet aber jede Verſchiebung der Machtverhältniffe das politifche Gleichgewicht und damit die Gewähr für den Erfolg der auf die Erhaltung des Friedens gerichteten Politi. Die in der Thronrede angelündigte Militärvorlage, welche dem Reichstage bereits zugegangen ift, wird jedenfall® dort oder in der Com— miffion eine eingehendere Begründung erhalten, jo daß die hier und da bisher noch bejtehenden Einwände entkräftet werden.

Wie Deutjchland laſſen auch Defterreich-Ungarn und Italien fich angelegen jein, ihre Streitkräfte den Pflichten anzupafien, die fie durch den Eintritt in die Tripel« allianz übernommen haben; wäre doch der Stellung einer europäifchen Großmadt unwürdig, Rechte, wie fie aus der Theilnahme am europäifchen Friedensbündnifie refultiren, zu beanjpruchen, ohne ein angemefjenes Nequivalent zu bieten. Bezeichnend ift, daß auch jenfeits der Alpen die Fyrangojenfreunde den Hebel zur von ihnen er- bofften Sprengung der Tripelallianz anjegen, indem fie bei jeder Gelegenheit prophe— zeien, die jtets anmwachjenden Ausgaben für das Landheer und die Marine müßten den finanziellen Ruin Italiens herbeiführen. Ihatjächlih Haben fi die Ein- nahmen des italienischen Schahminifteriums in letter Zeit mwejentlich günftiger ge ftaltet, jo daß fie in den verfloffenen zehn Monaten des Finanziahres im Ganzen 43625079 Lire mehr betrugen ala im Vorjahre. Troßdem iſt die italieniſche Regierung entjchloffen, im Budget des Landheeres und der Marine Erjparniffe herbei- zuführen. In diefer Hinficht erklärte das militärische Fachblatt: „L'Esereito italiano“ foeben, daß die italienische Regierung troß den fortgejeßten neuen Rüftungen ber großen europäiſchen Staaten ihre bisher im Militärbudget beobachtete Sparjam: keit aufrechterhalte, daß fie aber andererjeits feſt entjchloffen fei, durchaus nicht jene Ausgaben einzujchränten, durch deren Verminderung die Sicherheit des Staates oder die völlige Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen gefährdet würde. Diefes bundesfreundliche Verhalten Italiens verdient volle Anerkennung, obgleich von Anfang an gewiß war, daß die italienifche Regierung keineswegs die Tripelallianz gewiſſer— maßen als das Piedeftal bemußen würde, von dem aus fie auf Koften Defterreich- Ungarns und Deutjchlands europäifche Großmacht fpielen könnte. Vielmehr faßt das Minifterium Grispi die Stellung Italiens ala Großmacht jehr ernfthaft auf und gibt dieſer Auffaffung den entjprechenden thatjächlichen Ausdrud,

Die Angriffe gegen die Finanzpolitik Grispi’s richten fich daher zumeift gegen die nie verfagende Bundestreue Italiens innerhalb der Tripelallianz, als deren zu— verläffigite Stübe neben dem Könige Humbert deſſen erjter Ratgeber, der Gonjeil- präfident und Minifter des Auswärtigen, gilt. So verfteft man auch den Jubel, mit welchem in einem Theile der franzöfiichen Preffe jowie in fämmtlichen ultra= montanen Organen jüngjt die Meldung aufgenommen wurde, Crispi habe im italie- nischen Senate aus Anlaß der Berathung des von der Deputirtenfammer bereitö ge- nehmigten Gefeßentwurfes über die Opere pie, die frommen Stiftungen, eine empfind- liche Niederlage erlitien, da ein Hauptpunft der Vorlage in geheimer Abjtimmung abgelehnt wurde. Der abgelehnte Artikel ift in der That von Hoher Bedeutung, ba er die Umwandlung von Legaten, Hinterlaffenfchaften und milden Stiftungen, bie einem Bedürfniſſe der Ortsbevölterung nicht mehr entfprechen, in allgemeine Wohl« thätigfeitsanftalten geftatte. Mit vollem Rechte wies Crispi darauf hin, daß die Regierung, nachdem der urfprüngliche Zweck vieler frommen Stiftungen objolet geworden fei, die Wohlthätigfeitspflege nach Maßgabe des Civilgeſetzbuches geregelt jehen wolle. Die Klerilalen find nun, wenn fie große Siegesgewißheit zur Schau tragen, keineswegs allzu zuverfichtlich Hinfichtlich des endgültigen Ausganges der parlamentarischen Debatten. Zunãchſt bat der Senat in Uebereinſtimmung mit der Deputirtenkammer die Geift- lichen aus der Verwaltung der frommen Stiftungen entfernt, was doch ficherlich nicht

Politifhe Rundſchau. 467

im Sinne vaticanifcher Sympathien aufgeiaßt werden kann. Hierzu fommt, daß der vom Senate durchberathene Gejeentwurf der Deputirtenfammer mit Zuftimmung des Könige don Neuem unterbreitet worden ift, jo daß der von der Kammer befeitigte Artikel wiederhergejtellt werden kann. Verharrt dann der Senat bei feinem ablehnen- den Votum, jo wäre die Regierung in der Lage, durch einen Pairsfchub einen befjeren Einklang zwijchen der erjten Kammer und der öffentlichen Meinung, abgejehen von den vaticaniſch gefinnten Kreifen, herzuftellen. Nur würde die frage entjtehen, ob zuvor noch die Deputirtenfammer aufgelöft werden joll, damit durch den Ausfall der Neuwahlen fejtgeftellt werde, wie wenig die andere parlamentarische Körperſchaft fich in Webereinftimmung mit dem geſammten Volksbewußtſein befindet.

Der von den Ultramontanen im italienischen Senate errungene Sieg wird fich daher allem Anjchein nach ala ein Pyrrhusfieg erweifen, zumal da Erispi einen neuen Schlag gegen den Ultramontanigmus anfündigt, indem er im BZufammenhange mit der Debatte über den Geſetzentwurf betreffö der Opere pie, ein Geſetz, das ben niederen Glerus in den Stand fegt, fein Amt mit Würde zu erfüllen, ala den Beweis einer ernften Regierung bezeichnet. Wer jemals in Italien die Noth eines großen Theil der niederen Geiftlichkeit kennen gelernt, wer fich durch eigene Wahrnehmung überzeugt hat, wie diefe von den Monfignori und Eminenzen gering gejchäßten, ja ver— achteten Geiftlichen in ihrer abgeichabten Kleidung, von Entbehrungen aller Art ent- träftet, gegen die Spihen der Kirche einen tiefen Groll hegen, kann dem italienijchen Gonfeilpräfidenten nur vollen Beifall zollen, wenn er auch in diefer Hinſicht Wandel zu ſchaffen entichloffen ift. Der Hinweis des italienischen Gonfeilpräfidenten, daß die mangelnde Fürſorge für die niedere Geiftlichkeit ein ſchwerer Fehler der italienischen Revolution gewejen ei, eröffnet den Würbdenträgern des Vaticans eine unerwartete Perſpective, da es leicht gefchehen könnte, daß der mit Pfründen reicher ala mit Berufs- pflichten bedachte, in allen Farben jchillernde Clerus 'aus dem eigenen Lager einen gefährlichen Anjturm beitehen muß.

Sollte daher jemals vom Vatican aus anftatt der bisherigen Loſung: nd elettori nd eletti für die politifchen Wahlen die entgegengefehte ausgegeben werden, daß bie Klerikalen ſowohl durch active ald auch durch paffive Theilnahme, das Heißt durch Ausübung des Stimmrechts und durch Annahme von Gandidaturen in den Wahl- fampf eintreten jollen, jo würde fich die Spitze einer folchen Bewegung fchließlich gegen den Batican jelbit richten. Die Meberzeugung, daß Rom feit dem Ginzuge ber italienischen Truppen durch die Brejche der Porta Pia für immer die Hauptftabt Italiens geworden, iſt jenfeit3 der Alpen eine jo unmwandelbare, daß jeder Verſuch, an diefem Zujtande der Dinge zu rütteln, lediglich von ber Kurzfichtigkeit der Urheber folcher verfehlten Bemühungen zeugt. Man braucht nur an die Opferwilligfeit von Zurin und Florenz fich zu erinnern, welche der Reihe nach darauf verzichteten, ala Hauptjtabt zu gelten, damit das Land dem patriotifchen Ziele: Roma capitale! näher geführt werde, um flar zu erfennen, daß das Wort des Königs Humbert: Roma intangibile! für alle Zukunft zur Wahrheit geworden ift.

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Fiterarifche Rundſchau.

en

Deiterreihiiche Unternehmungen in Sleinafien.

Eugen Peterſen und Felix von Reifen in Lylien, Milyas und Kibyratis. eichrieben und im Auftrage bes k. k. Minifteriums für Eultus und Unterricht heraus: egeben. Mit 40 Zafeln und zahlreichen Ylluftrationen im Text. Wien, Karl Gerold’3 ohn. 1889. Zugleich ala zweiter Theil der Reifen in Lyfien und Karien don Otto

Bennborf und George Niemann. Wien, Adolf Holzhaufen. 1834.

Dtto Benndborf und George Niemann, Das Heroon von Giölbaſchi-Tryſa. I. Theil.

Mit 34 Tafeln und zahlreichen Abbildungen im Zerte. Wien, Adolf Holzbaufen. 1

Am Südrande Kleinaſiens, aber unmittelbar anftoßend an die hellenifirte Weſtküſte der Halbinfel, baut fich da® gewaltige Bergland des alten Lykiens auf wie „eine in die See hinausgejchobene Schweiz“. Von den drei bedeutenderen Flüffen, welche das Geäder des Gebirgäförperd bilden, verleiht nur der weſtlichſte, der Xanthos, wenigjtens feinem unteren Thale die Wohlthat, die Flüffe zu vergeben haben, Leichtig- feit des Verkehrs. In feinem Oberlaufe thut er, wie die übrigen, faum etwas für die Aufichliegung des Landes, das fchon dem Seefahrer in „wunderbarer Verichlofjen- heit entgegenwächft“, wie fie auch feinen inneren Bau bezeichnet.

Doch am Geftade haben jeit dem Anfange dieſes Jahrhunderts die auffälligen und funftvollen Felfengräber, in den lebendigen Stein gemeißelte Yagaden die Aufmerkſam— feit erregt: 2. Mayer veröffentlichte Abbildungen folcher 1803 in den „Views in the Ottoman Empire“ ; dann fam 1811 die Vermeſſung der Küfte durch den fpäteren Admiral Francis Beaufort, im Anfang der dreißiger Jahre die Reife des Franzoſen Gharles Terier. Aber noch ehe diefer die mehr prunfvollen, ala zuverläffigen Tafeln feiner Description de l’Asie Mineure publicirt hatte, drang der Engländer Charles Fellows als der Grite in einige innere Theile der Landſchaft (1838), und überrajchte die Mitwelt durch Zeichnungen von Grabdenftmälern mit und obne Reliefichmud, die durch Stil, Kunſt und Hohes Alter jofort bedeutfam und begehrungs— werth erfchienen, und durch Inſchriften, die in ungefannten Zeichen und in einer ein- beimifchen, bis heut faum aufgeflärten Sprache verfaßt waren. So kam gleich im Jahre 1840 don London aus eine Erpedition zu Stande, die unter Fellows’ Führung die merkwürdigſten Denkmäler, bejonderd des Hauptortes Xanthos, dem britischen Muſeum ficherte; im Anfchluß an dies Unternehmen bereiften der damalige Lieutenant, jpätere Admiral Spratt, der Naturforfcher Edward Forbes, und zum Theil getrennt von ihnen der Rev. Daniell einen großen Theil Lyciens, fanden antife Städteruinen von erjtaunlicher Zahl und Erhaltung und gaben ihrem ausgezeichneten fachlichen Reifewerke eine Karte bei, welche fo ziemlich alle Aufnahmen weit übertraf, die damals von irgend einem Theile Kleinafiens eriftirten. Am diefelbe Zeit durch: wanderte der Deutihe Auguft Schönborn (1801—1857), der vom Jahre 1825 bis zu jeinem Ende Gymnafiallehrer in Poſen war, mit den beicheidenjten Mitteln

Literarifche Runbichau. 469

das füdmejtliche Kleinaſien; raftlofe Energie und unermüdlicher Forſchungseifer trieben ihn Hin und ber und führten ihn am 20. December 1841 zum erften Male auf das ichwierige Hochplateau mitten über der Südfüfte des Landes, wo er bei einem Kleinen Dorfe Gjölbaſchi eine umfangreiche vieredige Mauerumbegung entdedte, die eine Grabjtätte umgab. Diefe Mauer fand er zu feinem größften Staunen ganz überdedt mit Reliefs, die, wie er angab, „den trojanifchen Krieg“ darftellten. Seine Bemühungen, diejen Schatz zu heben, fcheiterten, auch ala ihm zehn Jahre fpäter, befonders auf Anregung Karl Ritter's, eine zweite Reife ermöglicht wurde. Dann ift er geftorben und bat die Erfüllung feiner Wünſche und Hoffnungen nicht erlebt; feine Tagebücher, freilich von Karl Ritter jorgjam ausgenüßt, find troß mehrfacher Aufrufe verjchollen geblieben.

