FRANCIS BACON UND SEINE Na\ez/zeimeiz,k

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Francis Bacon und ſeine Nachfolger.

22793

Francis DYacon

und jeine Nachfolger.

Entwicklungsgeſchichte der Erfahrungsphiloſophie.

Von

Kuno Fiſcher.

Zweite völlig umgearbeitete Auflage,

Leipzig: F. AU Brockhaus.

1875.

Das Recht der Ueberſetzung ijt vorbehalten,

Vorrede

zur zweiten Auflage,

In der gegenwärtigen Form hat fich der Umfang dieſes Werks um mehr al3 das Doppelte vergrößert, während von dem Inhalte der erjten Auflage (1856) faum mehr al3 die Hälfte in die zweite übergegangen ift. Daher habe ich die Teßtere al3 eine völlige Umarbeitung bezeichnet.

Zu einer folchen Beränderung bewog mich zunächſt die Rückſicht auf mein Werk über die „Gejchichte der neuern Philoſophie“. Da hier die Theile, welche Descartes, Spinoza und Leibniz, die Metaphyfifer der vorfantifchen Zeit, um: faffen, in .der zweiten Auflage ungleich ausführlicher be- handelt worden find als in der erjten, jo mußte ich jebt darauf bedacht jein, im Ddiefer erneuten Darjtellung auch Bacon und feine Nachfolger, die den philofophiichen Ent— wicklungsgang defjelben Zeitalter in der entgegengefeßten Richtung bejtimmt Haben, nicht in Rückſtand zu laifen. Es ift mir erwünſcht gewejen und ich bin dafür der Verlags— handlung dankbar, daß nun auch in feiner äußern Form diefes Buch mit jenem größern Werfe, zu dem e3 fachlich gehört, übereinjtimmt.

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Indeſſen war die Umarbeitung nod) durch Beweggründe gefordert, die in dem Thema ſelbſt lagen. Man Hat fi) während der Ietten Jahre in England, Frankreich) und Deutjchland ſehr viel mit Bacon beichäftigt; die jüngfte englijche Gejammtausgabe hat durch das überaus reiche und wohlgeordnete biographiiche Material, das fie bietet, neues Licht über fein Leben verbreitet; die alten Streitfragen über den Werth feiner Perſon und Lehre find eifriger als je wieder angefacht und verhandelt, mit lauter Stimme find beide von der einen Seite unbedingt verherrlicht, von der anderen unbedingt verdammt worden und zwar aus entgegengejegten Gründen. Nachdem ein folder Verfuh, Bacon zu ver- nichten und in der Anerkennung der Welt gleichjam auszu— rotten, zuerſt von einem romanijchen Schriftjteller, den ultramontan Firchlicher Uebereifer benommen Hatte, ausge: gangen war, haben wir neuerdings die Ueberraſchung er: lebt, daß ein deutjcher Naturforjcher von großem Anſehen zum Heil der Naturwiffenschaft für nothwendig fand, eine ähnliche Execution an dem engliſchen Philoſophen vorzu= nehmen, wobei e3 nicht an dem Beifall der Hörigen ge= fehlt Hat. Das erſtemal jollte Bacon büßen für die Sün— den, welche die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts an

der Kirche verjchuldet, das zweitemal für den Unverftand, _

womit fich die engliſchen Landwirthe der heutigen Zeit an der Chemie verfündigen; er ijt dort al3 Haupt der Keker, hier als Typus der Dilettanten verurtheilt worden, beide- mal jo, daß die vermeintliche Schuld zugleich aus der Ver— dorbenheit jeines Charakters erklärt wurde.

Unmöglich dürfen jolche VBorjtellungen von einem Manne, der den Ideengang der neuen Zeit als Führer beftimmt und

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ſeine Wirkungen durch Jahrhunderte erſtreckt hat, das letzte Wort behalten und das unbeſtochene Urtheil der Nach— welt verwirren. Sie beweiſen nur, daß ſich die Vorurtheile noch nicht gelegt haben, die aus einer trüben und un— gründlichen Einſicht wie Nebel emporſteigen, welche den richtigen Anblick des Gegenſtandes hindern und verdunkeln. Sie finden ihre beſte Widerlegung an einer unbefangenen, auch den Mängeln gegenüber unverblendeten Würdigung, gegründet auf eine genaue Kenntniß und Prüfung der Sade. Wenn man Bacon’s Zeitalter und Leben wirklich fennt, jo wird man jeinen Charakter, feine Schuld und Schickſale anders beurtheilen, als durch allerhand mora= liche Phrajen, womit man fich gern bei diefer Gelegenheit gütlich thut. Unfere Zeit iſt nicht glücklich in ihren literarischen Rettungen, die mehr überrajchen wollen, als aufklären; ebenſo wenig gelingt ihr, wie es jcheint, das entgegengejeßte Spiel. Wenn man Die Aufgabe der Erfahrungsphilofophie, die Bacon begründet Hat, richtig fieht, jo wird man unmöglich) eine neue Scholaftif von ihr erwarten; man darf aber aud) nicht fordern, daß ihre Arbeit mit den Unterjuchungen der Naturwifjenschaft im engern Sinne des Worts einfach zu— fammenfällt. Bacon ift faljch beurtheilt, wenn man ihn unter die Frage jtellt: was hat er in der Naturwifjenschaft geleiftet ? Ich antworte mit der Gegenfrage: was haben die Anderen, wie Hobbes, Locke, Hume in der Naturwifjenschaft geleiftet ? Die Erfahrungsphilojophie iſt darauf gerichtet, die Erfahrung und damit die vorftellende und erfennende Menjchennatur zum eigenthümlichen Object ihrer Unter: juhung zu nehmen; das it in Bacon ſehr deutlich ange- fegt und wird mit jedem Schritte deutlicher, den die eng—

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liſche Erfahrungsphiloſophie weiter geht. Dieſer ganze Entwicklungsgang will aus dem Werke Bacon's beurtheilt ſein und die Leiſtung Bacon's aus ihm, denn ſie verhalten ſich, wie Grund und Folge. Ich glaube, daß unter dieſem Geſichtspunkte auch Bacon's hiſtoriſche Stellung ſich der— geſtalt hervorhebt und verdeutlicht, daß ſie nicht mehr, wie Erdmann in ſeinem vortrefflichen „Grundriß der Geſchichte der Philoſophie“ ſie noch ſehen will, im Zwielicht der Zeiten erſcheint, ſondern im Aufgange der neuen Zeit. Sans Geijtesthat ift diefer Aufgang jelbit.

Das iſt alles, was ich al3 Borwort zu jagen Habe Es ſind die Gründe, weshalb ich den Gegenſtand ſo ausführlich behandelt und dieſes Werk in die drei Bücher eingetheilt habe: Bacon's Leben, Lehre, Nachfolger. Der letzte Theil, der in der erſten Auflage das Thema der Schlußabhandlung ausmachte, iſt hier zu einem Buch erweitert worden, das den vorhergehenden nicht blos, wie ich urſprünglich beab— ſichtigte, als Epilog, ſondern als Ergänzung dient, indem es der Begründung der Erfahrungsphilofophie deren Fort— bildung Hinzufügt.

Heidelberg, 1. November 1874.

Kuno Fiſcher.

res Buch. Bacou's Leben, Erftes Kapitel. ichtliche Vorbedingungen

Die engliſche Reformation............................... 24 England unxgr Eliſabeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. .... 8 J ee erraten 26 2. Der geiftige Aufihwung des Zeitalters................ 3

ME ee ea ie 33

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Drittes Kapitel.

Bacon unter Eliſabet

Sechstes Kapitel.

Bacon's öffentliche Laufbahn. Der Weg zur Höhe und zum Sturz 88

Die Parlamente unter Jakob vor 1621 . . . . . . . . . . . . . ........ 88 I. Das erſte Parlament (1604—7) ............ —— 90 2. Das zweite Parlament (1610 -11) .. . . . . . ............ 92 8. Das dritte Barlament (1614J3 96

Derfolgungen. Eole’8 Fall............................. 101

XI

Siebentes Kapitel. zeite

3weifes Bud. Bacon’s Lehre.

Erſtes Kapitel.

iloſo

‚Die Geburt der Zeit". . . . . . ..

4. Nutzen und Wahrheit.

Zweites Kapitel. Die Erfahrung als Weg zur Erfindung ... . . . . . . . . . .. ...... 151 Der Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . .. .... ............... 151 2. DIEBE INGE 151

XII

Die Ausſchließung der Idole —. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... 162 1 Idola Ge ae a ne Ge a a ar DER 3. Idola ee sp ze si ag 162

Drittes Kapitel.

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Fünftes Kapitel.

Die prärogativen Inſtanzen als Hülfsmittel der Erkenntniß . . 211

Sedjstes Kapitel. °

Die baconifche Lehre gegenüber der früheren Philofophie..... 237 Die Entgegenfeßung des Alten und Neuen . . . . . . . . . . . . . .. .. 239

ER RR STEUER RESTE 239 RER WERNDIBBE near an errsarenece 241

De 2. EEE NHERNETR 244

3. Berhältuniß zu Demokrit und zur alten Naturphilojophie.. 262 Siebentes Kapitel.

Das griehifce und römiſche Alterthum. Bacon und Shafjpeare 283

Adıtes Kapitel.

Organon und Enchklopädie

Behntes Kapitel.

Kosmologie, A. Naturphilofophie ... . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ... 327 Die Aufgaben der Naturphiloſophie. .. . . . . . . . ............... 328 1. Theoretiſche und praktiſche . . . . . . . . . . . . . . ... .......... 328

2. Bonfit und eßßß 329

3. Mechanik und natürlihe Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 335

—————— EN 338

XIV

Elſtes Kapitel. Seile

Kosmologie. B. Anthropologie... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

XV

Sunfzehntes Kapitel.

Seite

Die baconiſche Philofophie in ihrem Verhältniß zur Religion . 401

Siebzehntes Kapitel. Bacon und Bayle. Die religiöſe Aufklärung . . . . . . . . . . . . . .. 441

Achtzehntes Kapitel.

Die baconiſche Philoſophie in ihrem Verhältniß zur Geſchichte und Gegenwart. Bacon und Macanlay .... . . ......... 463

Wennzehntes Kapitel.

Drittes Bud).

Bacon's Nadhfolger.

Erftes Kapitel.

XVI

Zweites Kapitel. Der Naturalismus: Thomas Hobbes. A, Das Berhältni

Drittes Kapitel.

B. Das Verhältniß von Staat und Kirde .. . . . . . . . . . . . . . ... SL SE SEO TR ENTER ee 536 1. Die natürliche Religion.................. ..........

2. Die Staatsreli ion oder Kirche .... .................

viertes Kapitel.

Der Senſualismus: John Locke. A. Die Wahrnehmung und beren Objecte. Die Elementarvorjtellungen. .......:.... 545

1. Urſprung der Vorſtellungen.......................... 554

2. Senſation und Reflexion. Die Elementarvorftellungen,.. 557

3. Die primären und fecundären Qualitäten. . . . . . . . . . . ... 560

Fünftes Kapitel. B. Der Verſtand und deſſen Objecte. Die zuſammengeſetzten

6 565 Die Otufen bee —— ea 565 1 DEBDOHTER een een 566

2. Urtheil....... ERTESP TOT ae 568 44} EN ET NEUN RUFNEE RE SARE EN 568 Die zufammengefegten Vorſtellungen . . . . . . . . . . . . . .......... 570 JJ 571

2. Die Suübſanfenn Karten 581

3. Die Relationen... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 583

XVII

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel. D. Die menfhlihe Erfenntniß. Vernunft und Glaube . . . .. 602

3. Slaube und Offenbarung... . . . . . . . . ...... 22

Achtes Kapitel.

Geſammtreſultat der locke'ſchen Lehre und deren Anwendung

auf Wiſſenſchaft, Religion, Staat, Erziehung .......... 626 Das wiffenshaftlihe Gefammtrefultat . . . . . . . . . . . . . . . .. .... 626 1. Eintheilung der Wiſſenſchaften .. . .... ............... 626 2. Wiſſenſchaftliche Aufgaben. Locke und Bacon........... 627 3. Die pſychologiſche Frage. Condillae, Berkeley, Hume ... 628 4. Die metaphyfiiche Frage. Kant und Herbart........... 632 Religionslehre. Gegenfat zwifchen Lode u. Hobbes. Die Aufklärung 634 1. Bernunftmäßigkeit des Chriſtenthums ...... ... ....... 635

2. Grundſatz der Toleranz. Trennung von Kirche und Staat 636

6. Der Anfhauungsunterricht und der pädagogifde Realismus 650 Menntes Lapitel.

1. Die Wahrnehmungsvermögen. Senfation und Reflerion.. 654

2. Die Wahrnehmungsobjecte. Brimäre u. fecundäre Qualitäten 657

DEE DENN 2 ea Mer anne 694 IIND DER ne ea REN 694 1. Berhältniß zu Lode und Malebrande .......- 2.2.0... 694

2. Vorläufer. Norris und Collier ...................... 697

VERSEHEN 2 esta 698

XIX

Zwölftes Kapitel. =

Berkeley's Idealismus Die Grundfrage der Einleitun as a. 102

2. Berfeley’s Nominalismus. Die Unmöglichkeit abftracter Ideen 703

3. Die Geltung allgemeiner Ideen. Die Einzelvorftellungen 705 Die Wirklichkeit der Ideen ................................

1. Chimären und Sinnestäuſchungen. Berleley und Copernikus 718 2. Der Schein des Abſurden

1. Die Erlenntnißobjeete. Die Ordnung der Dinge, das der Welt

Vierzehntes Kapitel.

Hume's Skepticismus. A. Stellung der Probleme .......... 746 Die Borftellungen und deren Ursprung ..................... 746 BSD ONE DNB SS tzereen 746

2. @laube und Sinbilbund 03:5. 7147

3. Senfation und Reflerion. Gedächtniß und Einbildung .. 749 4. De Geſetze der Aſſociation.......................... 750

Sunfzehntes Kapitel.

ume's Skepticismus. B. Löfung der Probleme ...........

Schluß.

Erfahruugsphiloſophie und Glaubensphiloſophie. Hamann und Jacobi 780 Erjahrungsphilofophie und natürliche Erfahrung. Die ſchottiſche

a a a ee 781 Erfahrungsphilofophie und kritiſche “Philofophie. ume und Kant 784

Berihtigungen.

Seite 88 Beile 5 v. o. ftatt: 1162 Ties: 1621 » 319 » 5ov. 1. fl.: von l.: vor » 405 » 6». u. ft: vernünftig l.: unvernünftig

Erxſtes Bud.

Bacon’s Leben.

Fiſcher, Bacon. 1

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Erfies Kapitel. Bacon's geſchichtliche Vorbediugungen.

„Die Wahrheit iſt die Tochter der Zeit“: dieſes baco— nische Wort gilt von jedem philofophiihen Syſtem, welches die Geifter ergriffen, bewegt und der denkenden Weltanfchanung eine geordnete und herrichende Form gegeben hat. Aber nicht jeder Philoſoph ift fich diefer Abhängigkeit fo deutlich bewußt gewejen als Bacon, nicht jede Philofophie trägt diefen ihren zeitgemäßen Charakter jo ausgefprochen und offen an der Stirn als die feinige. Sobald wir ihn hören, find wir belehrt, aus welchen Bedingungen des Zeitalter er jeine Aufgabe ſchöpft, auf welcher Höhe der Zeit feine Philofophie entjpringt, welches Ziel fie ſich fett und in welcher herrſchenden Zeitrichtung fie ihren Lauf nimmt.

Wie diefe Aufgabe in dem gefchichtlichen Gange der Dinge alfmälig heranveift, ſoll in der Kürze, welche die Einleitung fordert, gezeigt werden. Die Entwidlungsgefchichte der Scho— faftit und deren Auflöfung, der Bruch mit der mittelalterlichen PHilofophie und der Uebergang zu einer neuen Weltbildung, die Begründung der letztern durch das Zuſammenwirken refor- matorifcher Kräfte auf allen Gebieten des geiftigen Lebens: das find die Bedingungen, die das Zeitalter Bacon’s Hinter

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fi) Hat und deren nothwendige und zeitgemäße Frucht eben die Aufgabe ift, die er ergreift. Wenn man die leßtere, die jo einfach zu fein und dem menfchlichen Geifte fo nahe zu liegen fcheint, daß er fie mit dem erjten Griff in der Hand hat, als ein gefchichtliches Product betrachtet, als jolches durd- denkt und in ihre Factoren auflöjt, jo wird man finden, daß in der chriſtlichen Cultur der abendländifchen Welt eine lange Reihe von Entwicklungsſtufen zurücgelegt jein wollten, bevor die Philofophie mit völliger Klarheit den Standpunkt einnehmen fonnte, von dem aus Bacon frühzeitig feine Höchfte Lebens— aufgabe ſah. Er wurzelt in dem Zeitalter der Elifabeth, welches fih auf die Reformation gründet, die felbjt auf dem Wege der Renaiffance von dem Mittelalter herkommt. Daher find die Scholaftif, die Renaiffance, die Neformation die gejchicht- lichen Vorbedingungen Bacon’s, defjen gefchichtliches Lebens— element ſelbſt das Zeitalter der Elifabeth ijt.

In dem Entwiclungsgange der Scholaftit gibt es kaum eine Forderung, die nicht in England erfüllt worden wäre, faum einen wichtigen, zur Fortbewegung-der fcholaftijchen Auf- gaben nothwendigen Poften, der nicht hier die bahnbreihende Kraft oder den günftigen Boden gefunden. Um auf der großen geichichtlihen Heerftraße zu Bacon zu gelangen, kann man durch die ganze mittelalterliche Welt faft ohne Abfprung feinen Weg durch England nehmen.

Ich werde diefen langen Weg jett nicht an dem Leitfaden der Gefchichte durchmefen, fondern aus dem Zeitpunfte Ba— con’8 darauf zurückblicken und aus feiner Aufgabe jelbjt, indem id) fie in ihre Elemente auflöfe, die gefchichtlihen Voraus— jegungen erkennen, die ihr von der fcholaftifchen Seite Her geftellt waren.

TR

J. Die Scholaſtik in England.

1. Wilhelm Occam.

Es giebt einen Punkt, in welchem die mittelalterliche und neuere Philofophie, die fcholaftifche und baconifche, fih un— mittelbar berühren, wie es einen andern giebt, worin beide einander völlig widerftreiten. Ic werde zuerft den Berüh— rungspunft hervorheben, in dem die baconifche Yehre wie das einfahe, nothwendige und nächte Ergebniß der fcholaftischen ericheint.

Denn die Scholaftif mußte von fi) aus und in dem folgerichtigen Gange ihres eigenen Geiftes zu der Einſicht fommen, daß e8 eine menſchliche oder natürliche Erfenntniß der Slanbenswahrheiten nicht gebe, daß alle menjchliche Erkennt— niß durd Begriffe ftattfinde, die felbjt nicht real, ſondern bfos mental, nicht Dinge, jondern blos Zeichen oder „Ter— mini“ für die Dinge, daß die Univerfalien nicht real, aljo die Realien nicht univerfell, jondern individuell feien, daß fich demnach der menfchlihen Erfenntniß Feine andern Objecte bieten als die einzelnen Dinge, die finnlichen Erjcheinungen in und außer uns, daher die Erkenntniß ſelbſt nur bejtehen fönne in der Wahrnehmung und Erfahrung. Die Scholaftif mündet in den Sat: „universalia sunt nomina“; fie geftaltet ſich zur nominaliftiichen Denkweife, die das menſchliche Wiſſen vom Glauben trennt, auf die weltlihen Dinge hinweift, auf das Gebiet und den Weg der Erfahrung. In Rückficht der theologifchen Erkenntniß ift diefe Scholaftif ſchon verneinend und feptifch, in Rückſicht der philofophifchen ift fie ſchon em- piriftifch, fie ift beides von Grund aus.

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Diefe nominaliftifche oder terminiftifche Richtung bildet die letzte Entwidlungsform der Scolaftif: das Zeitalter, in dem fie zur entfcheidenden Geltung kommt, ift das 14. Jahrhundert, der Mann, der fie fiegreih eingeführt und gewaltig gemacht hat, ift der Engländer Wilhelm Decam.

2. Dund Scotus.

Der Nominalismus iſt davon durchdrungen, daß Glaube und Wiſſen getrennt werden müſſen, und beweiſt die Noth— wendigkeit dieſer Trennung aus der Natur unſerer Begriffe. Die Trennung iſt doppelſeitig. Sie iſt die Freilaſſung der Philoſophie aus der Botmäßigkeit des Glaubens und damit der erſte nothwendige Schritt zu deren Erneuerung: in dieſem Sinne wird die Trennung angenommen und vollzogen von Seiten der Philoſophie. Dagegen wird von der theologiſchen Seite alles Gewicht gelegt in die Befreiung des Glaubens von den Bedingungen der menſchlichen Erkenntniß, von dem Joch der logiſchen Beweiſe. Die Philoſophie möge ſich verwelt— lichen, der Glaube will ſich entweltlichen, die Kirche ſoll es. Ihm gilt das Reich der göttlichen Dinge, zu welchem die Kirche gehört, als die höchſte und abſolute Wirklichkeit, voll— kommen überſinnlich und übernatürlich, nicht anders als gläu— big erfaßbar. Hier läuft die Grenzlinie. Dieſſeits das menſch— liche Wiſſen mit ſeinem auf die ſinnlichen und natürlichen Dinge beſchränkten Geſichtskreis, jenſeits die unerforſchliche Welt des Glaubens und der Offenbarung.

In dieſem theologiſchen Geiſt der entſchiedenſten Glaubens— bejahung, in dieſem kirchlichen Eifer für die Unabhängigkeit, Unbedingtheit und Reinheit des Glaubens erklärt und begrün— det die Scholaſtik die Abtrennung deſſelben von der Philoſophie.

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Wären die Glaubenswahrheiten erkennbar und demonjtrabel, fo wäre in den göttlichen Dingen eine jeder Wilffür entrückte Nothwendigkeit, alles Auchandersfeinfönnen wäre aufgehoben, der göttlihe Wille handelte nicht frei, nicht unbedingt oder indeterminirt, e8 gäbe dann feine unbefchränfte grundlofe Will- für Gottes, welche nad) der Richtſchnur auguftinifcher Denk— weife der chriftlihe Glaube fordert. Die grundlofe Willkür Gottes und überhaupt die Willensfreiheit gefett: fo folgt die Unbegreiflichfeit der göttlihen Dinge, die Unerkennbarfeit und Uebernatürlichfeit aller Glaubensobjecte, alfo die Nothwendig- feit der Trennung von Glauben und Wiffen, Theologie und Philofophie, das Unvermögen einer Erfenntniß des wahrhaft Wirflihen aus menſchlichen Begriffen, die Unwirklichfeit und blos terminiftifhe Geltung der Tegtern, mit einem Wort die nominaliftifche Denkweiſe. Es ift der fcholaftifche Indetermi- nismus, der dem Nominalismus vorausgeht und Bahn bricht. Einer der ſcharfſinnigſten Köpfe des geſammten theologifchen Mittelalters, der fi den Namen des „Doctor subtilis“ mit Recht verdient hat, legt in den Indeterminismus den Schwer- punkt der Scholaftif: der Lehrer Decam’s, der britifche Fran- ciscanermönd Duns Scotus. Er fteht auf dem Ueber— gange vom 13. ins 14. Jahrhundert und bildet den Endpunft des ariftotelifchen Realismus, der die herrfchende Geiftesrichtung des 13. Yahrhunderts ausmacht.

3. Alerander von Hales.

Das indeterminiftifche Syſtem widerftreitet dem determi- niftifchen und fest daher das Iettere voraus. Hier iſt der bewegende Grund des Gegenfates zwifchen Duns Scotus und Thomas Aquinas. In dem thomiftifchen Syſtem gipfelt die

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kirchliche Scholaftif, die im hierardhifchen Glaubensintereſſe auch die Logische Feſtigkeit des Firchlichen Lehrgebäudes, zu diefem Zwecke die Vereinigung von Glauben und Wiffen, darum die Herrfchaft der dogmatifchen Theologie, den Dienft der Philofophie fordert. Wie die Kirche jenes Zeitalters die Welt nicht ausfchließt, fondern beherrfchen, fich unterordnen und ein- verleiben will, jo foll diefes Verhältnig fi) auch in dem theo- logijch=philofophifchen Zeitbewußtfein abfpiegeln. Die gött- lichen und natürlichen Dinge wollen als eine Ordnung, als ein Ganzes gefaßt, das Neid) der Gnade und das der Natur dergejtalt miteinander verbunden werden, daß die Natur als die Borftufe der Gnade, die natürlichen Ordnungen als die Anlage gleihjam zu den facramentalen, dieſe letz— tern als Ziel und Bollendung jener evjcheinen. Wozu die Menfchheit von Natur angelegt und beftimmt ift, das entfaltet und erfüllt fich als Kirche: dies ift der Grundgedanke, der im Einverftändniß mit der Idee der mittelalterlihen, römiſch— fatholifchen Weltordnung das thomiftifhe Syſtem trägt und durchdringt. Daher muß dieſes Syſtem die Ordnungen des natürlichen, menſchlichen, bürgerlichen und kirchlichen Lebens als durchgängig beftimmt anfehen und die ganze Welt als ein Stufenreih, das nach göttlicher fejtgeordneter Willensricht- Ihnur durch Natur und Staat emporfteigt zur Kirche,

Zur Ausbildung diefes theologischen Determinismus, dieſes ſcholaſtiſchen Naturſyſtems ift, wie man fieht, der Begriff der Entwidlung durchaus nethwendig, wie denfelben die arijto- teliſche Philofophie vorbildfih gemacht, in ihrer Metaphyſik begründet und in den verfchiedenen Zweigen der Erfenntniß durchgeführt hatte. So ift die Scholaftif von einer Aufgabe erfüllt, die an der Hand und gleihjam in der Schule des

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Ariftoteles gelöft jein will, mit Hülfe einer weit umfafjendern Kenntniß feines Syſtems, als das frühere Mittelalter gehabt. Die Vermittler find die arabifchen Philofophen. Von hier aus nimmt das 13. Jahrhundert die Richtung des ariftote- lifchen Realismus, deffen fyftematifche Arbeit mit Albert dem Großen beginnt und in Thomas Aquinas ihren Höhe- punkt erreicht.

Unter den erjten Kennern der arabiſch-ariſtoteliſchen Phi— lofophie, die dem Jahrhundert vorleuchten, ift der englifche sranciscaner Alerander von Hales.

4. Roger Bacon,

Das jcholaftifch-ariftotelifhe Entwicklungsſyſtem, das in Thomas die höchjte Kirchliche Anerkennung gewinnt und big heute die römische Kirchenphilofophie vorftellt, bietet zwei we— jentlihe Angriffspunfte: fein determiniftifcher Charakter wider: ftreitet dem Begriff der grundlofen Willkür Gottes, fein for- maliftiicher Charakter widerjtrebt dem Bedürfniß wirklicher Naturerfenntniß. Iſt einmal das eich der Natur eingeführt in das theologische Syſtem der Kirchenlehre und anerkannt als berechtigt in der Ordnung der Dinge, fo entjtcht hier eine Aufgabe, die Schon innerhalb der Scholaftif den naturwifjen- ihaftlihen Erfenntnißtrieb aufregt und wedt. Wenn in dem göttlihen Weltplan die natürlihen Dinge ihre cigene Stelle haben und in ihrer Weife mitwirken zur Erfüllung des göttlihen Zweds, jo muß doc gefragt werden: worin dieje ihre eigenthümliche Wirfungsweife bejteht? Der Endzwed der Dinge will theologijch erfannt werden, ihre Wirkungsart phy- jifalifh. Die theologifche Einfiht gründet fih auf Offen: barung, die phyfifalifche auf Entdeckung. Der naturwiſſen—

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ſchaftliche Geift, der in der ariftotelifchen Lehre lebt und die arabijchen Philofophen angezogen hat, fängt an, wie vereinzelt es immer iſt, fih in der Scolaftif des 13. Jahrhunderts zu rühren und im Widerftreit mit den theologifhen Auto- ritäten des Zeitalter und dem fcholaftifhen Formalismus das Erfenntnißbedürfniß auf die concreten Wiffenfchaften, auf Kennt: niß der Spraden, Erforfhung der Naturgefeke, phyſikaliſche Experimente zu richten. Es ift die erfte mächtige Regung des Realismus im Sinne der neuern Zeit. Der englifhe Fran- ciscanermönd Roger Bacon ift von diefem Zuge erfaßt und giebt in feinem „Opus majus“ davon ein merfwürdiges und in feiner Art einziges Zeugnif. Er möchte zum Heil der Kirche und zum Beften der Theologie der Scholaftil vermöge naturwifjenfchaftliher Erfenntniß einen neuen philofophifchen Geiſt einflößen im entfchiedenen Gegenſatz zu dem herrfchen- den Geift. Die großen Theologen feines Zeitalters erklärt er für falfche Philofophen; ihm gelten Ariftoteles, Aoicenna und Averroes mehr als Alerander, Albertus und Thomas.

Zwei einander entgegengefegte Mächte widerftreiten dem thomiftifchen Syſtem: die grundlofe Willfür Gottes und das Naturgefeg der Dinge. Auf jene beruft fi) Duns Scotus, auf diefes Roger Bacon. Von Scotus führt der Weg durch die Trennung von Glauben und Wiffen zum Nominalismus Decam’s, zur Verweltlihung der Philofophie; Roger Bacon erfcheint, al8 ob von ihm aus geradenwegs in wenigen Schritten die Schwelle der neuern Philofophie zu erreichen wäre, als ob er der unmittelbare Vorläufer von Francis Bacon hätte fein können; fein „Opus majus“ erjcheint wie ein Weg- weifer zur „Instauratio magna“. So iſt e8 nidt. Duns Scotus war die reife Frucht feines Zeitalters, Roger Bacon

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eine unreife, die feinen fortwirkenden Samen trug. In ihm mifchte fich genialer Wiffensdrang mit abentenerlicher Neuerungs- fuht, und der Blid auf die Probleme trübte fi durch den prahlerifchen Affect, fie gelöft zu haben. Bacon Tannte diefen feinen merkwürdigen Namensgenoffen mehr aus dem Ruf als den Werken deffelben, er ſah in ihm den Typus eines erfin- dungsluftigen, aber noch im Dunkel tappenden Geiftes und citirte in feiner „historia vitae et mortis“ mit ungläubiger Miene ein paar Fälle aus Roger Bacon’s Abhandlung „von der bewunderungswürdigen Macht der Kunft und Natur‘, viel: feicht die einzige Schrift jenes Mönche, die Bacon gekannt Hat. Das Hauptwerk war im Zeitalter unfers Philofophen noch nicht veröffentliht. Man hat die Lehren beider über die Hinder- niffe der menſchlichen Erfenntniß miteinander verglichen und ohne Grund gemeint, daß das „Opus majus“ mit feinen bier „offendicula“ der Erfenntniß dem ‚Novum Organon“ bei der Lehre von den vier „idola“ zum Vorbilde gedient habe.

5. Erigena und Anfelmus,

Bliden wir zurüd bis in die erften Zeiten der Scholaftif, deren Grundaufgabe war, die hriftlihen Glaubenswahrheiten zu beweifen, einleuchtend und verftändlich, lehr- und lernbar, mit einem Worte jchulgerecht zu machen. Auf dem Scauplak einer neuen aus dem Chaos der Völkerwanderung hervorge- gangenen Welt, deren Erziehung und Bildung zunächſt ganz in ber Hand der Kirche lag, war diefe Aufgabe nothwendig, zeitgemäß und durchaus praktiſch. Die Philojophie praktiſch verwerthen, heißt in jener Zeit, fie der Kirche dienftbar, durch fie die Kirchen: fehre ſchulgerecht machen. Zur correcten Löſung diefer Aufgabe ift die dogmatifche und Logische Richtſchnur vorgezeichnet. Die

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Slaubenswahrheiten wie die Kirche ſelbſt beanfpruchen die höchfte und alleinige Realität. Wäre die Menfchheit nur in den einzelnen Menfchen wirklih, jo wäre der Glaubensjat von dem Falle der Menfchheit in Adam, von der Erlöfung der Menfchheit in Chrijtus, fo wären dieſe beiden kirchlichen Gardinallehren von der Erbfünde und Erlöfung nichtig. Wäre die Geltung der Kirche abhängig und bedingt von dem Willen der Einzelnen, fo wäre fie nicht das Reich der Gnade, was fie im Glauben jener Zeit ift und fein foll. Daher ijt es im Urfprung und im erjten Berlauf der Scholaftif nicht blos eine logiſche Ueberlieferung, fondern eine praftifch gültige und religiös motivirte Weberzeugung, ohne welche die Kirche ihre eigene Realität nicht verificiren Fan: daß die Gattungen oder Univerfalien an und für ſich wirklic find, unabhängig von den einzelnen Dingen. „‚Universalia sunt realia, universalia ante rem“: diefer platonifche Realismus durchdringt die Denf- weife der erjten fcholaftifchen Zeitalter und herrſcht auf der Höhe des 12. Jahrhunderts.

Zwei Anfänge, zwifchen denen ein trübes und barbarifch verwildertes Zeitalter, das 10. Jahrhundert, Tiegt, Hat die Scholaſtik zur platonifchen Begründung der Kirchenlehre gemacht, das erjte mal im Widerftreit mit der Kirchenlehre und darum er- folglos und unpraktifch, das zweite mal im Einflange und darum fiegreih: im 9. Jahrhundert in der FTarolingifchen Welt duch den Briten Johannes Scotus Erigena, dann im Zeitalter Gregor's VII. durch einen Italiener von Geburt, der zum erjten Kirchenfürften Englands emporgeftiegen war, den Erzbifhof Anfelm von Canterbury.

Bon hier aus nimmt die Scholaftik ihren ununterbrochenen Entwidlungsgang und nähert fich in den Theologen Franf-

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reihs, eine Neihe von Zwiſchen- und Uebergangsformen ausbildend, dem ariftotelifhen Realismus des 13. Yahr- hunderts.

6. Robertus Pullus. Johannes von Salisbury.

Indeſſen bedarf die Scholaſtik, um nicht in einem Be— griffsformalismus zu veröden, des praftifchen und religiöfen Gegengewichts, gejchöpft aus den realen Intereffen des Firch- lihen und den frommen Bedürfniffen des veligiöfen Lebens. Es giebt außerdem noch ein ſehr nügliches Gefchäft, wodurch der logijch gejchulte Geift eine lehrhafte und praftifche Anwen- dung findet, ich meine die Anwendung bdeffelben auf das ge- ſammte Material des Firchlichen und theologifchen Wiffens, das nur dadurch bemeiftert werden kann, daß e8 geordnet, über- jichtlich gemacht, ſummariſch zufammengefaßt wird.

Das religiöje Gegengewicht gegen die fcholaftifche Gelehr- jamfeit ift die Myſtik; das praftifche gegen den fcholaftifchen Formalismus ijt das reale Leben der Kirche, ihre Bolitif, Machtjtellung und Herrichaft, ihre alljeitige, der Erfahrung und den Öffentlichen Interejfen zugewendete, nicht blos ſchul— gerechte, jondern praftifche und concrete Weltbildung. Die ordnende Bewältigung des kirchlichen und theologischen Lehr— inhalts, die Herftellung folcher fcholaftifcher Organa ift das Gefhäft der Summijten.

An der Myſtik des Mittelalters nimmt England feinen Antheil, aber nicht in erjter Reihe. Dagegen fteht an der Spite der Summiften der Engländer Robertus Pullus, und auf eine einzige Art verkörpert fich der Geift der praf- tiſch-kirchlichen Interefien gegenüber dem fcholaftiichen Forma— lismus in dem Engländer Johannes von Salisbury, der

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von allen Seiten her das praftifche Moment gegen das blos doctrinäre hervorhebt: die realen Wiffenfchaften gegen die blos formalen, das Duadrivium gegenüber dem Trivium, die Rhe— torif gegenüber der Logik, Cicero gegen Boẽthius, die arijto- telifche Logik und Analytik gegen die dürftige, auf den engſten und unergiebigften Theil des Organon eingefchränfte Logijche Bildung des bisherigen Mittelalters; er betont die thätige Re— ligiofität und die Weltintereffen der Kirche gegen eine unfrucht- bare, in leere Spitfindigfeiten und Wortgefechte entartete Schulgelehrſamkeit. Was die Scholaftif, kirchlich gebunden wie fie war, von praktiſcher Denkweiſe entfalten fonnte, iſt von diefem Kopfe umfaßt nnd zur Geltung gebracht worden. Er befümpft die Schule aus dem Standpunft des Lebens.

Es find fieben Jahrhunderte von Erigena zu Bacon. Man fann in der britifchen Welt den Fortfchritt der jcholaftifchen Entwidlungsformen bis zu dem Punkte verfolgen, wo die Philofophie aus dem Kreife und der Herrichaft der Firchlichen Theologie heraustritt und ihrer eigenen Erneuerung zuftrebt. Dabei läßt fich bemerken, wie aud in der Scolaftif überall der praftifche und zeitgemäße Charakter fih in England her- vorthut und zur Geltung bringt: Anjelmus von Canterbury der erjte kirchlich correcte Begründer der fcholaftifhen Theo— logie, Robertus Bullus der erfte Summijt, Johannes von Salisbury der erjte und in feiner Art einzige Repräfentant praftifchefcholaftifcher Weltbildung, Alerander von Hales unter den erften Kennern der arabifch-ariftotelifchen Philofophie, Roger Bacon der erfte fcholaftifche Naturphilofopg, Duns Scotus der erfte ſcholaſtiſche Indeterminift und Individualift, endlich Wilhelm Decam der fiegreihe Erneuerer, „venerabilis inceptor” der nominaliftifchen Richtung.

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II. Die Begründung der neuen Beit. 1. Die Renaifjance,

Der Weg von Decam zu Bacon mißt drei Jahrhunderte, Die Philofophie, freigelaffen von Seiten der Scholaftif, muß fi) aus eigener Kraft und eigenem Vermögen erneuen; diefes Bermögen, gleihjam das Kapital, aus dem fie ſchöpft, ift zu erwerben, die Grundlagen find erſt zu fchaffen, auf denen fie feſtſteht. Eine neue Weltanfhauung muß ſich heranbilden, welche die Erfenntnigaufgaben und damit den Stoff zur einer neuen Philofophie liefert, und zu der fi) die letztere ähn— lic) verhält, als die Scholaftik zur Kirchenlehre. Daher Liegen zwifchen dem Nominalismus fcholaftisch-theologifchen Urfprungs und dem Empirismus neuphilofophifcher Art eine Reihe ver- mittelnder Aufgaben und Uebergangsitufen, deren Entwicklung die Arbeit des 15. und 16. Iahrhunderts ausmacht.

Die erfte Bedingung ift, daß die Philofophie des Alter- thums, insbejondere die des Platon und Ariftoteles, von dem Dienjte der Scholaftif befreit und wiederhergeftellt fein wollen in ihrer eigenen echten Geftalt. Im der platonifchen Akademie von Florenz, in der ariftotelifhen Schule von Badıra entfaltet fi) diefer Reinigungsproceß, der das antike und fcholaftifche Element auseinanderfegt. In Petrus Pomponatius Tiegt die Differenz Har am Tage zwifchen dem Geifte der ariftotelifchen und dem der fcholaftifchen Lehre. Das wiedererwedte philo- ſophiſche Bedürfniß der Welt erfcheint zunächft als der wieder- erneuerte Glaube an die alten Philofophen, namentlich an

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Platon und die Neuplatonifer; von diefem Glauben joll das Heil der Religion und Philofophie und ein neuer Bund beider ausgehen. Unter dem Einfluß des Gemiftus Plethon erhebt jih in Florenz, gepflegt durch die Mediceer, eine Art plato- nifcher Neligion, die in Marfilius Ficinus das Chriftenthum durch platonifchen Geift wieder verjüngen will, die fid) in Pico mit der jüdifchen Kabbala verbindet und zur Theofophie ge- jtaftet, welche lettere Neuchlin, den Erneuerer hebräifcher Sprad)- forfhung, ergreift und zu jeiner Fühnen und folgenreichen Ver— theidigung der Tabbaliftifchen Literatur gegen die Dunfelmänner antreibt, weiter die natürliche Magie aus fi) hervorgehen läßt, die in Agrippa von Nettesheim und Paracelfus die Rid)- tung auf die Naturphilofophie einfchlägt.

Die Wiederherftellung der antiken Philofophie iſt einer der eriten und wichtigjten Beftandtheile einer größern Auf- gabe: der Wiederheritellung überhaupt der Alterthumswiſſenſchaft, der Renaiffance, die das Studium der alten Spraden, Ge- ihichte und Kunft in die Zeitbildung einführt. Damit erweitert fi) der Hiftorifche Gefichtsfreis der Welt und dehnt ſich aus, fo weit Forſchung und Kritif überhaupt reichen fünnen. Es eröffnet fid) die Ausfiht in eine unbegrenzte Reihe wiffen- Ichaftliher Aufgaben, in eine Geiftesarbeit, die Jahrhunderte fordert.

2. Die antinriftoteliihe Nihtung. Petrus Ramus.

Aber die Wiederbelebung der alten Philofophie ift nicht der Anfang, fondern nur die Vorſchule der neuen. Diefe ſoll aus eigener Kraft erwachjen und groß werden und darf ſich daher nicht gängeln laſſen an dem Xeitfaden einer philofophi- fchen Ueberlieferung. Deshalb ift eine zweite Bedingung, die

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vor dem Eintritt der neuen Philofophie erfüllt werden muß: daß nicht blos Ariftoteles von der Scholaftif, fondern die gei- jtige in ihrer Umbildung begriffene Welt auch von der Herr- ſchaft des Ariftoteles befreit wird; fie will felbft ihre Richt— ſchnur finden und ihre Logik nicht aus fremder VBorfchrift, fon- dern aus dem naturgemäßen Gange des eigenen Denkens und aus dejjen Beobachtung ſchöpfen. Daher wirft fie die arijto- teliſche Logik und mit ihr die ariftotelifche Philofophie ab, wie man ein Zoch abwirft, nicht mit veifer umd überlegener Einfiht, fondern Leidenfchaftlich empört über das getragene Jod. Diefer antiariftotelifche Geift verkörpert ſich in feinem leidenjchaftlicher und jtürmifcher als in dem Franzoſen Petrus Ramus (Pierre de la Ramee), der unter den Opfern der Bar- tholomäusnacht fiel, und deffen Nichtung nicht ohne Eiufluß blieb auf die baconifchen Entwürfe einer neuen Logik.

3. Die ffeptifhe Richtung. Montaigne.

Es Tiegt in der Natur einer Uebergangszeit, daß die Rich— tungen, in denen eine neue Philofophie fejte Geftalt annehmen und gleihfam Fryjtallifiren wird, noch nicht maßgebend und herrfchend hervortreten. Der alte Glaube ift erfchüttert und hat von fich aus die Erkenntniß aufgegeben, die philofophifchen Syſteme des Alterthums find überliefert und wiederbelebt, aber feines davon entjpricht den wiljenjchaftlichen Bedürfniffen einer neuen Weltbildung; die philoſophiſchen Anfichten befämpfen fi) gegenfeitig, ebenfo die veligiöjen, ebenfo beide unterein- ander. Unter diefen Bedingungen bleibt der philofophifchen Betrachtung Fein anderer unbefangener Standpunkt übrig als die Sfepfis, die in diefen Wirrwarr menſchlicher Gedanken

und Meinungen ruhig und Har Hineinblict, die Fiſcher, Bacon.

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und Unficherheit der menfchlichen Vorftellungen durchſchaut, die Verfchtedenheiten und Schwankungen menfchlicher Zuftände in diefem Lichte erkennt und fchildert, daraus den Schluß zieht, daß es eine abfolute Gewißheit nicht gebe, daß nichts thörichter und Schlimmer fei als die Einbildung des Wiffens, daß mitten in diefer allgemeinen Unficherheit menfchlicher Meinungen zulett nichts ficherer fei, al8 worin die Menfchen am meijten überein- ftimmen: die Natur und die Sinne. Dieſe Borftellungsart hat in dem Franzoſen Montaigne und deſſen „Essais“ ihren zeitgemäßen und charakteriftifchen Ausdrud gefunden. Die Schrift erfchien in der Jugendzeit Bacon’s (1577). Zwanzig Jahre fpäter veröffentlichte diefer die Anfänge feiner „Essays, das erjte Werk diefer Art in englifcher Sprade, das unter jeinen Händen wuchs und ihm eirien Titerarifchen Auf ein- brachte, der jeinem philofophifchen voranging. Er hatte Mon- taigne's Beifpiel vor fich, al8 er feine „Essays“ jchrieb.

4, Die italienifhe Naturphilofophie,

Die antifcholaftifche, antiariftotelifche, ffeptifche Richtung find unter den Vorbedingungen der neuen Philofophie die nega- tiven Factoren, fie jchaffen Luft und Raum für das neue Ge- bäude, aber legen nicht feine Grundlagen. Die Wiederher- jtellung der Alterthumskunde, die Nenaiffance im weiteften Sinn, ift ein pofitiver grundlegender Factor, fie eröffnet neue Erfenntnißaufgaben und neue Erfenntnißquellen.

Unmöglich Konnte der philofophifche Geift des Alterthums wiederbelebt werden, ohne daß mit ihm zugleich die Aufgabe und der Durft nad) fpeculativer Naturerfenntniß erwachte. Diefer Urtrieb des philofophifchen Alterthums bemächtigt fich jeßt der chriftlichen in ihrer geiftigen Erneuerung und Umbildung

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begriffenen Welt. Dahin drängt von ſelbſt die Philofophie nad) ihrem Austritt aus der Scholaftit. Wenn fie aufhören will und foll, fcholaftiich und theologifch zu fein, was Tann fie anders werden als kosmologiſch und naturphilofophifch? Man fühlt fi) dem Geifte des Alterthums verwandt und will aus congenialem Streben, aus der Originalität des eigenen Zeitalters, mit jelbjtthätiger fpeculativer Kraft die Erkenntniß der Natur erneuen. Dieſe Philoſophie „de rerum natura juxta propria principia“ iſt eine Frucht der Wiederbele— bung des Alterthums und entfaltet ſich im Laufe des 16. Jahrhunderts in Italien, dem Vaterlande der Renaiſſance; die italieniſche Naturphiloſophie bildet in der Entwicklungs— reihe jener Uebergangsſtufeu, die von der Grenze des Mittel— alters bis an die Schwelle der neuen Philoſophie führen, das letzte Glied. Einer ihrer Gründer war Teleſius, einer ihrer legten Vertreter, zugleich ihr kühnſter und genialſter Charakter, der für feine Sache heroijch den Märtyrertod duldete, war Giordano Bruno. Auf feinen europätfchen Irrfahrten, ver: folgt von dem Glaubenshaß feiner Feinde, fand er für fi und feine Werfe für einige Zeit eine Zuflucht in England; er lebte und Tehrte in London, als Bacon in Gray’s Inn eben feine Rechtsſtudien vollendet hatte.

Bacon erkannte zwifchen der alten und italienischen Natur- philofophie, zwiſchen PBarmenides und Demofritos auf der einen und Telefius auf der andern Seite eine Berwandticaft, die ihm Vergleihungspunfte mit der eigenen Lehre darbot.

5. Die tramdatlantifhen und aflronomishen Entdeckungen.

Die Renaiffance erweitert den Hiftorifchen Gefichtsfreis über die gefammte Menfchheit, über den Entwidlungsgang 2%

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der ganzen menschlichen Cultur. Diefer Horizont ift nicht mit einem male erhellt, aber e8 giebt feine von außen gebotene Grenze mehr, die ihn einfchränft. Unter den gewaltigen Trieb— federn, die aus der Wiedergeburt des Altertfums erwaden, lenkt die menschliche Geiftesbildung in die freie humaniſtiſche Richtung. Das „regnum hominis“ tritt an die Stelle der „eivitas Dei“. Das Neid) des Menſchen ift die Erde. Schon hatte der geographiiche Gefichtsfreis in der Kenntniß der alten Welt feine Erweiterung begonnen durd) die Kreuzzüge und fort- gefegt durch die Entdedungsreifen der Italiener Marco Polo und Nicolas Conti im öftlichen Afien; jest mußte er ausge- dehnt werden über die gefammte Erdfugel. Die Säulen des Hercules werden beſiegt. Die transatlantiihen Seefahrten eröffnen die neue Welt, die jpanifch-portugiefifchen Entdedungs- und Groberungszüge, begonnen und bedingt durch die That des Columbus, bejchreiben eine fortichreitende Reihe folgen- reiher Aufgaben und Löfungen: die Auffindung des Landes im Weiten, die Entdedung, daß es ein Continent für fich ift, jenfeit dejjen das ftille Weltmeer, die Umfegelung Afrikas, die ſüdliche Umſegelung Amerifas, die Entdeckung der Süd— jee, die erjte Weltumfegelung, die Entdedungen und Crobe- rungen im Innern Amerikas, der Länder Brafilien, Mexico, Peru. Alfe diefe Erfolge im Laufe weniger Jahrzehnte: die Thaten des Columbus, Balboa, Basco da Gama, Magellan, Cabral, Gortez, Pizarro! Welche ungeheure Erweiterung des menfchlichen Gefichtsfreifes, welche unermeßlihen Ausfichten für die Wiffenfchaft, den Unternehmungsgeift, die Eultur! Der nächſte große und folgenreichite Fortfchritt auf diefem Gebiet ift die Eröffnung Nordamerifas zur Gründung einer neuen

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enropäifchen Colonialwelt. Hier gefchieht die epochemachende That durch Engländer im Zeitalter Bacon’s.

Die Menfchheit auf der Erde in ihrer weltgefchichtlichen Entwicklung war das erjte und nächte Object: die Renaiffance öffnet die Perfpective in ein unermeßliches Reich Hiftorifcher Forſchung. Die Erde felbjt als Wohnhaus der Menfchheit war das zweite: die transatlantiihen Entdedungen entfalten die Ausfiht in ein unermeßliches Gebiet geographifcher, natur- wifjenfchaftlicher, ethnographifcher Aufgaben. Was übrig bleibt, ift die Erde als Weltförper, die Erde im Univerfum, als Planet unter Planeten, nicht mehr im Mittelpunfte der Welt, nicht mehr umgeben von begrenzten Kugelgewölben, fondern Glied eines Sonnenfyftens, welches jelbjt Glied ift des uner- meßlihen Weltalls. Die Umbildung der Fosmographifchen Borftellungsweife gefchieht durch die Entdeckung des Kopernicus, die felbjt wieder eine unendliche Fülle neuer Aufgaben in fich trägt, deren erfte und grundlegende gelöjt werden durch Gali- lei, Kepler und Newton. Diefer ift Bacon’s Landsmann, jene find feine Zeitgenoffen. In den Jahren, wo er in feiner öffentlichen Yaufbahn fchnell emporfteigt vom Generalfiscal zum Siegelbewahrer und Großkanzler von England, entdeckt Kepler feine Gefete (160918) und Galilei die Satelliten des Jupiter (1611).

Wohin man blickt, es giebt für das Reich des Menfchen nirgends mehr ein neultra. Als Bacon fein „Neues Organon“ herausgab, nahm er zum Sinnbild diefes Werkes ein Schiff das über die Säulen hinausfegelt. Er fah, daß der Gefichts- freis der Menfchheit weit geworden und der Hdeenfreis der PBhilofophie eng geblieben und der Erweiterung von Grund aus bedürfe. Das war die Aufgabe, die ihn trieb.

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6. Die kirchliche Reformation,

Die neue Weltanfhauung, die im Yaufe eines Jahrhun- derts, von der Mitte des 15. bis in die Mitte des 16. zur vollen Entfaltung kommt, widerftreitet in allen Punkten der mittelalter- lihen und hebt die letere aus ihren Angeln. Hier gilt die Erde als Mittelpunkt der Welt, Rom als Centrum der Kirche, diefe als Erzieherin der Menfchheit, als das Neid) Gottes auf Erden, als das Band der Gemeinſchaft zwifchen Gott und Menſch. Ein durchgängiger und gründlicher Widerſtreit entzweit die religiöfe Weltanfiht des Mittelalters und die Anſchauungsweiſe der neuen Zeit, die dem Zuge der Huma- niften, des Columbus und Kopernicus folgt.

Unmöglih fann der Glaube in feiner bisherigen Firdh- (ihen Verfaſſung beharren, während ſich die Anſicht von den menfchlihen und natürlihen Dingen in allen entjcheidenden Punkten jo von Grund aus geändert hat. Er bedarf der durd)- greifenden Reform nad) innen und außen, der veligiöjfen Ver: tiefung und der kirchlichen Neugeftaltung; er hat innerhalb der Kirche jene fhon in der Myſtik, diefe in den großen refor: matorifchen Kirchenverfammlungen des 15. Jahrhunderts er- jtrebt, aber gegen die Politit und Macht der Päpfte am Ende nichts ausgerichtet. Das 16. Jahrhundert bringt die Glaubens: und Kirchenreform im Kampf mit der römischen Kirche, im Gegenfag zur hierarchiſchen Machtvolllommenheit, im Bruch mit dem Papftthum. Unter den epochemachenden Bedingungen, welche die geiftige Welterneuerung herbeiführen und entjcheiden, ift die Firchliche Reformatton die tieffte und wichtigfte: die tieffte, weil fie an den innerften Menfchen die

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ernenende Hand legt, die wichtigfte, weil fie am weiteften in das Volfsleben felbft eindringt bis in die unterften Schichten.

Aus welhem Gefihtspunfte man auch die Reformation des 16. Jahrhunderts beleuchtet, jo erfcheint der Weg, den fie nimmt, als nothwendig vorgezeichnet durch den Gang der Dinge Blickt man zurüd auf die fetten Entwiclungsformen der Schholaftif, jo wird fchon in Duns Scotus und Occam die Reinigung und Entweltlihung der Kirche gefordert, fie wird gefordert im Glauben an die Kirche und in der Abficht auf deren Erhöhung. Damit ftimmt die fpirituale Richtung der Franciscaner, die religiöfe der Myſtiker. Der Verlauf der reformatorifchen Concile und Gegenconcile hat gezeigt, daß die Kirchenverbefferung nur durchzuführen ift auf antipapifti- fchem Wege. Bedenkt man den Gegenfat, der mit jedem Schritte eine größere Kluft aufthut zwifchen der römischen Kirhe und jenen Entdefungen, die eine völlig neue Weltan- fchaunng begründen, jo bleibt dem Glauben, dem es ernftlich um die Sadhe der religiöfen Wahrheit zu thun ift, fein anderer Weg und feine andere Rettung übrig, als die bisherigen kirch— Lihen Formen abzuwerfen, die Lebensfrage der Religion von der Machtfrage der Kirche zu trennen, in die Quelle und in den innerften Grund der Religion felbjt zurüdzufehren, das menfchlihe Seelenheil kraft innerer Wiedergeburt zu feinem alleinigen Ziele zu nehmen und in diefem Sinne fi an der Hand der riftlihen Glaubensurfunden zu erneuen.

Dweites Kapitel, Das Zeitalter Elijabeth's.

I. Die englifche Reformation.

Die Reformation hatte fi in Deutfchland unter Luther’s Führung erhoben und in ihrer weitern Entwidlung in Die beiden Formen des Iutherifchen und veformirten Belenntnifjes getheilt, welches Letstere felbft wieder in die Richtungen Zwingli's und Galvin’s anseinanderging; fie verbreitete fich über Deutſch— land und die jfandinavifchen Länder, über die Schweiz, Frank: reich, die Niederlande und England und wuchs in unaufhalt- ſamem Fortfchritt zu der Bedeutung einer europäifchen Geijtes- macht, deren Aufgabe es war, ſich gegenüber der Katholischen Kirche die religiöfe und politifche Geltung zu erfämpfen. In einem einzigen Lande gelangte der Proteftantismus zu einer gebieterifchen und uniformen Machtftellung, nicht blos zur Berechtigung, fondern zur nationalen und kirchlichen Herrichaft: in England. Big zu diefem Höhepunkte durchläuft die Entwick— lung, in deren geſchichtlichem Hintergrunde wir die Kämpfe der englifhen Könige mit den Päpften und die veformatorijche Geſtalt Wichiffe’s nicht überfehen dürfen, drei Abſchnitte.

Der erfte Schritt ift die Roslöfung der englifchen Kirche

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von Nom: die That Heinrich's VIII, dem Thomas Cromwell zur Seite fteht. Um feine eigene Ehe nach Gefallen Töfen und binden zu Können, aus Leidenschaft für eine ſchöne Frau macht ſich der dogmatifche Gegner Luther's, der „defensor fidei”, zum kirchlichen Autofraten (1531). Die englifche Kirche ändert zunächſt nicht ihren Glauben, fondern nur ihren Herrn, fie wird unter der. königlichen Suprematie und durch diefelbe zur Nationalkirche, antipapiftifch und zugleich) antihäretifch; fie bleibt in ihren Glaubensartifeln der Hauptfache nad) Fatholifch, denn noch gelten Gölibat, Seelenmeffe, Ohrenbeichte, Brod- verwandlung u. f. f. Unter dem folgenden Könige Eduard VI. gefchieht der zweite Schritt, die Fatholifchen Glaubensartifel werden aufgehoben und an ihre Stelle neue gejett, welche Dogma und Gultus veformiren; die engliihe Nationalkirche wird proteftantifch: das Werk des Erzbiſchofs Cranmer. Unter Eduard's Schweiter, der Fatholifhen Marie, folgt der Rück— ſchlag, der Verſuch einer blutigen. Wiederherftellung des Ka- tholicismus: der Föniglihe Supremat wird aufgehoben, die fatholiihe Abendmahlsiehre und der Gölibat wieder einge- führt, die Proteftanten werden verfolgt, viele hingerichtet, darunter Granmer, der aus eigener Neigung nit zum Mär: tyrer gemadht war. Der dritte und letzte Schritt, der den firdlihen Charakter Englands entjcheidet, iſt die Wiederher- jtellung der Reformation, ‚die Vereinigung ihrer beiden Fac- toren, des nationalen und protejtantifchen, der politifchen Kirchenreform unter Heinrich VIII. und der dogmatifchen unter Eduard VI.: die Gründung der englifhen Staats- und Hoch— firhe unter Elifabeth, der Schweiter der blutigen Marie, der Tochter Heinrich's und jener Anna Boleyn, um derentwillen der König fi) zum Oberhaupte der Kirche gemadt. Die

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königliche Kirchengewalt wird wieder eingeführt, der Supremat- eid von jedem öffentlichen Staatsbeamten gefordert, die Glau— bensnormen in neununddreißig Artikeln fejtgeftellt und durch Parlamentsbefchluß zu ftaatsrechtlicher Geltung erhoben. Die englifche Nationalfirche fteht jetzt aufgeridhtet und feitbegrün- det da; ihre Gegner find von der Fatholifchen Seite die Pa- piften, von der proteftantifchen die Diffenters oder Noncon- formiften, woraus die Puritaner und fpäter die Independenten hervorgehen, die revolutionären Gegner des Königthums und der biſchöflichen Kirche.

II. England unter Elifabeth. 1. Eliſabeth's Politik,

Die nächſten Gefahren drohen von papijtifcher Seite, Die katholiſchen Intereffen richten fich gegen die neue Drdnung der Dinge, geftügt auf gewichtige, der Königin und dem Neiche bedrohliche Bundesgenofjen: von außen auf eine fatholifche, zur Niederwerfung der Proteftanten und zur Eroberung Eng- lands bereite Weltmadht, im Innern auf eine Fatholifche, zu Sonfpirationen geneigte Partei, auf ein grundfatholifches, zur Empörung geftimmtes Land, auf eine legitime Prätendent- haft. Die feindliche Weltmacht it Spanien unter Philipp II., daneben Frankreich unter der Herrfchaft der Guifen; die innere Gefahr kommt von Irland, dem Namen nad englifche Pro- vinz, großentheil® noch unter erblichen Stammeshäuptern, in feiner Gefinnung völlig Fatholifch*); die legitime Trägerin des

*) Die Borkämpfer der katholiſch-iriſchen Intereffen find die alten Fürften von Ulfter, die O'Neals, feit Heinrich VIII. Grafen von Tyrone.

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Erbrehts auf die englifhe Krone ift die vertriebene Königin von Schottland.*) Eliſabeth ftammt nach Firchenrechtlicher Geltung und Anjchauungsweife aus einer ungültigen Che, fie ift nicht die Erbin Heinrich's VIIL., fondern ein Baſtard, fie ift Königin kraft jenes Rechts, womit Heinrid) VIII. als kirch— licher Autofrat feine erfte Ehe gefchieden, die zweite gejchloffen hat, alfo Fraft deffelben Rechts, das mit dem Machtſpruch der Föniglichen Gewalt die englifhe Staatskirche gegründet. Die echte Erbin ift die papiftifche Königin, für welche die fa- tholifhen Mächte offen und geheim agitiren, Philipp II. feine Waffen, die Verfhmwörer in England ihre Dolche gegen Eli— fabeth richten. Zehn Jahre nad) deren Thronbefteigung erjcheint Maria Stuart in England (1568), verjagt und flüchtig, mit einer Blutſchuld beladen, erſt der Gaft, bald die Gefangene, zulegt das Dpfer der Elifabeth.

Nie ift die Sache eines Königs fo folidarifd) und per- ſönlich eins gewefen mit einer nationalen und weltgefchicht- fihen Sade, als in der Stellung, die Elifabeth einnimmt. Die Legitimität ihres Urfprungs und ihrer Krone fteht und fällt mit dem Protejtantismus, beide find nichtig, wenn fie nad der Fatholifh gültigen Rechtsanfhauung gewürdigt wer— den; fie kämpft für ihre Perfon und ihre Krone, indem fie den Proteftantismus in England feit begründet, unerfchütter- Der Entel des erften Grafen fteht an der Spige einer Empörung gegen Elifabeth, wovon fpäter die Nede fein wird.

*) Die Großmutter der Maria Stuart war Margarethe Tudor, die ältere Schwefter Heinrich's VIIL.; ihre Mutter war die Schwefter der Guifen, ihr erfter Gemahl Franz II. von Frankreich; der zweite ihr Vetter Darnley, aud) ein Enkel jener Margarethe Tudor, der Gemahlin Jacob's IV, von Schottland, deren Nachkommen aus dem jchottifchen

Königshaufe nad) den unmittelbaren Erben Heinrich’8 VIII. die nächſten Anſprüche auf die englifhe Thronfolge haben.

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(ich aufrecht erhält, in Europa vertheidigt. Religion und Po— fitif, Königin und Reich find hier nicht zu trennen, das Ge— fühl davon durchdringt die Königin, wie das ganze national gefinnte England, das nie Föniglicher gefinnt war. Clifabeth brauchte nur ihre eigenen Intereſſen richtig zu verjtehen und energifch zu wollen, um zu wijfen, was fie auf dem Throne Englands zu thun Hatte. Daß fie e8 wußte und that, macht fie zu einer wahrhaft regierenden Frau, zu einer wirklich na— tionalen Herricherin, deren Name die Ueberſchrift ift für eines der größten und glorreichiten Zeitalter Englands.

Die Aufgaben der englifchen Staatskunft find durch diefe Lage der Dinge vollfommen beftimmt und auf das ficherfte vorgezeichnet. Nur Schwäche und Unverſtand hätten fich hier verirren und in Zielen oder Mitteln, die beide ſo unverfenn- bar geboten waren, fehlgreifen können. Mit fefter und Fraft- voller Hand, der Königin und der Sache des Landes völlig ergeben, lenkt der erfahrene Burleigh, Schon unter Eduard VI. Staatsjecretär, das englifche Staatsihiff. Nach außen gebietet die englifche Politik den Kampf gegen Spanien; alle andern Staatsintereffen und Staatshändel ordnen ſich diefem Haupt- zweck unter und greifen folgerichtig und thatfräftig im die antifatholifche und antiſpaniſche Grundridtung ein; das eigene Intereſſe fordert, daß den Hugenotten in Franfreich, den protejtantifchen Niederlanden in ihrem Aufftande wider Philipp Schub und Unterftügung zu Theil werden. Mit Eli: fabeth ift das Glück und der Sieg. Ihre Schiffe triumphiren über die Spanischen, die Armada fcheitert an den Klippen Eng: lands, ihre Waffen erobern Cadir und ihre Banner gehen ihon über das Weltmeer. Jetzt find die transatlantifchen Ent- deckungs- und Eroberungsziüge, hervorgerufen durch den Krieg

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gegen Spanien, auf Seiten Englands; die fpanifchen Befigungen an den Küjten Amerifas und Afrifas werden angegriffen, neue Länder in der neuen Welt entdeckt und durd) eine Reihe großer Seehelden dem englifchen Namen dauernder Ruhm ge- wonnen. Francis Drake ift der erjte glückliche Weltum- jegler; Walter Raleigh richtet feinen Entdedungslauf nad) Nordamerika, giebt den entdedten Küften den Namen der jung- fräulihen Königin, eröffnet die neue Welt dem Eingange eng— fifcher Bildung und legt die erjten Keime zu Englands Fünf- tiger Colonialmacht, zu der nordamerifanifchen Staatengrün- dung, wo nad) zwei Jahrhunderten ein neues Zeitalter der Weltgefhichte beginnen fol. Wie Spanien unter Philipp von jeiner Höhe herabfinkt, fteigt unter Elifabeth das Geſtirn Eng- lands Hoc empor, es wird ein Staat erjten Ranges, die europäifhe Vormacht des Protejtantismus, eine Seemadt, und hat jchon die Anlage gewonnen, eine transatlantifche Welt: macht zu werden, die erjte von allen.

Der äußern Politik entjpricht die innere. Es fehlt nicht an Berjuchen und Umtrieben zu einer zweiten Fatholifchen Re— ftauration, die Stimmung in Irland ift zum Aufruhr und zum Bunde mit Spanien geneigt, die Katholiken in England jelbjt find noch zahlreid) und mächtig, es giebt unter ihnen eine unpatriotifche Partei, die von Nom und Madrid aus gelenft wird, den Sturz der Königin im Schilde führt, Ver- Ihwörungen brütet in der Abficht, zum zweiten mal eine fa- tholiſche Marie zur Beherrfcherin Englands zu machen, Kaum ijt die fchottiiche Königin in englifcher Haft, fo beginnen ſchon die Befreinngsverjuche des Herzogs von Norfoll, der Grafen Northumberland und Wejtmoreland; fie jchlagen fehl und Nor- folkl's Haupt fällt auf dem Block. Es war die erfte Hinrich—

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tung unter Clifabeth; fo glüdlid) und ruhig floffen die erjten zehn Jahre ihrer Regierung, die man die „halchonifchen’ ge- nannt hat. Die Zeiten werden bedrohlicher. Seitdem die Bulle Pius’ V. die Königin in den Bann gethan, des Thrones entfett, ihre Unterthanen des Eides der Treue entbunden hat, wacht das Nationalgefühl des englifchen Volkes um fo bejorgter für das Wohl der Königin; das Leben Elifabeth’s gilt in diefer Zeit mit Recht als das Palladium des proteftantifchen Eng— lands, von Seiten der fatholifchen Verſchwörer fortwährend durch geheime Anfchläge bedroht, von Seiten der Nationalen jo gefchütt und vertheidigt,- daß ein eigener, diefem Zwede freiwillig gewidmeter Verein, „die Gefellfchaft zur Vertheidi- gung der Königin”, vom Parlamente genehmigt wird. Der Kampf zwifchen diefen beiden Barteien, der papiſtiſch und eng— ifch gefinnten, ift auf Leben und Tod, jede von beiden hat eine Königin, mit der fie fteht und fällt: in diefem Kampfe füllt Maria Stuart. Nah der Verſchwörung Babington’s (1586) wird fie des Hochverraths angeklagt, für ſchuldig er- Härt und zum Tode verurtheilt, die öffentlihe Stimme for- dert laut die Vollftredung des Urtheils. Die Königin giebt zögernd nad und läßt die biutige Tragödie zu Fotheringay gejchehen, die fie aus Politif und Haß gegen ihre Neben: buhlerin gewollt hat, aus Sorge um ihren Nachruhm und aus Standesgefühl für das gefrönte Haupt, das fie dem Scaf- fote preisgab, lieber vermieden Hätte; fie fonnte Maria Stuart, wie ſchuldig diefe immer fein mochte, weder richten noch ftrafen, jondern nur opfern. Es ift wahr, daß fie diefes Opfer auch dem Wohle Englands gebracht Hat und daß felbit bei gerin- gerem Haß fie die Königin von Schottland faum zu retten vermocht hätte, aber die Nachwelt vergißt nicht, daß auf Seiten

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Elifabeth’8 neben den politifchen Nothwendigfeiten auch weib- liche Eiferfuht in mehr als einer Hinficht im Spiele war, und daß Maria Stuart, die auf dem Throne ein nichtiges und unmürdiges Leben geführt, auf dem Scaffot die Seelengröße eines Märtyrers bewiefen.

Im Großen und Ganzen betrachtet erjcheint Elifabeth’s Politif wie aus einem Stüd, fie geht gegen die Feinde des Protejtantismus nad) außen und innen, gegen jeden Verfuch, der die Gefchlofjenheit und Uniformität der englifchen Staats— firche bedroht, fie wird zulett eng und verfolgungsfüchtig gegen alle NichtHochkicchler, gegen die Recufanten auf der Fatholifchen, die Puritaner auf der proteftantifchen Seite, und was die fetsteren betrifft, fo wächft unter dem Drud ihre Widerftande- fraft, und es bereitet fih im Schoße des englifchen Prote— ftantismus ſelbſt eine revolutionäre Gewalt vor, die nad) Eli- fabeth den Kampf gegen die Hochfirche aufnimmt.

2. Der geiftige Aufſchwung des Zeitalters.

Der nationalen und politifhen Größe Englands unter Efifabeth entjpricht die geiftige. Diefe zweite Hälfte des fech- zehnten Jahrhunderts in England ift eines der geiftig erfüll- tejten und belebteften Zeitalter, die e8 je gegeben. Man darf den Sieg der englifchen Flotte über die ſpaniſche in feiner Be— deutung mit dem Siege der Griechen bei Salamis über die Perſer vergleichen, e8 Handelt fich in beiden Fällen um eine Welteultur und deren Rettimg. Ob der europäifche Prote- ftantismus fiegen oder untergehen foll, ift die Frage, die ſich mit dem Siege Englands über die Armada für den Prote— ftantismus entjcheidet. Als die Griehen den Sieg von Sa- lamis feierten, trafen in diefem Zeitpunkt die drei größten

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Tragddiendichter des Alterthums auf verjchiedenen Lebensftufen zufammen; als der Triumph über die Armada das National- gefühl ganz Englands durchdrang, war der größte dramatifche Dichter der neuen Welt in den Anfängen feiner Laufbahn und feit zwei Jahren in London; in demfelben Jahre hatte Bacon zu Gray’s Inn feine Rechtsſchule vollendet.

Es ift, als ob jene reformatorifchen Kräfte, die zufammen- wirfend das neue Weltalter heraufgeführt haben, ſich auf dem Schauplate Englands unter Elifabeth zu einer Nachblüthe ver- einigen. Die Alterthumswiſſenſchaft iſt ſchon in die englifche Zeitbildung übergegangen, die Königin felbjt verfteht die claf- ſiſchen Sprachen und ſpricht Latein, die Renaiſſance ijt Zeit- gefhmadk und Mode. Die Fühnften Entdeder in transatlan- tifcher Richtung find nicht mehr Spanier und Portugiefen, ſon— dern Engländer; auch in den eracten Naturwiffenfchaften zeigt jih der englifche Geift fortjchreitend und entdedend, ich nenne die beiden Naturforfcher, der eine älter, der andere jünger al8 Bacon, beide Fönigliche Yeibärzte, der erſte unter Elifabeth, der zweite unter Jakob und Karll.: William Gilbert und John Harvey. Gilbert ift wichtig durch feine Unterfuchungen über Magnetismus und Gleftricität, dur) die Erweiterung der Glektricitätslehre, die Entdefung des Erdinagnetismus, die Erklärung der magnetischen Inclination und Declination; Har- vey iſt epochemachend durch die Entdeckung des Blutumlaufs. Endlich hat die Reformation, foweit fie kirchlicher Natur ift, in der englifchen Staatsfirche eine nationale Machtftellung und gegen den Andrang des Katholicismus einen feſten Abfchluß gewonnen. So find alle Bedingungen beifammen, um in diefem Volk und in diefem Zeitalter den Aufgang der neuen Philofophie Hervorzurufen.

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3. Bacon,

Ein Sohn diefes Zeitalters, berufen der Philofoph deſ— jelben zu werden, ijt Francis Bacon. Er findet die Firchliche Reformation als vollendete Thatjache vor, als öffentlichen Zu- itand: hier giebt e8 für die Philojophie, die aus dem englischen Zeit- und Nationalbewußtjein hervorgeht, zunächit Feine Arbeit; hier ift nichts aufzulöfen, nichts fortzufegen; das Wejentliche iſt gethan, das Nöthige ift, Frieden zu halten. Die englifche Politik fürchtet jede innere Spaltung, jede religiöfe Parteiung als eine Schwähung der Nationalkraft, deren ganze und ein- müthige Stärke fie braudt. Die engliihe Philojophie athmet denjelben Geift: fie vermeidet gefliſſentlich alle Religionsitreitig- feiten und zieht daher ihre Grenzen jo, daß die Glaubensobjecte jenfeits derfelben fallen. Iſt die Firchlihe Reformation in der englifhen Staatskirche feſt geworden, fo ift dagegen die wiljen- ihaftlihe Reformation, die Erweiterung des menschlichen Welt- horizontes in Fluß und Fortſchritt begriffen. Hier liegt die: Aufgabe und das Reich der Philofophie, diefe Richtung muß fie mit vollem Bewußtſein ergreifen und in ihr vorangehen. „Die Wahrheit ift die Tochter der Zeit.“ Die Zeit ift neu ge: worden; fie verjtehen, heißt den Grund diefer umfafjenden geiftigen Welterneuerung durchſchauen; aus diefer Einficht die Philoſophie erneuen, Heißt fie zeitgemäß machen. Bier erfennt Bacon feine Aufgabe und feinen Beruf: es gilt Die Erneuerung der Philofophie im Geiſte des Zeitalters, diefe ‚„instauratio magna“ ſoll da8 Werk feines Lebens fein.

Die Welt ift erneut worden durch Entdedungen, welcde ſelbſt nicht möglich waren ohne Erfindungen: ohne Buchdruder-

kunst feine Verbreitung der Schriftwerfe des Alterthums, Teine Fiſcher, Bacon, 3

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durch die Renaiſſance erneute Weltbildung, Feine humaniſtiſche Cultur, fein „regnum hominis“; ohne Kompaß feine trans— atlantiſche Seefahrt, keine Entdeckung einer neuen Welt. Wer daher die Philoſophie zeitgemäß machen will, muß den Geiſt der Entdeckung und Erfindung philoſophiſch machen, oder den Geift der Philofophie erfinderiſch. Aus dem glüdlichen Funde ſoll Erfindungsfunft, aus dem Entdedungstrieb entdedende Wiffenfchaft werden. Wie muß man denken, um erfinderifch und entdedend zu handeln? Das ift die Grundfrage Wer fie löft, hebt die Philofophie auf die Höhe der Zeit und zu- gleich den Drang nad Erfindungen und Entdeckungen, dieſen Genius des neuen Weltalters, auf die Höhe der Philofophie. Diefer Mann will Bacon fein, an diefes Werk will er die erite Hand legen. In einem Lebensalter, wo noch feine Gefchäfte ihn abzogen, wo noch alles frifch und zufunftsvoll in ihm war, faßt er diefen weitblidenden Entſchluß, nimmt ihn zur Aufgabe feines Lebens, zum höchſten Ziele feines Ehrgeizes. Es it nicht etwa diefe oder jene Erfindung, nicht diefe oder jene Ent- deckung, die er ſucht, ſondern er will aus dem Erfinden und Ent- deden überhaupt eine Wiſſenſchaft, eine neue Denkweiſe, eine Wiſſenſchaftslehre machen: diefe Wiſſenſchaftslehre ſoll die neue Philoſophie ſein. Man muß dieſe Abſicht Bacon's von vornherein richtig und klar ſehen, um ſeine Aufgabe nicht von Grund aus ſchief aufzufaſſen, um dann weiter, wie es in allen Fällen nothwendig und billig iſt, zwiſchen der Aufgabe ſelbſt und den Mängeln der Löſung beſonnen zu unterſcheiden.

Es giebt nichts Größeres, als ein Zeitalter über ſich ſelbſt aufzuflären, ihm feine Imftincte und Triebfedern zu berbdeut- lichen, dergejtalt ins Bewußtſein zu erheben, daß es mit voller Selbjterfenntniß feine Ziele jeßt und verfolgt; je erfüllter und

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reicher das Zeitalter ift, je mannichfaltiger feine Richtungen, um fo fchwieriger wird die Aufgabe, es philojophifch zu treffen. Und es war gewiß eine der größten und ſchwerſten aller Auf- gaben, aus dem fruchtbaren Schoße der neuen Zeit die Phi- lojophie zu entbinden, die ihr den Spiegel vorhalten, die Wif- fenjchaftslehre zu Heben, welche die reiffte Tochter diefer Zeit fein follte, aus dem Haupte diefes Jupiter, der das Weltalter des wiedergeborenen Altertfums, des Columbus, Kopernicus und Luther, die Epoche Elifabeth’s, Shakefpeare’s und Walter Raleigh's ſchuf, die Minerva Hervorzurufen in ihrer ganzen Rüftung! Bon diefer Größe und Schwierigkeit feiner Sade war Bacon ſchon durchdrungen, als er dem erjten Entwurfe derjelben einen Namen gab: er nannte ihn „die größte Geburt der Zeit“.