Unferen Fachgenofjen in Dejterreich gebührt das Verdienſt, den gleichjam wieder verſchwundenen Schag an das Licht des Tages gefördert zu haben. Schon in den zwei Erpeditionen, welche auf Anregung Conze's in den Jahren 1873 und 1875 nad Samothrafe gerichtet waren, hatten fie gezeigt, wie muftergültig fie jolche Auf- gaben zu löjen wüßten. Dann war ed Benndorf, der auf Hleinafien und ingbejondere auf die Schönborn’sche Entdedung Hinwies; und nachdem er dieje auf einem erjten Ausfluge im Jahre 1881 durchaus beftätigt gefunden, hat rafch eine „Defterreichifche Gejellichaft Für archäologische Erforſchung Kleinaſiens“ fich gebildet, und dieje ermög— lichte im Jahre 1882 die Ueberführung faft des geſammten künftleriichen Schmudes jenes Grabdenfmals nach Wien, wobei die Regierung ihr Intereffe durch Entſendung eines Kriegsſchiffes bethätigte.

Diejes Unternehmen ift in der „Deutjchen Rundſchau“ bereits früher einmal zur Sprache gefommen (1883, Bd. XXXVI, S. 51: „Ein Ausflug in den Norden Klein- afiens“) und in die bedeutfame Stelle eingereiht worden, welche ihm in ber modernen Erforſchung Kleinafiens gebührt: es ift emporgewachſen zur ſyſtematiſchen Durchforichung der ganzen Landichaft.

Lykien ift vor Allem ein Gräberland wie fein anderes antike Erdſtück, außer etwa Aegypten; das ift e8, was dem Antlitz des Landes feinen eigentlichen Charakter gibt. Die grauen, viel zerklüfteten Yelfen Haben die Betwohner wie naturbereite Bau- feine ausgearbeitet zu Pieilern, zu großen Grabmälern und Facçaden, welche, den Wohnungen der Lebenden nachgebildet, wie aus Holz gezimmert dajtehen, im Laufe der Entwidlung auch eine griechifche, tonifche Säulenordnung zeigen, zu Hohen jpih- bogigen Sarkophagen und endlich auch zu den ungefügen Steinfäften werden, welche in Kleinafien jo vieljach die letzte Lebenszeit der antiken Welt bezeichnen. Mit allen jenen Formen ift Häufig bildlicher Schmud verbunden geweſen; dieſer iſt griechiicher Kunft aufs Innigſte verwandt; doch ift einzelnes Fremde im Inhalt wie in Vortrags— weiſe beigemifcht. Weniger diefe Erjcheinung, ala die deutlich wahrnehmbare Ent= widlung auf dem ganzen Gebiete Iykischer Kunftthätigkeit muß, meiner Anficht nach, den Gedanken fernhalten, alö ob in Lyfien wie etwa in Südrußland nur oder vor= wiegend von auswärtigen Künſtlern gearbeitet worden ſei, die von Griechenland aus ab und zu, für längere oder kürzere Zeit fih im Lande jeßhaft gemacht hätten.

Zu allen Zeiten ift die Sorge für die Todten offenbar eine der vornehmften bei den Lykiern gewejen. Unerjchöpilich find in ihren Inſchriften, die ſchon dom vierten, fiher vom dritten Jahrhundert v. Chr. an theilweife zum Griechifchen übergehen, die Yeußerungen, durch welche fie die Grabftätte zu ſchützen und fich wie ihren Nachlommen den Beſitz zu fichern fuchten. Hierbei ift etwas fpäter jo Verbreitetes wie die Ans drohung einer Gelditrafe zuerft, wie man jet wohl jagen dari, von den Lyfiern erjonnen worden.

Die Leer der „Deutjchen Rundichau” find auf den erften Band der Reifen Hin« gewiejen worden (1885, Bd. XLIII, ©. 317); in gleicher Pracht der Ausſtattung äußerlich und innerlich ift nun der zweite Band ans Licht getreten, und ein erfter Theil des Textes, jowie die gefammten Tafeln zu dem Schönborn’schen Denkmal, dem Heroon von Gjölbaſchi, welcher Ort, wie ein paar Infchriften gelehrt haben, den antiken Namen Tryſa führte.

470 Deutſche Rundſchau.

Man erlaube uns eine allgemeine Bemerkung: die Leichtigkeit der Bewegung auf dem Erdballe, welche die Mittel unſerer Zeit geſtatten, hat die Zahl der Forſchungs— reifenden auch in den antiken Ländern erheblich gefteigert; nicht durchaus zum Vor— theil der Sade. Wem das Glüd einer folchen Reife in früheren Zeiten einmal be- ichieden war, der fühlte fich gedrungen, für die jeltene Gelegenheit jeine Vorbereitung fo vieljeitig wie möglich einzurichten. Neigung und Beruf führen mir Jahr aus Jahr ein zahlreiche Berichte über wiffenjchaftliche Reifen in die Hände: ich erjchrede oft über ihre zunehmende Einfeitigkeit, über die mehr ala partielle Blindheit, welche fie verrathen. Wenn bei den heutigen Anforderungen die Meiften nur ein ganz be= ſchränktes Arbeitäfeld bebauen können, jo müſſen zu wiffenjchaftlichen Reifen eben Mehrere fich zuſammenthun. Diefe Aeußerung haben indefjen die Werke unferer Fach— genoffen in Defterreich jedenfall® nicht verſchuldet; bei dieſen trifft vielmehr Beides zu, gemeinfame Arbeit Mebrerer und Bielfeitigkeit der Einzelnen. Den Archäologen Benndorf und Peterfen, dem Architekten Niemann und dem in vielen Sätteln gerechten Dr. von Luſchan find die jüngeren Gelehrten Emanuel Loewy, R. von Schneider, Fr. Studniczka zur Seite getreten, und in der gemeinfamen Berichterjtattung ſpiegelt fi) die Harmonie der Arbeitögenoffen ala ein nicht geringer Factor fchönen Gelingens, und ein factor, der leider weniger häufig fcheint als man erwarten jollte.

Wie die einzelnen Theilnehmer jener fruchtbaren Entdedungsfahrten ins Geographifche und Topographiſche fich eingearbeitet, ift höchit bemerkenswert; aber kann auch den Wanderer in den antiken Gulturländern irgend etwas mehr befreien und befriedigen, ala wenn er allmälig die verwidelten Bodenverhältniffe auseinanderzulegen lernt, und aus den Zügen der Natur die Lebensbedingungen jener früheren Griftenz abzulefen vermag wie aus gewaltigen Schriftzeichen? Gewiß wird das jo gewonnene Bild erſt durch die Einzelbeobachtung beftimmt und gefichert. Man jchilt wohl auf die Detailarbeit unferer Zeit; aber auf dem in weiterem Sinne philologifchen Gebiete, das ich bier im Auge babe, macht feit geraumer Friſt die gejunde Empfindung fich geltend, daß Land und Leute, bildliche und jchriftliche Weberlieferung untrennbar zu verbinden find, joll anders das entworfene Bild wahr und lebenskräftig zugleich werden. In diefer Erfenntniß ift auch der zweite Band des Reiſewerkes abgefaßt. Diefem hat Dr. von Lufchan einige Refultate feiner praktifchen ethnologischen Unterfuchungen hinzu— gefügt, die, wenn irgend etwas, geeignet jcheinen, das noch jo dunkle Völkergewebe Kleinafiens zu erhellen; anjcheinend bejtätigen fie fchon jetzt eine gelegentliche Be» merfung von Ludwig Roß, daß unter allem Wechjel von Namen und Glauben eine uralte Bevölkerung fich erhalten Habe.

Das Grabdentmal von Gjölbafchi-Tryja würdigt Berndorf in feiner weiteren und näheren Umgebung, bevor er auf feine Bildwerfe eingeht. Die Wahl des Platzes un» mittelbar unter dem Eleinen Burgberg, die weit hinaus auf Meer und Küfte blickende Lage ſprechen noch ganz abgejehen von dem Aufwande der Anlage das Denk— mal einem jener einheimifchen Fürften zu, welche bier zu gewiffen Zeiten, durch die Configuration des Landes begünftigt, Kleinere Gebiete unabhängig beherrichten. Um das Jahr 400 v. Chr. mag der uns unbelannt gebliebene Fürft fich den Bau errichtet haben; durch Plan und Ausftattung ift er in gleicher Weife bemerfenswerth, und im mehr als einer Beziehung fteht er einzig da in dem ums gebliebenen Vorrath von Denfmälern. Drei Meter hoch umzieht die Mauer einen geräumigen, faft vieredigen Hof, der an jeder Seite etwa 20 Mieter mißt, und von Südoſten, von der Stabtjeite ber, zugänglich war. Im Inneren erhob fich einer, wahrjcheinlicher noch mehrere Sarlophage; ein nur in leichten Andeutungen erhaltener Einbau war für die Hüter des Grabes beftimmt und wohl auch für die Feierlichkeiten, wie Gaftmähler, welche zu Ehren der Todten ftattfanden. Wenn auch Erdbeben Ginzelnes gejchädigt hatten, fo war doch die Mauerumbegung in einem feltenen Erhaltungszuitande, und dies muß um jo mehr ala ein befonderer Glüdsfall angefehen werden, als Stelle und Folge bes gefammten Bilderſchatzes dadurch über allen Zweifel gefichert wurden. Seht be= greifen wir Schönborn, der durch den Anblick jo völlig hingenommen wurde, daß er,

Literarifche Rundſchau. 471

der jorgjamfte Wanderer, ganz das Notiren vergaß. Denn wahrlich überrajchend und einzig it Anordnung und Reichtum der Bilder: jaft überall find es die zwei oberen Quaderjchichten der Mauern, die an der Hoffeite mit dem flachen Relief bededt find; nur die Hauptfront ift auch außen verziert. Selten find beide Steinreihen zu einer Darjtellung verarbeitet, allermeiftens trägt jede ihre gejonderte. Bei einer Höhe von etwas über 1 Meter zog fich die Doppelreihe gegen 109 Meter lang Hin; nur etwa ein Giebentel davon iſt verloren, 581 Figuren von allem Beiwerk ab- geiehen find erhalten. Sorglos jcheinen die verjchiedenften Gegenjtände über das Denkmal ausgeftreut und aneinander gereiht: nach der Auffafjung der Herausgeber an der Hauptfront außen links Amazonenkampf und Kentaurenjchlacht, rechts „die Sieben gegen Theben“ und eine Landungsſchlacht; innen einerfeit3 Bellerophon im Kampfe gegen die Chimaira, ein Viergejpann und ein Gelage; andererſeits Freiermord des Ddyfleus, ein höchſt jeltenes Thema, und Meleagerjagd. Die ganze Weitwand Hat der Herausgeber auf Ereigniffe in und um Troja bezogen: um die bejtürmte Stadt links eine Feldichlacht, die am Strande anhebt, rechts ein Amazonenfampf; die Nord— wand zeigt den Raub der Leufippiden durch die Diosfuren, eine Jagd und eine zweite Darftellung des Kentaurenfampfes; eine dritte trägt die Oftwand, darüber Thaten des Thejeus und daran anschließend ein Gelage, das mit dem gleichartigen der Südſeite zufammenftößt. -

Ein inneres Band ift in diejen Zufammenftellungen nicht erfennbar; um jo mehr drängt fich die Verwandtſchaft mit der gleichzeitigen Kunſt in Griechenland auf, und zwar vornehmlich mit Gegenjtänden und Vortragsweiſe der Malerei des fünften Jahr— Hundert, von welcher uns dieſe flachen Relief? in mehr als einer Beziehung den jo lange erjehnten Begriff geben fönnen. Auch fie waren durch Farben gehoben und verdeutlicht, wie denn Malerei und Flachrelief urfprünglich ganz eng bei einander liegen.