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Drittes Kapitel, Bacon unter Elijabeth.

I. Vorbemerkungen.

Die Meinungen und Urtheile über Bacon's perjönlichen Werth find jahrhundertelang faſt einmüthig gewejen, ſowohl in der Bewunderung als in der VBerwerfung. Daß Bacon einer der fruchtbarften Denker der Welt und namentlich Eng- lands größter Philojoph gewefen fei, galt und gilt faft unbe- jtritten bis auf den heutigen Tag, ebenfo unbejtritten war die Meinung von dem völligen Unwerthe feines Charakters. Seit Pope gejagt hat, er fei einer der weifejten, herrlichiten und zugleich jchlechteften aller Menfchen gewefen, iſt diefe vhetorifche Figur gleihjam das Schema geworden, welches die Biographen mit der Charakteriſtik Bacon's ausgefüllt haben; fie ſchildern denjelben Mann als einen der erhabenften Philofophen und Staatsmänner, zugleich al8 einen der niedrigjten und verwerf- tihften Charaktere, undanfbar und falſch in der Freundichaft, geldgierig in der Ehe, fervil im Parlament, bejtehlid als Richter: jo Lord Campbell in feinen Lebensbejchreibungen der englifhen Kanzler*), jo Macaulay in feinen Eſſays. Sie

*) John Campbell, The lives of the lord chancellors of England (London 1845), vol. II, ch. 51.

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Ihildern uns ein pfychologifches Räthſel. Auch ohne die Ge- ſchichte Bacon’s zu Fennen, wird man zweifeln, ob ein folches Bild, das einem Monftrum ähnlich fieht, nad) der Natur ge- zeichnet ift. Macaulay hat die Sache auf die Spitze getrieben, nad ihm verhalten ſich Bacon's Intelligenz; und Charakter wie Engel und Satan. Diron vergleicht diefe Zeichnung einem Bilde nad) Rembrandt’3 Manier: „Sonnenheller Mittag um die Stirn, tiefe Naht um das Herz”. Er hat recht, wenn er hinzufügt: „die Natur macht feinen folhen Mann“. Andere haben den Charakter Bacon’s zu retten und mit feiner philo- fophifchen Größe ins Gleichgewicht zu bringen gefucht; in diefer apologetifhen Tendenz hat ſchon Montagu, einer der neueren Herausgeber der Werke Bacon’s, das Leben deffelben gefchrieben, Aber die Spige diefer Richtung im ausdrüdlichen und völligen Gegenfage zu Campbell und Macaulay hat Diron in feiner „Perſönlichen Lebensgefhichte Lord Bacon's“*) zu bilden ge- fuht. Bier wird die frühere Beurtheilungsweife geradezu umgekehrt, fänmtliche Anflagepunfte und Vorwürfe, die gegen Bacon geläufig find, verwandeln fid) unter den Händen diejes Biographen in ebenfo viele Beweggründe der Vertheidigung und Lobpreifung. „Man muß die Sache umkehren“, jagt Diron, „mit feine Lafter, fondern feine Tugenden, feine Ehrenhaftigkeit, Duldfamkeit, Großmuth, nicht feine Herzlofig-

feit, Servilität und Beftechlichkeit, bewirkten feinen Fall.“ Er plaidirt für Bacon, wie Macaulay in Anfehung des mo- ralifhen Charakters gegen ihn plaidirt; er ift der entgegen- geſetzte Abvocat, darum nicht weniger Advocat, der entfchuldigt, wenn er nicht vertheidigen kann, vertheidigt, wo er faum ent-

*) Personal history of Lord Bacon. From unpublished papers by William Hepworth Dixon (London 1861).

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ſchuldigen follte, deffen Abficht die unbedingte Rechtfertigung, nicht blos die Freifprehung, fondern die Glorificirung des Angeflagten ift, damit die Freifprehung um fo ficherer erfolge.

Um alle denkbaren Standpunkte in der Behandlung Bacon’s zu probiren, würde nur fehlen, daß jemand den Ver— ſuch machte, feine Lehre für ebenfo fchleht zu erklären als feinen Charakter, von dem ja ohne weiteres borausgefeßt wer- den darf, daß er vollfommen fchleht war. In der That find folhe Verſuche gemacht worden, zulegt in Deutichland, auf eine ſolche Weife, daß der erfte Theil falfch und der zweite gar nicht begründet wurde. 9. von Liebig wetteifert mit dem Grafen 3. de Maiftre in dem Ruhme, Bacon völlig erlegt zu haben.

Bacon’s Leben und Charakter wollen nicht advocatorifch, noch weniger aus fanatifchem Haß, ſondern gefchichtlich erklärt und beurtheilt fein. Wenn man Macaulay und Diron gelejen hat und ſich aus natürlichen Bedenken ffeptifch gegen beide ver- hält, fo ift man in der richtigen Fritifhen Stimmung, Bacon’s Gefchichte zu ftudiren. Das befte Hülfsmittel dazu bietet in der jüngjten Gefammtausgabe der Werke Bacon’s Spedding’s gründliche und umfaffende Unterfuhung, die leider die letzten acht Lebensjahre noch nicht umfaßt. Spedding verhält ich kritiſch ſowohl gegen die Lehre als gegen die Perfon Bacon’s und während früher auf die erfte alle Bewunderung, auf die zweite alle Verwerfung gehäuft wurde, fo kommt hier das Gefammturtheil in ein natürliches und richtiges Gleichgewicht. Bacon's philofophifches Verdienft wird nicht wie ein Dogma genommen, fondern der Herausgeber, der jede Zeile Bacon’s für würdig hält auf die Nachwelt zu fommen, unterfucht allen Ernftes die Frage nad) den eigentlichen Grundlagen feiner wifjenfchaft-

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lichen Größe, warum Bacon, obwohl er Feine experimentellen Entdefungen gemacht, feine veranlaßt, auch deren Methode nicht erft erfunden habe, dennoch mit Recht als Regenerator der Philofophie gelte. |

Unter den Biographen giebt e8 nur einen, der den Phi- fofophen perſönlich gekannt und ihm eine Zeit lang nahe ge- ftanden hat: William Rawley aus Norwich, fein Kaplan, während er Kanzler war, in den legten fünf Jahren fein wif- jenfchaftlicher Secretär. Der Furze Lebensabriß, welchen Raw— (ey 1657 herausgab, iſt als biographifcher Leitfaden braud)- bar, wenn man Spebding’s kritiſche Bemerkungen dazu— nimınt.

Die Lebenszeit des Philofophen umfaßt 65 Jahre, von denen ungefähr zwei Drittel dem Zeitalter der Elifabeth ange- hören, das lettte dem Jakob's I.; wir unterfcheiden diefe beiden ungleihen Abjchnitte, deren Wendepunkt zufammenfältt mit jenem verhängnißvollen Wechfel der englifchen Königsherrfchaft.

I.

Abkunft und Erziehung. 1. Familie.

Francis Bacon ift zwei Jahre jünger als die Regierung der Elifabeth. Unter den erften Staatsmännern der Königin find feine nädhjften Verwandten; fein Vater Nicholas Bacon, ſchon unter Eduard VI. in Staatsgeſchäften thätig, wird unter Eliſabeth Groffiegelbewahrer und ſteht bei der Königin in hohem Anfehen, er war in zweiter Ehe mit Anna Coofe ver- heirathet, der frommen und gelehrten Tochter eines Mannes, der Eduard VI. unterrichtet und in feinem eigenen Haufe nad) der Sitte der Zeit die gelehrte Bildung gepflegt Hatte. So

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war namentlich diefe jüngere Tochter in die Kenntniß der alten Sprachen eingeführt worden, fie hatte etwas von theofogifcher Gelehrſamkeit und war von biblifhem Glauben, von religiöfem Eifer fo erfüllt, daß fie felbft den diffentivenden Predigern der Nonconformiften um ihres Eifers willen nicht abgeneigt war. Ihre ältere Schwefter war die Frau William Cecil's, der fpäter Lord Burleigh wurde, erft Staatsfecretär, dann Schatmeifter unter Elifabeth war und der leitende Staatsmann einer Zeit, die England groß gemacht hat.

Aus der zweiten Ehe des Nicholas Bacon ftammen zwei Söhne, Anthony und Francis. Diefer, der jüngere, wurde den 22. Januar 1561 zu Norkhonfe, der Amtswohnung feines Vaters, geboren.*) Bon feiner Kindheit im Haufe der Eltern ift nichts Wichtiges befannt: er fei zart und kränklich geweſen, wißbegierig und frühzeitig aufmerffam auf mandherlei Natur: ericheinungen, die er ſich aus eigener Beobachtung zu erklären fuchte. Solche Beobachtungen reizten ihn mehr als die Knaben: fpiele. Die Königin felbft foll den geweckten Geift des Knaben bemerkt, gern mit ihm geſprochen und ihn fcherzmeife „ihren fleinen L2ordfiegelbewahrer‘ genannt haben.

*) Als Bacon's Geburtsjahr wird bald 1560 bald 1561 bezeichnet. Das ift feine den Zeitpunkt betreffende Unficherheit, ſondern eine kalen— darifche Differenz. In England wurde früher und noch in der erften Hälfte des vorigen Jahrhunderts das Jahr nicht mit dem 1. Januar, fondern mit dem 25. März (Mariä Berflindigung) begonnen. Wenn alfo Bacon nad) dem julianifchen Kalender den 22. Januar 1561 geboren ift, fo fiel diefer Tag nad) der engliihen Zählung nod in das Jahr 1560. So verhält es fich mit allen Daten, die vor dem 25. März liegen. Bon die— jem Tage an bis zum Ende des laufenden julianifchen Jahres muß die englifche Zählung mit der gewöhnlichen übereinftimmen. Der gregoria- nifche Kalender ift in England erſt 1752 eingeführt worden.

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2. Cambridge, Reife nad) Frankreich.

Beide Brüder famen im Frühling 1573 nad) Cambridge auf das Dreifaltigfeitscolfegium, dem damals ein Freund ihres Vaters, Dr. John Whitgift, vorftand, fpäter Erzbifhof von Canterbury und eifriger Gegner der Nonconformiften. Aehn- lich wie Descartes auf der Jeſuitenſchule von Pa Fleche, fühlte ſich Bacon in dem Collegium von Cambridge wenig befriedigt, er erkannte bald, wie unfruchtbar das überlieferte Wiffen, wie unhaltbar jeine Grundlagen, wie unvermögend zu jeder ernſt— lichen Fortbewegung der Wiffenfchaft diefe Art fcholaftifch-ari- ftotelifher Philofophie fei, wie daher die Philofophie von den /\ bisherigen Wegen ablenken, fi aus eigener Kraft erneuen und \ den Dünfel der Schulgelehrfamfeit loswerden müffe Mit diefer Ueberzeugung, die feinem Ehrgeiz wiffenfchaftliche und weite Ziele gab, verließ er Cambridge gegen Ende des Jahres 1575.

Eine Reife im Auslande follte feine Erziehung vollenden. In Begleitung des englifhen Gefandten Sir Amias Paulet ging er nad) Franfreid und landete den 25. September 1576 in Calais. Es war vier Jahre nad) der Bartholomäusnadt, die öffentlichen Zuftände Frankreichs fanden ſich in der ſchlimm— ften Verwirrung, das Land von Religionskriegen zerriffen, Heinrich von Navarra an der Spige der Hugenotten, Heinrich Guife an der Spite der Katholifen im Bunde mit Spanien und dem Papft, Heinrich III. entnervt, ohnmächtig, ein that- fofer Schattenkönig. Die englifhe Geſandtſchaft folgte dem Hofe. So fam Bacon von Paris nad) Ylois, dem Sik der Neichsftände, nad) Tours und Poitiers, wo er drei Monate blieb (1577). Die Nachricht vom Tode feines Vaters (20. Februar

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1579) traf ihn zu Paris und rief ihn zurüd in die Heimat, im folgenden Monate landet er wieder in England.

3. Gray’s Inn,

Am Liebften würde Bacon den großen Plänen feines wif- jenfchaftlichen Ehrgeizes gefolgt fein, aber die Mittel zur Muße fehlten, der väterliche Befig war mäßig und fünf Brüder erbten. Zwar hatte der Vater ein Kapital zurücgelegt in der Abficht, es feinem jüngſten Sohn zu Hinterlaffen, aber da er ohne lette Verfügung geftorben war, erhielt Bacon auch von diefer Summe nur einen Heinen Bruchtheil; fein älterer Bru— der Anthony erbte einige Ländereien, die Mutter ein Landhaus in Gorhambury, das erjt nad ihrem Tode (1610) in den Beſitz des jüngern Sohnes überging, nachdem der ältere fchon im Frühjahr 1601 geftorben. So war es die ökonomiſche Lage, die ihn nöthigte, Amt und Einkommen zu ſuchen und ihn Ihon in der erjten Yugendfrifche von feinen wiffenfchaftlichen Plänen abzog. Er ergriff die juriftifhe Laufbahn, um zur Advocatur zu gelangen, der nothiwendigen Vorftufe zum Richter- amt. Der Weg zu bdiefem nächften Ziele war lang und be- ſchwerlich; die praftifche Nechtsgelehrfamfeit, die zur Ausübung der Advocatur gehört, mußte in einer jener Rechtsfchulen er- worben werden, welde in England juriftifche Genoffenfchaften oder Innungen bilden; unter den älteften und berühmteften diefer Colfegien, deren e8 gegenwärtig vier giebt, war Gray's Ian, ſchon unter Eduard III. gegründet. Hier begann Bacon im Jahre 1580 feine Laufbahn. Das Recht der Barre oder der öffentlichen Rechtspraxis, die Berechtigung, in den Reiche- gerihtshöfen zu plaidiren, macht den Barrifter; die erfte Vor- jtufe dazu ift „utter oder outward barrister“, und die Regel

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fordert, daß ein folder noch fünf Jahre feine Rechtsſtudien fortfeßt, bevor er den Zutritt zur Barre erlangt. Man muß Barrifter fein, um die Redhtswiffenfchaft in der Innung lehren und Porlefungen darüber halten zu dürfen, ein folcher Rechts: lehrer heißt „reader“. Gin befonderer Grad der Barrifter heißt sergeants-at- law, diefe sergeants bilden wieder eine engere Innung, zu der auch die höhern Richter zählen; wenn die Krone diefen Grad ertheilt, fo heißt der sergeant könig— licher Rath und führt die feidene Robe. Diefe Stadien hatte Bacon zu durchlaufen. Im Juni 1582 wurde er utter bar- rister, vier Jahre fpäter barrister und 1589 reader. Nad) der Angabe Rawley's ernannte ihn die Königin im folgenden Jahre (1590) zu ihrem Kath oder außerordentlichen Rechts: beiftand (one of her counsel learned extraordinary). Dod) jcheint diefes Datum nicht richtig, denn im Jahre 1606 fehreibt Bacon an König Jakob, daß er neun Jahre lang der Krone diene; demnach würde er erjt feit 1597 in den regelmäßigen Dienft eines „‚counsel extraordinary‘ eingetreten fein. Vorher ift er nur einmal (1594) in Rechtsſachen der Krone gebraucht worden, und einen andern als diefen unbefoldeten Dienft hat er unter Elifabeth nicht gehabt. Er blieb lebenslänglich Mit- glied von Gray's Inn, wohnte hier gemeinfchaftlic mit feinem Bruder Anthony, als diefer von feinen Reifen in Frankreich und Italien zurüdgefehrt war (1592), und flüchtete auch fpäter aus feinen Staatsgefhäften gern in die ftille Wohnung von Gray's Inn, um feinen wiffenfhaftlihen Arbeiten zu eben.

4. Bacon nnd Burleigh.

Wäre es nad feinen Wünfchen gegangen, fo hätte Bacon feine juriftifche Laufbahn entweder ganz aufgegeben oder wenig—

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jtens um einige Jahre abgekürzt. Im einem einträglichen Hof- oder Staatsamte würde er leichter fo viel Muße gefunden haben, als er zur Ausführung feiner philofophifchen Neuerungs- pläne bedurfte. Wiederholt fuchte er Unterftügung bei feinem Oheim und wendete fid) bald mittelbar bald unmittelbar an den einflußreihen Mann, der ihm erjt zu einem Hofamt, dann zur Abkürzung feiner juriftiichen Laufbahn behülflich fein ſollte. „Ih bin 31 Jahre alt“, fchrieb er 1591 an Lord Burleigh, „das ift viel Sand im Stundenglafe, ich geftehe, daß ich ebenjo weite wiſſenſchaftliche als befcheidene bürgerliche Ziele verfolge. Denn ic habe die ganze menfchlihe Erfenntnig zu meiner Provinz gemacht, und wenn ich fie von zweierlei Räubern reinigen könnte, nämlich von leeren Worten und blinden Ex— perimenten, fo würde ich an deren Stelle fleißige Beobad)- tungen, gegründete Schlüffe, nügliche Erfindungen und Ent- dedungen einführen und jenes Reich in Flor bringen. Diefer Plan fteht in mir fo feft, daß ich ihn nie aufgeben werde.‘ Diefe auf den Dheim gefegten Hoffnungen blieben un— erfüllt. Lord Burleigh zeigte fi) in der Protection feines Neffen fühl und zurüchaltend, gewiß nicht aus Eiferfucht gegen Bacon's Ruhm, aus Neid gegen fein Talent, aus Furcht, der eigene Sohn könne dadurd verdunfelt werden. Eine Aeuße— rung Bacon’s gegen Rawley hat diefe Vorftellung veranlaßt, die fi) dann unbejehen im Munde der Biographen fortgepflanzt hat. Wenn Bacon wirffih von der Eiferfucht der ihm ver- wandten Ceeils zu leiden hatte, jo trifft diefer Verdacht nicht den Bater, fondern den Sohn und bezieht ſich auf eine fpä- tere Zeit. So lange Burleigh lebte, Hatte Bacon feinen Ruhm, der zu beneiden war, und fuchte feine Größe auf einem Ge: biet, das jede Rivalität mit den Cecils ausfchloß; wenn Yur-

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leigh den Wetteifer zwifchen Neffen und Sohn vermeiden wollte, jo konnte er nichts Beſſeres thun, als den Bitten des Neffen Gehör geben. Warum er jpröde dagegen war, ift leicht zu erflären. Ihm galten die fpeculativen Pläne, von denen Ba- con redete, als etwas gänzlich Unpraftifches, das in Staats- gefchäften nichts tauge. Die Königin dachte ähnlich. Daß er den Neffen um der Philofophie willen hätte befördern follen, ift in der That von Lord Burleigh nicht zu erwarten; daß er es um der VBerwandtichaft willen nicht that, ift zu loben; daß er ihn gehäffig behandelt habe, ift durch nichts zu beweifen. Im Gegentheil, nad) den brieflihen Zeugniffen zu urtheilen, welche Spedding mittheilt, erjcheint das verwandtfchaftliche Berhältnig jo gut, als es bei dem Unterfchiede der Stellung, die Bacon in der Ferne hielt, fein fonnte. Er verdanfte der Fürſprache feines Dheims, daß ihm die Königin die Anwartſchaft auf ein einträgliches Amt in der Sternfammer (clerkship of star chamber) ertheilte, obgleich) e8 freilich zwanzig Jahre dauerte (Detober 1589 bis Juli 1608), bevor er die Ein- fünfte erhielt.

III. Laufbahn unter Elifabeth.

1. Barlamentarifshe Wirkſamleit.

Wir finden Bacon’s Beitrebungen auf drei verjchiedenen Wegen: in der Stille verfolgt ev feine philofophifchen Pläne ohne Muße und darum ohne die zur Ausarbeitung nöthige Ruhe; in feiner juriftiichen Laufbahn, nachdem er die Advocatur erreicht hat, ftrebt er nad) den höhern Staatsämtern; daneben her geht jeine Thätigfeit als Mitglied des Parlaments. Daß er in

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feinen philoſophiſchen Plänen von Geiten der Königin und ihres Minifters nicht unterftügt wurde, folgte weniger aus perfönlicher Abneigung als aus der Gleichgültigkeit, welche praftifche und politifhe Naturen ftetS gegen die abgezogenen Beichäftigungen philofophifher Speculation hegen; daß aber auch feine Bewerbungen um die höhern Aemter vergeb- fi blieben, verfchuldete zum großen Theil feine parlamen- tarifche Wirkfamkeit, die ihm den Unwillen der Königin zus 309g. Dieſe Seite feines öffentlichen Lebens, die feinen Namen zuerft in England befannt machte, müfjen wir etwas näher beleuchten. Bon den erjten Anfängen feiner juriftifchen Lauf- bahn, noch bevor er Barrifter wurde, bis hinauf zu der Höhe, wo er als der erfte Staatsbeamte Englands feinen glänzenden Lauf plößlid) und ruhmlos endete (1584— 1621), erſtreckt ſich ununterbrochen feine Wirkſamkeit al8 Mitglied des Parla- ments. Was feine Bedeutung als Redner betrifft, jo be- zeugen zwei ber gewichtigften Stimmen, daß fein Talent umd jeine Wirfung außerorbentlicher Art waren. Nach dem Zeug- niffe Ben Jonſon's waren feine Urtheile jo gehaltvoll und ernft, feine Ausdrucdsweife fo würdevoll und einleuchtend, feine Wendungen jo anmuthig und leicht, feine Gedanken fo ftreng und geordnet, daß er die Aufmerffamfeit aller Zuhörer fort- während fpannte und jeder den Augenblid fürdhtete, wo er aufhören würde zu reden. Und Walter Raleigh erklärt, indem er Bacon mit Robert Cecil und Lord Howard vergleicht: „Cecil fonnte reden, aber nicht ſchreiben, Howard fchreiben, aber nicht reden, Bacon allein konnte beides. Er war gleich groß als Redner wie als Schriftiteller.”

Schon aus der Bedeutung der Wählerfchaft, die er ver- trat, Täßt fich erkennen, daß die Geltung feines parlamenta-

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rijhen Namens fortwährend zunahm. Im den drei Barla- menten während der achtziger Jahre hat er diefen feinen poli- tifhen Ruf begründet: im Parlament von 1584 war er Mit- glied für Malcombe in Dorfetihire, in dem von 1586 für Zaunton in Somerfetihire, im Jahre 1588 vertrat er Fiver- pool. Schon aus den Jahreszahlen erhellt die außerordentliche Wichtigkeit diefer Parlamente; es find für England Jahre der größten Gefahr und des größten Ruhms.

E8 handelte fich zumächft um die Sache der Königin und des englifchen Proteftantismus, um dieje erjte aller nationalen Angelegenheiten gegen jene drohenden Agitationen, welche die Wiederherftellung des Katholicismus zum Zwed Hatten. Seit 1570 iſt Elifabeth ercommunicirt, der Papſt und Spanien betreiben die Thronfolge der Maria Stuart; dagegen bildet ſich eine geheime Gefellihaft zur Vertheidigung der Perfon der nationalen Königin, ein befonderer Gerichtshof wird eingejegt zur Unterfuhung und Aburtheilung aller hochverrätherifchen Pläne, welche die Fatholifhe Reſtauration und Prätendentjchaft be- günftigen. Das Parlament von 1584 ift der energijche Aus- druck diefer nationalen Gefinnung. Die Fatholifhen Wühle- reien dauern fort und gipfeln zulest in einer höchſt geführ- lihen Berfhwörung, welche die Ermordung Eliſabeth's, die Infurrection Englands, die Invafion von Seiten des Aus— landes, die Befreiung Maria Stuart’8 und deren Erhebung auf den englifchen Thron im Schilde führt. Die Folge der entdedten Verſchwörung ift der Staatsproceß gegen die gefan- gene Königin; fie wird ſchuldig erklärt und zum Tode verurtheilt. Bier Tage darauf, den 29. Detober 1586, tritt das Parla- ment zufammen, beide Häufer fordern die Veröffentlichung und Bollftrekung des Todesurtheils, Bacon fpricht in diefer

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„great cause”. Den 8. Februar 1587 erfolgt die Hinrichtung. Bald darauf verfammelt fi das den 2. December 1586 ver- tagte Parlament von neuem und bejchließt Subfidien zur Unterftügung der Niederlande gegen Spanien; Bacon ift Mit- glied des mit dieſer Angelegenheit betrauten Ausſchuſſes. Es folgt der Krieg mit Spanien, der Untergang der Armada im Sommer 1588; ein neues Parlament wird berufen und tritt im November dieſes großen Jahres zuſammen, bereitwillig ge— währt es neue Subſidien zur Vertheidigung Englands gegen künftige Angriffe Spaniens; in dieſer Sache iſt Bacon nicht nur Mitglied des betreffenden Ausſchuſſes, ſondern Bericht— eritatter.

Nach einer Paufe von vier Jahren wird ein neues Par- lament berufen, das den 19. Februar 1593 zufammentritt. Bacon ift Mitglied für Middlefer und repräfentirt im Haufe der Gemeinen eine der politifch wichtigften, in ihrer Gefin- nung unabhängigjten Graffchaften Englands. Spanien droht mit einer Invafion von Norden und Süden, mit einer Lan— dung in Schottland, welche das Zeichen zur Erhebung des ſchottiſchen Adels geben fol. Diefer Gefahr gegenüber, die mit der Verzögerung wächſt, fordert die Regierung neue Sub— fidien und ſchleunigſte Beichlußfaffung; das Oberhaus, damit einverjtanden, drängt und will in der Subfidienfrage an der Berathung der Gemeinen theilnehmen. Nad dem Vorfchlage der Lords, den die Regierung billigt, follen drei Subfidien gewährt werden, zahlbar in drei Iahren, jedes Jahr zwei Zahlungen.

In diefer Sache find zwei Punkte, denen fid) Bacon wi» derſetzt. Es gehört zu den Grundpfeilern der englifchen Ver— fafjung, daß in allen Geldfragen das Unterhaus völlig unab-

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hängig beräth und bejchließt; daher wiberräth Bacon, daß der Forderung einer gemeinfchaftlihen Berathung von Seiten der Lords nachgegeben werde, und gegen die Mehrheit des Aus- ſchuſſes ftellt fich das Haus auf Bacon’s Seite. Die gemein- Ichaftlihe Berathung mit dem Oberhauſe „about the sub- sidies“ wird verworfen; man ftügt fich auf einen Präcedenz- fall unter Heinrich IV., wo daffelbe gefordert, aus demfelben Grunde verweigert und die Weigerung vom Könige richtig be- funden wurde. Der zweite Punkt betrifft den Gegenftand der Forderung jelbft. Die Lords fordern drei Subfidien, zahlbar in drei Jahren, aljo jedes Jahr eine Subfidie.e Darin lag eine doppelte Neuerung: die Verdreifachung der zu leiftenden Steuer und die Berdoppelung der Zahlungslaft, denn bie Subfidie pflegte in zwei Jahren gezahlt zu werden. Bacon war in diefem alle nur gegen die lette Neuerung, er ſprach nicht gegen die dreifache Subfidie, fondern wollte nad) her- kömmlicher Weife die Zahlung in ſechs Jahren. Im Unter- hauſe war eine vermittelnde Motion gejtellt worden: Zahlung der drei Subfidien in vier Jahren. Dagegen ſprach Bacon, er berief fi) auf die Schwierigkeit und Unmöglichkeit der Lei- ftung, auf die Verbreitung unzufriedener Stimmung im Volk, auf deren gefährliche Folgen. Dieſe Rede hielt er den 7. März 1593.*) Sein Amendement in der Subfidienfrage fiel durch, die Motion wurde angenommen.

Die Königin empfing die Bill, dankte dem Parlament und machte dabei eine Anfpielung, die nicht zu verfennen war, auf „Leute, die mehr ihre Graffchaft, als die Bedürfniffe der

*) Seine erfte Rede vom 26. Februar gleid) nad) Eröffnung des Barlaments betraf die Revifion und Verbeſſerung der Gefege, eine Auf- gabe, die er dem Parlament als eine beftändige und fortdauernde vorhielt.

Fiſcher, Bacon. 4

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Zeit im Auge haben“. Dieje feine parlamentarifhe Dppo- fition in der Subfidienfrage vom Jahre 1593 war es, wodurd) fi) Bacon die Königin abgeneigt gemacht und für einige Zeit ihre Gunft verfcherzt hat. Im einem Briefe, dem erjten, den er felbft aufbewahrt hat, rechtfertigt er fich wegen jener Rede bei Burleigh: „Wenn man meine Rede faljch berichtet Hat, jo werde ich gern in Abrede ftellen, was ich nicht gejagt habe, wenn man fie faljch verftanden, jo werde id) gern den richtigen Sinn darthun und den faljchen entfernen; wenn man fie faljch beurtheilt und mir Sucht nad) Popularität. vorwirft, jo thut man mir Unrecht und um fo mehr, als die Art meiner Rede beweift, daß ich blos ſprach, um meinem Gewiffen genugzus thun.“*)

Ohne Zweifel mochte Bacon viel daran gelegen ſein, die Königin ſich wieder geneigt zu machen und von der loyalen Geſinnung, die ihn aufrichtig erfüllte, zu überzeugen; aber nichts beweiſt, daß er in dieſer Abſicht unwürdige Schritte ge— than habe. In dem nächſten Parlamente, welches im October 1597 zufammentrat, war er Mitglied für Ipswic in Suffolf. Hier nun foll er fich bemüht haben, feine oppofitionelle Hal- tung von 1593 wieder gut zu machen; er habe fi, erzählt Campbell, ſtill, ängftlid und fervil gezeigt, wogegen Diron behauptet, daß er oft und energijch gefprochen. So viel fteht feft, daß er in dem Parlamente viel gegolten hat, denn er war Mitglied fat aller Ausfchüffe, und foweit feine Thätigkeit noch erfennbar ift, verräth fie nirgends eine unwürdige Haltung. Es iſt wahr, daß er in der Subfidienfrage feine Oppofition nicht wieder geltend machte, aber e8 gab nicht eine einzige

*) The works of Francis Bacon (Spedding), vol. VIII, p. 233, 234.

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Stimme, die der Forderung der Regierung auf drei Subfidien, zahlbar in drei Jahren, entgegen war. Bacon’s Hauptthätig- feit war diesmal einer nationaldfonomifchen Frage von großer Wichtigkeit zugewendet, er wollte dem Verfall des Ackerbaues und dem Untergange der Pächter auf englifhem Boden durch ein Geſetz vorbeugen, welches der überhandnehmenden Um— wandlung des Aderlandes in Weide nothwendige Schranfen jegte zur Hebung des Landbaues und der Bevölkerung. Von feiner darauf bezüglichen Rede eriftirt noch ein Kleines Brud)- ftüd.*)

2. Erfolglofe Bewerbungen.

Nach feiner Dppofition, die er im Parlamente vom Jahre 1593 bewiefen, war die Königin zuerft fo erzürnt, daß fie Bacon nicht fehen wollte, und wenn fie ihm die Erlaubniß an den Hof zu kommen auch bald wieder zurückgab, fo blieb fie taub gegen feine Bewerbungen und gegen jede ihm günftige Fürſprache. Gerade damals war die Stelle des oberften Kron- anwaltes und Generalfiscals (attorney general) freigeworden. Um diefes Amt bewarb fih Bacon, von Efjer lebhaft unter- ftüßt; fein Mitbewerber war Eduard Eofe, neun Jahre älter als er, angeſehen als der erfte Nechtsgelehrte Englands, be- reits in Amt und Würden, denn er war solicitor general, welche Stelle dem attorney general zunächſt ſtand, zugleich) en Mann von großer parlamentarifcher Bedeutung, er war Sprecher im Unterhaufe, in feiner Haltung völlig loyal, dem Dienfte der Krone ganz ergeben, Bacon’8 Gegner in der Sub- fidienfrage. Selbft wenn die Königin Bacon günftig ge-

*) The works, vol. IX, p. 77 fig. 4*

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wefen wäre, konnte fie ihn kaum einem ſolchen Manne bei einer folhen Bewerbung vorziehen; aber fie war ihm abge- neigt, auch der Siegelbewahrer Pudering war gegen ihn, und Burleigh that nichts zu feinen Gunften, vielleicht weil er fah; daß nichts auszurichten war. Nur Eſſer betrieb bei der Königin Bacon's Bewerbung fehr eifrig; er ftellte der Königin vor, daß fie um ihrer felbft willen Bacon zum Generalfiscal machen müffe, fonft würde fie den fühigften Mann in ihrem Dienfte verlieren; er fchreibt Bacon den 24. Auguft 1593, er werde die Königin hHoffentlih am Ende erweichen, wie der Tropfen den Stein „saepe cadendo”. Er hoffte vergeblid). Die Königin fam immer wieder zurüd auf Bacon’s parlamen- tarifche Unart.

Coke wurde im Frühjahr 1594 attorney general. Nun war feine bisherige Stelle, die des solicitor general, frei, und Bacon machte alle Anftrengungen, fie zu erhalten, auch unter- jtüßten diefes mal beide Gecils feine Bewerbung, Eſſex zeigte fi) wiederum unermüdlich, aber feine zu lebhafte Fürſprache war der Sache eher ſchädlich als fürderlih, denn fie machte die Königin ärgerlich. Der Siegelbewahrer wirkte gegen Bacon, und nachdem die Sache lange Hinausgefchoben worden und Bacon immer wieder die ficheriten Hoffnungen gefaßt Hatte, erhielt im November 1595 Fleming das erledigte Amt.

Es war eine unglücdliche Zeit für Bacon, Alle feine Bewerbungen fchlugen fehl, zulegt die um eine Frau, auch hier ftand ihm als der glüclichere Nebenbuhler Eduard Cofe entgegen. Die Frau, die er begehrte, war Eliſabeth Hatten, eine reiche, junge und fchöne Witwe, Burleigh’s Enkelin; auch hier warb Eſſex für Bacon, er fchrieb an die Eltern Elifa- beth’8 und fagte in feinem Briefe, wenn er eine Schwefter zu

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verheirathen Hätte, würde er fie feinem Tieber geben als feinem Freunde Bacon. Die junge Witwe ſchlug ihn aus, fie war ehrgeizig und habjüchtig und nahm daher den reichen General- fiscal Coke Lieber zum Manne als den armen Advocaten Francis Bacon (1597). Man Hat behauptet, Bacon habe blos die reihe Frau gewollt, um feine ſchlimmen Vermögens: wenftände zu verbeffern; ob er in der That fein anderes In- tereffe bei feiner Bewerbung gehabt Hat, weiß ich nicht nnd ſehe aud nicht, woher e8 Biographen wie Campbell wijfen. Daß es mit feinen ökonomischen Berhältniffen damals fehr übel beftellt war, ift vidhtig; er war hoch in den Dreißigen ohne Praxis, ohne Amt, mit Schulden überhäuft, deren Zinfen er bezahlte, indem er neue Schulden machte. Von feiner Fa- milie war feine Hülfe zu hoffen; die Mutter lebte auf ihrem Witwenfis in Gorhambury und gab foviel fie hatte, aber fie hatte nicht viel; fein Bruder Anthony befaß einige Ländereien in Redburn (Hertfordfhire), die wenig einbrachten; der eine feiner Halbbrüder Nicolas Hatte mehr, aber brauchte alles für feine eigene fehr zahlreiche Familie, der andere, Eduard, konnte Bacon wohl einen Aufenthalt in feiner Wohnung zu Twickenham anbieten, aber Fein Geld. Seit Jahren Hatte Bacon die Anwartfchaft auf eine Regiſtratur in der Stern- fammer, aud) hatte ihm die Königin im November 1595 (als fie Fleming zum solicitor general ernannte) eine Anwartſchaft anf die nächſte Pacht eines Landhauſes in Twidenham ertheilt, aber das alles waren zunächſt nur Ausfichten, womit man feine Gläubiger bezahlen konnte. Die Schulden vermehrten fih, er nahm feine Zuflucht zu Pfandleihern und Juden, und e8 kam im Jahre 1598 fo weit, daß der Goldfchmied Sympfon wegen einer Schuld von einigen hundert Pfund un:

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fern Bacon, als diefer eben vom Tower herfam, auf offener Straße verhaften Tief.

Selbft die Hoffnungen, die er auf Eſſex' Freundfchaft und Geltung bei der Königin fegen Fonnte, fingen an zu erbleichen. Der Einfluß des mächtigen Günftlings war im Sinfen, das gute Einvernehmen zwifhen ihm und Bacon hatte ſchon eine Abkühlung erfahren; bald nahmen die Berhältniffe die unheil- bollfte Wendung, in welche Bacon auf eigenthümliche Art mit verſtrickt wurde, denn feit dem Effer-Proceß hat die Welt nicht mehr glauben wollen, daß unter Bacon’s Fähigkeiten auch Dankbarkeit und Freundfchaft war. Die Effer-Frage ift bio- graphifch fo reichhaltig und für die Beurtheilung der Perſon Bacon’s fo wichtig, daß wir derfelben einen befondern Ab— ſchnitt widmen.

Viertes Kapitel. Bacon und Efier.

I. Eſſer' Perfon und Schickſale. 1. Efier und Elifabeth.

Der einzige Mann am Hofe Elifabeth’s, der Bacon’s Geift und Pläne hoch hielt und deffen Namen wir in nächjter Beziehung zu ihm jchon mehrfach genannt haben, war Robert Devereur Graf von Eſſex. Die Königin felbft war wohl ge- lehrt, doc kann man nicht fagen, daß fie Kunft und Wiffen- ihaft aus freier Neigung befhüßte; fie hatte nichts Mtedicei- ihes, fie ließ die Gelehrfamfeit gelten, foweit fie praftifch war und mit den Öffentlichen Angelegenheiten des Staats und der Kirche unmittelbar zu thun hatte, die theologische und juri- ftifche Gelehrſamkeit; gegen die philofophifchen Dinge war fie gleihgültig, geringfchägend, mistrauifh, die Befchäftigung damit erfchien ihr als unbraudbar und als eine „disqualifi- cation” für den Staatsdienft. Was ihr allein am Herzen (ag, war weniger die Herrſchaft des Menjchen über die Natur vermöge der Wiffenfchaft, als die Herrihaft Elifabeth’8 über England vermöge der Politik; die Staatszwede durchſchaute fie

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Har, und ſelbſt die Leidenfchaften, denen fie ſich hingab, konnten ihr Urtheil nicht verwirren. Ebenſo praftifch und ebenfo ver- ächtlid) in Anfehung der rein theoretifchen Dinge daten ihre Staatsmänner, die Cecils, Walfingham, Eduard Cofe u. a. Eifer war ſechs Jahre jünger al8 Bacon, 34 jünger als Elifabeth. Die Königin war 55 alt, als nad) dem Tode jeines Stiefoaters des Grafen Leicefter (1588) der einundzwanzigjährige Eifer ihr erflärter Günftlimg wurde, ein Mann, nod) in der eriten Blüthe der Jugend, von anmuthiger Nitterlichkeit, feu— rigem Geifte, ungezügeltem Temperamente, kühnem Chrgeize, grogmüthigen Neigungen, aufopferungsfähig in der Freund— ſchaft, ohne Selbſtbeherrſchung in der Leidenſchaft, ftolz und verwegen bis zum Uebermaß, empfänglic für Frauengunft und für VBollsgunft und ganz dazu gemacht, um beide zu gewinnen, ein Charakter und eine Erfcheinung, die etwas von der Art des Alcibiades Hatte und fi) von der Höhe eines leichtgewon- nenen Glücks mit leichtfinnigem Frevelmuthe herabftürzte. Die Königin war ihm mit einer verfchwenderifchen und argwöhni— hen Zärtlichkeit zugethan und eiferfüchtig auf jeden Gegen- ftand feiner Neigung, feinen Ruhm, feine Popularität, feine Freunde; fie war fo gejtimmt, daß fie feine Wünfche jet be- reitwillig und zärtlid erfüllte, jet eiferfüchtig und eigenfinnig abfhlug. Der Grundzug ihrer Zuneigung war mütterlicher Art. In Effer’ Adern floß das Blut der Boleyn, feine Mutter war die Nichte der Königin, fein Vater Walter Effer war ihr Freund gewefen im verlafjenen Tagen, fie Hatte von mütter- licher Seite her feinen andern männlichen Verwandten.*)

*) Anna Boleyn, die Mutter Efifabeth’s, hatte eine Schwefter, deren Tochter, Katharine Carey, Eliſabeth's nächſte Couſine und. ihre Fiebfte Jugendfreundin war; diefe hatte als Lady Knollys eine Tochter, Fettice

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Unter feinem Stiefvater Leicefter hat Effex feine erften Kriegsdienfte in den Niederlanden gethan (1585—86). Jetzt ftieg er fchnell empor, die Königin ernannte ihn 1587 zu ihrem Stallmeifter, im folgenden Jahre zum General der Ca— valerie im Kriege gegen Spanien und ſchickte ihn 1591 zur Unterftügung Heinrich's IV. mit englifhen Hülfstruppen nach Franfreih; im Jahre 1593 wird er Geheimer Nath, drei Jahre fpäter erhält er den Dberbefehl der gegen Spanien be- ftimmten Landungstruppen; der glänzende Erfolg diefes Feld- zugs, die Vernichtung der ſpaniſchen Flotte, die Eroberung von Gadir erhebt feinen Namen unter die vollsthümlichen Helden Englands.

Cadir ift der Gipfel feines Ruhms. Von Hier geht feine Bahn abwärts. Die nädhjfte Expedition nad) den Azoren im Juni 1597, von Effex befehligt, verunglückt durch feine Schuld. Er Hatte die jpanifche Flotte, die mit Schäten von Indien fam, auffangen und ihr den Weg nad Terceira verlegen follen;

er verfehlt fie und vereinigt fi mit NRaleigh, der Contread-

miral war, Fayal genommen und das Werf der Eroberung faft vollendet hatte. Der Ruhm diefer That gebührt Raleigh, aber Eſſex, darauf eiferfühtig, erwähnt in feinem amtlichen Berichte nichts von Raleigh's DVerdienft und wedt dadurch deſſen Feindſchaft. Unverrichteter Sache kehrt die englifche Flotte Ende October 1597 zurück, ſogar die engliſche Küſte war in Gefahr. Schon jetzt Hatte Effer die Unzufriedenheit der Königin erregt und verdient; aber zu verblendet, um die eigene Schuld und feine Fehler zu erkennen, fpielt er den Be-

Knollys, die in erfter Ehe mit dem Grafen Effer, im ziveiter mit dem Grafen Leicefter, Eliſabeth's Günftling, vermählt war, Ihr Sohn ift Effer, von dem wir reden.

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leidigten und fängt an, misvergnügt zu werden. Daß feine Empfehlungen nichts ausrichten, feine Gegner Einfluß und Aemter gewinnen, macht ihn übellaunig und den Einflüfterun: gen factiöfer Feinde des Staats allmälig geneigt. In feiner eigenen Familie werden böje Einflüffe genährt, feine Mutter hatte fich als Gräfin Effer durch Leicefter, als Gräfin Leicefter durch Ehriftopher Blount, einen Mann niedriger Herkunft, ver- führen laffen und nad dem Tode des Gemahls den Verführer geheirathet. Diefer Blount ift ein Werkzeug der Fatholifchen Agitation, und Effer läßt fi) durch ihn beeinfluffen. So legt fi das Ne, worin er fich verfängt, um feine Füße.

2. Statthalterfdhaft in Irland.

Ein neues Unternehmen lodt feinen Friegerifchen Ehrgeiz. Im Jahre 1598 ift in Irland unter dem Grafen Throne ein Aufftand ausgebrochen, der die Niederlaffungen der englifchen Proteftanten bedroht und das Land von der englifchen Herr- Schaft befreien will. Jetzt begehrt Effer den Dberbefehl über das nad) Irland beftimmte Heer, feine Gegner am Hofe, in der Abfiht ihn zu entfernen, begünftigen wie es ſcheint feinen Wunſch, widerwillig giebt Elifabeth nad) und ernennt ihn zum Lordlieutenant von Irland (1599). Im Frühjahre landet er in Dublin; man fah in London glänzenden Siegen entgegen, fo günftig war die Volfsftimmung für Effer; verglich doch Shafefpeare, der damals feinen Heinrich V. aufführen Tief, im Prologe des leiten Actes fogar den Zubel, mit dem einft England den Sieger von Azincourt empfing, den freudigen Hoffnungen, womit das Volk jet den Triumphator von Ir- land erwartet.

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Wenn jetzt der Feldherr unfrer Königin

Wie er es leichtlich mag, aus Irland fäme

Und brädt’ Empörung auf dem Schwert gefpießt: Wie viele würden diefe Friedensftadt

Berlaffen, um willkommen ihn zu heißen!

Diefer Traum ging nit in Erfüllung. Durch eine Reihe unfluger und unpolitifcher Maßregeln gerieth Effer in den Ver— dat, dem Aufftande felbjt und der katholiſchen action in die Hände zu arbeiten; ftatt die Infurgenten mit Waffengewalt niederzumwerfen, läßt er die günftige Gelegenheit vorübergehen und beginnt Unterhandlungen mit dem Haupte der Empörung. *) Das Bertrauen Elifabeth’8 war tief erfchüttert, fie griff jetzt unmittelbar in die Leitung der iriſchen Angelegenheiten ein, und Effer fah fich nicht blos in feinem Dberbefehl in Irland, fondern in feiner ganzen Stellung am Hofe der Königin be- droht. Plötzlich verläßt er Dublin und fehrt im September 1599 nad) London zurüd; im Reiſekleid, ſtaubbedeckt erfcheint er im Palaſte Nonfuh und überrafcht die Königin bei ihrer Morgentoilette, feine perfönliche Gegenwart übt auf Elifabeth den gewohnten Zauber, und es fcheint einen Augenblid, als ob fie ihm alles verzeihen wolle. Dod bald nad einem Gefprähe mit Cecil, ihrem Minifter (Burleigh war das Jahr vorher geftorben), entjchließt fie fi) anders und befiehlt, daß Eifer in Haft bleibe; ihre Abſicht war nicht, ihn zu ftürzen, jondern zu demüthigen; fie wollte ihm nicht vichterlich, ſondern

*) Auch in Fleinern Dingen handelte Effer ungehorfam und rlid- ſichtslos gegen die Königin. Der junge Graf Southampton hatte die Bernon, eine der Hofdamen Eliſabeth's, verführt und war deshalb aus London verbannt worden. Heimlich Fehrt er zurück und heirathet die Bernon. Die Königin ftraft ihn mit Haft in feinem Haufe; gegen

fein Wort entfernt er fi heimlih, geht nad) Dublin zu Effer und diefer macht ihn zum General ber Cavalerie,

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pädagogifch ftrafen, mütterlich züchtigen, jo mild als möglid) unter dem Scheine der Strenge; fie hätte e8 am liebſten bei der Cenſur bewenden lafjen, welche die Sternfammer, ohne daß Effer gehört wurde, gegen ihn ausſprach. Aus Rücficht auf die öffentliche Meinung Tieß fie ein zweites Verfahren eintreten, wobei Anklage und Bertheidigung ftattfand; fie er- nannte zu diefem Zwed einen außerordentlihen Gerichtshof von 18 königlichen Commifjaren, der fi den 5. Juni 1600 in Yorkhouſe verfammelte, Eſſex' Führung in Irland für ta- delnswerth erfannte und fein Urtheil dahin abgab, daß er von feinen Aemtern fuspendirt fein und in feinem Haufe gefangen bleiben folle, folange es der Königin gefalle. Eſſex verzichtete auf alle Rechtfertigung und hörte den Spruch Eniend.

3. Verſchwörung und Untergang.

Bald erhielt er die Freiheit zurüd und die Erlaubniß auf feine Güter zu gehen; der Hof blieb ihm verboten, doc Hatte Elifabeth feine völlige Wiederherftellung im Sinne, und als Effer im September 1600 London verließ, war er ficher, daß ihn die Königin in der Kürze zurüdrufen werde. Aber eine abgeſchlagene Bitte machte ihn an der guten Abficht der Kö— nigin vollkommen irre und nahm ihm jede befonnene Empfindung. Er hatte gewünfcht, daß ihm das einträglihe Monopol der fpanifchen Weine, deffen Dauer abgelaufen war, wieder er- neuert werde, und die Königin, die dem Scheine feiner De- muth und Gefügigfeit mistraute und dahinter nur Eigennuk zu fehen glaubte, hatte die Sache verweigert. Jetzt fing er an die Königin zu Haffen und fprah von ihr offen in den ungebührlichiten und roheſten Ausdrüden; er fei nicht ihr Sklave und werde ſich nicht fo ungerecht behandeln laſſen von diefem

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alten Weibe, ebenfo krumm an Geift als an Körper; er fann auf Race und Tieß fi mit Blount und andern in hochver- rätherifche Pläne der unfinnigjten Art ein. Man wollte ſich der Perſon der Königin bemächtigen und in ihrem Namen die Gewalt ergreifen. lifabeth ift von allem unterrichtet, fie weiß, welche Sprache Eſſex offen gegen fie führt, welche ge— heime Anjchläge er brütet und daß der 8. Februar 1601 zum Ausbruh der Verſchwörung beftimmt ift. Den Abend vorher hatte ber Graf Southampton im Globe vor den VBerfchworenen Shakeſpeare's Richard II. aufführen laſſen, gleihfam als er- munterndes Beifpiel der Abfegung eines Königs und einer erfolgreichen Ufurpation; man fagt auch, daß diefe Dichtung damals der Königin verdächtig gemacht wurde als tendenziöfer Beftandtheil eines großen Complots, das Stüd folle den Unter- thanen zeigen, wie man einen König aus dem Wege fchaffe; fie ſei Richard, Eſſex fei Bolingbrofe. Die Verſchwörung jelbft war verzweigt und ftand, wie e8 fcheint, mit den irischen Rebellen und mit dem Könige von Schottland in Zufammen- hang; man will fie als eins der Glieder jener papiftifchen Berfhwörungstette anfehen, die fich zuerft an die Prätendent- ihaft der Maria Stuart anfnüpfte und zulett in dem Pulver: complot ausbrad).

Den 8. Februar früh ſchickte Elifabeth vier der höchſten Staatsbeamten, darunter den Großfiegelbewahrer und den Lord Oberrichter, nad Efjerhoufe, um die Urfache der geheimen Berfammlungen zu erfahren. Efjer hielt die Räthe der Kö— nigin feit, jtürzte mit feinem Anhange auf die Straße und rief die Bürger zu den Waffen. Niemand folgte ihm. Das Unternehmen ift ebenfo erfolglos als planlos. Nach wenigen Stunden, nad einem kurzen Kampfe ift alles vorüber, Eiffer

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ſelbſt ergriffen und in den Tower gebradt. Er ftellte den Hochverrath in Abrede, das Unternehmen fei nicht gegen die Köni- gin und den Staat, jondern gegen ein Complot feiner Feinde gerichtet gewefen, das Haupt diefer Feinde fei Walter Raleigh, deffen Anfchläge gegen fein Leben eine ſolche Selbfthülfe her- vorgerufen hätten. Das Gericht fand Eſſex ſchuldig und ver- urtheilte ihn zum Tode; mit der größten Seelenruhe nahm er das Urtheil Hin und fuchte nur das Leben feiner Freunde zu retten. Die Königin foll ſehr geſchwankt haben, bevor fie den Spruch beftätigte. Den 25. Februar 1601 fiel Efjer! Haupt auf dem Schaffot. Zwei Iahre fpäter, den 24. März 1603, ftarb Clifabeth in tiefer Schwermuth und des Lebens voll- fommen überbrüßig; fie hatte die Königin SEHE: aber fie war als Frau gebrochen.

II. Bacon's Derhältniß zu Efer.

Im Jahre 1590 oder fpäteftens in der erften Hälfte des folgenden Jahres Ternte Eſſer Bacon kennen und trat bald mit beiden Brüdern in Verbindung: Anthony wurde fein Se- eretär, Francis fein politifcher und juriftifcher Rathgeber. Wir wiſſen, mit wie vielem Eifer, wenngleich mit wenigem Erfolg, er Bacon's Sache bei der Königin vertrat, wie aufrichtig und lebhaft er von feinem Talent und Werth überzeugt war. Immer nennt er ihn feinen guten Freund Bacon. Bevor er nah Spanien unter Segel geht, empfiehlt er ihn dem Siegel- bewahrer Egerton in einem Briefe vom 27. Mai 1596: „es jei in England Fein Mann, deffen Glüd er Iebhafter und

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eifriger wünfche”. Es war eine Zeit, wo Bacon in geringen und ungünftigen Verhältniffen Keinen befjern Freund hatte, als den mächtigen, von jeder Gunft des Schickſals hoch empor- gehobenen Eſſer. Wie war e8 möglich, daß er gegen diejen Mann, als er zu Boden lag, unter den Anklägern auftrat?

Als die Königin nad) der Hinrihtung zum erften male in die City kam und fi) von Seiten des Volks kalt empfangen fah, wünſchte fie, daß Effer’ Verurtheilung und Hinrichtung durch eine „geſchickte Feder’ öffentlich gerechtfertigt werde; fie trug biefes Werk Bacon auf und er gehordte ſogleich. Er fchrieb „eine Erklärung der Ränke und Verräthereien, ver- ſucht und begangen durch Robert weiland Graf Effer und feine Mitſchuldigen“*). Alle Welt erhob gegen Bacon den Vor- wurf, daß er faljch und undankbar gegen Efjer gehandelt. Diejer Vorwurf Hat ſich fortgepflanzt von Gefchledht zu Ge- ſchlecht und ift heute noch fo laut wie damals, Daß er ſchon damals laut wurde, follte Diron nicht beftreiten, da Bacon felbft e8 jagt. „Kin Iahr nad) dem Tode der Elifabeth war er genöthigt, ſich „gegen gewiffe Vorwürfe in Betreff des ver- ftorbenen Grafen Effer’ öffentlich zu vertheidigen; er that es in Form eines Briefs an den Lord Montjoy, der Efier als Statthalter in Irland gefolgt war.**)

Laute Vorwürfe find noch nicht gerechte. Bevor wir ur- theilen, wollen wir Bacon jelbft hören. Wie hat er gegen Eifer gefchrieben? Wie zu feiner eigenen Vertheidigung?

*) A declaration of the practices and treasons attempted and committed by Robert late Earl of Essex and his complices etc. (1601). The works (Sp.), vol. IX, p. 245 fig.

**) Sir Francis Bacon his apology in certain imputations con- cerning the late earl of Essex in a letter to lord Montjoy, now Earl of Devonshire. The works (Sp.), vol. X, p. 139 fig.

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1. Bacon’3 Declaration.

In der Art, wie Bacon Eſſex' Schuld darftelit, regt ſich feine Spur menschlicher Theilnahme, Fein noch jo leifer Ver- fuch der Milderung, in Gefinnung und That erfcheint Eifer als durchaus ſchlecht und verbrederiih. Er Hat nichts im Sinn als feinen Ehrgeiz, der ihn fo weit treibt, daß er „prae- fectus praetorio“, Herr der gefammten englifchen Kriegsmacht werden möchte; gegen jeden Nebenbuhler ift er misgünftig, gegen die Königin verrätherifch, Abfalon ähnlich; mit ſchlimmen Plänen geht er nad) Irland, vergeudet die Zeit, ſchließt einen ihimpflichen Frieden, fucht ſich aus den irifchen Rebellen eine Partei, aus dem Heer ein williges Werkzeug zu machen in der Abficht auf eine bewaffnete Landung in England; Mit- jchuldige haben e8 bezeugt, es fei fogar verabredet worden, Effer folle König von England, Tyrone Vicefönig in Irland werden; mit dieſem habe er einen Vertrag gegen Die englifchen Intereffen in Irland gefchloffen und dafür die Kö— nigin gewinnen wollen, daher feine plögliche Rückkehr nad) London. Nachdem feine Schuld erwiefen, habe ihm die Köni- gin großmüthig verziehen; kaum in Freiheit gefett, habe er die frühern Pläne wieder aufgenommen, geheime Umtriebe gemacht, allerhand Teichtfinnige und misvergügte Leute um ſich verfammelt und eine Verſchwörung angezettelt, die den Um- fturz der öffentlichen Dinge bezweckte; zulett habe er offene Gewaltthat verſucht und fei elend gefcheitert. Härter war Eifer nicht zu befchuldigen, als Hier nad) feinem Tode durch Ba— con’8 Feder gefchehen. E8 war wie eine zweite Hinrichtung, und man darf ohne Empfindfamfeit erftaunt fein, daß der Mann, der diefe Schrift verfaßte, jemand war, dem Eifer

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Gutes erwiefen. Wenn er den unglüdlichen Effer mit Recht befhuldigt, daß er undankbar gegen die Königin gewefen, fo darf man wol fragen: war denn Bacon dankbarer gegen

Eſſer? 2. Bacon's Apologie.

Es ſcheint, daß er ſelbſt das peinliche Gefühl dieſer Frage gehabt hat, denn er ſucht am Schluß ſeiner Vertheidigung die Schuld jener Schrift von ſich abzuwälzen, ſophiſtiſch genug: er habe ſie geſchrieben nicht wie ein Autor, ſondern wie ein Secretär, in allen Punkten geleitet; ſie ſei im geheimen Rath der Königin genau durchgeſehen, erwogen und ſo verändert worden, daß am Ende eine Schrift herauskam, wozu er ſelbſt nichts gegeben als den Stil. Zuletzt habe ſie die Königin noch einmal Wort für Wort geleſen und eigenhändig Aende— rungen gemacht, ſie habe ihn ſogar getadelt, daß er den alten Reſpect gegen Eſſex nicht vergeſſen und „mylord of Essex“ geſagt habe, während es blos heißen dürfe: „Essex“ oder „the late earl of Essex“; ja fie bejtand darauf, daß um diefer Kleinigkeit willen die Schrift noch einmal gedruckt wurde:

Diefe Bertheidigung ift ſchlimmer als feine. Warum lieh er feine Feder zu einer Schrift, die er als die einige nicht anerkannte und die das Gefühl der Welt gegen ihn auf- bringen mußte? Warum ließ er fi) als Werkzeug brauchen? Es wird faum möglich fein, in diefem Punkte Bacon von einer unmwürdigen Willfährigfeit freizufprechen, aber, um in der Beurtheilung feiner Empfindungsweife ficher zu gehen, muß man doch die Beziehungen zwifchen Eifer und ihm ge- nauer unterfuchen; man muß wifjen, weldes Verhältniß zwi—

jhen beiden beftand, welchen Wechſel dafjelbe erlebt hat. Fiſcher, Bacon. 5

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Darüber gibt Bacon’8 Bertheidigungsihrift eine ebenjo in- tereffante und charakteriftifche, als meiner Meinung nach richtige Aufklärung. Die Frage ſelbſt ift biographijc genommen Jo er- heblich, daß wir ung unmöglich bei dem Gemeinplag begnügen können, wonad auf der einen Seite die großmüthigfte Freund- ihaft war, auf der andern Seite nichts als der käüälteſte . Undant.

Seine Freundfhaft für Effer, fo befennt Bacon felbit, fei weder unbedingt noch ungetrübt gewejen, er halte es mit dem Worte der Alten: „amicus usque ad aras“; erſt Gott, dann der König, dann der Freund. Er habe in Effer eines der beiten und tauglichjten Werkzeuge für das Staatswohl ge- fehen und ſich deshalb dem Dienfte defjelben jo ausſchließlich gewidmet, daß er darüber den der Königin, Vermögen und Beruf vernadhläffigt, auch feinen Bruder bald nad) deſſen Rüd- fehr bejtimmt Habe, ebenfalls in die Dienfte des Grafen zu treten. Eſſex habe fi gegen ihn wohlmwollend und freigebig bewiefen, feine Amtsbewerbungen unterftügt und, als dieſe fehlgefchlagen, ihm ein Landgut gejchenkt, das er für 1800 Pfund verfauft, obwohl e8 werthvoller war. Indeſſen feien ſehr bald zwifchen dem Grafen und ihm Differenzen entftanden, bejon- ders in zwei Punkten, betreffend Eſſex' Benehmen gegen die Königin und feine Sudht nad) Kriegsruhm und Volklsgunſt. Er habe Eſſer wiederholt gerathen, ſich gegen die Königin folg- fam und gefügig zu zeigen, dann werde fie bald wie Ahas- verus fragen: „Was foll dem Manne gefchehen, den der König ehren will?” Dagegen pflegte Eſſex zu jagen, man müffe der Königin imponiren, um fie zu gewinnen, denn fie fünne nur durh Zwang und Autorität zu etwas gebracht werden. Hatte er dann mit feiner gewaltfamen Art wirklich etwas durchgefekt,

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fo triumphirte er gegen Bacon: „Nun fehen Sie, weſſen Prin- cipien die Probe beftehen!” Bacon entgegnete, ein folches Verfahren fei wie heiße Wafjercuren, die wohl bisweilen helfen, aber fortgejetst jchaden. Auch habe er ihn oft vor jenem zwie— fachen Ehrgeiz nad) Kriegsruhm und Volksgunſt gewarnt, der, wenn er Glück habe, Leicht die Eiferfucht der Königin, feinen eigenen Webermuth und öffentliche Störungen erregen Fünne; Kriegsruhm und Volksgunſt feien wie die. Schwingen des SHarus mit Wachs befeftigt, leicht zu löfen, dann folge der jähe Sturz. Eſſex nahm folche Rathichläge wenig zu Herzen und meinte fpottend, fie kämen nicht von Bacon’s Geift, fon- bern von feinem Rod (auf die feidene Robe anfpielend).

Diefe Meinungsverfchiedenheit führte allmälig zu einer gegenfeitigen Entfremdung, und als Efjer wegen des irifchen Feldzugs Bacon wieder um Rath frug, hatten fich beide Männer feit 18 Monaten nicht gefehen. Bacon fannte die Rage der Dinge, er wußte fehr gut, daß Irland nur auf wirthichaft- fihem Wege zu helfen fei, er jah voraus, daß Eifer in diejer Sache nichts ausrichten, nichts gewinnen, durch Mliserfolge die Gunft der Königin verlieren, durch feine Entfernung feinen Feinden am Hofe das Feld freilaffen werde. „Ich widerrieth es nicht blos“, fagt Bacon, „Sondern that förmliche Einfprade; es würden für Ejfer, die Königin, den Staat verderbliche Fol- gen daraus entjtehen; ich Habe nie ernfter weder mündlich nod) ſchriftlich mit ihm geredet.‘

Während Eifer’ Abwefenheit fieht Bacon die Königin häufig in ihrem Palaſte Nonſuch und findet fie leidenſchaftlich verftimmt über Eſſex' Verfahren in Irland, er handele ohne Glück, ohne Urtheil und nicht ohne eigennügige Nebenabfichten. Damals habe Bacon der Königin gerathen, fie möge Eifer in

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ehrenvolffter Weife zurückrufen und ihm eine Stellung am Hofe geben, wie Xeicefter fie gehabt. Nad Eifer’ plößlicher Rückkehr von Dublin habe er ihn fogleich bejucht und feinen niedergefchlagenen Muth aufgerichtet; auf feine Frage: was wird aus mir werden? Habe er ihm Rath und Troft gegeben: es fei ein Wölkchen, das vorüberziehe, ein Nebel, bei dem es darauf anfomme, ob er fteige oder falle; man müſſe alles thun, daß er nicht fteige. Schon damals habe man gejagt, daß er die Königin gegen Effer einzunehmen fuche; das fei falfh, vielmehr Habe er ftetS zum Guten geredet, jogar ein Sonett an die Königin gerichtet, um fie verſöhnlich für Eſſer zu ftimmen.*) Selbjt Eſſex' Rüdfendung nad Irland habe er nicht widerrathen, freilich nod) weniger gutgeheißen; die Königin fei in diefer Sache völlig entfchieden gewefen und habe feines Rathes gar nicht bedurft. Sie hatte Montjoy an Ejjer’ Stelle ernannt und fprad) davon gelegentlih mit Bacon, ‚Wenn Ihre Majejtät”, entgegnete diefer, „nicht die Abficht haben, Efjer zurüdzujchiden, jo konnten Sie feine beſſere Wahl treffen.“ Darauf habe die Königin heftig erwidert: „Eſſer! Wenn ic Eſſex je wieder nad) Irland ſchicke, jo will id) Sie heirathen, Bacon, fordern Sie e8 von mir!“

Wir fennen das Verfahren, welches die Königin gegen Eifer einfchlug; auc Hier widerrietd Bacon zweimal, was die Königin wollte, und erregte dadurch ihren Unmwillen. Zuerft misbilligte er, daß die Sternfammer über Effer ungehört urtheilen folle, denn dies widerftreite den Formen der Ge- rechtigfeit und werde bei der Öffentlihen Meinung Anftoß

*) Diefes Sonett liberreihte Bacon der Königin, als diefe Ende September 1600 (aljo ein Jahr nad Eſſer' Rüdkehr) in feiner Sommer- wohnung zu Twidenham bei ihm zu Mittag af.

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finden; die Königin nahm die Einrede übel und fprad mit ihm monatelang fein Wort. Die Procedur fand ftatt, ohne daß Bacon daran theilnahm. Gegen Dftern 1600 wurde die Königin anderer Meinung, fie räumte ein, daß Bacon recht gehabt und wünfchte ein zweites fürmliches Verfahren „ad castigationem”, wie fie wiederholt fagte, nicht ‚‚ad destruc- tionem”. Auch jest widerfprad) Bacon; wenn ihn die Kö— nigin frage, jo müfje er antworten, wie Frater Bacon’s Kopf ſprach: „Zeit ift, Zeit war, Zeit wird niemals fein”; es fei jetst zu fpät, die Sache fei Falt geworden und habe fchon zu viel Wind gemadt. Die Königin, von neuem gegen Bacon verjtimmt, blieb bei ihrem Entfchluß; es Fam zu jener gericht» lichen Berhandlung in Yorkhouſe, wozu Bacon der Königin feine Dienste anbot, aber auch erklärte, wenn fie ihn aus Rück— ſicht auf fein Verhältniß zu Effer ausfchließen wolle, fo würde er dies als höchſte Gunft anfehen. Er wurde mit den übrigen Kronjuriften zugezogen und an der Unterfuchung in einem ganz untergeordneten Punkte betheiligt.

Seitdem habe er alles gethan, die Königin mit Effer aus- zuföhnen; er habe ihr gejagt, daß fie zwei Triumphe davon- getragen: über die öffentliche Meinung und über Eſſex' Hoch— muth; jene fei befriedigt, diefer gedemithigt. Die Königin fchien damit fehr zufrieden und äußerte wiederholt, ihr Ver— fahren gegen Eifer fei „ad reparationem”, nicht „ad ruinam”. Während bes ganzen Sommers (1600) habe er für Eſſex' Wiederherftellung gearbeitet und mit diefem felbjt fortwährend brieflich verkehrt, er Habe fogar auf Efjer’ Bitte Briefe in feinem Namen an die Königin aufgefett, wie er mußte, daß fie ihr den beften Eindruck machen würden. Auch fei monatelang alles vortrefflich gegangen, die Königin war

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in der günftigjten Stimmung und hörte wieder fehr gern von Efjer fprehen. Da bemerkt fie eines Tags gegen Bacon, daß ihr Efjer fehr ehrerbietig gejchrieben habe, fie habe den Brief zuerft als eine Herzensergießung genommen und empfunden, dann aber gejehen, daß der eigentliche Be— weggrund Fein anderer war, als die Bitte um Erneuerung des Monopols der fühen Weine. Mit einer geiftreichen Antwort und im beften Sinne für Efjer fucht Bacon den Argwohn der Königin umzujtimmen: es könne ja beides recht wohl zufammen bejtehen, der Menſch habe zwei Grundtriebe, er ftrebe nad Vervollkommnung wie das Eifen nad dem Magnet, zugleich nad) Selbterhaltung wie der Wein nad) der Stange, das thue der Wein nicht aus Liebe zur Stange, fondern um fich aufrecht zu Halten. Wiederum Habe er zwei feiner falfchen wohlgemeinten Briefe gejchrieben, den einen als von feinem Bruder Anthony an Effer gerichtet, den andern als Antwort des letztern, worin diefer feine Gemiüthsverfaffung jo fchil- dert, wie die Königin fie wünfchte. Die Königin habe die Briefe gelefen, aber ſich nicht umftimmen laffen; fie blieb er- zürnt gegen Effer, übel gelaunt gegen Bacon, fie ließ ihn ftehen, ohne ihn anzureden, fie ſchickte ihn fort, wenn er in Gefchäfts- fahen kam, bis er endlich es nicht länger ertragen und der Königin eines Tags offen gejagt habe, fie behandle ihn als „enfant perdu“, er ftehe zwifchen Thür und Angel, viele von den Großen feien ihm ungünftig, weil fie meinen, er fei gegen Eifer, die Königin fei ihm abgemeigt, weil fie glaube, ex fei für ihn. Eliſabeth Habe darauf freundlich und beruhigend geantwortet, aber von Eſſex Fein Wort gefprochen. Dies war Bacon's letztes Gefpräd mit der Königin vor dem verhäng- nißvollen 8. Februar.

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Was zulett feine Theilnahme an dem Hochverrathsprocek jelbft betrifft, fo Habe er fich nicht unter die Ankläger gedrängt, jondern nur gethan, was Amt und Pflicht gefordert; zwifchen dem Verhör und der Hinrichtung habe er die Königin nur ein— mal geſprochen und ihre Gnade im allgemeinen angerufen, weil das Verbrechen zwar groß, aber die Gefahr klein war; Eifer ſei nicht zu retten gewefen, aber feiner Bemühung fei e8 gelungen, einige der Angeklagten zu befreien.

3. Anftreten gegen Eſſer.

Bacon plaidirte in dem HochverrathsproceR jelbft ſchonungs— (08 gegen Effer, er trat im Laufe der Unterfuchung zweimal auf, um die Ausflüchte des Angeklagten abzufchneiden und zeigte die Schuld defjelben im ſchlimmſten Lichte. Da Effer feine That bald als Abwehr gegen NRaleigh, bald als der Kö— nigin feineswegs feindfelig darftellen wollte, fo verglich ihn Bacon erft mit Pififtratus, dann mit Heinrich Guife, zwei Beifpiele, die für Effer nicht gefährlicher gewählt fein konnten, denn fie gingen unmittelbar auf die Abſicht der Ufurpation. E8 gebe, fagte Bacon in feiner Rede, für den Angeklagten keinerlei Rechtfertigung, nur das einfache Belenntniß der Schuld. Effer hatte dem Gerichtshofe gegenüber allerhand Ausweichun- gen und Digreffionen verfucht, er Hatte, um Bacon in Ber: Tegenheit zu bringen, fogar auf jene faljhen Briefe hinge— wiefen, die der Ankläger ſelbſt in feinem Intereffe geſchrieben; Bacon, fagte Effer, Fünne ihn am beften gegen Bacon ver- theidigen. Diefer Tieß fich nicht irre machen, und er war es hauptfählih, der den Angeklagten unerbittlih bei der Sache fefthielt, nämlich bei dem unleugbaren Hochverrath. Nachdem

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das Urtheil gefällt war, legte Eſſer aus freien Stüden um— faffende Geftändniffe ab und ftarb fchlicht und ergeben.

III. Das Ergebniß.

Nach diefer Einfiht in die Lage und den Verlauf der Dinge läßt fih Bacon's Verhalten gegen Eſſex objectiv wür- digen, und da ftelit fi) das unbefangene und fachkundige Urs theil doch günftiger für ihn als die gewöhnliche Meinung der Welt. Man muß überhaupt die Freundfchaft beider nicht zu ideal auffaffen; es war nicht Dreftes und Pylades, fondern bei aller gegenfeitigen Neigung der Lord und der Adoocat, der Gönner und der Schügling; ihre Beziehungen gründeten fich zum großen Theil auf praftifhe Intereffen, auf gegenfeitige gute Dienfte, wobei Bacon das Seinige in Rath und That geleiftet hat und dem Lord nichts ſchuldig blieb, das ihn zu einem Ueberfhuß von Dankbarkeit verpflichten Fonnte. Das Derhältniß fteht nicht jo, daß wir auf der einen Seite blos den Wohlthäter, auf der andern blos den Empfänger vor ung jehen. Bacon hat ſich Ejfer gegenüber feine Unreblichkeit, Feine Untreue vorzuwerfen: er hat, wo er nur fonnte und fo lange als möglih, die Sache des Grafen gefördert nad feiner beiten Ueberzeugung und in der beften Abficht; auh war diefe MUeberzeugung mehr als blos gute Gefinnung, fie war das richtigfte Urtheil, und Effer hätte in der Welt nichts Beſſeres thun können, als Bacon's wohlgemeinte Rathſchläge befolgen. Er that das äußerſte Gegentheil und ging den Weg des Verderbens. Es iſt nicht zu zweifeln, daß

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auch von Eſſex' Hochverrath Bacon genau die Meberzeugung hatte, die er ausjprah, und daß diefe Weberzeugung richtig war. Es würde ihm menjchlich jchöner geftanden haben, wenn er der Verurtheilung des frühern Freundes, die er nicht hin— dern konnte, fern geblieben wäre, felbjt auf feine Gefahr; wenn er nad der Hinrichtung durch das Gefallen, welches die Kö— nigin an feiner Feder fand, fich nicht hätte beftimmen Laffen, jenen Federdienft gegen Eifer’ Andenken zu verrichten, um fei- nerjeitS der Königin zu gefallen. Er mochte es wünfchen, nachdem er durch feine Freundihaft und Fürfpradhe für Effer mehr als einmal den Unwillen und felbjt den Argwohn Eli— jabeth’8 erregt hatte. Wäre Bacon ein Idealiſt in der Freund- ſchaft und ein Rigorift in der Staatspflicht geweſen, fo Fünnte man denken, daß er fi in einem Conflict zwifchen Staats- pflicht und Freundſchaft befunden umd die erfte, wie es nöthig war, erfüllt Habe; aber ev war fein Pylades in der Freund- ihaft und fein Cato in bürgerlicher Tugend. Ein folches Ge- präge hatte der Widerftreit nicht, in den er gerathen war. Für Eſſex fprah nur die Rückſicht auf das frühere Verhält- niß und auf das Urtheil der Leute, gegen Eſſex die Ueberzeu— gung von feinem Hochverrath und dev Wunſch, der Königin zu ‚gefallen. Dieje beiden letten Intereffen, das politifche und perfönliche, gaben den Ausichlag, der feine Haltung entichied. Die Welt hat jeine Freundespflichten gegen Eifer überſchätzt, jeine Ueberzeugung entweder nicht gefannt oder zu gering an- geichlagen und darum unbillig und oberflächlich geurtheilt, dag er aus blofem Eigennuß die Freundichaft ſchnöde ver- rathen habe. Man darf fich über ein folches Urtheil nicht wundern, denn die Freundſchaft ift allemal populärer als die Staatspflidt.

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Indeffen, wenn in Rüdfiht auf Bacon’s Verhalten gegen Eſſer die blinde Verdammung aufhören joll, fo iſt fein Grund, auf feiner Seite alles vortrefflich zu finden, wie Diron in einem Aufwand von Advocatenfünften verſucht. Es fei nicht wahr, daß fid) die Meinung der Welt gegen Bacon erflärt habe, der bejte Beweis dagegen fei, daß er in demjelben Jahre (October 1601) zweimal ins Parlament gewählt wurde für Ipswich und St.-Albans. Das ift gar Fein Beweis, denn ein ihledhter Freund kann immerhin ein brauchbares Parlaments- mitglied fein; wenn Bacon’8 Name dur den Proceß und die Declaration gegen Effer moralifch gelitten hatte, fo hatte er deshalb noch nicht feine parlamentarifche Geltung verloren. Das befte Zeugniß gegen Diron giebt Bacon felbft, der gleich in den erften Worten feiner Vertheidigungsichrift befennt, er wiffe wohl und empfinde e8 fchmerzlih, daß er wegen Eifer üble Nachrede leide und im „common speech” der Falfchheit und Undankbarkeit beſchuldigt werde.

Man möge jagen, daß Bacon in feiner Anklage gegen Eifer nad) richtiger Ueberzeugung gehandelt und feine Pflicht erfüllt habe; daß er e8 aber in der mildeiten Weife gethan, ift ebenfalls unmahr, denn er hat nicht geduldet, daß der hoch— verrätherifche Charakter des Unternehmens, der Efjer den Kopf foftete, den Eleinften Zweifel oder Abbruch leide. Was war da noch zu mildern?