Wir finden fein „innered Band“ ; aber darum iſt diefer reiche Bilderfchmud nicht ohne Sinn. Wahr ift bemerkt worden, daß in Lykien wie in Griechenland Vorgänge des Lebens beim Grabesichmude bevorzugt wurden. Aber es ift der griechiichen Kunſt tief eingeboren, auch Erlebtes im Bilde des Mythos zu ſchauen. Und jo mag ein Theil der Darftellungen am Grabdenfmal von Tryſa zu verftehen fein; andere freilich find zu allgemein und jcheinen auch durch ihre mehrfache Wiederholung einen jpeciellen Bezug auszuschließen. Sie gehörten wohl mehr als etwas Typifches zum Repertoir der Ausführenden, und jcheinen e8 auch an ihrem Theil zu beftätigen, wie ungewöhnlich die Anjorderungen waren, welche das Denkmal von Tryſa ftellte, da fie die Phantafie der Künftler in jo auffälliger Weiſe bis auf die Neige leeren Eonnten.

Königäberg i. Pr. Guſtav Hirſchfeld.

——s7e

Zur Geſchichte der deutſchen Goldſchmiedekunſt.

Der Goldſchmiede Merkzeichen. Von Marc Roſenberg. Frankfurt a. M., Heinrich Keller. 1890.

Das vorliegende Werk von Roſenberg beſchäftigt ſich mit den Merkzeichen, welche die Goldſchmiede ihren Arbeiten, vornehmlich den Silberarbeiten, einzuprägen pflegen, um dem Abnehmer über den Urſprung, auch wohl den Feingehalt der Waare eine Sicherheit zu geben. Das Buch mag zunächſt als ein Handbuch für einen eng— umſchriebenen Kreis von Kunſtſammlern erſcheinen; es eröffnet aber ſo weite Ausblicke für das Bereich alter Kunſt, daß auf ſeine Ergebniſſe auch an dieſer Stelle hingewieſen werden ſoll. Wir finden die Goldſchmiedeſtempel, welche zumeiſt aus einzelnen Buch— ſtaben, Zahlen oder Zeichen beſtehen, auf fait allen Silberarbeiten älterer Zeit, im

472 Deutiche Rundſchau.

ähnlicher Weife wie die bekannten Marken auf den Porzellanen und Yayencen. Weber diefe Töpfermarfen befigen wir eine umfangreiche Literatur, Handbücher in allen Sprachen, didleibige Werke und zujammengedrängte ZTafchenausgaben, jo daß der Sammler in bequemjter Weije fich über die myjtiichen Zeichen unter dem Boden der neu erworbenen TIheefanne oder Suppenjchüffel vergewiffern kann. Seit mehr als einem Menjchenalter wird fein Sammler mehr zweifelhaft fein, ob er Waaren von italienifcher, niederländijcher, franzöfischer oder deutfcher Kunfttöpferei in Händen Hat; innerhalb der Gruppen von etwas größerer Bedeutung, wie den Delfter Fayencen oder den Dtajolifen von Urbino, find aus den Marken heraus die Familien der Töpfer bis in ihre Ber: äweigungen Hinein verfolgt. Im jchroffen Gegenjah hierzu war die SKenntniß der Silbermarken bis noch vor furzer Zeit arg vernachläſſigt, und doch liegt es auf der Hand, daß künſtleriſch und culturgefchichtlich die Silberarbeiten unvergleichlich viel höher jtehen als die Arbeiten der Kunjttöpferei. Die Töpferei behält, mit ganz wenigen Ausnahmen, etwas Handwerfämäßiges; die Formen wiederholen fi) nach Dutzenden, Hunderten, ſelbſt Taufenden; in der Silberjchmiedearbeit dagegen ijt jedes Stüd etwas neu Gejchaffenes, Selbjtändiges. Die Goldfchmiedekunft ift berufen, in vollendeten Einzel arbeiten die Heilige Handlung am Altare aller Gonfeffionen, die Weite der Könige, der Städte, der Zünfte, der einzelnen Bürger zu begleiten und in dauerndem Tyejtgeräth finnbildlich auszugeftalten; die Goldſchmiedekunſt ift bis in das fechzehnte Jahrhundert hinein die Nährmutter junger Talente für alle plaftiichen und zeichnenden Künſte; aus ihr erwachjen im nicht geringer Zahl die Maler und Bildhauer der Renaifjance; in engitem Zufammenhange mit der Goldjchmiedekunft ftehen noch Dürer und SHolbein und die große Gruppe der Kleinmeifter des jechzehnten Jahrhunderts; was von Orna— menten und Bildwerk für decorative Kunſt Neues erfunden wird, geht zunächit in die Merkjtube der Goldſchmiede. Somit find die Arbeiten diefer Zunft das wichtigfte Bindeglied zwifchen Kunft und Handwerk vom Mittelalter bis in unfere Tage Hinein, fie bezeichnen die höchſte Anforderung, welche der Kunſtgeſchmack zu jeder Periode jtellte, fie geben die untrügliche Maßbejtimmung für die allgemeine Kunftfertigfeit der Stätte, an der fie entjtanden find, fie ermöglichen in ihrer engen Anfnüpfung an bedeutungsvolle Ereigniffe die werthvolliten Ausblide auf Gefinnung und Gewohnheit, Gebräuche und Mißbräuche ganzer Gruppen der Gejelljchaft.

68 veriteht fich von ſelbſt, daß für Gewinnung ſolcher Schlußfolgerungen die erite Grundbedingung ift, zu ermeffen, wann und wo die Stüde entjtanden find. In vielen Fällen haben die Widmungsinfchriiten auf den Stüden jelbft, oder auch Wappen und andere erflärbare Symbole einen Anhalt gegeben; weitaus die größte Menge der erhaltenen Stüde ift aber mit derartigen Hinweifen nicht verjehen, dagegen tragen faft ausnahmslos alle die Stempel ihrer Meifter. So lange aber dieſe nicht geleien waren, erlaubte fich die Phantafie der Kunftliebhaber die abenteuerlichjten Ausflüge. Nun mag es manchem Gelehrten oder Staatsmann als eine Art von Spielerei er- ſcheinen, wenn fich die wunderliche Sippe der Sammler den Kopf darüber zerbridt, ob Meifter X oder Meifter ) einen Theetopf oder Gewerföhumpen gefertigt Hat, und wir wollen gar nicht bejtreiten, daß in der Jagd auf ungewöhnliche Marken mancherlei Thorheit mit unterläuft: in der Schlußabrechnung, wie fie hier in Roſenberg's Bud zum erjten Male für deutjche Goldfchmiedearbeit vorliegt, jtellt fich jedoch ein wiſſen— Ichaftliches Ergebniß von ernſthafter Bedeutung heraus.

Es iſt noch nicht lange her, daß im deutjchen ebenſo wohl wie in auswärtigen Sammlungen jedes Stüd von hervorragender Silberarbeit ala ein Werk italienijcher Kunft, und fpeciell des Benvenuto Gellini, galt. Wurden doch jelbft in den Verkaufs— verhandlungen des Stabtfilbers von Lüneburg, nach 1870, die edelften im jechzehnten Jahrhundert in Lüneburg ſelbſt gefertigten Stüde von den Nachtommen der Stifter als Arbeiten des Gellini bezeichnet, und bis zum heutigen Tage pflegen die Guftoden fürftlicher Silberfammern diefen Namen als höchſten Trumpf auszuſpielen. Erſt während der letzten Generation hat man erfannt, daß von Gellini jelbjt kaum ein halbes Dutzend von Stüden ficher nachweisbar ift, dann aber und das ift das

Literarifche Rundſchau. 473

MWichtigfte daß die gefammte Maſſe alten Silber, welche ung in Deutjchland erhalten ift, ebenjo wie der überwiegende Theil verwandter Arbeiten in ausländifchen Sammlungen deutichen Urfprunges ijt ich jelbit durfte im Jahre 1886 in dieſen Blättern auf den bisher wenig befannten unerhört reichen Schaf folcher deutjchen Arbeiten in der Schatzkammer von Moskau Hinweijen !).

ALS diefe Erkenntniß fich allmälig Bahn brach, war man allerdings noch jehr weit davon entfernt, von dem wirklichen Umfange der deutjchen Kunſtarbeit eine richtige Borftellung zu haben; man dachte an einige große Mittelpunfte deutjchen Gewerb— fleißeg, zunächft Nürnberg, das allenjalla ebenbürtig neben Italien gejtanden haben fönnte. Auch für Nürnberg hielt man fich zunächſt an einen großen befannten Namen, an Wenzel Jamniker, und es gab eine Zeit, in der man jedes hervorragende Stüd, das bisher auf Gellini’3 Namen ging, nunmehr dem Jamnitzer zufchreiben zu müſſen glaubte.

Allmälig lernte man erkennen, daß die Arbeiten jelbjt in den aufgeichlagenen Stempeln fichere Anhaltspunkte über die Herkunft zu geben vermögen. Dtan lernte, daß jedes Silbergeräth zwei Stempel trägt; der eine bezeichnet den Meifter, der andere die Stadt. Bon den lebteren war bald befannt, daß N Nürnberg, der Pinienzapfen ala Stadtwappen Augsburg bedeute; bald lernte man auch D Dresden, L Leipzig, ferner die bekannten Stadtwappen von Ulm, Regensburg, Magdeburg, Halle, Danzig, Kübel u. j. w. unterfcheiden. Man wußte, daß in allen Städten, welche eine Gold— fchmiedeinnung bejefien, die Waaren von eigens beauftragten Männern geprüft, und daß nur die als vollwerthig befundenen Stüde mit dem Bejchauzeichen der Stadt ab- geftempelt wurden. Daneben trat der durch die Innung beglaubigte Meifter durch feinen perjönlichen Stempel verantwortlich ein. Dieje jtädtiiche Prüfung war ver- fchiedenartig eingerichtet, an manchen Stellen eine doppelte, an anderen Stellen durch einen zweiten Stempel, welcher das Jahr der Prüfung angab, vervolljtändigt.

Aehnliche Einrichtungen Hatten auch in England und frankreich beitanden. England, welches allen heimathlichen Arbeiten eine bejondere Theilnahme entgegen= bringt, hatte diefe Abftempelungen, befonder® die Hall-marks von London, jchon feit längerer Zeit aus den Archiven jo völlig jeftgeitellt, daß man jedes Stüd englifchen Silbers mit aller Sicherheit nach Zeit und Herkünit bezeichnen kann. Für Frankreich find wenigjtens die Parifer jehr verwidelten Abjtempelungen Elar gelegt. Für Deutjch- land gab es nur verjtreute Einzelarbeiten, dann eine kurze, aber noch nicht geflärte Ueberficht der ftädtifchen Stempel in Ilg's „Geſchichte der Goldfchmiedekunft” (in Bucher, „Gefchichte der technifchen Künſte“).

Die eigentliche Schwierigkeit zeigte fich für Deutſchland in der erjtaunlich großen Zahl von Orten, welche jelbftändig arbeiteten und die auch keineswegs Jahrhunderte hindurch denjelben Stempel beibehalten Hatten. Es genügte nicht, daß man die wichtigften Stücke zu erklären fich bemühte, ſondern es mußte vor Allem eine Ueberſicht über das gejammte Mlaterial angeitrebt, es mußte jedes erreichbare Stüd älterer Eilberarbeit auf feine Merfzeichen geprüft werden. Diejer colofjalen Arbeit Hat fich Rojenberg unterzogen; ald Ergebniß Liegt fein Buch vor und, welches auf 582 Seiten über zweitaufend Silberftenipel, von mehr ala dreitaufend verfchiedenen einzeln angeführten Silberarbeiten entnommen, mit ihren Erklärungen enthält. Diefe zwei— taufend Stempel find aber nur das Schlußergebniß von mehr als zehntaufend Stempeln, welche der Berfafjer mit peinlichiter Sorgialt aufgezeichnet, gefichtet und immer wieder jufammengeordnet hat, bis fich die Gruppen als ficher zufammengehörig ergaben. Die großen Leihausftellungen des legten Jahrzehnts haben einen erheblichen Theil des Materials geliefert, daneben aber ift der Verfafler von Stadt zu Stadt gegangen, um beglaubigte Marken zu jammeln; die Beamten der Mufeen, welche feit Jahren um diefe Arbeit wiffen, haben mannigfady aushelfen fönnen, und fo befien wir num endlich, wohlgeordnet mit allen nöthigen Berzeichniffen und Tabellen, dieſes Buch,

1) Deutiche Rundichau, 1837, Bd. LIII, ©. 363 ff.: „Die Kunftfammlungen in Mostau“.