Diron geht noch weiter; er verneint, daß Bacon dem Grafen Efjer irgendeine Rüdfiht aus Freundſchaft ſchuldig war, denn Effer fei gar nicht fein Freund geweien, er habe ihm nichts Gutes, fondern nur Uebles erwiefen. Was habe denn feine Fürſprache bei der Bewerbung um die Staatsämter ausgerichtet ? Nichts und weniger als nichts! Denn der über-

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triebene Eifer und die Heftigfeit, womit Efjer die Sache Ba— con’8 betrieben, habe gejchadet. Und nun lautet der Schluß, der gröber iſt als fophiftifch: Eſſer war dierUrfadhe, daß Bacon niht Staatsanwalt wurde, aljo war ihm Bacon nidhts ſchul— dig, fondern Hatte vielmehr allen Grund, ſich über Effer zu beffagen. Das heißt die Freundfchaft nicht nad) der wohlwol- (enden Gefinnung, jondern blos nad) dem Profit beurtheilen, der dabei abfällt. Wenn Bacon ebenfo dachte, fo war er in diefem Punkte genau fo jchlecht, wie ſich die öffentliche Mei- nung ihn vorftellt. Freilich meint Dixon, es fei nicht Wohl- wollen gewefen, weshalb Effer ſich fo eifrig für Bacon be- mühte, fondern einfach Schuldigfeit und Schuld im buchſtäb— lihen Sinn, denn Bacon habe ihm jahrelang Dienfte geleiltet und Eſſer bei feiner VBerfchwendung fein Geld gehabt, ihn zu entfhädigen, daher fuchte er ihn mit Staatsämtern zu be- zahlen. Diefe Ausflucht ift wiederum falfh. Bacon felbft rühmt in feiner Bertheidigungsfchrift Eſſex' Freigebigkeit und erzählt von dem großen Geſchenk eines Landgutes, das ihm jener gemacht und das werthvoller war, als die für jene Zeit beträchtliche Summe, die aus dem Verkauf gelöft wurde.

Mit einem Wort: wenn die Sache zwifchen Efjer und Bacon fo geftanden hätte, wie Dixon fie giebt, indem er fie in alfen Punkten entjtellt, fo hätte Bacon entweder gar feine oder eine andere Apologie gefchrieben.

Fünftes Kapitel.

Bacon unter Yalob I.

T. Die nene Aera. 1. Der König.

Elifabeth, ohne Teibliche Erben, hatte die Thronfolge nicht gefetlich geordnet. Kurz vor ihrem Tode wegen der lektern befragt, gab fie eine Antwort, die nicht ganz im der Art Alerander’s war: „Ich will feinen Lump zum Nachfolger, mein Nachfolger muß ein König fein, unfer Vetter von Schottland.” Es war ber legitime Erbe ihrer Krone, der Sohn Maria Stuart’s, Jakob VI. von Schottland, der als Yafob I. auf dem Throne Englands die Reihe der Stuarts beginnt, die nad) ihm noch drei gefrönte Häupter zählt, deren Feines feine Regentenlaufbahn glüclich antritt und endet: der zweite Stuart wird enthauptet, der dritte aus der Verbannung zurücgerufen und wiederhergeftellt, der lette vertrieben; unter Karl I. der Bürgerkrieg, unter Karl IL. die Wiederherftellung, unter Safob II. die Revolution, womit die männlichen Stuarts für immer auf- hören zu vegieren. Unter Jakob I. wird der Grund zu den Uebeln gelegt, welche die Nachfolger Teineswegs unſchuldig

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treffen. Im dem Zeitalter Elifabeth’8 und durch ihr Verdienft war England ein Staat erjten Ranges geworden. Jakob ver- einigte unter feiner Krone die Reihe England und Schottland und nannte fi König von Großbritannien, das war nicht Berdienft, fondern Glüd; nachdem er 22 Jahre regiert hatte, jagte die Welt: „Großbritannien ift Heiner als Britannien‘, das war nicht fein Unglück, jondern feine Schuld.

Kaum fehlte etwas, daß in der Perfon diejes Königs erfüllt wurde nicht blos, was die fterbende Elifabeth in Be— treff ihres Nachfolgers gewollt, fondern auch, was fie nicht gewollt Hatte. Er war in allen Punkten ihr völliges Wider- jpiel: fie eine männliche Königin, er ein weibiſcher Mann, an dem nichts füniglich war: mittelgroß von Statur, beleibt, der Bart dünn, die Beine ſchwach, die Zunge breit, man fagte von ihm: „er it, wenn er trinkt“; von Regententalent und Kraft feine Spur, fein größter Affect war die Furcht, er zit- terte bei jedem Schuß und wurde ohnmächtig vor einem ge- zückten Degen, er war nervenfhwadh von Natur, ohne Willens- zucht, noch geſchwächt durch eigene Schuld, vielleicht durd) Yajter. Er Hatte fi) den Kopf mit einer öden Gelehrfantkeit, nament- lich theologijcher Art, gefüllt, womit er Staat machte; er hörte gern, wenn feine Schmeidhler ihn „den britifhen Salomo“ nannten, der franzöfifhe Minifter Sully nannte ihn „den weijeften Narren in Europa“. Theologische Borftellungen Hatten ihn dergeftalt benebelt, daß er den Füniglichen Beruf wie in einem Dunft ſah und für die großen und realen Auf- gaben defjelben weder Sinn nod Fähigkeit hatte; jein Wahl- jprud war: „fein Bifchof, fein König”, er hielt die Fünigliche Macht für einen Ausflug der göttlichen, die Könige feien die Ebenbilder Gottes, daher ihre Macht durch nichts eingeſchränkt

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werden dürfe. Er dachte abjolutiftiich und despotiſch, ohne die Einfiht und Kraft des Gebieters. Er liebte das theologijche Gezänt, außerdem die Hahnenkämpfe und die Günftlinge. Aus jungen, unbedeutenden Leuten in der fürzeften Zeit große und gefürchtete Herren zu machen: das war die einzige Art feiner Schöpfung, nur daß er diefen Gejchöpfen jeiner Gunft gegenüber nicht der Meifter war, fondern die Creatur. Wenn eine gewiſſe Förperliche Anmuth dem Könige in die Augen ftah, fo war der Anfang der großen Laufbahn bei Hofe ge- macht. Es bedurfte dazu feines andern Talents. So ftieg Robert Earr, ein junger Schotte, den man förmlich ausgeftellt hatte, damit der König ihn fehe; er wurde bald Viscount von Rocefter, dann Graf von Somerfjet und war in kurzem der einflußreichite Mann Englands (1612); fein Freund Thomas Dverbury, der ihn geiftig weit überfah, beherrfchte den König durch) den Günftling. „Es gab eine Zeit“, fagt Bacon, „wo Overbury mehr von den Staatsgeheimnifjen wußte als der ganze Staatsrath zufammen.” Carr's VBerführerin und jpäter feine Frau, Lady Efjer, eine Schwiegertochter des unglüdlichen Grafen, haßte Dverbury und wollte ihn aus dem Wege räumen. Das Verbrechen gelang, Dverbury wurde auf Befehl des Königs verhaftet und im Tower durch das Ehepaar Somerjet vergiftet (1613); daraus entjtand ein Proceß, den Bacon mit der größten Schonung gegen die Somerjets führte (1616). Nach dem Sturze Carr's fam ein zweiter Günftling, der alle Lebenspläne, ſelbſt feine Heirath aufgab, um die große Yavoritencarriere zu machen, die ihm auch über alle Maßen glüdte: George Villiers, der 1614 in den Dienft des Königs trat und wie im Fluge von Würde zu Würde emporftieg, er wurde Ritter, Baron, Vis— count, Graf, Marquis, zulegt Herzog von Budingham.

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Seit dem Auguft 1616, wo ihn der König zu Woodſtock in den NReichsadel erhoben Hatte, galt er öffentlich als Favorit. Er ließ fih von Bacon in einer Anweifung die Bedeutung und Pflichten feiner Stellung als „Favorit“ genau auseinander- jegen, diejes Schriftftüd aus dem Jahre 1616, dem Inhalte nach ohne Zweifel echt, findet fi in den Werfen Bacon’s. *) Leider hat diefer Mann in dem Leben unferes Philofophen eine jehr verhängnigvolle und verderbliche Rolle gefpielt. „Ba— con's europäifher Ruhm ohne gleichen”, jagt Dahlmann, ‚„Aheiterte in den jchmuzigen Gewäſſern Buckingham's.“

2. Die neue Politik,

Unter Elifabeth war die auswärtige Politik durchaus pro- tejtantifch, national, antifpanifch gemwefen; unter Jakob wurde fie das Gegentheil, eine fhwächliche, halb katholiſch gejinnte, dem Nationalgeifte Englands widerjtrebende, Spanien zuge- wendete Friedenspolitif. Ihn trieb Fein nationaler Gedante, fein großer Staatszweck, fondern das Fleinlichjte Familien- interefje. An die Spite feiner auswärtigen Politif trat das Project einer ſpaniſchen Heirath, von dem er nicht abließ, ftumpf gegen die Antipathien Englands, im Widerftreit mit den Intereffen des Landes; der Prinz von Wales wurde mit einer fpanifchen Infantin verlobt und Frieden mit Spanien gefchloffen (1604); als Prinz Heinrich ftarb (1612), mußte der zweite Sohn Karl, der nachmalige König, an die Stelle des Verlobten treten, zulegt war es Budingham, der die fpanifche Heirat ſcheitern machte. Jakob's Tochter Elijabeth, die man die „Königin der Herzen” nannte, war (den 14. Fe—

*) The works (Spedding), vol. XIII, p. 9 flg., p. 13—56.

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bruar 1613) mit dem Kurfürften Friedrich V. von der Pfalz vermählt worden, der Anfang des deutfchen Religionskriegs brachte ihr die böhmifche Königsfrone, die nach wenigen Mo— naten verloren ging und mit ihr die Pfalz. Diefe cal- viniftifche Heirat wurde in England als ein wohlthätiges Gegengift gegen die ſpaniſche willfommen geheißen, das Bolt wünfchte, als der große Krieg auf dem Feltlande ausgebrochen war, eine kraftvolle Unterftügung des deutfchen Proteftantismus, es fühlte die Solidarität der proteftantifchen Weltinterefjen, aber Jakob dachte an nichts als höchſtens an die Erhaltung der Pfalz.

Aus grundlofer Angjt für feinen Thron, aus feiger Ge- fülligfeit gegen Spanien opferte er einen der größten Männer Englands: er ließ den Helden Walter Raleigh in den Tower werfen, hielt ihn jahrelang gefangen und jchickte ihn zulegt auf das Schaffot. Die beiden Schweitern Heinrich's VIII. waren Margaretha, Königin von Schottland, die Großmutter der Maria Stuart, und Maria, Königin von Frankreich, nach dem Tode Ludwig's XII. mit dem Herzog Suffolf vermählt, die Großmutter der Jane und Katharine Gray; der Enfel diefer legtern, William Seymour, hatte gegen den Willen Iafob’s ſich mit Arabella Stuart, einer Urenfelin jener Margarethe Zudor, vermählt (1610); Jakob fürchtete eine mögliche Prä— tendentichaft und ließ beide gefangen nehmen, Arabella Stuart ftarb im Tower (1615). Lange vorher, gleich im Anfange der neuen Regierung, war Raleigh in den Verdacht gefommen, er wirfe im geheimen für die TIhronerhebung der Arabella Stuart; ob der Verdacht gegründet war, bleibe dahingefteltt, er wurde auf Hochverrath angeklagt und zum Tode verurtheift. Bierzehn Jahre blieb er im Tower, bürgerlich todt, geiftig um

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jo lebendiger und fortwährend thätig. Gelockt durch die Aus- fiht auf die Goldminen, die Raleigh in Guyana entdeden wollte, Ließ ihn der König fein Glück verfuchen, aber machte ihm zur Pflicht, die Spanischen Befigungen nicht zu verlegen. Das Unternehmen fcheiterte, jene Bedingung war verlett worden, unverrichtetev Sache fehrte Raleigh zurüd, und auf die For- derung des ſpaniſchen Gefandten ließ der König jetzt das vor funfzehn Jahren gefällte Todesurtheil vollitreden. Raleigh wurde enthauptet in demfelben Jahre, wo Bacon zum Kanzler von England ernannt wurde (1618).

Jakob's innere Politik war ebenfo erbärmlich und klein— (id) al8 die auswärtige. Eliſabeth Hatte Geld gebraucht für wichtige Zwede und eine Staatsſchuld Hinterlafjen; der Nach— folger verfchwendete zwecklos die Staatsmittel, war fortwäh- rend in Geldnoth und half fi) auf elende und gemeinfchädliche Weije, er verkaufte die Domänen, erhöhte die Zölle, bewahrte die Monopole, handelte mit Adelspatenten, deren jedes feinen Preis Hatte, und gründete um des Geldes willen den joge- nannten Baronetsadel (1611). Das Uebel der Monopole hatte ſchon unter Elifabeth bejtanden; auch hatte fie in den legten 15 Iahren ihrer Regierung aus dem Glauben ihrer fatholifchen Untertanen eine Finanzquelle gemacht und den jogenannten Recufanten den Nichtbefuch der Staatskirche für eine drüdende Steuer verkauft. Bon dem Sohne der Maria Stuart Hofften jett die Katholiken Abhülfe, aber Jakob fand die Steuer viel zu angenehm, um fie abzujchaffen; dies ver- jtimmte die Fatholifche Partei und wirkte mit unter den An- trieben zu der fogenannten PBulververfhwörung (1605), die, bei Zeiten entdecdt, für den König die günftige Folge hatte, daß jeine bereits finkende Popularität fich wieder hob.

Fiſcher, Bacon. 6

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IT. Bacon's Stellung. 1. Annäherung au dad neue Regiment.

Als Jakob den Thron beftieg, hoffte alle Welt auf gute Zeiten, niemand beftritt die Rechtmäßigkeit feiner Erbfolge und e8 gab ihm gegenüber weder eine Prätendentichaft mod) eine Partei. Nirgends feien Unruhen zu befürdten, fchrieb Bacon an Robert Kempe gleich) nad) dem Tode Elifabeth's, die Papiſten jeien durd Furcht und Hoffnung im Zaum ge halten, Furcht hätten fie genug, Hoffnung zu viel.*) Wäh- rend die alte Königin noch Tebte, dienten ſchon in der Stille manche der erjten Männer ihres Hofs dem neuen Herren und zeigten fi in Edinburg hold und gewärtig, vor allen Robert Gecil und der Graf Northumberland. Kiffer’ Freunde und Anhänger, deren Leben verfchont geblieben, hatten von dem neuen Könige ihre völlige Wiederherjtellung zu hoffen, vor allen der Graf Southampton. Gleih in den erjten Zeiten der neuen Aera wurde es, wie Sully behauptet, am Hofe Mode, geringfhätig von Elifabeth zu ſprechen. Bacon’s Better Robert Cecil ftieg empor, er wurde Graf von Salis- bury, Lordſchatzmeiſter und blieb bis zu feinem Tode (1612) der leitende Staatsmann.

Unter denen, welche fid) dem neuen Könige etwas haftig zu nähern und feine Gunft zu gewinnen ſuchten, war auch Bacon, der manderlei Wege probirte, um diefes Ziel zu

*) The works (Spedding), vol.X, p. 74.

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erreichen; er fchrieb an Perſonen des ſchottiſchen Hofs, mit denen fein Bruder in Eſſex' Dienften ſchon brieflid) verkehrt hatte, empfahl fih dem Wohlwollen Eecil’s, bot feine Dienfte Nortyumberland an, ſchickte dieſem den Entwurf einer Pro- clamation, die an das Volk zu richten dem Könige gut jcheinen fönne, und begrüßte endlich Jakob felbit in einem eigenen Hul- digungsjchreiben, worin er die Schmeichelei zu weit trieb: Eli- fabeth ſei glücklich gewefen in vielen Dingen, am glücklichſten darin, daß fie einen ſolchen Nachfolger habe! Er reifte jogar dem Könige entgegen (den 7. Mai 1603) mit einem Briefe Korthumberland’s und hoffte auf eine befondere Audienz, die Jakob nicht ertheilte. Indeſſen hatte er den König gefehen, und die Art, wie er die Perſon deffelben in einem Berichte an Northumberland jhildert, zeigt, daß er verblendet genug ur- theilte, wenn wirklich alles, was er fagte, aufrichtig ge- meint war.

Southampton empfing von allen Seiten Beſuche, die ihn perſönlich zu feiner Befreiung (den 10. April 1603) beglüd- wünschten; Bacon mochte nicht zurücbleiben, und da ein rich- tiges Gefühl ihn abhielt, perfönlich zu erfcheinen, fo jchrieb er dem Lord einige Zeilen der freudigiten Theilnahme, worin er feierlich verfiherte, daß diefer große Wechfel der Dinge in jeinen Gefinnungen gegen Southampton feinen andern Wechſel zur Folge habe, als daß er jeßt mit Sicherheit fein fünne, was er fchon vorher in Wahrheit gewejen jet. „I may safely be now that which I was truly before.“ Die Aeußerung ift bezeichnend und feine Heuchelei. Sout— hampton hatte an Eſſerx' Plänen theilgenommen, er war in den Proceh verwidelt, und es giebt in. Bacon’s Declaration

einige Stellen, die feine Mitſchuld erleuchten; doch ift es wahr- 6 *

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ſcheinlich, daß Bacon dazu beigetragen hat, den Zorn der Kö— nigin gegen den jungen Grafen zu befänftigen und fein Schid- ſal zu mildern. Jetzt, wo Eſſex' Freunde wieder emporfamen, ſchien e8 Bacon gerathen, fein früheres Verhalten in jener Bertheidigungsichrift an Lord Montjoy öffentlich zu vechtfer- tigen.

2. Heirath. Aemter und Würden,

Den 23. Yuli 1603 wurde Jakob gekrönt. Den andern Tag ertheilte er einer Menge von 300 Perfonen den Ritter: fhlag, darunter war Bacon, der diefe Ehre zwar gewünſcht, aber e8 lieber gejehen hätte, fie nicht als einer unter vielen, „merely gregarious in a troop“, wie er an Cecil fchrieb, jondern durd die Art der Ertheilung als perfönliche Diftinc- tion zu empfangen. Die Verfchleuderung des Titels hatte den Werth, Ritter zu heißen, jehr vermindert, indeſſen find leere Zitel nicht die einzigen werthlojen Dinge, woran weibliche Eitelfeit Gefallen findet, und die Frau, die Bacon Heirathen wollte, mochte e8 gern fehen, wenn der Mann „Sir Francis“ genannt wurde. „Sch habe eines Aldermans Tochter, ein Hüb- ihes Mädchen nad) meinem Gefallen gefunden‘, bemerkt Bacon in jenem Briefe an Cecil unter den Gründen, weshalb er den heruntergefommenen Zitel der Nitterfchaft nicht ver- jhmähe. Diefes Mädchen hieß Alice Barnham, ihr Vater war Kaufmann und Alderman in Cheapfide geweſen, jet war fie die Stieftochter eines gewiffen Pakington, als folche Hatte fie Bacon gerade damals Fennen gelernt. Die Ehe wurde den 10. Mai 1606 gejchloffen, fie blieb Finderlos und keineswegs fo glüdlich, als Rawley fie bezeichnet, denn Bacon hat feine legtwilligen Verfügungen zu Gunften der Frau in einem Codi—

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cill widerrufen ‚for just and great cause”, und da die Frau bald nad) feinem Tode einen ihrer Diener heirathete, fo darf man annehmen, daß jener Beweggrund einer der ſchlimm— jten war. Sie ift erſt 24 Yahre nad) dem Tode Bacon’s geftorben. *)

Bacon's öffentliche Laufbahn ftieg unter Jakob ſchnell empor und nahm befonders unter Budingham’s Einfluß einen glänzenden Aufſchwung. Sechsmal hat ihn der König in Aemtern (offices), dreimal in Würden (dignities) befördert. Unter Elifabeth war Bacon Föniglicher Rath ohne Befoldung gewejen, Jakob bejtätigte ihn in diefer Stellung und fügte eine Befoldung von 40 Pfund Hinzu, außerdem gab er ihm eine Penfion von 60 (1604). Drei Jahre fpäter (den 25. Juni 1607) wurde Bacon solicitor general, welches Amt er drei- zehn Jahre vorher mit jo vielen Hoffnungen und Bemühungen umſonſt gejucht hatte; e8 war das erfte Staatsamt, das er befleidete, und er war über 46 Jahre, als er e8 erhielt. Den 27. October 1613 ernannte ihn der König zum Generalfiscal; jo Hatte Bacon die Stelle erreicht, die er vor 20 Jahren zuerft begehrt. Damals hatte Efjer’ Fürfprache nichts ausgerichtet gegen Eduard Coke's Bewerbung. Bon jett an fegelt Bacon mit Budingham’s Einfluß; dem mächtigen Günftlinge, dem Jakob nichts abſchlägt, Hat er es zu danken, daß ihm die Wahl freigeftellt wird zwijchen der Ernennung zum Staats- rath und der Anwartihaft auf die Stelle des Siegelbewahrers, jobald fie erledigt fein wird. Da er das Sichere dem Künf— tigen vorzieht, jo wählt er das erjte und wird den 9. Juni 1616 Mitglied des geheimen Raths. Den 3. März 1617

*) The works (Spedding), vol. X, p. 73—81. Bgl. The works ed. by Montague, vol. XXI, 102flg.

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legt Lord Bradley fein Amt als Siegelbewahrer aus Kränf- lichkeit nieder, wenige Tage fpäter erhält e8 Bacon und fchreibt am Zage feiner Ernennung (7. März) einen Brief voll über- fließender Dankbarkeit an Budingham. Jetzt ift er, was fein Bater war, Bewahrer des großen Siegels von England; den 4. Januar 1618 wird er Großfanzler. Nach feierlihem Ein- zuge hält er in Wejtminfterhall feine Antrittsrede als Siegel: bewahrer, den 7. Mai 1617. Da der König damals mit Budingham auf einer Reife nad) Schottland abwefend war, fo hat ihn Bacon, als der höchſte Staatsbeamte Englands, zu vertreten, er ift gleichfam Protector, hält Hof und empfängt im Namen des Königs die fremden Gefandten im Banketſaal zu Whitehall. Als er in prächtigem Aufzuge feine Wohnung in Gray’s Inn verließ, um nad) Weftminfter überzufiedeln, fagte einer feiner frühern Eollegen der Rechtsinnung: „Wenn wir nicht bald fterben, fo werden wir ihn hierher zurücfehren jehen in einer ſehr bejcheidenen Equipage‘, eine traurige Pro- phezeiung, die wohl noch ſchlimmer, als fie gemeint war, er— füllt wurde.

In feiner amtlichen Yaufbahn Hat er den Gipfel erreicht, es fehlt noch feine Aufnahme in den Reichsadel, die Erhebung zum Peer. Der erfte Grad der Lordbichaft ift Baron, der zweite VBiscount; noch in demfelben Jahre, als Bacon Kanzler geworden, wird er Baron von VBerulam; in den eriten Tagen des Februar 1621 erhebt ihn der König feierlich vor verfam- meltem Hofe zum Viscount von St. Albans. Es ift nicht richtig, wenn man ihn, wie gewöhnlich gejchieht, „Lord Bacon von Verulam“ nennt, denn der Name Bacon verhält fich zu Berulam oder St. Albans wie Cecil zu YBurleigh, oder Pitt zu Chatam: er heißt Francis Bacon, er nennt ſich feit 1603

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Sir Francis Bacon, feit 1618 Fr. Verulam, jeit 1621 Fr. St. Albans.

Kurz vorher, den 22. Januar 1621, hatte er in der Mitte zahlreicher Freunde und Bewunderer fein fechzigftes Jahr vollendet, bald darauf, den 9. Februar 1621, wurde das neue Parlament eröffnet, zu deffen Berufung er felbjt gerathen hatte, und in wenigen Wochen fah fid) Bacon von der Höhe des Glücks Herabgeftürzt in ſchmachvolles Elend.

Sechsles Kapitel.

Bacon’s öffentliche Laufſbahn. Der Weg zur Höhe und zum Sturz.

I. Die Parlamente unter Jakob vor 1162.

Daß Bacon Staatsrath, Siegelbewahrer, Kanzler, Lord wurde, diefe glänzenden und legten Stufen feiner Laufbahn (1616— 21) ſchuldet er zum großen Theil der Gunft des Günftlings, wogegen der erjte Abjchnitt vom befoldeten Rathe des Königs bis zum Generalfiscal (1604—13) auf Verdienften beruht, die fi) Bacon durd feine parlamentarifche Haltung um die Krone und den König erwarb. Weberhaupt muß man, um Bacon’s Laufbahn und Sturz ſich verftändlich zu machen, den politifchen Charakter der Zeit und den Entwidlungsgang der Parlamente unter Jakob etwas näher ins Auge fafjen.

Dem Parlamente, welches feinen Sturz herbeiführte, waren feit dem Anfange der neuen Regierung drei borangegangen: das erfte, durch längere Vertagung unterbrochen, dauerte vom 19. März 1604 bis zum 4. Yuli 1607; das zweite trat den 9. Februar 1610 zufammen und wurde nad) einem Jahre (den 29. Februar 1611) aufgelöft; dafjelbe Schiefal erfuhr ſchon nad) zwei Monaten das dritte, im April 1614 eröffnete Par-

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fament. Wenige Tage vor dem Schluffe des erjten, worin Bacon Ipswich vertrat, wurde er Generalanwalt, einige Mo- nate vor der Eröffnung des dritten, worin er Mitglied für Cambridge war, wurde er Generalfiscal; er hatte fi um beide Stellen nahdrüdlih und wiederholt beworben; daß er fie erhielt, war eine Folge davon, daß der König feine Dienfte Ihäten gelernt.

Das Thema der parlamentarifchen Bewegung unter Jakob war ſchon der Kampf um die englifche Freiheit, der immer offener und betonter auftretende Gegenſatz zwifchen den Volks— und Kronrechten, den Privilegien der Gemeinen und den Prä- rogativen der Krone. Daß die leitenden Staatsmänner, wie Gecil, nicht bei Zeiten die richtige Ausgleihung zu finden wußten, noch weniger die Günftlinge, wie Somerfet und Budingham, am wenigjten der König felbit, das hat Englands Zuftände von innen heraus dergejtalt erjchüttert und aufgelöft, daß der Thron, welchen der Nachfolger Jakob's beftieg, zu— fammenbrad. Man fonnte den Sturm vorausfehen, er war ihon im Anzuge, und es gejchah nichts, ihn zu hemmen und zu befhwidtigen; immer mehr ummölfte ſich der politifche Horizont, immer grolfender wurde die Stimmung des Parla- ments, immer heftiger jchwoll der Strom des öffentlichen Un- willens gegen Hof und Regierung, er wollte zulett fein Opfer haben und verfchlang den Mann, der durch feine Einficht ein Retter werden konnte, aber leider die Charakterftärfe nicht hatte, dem Verderben ernſthaft Widerftand zu Leiften, und da- durch-felbit in die Zahl der Schuldigen gerieth, unter denen er ficher nicht der Schuldigfte war. Diefes Opfer war Bacon.

Die öffentliche Lage, worin von Anfang an König und Parlament einander gegenüberftehen, Täßt fi) mit wenigen

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Worten fhildern, fie war für die Krone ſchlimm und mußte, je länger fie dauerte, um fo fchwieriger und gefährlicher wer- den: der König hat Schulden und das Parlament Beſchwer— den, ber Staatsſchatz ift leer und die Hülfsquellen find in der Hand des Parlaments, die Beſchwerden des Landes find nicht weniger zahlreich, nicht weniger drüdend als die Schulden der Krone. Der König fordert Geld, das Parlament Abjtel- fung der Misbräuche, es knüpft die Leitung an die Gegen- feiftung: das ift der große Handel („great contract“), der fih, wie der rothe Faden, durch die Gefchichte der Parlamente unter Jakob hindurchzieht. Der König Hat nur fi, feinen Bortheil, das Geld und die Doctrin des Abfolutismus im Sinn, die nie leerer ift, als wenn die Taſchen auch leer find; er verfpricht Abhülfe, ohne fie zu gewähren, ohne fie ernfthaft zu wollen, er ift freigebig nur mit Worten, wenn die Sache nicht rückt, fo fchidt er eine Botſchaft oder hält eine Rede und meint mit einem speech die Dinge ins Gleiche zu bringen. Darüber wird das öffentliche Meisvergnügen immer ärger, immer größer die Zahl der Beſchwerden, immer länger diefer Hebelarm, den die Volkspartei in der Hand hält.

1. Das erfte Parlament (1604—7).

An den Fragen, welche das Parlament von 1604—7 be- ihäftigen, nimmt Bacon einen jehr thätigen und hervorragen- den Antheil, er iſt Mitglied faft aller Ausſchüſſe. Zwei Hauptfragen find von der Regierung in den Vordergrund ge- ftellt, die den König perfönlich angehen: die Kronfchulden und die Realunion zwifhen England und Schottland. Bacon ar- beitet für die Sache des Königs; unter feiner Mitwirkung geht die Subfidienbill duch, dagegen Kommt die Union nicht

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zu Stande. Der König wünfchte die volle Vereinigung beider Länder, die unbefchränkte Naturalifirung aller Schotten: in diejer Frage lag die Schwierigkeit. Man fürdhtete Gefahren für England, namentlih die der Webervölferung; Nicholas Fuller fprad gegen die unbeſchränkte Naturalifirung, Bacon dafiir. Daß ein Schotte König von England geworden, fagte Fuller, made aus Schottland noch fein englifches Land und aus den Schotten Feine Engländer; eine folde Vereinigung wäre eine Heirath zwifchen Arm und Reich, die nicht unglei- cher fein Fönne. Den 17. Februar 1607 hielt Bacon feine be- rühmte Rede für die Realunion der beiden Länder im Sinne des Königs: man müſſe die Sache politifch anfehen, nicht blos faufmännifh, von Schottland fei ein wachſender Men- Schenzufluß nicht zu fürchten, England fei reich und feines- wegs übervölfert, eine Zunahme feiner Bevölkerung drohe Feine Verminderung feines Reichthums, es bedürfe der Sicherheit mehr als des Geldes, die Naturalifirung der Schotten verjtärfe die Sicherheit, erhöhe die Wehrkraft des Landes, und von jeher feien die eifernen Männer die Herren der goldenen gewefen. Die Rede machte großen Eindrud, aber fette die Sache nicht durch, auch der König fuchte vergeblich durd) eine Anſprache die Meinungen zu gewinnen. Die Union follte noch nicht be- gründet, jondern erft vorbereitet werden, indem man zunächſt die hinderlihen und entgegenftehenden Gejege aus dem Wege räumen und den Boden ebnen wollte.

Eine Reihe von Beſchwerden waren im Haufe der Ge- meinen laut geworden, ſolche Kronprärogative betreffend, die dem Gemeinwohl jchädlid und in der Ausübung misbräud- lih erſchienen: dahin gehörte vor allem das Recht der Vor- mundichaften, die Ertheilung der Monopole und Dispenfe, die

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Lieferungen für den föniglichen Haushalt, die der König auf feinen Reifen zu fordern hatte und durch fjogenannte „pur- veyors” eintreiben ließ; war die Laft folcher Lieferungen ſchon drüdend genug, fo war die Art der Eintreibung noch drüden- der und bis zur Plünderung ausgeartet, denn jene „purveyors’ verfuhren ganz willfürlih in Rüdficht ſowohl der Menge als der Qualität der Gegenftände, die fie wegnahmen; fie waren wie fi) Bacon felbft gegenüber dem Könige ausdrücte, nicht blos „takers“, fondern auch „taxers“. Bacon war Mitglied des Ausſchuſſes, der mit diefer Frage ſich zu befchäftigen Hatte, und erjtattete Bericht an das Haus; e8 wurde eine Petition um Abftellung befchloffen, die Bacon dem Könige überreichte, wo— bei er in feiner Rede hervorhob, daß Feine Laſt für das arme Bolt fo drüdend fei, Feine Befchwerde jo allgemein, beftändig und bitter empfunden werde. Der König verſprach Abhülfe, aber e8 war ihm nicht Ernſt.

2. Das zweite Parlament (1610—11).

Bald find die Geldmittel des Königs wiederum erſchöpft und die Berufung eines neuen Parlaments zu neuen Bewilli- gungen nothwendig. Im Februar 1610 tritt e8 zufammen, der König fordert 600000 Pfund „supplies“ zur Bezahlung feiner Schulden und 200000 Pfund für den Staat. Eine ſolche Eontribution mitten im Frieden ift ohne Beifpiel; als Gegenleiftung (Retribution) wird die Abftellung aller gerechten Beſchwerden in Ausficht geftellt. Der günftige Moment für den großen Bertrag zwifchen Krone und Parlament fcheint ge- fommen: der Krone follen die Prärogative abgefauft werben. Der König hat nur das Intereffe, fo theuer als möglich zu verfaufen; das Haus der Gemeinen dagegen will fo viele Laften

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als möglich ablöfen, ohne deshalb die finanzielle Grundlage der Krone fo zu geftalten, daß fie in Zukunft die Hülfe des Parlaments nicht mehr braucht, denn dies hieße die Krone völlig unabhängig machen und die englifche Freiheit ſelbſt in den Kauf geben. Damit bei dem großen Handel nichts über- jehen werde, müfjen die Beichwerden genauer als je gejam- melt, die dem Gemeinwohl ſchädlichen Vorrechte der Krone jorgfältiger als je unterfucht werden. Man fordert die Auf- hebung aller auf die Feudalherrlichfeit des Königs und den alten Lehnsjtant gegründeten Prärogative, man unterfucht das Recht, welches die Krone beansprucht und ausübt, die Aus— fuhr und Einfuhr der Waaren zu bejteuern. Dieje Trage fteigert und fchärft die Spannung. Den 12. Mai 1610 er- hält der Sprecher eine Botfchaft, die dem Haufe verbietet, über das Fünigliche Recht der Wanrenbeftenerung Verhandlungen zu führen. Die Botjchaft wird dem Haufe mitgetheilt, als ob fie vom Könige käme; in der That fommt fie, da der König abwejend it, nicht von ihm direct, fondern vom Staatsrath. Das Haus verbietet dem Sprecher, Fünftighin eine ſolche Bot- Ichaft anzunehmen. Umfonft jucht Bacon, diefen Beſchluß zu hindern, er möchte das Haus von der Formfrage auf die Sache zurüdführen und überzeugen, daß allerdings der König das Recht habe, Verhandlungen, die ihn oder die Krone fpeciell angehen, zu hindern; dies habe Elifabeth gethan, als ihre Ver- mählung in Frage fam, die fatholifhe Marie, ald das Par— fament eine Angelegenheit berührte, die ihre Diener betraf. Indeſſen lag im diefem Falle die Sache anders, es handelte fid) um die Privilegien des Haufes, um den Schuß der Volks— rechte und des Gemeinwohls, nur der König felbft darf eine Botſchaft an das Haus durd den Sprecher richten; wenn diefe

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Form umgangen wird, fo ift ein Privilegium des Haujes ver- legt. Wenn das Haus nicht mehr das Recht haben foll, über die Vorrechte der Krone zu verhandeln, wie ſoll e8 nod das Bermögen haben, die Freiheit der Unterthanen zu jchügen? Wenn das fogenannte Recht der Föniglihen Auflagen unbe: ftritten und unbefchränft zur gelten hat, fo kann der König, mit einer folhen Macht ausgerüftet, das Parlament überhaupt entbehren. Daher Handelt es fich hier um eine Eriftenzfrage des Parlaments, um das Rechtsverhältnif zwifchen Krone und Haus, zwiſchen der Souveränetät des Königs und der Frei- heit der Unterthanen. Das Parlament muß das Recht haben, alle Fragen und alle Materien zu verhandeln, die das Recht, das Gemeinwohl, die öffentlichen Zuftände betreffen; unter diefen Materien giebt e8 Feine, die nur den König angeht. Diefes Recht ift zu wahren. Mit aller Mäßigung und aller Ent: jchiedenheit wird in diefem Sinne eine „petition of right“ aufgefegt und dem Könige zu Greenwid) den 24. Mai überreicht. Jetzt ift aus den Specialfragen bereits eine BPrincipienfrage der Art geworden, wie fie Revolutionen vorausgehen. Solde Fragen muß eine weife und vorfichtige. Regierung gefchickt zu vermeiden wiffen. Diefe Einficht fehlte dem Könige und feinen Räthen. Man ließ die Spannung wachſen und unbenugt den günftigften Augenblid vorüber gehen, der fie mildern fonnte und ganz geeignet war, König und Parlament einander zu nähern, denn die Verhandlungen fielen gerade in die Zeit, wo ber Meuchelmord Heinrich’8 IV. die proteftantifche Welt entjegte. So hatte vor fünf Jahren während der Zeit des erften Parla- ments die Entdedung der Bulververihwörung (den 5. November 1605) auf die Stimmung im Haufe der Gemeinen einen mäch— tigen, dem Könige günftigen Einfluß geübt, gerade in einem Mo-

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ment, wo diefem eine Stärkung der loyalen Affecte jehr ge- legen kam. Jetzt, wo die VBerhältniffe ſchon jchwieriger lagen, hätte bei der beftändigen Furcht des Landes vor den ftaatöge- fährlihden Macdinationen der fatholifchen Partei das Ereigniß in Sranfreid) einen Ähnlichen Einfluß üben fünnen, wenn man . verjtanden hätte, den Moment zu brauchen. Aber Cecil hatte nicht die Staatsflugheit feines Vaters.

In der Sache des „great contract” wurde nichts ausge- richtet. Der König wollte die ritterlichen Güter von den Feudal- laften befreien und frug, welchen Preis dafür die Gemeinen zu zahlen gejonnen jeien. Das Haus bot 100000 Pfund jährlich. Es wurde geantwortet: man habe den König misverjtanden, es handle ſich zunächſt nicht um die Entſchädigungsſumme, die nach dem Maße der Einbuße zu leiften fei, fondern um den Preis, für welchen der König ſich wollte willig finden laffen, überhaupt auf die Sache einzugehen; e8 handle fich erft um den Abfauf des Prärogativs, dann um den Gegenftand defjelben; der König fordere für die bloße NRechtsentäußerung 200000 Pfund jährlich, die weitere Frage ſei die Entſchädigung. Das Haus war am Ende bereit, diefe Summe zu leiften unter der Bedingung, daß die Beichwerdenfrage erledigt werde; aber die Hofpartei fand, daß der König dabei zu Furz komme, man wollte berechnet haben, daß diefe Summe nur erfeße, was der König materiell an Einfünften aufgebe. So konnte eine Einigung nicht erreicht werden. ‘Das Parlament wurde den 29. Februar 1611 aufgelöft; der König war äußerſt verftimmt, feine Finanzlage schlimmer als je, die Kaſſen leer, die Gefandten felbft Fonnten nicht bezahlt werden, aud eine An- leihe war unter diefen Umftänden nicht möglich, die Geldverlegen- heiten des Königs lagen fo offen, daß alle Welt davon jprad).