474 Deutiche Rundichau.

welchem der DBerjaffer die alte Bezeichnung diejer Stempel: „der Goldjchiniede Merk» zeichen“ gegeben hat. Das Schwergewicht liegt in der Darftellung der deutichen Arbeit: Hier find nicht weniger ald 93 Städte und Gemeinfchaften mit 1734 verfchiedenen Stempeln vertreten, von denen allein auf Augsburg 360, auf Nürnberg 218 Stempel fallen. Zu Hunderten find uns die Namen der befannt gewordenen Meifter gegeben; von den wichtigeren unter ihnen ift jedes bisher an das Licht ge= tretene Stück aufgeführt. Welche Fragen fi) an die einzelnen Grgebnifje knüpfen, in welcher Weife auf diefer Grundlage erweiternd, zum Theil auch berichtigend, weiter gearbeitet werden muß, das wird in der funftgewerblichen Fachliteratur zu erörtern fein; für die allgemeinere Betrachtung der Kunſt und Gulturgefchichte müſſen wir aber jet jchon auf die oben kurz genannten Zahlen als ein vollwichtiges Ergebniß binweifen. Wir jehen durch Jahrhunderte hindurch den Handwerksfleiß in glängender Entialtung durch alle Theile Deutjchlands verbreitet. Wenn Heut zu Tage eine Silberarbeit von auch nur mäßigem Kunſtwerth ausgeführt werden foll, fo find wir auf einige wenige Hauptftädte angewiejen. Die Silberläden jelbjt der großen Provinzial« ftädte enthalten nur Fabrikwaare oder vermitteln, theils unter Verſchleierung des Thatbejtandes, die Aufträge nach der Hauptitadt; in den früheren Jahrhunderten arbeitet jelbft eine Kleine Stadt nicht nur für den eigenen Bedarf, jondern bringt auch Prachtgeräthe zu Wege, welche würdig find, ala Gejchenfe an fremde Höfe zu gehen und heute noch die vielbewunderten Stüde diefer und fremdländiſcher Kunſt— fammlungen bilden. Als glänzendes Beifpiel war uns Lüneburg bekannt, jet wahr« ſcheinlich kaum im Stande, jeinen Bedarf an Löffeln und Fingerhüten berzuitellen, und einftens fähig, in feiner eigenen Zunft jenen Silberſchatz zu arbeiten, welcher das Hauptitüd des Berliner Mufeums bildet. In gleicher Weiſe lernen wir durch Rofenberg lange Reihen von Städten kennen, deren Meijtern keine Aufgabe ihrer Kunft zu Hoch war.

Roſenberg's Arbeit wird zunächſt den Liebhabern alter Kunftwerke ein Hoch willfommener Führer durch das Irrſal geheimnißvoller Marken fein; es wird dem Sammeleifer fichere Pjade weifen und fchon auf diefem Wege die Liebe zu der vater- ländifchen Kunſt ftärken helfen; e8 wird dem Auslande zeigen, ein wie großer Beitand- theil feines jehigen Kunſtbeſitzes deutfchen MWerkftätten entjtammt, und wird in feinen Grgebniffen einen vollbelaubten Zweig in dem Ruhmeskranze altdeutjchen Gewerbe- fleißes bilden. .

Julius Lejfing.

Literariiche Notizen.

?xy. Claffifche Bildermappe. Abbildungen fünftleriiher Werke zur Erläuterung wichtiger Schulichriftiteller. Herausgegeben unter Mit- wirfung von Dr. Eduard Anther und Dr. Gujftav Forbach von Dr. Ferdinand Bender. 1. Heft: zu Leſſing's Laokoon. (Zaofoon»Gruppe. Zeus von Dtricoli. Moie des Michelangelo. Apollo von Bel: vedere. Sophofles.) Darmkadt, edler & Vogel. 185%

Zu Gunften diefer Unternehmung läßt fich fagen, daß die Anfchauung die richtige fei, es müßten die Gymnafiaften, falls man fie mit

Kunſtwerken befannt machen will, nur auf die

jhönften Gebilde des Altertbums hingewieſen

werden. Mit einigen Tafeln jedoch hier den Anfang au machen, die bei der Yectüre des Laokoon von

Leſſing gezeigt werden könnten, ericheint uns

nicht thunlid. Denn dieſes Buch ift nicht für

Schüler, ſondern für Gelehrte beitimmt, und

jollte ſchon deshalb in der Prima nicht geleien

werden, weil die Lehrer in vielen Fällen ſich aus einer ſehr umfangreihen und widerſpruchs— vollen Literatur das zu ihrer eigenen Unter— weilung geeignete Material würden zufammen- ſuchen müſſen. Kritif von Künftlern und Kunſt— werfen gehört noch nicht aufs Gymnafium.

Wohl aber fann man Schülern Kunſtwerke

jeigen, die fie begeiftern, und da follte mit

dem Domer der Anfang gemadt werden. Die‘ homeriſchen Götter und Helden ftehen in wunder- vollen Büften und Statuen zu Tage, die dem

Schüler Alles bieten, was die Schule in diefer

Hinſicht zu gewähren im Stande it. Eine Bubli-

cation diefer Art würde um fo erfreulicher fein,

als fie archäologifirenden Tendenzen anderer Rid)- tung entgegenträte, gegen die wir uns erklären müſſen. Der den vorliegenden Tafeln bei- gegebene erflärende Theil tft fehr Inapp. Sollte für Laokoon 3. B. auf Brunn hingewieſen werden, fo durfte der Auffag nicht unerwähnt bleiben, in weldem Brunn Goethe's herrliche Abhand- fang über die Gruppe wieder zu Ehren gebracht hat. Der Hinweis dagegen auf eine Figur des | pergameniichen Friejes, welche mit der Laokoon⸗ gruppe in Verbindung gebracht wird, fann nur verwirren, denn die geiftig inhaltslofe, über- haupt decorativ gehaltene Beitalthat, oberflächliche

Aehnlichkeit ausgenommen, unferes Erachtens mit

Laokoon nichts zu thun. Wohl aber hätte hier

gefa t werden fünnen, daß der rechte Arm des

<aofoon jammt der Schlange moderner Zuſatz fei, und dab im Vatican ein den Bewegungen | der Geftalt mehr entiprechender, aber unvolls | endeter Arm neben der Gruppe liege, ein Stüd, dad man mit einem Verſuche Michelangelo's, | die Arbeit zu rejtaurieren, in Verbindung bringt. xo. Historie de la Cöramique Greeque, par Olivier Rayet et Maxime Collignon. Paris, Georges Decaux. 1888. Eines der Werke, welde von dem außer- ordentlichen Auffchwung zeugen, den das Studium

der Archäologie in den legten Jahren in Frank: | reich genommen hat. Das Bud) war vorbereitet durch den 1887 veritorbenen Olivier Rayet, Prof. der Archäologie an der Nationalbibliothet; nad deſſen Tode unternahm es einer der talent»

475

vollften jungen Gelehrten Franfreichs, der jegt

als Profeffor an der Faculte des lettres zu

Paris wirfende Mar. Collignon, auf Grund an; felbftändiger Studien das Unternehmen

fortuführen und zu einem Abſchluß zu bringen.

Die Darftellung geht von den früheiten Ver—

ſuchen keramiſcher Kunſt in Griechenland aus,

erörtert die orientaliichen Einflüffe im afiati- ihen Griechenland, auf den Inſeln und dem

Peloponnes, beipridt dann die korinthiſchen

Ateliers in Italien, um hierauf zur Unification

der verſchiedenen Stile und zur athenienſiſchen

Kunſt überzugehen. Es werden die mannigfachen

Formen der griechiſchen Vaſe vom ſechſten Jahr»

hundert ab vorgelegt und die namhafteiten Er»

zeugnifie diefer Keramik eingehend beſprochen.

Die legten Kapitel bejchäftigen fich mit der

Kunft der macedoniſchen Epoche, derjenigen des

füdlihen Jtaliens und dem Ausgang der griedhi-

Shen Bajenmalerei in Italien. Zum Scluffe

werden auch die Nahahmungen des Metalld in

der Keramif, die glafirte und emaillirte Poterie, endlich die Verwendung der Thonarbeiten in der

Architektur behandelt. Die Darftellung, überall

far und aus dem Bollen ichöpfend, ift durch

eine große Anzahl vortreffliher Jlluftrationen

im Tert wie auch durch Chromolithographien

unterjtügt: das Ganze, eine höchſt empfehlens—

werthe Zeiftung, die nicht nur dem Archäologen, fondern auch unjerm Kunſthandwerk von Nugen fein wird.

08. Dramaturgie ded Schaufpield. Yon Heinrich Bulthaupt. Grillparzer, Debbel, Ludwig, Gutzkow, Laube. Oldenburg und Leipzig, Schulze’iche Hofbuchhandlung. 1889.

Heinrih Bulthaupt hat jeine befannte, an diefer Stelle wiederholt gewürdigte „Dramas turgie der Claſſiker“ über das Zeitalter des achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahr» bunderts hinaus fortgeiegt, und auch die jüngft vergangene literariiche Epoche in derfelben feinen, eindringenden Weife, wie die elaſſiſche Periode

\unferer PBoefie, zu dramaturgifch-fritiiher Dar-

jtellung gebradt. Getreu dem jteten Brincip jeiner Betrachtung, bleibt er jener metaphyfiichen

Aeſthetik fern, „die das fünftleriiche Gewiffen fo

heillo8 verwirrt und erichredt hat“, und wandelt eifrig den Weg der Erfahrung und Beobadhtung, der langjamer vielleicht, aber fiher Schritt um Schritt dem Ziele auführt. Weil er von den Be- dingungen des lebendigen Theaters überall aus— geht, läßt Bulthaupt den genialen Eigenfinn der Kraftdramatifer, eines Grabbe und Genoſſen, bei Seite und wendet lieber, als den erperi- mentirenden Sonderlingen, den Theaterprafti- fern, wie Xaube, und den geididten Tendenz. macern, wie Gutßfow, feine Betradhtung zu; aber jeine beite Aufmerfjamfeit gehört denen, die Poeten und Beherrfcher der Bühne zugleich

‚find, den Grillparzer, Hebbel, Dito Yudmwig.

Mit volllommen gerechter Erwägung des Ge lungenen und des Berfehlten, des Gefunden und des Seltfamen in diefen Männern, zieht

‚er die Geſammtſumme ihres Schaffens, und er

weiß, indem er vom Bejonderen zum Allge— meinen aufjteigt, in wohlberechneten kleinen Auseinanderjegungen über fünftleriiche Fragen:

476 Deutſche Rundichau.

den Bau ded Dramas, die Zahl der Acte, die! Grundfragen der Culturgeſchichte, als einzelne Folge der Gefchehniffe, manderlei Anregungen Erſcheinungen derjelben behandeln. Die Titel zu geben, welche Künjtler und Kunftfreunde | lauten wie folgt: 1. Die Eultur, ihr Weien, dankbar acceptiren werden. ihre Geſetze und ihre Formen. 2. Die Rolle der

Ph. Die tragiſchen Motive in der demt- | Völker in der Eulturgeihichte. 3. Der Menſch fchen Dichtung feit Goethe's Tode. und die Steine. 4. Mlangen und Thiere im Bon Rudolf Heinrih Greinz. Dresden und | Dienfte des Menſchen. 5. Das Eden der Anti:

Leipzig, E. Pierfon’s Verlag. 1889. poden. 6. Die Art der Begrüßung bei verichie- Auf 172 Seiten gibt der Berfaffer eine ge) denen Völkern. 7. Vom Aberglauben aller drängte Ueberficht über alle bedeutenderen poeti- | Zeiten und Bölfer. 8. Die Entwidlung der ſchen Ericheinungen in Deutichland von der Zeit Religion. 9. Die verfchievenen Gewänder des der Romantifer bis auf den heutigen Tag. Jeder Götter- und Gottesglaubens. 10. Buddhismus Dichter erhält ein paar furze Worte, die leider | und Chriftentfum. 11. Die neuejte religiöfe in vielen Fällen wenig über die allgemeinften | Bewegung in Jndien. Wie man fieht, ein Wendungen hinaustommen. Die Bezugnahme | ziemlich reich befegter Tiih, an dem jehr ver- auf die „tragiichen Motive“ liefert ein Grund- ſchiedene Gefhmadsrichtungen, die philoſophiſch— ſchema, in das nun Buch für Buch eingepreßt | religiöfe wie die jpecifiih culturgeichichtliche,

wird, ohne daß dadurch wejentlich neue Gefichts- nd» punfte bemerkbar würden. Viele Einzelurtheile find außerordentlich oberflählich, ja gelegentlich direct unrichtig. Ueber einen gerade für eine Geihichte des tragiihen Motivs jo hochbedeut—

famen Roman wie Keller's „Grünen Heinrich“ eht Grein; mit dem Sape hinweg: „Keller’s

etwas für ſich finden werden. Was die anfchauungen von D. Henne am Rhyn anbe- trifft, jo treten diejelben am meiften im eriten und achten Aufſatz hervor. Die Cultur ent« widelt jich nad vier Gejegen: fie fchreitet vor; am Fortſchritt nehmen die Bewohner gemäßigter Zonen am meijten Theil; der Fortſchritt beruht

rüner Heinrich, ebenfalls eine Entwidlungs- | geihichte, hat zu gedehnte Partien, welche den |

lebhaften Gang der Handlung verhindern.“ Solde Aphorismen ohne jeden Werth über unfere Großen find um fo bedauerlicher in einem Bude, das vielen Kleinen übermäßigen Naum und bedenklich viel Weihrauch ipendet.

auf dem mehr und mehr jich vollziehenden An— einanderichließen aller Völker; die Menfchheit geht einer völligen Berichmelzung aller Raſſen und Unterfchiede entgegen. Zu dieſer Ver— ſchmelzung gehört auch das allmälige Zurüd- treten der religiöfen Verſchiedenheiten; das Chriſtenthum muß fih im Laufe der Zeit mit

So lejen wir unter Anderem mit Verwunde- dem Buddhismus verjchmelzen, damit die blei- rung auf Seite 169, daß der „Tannhäufer“ | bend mwerthvollen religiöfen Ideen, welche in von Julius Wolff neben Hamerling’s „König ihnen enthalten find, die gefammte Menichheit von Sion“ das „bedeutendite Epos jeit Goethe” | erobern können. Das ift bekanntlich die An— fei. Dem haben wir Nichts hinzuzufügen. fiht Eduard von Hartmann’s, den unier Ber: 414. Alles verftanatlicht. Socialpolitiicher | faffer fonft wohl da und dort befämpft, dem er Roman. Nah dem Engliihen des Edward | in diefem Hauptpunft aber offenbar beipflichtet. Bellamy, bearbeitet von Georg Mal»|D. Henne am Rhyn verfügt über eine große fowäly. Berlin, Richard Edftein Nach- Belefenheit und mannigfadhe Kenntnifie: aber folger. 1889. mit dieſer Doctrin wird er gewiß lebhaften Auf dem Umſchlage des Buches wird in | Widerjprud begegnen, für fo felbitverftändlich reclamenhafter Weiſe verkündet, der Roman jei er fie auch zu halten jcheint. Cine nähere Be- in Amerita bereits in vierundiechzigtaufend | gründung unseres Widerfpruchs müſſen wir Cremplaren verkauft. Thatſächlich handelt es und indeffen bier verfagen. Troßdem wir in fich jedoch nicht um eine gewöhnliche Senjations- | einem wichtigen Stüd von dem Verfaſſer ab- arbeit, wir haben im Original zweifellos ein | weihen, fönnen wir das Studium feines Buchs tief durchdachtes und vom ethifhen Gejichts- | dentenden Leſern empfehlen: es bat jedenfalla punkte aus höchſt bedeutendes Werk vor uns.) den Vorzug, daß ed nicht auf dem Boden der Die vorliegende deutiche Bearbeitung (übrigens | fogenannten naturwillenichaftlihen Cultur— bereits die zweite in Deutichland, eine dritte geſchichte fteht, welche eine contradietio in von Schindler erſchien in Amerika) gibt diefen | adieeto ift und ihren Urfprung lediglich einem Eindrud nur unvollftändig wieder: ganz beion- | Fundament oder Irrthum über das Weien der ders jei der Leſer darauf hingemwieien, daß der | Eultur jelber verdankt; die Naturwillenichaft, für den Grundgedanken entiheidende Schluß | jagt O. Henne am Rhyn ganz gut, richtet ſich fortgelafien ift. Cine volllommen wortgetreue | auf das Natum, die Culturgeihichte auf das Ueberjegung ift ſoeben in der Neclam’ichen | Cultum. Univerjalbibliothef erichienen, und es dürfte Ye. Die Rolande Deutſchlands. eit- dad beite Zeugniß für den Werth des Buches | Schrift zur Feier des fünfundzwanzigjährigen fein, daß der Ueberjeter Georg von Gizycki iſt. Beitehens des Vereins für die Gefhichte Ver:

Wir werden zur Zeit auf das merkwürdige lins. J. A. des Bereins herausgegeben von Werk eingehender zurüdfommen. ' NR. Beringuier. Berlin, E. S. Mittler & y. Culturgeſchichtliche Skizzen von O. Sohn. 1890.

Henne am Rhyn. DBerlin, Allgemeiner | Die mittelalterlihe Selbitherrlichleit des

deutichen —— iſt in der Mark nirgend jo weit fortgeſchritten, als in den alten Reichs— ftädten am Rhein oder in den Hauptplätzen der

Berein für Deutiche Literatur. 1889. . Der befannte ſchweizeriſche Eulturbiftorifer bietet uns bier elf Aufſfätze, welche ſowohl die

Literariſche Notizen.

Hanſa. In Berlin vollends, wo die ohnehin |

beicheidenen Erinnerungen an eine Zeit balb- |

republitaniiher Selbftändigfeit hinter den |

Schöpfungen der aufftrebenden Fürftenmadt

weit zurüdtreten, wird die glänzende Entwick—

lung der modernen Weltjtadt jehr raſch auch die legten äußeren Spuren mittelalterlichen

Gepräges vom Erdboden vertilgt haben. Es

berührt beinahe jeltiam, wenn in diefer mo:

dernen Welt der Gedanke auftaucht, ein Wahr: jeihen aus jener verichollenen Zeit au erneuern.

on Seiten des Vereins für die Geſchichte Ber- lins ift die Anregung ausgegangen, ein An- denfen an das nachgewieſene Ki Vorhanden- jein eines Rolandsbildes in der Vorftellung des jpäteren Mittelalters ein Wahrzeichen ftädti- ſcher Freiheit in Berlin an geeigneter Stelle ein ſolches wieder aufzurichten. Dem Plane ift zunächſt ein Gutes zu danken: das Er- fcheinen der oben genannten Feftichrift, die in ihrer Bedeutung über den Durchſchnitt der- artiger Gelegenbeitsichriften entſchieden hinaus- ragt. Das Bud bietet an erfter Stelle eine rechtsgeſchichtliche Auseinanderfegung eines der bewährteiten Foriher auf dieſem Gebiete.

R. Schröder beipricht die Stellung der Rolands-

ſäulen in der Rechtsgeichichte. dor dem nüch—

ternen Blide kritiſcher Forihung bleibt der romantifche Zauber, mit dem dilettantiiche Ge- ſchichtsauffaſſung Diele Denkmäler fo oft um-| fleidet hat, nicht beitehen. Dafür bietet die

Erfenntnif, dab die Rolandsjäule in ihrer ur-

fprünglihen Anlage und Bedeutung ein Markt—

zeichen ift, einen weſentlichen Gewinn für das

Verftändniß der mit der Entwidlung deö Ber-

kehrs auf das Engſte verknüpften ftäbtiichen

Verfafiungsentwidlung. Daran fließen fich

trefflih aelungene photographiiche Abbildungen

fämmtlier jet noch vorhandenen Rolands- bilder nebjt kurzen ſachgemäßen Beichreibungen.

Ein eigenartiges und reiches culturgeichicht-

liches Material wird auf diefe Weife dem Leſer

überfichtlih vor die Augen geführt, allerdings nur eine Vorarbeit, namentlich für die funt- geihichtlihe Behandlung des Gegenitandes.

y. Sophofled: Chöre. Ein Führer durch die Tragödien des Dichters. Von 9. Dra- beim, Dr. ph. Eiſenach, J. Bacmeifter.

Das vorliegende Schrifthen macht den Ver: juch, den Leſer dadurch in die Tragödien des |

Sopholles einzuführen, daf der Inpalt der

TDialogpartieen kurz zufammengefaßt wird, wäh:

rend die Chöre in voller Ueberfegung mitges

477

Moicheles. Mit 13 Jlluftrationen. Leipzig, Dunder u. Humblot. '

Bei der Anzeige diefer Briefe braucht's nicht vieler Worte. Ebenio wie der vor zwei Jahren erichienene (und in dielen Blättern warm em— pfohlene) Briefwechſel zwischen Mendelsjohn und David wird auch Ddiefe neue Sammlung den Berehrern Mendelsſohn's innige Teude be⸗ reiten. Dem Sohne Moſcheles', Felix (dem Pathenkinde Mendelsſohn's), gebührt großer Dank dafür, daß er die Briefe vollſtändig und ohne jede Verkürzung zum Abdruck gebracht hat. Es muß das ganz beſonders hervor— ehoben werden, da die 1861 und 1863 von Baul und Karl Mendelsjohn herausgegebenen, fo weit verbreiteten Briefe Mendelsſohn's aud) in den neuen Auflagen noch immer die vielen Auslaffungen aufmweiien, welche die erften Her— ausgeber in übergroßer Rüdfihtnahme auf noch lebende Perſonen für geboten hielten, wozu nachgerade doc feine Beranlaffung mehr vor- zuliegen jcheint. Die hier angezeigten Briefe umfaffen die Zeit von Mendelſohn's fieben- ehntem Lebensjahre an bis vier Wochen vor ee Tode. Der Herausgeber hat fie durd kurze biograpbiiche Notizen verbunden, fie theil— weile au durch Auszüge aus den Briefen Moicheles’ an Mendelsfohn erläutert. Das Bud gewährt ein klares und höchſt wohlthuen— des Bild von dem Freundſchaftsbunde, der zwiſchen Mendelsſohn und dem Ehepaare Mo— ſcheles beſtand.

8. Die Vorftellung des Dinges auf Grund der Erfahrung. Ein Entwurf von Dr. Theodor Loewy. Leipzig, Carl Reißner. 1887.

Was die vorliegende Schrift will, deutet der Titel derſelben an: den Begriff des Dinges entwickeln, ſein Verhältniß zum Be— wußtſein feſtſtellen, die Frage nach der Realität der Außenwelt beantworten an der Hand ber Erfahrung. Dies gefhieht in einer durchaus

'jelbjtändigen, von nicht gewöhnlicher Kraft des Denkens und jeltenem Abftractionsvermögen

zeugenden Weife, aber in einer faloppen, auf Schärfe und Beftimmtheit des Ausdruds leider nur allzu wenig Werth legenden Form. Auf:

‚fallend ift, dab der Verfaſſer den Kraftbegriff

und den mit ihm im engiten Zuſammenhang ftehenden Caufalbegriff bei feinen Auseinander- fegungen durchaus vermeidet. Theilt er Henne's Zweifel an der objectiven Bedeutung diejer Ber ariffe? ſucht er fih deshalb ohne fie zu be—

theilt werden, und zwar in Reimen oder doch | helfen? und ift er in Wahrheit der Meinung, in einer unferer Poeſie ſich nähernden Geftalt. daß die Gonitruction einer objectiv » realen Die Ueberfegungen find ſehr fließend und qut | Außenwelt auch ohne Zuhülfenahme jener Be- ausgefallen; man fann dem Berfaffer dazu im | griffe gelingt? Wie man aber aud über diejen Ganzen nur Glüd wünſchen. Ob freilih der | Punkt und über manche andere urtheilen mag: des Sophofles noch unkundige Leſer nicht da- | jedenfalls enthalten Darlegungen wie die über durh, dab ihm bloß das Fremdartigſte der | Ausdehnung, Tiefe, Bewegung ꝛc. viel Beachtens- helleniſchen Tragödieen, die Chöre, mitgetheilt werthes, und der aufmerfiame Leſer, der ſich werden, einen einſeitigen und ſchiefen Eindruck durch die vorerwähnten formalen Mängel nicht empfängt, wäre wohl zu erwägen: einzelne abſchrecken läßt, wird ſich vielſeitig angeregt Dialogjcenen wenigſtens hätten eingeflochten finden und gewiß mancherlei, was für die werden jollen. Drientirung auf dem betreffenden Gebiete sa. Felix Mofcheles, Briefe von Felir Men- brauchbar ift, aus dem vorliegenden Werte delsjohn-Bartholdy an Ignaz und Charlotte lernen.