As Cecil ftarb (den 24. Mai 1612), betrug die Staats-

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ſchuld eine halbe Million und das Deficit 160000 Pfund. Der Plat des Staatsfecretärs und Finanzminifters war erledigt, im Rathe des Königs fand ſich niemand, der fähig war, die Leitung der Gefchäfte zu übernehmen. Bacon bot fi) den Könige zum Staats— jecretär an, und die Gefchichte Englands, fo meint man, würde vielleicht einen andern Lauf genommen haben, wenn Bacon unter Jakob Hätte fein dürfen, was Burleigh unter Elifabeth war; frei= lich, ſetz Spedding hinzu, hätte Jakob dann Elifabeth fein müffen, womit die Bedingung, unter der Bacon als rettender Staats- mann auftreten fonnte, in das Neid) der Unmöglichkeit verfegt ift. Der König gab ihm die Stelle des Staatsfecretärs nicht, aber er ließ fich gern von ihm berathen, und die Bedeutung, die Bacon nad) Cecil's Tode am Hofe gewann, ift ungleich größer als vorher.

3. Das dritte Parlament (1614).

Um der unerträglichen Lage ein Ende zu machen und die Finanzfrage zu löfen, rieth Bacon dem Könige die Berufung eines neuen Parlaments und entwarf dazu Plan und Vorbe— reitung. Die Berufung geſchah im Februar 1614. Die Aus- fihten waren feineswegs günftig, das Wahlrefultat im März ergab zwei Drittel ganz neue Mitglieder. Der neue Staats- jecretär Ralph Winwood, der die Sache der Regierung im Haufe der Gemeinen vertreten follte, war in parlamentarifchen Dingen ganz ungeübt und umerfahren. Auch Bacon's An jehen war nicht mehr das alte. Gleich nad) der Eröffnung des Parlaments, bei der Unterfuhung der Wahlen, wurde gegen die feinige das Bedenken laut, ob ein Generalfiscal (er war es feit Ende Detober des vorigen Jahres) zugleich Parlamentsmitglied fein dürfe, ob feine Pfliht im Dienfte des Königs fo viel Unabhängigkeit übrig laffe, als die Stel-

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lung im Parlament fordere; man fand dafür feinen Präcedenz- fall, aber e8 gab Analogien genug: warum jollte der attorney general nicht Mitglied des Parlaments fein dürfen, wenn doch der solicitor general e8 ohne alle Bedenken gewejen war? Das Haus befhlof, Bacon's Wahl gelten zu lafjen, dod) ſollte künftig der Generalfiscal des Königs nicht mehr wähl- bar fein. Es war fein gutes Vorzeihen. Mean konnte fehen, daR diejes Parlament auf feine Unabhängigkeit jehr eiferfüchtig, gegen regierungsfreundliche Einwirkungen jehr argwöhnifch, für Bacon’3 Einfluß wenig empfänglid fein werde. Dazu kam ein Umftand, der die mistrauifche Haltung des Parlaments aufs äußerſte reizte: frühere Oppofitionsmtitglieder unter ber Führung von Henry Neville hatten ſich vereinigt, der Sache der Krone im Parlamente zu dienen, und jtanden zu. diefem Zwede mit dem Könige in unmitelbarem Verkehr. Nachdem ſchon das vorige Parlament bejtimmt hatte, daß außer dem Spreder fein Mitglied des Haufes mit dem Könige unmittel- bar über Barlamentsjachen verhandeln dürfe, erjchienen dieje „undertakers“, wie man fie nannte, als Feinde im eigenen Haufe. Ein Sturm des Umwillens brad gegen fie los, den Bacon umfonst zu bejhwichtigen juchte; übrigens hatte er von vornherein die ganze Unternehmung widerrathen und von einer ſolchen Einmifhung des Königs in den parlamentarifchen Ver: fehr nichts Gutes erwartet.

In der Hauptjache kehrte das alte Spiel wieder, der alte Handel, nur follte diefes mal der äußere Schein des Schachers vermieden werden. Der König jollte Freiheiten und Erleid)- terungen bewilligen, Vorrechte aufgeben aus freier Bewegung, nicht um der Subfidien, jondern um des Gemeinwohls willen;

das Haus jollte die Subfidien gewähren ebenfalls aus freier Fiſcher, Bacon. 7

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Bewegung, aus Sorge für das Staatswohl, denn der Schatz ſei leer und die äußeren Gefahren drohend. Im Grunde war es nichts anderes als Angebot und Gegengebot. Bacon rieth, daß in demfelben Ausſchuß beide Fragen „pari passu‘ be- handelt würden. Er fprad für die Subfidienbill, fie jei noth- wendig in fih, ganz unabhängig von den Föniglichen Ge- währungen, das Rand brauche Geld, es ſei bedroht durd) eifer- füchtige Nachbarn und durch innere Unruhen, die Zukunft des Continents fei dunkel, Fein Staatsmann könne wiffen, wie die Lage nach Jahr und Tag fein werde; wolle England nicht einem Manne gleichen, der in den Krieg geht, jo jolle es wenigjtens einem Manne gleichen, der in die Nacht geht, beide brauchen Waffen, ein Staat ohne Schat Habe fo wenig Frei— heit, als ein Privatmann mit Schulden. Man fage, es fei Frieden, darum bedürfe England Feiner Berftärfung des Schatzes; ebenfo gut könne man fagen, das Meer fei ruhig, darum brauche das Schiff, das in See gehe, feinen Ballaft. Der König zeige fich liberal nicht aus Schwäche, denn feine Macht fei feiter als je, fondern aus Liebe zum Lande; das Parlament möge diefe Haltung erwidern und darum in der Subfidienfrage gleichen Schritt Halten mit den königlichen Ge- währungen.

Das Haus ließ ſich auf den gleichen Schritt nicht ein. Seine Meinung war: erft das Gemeinwohl, dann die Sub- fidien. Bor allem wollte e8 die Frage wegen der Füniglichen Waarenbeftenerung ins Reine gebracht fehen; es wurde ein Ausſchuß gewählt, unter deffen Mitgliedern Bacon war, um in diefer Frage eine gemeinfame Berathung beider Häufer vor- zubereiten. Die Lords verhielten fid) ablehnend. Ein Mit- glied des Dberhaufes, der Biſchof von Lincoln, follte in einer

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Rede das Haus der Gemeinen angegriffen und deſſen loyale Gefinnung in Frage gejtellt haben, das bloße Gerücht davon erregte die größte Erbitterung, man verlangte die Beftrafung des Biſchofs, obwohl man nicht genau wußte, was er gefagt; einige Mitglieder des Unterhaufes wollten von der Sache ge- hört Haben, vielmehr, die Duelle näher beleuchtet, hatten fie einige gefehen, welche jagten, daß fie gehört hätten, u.f. w. Es ftanden fich nicht blos Fragen, ſondern erhitte und ge- reiste Affecte gegenüber.

Der König fendete eine Botſchaft, welche die Auflöfung androhte. Es Fam zu aufregenden Reden, Hoskins fprad) leidenschaftlich gegen den König, die Hofpartei, die Günftlinge, die Schotten, die Fremdherrichaft, die immer Unheil jtifte, jogar an die ficilianifche Vesper wurde erinnert. Nach wenigen Tagen folgte die Auflöfung. Nichts war erreicht als größere Erbitterung, nichts ausgerichtet in den brennenden Fragen, die Öffentliche Yage verfchlimmert, der Schat Leer, die Schul- den vermehrt, die Gefahren von Irland, Rom und Madrid drohend, die Schwäche Englands überall befaunt. Weber diefen Zuftand der Dinge Fonnte fein Patriot triumphiren, feiner, dem die Sache des Landes am Herzen lag; es ift nicht anzu- nehmen, daß Bacon, der zur Berufung des Parlaments dringend gerathen, einem jo verderblichen Acte, wie die Auf- löfung war, das Wort geredet habe. Ä

Um eine Heine finanzielle Aushülfe zu gewinnen, nahm man feine Zuflucht zu einer freiwilligen Contribution. Da das Parlament nichts bewilligen mochte, jo wurden die Unter: thanen gebeten, dem Könige etwas zu ſchenken. Bacon gab jeine Meinung, wie die „voluntary oblation‘ am zwedmäßig-

jten zu betreiben fei, ohme jeden moralifhen Zwang, ohne 7*

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Beläftigung der armen Volksklaſſen und fo, daß die Yoyalität und Treigebigfeit der Wohlhabenden zum Wetteifer angefeuert werde. Am Ende bradte man eine Summe von 40—50000 Pfund zujammen, die wenig Half und die Erwartung des Königs gar nicht befriedigte, während das ganze Verfahren, das die „benevolence” der Unterthanen in Anſpruch nahm, auf das Volk felbit den ungünftigjten Eindruck machte. Man hatte den gejetlichen Weg der Geldbewilligung umgangen; die Umgehung war fo gefchehen, daß fie den König als Bettler ericheinen ließ, und der Erfolg, den man mit jo übeln Mitteln endlich erreicht hatte, war jo gering, daß er den moralifchen Schaden nicht einmal für den Augenblid aufwog.

II. Derfolgungen. Coke's Fall.

Die Misftimmung gab fich in Meinungsäußerungen fund, die al8 Staatsverbrechen verfolgt wurden. Dliver St. John, ein Edelmann aus Marlborough, hatte das Anfinnen der frei— willigen Beifteuer in einem Schreiben an die Ortsobrigfeit zurüdgewiefen, worin er das ganze Verfahren für ungerecht erklärte und dem Könige vorwarf, er Habe feinen Kroneid verlegt und treibe e8 wie Richard IL. Diefer Brief galt als eine aufrühreriihe Schrift, und der VBerfaffer wurde von der - Sternfammer zu Gefängniß und Geldbuße verurtheilt, aber vom Könige begnadigt, nachdem er bereut und widerrufen hatte. Ueber fein Verhör erjtattete Bacon dem Könige Be- richt (den 29. April 1615). *)

Kurz vorher Hatte eine ähnliche Verfolgung ftattgefunden,

*) The works (Spedding), vol. XII, p. 81 fig. 168.

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mit welcher Bacon’8 Name näher zufammenhängt, und die gerade deshalb bei der Nachwelt ein ſchlimmes Auffehen erregt hat. Nirgends war die Misftimmung gegen Iakob erbitterter als unter den puritanifchen Geiftlichen, bei denen der religiöfe MWiderwille mit dem politifchen Misvergnügen zufammentraf; hier concentrirte fich jene entjchloffene und furchtbare Wider: jtandsfraft, die nah einem Menfchenalter den Thron der Stuart8 umwarf. Zu diefen Männern gehörte Edmond Peaham, der jeinen Bifchof in einer Schrift angegriffen Hatte, die für ein Libel galt und feine Abfegung bewirkte; bei einer Hausſuchung fand fi unter feinen Papieren eine von feiner Hand in der Form einer Predigt verfaßte Schmähfchrift gegen die Perfon und Regierung des Könige. Er wurde verhaftet und auf Hocdpverrath angeklagt. Da er von Dingen unter- richtet fchien, die er nur von andern, mit den Regierungs— angelegenheiten vertrauten Perfonen erfahren haben konnte, fo glaubte man, daß er Mitwiffer habe, witterte ein Complot und folterte den alten Mann, um Geftändniffe zu erpreffen (den 19. Sanuar 1615). Er geftand nichts, wurde den 10. März das lette mal verhört und zum Tode verurtheilt. Indeſſen wurde das Urtheil nicht ausgeführt, der Verurtheilte ftarb wenige Monate fpäter.

Diefer Proceß und die dabei angewendete peinliche Frage fpielt unter den weltläufigen Vorwürfen, die gegen Bacon’s Charakter und Amtsführung gerichtet werden, eine anfehnliche Rolle. Indeſſen, wie fi aus den Acten der Sade ergiebt, ift Bacon weder der Anftifter des Procefjes noch der Haupt- führer der Unterfuchung gewejen. Der Primas von England und der königliche Staatsrath verlangten die gerichtliche Ver— folgung und zugleich die Anwendung der peinlichen Frage;

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die Aufforderung ging an die Kronjuriften, unter denen Bacon als Generalfiscal aufzutreten und das Protokoll des peinlihen Verhörs mit zu unterzeichnen Hatte. Diefe feine Namensunterfhrift Hat die Aufmerkfamfeit der Nachwelt auf den Proceß Peacham gelenkt, und man hat aus diefem Zeug: niß, was Bacon’s Verhalten zu der ganzen Unterfuhung be- trifft, mehr gefolgert als daraus folgte. Die Anwendung der Folter war damals nod üblich, und fie ift in dem vorliegen- den Falle von Bacon weder gefordert noch gutgeheißen worden, denn er fagt in feinem Berichte an den König über das Ver— hör ausdrüdlih, ev möchte lieber, daß ſich die Unterfuhung anderer Mittel bediene (den 21. Januar 1615). *)

Jakob Hielt Peaham’s Verfolgung für gefeglih und be- fonders für politifch nothwendig, Bacon war der Anſicht des Königs, und es ift Fein Grund zu der Annahme, daß er es blos aus Gefälligfeit war, er mag fich darin geirrt haben, daß er einen Fall für Hocverrath nahm, dev nicht unter diejen Begriff fiel. Allerdings war in diefem Punkte die erjte juriftifche Autorität des Königreichs einer ganz andern Mei- nung: Eduard Coke, Bacon's Nebenbuhler und Gegner, jett Präfident des höchſten Neichsgerichtshofes und Mitglied des geheimen Raths. Dem Könige lag daran, in dem Proceß gegen Peacham ficher zu gehen und den lebteren nicht eher vor den Gerichtshof zu jtellen, als bis er feiner Verurtheilung gewiß war, deshalb winjchte er, die Anfichten der oberjten Richter privatim und jede einzeln zu hören, damit Feine Be— einfluffung, namentlich von Coke's Seite her, ftattfinde. Dieſer erklärte fich gegen ein folches Aushorchen richterliher Mei—

*) We are driven to make our way through questions which I wish were otherwise, etc. The works (Spedding), vol. XII, p. 96.

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nungen und verſagte zuerit feine Mitwirkung; als er jih am Ende doch dazu verjtand, gab er feine Meinung dahin ab, daß Peaham’s Schrift nicht unter die Kategorie des Hoch— verraths gehöre. Damit beginnen die Differenzen zwiſchen dem Könige und Cofe, gleichzeitig entjtehen andere, die an Umfang und Bedeutung, weil fie königliche Machtbefugniſſe betreffen, ſchwerer ins Gewicht fallen und den König perſön— lid) gegen Coke erbittern. Es handelte fich dabei namentlic) um zwei Bunfte, betreffend das königliche Recht der Pfründen- verleihung und des Eingriffs in die Rechtsſprüche des höchſten Gerichtshofes. In den Verhandlungen über diefe Angelegen- heiten ift Bacon der Fünigliche Vertrauensmann, er conferirt mit Coke, berichtet an den König, und man fieht aus feinen Denkſchriften, daß er nicht blos Coke's juriftifcher, fondern auch deſſen perfönlicher Gegner ift, dem daran Liegt, zugleich dein Könige zu dienen und einen Feind los zu werden. Ende Juni 1616 verliert Coke feine Aemter, in demfelben Mortat wird Bacon Mitglied des Staatsraths. Er follte bald er- fahren, daß ein gejtürzter Feind gefährlicher ift als ein glück— licher Nebenbuhler. Coke war während der letzten Jahre ein populärer Mann geworden, die Ungnade des Königs ließ feine Bolksgunft wachen und vermehrte fein Anfehen im Parlament. Und nichts wurde für Bacon verhängnißvoller, als der Ein- fluß, den diefer erbitterte und zur MWiedervergeltung gereizte Gegner in dem nächſten Parlamente gewann.

Siebentes Kapitel.

Bacon’s Sturz und legte Jahre,

I. Das Parlament von 1621. 1. Bacon's Denkſchrift.

Nach der Auflöſung des letzten Parlaments beſchäftigte ſich Bacon ſogleich mit der Aufgabe eines neuen; ſchon im folgenden Jahre (1615) verfaßte er eine Denkſchrift, worin dem Könige auseinandergeſetzt wurde, welche Fehler nach den Erfahrungen der letzten Zeiten zu vermeiden, welche Politik einem neuen Parlamente gegenüber zu befolgen ſei. Fehlge— ſchlagen war der Verſuch, den großen Handel zwiſchen Krone und Parlament offen zu treiben und auf die vortheilhafteſte Weiſe für den König abzuſchließen, auch der zweite Verſuch, der den Schein des Handels umgehen wollte, hatte nicht zum Ziele geführt. Zuletzt waren die Forderungen eine Schraube ohne Ende und der „great contract“ von beiden Seiten ſo hoch hinaufgetrieben worden, daß er, um mit Bacon zu reden, am Ende eingeſtürzt war, wie der Thurm von Babel. Der König hatte ſich darauf in der ungünſtigſten und ſeiner un— würdigſten Lage gezeigt, in der des Bettlers; erbettelte Wohl—

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thaten feien Gift für einen König, bemerkte Bacon fehr richtig, indem er die „beneficia” wortfpielend „‚veneficia” nannte, Die Rathichläge, welche Bacon dem Könige gab, gingen auf eine ganz neue Taktik und veränderten gleichſam den Spiel: plan: die Geldfrage ſolle zunächſt aus dem Spiel bleiben, der König dürfe dem nächſten Parlamente gegenüber nicht mehr in Noth erſcheinen und möge vorläufig feine Einfünfte durch den Verkauf von Ländereien, Adelspatenten u. ſ. w. vermehren; dagegen feien die Mittel der äußeren Politif in ihrer ganzen Stärke anzuwenden, um auf das Parlament zu wirken. Die auswärtige Politik ſei immer die bejte Ableiterin misvergnügter Stimmungen, fie überwältige am leichteften jeden Widerftand, weil fie die patriotifgen Empfindungen in Anfpruc nehme und den gewohnten Horizont des Unterthanenverftandes überfteige; aus den bewegenden Kräften der äußeren Politik hatte Eliſabeth ihre Volksthümlichkeit und ihre Macht über die Parlamente ge- wonnen. Daher rieth Bacon, die europäifhen Fragen ftatt der innern vor dem nächſten Parlamente in Bewegung zu ſetzen. Die Lage Europas enthalte wirkliche Gefahren für Englaud, sranfreih verbinde ſich durch Heirathen mit Spanien und Defterreih, es drohe ein Bündniß der drei Fatholifchen Welt- mächte, im Hinblid auf die Gefahren, welde die nächſte Zu- funft bringen könne, müfje man die nationalen Gefühle Eng- lands beleben, und man werde das Parlament opferwillig und loyal finden; es werde bereitwillig Geld geben, um jede Ber- bindung der englifhen Königsfamilie mit der fpanifchen zu hintertreiben, daher-Fünne der König einen mittelbaren und jehr wirfjamen Drud auf das Parlament durch den Schein aus- üben, als ob das jpanifche Heirathsproject feine anderen Be- weggründe habe als finanzielle. Auf dieſe Weife wollte Bacon

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in dem Syfteme der neuen Politik des Königs, deren Programm er entwarf, die ſpaniſche Heirath als einen Kunftgriff benutzt jehen, um die Geldforderung zu maskiren. Aber wie paßte auch nur der Schein eines ſolchen Projects zu der antifpani- ſchen Haltung, die nad) feinem Rathe die auswärtige Politik des Königs allen Ernftes annehmen follte? Und wußte er nit, daß die anglo⸗ſpaniſche Heirath wirklich im Werke und der Vertrag in demfelben Jahre ſchon geſchloſſen war, wo er feine Denkſchrift verfaßte? Wir fehen bdeutlih die Mängel feiner Bolitif vor uns. Er kam zu feinem reinen Refultat, zu feiner fejten Richtfchnur, weil er mit zu vielen und wiber- iprechenden Factoren rechnete. Er erkannte fehr gut die Fehler, die gemacht waren, er ſah die Nothwendigfeit, fie zu vermei- den, aber er war in feiner Klugheit felbft viel zu nachgiebig, um fie los zu werden, er wollte eine neue und beffere Politik rathen und verquickte damit, gleichviel in welcher Form, ein Project, das aus der ſchlechten und verderblihen Politik des Königs herrührte. Es war fein Berhängniß, daß er zu Flug, ober, beffer gejagt, nicht jo Elug war, um ganz ehrlich zu fein.

Er hatte nicht umfonft auf die Bewegungen in Europa gerechnet, der Ausbruch des deutſchen Neligionskrieges, der Berluft Böhmens und der Pfalz wirkten auf England zurüc und fteigerten die national-proteftantifhe Stimmung. Unter diefen gewaltigen Eindrüden wurde das neue Parlament den 9, Februar 1621 eröffnet.

2. Anklage und Verurtheilung.

Gleich in der erjten Sitzung zeigte fi, wie groß im Haufe der Gemeinen die Unzufriedenheit mit der Politik des Königs nad außen und innen war. Der Sinn des Parla-

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ments ging, wie es die Interefjen Englands geboten, gegen jede Annäherung an Spanien, gegen die Heinlihe und blos familienpolitifhe Behandlung der pfälzifchen Frage. Je weniger die äußere Politik befriedigte, um fo peinliher wurden die Uebelftände der inneren empfunden, die Steuerauflagen, die Nachſicht gegen die Katholiken, vor allem die Misbräuche, na- mentlich in Betreff der Monopole und Gerichtshöfe. Man forderte deren Abftellung. An der Spike der Oppofition fteht Eofe, auf deſſen Antrag ſogleich Ausſchüſſe zur Unterfuhung der Misbräuche gewählt werden, der eine hat es mit den Mo- nopolen, ein anderer mit den Gerichtshöfen zu tum. Der Präfident des letzteren ift Robert Phillips. Den 15. März 1621 berichtet er dem Haufe der Gemeinen: es feien große Misbräuche entdedt, die Berfon, auf welche die Anklage ziele, fei der Lordkanzler felbft, ein Mann, mit allen Gaben der Natur fo reich ausgeftattet, daß er nichts weiter von ihm fagen wolle, denn er ſei nicht im Stande genug zu jagen. Die An— Hage gehe auf Beſtechung (bribery), er habe Geldgefchenfe in feinem richterlichen Amte genommen. Die Anklagepunfte hatten jih von Situng zu Situng vermehrt und waren auf einige zwanzig gejtiegen.

Den 17. März führt Bacon zum letten male den Vor— fit im Dberhaufe, er hebt die Sitzung früher auf als gewöhn- th, Eehrt in großer Aufregung in fein Haus zurüd und er- krankt. Drei Tage fpäter übergiebt Budingham dem Parla- mente einen Brief Bacon’s, worin diejer erklärt, er wolle ſich gegen die Anklage vertheidigen. Den 26. März vertagt der König das Parlament bis zum 17. April mit einer Rebe, worin er die Abftellung der hauptſächlichſten Monopole verfpridt, aber fein Wort des Schuges für Bacon fagt.

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Bacon's Nichter find die Lords. Die Anklageacte wird ihm fchriftlich vorgelegt und er befennt jchriftlich feine Schuld (den 22. April 1621). Bor einer Commiffion des Oberhauſes, die fich zu ihm begeben, wiederholt er mündlich), was er jchrift- lich befannt hat: „Diefer Brief, Mylords, worin id) mid) ſchuldig erklärt, ift von mir, von meiner Hand, aus meinem Herzen, id bitte Ew. Lordſchaften, Barmherzigkeit zu haben mit einem gebrochenen Rohr.“

Den 3. Mai erfolgt das Urtheil: einftimmig wird er der Beftehung für jchuldig befunden. Das Straferfenntniß lautet: 40,000 Pfund Geldbuße, Gefangenfchaft im Tower, folange e8 dem Könige beliebe, Verluſt der Staatsämter, des Sites im Barlament, des Aufenthaltes am Hofe. *) ALS ihm das Urtheil verkündet wurde, erflärte Bacon: „Aus dem Grunde meines Gewiffens befenne ich offen und freiwillig, ich bin ber Beitehung fhuldig und verzichte auf alle Vertheidigung.“

Er blieb zwei Tage im Tower, dann wurde ihm die Geldbuße erlaffen, eine Zeit lang lebte er verbannt auf feinem Landgut in Gorhambury, aber fhon im folgenden Jahre (1622) erhielt er die Erlaubniß zur Rückkehr nad Yondon, wo er feine alte Wohnung in Gray’s Inn wieder bezog. So erfüllte fich, was fünf Jahre vorher einer feiner damaligen Collegen pro- phezeit hatte. Der König gab ihm eine Penfion von 1200 Pfund und berief ihn fogar (1624) wieder in das Dberhaus. Indeſſen ift Bacon hier nie wieder erfchienen. Der Berur- theilung folgte Schritt für Schritt die Wiederherftellung, nicht ohne daß Bacon alle Welt mit Bitten um feine volljtändige

*) Die Adelstitel wurden ihm nicht genommen; mit einer Majori- tät von zwei Stimmen hatte fid) der Gerichtshof dagegen erklärt. Da- ber fchrieb er fih auch nad) der Verurtheilung „Fr. St. Albans‘'.

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Begnadigung. bejtürmte, er fchrieb aus feiner Berbannung Briefe über Briefe an den König, den Prinzen von Wales, Buckingham und andere einflußreiche Hofleute. Was der Kö— nig nicht wieder herzuftellen vermochte, war fein guter Name in der öffentlihen Meinung dev Mit: und Nachwelt.

3. Bacon's Schuld.

Man hat neuerdings Bacon zu retten und in diefer Ab- fiht nachzuweiſen gefucht: daß die ganze Anklage aus den niedrigften Beweggründen hervorgegangen fei, daß fie in der Hauptjache falſch und Bacon an den Verbrechen, für die er ver- urtheilt wurde, unfchuldig war, daß endlich die Misbräuche, die man ihm vorwerfen Fonnte, nicht ihm, jondern dem ganzen Zeitalter und den öffentlichen Zuftänden zur Yaft fallen. Diefe Einwürfe find nicht ohne Grund, und es ift billig, fie zu be- achten. Wenn fie aud) feineswegs ausreichen, ihm zu redt- fertigen, jo dürfen fie doch in diefer ſchlimmſten Angelegenheit jeines Lebens das Urtheil über ihn in manden Punkten be- rihtigen und mildern. Eine Art der Bertheidigung können wir nicht gelten laſſen: er war vier Jahre Kanzler, fagt Dixon, er hat mehr als fieben taufend Verdicte gefällt, während die Anklage nur einige zwanzig Fälle gegen ihn ausfindig machen konnte, welche ſämmtlich in die beiden erften Jahre feiner Amts- führung fallen. Das heißt mit andern Worten: er hat die Verbrehen nur in der erjten Hälfte feiner Amtsführung be- gangen und bei weiten nicht jo viel, als er hätte begehen fönnen. Eine ſolche BVertheidigung ift eine Anklage.

Daß die wirkliche Anklage zugleich eine Verfolgung aus perjünlihen und ſchlechten Beweggründen war, jcheint richtig. Budingham’s Mutter hatte einen ihrer Söhne mit Cole's

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Tochter verheirathet, was Lady Coke mit Hülfe Bacon’s Hatte verhindern wollen, aber nicht können; außerdem fuchte Bucking⸗ ham’s Mutter Aemter und Reichthümer für ihre Freunde, einer derfelben wollte Kanzler werden, und Bacon’s Anklage und Berurtheilung ſchien der beſte Weg, den Pla zu erledigen. Sp arbeiteten ſich Bacon’s größter Feind und des Königs mädhtigjter Günftling in die Hände, um ihn zu verderben. Den einen trieb die Rache, den andern Habſucht und außer- dem Furcht, denn Budingham dedte die eigene Schuld, indem er Bacon opferte. Im Hintergrunde des Procefjes lag ein Intriguengewebe, das aus Rache, Günftlingswirthfchaft und Nepotismus gefponnen war. Aber es ift nicht zu vergeffen, daß die Anklage felbjt von ſolchen Männern ausging, die mit jenen fhmuzigen Dingen nichts zu thun Hatten, und daß fie in der Sade richtig fein Fonnte, aud) wenn ihre Motive ſchlecht waren.

Daß Bacon in feinem richterlichen Amte Geſchenke ange- nommen Hat, ift wahr, aber Geſchenke find noch nicht Be— ftehungen, es ift ein Unterfchied zwijchen „fees“ und „bribes”. Wenn der Richter, während die Streitfache ſchwebt, Gefchenfe empfängt, die auf feinen Urtheilsfpruc einwirken, fo hat er ſich beftechen Laffen; es ift nicht bewiefen,. daß die Gefchenke, die Bacon annahm, diefer Art waren. Er felbft hat entfchie- den in Abrede gejtellt, daß er je für Geld Urtheile gefällt, Documente ausgeliefert, geiftlihe Aemter verkauft habe; er habe nie im Geheimen Gefchenfe empfangen, nie gegen Ver— fprechungen, nie „pendente lite“. Er erklärte dem Könige in einer Unterredung, während der Vertagung des Parlaments, daß er an dem Berbrechen der Beſtechung unjchuldig jei „as the any born upon St. Innocent’s day“. Indeſſen möge

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des Königs Wille gefchehen, er ſei bereit, fich dem Könige zum Opfer zu bringen, und fei in defjen Hand wie ein Stüd Lehm zu einem Gefäß, fei e8 der Ehre oder der Schande.

Daß aber die höchſten Beamten in ihrem Amte Gefchenfe nahmen, war damals in England ganz an der Tagesordnung; das that der König felbft, der Kanzler, der Oberrichter, der Staatsfecretär u.j.w. Wer that e8 nicht? Die öffentlichen Dezahlungen waren feineswegs jo geordnet und ausreichend, daß Privatbelohnungen entbehrt werden Tonnten, ohne welche 3. B. die Angelegenheiten des privaten Rechtes von Seiten der Richter wären vernachläffigt worden. Geſchenke diefer Art galten nicht für eine „judicial corruption“, nod) in dem erften Parlament unter Jakob waren fie Fein Gegenftand der Be- jchwerde, die Dppofition dagegen begann erſt in den folgenden Parlamenten von 1610 und 1614. Auch ftanden Bacon’s Borgänger im Kanzleramt, die Hatton, Pudering, Egerton, in diejer Dinficht Feineswegs reiner da als er. Obwohl Bacon diefe Misbräuche einfah und bei feinen Berbefjerungsplänen der Geſetze und öffentlichen Zuftände die Abjtellung derfelben bezwedte, konnte er doc) ihren Lockungen perfönlich nicht wider- jtehen. Daß er fi) die Früchte derfelben fchmeden ließ, war im höchſten Grade unflug, da er fehr gut wußte, wie die Öffentliche Stimmung gegen die Misbräuche, die er felbft tadelte und theilte, mit jedem Jahre bitterer und drohender wurde. Zu jeder Charafterftärfe gehört ein gewiffer Rigorismus, von dem Bacon gar nichts befaf. Zu feiner Charakterſchwäche fam die Verfchwendung, die Neigung zur Pracht, die Frei- gebigfeit aus Prunkſucht, lauter Fehler feiner Natur, denen er aus Liebe zum Schein, um ihrer glänzenden Außenfeite willen, unbefümmert nachgab. Er lebte großartig in Yorkhouſe,

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umgab fi in feinem Landhaufe in Gorhambury mit einer förmlichen Hofhaltung, baute mit einem Aufwande von 10,000 Pfund Berulamhoufe; feine Diener hatten die Foftbarften Livreen und befaßen Wagen und Pferde; als ihm der König einft ein Reh zum Geſchenk madhte, gab er dem Diener, der es brachte, funfzig Pfund. Auf diefe Weife brauchte er natür- lich weit mehr Geld, als er hatte *), und ließ ſich daher jene misbräudlichen Geſchenke gern gefallen, bei denen es fraglich war, ob fie fich noch diefjeitS der Grenze gemeiner Beſtechung hielten. In feiner Liebe zum Schein lag die wahre Bejtech- lichkeit feines Charakters: die Beſtechlichkeit, die unter fein Strafgefeß fällt und der Grund ift jeder andern. Es giebt viele, die ihn auf das härtefte verdammen und in jenem inne— ren Grunde nit um ein Haar beſſer find als er: in der Liebe zum Tand, zu Reichthümern, Adelspatenten, Orden! In einer Hinfiht glauben fie, befjer zu fein, fie haben aus Liebe zum Tand mancherlei gethan, aber nichts Polizeimidriges.

II.

Urtheil über Bacon’s Verhalten. Sein Ende.

Ein Punkt in dem Proceß ift noch dunkel. Wenn wir in der Handlungsweife Bacon’s genau unterfcheiden zwifchen Schwäche und Berbrechen, zwifchen der moralifhen Schuld und der jtrafbaren, und den Zuftand öffentlicher Misbräuche in Rechnung nehmen, der in dem damaligen England Sitte war,

*) Er hatte zulett im Ganzen 2760 Pfund jährlid), davon 1800 Pjund

Amtseinfünfte, 600 von feinen Ländereien, 220 von dem Vermögen feiner Frau, 140 von feinem mütterlichen Erbtheil.

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fo erflärt fi, wie Bacon felbjt über feine Schuld fo verfchie- den und entgegengejett urtheilen Fonnte. Er hat die Schwäche eingeräumt, das Verbrechen in Abrede geftellt. Er hat dem Könige vor feiner VBerurtheilung perfönlid) erklärt, er fei an dem Verbrechen der Beitechung ganz unfchuldig, und nad) feiner Berurtheilung noch aus dem Tower an Budingham gefchrieben, er erfenne das Urtheil für gerecht; dennoch will er feit den Zeiten feines Vaters der gerechtefte Kanzler Englands gewefen jein. Er hat den Richtern gegenüber ſich für fchuldig er: Härt, die Barmherzigkeit der Richter, die Gnade des Königs angerufen. Er nannte ſich ein gebrodenes Rohr; in diefem Valle war ein zu biegjames und fchwanfendes Rohr gefnidt worden. Daß feine Handlungsweife dem Gerichtshofe gegen- über eine Bertheidigung zuließ, die in der öffentlichen Beurtheilung Bacon zu gut gefommen wäre, liegt.am Tage. Auch hat ſich Bacon zuerjt vertheidigen wollen, dann auf jede Art der Vertheidigung Berzicht geleiftet. Das ift der dunfle Punkt und die nod übrige Frage: warum hat ſich Bacon nicht vertheidigt ?

Es giebt nur eine Art der Erflärung. Abgejehen von affen perjönlihen und ſchlechten Motiven, die bei folhen Ver— folgungen gewöhnlicd die Hand mit im Spiel haben, war die Anklage gegen Bacon ein politiijher Tendenzprocek. Deffentlihe Misbräuche eingewurzelter Art, für welde bisher niemand angeflagt und bejtraft worden war, jollten jett ge- richtet und beftraft werden. Das öffentliche Rechtsgefühl forderte ein Opfer. Schon in den fetten Parlamenten gährte der Un- wille, der immer lauter und drohender wurde und dem Sturm der Revolution voranging. In dem höchſten Staatsbeamten Englands, der an den Misbräuchen feinen unleugbaren Antheil

silber, Bacon. 8

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hatte, follte die Regierung, der Hof, der Günftling, der König felbjt getroffen werden. „Ich bin das erjte Opfer“, fagte Bacon dem Könige, „ich wünfche, das letzte zu fein.” Er fah die Gewitterwolfen heraufziehen und wußte wohl, daß er das leßte nicht fein werde: „der erſte Blit trifft den Kanzler, der zweite wird die Krone treffen.” Bei diefer Lage der Dinge hätte feine Vertheidigung nicht geführt werden Fünnen, ohne den König und deſſen Günftling als die wahrhaft Schuldigen, als die eigentlichen Nutnießer der öffentlichen Uebel bloßzu— ftellen; für ihm felbft wäre fie jedenfalls erfolglos geblieben. Der König befhwor ihn, fich nicht zu vertheidigen, und gab ihm fein fürftliches Wort, ihn wiederherzuftellen, falls er ver- urtheilt würde. Er war in die Mitte gedrängt zwijchen zwei einander entgegengefegte Mächte, die ihn aufrieben; König und Hofpartei auf der einen, Parlament und Volkspartei auf der andern Seite; von diefer wurde er geftürzt, von jener ge- opfert. Seine Sade ftand fo, daß die Vertheidigung ihn nicht retten, wohl aber dem Könige misfallen konnte, er Hatte nur zu wählen, ob er verurtheilt fein wollte mit oder ohne Aus— j fiht auf Begnadigung. In Rüdficht auf fein unmittelbares per- fönliches Wohl mochte das Klügfte fein, zu thun, was der König wünfchte: ſich einfach ſchuldig bekennen und dem Richter— ſpruch unterwerfen. Er that das Klügfte,

Wir wiffen, wie der König fein VBerfprechen erfüllt, den fchwerften Theil der Strafe fogleid) aufgehoben und den Ver— urtheilten im Laufe dreier Jahre vollitändig wiederhergeftelft bat. Bacon's Wiederberufung in das Dberhaus war einer der letzten Regierungsacte Jakob's. Der König ftarb den 27. März 1625; Bacon überlebte ihn wenig länger als ein Jahr. . In das öffentliche Leben ift er nicht mehr zurüdgefehrt.

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Was er jih in der Jugend gewünjcht, wiſſenſchaftliche Muße, hatte er während der legten fünf Jahre feines Lebens in Fülle, freilich unter Bedingungen, die nicht unfreimilliger fein fonnten. Er hat dieje literariihe Muße, ſoviel ihm davon noch vergönnt war, für jeine wiſſenſchaftlichen Arbeiten, für die Ausführung jeiner Ideen nnd die Anordnung jeiner Werke benugt, und ein großer Theil jeiner Schriften fällt in dieje Zeit.

Der Sommer des Jahres 1625 Hatte Krankheiten nad) London gebradt, ein überaus ftrenger Winter war gefolgt, beide ungünftig für Bacon’s ſchon geſchwächte Gejundheit. Im Frühjahr 1626 war er von Gorhambury nah Gray’s Inn zurüdgefehrt. Auf einem Ausflug in den erjten Tagen des April hatte er bei Highgate in einem Bauernhauje einen Ver: ſuch angejtellt, ob Fleiſch durch Schnee vor Fäulniß bewahrt werden fünne, und fi) dabei eine fo heftige Erkältung zuge: zogen, daß er nit mehr nad) Gray's Inn zurückkehren konnte, fondern in die benahbarte Wohnung des Grafen Arundel ge bradht werden mußte. An diefen ijt der lete feiner Briefe, den er nicht mehr felbit zu ſchreiben vermochte, gerichtet, er dankt dem Grafen für den Schuß, den er in feinem Haufe ge- " funden, und vergleicht fein Schickſal mit dem des älteren Plinius, dem auch ein wißbegieriger Verſuch das Leben gefoftet. Hier jtarb Bacon am DOftermorgen den 9. April 1626. Sein Kör- per ruht, wie er gewünfcht Hatte, neben dem feiner Mutter in der Michaeliskirche bei St.-Albans.