475

zu. Pädagogiſche Piychologie nach Her: mann Xoße in ihrer Anwendung auf die Schulpraris und auf die Erziehung, von Dr. Friedrid Bartels, Director ſämmt— liher Bürgerihulen in Gera. I. Theil. Fr. Maute's Verlag (N. Scenf). Der Verfaſſer, ein vielbeichäftigter prak—

tiſcher Schulmann, auch literariich wohlbefannt,

u. a. als Herausgeber der „Rheiniichen Blätter

für Erziehung und Unterricht“, hat fi der‘

danfenswerthen Mühe unterzogen, aus X

otze s philoſophiſchen u ein Syſtem der Yo.

chologie zulammenzuitellen und mit einer An—

wendung auf die Hädagogi tritt dem Herbart'ſchen

chiſchem Gebiete nachzuweiſen, mehrfach ſcharf entgegen; er kommt daher auch vielfältig zu anderen Erflärungen piyfiiher Vorgänge als Herbart, deſſen Jünger heut zu Tage in der wifjenihaftlichen Pädagogik den Ton angeben. Dem Xehrer, der ſich nicht eingehend mit der Prüfung philojophiiher Syfteme zu befhäftigen vermag, tt ein in dem vorliegenden, auf zwei nicht gerade ums» fangreihe Theile berechneten Werte die Unter: ſchiede der Loge'ihen Auffafjung von derjenigen Herbart's und der Derbartianer, der fich dar— aus ergebenden praftiihen Folgerungen be— leuchtet findet. Möchten recht viele Lehrer da— durh veranlaßt werden, fih mit Lotze's

f zu verjehen. Lotze erfuh, das Walten der Geſetze der Statit und Mecdanif auf piy-

ienft damit erwiejen, daß er

Deutſche Rundichau.

fang des Jahres 1888 an den Deutichen Berein ‚für Armenpflege und Wohlthätigkeit und an ‚die Deutichen ———————— die Aufforderung richtete, ſich eingehend mit ihr zu beſchäftigen. Der erſtgenannte Verein hat im September desſelben Jahres einen ſtändigen, aus Männern und Frauen beſtehenden Ausſchuß für die Frage eingeſetzt, und dieſer die Herren Fritz Kalle, Reichſstagsabgeordneten, und Dr. Otto Kamp, ftädtiichen Lehrer zu Frankfurt a. M., beauftragt, „eine kurze, ſyſtematiſche, ganz ob» jective Beichreibung der im Inland und Aus- land ſchon beitehenden, bereit? bewährten Vor- fehrungen zur bhausmwirtbichaftlihen Ausbil» dung der Mädchen der arbeitenden Claſſen“ zu liefern. Das Ergebnik ift das vorliegende Schrifthen, eine ungemein geididte und brauchbare Verarbeitung des Stoffes, der den Verfaſſern theild durch eigene Beobachtungen an Ort und Stelle, theils als Antwort auf etwa fünfhundert ausgeſandte Fragebogen und briefliche Erkundigungen zufloß. In überſicht- lichſter Weiſe zeigt die kleine Schrift, was außerhalb des Elternhaufes bereits geſchieht, um die fünftige Hausfrau des Arbeiterö für ihren Beruf tüchtig zu machen, wie aud, was zu thun ift, wenn Einzelne, Vereine oder Ge meinden auf den vernünftigen und zeitgemäßen Gedanken kommen, ihrerfeits an diefem Punkte zur Abhülfe ſoeialer Nothitände den Hebel an« zuſetzen. Die Verfaffer haben ſich daneben nit nur der größeren Objectivität befleikiat,

Schriften, insbejondere mit feinem „Mitrofos- | fie verleugnen auch nirgends die von ihnen mos“, befannt zu machen, und fi dadurch ſelbſt an den Anfang geitellte Grundwahrbeit, Ki die Gefahren einer einfeitigen, materiali- | daß alle Arten von Haushaltungsichulen Noth« tiſchen Weltanſchauung wahren, die dem ſchulen find, daß der normale Wen, ein Syſtem Herbart's nicht ganı ferne liegt. | Mädchen zu einer tüchtigen Hausfrau beranzu- Schade um die vielen finnitörenden Drudfehler | bilden, immer dur den von einer ſolchen a ——— mit ſoviel Liebe und Fleiß Hausfrau ihres Standes geleiteten Einzelhaus-

. alt führen wird. Aber jo lange wir in un- u. Die hauswirthichaftliche Unterwei⸗ jehzigen Nothlage find, jo lange großen—

ſung armer Mädchen. Grundzüge der

beitehenden Einrichtungen und Anleitung |

zur Schaffung derfelben. Bon Frig Kalle, Wiesbaden, und Dr. Otto Kamp, Frant- furt a M. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1889.

Eine der allerwejentlihiten Grundlagen der Bollswohlfahrt, das gefunde Familienleben, ift in unjeren Tagen dur den Umftand ge

theild die Mütter der unteriten Bolksichichten felber vom Haushalt wenig verftehen oder Erwerbsarbeit ganz hingenommen werden, un die Töchter ſofort nach dem Verlaſſen der Schule gleichfalls in die Erwerbsarbeit ein— treten müſſen: gilt es, das Beſſere nicht des Guten Feind werden zu laſſen, ſondern zu helfen, wo Hülfe möglich iſt. In der bereits erfreulich wachſenden Literatur dieſes Zweiges

fährdet, daß die Mädchen gar nicht oder nicht | der Wohifahrtsbeſtrebungen gebührt dem Schrift- ausreichend auf ihren Beruf als Hausfrauen chen der Herren Kalle und Kamp eine ganz und Mütter vorgebildet werden. Um dieſem | hervorragende Stelle.

DViangel zu begegnen, muß für die unteren iv. Der Kampf um Konftantinopel. Bon

Stände die Möglichkeit geihaffen werden, ihre Töchter, da eine Ausbildung im elterlichen Haushalt theils Überhaupt nicht, theild nur jebe mangelhaft zu befehaffen ift, in befonderen

eranftaltungen lernen zu allen, was die Be eines einiadhen Arbeiterhaushalts er⸗ ordert. Laſſen ſich auch vereinzelte Spuren ſolcher Veranſtaltungen bis ins vorige Jahr⸗ hundert zurückverfolgen, fo iſt doch die öffent— liche Aufmerkſamkeit erſt ſeit wenigen Jahren auf dies Gebiet gelenkt; ja, einen weiten Widerhall hat die Sache eigentlich erſt gefunden, ſeit die unvergeßliche Kaiſerin Augufta zu An—

Otto Wachs, Major a. D. Leipzig, Eduard

Baldamus. 1889.

Die politiſche und militäriſche Bedeutung des Kaukaſus. Von demfelben. Berlin, Richard Wilhelmi.

Der Verfaſſer dieſer beiden Broſchüren, der die Literatur ſchon durch manche werthvolle Gabe bereichert hat, gehört nicht zu denen, die ſich leicht verausgaben: die vorliegenden Flug⸗ ſchriften ſtehen ganz auf der Höhe der früheren: Hare, auch dem Laien verſtändliche Sprache, weiſe Gliederung des Stoffes, ſtrengwiſſenſchaft⸗ licher Inhalt in fchönfter Form. Major

Literarifche Notizen.

Wahs gibt in der erftgenannten Arbeit zunächſt einen biftorifch » politiihen Nüdblid auf die Vergangenheit Konftantinopels, beleuchtet es in gina Weiſe vom geographiichen und mili- täriihen Geſichtspunkte aus und erflärt aus der Weltlage der Stadt auch ihre Weltbedeu- tung und die Weltfämpfe um diefelbe. Weiter-

bin weiſt der Berfaffer nahdrüdlid auf die |

Gefahren hin, welde dem gefammten Weit: Europa aus einem „ruffifhen Konftantinopel“ erwadhien würden und verfteht unter dem „Kampfe um Konftantinopel” das Gebot, un- ausge r auf der Hut zu fein, die einmüthige, entſchloſſene Gegenarbeit der intereffirten Mächte.

In der zweiten Broſchüre wird dargethan, welche ungemein günftige politifche und jtrate- giihe Lage fih Rußland durch Eroberung des Kaufafus und Unterwerfung feiner bisher unbotmäßigen Bewohner aus der Grenzicheide von Europa und Aſien dauernd geichaffen hat. Der Kaufafus, im letzten Sahraeh

ige Hoch- und Wartburg geworden, fturmfrei

im Norden und Dften, vollbewehrt im Weiten |

und Süden, bildet eine fait uneinnehmbare Bertheidigungsftellung bei einem Kampfe in Gentralaften, ein jeder Zeit offenes Ausfalls- thor gegen Kleinafien. Der Autor verfagt den eivilifatorifchen Beftrebungen Rußlands, die in der Transfaspibahn, der in Ausficht genom— menen Kanalverbindung zwiihen dem Amu

Darja und dem Haspijchen Meer beredten Aus: | drud findet, feine gerechte Bewunderung nicht;

läßt aber auch hier wieder jeinen Warnungsruf

ertönen, der auf die Riefenerfolge deutet, die

feit der Eroberung des Kaukaſus nad diejer

Seite hin Rußland erzielt hat. Daß die

vorliegenden beiden Schriften die erjten find,

welche über die militärifhe und politifche Be- deutung der Stadt am goldenen Horn und der

——— Licht verbreiten, ſei noch beſonders

etont.

&o. Wie denkt das Volk über die Sprache ? Gemeinverftändliche Beiträge zur Beantwor- tung diefer Frage von Dr. Friedrich Polle. Leipzig, B. G. Teubner. 1889.

Ein eigenartiges Bud, das Geſchmachk, feine Beobachtung und eine Fülle von Wifjen in ber- vorragender Weife vereinigt. Der Berfaffer will die Aufmerkfamteit der Gebildeten aller Kreife auf die Sprade bes Volles Ienten, d. h. auf bie Eigenthümlichleiten feiner Sprach- und Denkweife, und zwar auf allerlei Gebieten bes Lebens. Unter „Volt“ verftieht er die minder

efhulte große Maſſe Der Stoff, der lange abre hindurch mit Luſt und Liebe zur Sache gefammelt wurde, ift derartig geftaltet, daß jeber

ernftere Leſer daran Gefallen finden wird. Den |

harffinnigen, oft mit Wig und Humor ver-

esten Bemerkungen und Sclüffen find eine Menge Anekdoten und andere Belege beigegeben, |

durch welche die Darftellung außerorbentlich belebt und das Intereſſe bis zu Ende vege wird. Das Buch ift ein werthvoller Beitrag zur Kenutnig der Vollsfeele und bat ben nicht gewöhnlichen Vorzug, daß es belehrt und zualeich

nte mwegbarer | gemadt und durch jtarfe Befeftigung eine ein-

erhalten |

479

\aud erfreut. Mit der Screibart „Göthe“

ftatt „Goethe“ können wir uns freilich ebenfo

wenig befreunden, wie mit ber Begrinbung

(S. 11, Anm. 1). „Wie das Bolt bentt“, er.

fcheint uns in biefem Falle bei Weiten weniger

wichtig, al® was, über feinen eigenen Namen,

Goethe felbft gedacht bat.

3. Nilfahrt. Bon E. von Gonzenbad. Mit Jluftrationen von Rafaello Mai- . : Stuttgart, Deutiche Berlagsanftalt.

Immer wieder und wieder zieht das Yand der Pharaonen Maler und Schriftfteller an, und zwingt fie, ihre Eindrüde und Erlebniffe dur Feder wie Farben wiederzugeben, um auch Andere, wenn zwar nur indirect, Theil nehmen zu laffen an dem Zauber, den das noch von fo mandem Geheimniß umſponnene

Gebiet des Nils auf Jeden ausübt, der nicht

den letten Zwed des Reifens in franzöfiicher

Küche und eleftrifch erleudhteten Hötels erblidt.

Inniger Begeifterung und tiefer Yiebe zu den

melandoliihen Schönheiten der Nillandichaften

und ihren zahllofen geſchichtlichen Erinnerungen, die bier befonders lebhaft fich dem Reifenden aufdrängen, ift das obige Werk entiprungen, deffen äußerer Rahmen mufterhaft iſt. Aber auch jein Inhalt feffelt in hohem Grade und hebt das Bud über die Kategorie der üb- lihen Salon-Prachtwerke weit hinaus. Mainella, ein italieniicher Maler, auch bei uns durch manch' feinfinniges, Venedig behandelndes Delbild, durch manch' zierlihe und anmuthige Aquarelle vor:

ı theilhaft befannt, hat den Tert mit über zwei—

hundert theild in vorzüglichem Lichtdrud, tbeils

in qutem Holzſchnitt reproducirten Bildern und

Bildchen geihmüdt, welche durch charakteriftifche

Beobachtung, namentlich der mannigfachen Volks—

typen, und liebenswürdige Grazie ebenſo feſſeln

wie durch ihre meifterhafte, bei aller Flottheit

‚die größte Sorgfalt verrathende Ausführung.