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Achles Kapilel. Bacon's Werke.

J. Ueberblick. 1. Bacon als Schriftſteller.

Wir haben die Lebensgeſchichte Bacon's nicht durch den Gang ſeiner Schriften unterbrechen wollen. Sie ſind in der wiſſenſchaftlichen Stille entſtanden, die ihm nur ſelten zu Theil wurde und außerhalb ſeiner öffentlichen Bahn lag, ſie haben auf ſeine äußeren Schickſale keinen anderen Einfluß gehabt, als daß ſie dem Glanze ſeiner Aemter und Würden den Ruhm des Schriftſtellers und Philoſophen hinzufügten. Sein literariſcher Ruf ſtieg mit ſeinen Aemtern, er iſt durch die öffentliche Geltung Bacon's vermehrt worden und hat ſchon bei ſeinen Lebzeiten eine große Probe beſtanden: er war in ſich ſelbſt ſo wohl be— gründet, daß er keinen Schaden litt, als Bacon's bürgerlicher Ruf zu Grunde ging. War man vorher auf den Schriftſteller und Philoſophen Bacon erſt aufmerkſamer geworden, ſeitdem er Kanzler und Lord hieß, ſo hat man ſpäter über ſeinen literari— ſchen Werken den Kanzler und den Lord vergeſſen. Seine amtliche und ſeine literariſche Laufbahn treffen beide auf ihrem Höhepunkte zuſammen: als Bacon der erſte Staatsmann Eng—

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lands war, galt er aud) als der erſte philofophifche Schrift: iteller nicht blos feines Vaterlandes, fondern der Welt. Sein „Neues Organon“, das wichtigste feiner Werke, erfchien in dem legten feiner glüdlichen Jahre, dicht vor dem Ausbrucd der Rataftrophe (1620).

Aus der vorhergehenden Lebensgefchichte leuchtet von felbft ein, daß er für die Ausreifung feiner wiſſenſchaftlichen Pläne, für die Ausarbeitung der darauf bezüglichen Werke nur wenige Zeit übrig behielt und daher von dem Ganzen, deffen Idee er in fich trug, nur einzelne Theile entwideln konnte und auc) diefe mit einer einzigen Ausnahme nur fragmentarifh. Bon einer ſyſtematiſchen Vollendung im Großen und Ganzen ift daher nicht die Rede, auch nicht von einer gleichmäßigen äußeren Abrundung des Gefammtwerfes: es blieb in einigen Theilen ganz unausgeführt, in den meiſten übrigen Bruchſtück, Ent- wurf, Problem. Freilid trug daran auch die Natur feiner Aufgabe ſelbſt Schuld, denn fie war fo geftellt, daß ihre Löfung nicht durch) die Kraft eines Einzelnen, fondern nur durch das Zuſammenwirken vieler und mannichfaltiger Geifteskräfte im Laufe der Zeit gefchehen fonnte; er wollte nur die Bahn brechen, den Weg weifen, die Richtſchnur geben, und wußte wohl, daß er felbit das Werk, welches er im Sinne Hatte, nicht... volfenden, jondern nur beginnen konnte. Er entwarf den Riß, wonad) die neue Zeit das Gebäude der Wiſſenſchaft allmälig aufführen ſollte. Daher blieb auch die eigentliche Form feiner Arbeiten Entwurf, Programm, Grundriß: e8 war die Ge— ftaltung, die der inneren Anlage feines Werks und der äußeren Dispofition feines Lebens, die ihm fo wenig Muße übrig ließ, am meiften entfprad. Einen Gedanken faffen, im -Stillen ausbilden, fchriftlich firiren, zum Entwurf ausgeftalten, in

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gelegener Stunde umarbeiten, in günftiger Muße wieder aufs nehmen, weiterführen und, wenn es ging, ausarbeiten: das war die Art, wie fich feine philofophifchen Schriften entwidel- ten. Es find Keime, die ſich entfalten, jobald fie Luft und Licht frei haben. Daher finden fi unter feinen Werken jo viele von gleichem Gedanfeninhalt und ungleihmäßiger Aus— führung; man darf annehmen, daß die Fürzere Form bei Bacon in der Kegel die weniger entwidelte und frühere ijt: fie ift Entwurf, nicht Auszug.

2. Selbftherauögegebene Werke,

Den erften Grundgedanken feines Werfes mag Bacon frühzeitig, fchon auf der Schule von Cambridge, gefaßt und den erften Verſuch etwa zehn Jahre fpäter in Gray’s Inn _ niedergefchrieben haben. Eine Schrift über den Zuftand Europas im Jahre 1580, die er nad) feiner Rückkehr aus Frankreich verfaßt haben ſoll, iſt wahrfcheinlich nicht von ihm, fondern von feinem Bruder und übrigens unbedentend. Zu den erften „Essays“, zehn an der Zahl, fügte Bacon dialeftifche Unter- fuchungen, betreffend die Meinungen über Gut und Böſe, „Colours of good and evil“ (zehn Nummern) und außerdem zwölf jogenannte „Meditationes sacrae”, die er im folgenden Jahre (1598) in englifcher Sprache unter dem Titel „‚Religious meditations” herausgab. In das Jahr 1597 fallen die An- fänge feiner „Essays“. Weiter reicht unter Elifabeth die Ent- widelung feiner Literarifchen Arbeiten nicht, foweit fie nad) außen erfennbar. Nach dem Tode Elifabeth’S beginnt die Zeit der größeren Arbeiten philofophifchen Inhalts. Nur drei davon ericheinen in dem langen Zeitraum vom Tode der Elifabeth bis zum Sturze Bacon’s: zwei Bücher über den Fortfchritt

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der Wiffenfchaften (The advancement of learning 1605), die Abhandlungen über die Weisheit der Alten (De sapientia veterum 1609) und das neue Organon (Novum organon 1620). Die legten fünf Lebensjahre find die Zeit feiner größten wiſſen— ihaftlihen Sanımlung und der eigentlichen Ausarbeitung feiner Werke. Im vier bis fünf Monaten des Jahres 1621 fchreibt er die Gefchichte Heinrich's VII.; wenige Tage vor feiner Ver— dammung faßt er den Entſchluß, an diefe Arbeit zu gehen, wozu er den Plan fchon lange im Sinne gehabt, fie ift im Detober vollendet, fern von London und den Duellen zu einem Geſchichtswerk, und doch Hat er die Zeit und den Charakter des eriten Tudor jo zu treffen gewußt, daß diefe Charakteriftif vorbildlich geblieben iſt für alle folgenden Werke. Er hat die Geſchichte eines Königs gefchrieben, der fein eigener Premier: minifter war, er hat ihn nicht idealifirt, noch weniger in der Perſon Heinrih’8 VII. dem Könige Jakob fehmeicheln wollen, als ob jener ein Ideal Füniglicher Thatkraft, diefer fein Abbild gewejen; er zeichnet in Heinrich ein wirkliches Regententalent in allen Verwaltungsangelegenheiten des Landes, in politischen Dingen oft Furzfichtig, daneben habſüchtig und argwöhniſch. Diefe Gefhichte Heinrich’s VII. ift der ausgeführte Theil eines größeren hiſtoriſchen Planes, der nicht ausgeführt wurde, Bacon wollte die Gefhichte Englands fchreiben von der Ver— einigung der Roſen unter Heinrich VIL bis zur Vereinigung - der Reihe unter Jakob.*) Zwei Jahre fpäter erfcheint das ausgeführtefte feiner Werke, das einzige, das er wirklich voll-

*) Bon der Geihidhte Großbritanniens und von der Gefhidhte Hein- rich's VIII. find nur Anfänge gefhrieben worden, die Rawley nad) Bacon’s Tode veröffentlicht hat. Eine Schrift, auf die Bacon großes Gewicht fegte, ift feine Vertheidigung der Elifabeth (In felicem memoriam Eli-

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endet hat, die neun Bücher über den Werth und die Vermehrung der Wiffenfchaften (De dignitate et augmentis scientiarum 1623), außerdem drei naturgefchichtliche Abhandlungen über dic Winde, über Leben und Tod, über das Dichte und Dünne (Historia ventorum, H. vitae et mortis, H. densi et rari). Diefe Abhandlungen find dem Prinzen von Wales, das neue Drganon ift dem Könige gewidmet. Das lette von ihm ſelbſt herausgegebene Werk war die dritte Auflage feiner „Essays‘‘ (1625); die erfte Ausgabe vom Jahre 1597 enthielt zehn Ab— handlungen, die zweite vom Jahre 1612 achtunddreißig, die legte achtundfünfzig.

3. Nadjgelafiene Werke.

Bacon’s Nachlaß follte nad) feinem letzten Willen einem feiner Brüder und William Boswell übergeben werden. Die Herausgabe deffeben erfolgte nur theilweife, in verjchiedenen Zeiten, durch verſchiedene Männer. Gleich nad) dem Tode Bacon's gab fein Secretär William Rawley die Naturgeſchichte (Silva silvarum) und die neue Atlantis Heraus, dem Könige Karl I. gewidmet; dann folgten durch denjelben Herausgeber vermifchte Schriften: „„Certain miscellany works“ (1629), die „Resuscitatio“ (1657) mit einer Yebensbejchreibung Bacon's, zulegt die „Opuscula philosophica” (1658). Eine fehr wich— tige Ergänzung aus dem baconifchen Nachlaß erfchien zu Amſter— dam im Jahre 1653 unter dem Titel: „Francisci Baconi de Verulamio scripta in philosophia naturali et universali.“ Der Herausgeber war Iſaak Gruter, von Boswell dazu be— sabethac) gegen ein Pamphlet, das unter dem Titel „„Misera femina‘ aus Fatholifcher Werkftätte kam. Bacon’8 Schrift wurde 1608 verfaßt

und funfjig Jahre fpäter in den „Opuscula philosophica” von Raw— ley veröffentficht.

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auftragt. Die Ausgabe enthält neunzehn verfchiedene Stüde, von denen dreizehn unter dem von Gruter gewählten Titel „Impetus philosophici” zufammengefaßt find. In Rawley's Hinterlaffenihaft fanden ſich baconifhe Papiere, aus denen Teniſon durd) Rawley’s Sohn, mit dem er befannt war, einen Theil erhielt, den er als „Baconiana” 1679 herausgab. Zu: fett gab Stephens im Jahre 1734 aus Bacon’ Nadjlaf „Letters and remains”. Kine volljtändige und methodifche Herausgabe der baconifchen „Opera postuma“ blieb eine Aufgabe, die erſt die jüngjte englifche Gefammtausgabe zu Löfen gefucht hat.

I. Das Gefammtwerk und deffen Theile.

(Instauratio magna.)

Es iſt eine Aufgabe bibliographifher Specialforfchung, jedes baconifche Schriftftüd zu unterfuhhen und von feiner Ent- jtehung kritiſch Rechenschaft zu geben. Wir Haben cs Hier mit den Hauptwerfen zu thun und werden bei der zerjtüdelten Natur des Ganzen die Einfiht in den Entwidelungsgang der= jelben amt beiten gewinnen, wenn wir von der VBorftellung des Geſammtwerks ausgehen, wie Bacon jelbjt es geordnet und die Ausführung deſſelben im Sinne gehabt. Er hat kurz vor feinem Tode diefen feinen Plan dem Pater Fulgentius brief: fi auseinandergejett. Das Geſammtwerk führt den Namen, der die durchgängige Aufgabe feines wiſſenſchaftlichen Lebens bezeichnet: die große Erneuerung der Wiſſenſchaft (‚„Instauratio magna‘). Dazu ijt die erfte Bedingung eine vollftändige Ueberfiht und Eintheilung der Wiffenfchaften, um genau zu wiffen, welde Aufgaben zu löſen find; die zweite ift die Art

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der Löſung, das Inftrument zur Erneuerung der Wiſſenſchaft, die richtige Erfenntnigmethode; die dritte foll das Material oder den Stoff der Welterfenntnig d. h. die geihichtlihe Samm— (ung und Beſchreibung der Welterfcheinungen liefern; die vierte und letzte Hat die darauf gegründete oder daraus gelöjte philo- jophifche Erfenntnig zum Ziel. Demnach zerfällt die „In- stauratiamagna“ in vier Haupttheile: 1) die Encyklopädie, 2) die Methodenlehre, 3) die Naturgefchichte, 4) die wirkliche Philofophie.

Zwiſchen dem eriten und zweiten Theil wollte Bacon feine politifchen und moralifchen Schriften als einen befonderen Band („tomus interjectus”) eingefhoben wiſſen; fie find dem erften Theil nicht blos willfürlih angehängt, fondern ftchen mit demfelben in einem ſachlichen Zuſammenhang: dort giebt Bacon feine Anfiht von den Aufgaben der politifchen Ge- Ichichtsfchreibung, von der Bedeutung der Poefie, von den Aufgaben und der Führung des menfchlichen Lebens, er giebt jede diefer Anfichten an ihrem encyklopädiſch beftimmten Orte; hier zeigt er in einzelnen Fällen, wie politifche Geſchichte zu ſchreiben, Poeſie zu erklären, wichtige Lebensfragen zu nehmen find. Der eingefchobene Band follte die Gefhichte Heinrich’s VIL., die Abhandlungen über die Weisheit der Alten und die „Essays“ enthalten. Diefe letteren wünſchte Bacon foweit als möglich ver- breitet und aufdie Dauer erhalten; er hatte fie englifch gefchrieben, aber die lateinifche Sprache erſchien ihm als eine größere Bürg- Ichaft für die Verbreitung und Dauer einer Schrift, daher betrieb er die lateinifche Ueberſetzung; fie erfolgte durch Rawley im Jahre 1638 unter dem Titel; ‚„‚Sermones fideles sive interiora rerum.“

Der dritte Theil giebt das Erfenntnigmaterial gefammelt und geordnet, das Magazin und Schathaus der Wiffenfchaft, der Tette die methodifcd daraus gelöfte Erkenntniß. Zwifchen

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diefe beiden Theile der „Historia naturalis” und der „Philo- sophia activa” ftellt Bacon noch zwei Mittelglieder, die von dem einen zum andern führen, den Weg zur Erfenntniß zeigen, die Leiter oder den Faden geben follen, um aus dem Walde der Thatſachen zum Licht der Erkenntniß durchzudringen; er nennt daher den erſten Zwifchentheil „Scala mentis’ oder „Filum labyrinthi“, den zweiten „Prodromi sive anticipatio- nes philosophiae secundae”. Hier will Bacon feine eigenen Entdeckungen als Beifpiele oder Vorfpiele der wahren Philo- fophie geben. So umfaßt, wenn die moralifhen und politi- ſchen Schriften nur als Anhang des erjten Theils gelten, das Gefammtwerf ſechs befondere Theile.

Davon hat Bacon nur den erften vollfftändig ausgeführt, der zweite ift Bruchſtück geblieben, von dem dritten fagt er felbjt, daß eine vollftändige Weltbefchreibung Fein Privatmanı feiften fünne, denn fie fordere einen Aufwand von Mitteln und Kräften, die nur Königen oder Körperfchaften zu Gebote ftehen. Er hatte die Abfiht, außer jener Sammlung von Thatſachen und Verſuchen in zehn Centurien, die Rawley unter dem Titel: „Silva silvarum“ herausgab, einige naturgefchicht- liche Beiträge zu liefern, deren er fechs verſprach, aber nur drei (die wir oben genannt haben) ausführt. Zu den drei andern über das Schwere und Leichte, über die Sympathien und Antipathien der Dinge, über Schwefel, Duedfilber und Salz hat er nur Vorreden gefchrieben, *) Auch was den vierten

*) Historia gravis et levis, H. sympathiarum et antipathiarum rerum, H. sulphuris, mercurii, salis. Zu diefer Art Unterfuhungen gehört auch die Abhandlung Über Ebbe und Fluth (De fluxu et refluxu maris) und über Schall und Gehör (Hist. soni et auditus). Jene hat Gruter (1653), diefe Rawley (1658) herausgegeben.

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und fünften Theil des Geſammtwerks betrifft, haben ſich in Bacon’s Nachlaß nur Vorreden gefunden, die Gruter heraus gegeben Hat.*) Der Tette Theil bleibt nad) Bacon jelbft

Zufunftsphilofophie.

II. Die Hauptwerke und deren Entfichung. 1. Die Encyllopädie.

Demnad find die Bücher über den Werth und die Ver- mehrung der Wijfenfchaften und das neue Organon unter Bacon’s philofophifchen Schriften die ausgeführteften und bei weitem die wichtigften. Wir wollen fehen, wie dieje beiden Werke entjtanden find und welche Kleinere Schriften fih um fie gruppiven oder ihnen als Berfuhe und Entwürfe voran— gehen.

Die Encyflopädie oder die Schrift „De dignitate et aug- mentis scientiarum“ iſt ſchon achtzehn Jahre vorher in den beiden Büchern „The advancement of learning” vorgebildet: das erjte Bud) ift wahrſcheinlich 1603 verfaßt, gleich nach dem Zode Eliſabeth's, es Handelt vom Werthe der Wiſſenſchaft, ihrer Bedeutung für Könige und Staatsmänner, und ijt vielleicht auf das Intereffe Jakob's berechnet, der eben damals den Thron bejtieg; das zweite Bud) fällt in das Jahr 1605 und beichäf- tigt fi) mit den Mängeln und Aufgaben der Wiffenfchaft, wahr- ſcheinlich wurde es während der Vertagung des erften Parla—

*) Unter den Impetus philosophici: „Scala intellectus sive filum labyrinthi, prodromi sive anticipationes philosophiae secundae.' Bor- hergeht „Phaenomena universi sive historia naturalis ad condendam philosophiam“, als Verſuch einer Borrede zum dritten Haupttheil des Geſammtwerks.

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ments (December 1604 bis Detober 1605) verfaßt; es ift an Umfang dreimal fo groß als das erfte und enthält die Materien, welche das fpätere Hauptwerk in neun Büchern und in latei- niſcher Sprade ausführt.

Die Wiffenfhaft als das geiftige Abbild der wirklichen Welt nennt Bacon gern den „globus intellectualis“, die Dar- ftellung defjelben wird in dem erjten Theil des Gefammtwerfs bezwedt. Zwiſchen der erften englifchen Faſſung und der lateinifchen Ausführung fteht ein Entwurf, der das Haupt- werf gleichſam im Keime enthält: „Descriptio globi intellectua- lis.” Da hier eine aftronomifche Entdedung aus dem Jahre 1600 erwähnt und bemerft wird, daß diefe Entdefung vor zwölf Jahren gefchehen fei, jo ift die Schrift aus dem Jahre 1612. Eine zweite Abhandlung „Thema coeli“ hängt mit ihr nahe zufammen, beide Schriften find unter denen, die Gruter herausgegeben. Was aljo die baconifche Enchklopädie betrifft, fo ift der chronologifche Entwidelungsgang derjelben durch) die Jahre 1603 bis 1605, 1612, 1622 bis 1623 be— zeichnet. Die Iateinifche Ueberſetzung beginnt 1622,

2. Dad neue Organon,

Das Organon erfhien 1620 mit einer Vorrede zu dem Geſammtwerk, einer Eintheilung des leßteren und einer Special- vorrede. Der Plan des Ganzen ijt hier ſchon jo bejtimmt, wie fünf Jahre jpäter in dem Briefe an Fulgentius. Es zer- fällt in zwei Theile, der zweite ift Bruchſtück geblieben; doc) iſt unter allen baconifchen Werfen feines fo durdhgearbeitet wie das Drganon, namentlich in feinem erſten Theil. Bacon felbft erffärt, daß er es Jahr für Jahr umgefchrieben, im Ganzen wölf mal; dies bezeugt auch Rawley, der die Handjchriften

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gefehen: mithin fällt die erfte Ausarbeitung des Organons in das Sahr 1608.

Doch find die Anfänge zu diefem Werke noch früher. Es giebt zwei Schriften, die das Organon vorbilden und Die Grundgedanken bereits enthalten. Die erjte und wichtigfte führt den Titel: „Gedanken und Meinungen“ (Cogitata et visa), in dem Jahre 1607 verfaßt, wie aus Briefen zwiſchen Bacon und Thomas Bodley erhellt. Die Uebereinftimmung diejer Schrift mit dem erften Buche des Organons liegt am Tage, hier wird die Aufgabe gelöft, welche dort gejtelltwird: nämlich die Eremplificirung der neuen Methode. An die „Cogitata’ fchließt fi) unmittelbar das Organon vom Jahre 1608.

Die zweite Schrift heißt im Hinblid auf das Gefanmt- werk: „Abriß und Inhalt des zweiten Theil (Partis secundae delineatio et argumentum)”. Mit dem Organon verglichen, enthält fie diefelben Grundgedanken, doch ift Hier die Ueber— einftimmung nicht fo genau, nicht fo augenfällig, wie bei den „Cogitata et visa“, auch enthält fie nichts von der Aufgabe, die Methode ſelbſt exemplarisch darzuftellen. Daher jteht fie dem Organon ferner als jene und ift alſo früher, wahrjchein- lich fällt fie in das Jahr 1606.

Wenn der Titel diejer Schrift von Bacon felbjt herrührt, fo muß der Plan des Geſammtwerks, id; meine der ‚„„Instauratio magna“, ſchon damals fejtgeftanden haben. Der Name „in- stauratio” findet fid) in feinen Briefen nicht vor 1609.

Beide Schriften find erft von Gruter veröffentlicht wor- den, die zweite gehört zu den „Impetus philosophici”. Eben dort findet fih eine Keihe Kleiner Schriften, die als Bor- läufer und rudimentäre Formen des neuen DOrganons betradjtet werden müſſen, wie die Unterfuchung über die Bewegungs-

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gejeße, die Aphorismen und Nathichläge über die Hiülfs- mittel des Geiftes, die zwölf Meinungen über die Erklärung der Natur, während das Prodmium zu der Iekteren als der Verſuch eines Borworts zu dem Gefammtwerf erfcheint. *)

Dffenbar ift der erfte das ganze Erneuerungswerf Bacon’s bewegende Gedanke die Ueberzeugung von der Unfruchtbarkeit und Nichtigkeit der bisherigen Shiteme gewefen. An dieſem Punkte Hat er angefegt, und man darf annehmen, daß je früher die Entwürfe find, um fo geringjchäßender und weg- werfender die Haltung ift, die er gegen die überlieferte Philo— jophie zeigt. Der Sat gilt aud umgekehrt. Seine erfte Schrift ſoll den etwas großſprecheriſchen Namen geführt Haben: „Die größte Geburt der Zeit” oder auch „die mannhafte Ge- burt der Zeit“ (Temporis partus maximus oder masculus). Das von Gruter herausgegebene Bruchſtück trägt diefen Cha- after; nirgends vedet Bacon mit fo vieler Verachtung von den früheren Syſtemen; die Zerftörung der verjchiedenen phi- loſophiſchen Theorien gilt als die erjte umd BORD aller Arbeiten.

3. Die Encyflopädie und das Organon.

Es giebt eine baconifche, aus dem Nachlaß erſt fehr fpät durch Stephens veröffentlichte Schrift, welche den Keim für beide Hauptwerfe und den Grund ihrer Trennung enthält. Titel und Sprache find dunkel und deuten auf eine frühe Ab- faffung, bei welcher Bacon vielleiht nody nicht die Abficht hatte, für die Welt, ſondern nur für Auserwählte zu ſchreiben.

*) Filum labyrinthi sive inquisitio legum de motu, Aphorismi et

consilia de auxiliis mentis, De interpretatione naturae sententiae XII. De interpretatione naturae prooemium.

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Da er dem vergeblihen Suchen der früheren Philofophie ein Ziel (terminus) feßen wollte, jo hat er die Schrift vielleicht deshalb „Valerius Terminus“ genannt. Sie enthält den frühften Typus für das Geſammtwerk. Im dem zehnten Ka— pitel wird ein Inventar der gemachten Entdefungen, in dem folgenden die Auffindung des Weges und der Methode zu richtigen Entdedungen gefordert; dort ijt die Aufgabe der En- cyflopädie, hier die de8 Organons gejtellt. Was in der Schrift „De augmentis“ in neun Büdern, in „The advancement” in zweien gegeben wird, drängt fi) hier in ein Kapitel zu- ſammen. Offenbar ift diefe Schrift früher, als die beiden Büder „The advancement of learning“, fie fällt vor 1603. Es läßt fid) daher fchließen, wie e8 auch die Natur der Sache mit fi) bringt, daß die Aufgabe eines neuen Organons der Grfenntniß im Geifte Bacon’s ſchon mit aller Klarheit gefaßt war, als der Plan einer Encyflopädie und des Gefammtwerks no ganz unentfaltet im Keim lag, daß von der Idee des Drganons aus fi) der wiſſenſchaftliche Gefammtplan entwidelt, daß es nicht blos einen Theil der „Instauratio magna”, fon- dern das Wefen derfelben, den erneuenden Grundgedanken jelbjt und die tragende Kraft des Ganzen ausmadıt.

Nach diefer Nichtjchnur werden wir in dem folgenden Buche die Lehre Bacon's darjtellen.

IV. Gefammtansgaben.

Bon den Gefammtausgaben der Werke Bacon’s fällt eine in das 17., zwei in das 18. Jahrhundert, drei in dieſes. Die ältefte erfchien ein Meenfchenalter nad) dem Tode des

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Philofophen bei 3. B. Schönwetter zu Frankfurt a. M. unter dem Titel: „Brancisci Baconi baronis de Verulamio, vice- comitis S. Albani, summi Angliae cancellarii opera omnia, quae extant, philosophica, moralia, politica, historica.“ Borangegangen waren Rawley's und Gruter’s Ausgaben nach— gelafjener Werke. Ich werde gewöhnlich nad) diefer Ausgabe citiren.

Die erfte englifhe Gefammtausgabe der Werfe Bacon’s verfuchte Blackbourne (Rondon 1730, 4 vol.). Die Eintheilung folgt im Ganzen der baconijchen Anordnung des Gefammtwerks, alle Schriften follen in einen fyitematifhen Zufammenhang gebracht werden, dies gefchieht auf Fünftlihe und wilffürliche Weiſe ohne die Spur einer chronologifhen Ordnung. Drei- unddreißig Jahre fpäter folgt eine zweite Gefammtausgabe von Bird, die fi in der Eintheilung nad) der vorhergehenden richtet (London 1763). Auch die dritte Gefammtausgabe, die Baſil Montagu verfuht (Xondon 1825—34), verbeffert die Mängel der vorhergehenden nicht. Daffelbe gilt von der‘ franzöfifchen Ausgabe Bouillet's (Paris 1834).

Die beſte und vollftändigfte Gefammtausgabe ift die jüngjte, zu der fid) drei Männer in Cambridge vereinigt haben: James Spedding, L. Ellis, D. D. Heath. Der Titel Heißt: „The works of Francis Bacon, baron of Verulam, viscount St. Alban and Lord high chancellor of England” (London, Long— mans, 1862—70). Die Eintheilung zerfällt in drei Gruppen: philofophifche und literarifche Werke, juriftifche und Gelegenheits- jhriften. Zu den letteren gehören die Briefe, Neden, Staats- papiere u. |. w. Die eigentlichen Werfe umfafjen die erften fieben Bände; die folgenden, bis zum dreizehnten erſchienen, find biographiiher Natur und führen den befonderen Titel:

„Die Briefe und das Leben.” Das Unternehmen wurde 1847 bes Fiſcher, Bacon, 9

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ihloffen, den philofophifchen Theil ſollte Ellis, den juriftifchen Heath, den letten Spedding beforgen. Nachdem Ellis erfranft war, übernahm Spedding auch dejfen Arbeit (1853). Unter den philofophifchen Werken find alle begriffen, die Bacon ent- weder ſelbſt veröffentlicht oder zur VBeröffentlihung bejtimmt und vorbereitet hat. Die nähere Eintheilung giebt die Be— ziehung der Werfe auf die Instauratio magna: in die erfte Kaffe fallen die Schriften, die zu dem Geſammtwerk gehören -und zur Aufnahme in dajjelbe beftimmt waren; die zweite Klaffe befteht aus folchen, die zwar mit dem Geſammtwerk zufammenhängen, aber zur Aufnahme in dafjelbe nicht bejtimmt waren; in die dritte Klaſſe endlich werden ſolche Schriften ge- rechnet, die fi) zwar auf das Geſammtwerk beziehen, aber von Bacon verlaffen wurden. Den philofophifchen Werfen coordinirt find die literarifchen, darumter die „Essays“ und die hiſtoriſchen Schriften.

° Diefe Eintheilung ift fehr umjtändlih und bei alfer Genauigkeit im Einzelnen dem natürlichen Entwidelungsgange der Schriften nicht gemäß, dagegen find die Detailunter- fuhungen ſehr werthvoll und gründlich, insbefondere muß Spedding’8 Abhandlung über den Werth der baconiſchen Phi- fofophie, ſowohl was die Einfiht in die Mängel, als die Schätung ihrer wahren Verdienſte betrifft, zum Beften ge- rechnet werden, was darüber befannt if. Man darf unter- richteten Engländern nicht vorwerfen, daß fie über den Werth Bacon’s verblendet urtheilen.

Zwei Bud)

B a co nt’ 2 ch re

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Erfles Kapitel. Das Ziel der baconifhen Philofophie,

I. Bacon's wiſſenſchaftliche Denkweife. 1. Leben und Wiſſenſchaft.

Die großen Leiftungen eines Menſchen find nie fo abge- fondert und abtrennbar von feinem Leben, daß er bier ein ganz anderer fein könnte als in den Werken feines Geiftes; eine gewiffe Uebereinftimmung findet ſich ſtets zwiſchen der wiffenfchaftlichen Geiftesrihtung und der perfönlichen Gemüths— art; Leibniz hätte mit feinem perfönlichen Charakter niemals ein Philofoph werden können gleih Spinoza, Bacon ebenfo wenig ein PBhilofoph gleich Descartes. Die wiffenfchaftliche Richtung, die er ergriff, entfprad) vollfommen der Eigenthün- Tichfeit feines Wefens, feinen Bedürfniffen und Neigungen. Nicht blos er ſelbſt, fondern auc feine Wiſſenſchaft war zu ehrgeizig, zu thatenluftig, zu aufgefchloffen für die Welt, um fih in der Einfamfeit zu begraben. Die Macht der Menſch— heit zu befördern, nennt er felbit einmal die höchſte Stufe des Chrgeizes; diefen Ehrgeiz Hatte feine Wiffenfchaft, er urteilte früh, daß die dem Weltleben abgewendete Speculation eng und unfruchtbar bleiben müfje, daß ſich das bisherige Elend

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der Philofophie, dem er abhelfen wollte, miterfläre aus dem herkömmlichen Stillleben der Gelehrten. „Die Kenntniffe diefer Leute‘, fagte Bacon, „sind jo eng als ihre Zellen, als die Klöfter und Klofterfchulen, worin fie eingefchlojfen Leben ohne Kenntnig der Welt, der Natur, des Zeitalters“. Im Gegenſatz dazu richtet er fein wiffenfchaftliches Denken auf große praftiihe Zwede, er findet die Wiffenfchaft losgetrennt von dem Weltleben und möchte fie mit dieſem im eine neue und fruchtbare Verbindung fegen; alle feine philofophifchen Pläne zielen dahin, die Wiffenfchaft zu bereichern, fie mädjtig, angejehen, einflußreih, gemeinnäßgig zu machen. Bereichern läßt ſich die Wiffenfhaft nur mit Kenntniffen, mächtig kann fie nur werden, wenn ihre Kenntniffe nützlich, anwendbar, wirkſam jind, Denken wir ung Bacon’s Lebensidee eingeführt in die Wiffenfchaft, fo wird, was diefe begehrt, nichts anders fein fönnen, als ein Reichthum nütlicher und mächtiger Kennt— niffe, nur zu erwerben durch einen gejchieten, dem Leben zu— gewendeten, für die Welterfahrung eingerichteten Verſtand. Statt des Reichthums, den er fucht, findet Bacon in der vor- handenen Wiſſenſchaft das baare Gegentheil, die bitterjte Ar- muth, wenige unbrauchhbare Kenntniffe und dazu, um das Elend voll zu machen, die dünkfelhafte Einbildung wunder wie reich zu fein. Will er alfo in der Wiffenfchaft feinen Willen durch— führen, jo muß er diefen Dünkel zerftören und ftatt der vor— handenen Wilfenfchaft, der nicht zu Helfen ift, eine neue erwerbs- fähige ſchaffen. So entjteht in ihm die Idee der „Instauratio magna“. Der Baum der Erfenntniß, den er vor fi) ficht, trägt Feine Früchte mehr, man fann nur dürres Laub von ihm abjhütteln, und damit befchäftigen fich die Zunftgelehrten der Zeit zu ihrer eigenen großen Genugthuung. Er hatte die

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ſcholaſtiſche Gelehrſamkeit kennen gelernt; auf die Trage, was er-in ihren Büchern gefunden, antwortete er wie Hamlet dem Polonius: Worte, Worte, Worte!

Wenn man Bacon’s Leben und Charakter kennen gelernt hat, jo kann man ſchon wiffen, welcher Art die Reformation jein wird, die von ihm die Wiffenfchaft erwarten darf: voller Intereffe für Welt und Leben, begierig nad Macht und Ans jehen, wie er jelbjt war, wird er bejtrebt fein, die Wiffen- ſchaft praftifch denken zu Lehren, ihren Verſtand nur auf die wirflihen Dinge zu richten, diefen Verftand fo nüchtern und gejhmeidig zu machen, daß er die Dinge vorurtheilsfrei be- traten, richtig ergründen könne. Dazu brauchte die Wiffen- Ihaft eine neue wegweifende Methode, Bacon jtellte fie auf, fie bedurfte eine Menge Hülfsmittel, um die Schwierigkeit des ungewohnten Weges zu befiegen, ev ſpähte nach diefen Mitteln mit der ihm eigenthümlichen Gewandtheit, ex juchte feiner Theorie die bewegliche und biegſame Geftalt zu geben, die ſich ganz nad) den Umftänden zu richten, überall die offene Stelle zu entdeden, für jeden Fall die befondere Handhabe zu finden wußte. Diefe Richtung der Wifjenfhaft und Bacon's ganze Gemüthsart waren für einander gemad)t.

2. Der baconiſche Weg.

Ich muß hier auf einen Irrthum hinweiſen, den ic) über die baconiſche Bhilofophie vielfach verbreitet finde. Man glaubt, daß Bacon wohl ein frudhtbarer und anregender, aber fein confequenter Denker geweſen fei, daß in der Verfaffung feiner Lehre der ſtreng wifjenfchaftlihe Zufammenhang und die folgerihtige Verknüpfung der einzelnen Theile fehle. Ver— jteht man unter Confequenz die ſyſtematiſche Schuleinrihtung

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einer Philojophie, jo darf man diefen Charakter der baconi- ſchen abſprechen, indejjen find Syſtem und Conſequenz nicht daffelbe, es giebt Philofophien, die weder die Abficht noch die Anlage haben, Schulſyſteme zu fein, ohne deshalb die Richt— ihnur zu entbehren, die ihre Grundgedanken verknüpft und folgerichtig fortfchreiten läßt. Je weniger man in der baconi- jchen Lehre die eigenthümliche Art und Confequenz ihrer Denk— weije erfannt hat, um fo mehr machen wir es unferer Dar: jtellung zur Pflicht, die logiſche Bündigkeit derfelben zu erleuchten. |

Ieder geordnete Gedankengang wird durch zwei Haupt: punkte bejtimmt: von dem einen geht er aus, nad) dem andern jtrebt ev Hin, jener ift fein Ausgangspunkt, diefer fein Ziel. Welcher von beiden die Richtſchnur giebt, iſt für die Denkweife entjcheidend: ob erjt der Ausgangspunkt genommen und von hier in folgerichtiger Fortbewegung das Ziel gefucht, oder ob zuerjt diefes deutlich ins Auge gefaßt und darnad) der Weg abgemefjen und bejtimmt wird bis zu dem Punkte, von dem aus er beginnt. Setzen wir den erjten Ball, jo beginnt das Denken mit einem Princip oder einem Grundſatz, aus welchem alles Weitere gefolgert wird in geordneter Reihe, gleichviel welches das endlihe Ziel if. Setzen wir den zweiten Fall, fo jteht von vornherein das Ziel feit, dieſes erleuchtet den Weg, die Mittel, durch die e8 erreicht wird, die Neihenfolge derfelben, deren erjtes Glied den Ausgangspunkt oder das Prineip bildet. Hier alfo wird aus dem Ziele der Ausgangs: punkt erſchloſſen; wenn vichtig gefchloffen wird, fo ift der Ge- danfengang unftreitig confequent, nur ift feine Ordnung, wie feine Richtung jenem anderen Wege entgegengefegt, der von dem gegebenen Ausgangspunkte zu dem nicht gegebenen Ziele

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fortfchreitet. Wir haben zwei verfchiedene Wege des Denkens oder Methoden vor uns, deren jede ihre eigenthümliche Folge- rihtigfeit beansprucht: in der erſten Methode ift alles beftimmt dur; den Grundfag, in der zweiten alles dur das Ziel; jene, indem fie Folgerung an Folgerung knüpft, verfährt zu— fammenfegend oder fynthetifch, diefe dagegen, indem fie das Ziel in die Mittel zerlegt, durch die es erreicht wird, verfährt auflöfend oder analhtiſch.

Wir haben ſchon gejagt, wie Bacon’s erjter und bewegen- der Grundgedanke, aus dem Leben felbit gefchöpft, ein praf- tifches Ziel, eine Aufgabe der Welt war; diefes Ziel hat er zuerjt ergriffen und fid) dann über die Mittel befonnen, die dazu führen, diefes Ziel hat er in feinem Gedanfengange ftets und unverwandt im Auge behalten, daher war fein Denken zielfegend und wegweifend, daher feine Denkweiſe analytifch und deingemäß in ihren Grundlinien bejtimmt.. Man faßt ihn fchief und verkehrt auf, wenn man meint, er habe ähnlich gedacht wie Descartes oder Spinoza; man kann einen ana— lytiſchen Denker nicht ſynthetiſch darjtellen, ohne die folgerichtige und bündige Ordnung feiner Ideen in eine willfürliche und loſe zu verwandeln, d.h. die Konfequenz der Denkweiſe zu verderben. Denn der analytifhe Schluß von diefem Ziel auf diefe Mittel ift ftreng und zutreffend, während der fynthetifche von diefen Mitteln auf diefes Ziel immer precär ausfieht; der Zwed fordert gebieterifch das nothwendige Mittel, wogegen das Mittel viele Zwede haben fan. Nehmen wir an, Bacon habe ſich eine Aufgabe gejett, die er nur durch Erfahrung, nur durch eine ſolche Erfahrung löſen fonnte, fo war es voll- fommen gerechtfertigt, daß er diefe zu feinem Princip erhob; wäre er dagegen von der Erfahrung als feinem Grundfage

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ausgegangen, fo konnten ihn von hier aus unzählige Wege zu unzähligen Zielen führen. Warum alfo wählte er gerade diefen einen Weg und diefes eine Ziel? Jetzt erjcheint als beliebige Wahl, was in ihm felbft als nothwendiger Gedanke wirkte. Man foll daher nicht immer wiederholen, daß Bacon von der Erfahrung ausgegangen jei, womit nichts gejagt wird, oder nicht mehr, als daß Columbus ein Seefahrer gewejen, während. doc) die Hauptjache ijt, daß er Amerika entdedte; die Schifffahrt als folhe war fo wenig der leitende Gedanke des Columbus, als die bloße Erfahrung der Bacon’s.