In oft zu verfhwenderiiher Weiſe find nad

japanifhem Mufter die Blattränder mit win—

jigen, zuweilen etwas manierirten Randvignetten verjehen; hier wirft ein Zuviel leicht aufdring- ie. Die Befchreibung der viermonatlichen

Reife, welche im Winter von Venedig aus an—

getreten wurde und von Nlerandrien nad) Wa-

delai ging, itammt von E. von Gonzenbach und ift in Tagebuchform gehalten; anſpruchslos ge— fchrieben, verrathen die Aufzeihnungen überall das qute Auge und die tüchtigen Kenntniffe des Neifenden, der wohlvorbereitet diefe Fahrt antrat, niemals jedoch in einen aufdringlich be= lehrenden, das Gelernte und Gejehene anmaßend vorbringenden Ton verfällt. Bielleiht wäre es im deutichen Intereſſe erwünſcht geweſen, wenn der Berfafler aud der unter deuticher Flagge den Nil befahrenden Dahabijeh’S gedacht hätte; fie bieten mindeftens diefelben Annehm— lichfeiten wie die vom Coot'ſchen Reijebureau, deifen Vermittelung fih Autor und Maler be- dient, ausgerüfteten. Das in jeder Hinſicht ſympathiſche ſchmucke Buch wird für den großen

Kreis der Nenyptenreifenden, und aud wohl

| über diefen hinaus, eine willtommene Gabe fein.

480 Deutſche Rundſchau.

Von Neuigkeiten, welche der Redaction bis zum | Jahnke. u Bismard. Sein Leben und Birken. Bon 12. Mai augegangen find, verzeihen wir, näberes| Hermann Jahnke. 1. Lig. Berlin, Paul Kittel. 18. ee nah Raum und Gelegenbeit uns flarpeled. ——— Geſchichte der Literatur von vorbehaltend: ihren Anfängen bis auf bie Gegenwart. Bon Guſtav Adam. Die Aristotelische Theorie vom Epos nach | Sarpeles. Mit luftrationen und Porträts. 1. xfg. ihrer Entwicklung bei Griechen und Römern von Berlin, G. Grote'ihe Berlagsbudbandlung. 1890. Dr, Adam. Wiesbaden, Chr. Limbarth, 18%. Kretzschmar. Führer durch den Concertsaal von Adressbuch der Deutschen Zeitschriften und der| Hermann Kretzschmar. II. Abtheilung, zweiter herrorraxendsten politischen Tagesblätter. Hand- | Theil: Oratorien und weltliche Chorwerke. Leip- und Jahrbuch der deutschen Presse. Mit An-| zig, A. G. Liebeskind. 18%. abe der Adressen der Redakteure und Verleger, | enftein-Grottetwig. Sonnenaufgang! Die Zur er Erscheinungsweise, Bezugs-, und | funitsbahnen ber Neuen Dichtung. Son Alerander Beilagenweise der Blätterund anderenNachweisen, Yauenftein und Aurt Grottewis. Leipzig, Karl Heißner, 31. Ausgabe. 1890. Bearbeitet von H. ©. Sper- | 1890. ling. Leipzig, Expedition des Zeitschriften-Adress- Lebon. Etudes sur l'Allemagne Politique. Par buchs. Andre Lebon. Paris, Librairie Plon. 18%. Atlante storico dell’ Italia in 24 Tavole Lenau: Fausto. Traduzione di Nannarelli. Milano, e 67 ne di Testo per G. Garollo, Milano, | Ulrico —— 1890, Ulrico Hoepli. 18%. Letters of Philip Dormer fourth Earl of Chesterfield Aumale. Die Geschichte der Prinzen aus dem | to his godson and successor, Edited from the Hause der Conde. Von Heinrich Herzog von Au- | originals, with a memoir of Lord Chesterfield, male, Prinz von Orleans, Autorisirte Ueber- by the Earl of Carnarvon. Oxford, At the Claren- setzung von J. Singer. 1. Bd. Wien, Carl Konegen. | don Press. 18%. 1890, 'Lövy-Bruhl. L’Allemagne depuis Leibniz. Essai Barth. Die Geschichtsphilosophie Hegel’s und | sur le developpement de la conscience nationale der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann. Ein | en Allemagne. 1700—1848. Par L, Levy-Bruhl. kritischer Versuch von Dr. Paul Barth. Leipzig, | Paris, Hachette & Cie, 18%.

O. R. Reisland. 180. Rongfellow. Evangeline. Eine arfadiihe Erzählung Benda. Perseus und St. Jürgen. Vortrag von | von Henry ®. Xongfellow. Deutſch von Dr. Richard Albert Benda. Lübeck, H, 6. Rahtgens. 180. Seehaufen. Eisleben, Kuhnt'ſche Budbandlung. 1890.

Berliner Meudrude,. Zweite Serie. Bd. III: Ber: Ludwig. Spaziergänge eines Wabrbeitfuhers ins Iiner Gedichte 1763—1805. Gejammelt und heraus— Reid der Moftil. Bon Dr. jur. Wilhelm Ludwig gegeben von Ludwig Geiger. Berlin, Gebrüder Baetel. veivzig, Rauert & Rocco. 1 18%), ‚Marbach. Das Mysterium der Kunst von Hans

Berliner Pilafter. Herausgegeben von M. von Ne Marbach. Leipzig, C. L Hirschfeld. 18%. mond. NKünitlerifhe veitung: L. Wanzel. 1. Heft: Markewitſch. Marina. Cine Erzählung von B. Vorwort von M. v. Neumond, Tas tanzende Berlin, Martewitihb. Aus dem NRuffiihen überfegt von Wil: Von Taul Yindenberg. Berlin, W. Pauli. 1890. beim Paul Graff. Berlin, Richard Wilbelmi. 1889.

Bielsky. Erloiten. Roman aus der Petersburger Menzel. Die Entstehung des Lehnswesens. Von Geielihaft von Boris von Bielsty. Berlin, Karl! Viktor Menzel, Berlin, Wiegandt & Schotte. 1890.

Ulrih & Co, 1890, ‚Miefner. Tie Geilter vom Nörnberg. Ein San Bormann. Hand Boltmar. Die Geſchichte eines von Einit und Jegt von €. Miefner. Berlin, A. Senf.

Künftlerd von Georg Bormann. Berlin, Kurt Bradıs 1890,

vogel. 18, Maolttke. Feldmarichall Grat Moltte’d Briefe aus Ruß⸗

Brandstäter. Das Fest des Prometheus. Epische land. Tritte Nuflage. Berlin, Gebrüder Baetel. 1890. Dichtung von Franz Emil Brandstäter, Hamburg. , Moltte. Wanderbuch. Handſchriftliche Aufseihnungen Verlagsanstalt und Buchdruckerei, A.-G. 18%. aus dem Meiletagebub von H. Graf Moltke, Fünfte

Buchholtz. Geschichte der Buchdruckerkunst in Auflage. Berlin, Gebrüder Paetel. 18%.

Riga, 1588-1888, von Arend Buchheltz. Fest- | Neukomm. Berlin tel qu'il est. Par Edouard schrift der Buchdrucker Riga’s zur Erinnerung Neukomm. Paris, Ernest Kolb.

an die vor 300 Jahren erfolgte Einführung der | Moeft. Die Vrozefloften. Eine Studie von B. Noet. Buchdruckerkunst in Riga. Riga, Müller'sche Breslau, Schleſiſche Buchdruckerei, Kunſt⸗- und Berlags-

Buchdruckerei. 1890. anitalt (vormals S. Schottlaender). 1890. Bülow, Neue Novellen von Margaretbe von Bülow. | Parrille. L'’Exposition Universelle. Par Henri Berlin, Walther & Apolant. 1800. ' de Parville. Lettre preface par A. Alphand. Paris,

Defoe. Zociale Fragen vor zweihundert Jahren (An | „I; Rothschild. 188. : on Projects) von Daniel Defoe, 1697. Ueber: Reymond. Der Zeichsfaßbinder. Ein deutſches Fan iegt von Hugo Fifber. Yeipzig, €. 2. Hirfhfeld, Ingo. Mastsiviel, mit 30 Perfonen zu agieren und bat drei

Ehner-Eihenbad. Miterlebtes. Erzählungen von te nebit Bor» und Nadiviel. Verfaht von M. Rev» Marie von Ebner-Eihenbadı. Zweite Auflage. Berlin, mond und mit ertledlihem Bilderjhmude ausftaffiert Gebrüder Taetel. 18%. von 5 —— Berlin, > Fauli. 1890.

Salte. Der Novise von Aremömünfter. Gryiblung | "Samuel Rochehlave. Paris. Hachette &-Cie, 1889. In Berjen von hans Falke. Wien, Karl Gerold's Sohn. | Mopenberg. Herrn Schellbogen's Abenteuer. Ein

18%. d t ; Fontane. Stine. Bon Theodor Fontane. Berlin, Bee —— Hans." 1890 Jullus Roden

F. Fontane. 180. —_ sopläb! i r , Fried, Der Naturalismus, seine Entstehung und | Be Berechtigung. Von Alfred Fried. Leipzig und | pad. 1890. i ä i Wien, Franz Deuticke,. 18%. mid. Fuchs. Die Copirschule. G'schnasbildersaal für | GR: 2 Handglofle von Dr. Anton Shmid. Weimar nachahmende Kunst und nachempfindende Lite- Herm. Weifbad. 1890 y " ä ratur. Von Isidor Fuchs. Wien, M. Breitenstein's | gegtmeher. Die Ylutfaat. Erzahlung aus der Her Verlag. 1890. | formationszeit von E. Tegtmeyer. Jena, Hermann Girot. Agrcgation d’Allemand en 18%. Biblio- | Koitenoble, 18, graphie speciale des auteurs allemands par A. | Wex. Gedichte von Joseph Wex. München, Girot. Paris, Paul Dupont. 1800. ' _P. Wipperers Verlagsbuchhandlung. Girot. Hermann und Dorothea. Texte allemand , Windelband. Fichte's dee des deutfhen Staates, avee une introduction et des notes par A. Girot, Rede zur eier Des Geburtstages Seiner Majeftät des

Die beutiche Literatur in ber Klemme. Eine

Paris, Ch. Delagrave. 18@. | Naifers am 27. Januar 1890 in der Aula der Katjer- Hauptmann. Tas sriedensieit, Line Familien Wilbeimd + Univerfität —— gehalten von Dr. fataftrophbe. Bühnendichtung von Gerbard Hauptmann. Milbelm Winvdelband. freiburg i./Br., J. C. ®, Motr,

Berlin, ©. Fiſcher. 1890. \ In, ö a Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Druck der Pierer'ſchen Hofbuchdruckerei in Altenburg.

Für die Redaction verantwortlich: Paul Lindenberg in Berlin. Unberechtigter Abdruck aus dem Inhalt dieſer Zeitſchrift unterſagt. Ueberſetzungsrechte vorbehalten.

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Inhalt: Die Kultur, ibr Weſen, ihre Gefege und ihre Formen, Die Nolle ber Bölker in ber Kulturgeihichte. Der Menſch und bie Steine. Pflanzen und Tbiere im Dienfte ber Menihen. Das Eden ber Antipoden. Die Art der Begrüßung bei verjcdiedenen Böltern. Bom Nberglauben aller Zeiten und Völker. Die Entmwidelung der Religion, Die verjhiebenen Gemänber bes Götter» und Gotteöglaubend. Buddhismus und Ebriftenthum. Die neueite religiöje Bewegung in Indien. 187)

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Blätter für litter, Aniertaltung 1839, No. 52: „.... Die reife Fruch einer befonnenen, fleifigen und forg- fältigen Unterfudung, die fih in jeber Beziehung bem behandelten Stoffe gewachſen zeigt. ... Mande Abſchnitte lefen fih wie ein anziehen⸗ des Stild zu dem unſere Dichter und Schriftſteüer den Text liefern... Um feiner ſauberen feinen Ausftattung willen fei bas Büdlein zu 9 eftgejhenten ganz bes ſonders empfohlen.‘

JIlluſtrixte Zeitung, No. 2420: | Das Bud, ein Seitenftüd zu | Büdinann's „Geflügelten Worten“, wird auf vielen Welhnachtstiſchen eine willlommene Gage fein.”

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Kühomftr. 7,

uiid MEERE nn nn a ee

Juni 1890.

1

La livraison de mai de la Bibliothöque universelle con- tient les articles suivants:

I. Abraham Lincoln, d'après de nouveaux documents, ar M. A. de Verdilhae. 'oncle Ulrich. Nouvelle, par M. Adolphe Ribaux. Les rögiments suisses et la r&volution frangaise, par

M. Edouard Secretan.

. L’hygiöne dans l’industrie, yar M. Edouard Lullin. es origines de Faust, par

M. Edouard Rod. (Seconde et derniöre partie.)

Le joueur de zither. Nou-

velle, par M. Jean Menos.

Troisime partie.) Variötes. Alexandre Vi- net. A propos d’un livre

nouveau, par M. Philippe

Godet.

VIII. Chronique parisienne.

La —— au Salon. Le candi- dut des etudiants à l’Academis. L’'äme des bötes. Religion jet

hilosophie. Livres noureaux.

Un mystöre au Cirque d’hiver.

1X. Chronique allemande.

Le domaine du prince du Biamarck, Une &re de reformes; le surmenage. Les juifs dans les écoles pabli- ques. Examen de vonlontariat; suppression du pririlöge des gym- nases. theätre classique en Allemagne; la r&forne du duc de Saxe-Meiningen. Le second Faust au Theätre allemand. Shake- speare au Theätr« berlinois,

X. Chronique anglaise.

Lettresinedites de lord Chesterfield. Nos expositions de peinture, Lord Melbourne.

XI. Chronique suisse.

La vie intellectuelleäGenäve: beaux- arts, sciences, etudes sociales; l'exposition Veillon ; laconservation des monuments historiques; In s0- eietE de geographie. Daniel Cummings. Jean-Jacques Rous- seau juge par les Fran is,

XU. Chronique scientifique.

Le pont du Forth. Le noureau

I. 111.

VI.

VII.

fusil allemand, Progrès des chemins de fer. Tunnels sous- marins. Un canal japonais.

Le Khin & Winterthour. Nou- veauxtransatlantiques, L’electri- eitd. Phonographe et grammo- phone, Nouvelles plaques sen- sibles. Un telescope geant. Decouvertes chimiques. XIII. Chronique politique. Demissionnaire! Le voya rösi- dentiel et les dlections e Part En Italie. En Angleterre, Questions ouvriöres:- conförence de Berlin; assemblde d’Olten; mani- fostation du ler mai, Affaires tessinoises. Le Simplon. XIV. Bulletin litt6raire et biblio- graphique.

La Bibliothöque universelle par-"' au commencement de cha < » livraisons de 224 as pays de l'Union po:

Six mois: 14 fr.ıqetten ꝛc. gezeichnet de la Bibliothöo

de pone Jebunden a Mart 5,—.

Vierter Band: Werinber

Deutfhe Rundihau. Juni 1890. ' 3

JANUS

Lebens- und Pensions-Versicherungs-Gresellschaft in Hamburg.

Errichtet am l. Februar 1848.

Auszug aus dem Rechenschafts-Berichte vom 12. April 1890.

(185) Ultimo 1889 waren in Kraft: 26 830 Lebens-Versicherungen mit.. .. ... . . .. .. ... .. ..4 A 77 244 265. 1044 Renten- u. Pensions-Versicherungen mit jährlich zu zahlenden Pensionen von 606 128. Die Einnahme in 1889 betrug: An Prämien- und Kapital-Zahlungen ...... . . .. ... . ..... AM 3437 748. » Zinsen Verausgabt wurden:

Fur 456 Todesfulle. ... .. . . ... a pn a a aaa een aaa #4 1305 165.

» 113 bei Lebzeiten fällig gewordene Versicherungen 168 565. Seit ihrer Gründung zahlte die Gesellschaft überhaupt an Ver-

sicherungs-Kapitalien und Renten : 33513 308.

Das Grund-Kapital der Gesellschaft beträgt # 1500 000. Die Reservefonds belaufen sich auf : 22 494 270.

Davon sind angelegt:

In Hypotheken A 20 020 036. - Darlehen gegen Unterpfand 233 700. - Darlehen auf Policen der Gesellschaft 1 222 997. 13

Rechenschaftsberichte, Prospeete und Antragsformulare gratis: in Berlin €. bei der General- Agentur

Hirschfeld & Goldschmidt,

Alexander-Strasse 70, sowie bei sämmtlichen Agenten der Gesellschaft.

Hamburg, April 1890. Die Direotion.

Derlag von Gebrüder Vaetelin Berlin.

Gedichte | Kieder und Gedichte Theodor Storm. | Julius Rodenberg.

ste Auflage. Mit einem Bortrait Theodor Stormd. Fünfte, vermeßrte Auflage. jatur- Format, Eleg. geb. m. Goldſchnitt 6 Mart. Miniatur: ormat. leg. geb, m. Goldſchnitt 6 Darf.

ichtungen von Alfred Meißner.

jobölfte Auflage. Büttenpapier. Reich geſchmückt durch HYierleiften, Initialen, Schlußvignetten ıc., gezeichnet von Adolf Schill.

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be. Bier Bände. Preis broſchirt a Dart 3,—; elegant gebunden à Dart 5,—.

IH iter Band: Gedichte. Dritter Band: Gedichte. Vierter Band: Werinber König Sadal. Herbitblumen.

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RZ A

er

4 Deutſche Rundichau. Juni 1890.

Serder’fhe Berlagshandlung, Freiburg im Breisgau.

Soeben ijt erſchienen und dur alle Buchhandlungen zu beziehen: (188)

FIahrbud der Haturwiffenfdaften.

Jahrgang 1889-1890. Enthaltend die hervorragendften Fortſchritte auf den 6

ebieten: PBnfil, Chemie und chemiſche Tehnologie;s Mehanik; Aftronomie und mathematifhe Geographie; Meteorologie und phufikalifhe Geographie; Botanik und Boologie, Forfi- und Sandwirtdfhaftz Mineralogie und Geologie; Gefundbeitspflege, Medizin und Rhyſiokogie; Anthropologie und Argeſchichte; Länder- und Bölker- fundes Handel, Induflrie und Verkehr. Unter Mitwirtung von Fachmännern —— geben von Dr. Max Wildermann. Mit 37 in den Tert ger Holzſchnitten. gr. 8°. (XI u. 596 S.) Mt. 6; in eleg. Drigihal-Einband ME. 7. ie Einbanddede 70 Bf. Die vier erfien Sal tänee (1885 —1889) Rönnen nachbezogen werden; Jahrgang I—1II zum ermäßigten reife von A ME. 3, geb. ME. 4; der vierte Jahrgang für M. 6, geb. ME. 7.

NMordwestdeutsohe Gewerbe- u. Industrie-Ausstellung

vom 31. Mai bis 1. October 1890 im Bürgerpark zu Bromen.

Auflage 552, Wu; das vers breitete aller Deutidhen Blätter überhaupt; aufer- em erfheinenlleberjeguns gen im zwölf fremden Spraden.

55* wen ww * .. Mufteirte Ehren - Präsidium:

Zeitung | Ober-Kammerherr Baron v. Alten, Kıc. über-Präsident Dr. v. Bennigsen, kı. u Toi⸗ (Oldenburg.) (Hannover.)

Bürgermeister ©. Buff. Konsul H. H. Meier.

beiten. (Bremen.) (Bremen.)

Eröffnungs-Feier: Sonnabend, den 31. Mai 1890.

Num⸗

Preis An diese Ausstellung schliesst sich

sereo Bl eine Ausstellung der Deutschen Hochseefischerei 5 j M, 1.85 und der Schifffahrt, 75 Ar, Jährlich erſchei—

an der sich die Kaiserliche Marine in hervorragender Weise betheiligen wird.

Zu der Concurrenz in der Maschinen - Abtheilung ist ganz Deutschland herangezogen.

An der elektrischen Ausstellung haben sich die ersten Firmen Deutschlands in grossartigster Weise betheiligt.

In Verbindung mit der Gewerbe- und Industrie-Aus- stellung steht eine grosse Allgemeine Kunst- Ausstellung und andererseits wird die Handels-Ausstellung ein getreues | Bild der vielfachen Handelsbeziehungen Bremens geben.

Eine reich beschickte @artenbau-Ausstellung wird dem an und für sich schon so schönen Ausstellungsplatze, dem Bürgerparke Bremens, den Schmuck reichen Blumenflors und saftiger Rasentlächen gewähren.

Ein Panorama zeigt die Ankunft des Norddeutschen Lioyddampfers „Lahn“ inNewyork in naturgetreuer Wiedergabe.

Bremen, den 22. März 1890.

Der Vorstand

L_ der Nordwestdentschen Gewerbe- u. Industrie-Ansstellung, Verlag von Gebr. Yartel in Berlin. | Chr. Papendieck, Vorsitzer. Gottfr. Bergfeld, I stellvertr.

üßefei Vorsitzer. Dr. A. Feldmann, Il. stellvertr. Vorsitzer. Dr.

2 Gr * en 4,0» Jucchl, Konsulent der Gewerbokaunmer: Lamb. Leise witz, Vorsitzer der Platz-Kommission. Bernhd. Loose, Vor-

ein es Aalers sitzer des Finanz-Ausschusses. F. E. Schütte, Vorsitzer des

über feine Kuuſt. Parkvereins. A. Töpfer, Director des Gewerbe-Museums.

Bon Otto Anille, Dr. H. H. Meier jr., Vorsitzer des Kunst-Vereins.

Oetav. Preis geheftet 3 Mart. | @. Pagenstecher, Vorsitzer, und Syndicus Dr. Sombart,

Zu beziehen durch alle Bnch- Schriftführer der Handels-Ausstellung. bandlungen bed In- u. Audlandes. J. &. Poppe, Architekt der Ausstellung.

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12 Beilagen mit etwa 200 Schnitt» muſtern fiir alle Gegenſtände der Sarderobe und etwa 400 Diufter» Borgeibnungen flir Weiß- und Yuntitidlerei, Namens-Ebiffrenzc,

Abonnements werden jederirit an» genommen bei allen Budhbaud«- {ungen und Boftanftalten. Probe » Nummern gratit und franco durch die (Erpedition, Berlin W, Potedamer Etr, 38; Wien I, Opernaafle 3.

(17

Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud ber Pierer'ſchen Hofbuchdruckerei in Niten- burg. Für den Inieratentheil verantwortlih: Albert Bidal in Berlin.

-

u u

in

Deulſche Rundſchau.

Herausgegeben

Julins Rodenberg.

Sechzehnter Jahrgang. Heft 9. Juni 1890.

Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel.

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(Nachf. von Drell Füßli & Ko,’ Sortiment).

Inhalts-Verzeiäniß,

duni 1890.

Seite

2 Zwifhen Kirche und Paftorat. Novelle von Mite Aremnit 321 I. Stammbucdblätter aus Goethe's NRachlaß. Mitgetheilt von Dr. Walther Oulpius .

u ER . 348 II. Zeitgenöfjifche —— Bon Lady

364

IV. Petron's Gaſtmahl * Trimaldio Don £. 378 V. Heilige Bäume und Pflanzen. Gulkı ichtliche Skizze von

Dr. Serd. Adalb. Iunker von Langegg UV . . " 388 VI. Don Duirottino. Novelle von Salvatore Farina. Erſter

BE ie tee ee

VII. Die Bon Barl Frenzll . . 2. 447

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In Gebrüder Paetel's Verlag in Berlin

erschien vor Kurzem:

Deue Geschichten des (Dajors.

Hans Hopfen.

Inhalt:

Uebergangen ! Der polnische Wachtmeister. Schneidiges Liebchen.

Octav-Format. 26 Bogen. Geh. M. 6.—. Eleg. geb. M. 7.50.

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Deren Schellbogen’s Abenteuer.

Ein Stücklein aus dem alten Berlin. Von

Julius Rodenberg. Octav-Format. 16 Bogen. Geh. M, 42—. Eleg. geb. M. 5.50.

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Hans Hopfen und Julius Rodenberg gehören zu den besten Schriftstellern der Gegenwart und geniessen in den weitesten Kreisen die wärmste Verehrung. Jedes neue ihrer Werke wird mit grösster Theilnahme aufgenommen und findet gleich starke Beachtung beim Publicum wie bei der Kritik, Enthält Hans Hopfen’s Novellenband drei prächtige Erzählungen aus dem Militärleben, flott und spannend

geschrieben, so giebt uns Julius Rodenberg im Rahmen des Berlin

der 60er Jahre, welches er wie kein Zweiter zu schildern versteht, einen humordurchwehten kleinen Roman, der ebenso fesselnd wie interessant ist.

Berlin W,, Ende Mai 180». Lützowstr. 7.

DEE” Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. “Sg

“SECURUS JUDICAT ORBIS TERRARUM.”

Apollinarıs

NATÜRLICH KOHLENSAURES MINERAL-WASSER.

Die jährlichen Füllungen am Apollinarıs-Brunnen

(Ahrthal, Rhein-Preussen) betrugen

11,894,000 in 1887, 12,720,000 , 1888,

und

15,822,000 ‚„ 1889,

Flaschen und Krüzge.

Der jährliche Consum dieses beliebten Wassers hefert den schlagendsten Bexveis Für das überall bestehende bedürfniss für ein Tafelwasser von absoluter Reinheit, und es ist befriedigend, dass in beiden Hemispharen, wohin man auch reist, es überall zu finden ist; es ist allgegenwärtig ( ubigquitous’), und sollte eigentlich das Kosmopolitische Tafelwasser’ genannt werden * QOuod ab ommibus, guod ubique”

BRITISH MEDICAL JOURNAL.

THE APOLLINARIS COMPANY, LIMITED, LONDON, und REMAGEN a. RHEIN.

Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.

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