Ueber diefen Gegenfat der beiden Denkweiſen, über diefe Natur der feinigen, geboten durch den innerften Beweggrund feines ganzen wiſſenſchaftlichen Werkes, hatte Bacon felbit das Harjte Bewußtjein, das er wiederholt in feinen grundlegenden Schriften ausfpridt. Wir haben ihm in der vorhergehenden Erklärung nicht etwa unfere Borjtellung geliehen, jondern aus jeiner Seele geredet. Er unterfcheidet den befchaulichen oder rein theoretifchen Charakter der Wiſſenſchaft von ihrer prafti- ihen, in der Welt wirkffamen Geltung und ftellt die lettere in den Vordergrund, er will die Wiffenfchaft von ihrer activen Seite ergreifen, es erfcheint ihm ficherer von hier aus zu be- ginnen, alle Kräfte des Erfennens auf diefes Ziel zu richten und durch den activen Theil der Wiſſenſchaft den contempla- tiven zu bejtimmen.*) Mit andern Worten, die ganze theo- vetifche Geiftesarbeit foll einem praktiſchen Ziele untergeordnet fein, dem fie dient. Bisher Haben in der Philofophie Grund: ſätze geherrfcht, die der Verftand aus fich felbjt nahm, jetzt jollen Aufgaben herrfdhen, die aus dem Zuftande der Welt

*) Nov. Org. II, Aph. 4.

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geſchöpft find; Grundfäte find Vorausfegungen, die ohne Rüd- fiht auf die wirkliche Natur der Dinge der Verſtand anticipirt: daher nennt Bacon jene Herrſchaft der Grundfäte die „Me— thode der Anticipationen”. Das Weltziel dagegen, welches ihm vorfchwebt, fordert das Verſtändniß der Natur und des- halb die genaue und gründliche Auslegung ihrer Werfe: daher nennt er feine Methode „die der Interpretationen” und ſetzt fie jener andern entgegen. Das find die beiden Lehrmethoden, die er ſchon in der Vorrede zum neuen Organon unterfcheidet: vermöge der einen laſſen fich gefundene Wahrheiten ſyſtematiſch ordnen und darjtellen, vermöge der andern dagegen Laffen ſich Wahrheiten finden; jene kann den wiffenfchaftlichen Stoff be- arbeiten, diefe dagegen fchafft ihn zu Tage, dort ift die Dar» jtellung, hier die Erfindung die Hauptſache. Soll disputirt d. h. mit Worten über Gegner gefiegt werden, fo ift die „Methode der Anticipationen” an ihrem Plage; foll dagegen vorwärts geftrebt, fortgefchritten, Erkenntniß gewonnen und durch Werke über die Natur gefiegt werden, fo kann das nur gefchehen durch „die Methode der Interpretation.*) Auf dem alten Wege der Grundfäge und Folgerungen kann man Worte machen, durch Worte gewinnen, Schulen ftiften; der Weg ift leicht, daher populär, die beliebte Heerftraße, auf der die meiften gehen, aber unfruhtbar und ziellos in der Wiffen- ihaft, e8 werden Annahmen auf Annahmen gethürmt, aber feine Fundamente gelegt, kein wirkliches Gebäude errichtet. Welchen der beiden Wege man ergreift, hängt ab von dem, was man will: will man durch Wortkünfte glänzen, fo bleibe man auf dem alten Wege; hat man dagegen praftifche Ziele

*) Nov. Org. Praef. Vgl. Nov. Org. I, 19—26.

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vor Augen, fo muß man den neuen betreten. Was Bacon für feine Sache beanſprucht ift nicht der Beifall der Schulen, auch nicht das größere Talent, fondern nur die Richtigkeit des Weges in Abfiht auf ein bejtimmtes, praktifches Ziel. Beide Wege können neben einander betehen, da fie ganz verſchiedene Richtungen Haben, nur wird man den neuen Weg nicht nad) der Richtſchnur des alten beurtheilen dürfen. *)

II. Das baconiſche Biel. 1. Die Wahrheit der Zeit,

Welches ift nun, näher beftimmt, der Gefichtspunft, der die baconifhe Philofophie von Anfang bis zu Ende beherrfcht, ih meine das Ziel, wonach der Weg fi) richtet? Diefes Ziel foll aus dem Zuftande der Welt, d.h. aus den Be- dingungen der Gegenwart gefchöpft fein. „Es ijt engherzig“, fagt Bacon, „der Zeit ihr Recht zu verweigern, die Wahrheit ift die Tochter der Zeit, nicht der Autorität, und welche Zeit iſt älter als die unfrige? Die gewöhnliche Anfiht vom Alter: thum ift Leichtfertig und nicht einmal wortgetreu, denn das Alter der Welt muß für Altertum gehalten werden, und diefes Alter kommt unferer Zeit zu, nicht dem jüngeren Welt- alter der Vorzeit; diefes ift alt in Vergleihung mit uns, aber jung in Rüdfiht auf die Welt.““*) Die Welt ift im Laufe der Zeit älter, umfaffender, reicher geworben, die Wifjenfchaft

*) Nov. Org. I, Aph. 26—33. **) Nov. Org. I, 84. Cog. et visa. Op. pg. 59. De augm. scient. lib. I.

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joll diefem vorgerüdten Weltzuftande gleichfommen. „Cs wäre eine Schande für die Menjchheit, wenn die Gebiete der materiellen Welt, die Yänder, Meere und Geftirne in unferen Zeiten unermeßlich erweitert und erleuchtet worden, die Grenzen der intellectuellen Welt dagegen in der Enge des Alterthums fejtgebannt blieben.“ *) Die Philofophie und der Bildungs— zuftand der Welt find einander ungleich, diefe Ungleichheit ſoll aufhören; die Philofophie ift zurücdgeblieben, fie ſoll die Gegen- wart einholen: das ift die Aufgabe.

2. Die Erfindung.

Wir fennen die großen Weltveränderungen, die dem baco- niſchen Zeitalter vorausgehen, die Erweiterungen, welde auf allen feinen Gebieten der menſchliche Gefichtsfreis erfährt. **) Entdedungen im Bunde mit Erfindungen haben eine neue Weltcuftur begründet, und es giebt Feinen größeren Gontraft innerhalb der Menfchheit, als wenn die wilden Bölfer der neuen Welt verglichen werden mit den gebildeten Bölfern der alten Welt. „Was für ein Unterfchied‘, ruft Bacon aus, ‚zwifchen dem menſchlichen Leben in einem gebildeten Lande Europas und dem in einer wilden und unbebauten Gegend des neuen Indien! Führwahr diefer Unterfchied ift jo groß, daß man mit Recht jagen kann, der Menſch fei ein Gott für den Menfchen, nicht blos, weil er ihm Hülfe und Wohlthaten er: weist, fondern aud durch den Unterjchied der Bildung, und dies bewirkt nicht Klima und Natur allein, jondern der menjd)- liche Kunſtfleiß. Mit immer neuem Bergnügen bemerken wir die Bedeutung, Macht und Tragweite menſchlicher Erfindung;

*) Nov. Org. I, 84. *) ©, oben Bud) I, Cap. II, ©. 33—35.

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nirgends erfcheinen fie deutlicher als in jenen drei Erfindungen, die dem Altertfume unbekannt waren und deren Anfänge zwar neu, aber dunkel und unberühmt find: nämlid in der des

F -Bulvers, des Compaſſes, der Buchdruckerkunſt. Dieſe drei Erfindungen haben die Phyſiognomie und den Zuſtand der Welt umgeſtaltet, in der Wiſſenſchaft, im Kriegsweſen, in der Schifffahrt. Und zahllofe Reformen find ihnen gefolgt. Keine Herrſchaft, feine Secte, fein Geftirn hat je größere Macht und größeren Einfluß auf die menſchlichen Verhältniſſe ausgeübt, als diefe mechanischen Dinge.‘ *)

Der erfinderifche Menfchengeift Hat die neue Zeit gefchaffen : hier erfennt Bacon die Aufgabe, welde das Zeitalter ihm ſtellt. Die Philofophie zeitgemäß machen heißt joviel, als fie in Uebereinjtimmung bringen mit dem Geift der Erfindungen und Entdedungen. Den bisherigen Erfindungen hat e8 am philofophifchen Geifte gefehlt, der bisherigen Philoſophie an der Richtung, welche Entdedung und Erfindung zu ihrem Ziel hat. Die bisherige Wiffenfchaft hat Feine Werfe erfunden, die bisherige Logik Feine Wiffenfchaft.**) Die Erfindung war bisher dem Zufall preisgegeben, und darum felten, von jet an foll fie abjichtlichh gefchehen, und darum Häufig; die Menſchen follen nicht blos finden, fondern erfinden: an die Stelle des Zufalls foll der Plan, an die des Glüds die Kunft treten. Was bis dahin „casus“ war, foll von jet an „ars“ werden. Wenn den Menjchen, jagt Bacon, viele Erfin- dungen geglüct find, während fie nicht darauf ausgingen, während fie ganz andere Dinge juchten, jo müffen fie ohne

*) Nov Org. I, 129. gl. Cog. et visa. Op. pg. 59. **) Nov. Org. I, Aph. 11.

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Zweifel weit mehr entdeden, ſobald fie geflifjentlich fuchen, planmäßig und in geregeltem Wege, nicht ungejtüm und deful- torifh. Mag es immerhin bisweilen gejchehen, daß jemand durch einen glücklichen Zufall auf etwas geräth, das dem müh— ſamen Forfcher vorher entgangen ift, jo wird doch im Ganzen genommen ficher das Gegentheil jtattfinden. Denn der Zufall wirft jelten, ſpät und zerftreut, die Kunft dagegen ftetig, ſchnell und in Fülle. Auch läßt ſich aus den vorhandenen Erfindungen auf die verborgenen jchliegen. Bon den vorhandenen nämlid) find einige der Art, daß fie fein Menſch geahnt hätte, bevor fie gemacht waren; denn die Menjchen haben immer nur das Alte vor Augen, daran hängt ihre Einbildungsfraft, und wie es dieje mit fich bringt, fo fajeln fie über das Neue, Nehmen wir an, e8 hätte jemand vor Erfindung des Pulvers die Wir- fungen defjelben als Facta befchrieben und etwa gefagt: e8 fei ° ein Mittel gefunden worden, um die ftärkften Mauern und Befeftigungen aus weiter Ferne zu erfchüttern und umzuftürzen, jo würden die Leute auf mande Einfälle gefommen fein, wie man die Kräfte der Wurfmaſchinen durch Gewichte und Räder und ähnliche Dinge vermehren fünne, aber von dem Feuer— winde hätte niemand auch nur eine Ahnung gehabt. Denn davon gab es fein Beifpiel, fein Vorbild, außer etwa im Erd» beben und im Blitz, und ein folches Beifpiel Hätte alle Welt als unnahahmbar verworfen. Und ganz diefelbe Bewandtnif hat es mit der Erfindung der Seide. Hätte jemand gejagt, e8 gäbe einen Stoff, der Leinwand und Wolle an TFeinheit und Feltigfeit, an Glanz und Weichheit übertreffe, jo würden die Leute cher an alles Andere, wie Pflanzen, Haare, Federn, nur nit an die Spinnerei eines Wurms gedacht haben. Achn- lic verhält cs fi) mit der Erfindung des Compafjes und der

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Typen. So ſchwerfällig ift der menſchliche Verſtand. Zu: erft mistraut er der Erfindung und dann veradhtet er ſich jelbit; zuerjt jcheint ihm unglaublid, daß eine ſolche Erfindung ge- macht werden fünne, und wenn fie gemacht ift, jcheint es ihm alsbald unglaublich, daß dieſe Erfindung dem menjhlichen Geifte jo lange entgehen Eonnte.*) *

Jede wahre Entdedung ſoll gejchehen, wie die des Colum— bus, „der nicht auf gut Glück in die See führt, jondern das Ziel bedacht und gegründete Hoffnung hat, das Land in Weſten zu finden. Mit ihm vergleiht Bacon das eigene Werk, das den Weg zeigen will auf ein bejtimmtes wohlbegründetes Ziel.**) Das Ziel ift die Erfindung, der Weg das auf Erfindung an- gelegte und eingerichtete, dazu geſchickte Denken, die Logik des Erfindens, die „ars inveniendi”. In diefer neuen Logif liegt der Kern feiner Aufgabe, den man nicht treffend genug be- zeichnet, wenn man ihn gemeiniglich den Philojophen der Er- fahrung nennt. Diefer Begriff ift zu unbeftimmt und zu weit. Er ift der Philofoph der Erfindung. Darunter verftehe man nicht einen Erfinder, jowenig man unter einem Philofophen der Kunft einen Künftler?verfteht. Seine Philofophie ift fein Syſtem, jondern ein Weg, er hat es unzähligemal gejagt, fie ift unbegrenzt, wie das Reich der Erfindung, fie will ein be- wegliches Inftrument, kein ftarres Pehrgebäude fein, feine ge- ichloffene Schule, Feine abgemachte, in fich vollendete Theorie. „Wir wollen verſuchen“, jagt Bacon, „ob wir die Macht des Menſchen tiefer begründen, weiter ausdehnen fünnen, und wenn unfere Erfenntniffe aud) hie und da in manchen fpecieffen

*) Nov. Org. I, 108—10. Bgl. ebendaj. II, 31. *) Nov. Org. I, 92 (Schluß).

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Materien wahrer, ficherer, fruchtbarer find als die herkömm— lichen, jo geben wir dennoch Feine allgemeine in ſich abges ſchloſſene Theorie.“*)

Jeder Philoſoph hat ein Vorbild, das er in ſeinem Denken zu treffen und in Wiſſenſchaft aufzulöſen ſucht. Plato's Vor— bild war die helleniſche Kunſt, die ſich in den Werken der Dichter und Bildhauer ſeines Zeitalters ausprägte; Bacon's Vorbild iſt der erfinderiſche und entdeckende Geiſt, der ſeinem Zeitalter vorleuchtet. Beide Philoſophen verhalten und unter— ſcheiden ſich, wie ihre Zeitalter; ihre Begriffe richten ſich nach der menſchlichen Kunſt, aber die Kunſt, welcher der griechiſche Philoſoph gleichkommt, iſt die theoretiſche, bedürfnißloſe der ſchönen Form, diejenige dagegen, der Bacon entſprechen will, die praktiſche, erfindungsluſtige des menſchlichen Nutzens. Er analyſirt die Erfindung, wie Ariſtoteles den Beweis. Beide Philoſophen ſind Analytiker. Die Zergliederung des theore— tiſchen Wiſſens gab die Unterſuchungen, die den Inhalt des alten Organons ausmachen; die Analyfis der Erfindung ſoll der Inhalt des neuen fein.

3. Die Herrfhaft des Meniden.

Das Ziel der Wiffenfchaft ift die Erfindung. Das Ziel der letteren ift die Herrichaft des Menſchen über die Dinge, diefe alfo ift unter Bacon’s Geſichtspunkt der alleinige und höchſte Zweck der Wiffenfchaft. Der Menfch vermag nur fo- viel, als er weiß, fein Können veicht nur foweit als fein Wiſſen, Wiffenfchaft und Macht fallen in einen Punkt zufam- men.**) Je mehr eine Erfindung das Reich der menjchlichen

*) Nov. Org. I, 116.

**) Cog et Visa, Op. p. 592. Nov. Org. I, 3. Fiſcher, Bacon. 10

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Herrfchaft erweitert, um fo gemeinnügiger und deshalb um fo größer ift die erfinderiihe That, um jo werthvoller und mächtiger ift die Wiffenfchaft, durch die fie ftattfindet. Nicht die Art der Objecte adelt die Wiſſenſchaft, ſondern der Dienft, den fie der Menfchheit Leiftet, es ift eine falſche Anſicht, ge- wife Dinge für vornehmer als andere zu halten und dieſen Rang auf die Wiſſenſchaften zu übertragen, es giebt in der Wirklichkeit nichts, das der Erforſchung unwerth oder für den Berftand verächtlicd wäre, die Wiſſenſchaft Fennt jo wenig als die Sonne etwas Niedriges oder Gemeines. „Was die gering- fügigen und hHäßlichen Dinge betrifft, von denen man, wie Plinius fagt, nicht reden darf ohne um Erlaubnig zu bitten, jo müſſen fie ebenfo gut erfannt werden als die herrlichiten und fojtbarjten. Die Wiſſenſchaft ift nicht zu befleden, aud) die Sonne beleuchtet auf gleiche Weife Paläfte und Cloaken und wird dadurch nicht unrein. Wir wollen fein Capitol und feine Pyramide dem menfchlichen Uebermuthe weihen oder er- bauen, fondern einen Heiligen Tempel im menfchlichen Geifte gründen nad) dem Vorbilde der Welt. Was werth ijt zu fein, das ift auch werth gewußt zu werden, denn die Wiffenfchaft ift das Abbild des Dafeins, und nun find die niedrigen Dinge fo gut vorhanden als die herrlichen.“ Genau fo dachte So- frates, dem unter den menſchlichen Dingen nichts zu gering und zu ſchlecht ſchien, um daraus eine richtige und wahre Borjtellung zu löſen.

Man kann die Dinge nicht beherrichen ohne fie zu fennen, und die Einficht, welche die Dinge durchſchaut, ift nur durch eine lange Bekanntſchaft, durd einen vertrauten Umgang zu

*) Nov. Org. I, 120.

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erreihen. Wie ſich die Menſchenkenntniß nicht vorweg nehmen, fondern nur im eingehenden und fortdauernden Verkehr er- werben Täßt, ebenfo die Kenntniß der natürlichen Dinge, Diefer Verkehr ift die Erfahrung, die Welterfahrung, die ſich mitten im Getriebe dev Dinge aufhält und deren Aeufe- rungen mit unbefangenem und offenem Sinne beobachtet. Der Weg zur Erfindung führt daher durch die Erfahrung; die Er- findung ift Zwed, die Erfahrung das nothwendige Mittel. So wird Bacon der Philofoph der Erfahrung. Es fehlt viel, daß die Erfahrung als ſolche ſchon Erfindung ift, Erfahrungen haben die Menfchen von jeher gemadt und machen fie täglich, warum nicht in eben dem Maße Erfindungen? Weil ihnen fehlt, was allein die Erfahrung erfinderijch macht: der entdecfende Geiſt. Wie alfo muß die Erfahrung eingerichtet werden, damit die Erfindung unwillfürlic und nothiwendig daraus hervorgehe? Dies ift die Frage, in. welche die baconifche Aufgabe ſich faßt.

Die Erfindung iſt eine Kunft, die ſich von der äfthetifchen darin unterjcheidet, daß diefe durd die Phantafie etwas Schönes, jene dur) den Verſtand etwas Nützliches Hervorbringt. Nütz- (ich ift, was dem Menſchen dient, feine Macht vermehrt, die Macht der Dinge ihm unterwirft. Die gefährliden Natur- fräfte werden uns durch die Erfindung dienftbar und botmäßig, jet es daß wir fie gebieterifc) brauchen oder fiegreid) abwehren. So iſt der Bli eine Naturgewalt, die uns bedroht, der Blik- ableiter eine Erfindung, die uns jener Gefahr gegenüber fichert. Um aber eine ſolche Erfindung zu machen, um überhaupt dur) den Berjtand etwas hervorzubringen, muß ic alle dazu erfor— derlichen Bedingungen kennen. Jede Erfindung iſt eine An— wendung von Naturgeſetzen. Um dieſe anzuwenden, muß man ſie kennen, man muß wiſſen, unter welchen Bedingungen

10*

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Wärme jtattfindet, um ein Inftrument zu erfinden, welches Wärme erzeugt. Man muß die Naturgejete des Blites kennen, um dem eleftriihen Funken die ableitende Spite zu bieten, Und fo in allen Fällen. Unfere Macht über die Natur gründet ſich auf unfere Einfiht in die Natur und deren wirkfame Kräfte Wenn ich die Urfache nicht weiß, wie will ich die Wirfung erzeugen? „Macht und Wiſſenſchaft“, jagt Bacon, „fallen zufammen. Denn die Unkenntniß der Urfache vereitelt die Wirkung. Die Natur läßt ſich nur befiegen, wenn man ihr gehorcht, und was dem forjchenden Verftande als Urfache gilt, eben dafjelbe gilt dem erfinderifchen als Richtſchnur und Kegel.“ *)

Alfo das richtige Verftändniß der Natur ift das Mittel, wodurd die Erfahrung zur Erfindung führt. Iſt die Wilfen- ichaft die Grundlage alles Erfindens, fo ift das richtige Ver— ftändnig der Natur oder die Naturwiffenfchaft die Grundlage alles Wifjens, „die Mutter aller Wiffenfchaften‘, wie Bacon fie nennt.**) Die Naturwiffenfchaft aber verlangt die richtige Auslegung der Natur, eine Kenntniß nicht blos ihrer Er- Scheinungen, jondern ihrer Geſetze, d.h. eine wirkliche Natur- erffärung. Diefe macht den entfcheidenden Wendepunkt, in dem - die Theorie praftifch, die contemplative Wiffenfchaft operativ, die Erfenntniß productiv, die Erfahrung erfinderifc) wird, Und die Erfindung felbjt bildet den Uebergang von der Er- Härung der Natur zur Herrfchaft des Menſchen. Durd die Wiffenfchaft wird die Erfahrung Erfindung, durd) die Erfindung wird die Wilfenfchaft zur menfchlichen Herrſchaft. Unſere Macht beruht auf unfern Erfindungen und diefe auf unferer Einfiht. In Bacon's Geift gehören Macht und Wiffen,

*) Nov. Org. I, 3. **) Nov. Org. I, 80.

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menschliche Herrfchaft und wiſſenſchaftliche Naturerflärung fo wefentlich zufammen, daß er beide einander gleichjetst und durch „oder verbindet: fein neues Organon Handelt „de inter- pretatione naturae sive de regno hominis“.

Daß im Wiffen unfere Macht beftehe: in diefem echt philofophifchen Sate jtimmen Bacon und Spinoza überein. Nach Bacon macht uns das Wiſſen erfinderifh und darımı mächtig, nad) Spinoza macht uns das Wiffen frei, indem es die Herrihaft der Affeete oder die Macht der Dinge über uns aufhebt. Darin zeigt fic die verfchiedene Gedanfenrichtung beider Philofophen. Spinoza fett unfere Macht in das freie Denken, welches im Zuftande vuhiger Weltbetradhtung beharrt und fich befriedigt, Bacon in das erfinderifche Denken, welches praftifh auf den Weltzuftand einfließt, denjelben cultivirt und verändert. Das fpinoziftifche Ziel Heißt: die Dinge beherrichen uns nicht mehr; das baconifche; wir beherrichen die Dinge! Bacon braudt die Macht der Erfenntniß praftifch, Spinoza theo- retifch, beide im weiteften Verſtande. Spinoza’s höchſtes Ziel ift die Kontemplation, die den Menfchen innerlich umwandelt und -religiös macht, Bacon’s höchſtes Ziel ift die Cultur, welche die Welt ummwandelt und den Menfchen zu ihrem Herrn mad.

4. Nuten und Wahrheit. „Die Geburt der Zeit.”

Es könnte fcheinen, als ob nad) Bacon’s Meinung die PHilofophie zwar nicht mehr die Magd der Theologie, die fie im Mittelalter war, bleiben, aber diefen Dienft nur verlaffen ſolle, um in einen andern zu treten, nämlich in den bes menſchlichen Nutens oder der praftifchen Lebenszwede. Ihre Richtung würde dann völlig utiliftifh ausfallen. Man Hat auch Bacon fo verjtanden und den utiliftifchen Charakter feiner

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Lehre, das Wort im gewöhnlichen Sinne genommen, für cine ausgemachte Sache gehalten, welche die einen gut, die andern verwerflid finden. Indeſſen verfehlt man darüber Bacon’s wahre Anficht. Ye weiter und großartiger die menſchlichen Lebenszwede gefaßt werden, um fo weniger gehören fie in das enge Gebiet des gewöhnlichen Nutzens, um fo mehr fällt in Abfiht auf folhe Ziele die Wahrheit mit dem Nutzen, bie Erfenntniß mit dem Werke zufammen. Sehr ſchön jagt Bacon ihon in der Vorrede feines Gefammtwerks und wiederholt es öfters, daß auf feinem Wege zunächſt nicht der Gewinn, fondern das Yicht gefucht werden folle*), daß die Lichtbringenden Ver— juche werthooller und begehrenswerther feien als die gewinn— bringenden, man verfehle das Ziel, wenn man im Wettlauf nad) jedem goldenen Apfel greife wie Atalanta.**) In der Erfenntniß der wirklichen Dinge fei die Wahrheit der Nuten felbft, und die Werke der Natur feien höher zu ſchätzen wegen der Wahrheit, die fie verbürgen, als wegen der Bortheile, die fie gewähren. ***) Daher will aud) Bacon das eigene Werf nicht als eine Sadje betrachtet wiffen, wobei er feinen Vortheil oder Ruhm im Auge habe, denn die Aufgabe, die er fi) ftellt, fei nicht wilffürlic erfonnen, fondern aus dem Bedürfnif und Drange dev Zeit hervorgegangen. Diefe neue Philofophie, wenn fie gelingt und foweit fie gelingt, fei die „Geburt der Zeit“,

nicht die des Genies. F)

*) Inst. magna. Praef. Op. p. 274. **) Nov. Org. I, 70. Bgl. I, 99.

***) Ebend. I, 124. Bgl. II, 4. „Activum et contemplativum res eadem sunt et quod in operando utilissimum, id in scientia

verissimum. * +) Eben. I, 78.

Zweiles Kapitel. Die Erfahrung als Weg zur Erfindung.

I. Der Ausgangspunkt. 1, Die erfte Frage.

Die Gefihtspunkte der baconiſchen Philojophie find dar- gethan. Ihr Ziel ift die Begründung und Vermehrung der menſchlichen Herrſchaft, das Reich der Eultur: Feine Gultur ohne Erfindung, welche die Naturfräfte dem Menfchen in die Hand giebt, Feine Erfindung ohne Wiffenfchaft, welche die Geſetze der Dinge ans Licht bringt, Feine Wiffenfchaft ohne Naturerfenntniß, die nur einen Weg nehmen kann, den der Erfahrung. Unter jedem diefer Gefichtspunkte läßt fid) Bacon harafterifiven, jeder bildet ein wefentliches Kennzeichen feiner Philofophie, aber feiner darf für fich allein gelten: ev bezweckt die Erweiterung der menſchlichen Eulturwelt durch eine Funft- gerechte Anwendung der Naturwiffenfchaft, er fucht die Natur- wiſſenſchaft durd) einen richtigen Gebraud der Erfahrung; er will die Erfahrung durch richtige Methode in Wiffenfchaft, die Wiſſenſchaft durch gefchiete Anwendung in Kunft, diefes kunſt— fertige Wiffen in praftifche und öffentliche Bildung verwandeln, die er für das ganze Menfchengefchleht anlegt. Welcher

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einzelne Name veicht aus, diefen Geift ganz und treffend zu bezeichnen? Er wollte Fein fertiges Syſtem, ſondern ein lebendiges Werk fchaffen, das fid) mit den Zeiten fortbilden follte, er ftvente die Saat aus für eine Fünftige Ernte, die langfam reifen und erft in Bahrhunderten erfüllt fein würde; Bacon wußte e8 wohl, er genügte fih, der Sämann zu fein und ein Werk zu beginnen, welches allein die Zeiten vollenden fonnten. Sein Selbjtgefühl war das richtige Bewußtfein feiner Sade, es war nicht mehr und nicht weniger. In der Borrede zur „Instauratio magna” fagt er am Schluß: „Ich fchweige von mir felbft, aber von der Sade, um die es fi) handelt, verlange ich, daß fie die Menfchen nicht für eine bloße Meinung, fondern für ein Werk anfehen und überzeugt feien, daß wir nicht für eine Schule oder eine beliebige An— fit, fondern für den Nugen und die Größe der Menfd- heit neue Grundlagen fudhen Auch, follen fich die Leute nicht einbilden, daß unfer neues Werk ein grenzenlofes und übermenjchliches jei, denn es ift in Wahrheit das Ende und die rechtmäßige Grenze unendlichen Irrthums. Wir wiffen es wohl, daß wir Menfchen find und jterben müſſen, aber wir glauben auch nicht, daß unfer Werk im Laufe eines Menſchen— alters vollendet werden könne, fondern übergeben es der Zu: funft. Wir fuchen die Wiffenfchaft nicht anmafend in den engen Zellen des menfchlichen Geiftes, fondern befcheiden in dem weiten Reiche der Welt.“*) „Wir unterfcheiden drei Arten und gleihjam Stufen des menfchlichen Chrgeizes: auf ber erjten Stufe ſucht man die eigene Macht in feinem Vaterlande zu vermehren, das ijt der gewöhnliche und fchlechte Ehrgeiz;

*) Inst. magna. Praef. Op. p. 275.

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auf der zweiten fucht man des Vaterlandes Macht und Herr— fhaft innerhalb der Menjchheit zu vermehren, diefer Ehrgeiz hat mehr Werth und nicht weniger Reiz; wenn es nun jemand unternimmt, die Macht und Herrſchaft der Menfchheit felbft über das Univerfum dev Dinge herzuftellen und zu erweitern, fo ift ein ſolcher Ehrgeiz (wenn anders der Name noch paßt) unter allen der vernünftigfte und erhabenfte. Aber die Macht des Menfchen über die Dinge beruht allein auf Kunft und Wiffenfchaft, denn die Natur wird beherrſcht nur durch Ge: horſam.“*)

Der Ausgangspunkt liegt in der Erfahrung, der Fortgang geſchieht durch die Naturwiſſenſchaft zur Erfindung, durch dieſe zur menſchlichen Herrſchaft. Daher iſt die erſte Frage: wie kommt die Erfahrung zur Naturwiſſenſchaft? Oder da die Erfahrung zunächſt nur die einzelnen Thatſachen und Vorgänge wahrnimmt und ſammelt, beſchreibt und erzählt, fo heißt die Frage: wie wird aus der Naturbefchreibung Naturerflärung, aus der „descriptio naturae” die „interpretatio naturae”, wie wird die Naturgefchichte zur Naturwiffenfchaft, die „hListoria naturalis’ zur „scientia naturalis‘?

Auf diefe Frage führt fi) die Aufgabe zurüd, welche Bacon im erjten Buche feines neuen Drganons negativ be- gründet: und im zweiten poſitiv zu löſen jucht.**)

*) Nov. Org. I, 129.

**) Er jelbft nennt den erften Theil feiner neuen Lehre „pars destruens". Hier follen die entgegenftehenden Anfichten widerlegt und ber menjchliche Geift gereinigt, gleichſam die Tenne deffelben gefegt werden, um ihn zu ber neuen Erfenntniß fähig und empfänglich zu maden. Nov. Org. I, Aph. 115. gl. Partis II del.| et arg. Op. p. 680.

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2. Die negative Bedingung. Der Zweifel.

Die Natur will ausgelegt fein wie ein Buch. Die bejte Auslegung ift diejenige, welche den Autor aus fich jelbjt er- Härt und ihm feinen andern Sinn unterjchiebt, als er hat; der Lefer darf nicht feinen Sinn in den Schriftjteller hinein- legen, oder er bringt fih um die Möglichkeit eines richtigen Berftändniffes und kommt zu Einbildungen, welche leer find. Wie fi) der commentirende Lefer zum Buch, fo foll ſich die menfchliche Erfahrung zur Natur verhalten. Nach Bacon ift die Wiſſenſchaft das Weltgebäude im menſchlichen Geifte, darum nennt er fie einen Tempel nad) dem Vorbilde der Welt. Der Berjtand foll die Natur abbilden und treffen, er foll nichts von fi) aus Hinzufügen, nichts von dem Dbjecte ſelbſt weg- laffen oder überfehen, etwa verleitet durch einen Eindifchen und weichlichen Efel vor jolhen Dingen, die der Unverftand gemein oder abjcheulich nennt. Er foll die Natur abbilden, indem er fie nachbildet, und nicht aus eigener Machtvollkommenheit fich ein Bild der Natur entwerfen, unbefümmert um das Original außer ihm; ein ſolches ſelbſtgemachtes Bild ift nicht aus der Natur der Dinge genommen, fondern durch den menjchlichen Berjtand vorweggenommen: es ift in Rüdficht auf den Ver— jtand eine „anticipatio mentis“, in Rüdjicht auf die Natur eine „anticipatio naturae“, verglichen mit dem Original außer uns nicht dejfen wirkliches Abbild, fondern ein nichtiges, wefen- loſes Bild, das nirgends erijtirt als in unferer Einbildung; ein Hirngefpinnjt oder ein „Idolon” Darum ift die erfte (negative) Bedingung, ohne welche eine Erkenntniß der Natur überhaupt nicht möglich ift: daß nicht Idole an die Stelle der Dinge gefett werden, daß in Feiner Weife eine anticipatio

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mentis jtattfinde. Nichts foll anticipirt, ſondern alles erfahren oder aus den Dingen felbjt gefchöpft werden: Feine Begriffe ohne vorhergegangene ſelbſtgemachte Wahrnehmung, feine Ur- theile ohne vorhergegangene ſelbſtgemachte Erfahrung, feine anticipatio mentis, fondern nur interpretatio naturae. Hier findet Bacon den Grundmangel aller Wiſſenſchaft, die ihm vorausging: ftatt die Natur zu interpretiven, hat man fie anti= cipirt, indem die Naturerflärung entweder auf vorgefaßte Be- griffe oder auf eine zu geringe Erfahrung gegründet wurde; entweder wurde die Erfahrung ſchon unter einer anticipatio mentis angeftellt oder dadurd unterbrochen, in beiden Fällen alfo etwas vorweggenommen, das die Erfahrung entweder gar nicht oder zu wenig bewiefen hatte. So Fam es nicht zu einem rihtigen und eindringenden Verftändniß der Natur, fo kam es nicht zu einer gefemäßigen und fruchtbaren Erfindung, To blieb die Erfindung dem Zufall preisgegeben, darum war fie jo felten, und die Wiffenfchaft felbjt blieb in müßigen Spe- culationen befangen, darum war fie fo unfruchtbar. Der Grund aller diefer Mängel ift die fehlende oder die zu leicht- gläubige Erfahrung.

Der menfchlihe Verſtand muß von jett an das vollfom- men reine und willige Organ der Erfahrung werden. Er muß ſich zuerjt aller Begriffe entfchlagen, die er nicht aus der Na— tur der Dinge, fondern aus feiner eigenen gejchöpft Hat; diefe Begriffe find nicht gefunden, ſondern anticipirt, fie jind Idole, die den menſchlichen Verjtand trüben und ihm die Natur ver— dunkeln, fie müffen aus dem Wege geräumt und gleihfam an der Schwelle der Wiſſenſchaft für immer abgelegt werden. „Die Idole und falfchen Begriffe”, jagt Bacon, „belagern den menſchlichen Geift und nehmen denfelben fo jehr gefangen,

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daß fie ihm nicht allein den Eingang der Wahrheit erfchweren, fondern aud den wahrheitsoffenen Geift immer wieder hemmen, wenn wir uns nicht warnen Laffen und mit allem Ernft gegen diefe VBorurtheile rüſten.““) Sie find nad) Bacon gleidyfam die Unterlaffungspflichten der Wiffenfchaft. Sie gleichen den Irrlichtern, „welche der Wanderer Fennen muß, damit er fie meide; Bacon will fie uns kenntlich machen, diefe Irrlichter der Wiffenfchaft, die uns von dem richtigen Wege der Er- fahrung abführen: darum Handelt er zuerjt von den Täuſchun— gen und dann von dev Methode der Erfenntnif. Wer die wirklichen Abbilder der Dinge fucht, muß fich vor ihren Trug: bildern hüten, deshalb muß er fie kennen lernen, wie der Ihlußfertige Denker die Trugfchlüffe. „Die Lehre von den Ido— len”, jagt Bacon, „verhält fi) zur Erklärung der Natur ganz Ähnlich wie die Lehre von den Trugfchlüffen zur gewöhn- lichen Dialektik.“

Den Idolen und Borurtheilen gegenüber, fie mögen fommen, woher fie wollen, beginnt die Wiffenfchaft mit dem Zweifel und der völligen Ungewißheit. Der Zweifel bildet den Ausgangspunkt der Wiſſenſchaft, nicht deren Ziel, dieſes ijt die fichere und wohlbegründete Erfenntniß. Im Ausgangs- punkte ſtimmt Bacon mit den Sfeptifern überein, nicht im Refultat: „Die Anficht derer, welche den Zweifel fefthalten, und meine Wege ftimmen in ihren Anfängen gewiffermaßen zufammen, aber im Endziel trennen fie ſich unermeßlich weit bon einander in entgegengefegte Richtungen. Jene erklären ſchlechtweg, daß nichts gewußt werden könne; ic) fage nur, daß auf dem bisher üblichen Wege nicht viel gewußt werden

*) Nov. Org. I, Aph. 38.

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fonnte; jene nehmen der menſchlichen Erfenntnig alles Anfehen; . ich juche vielmehr nad Hülfsmitteln, fie zu unterſtützen.“*) „Das Ziel, welches id im Sinne Habe und mir vorhalte, ift nicht der Zweifel (acatalepsia), jondern die richtige Erkennt: niß (eucatalepsia), denn ich will die menschlichen Sinne nicht verwerfen, jondern leiten und unterjtügen, ich will den menſch— lichen Berjtand nicht geringfchägen, fondern regieren. Und es ijt befjer, daß man weiß, wie viel zur Erfenntniß gehört, und dabei das eigene Wiffen für mangelhaft hält, als daß man fich ein tiefes Wiſſen einbildet und doc die Erforderniffe dazu nicht Kennt.“ **)

Bergleichen wir den baconifchen Zweifel mit dem cartefia- nifchen: beide Haben denjelben Urfprung und diefelbe Richtung, dajjelbe Ziel vor fi und dafjelbe Bewußtfein zu ihrem Be— weggrunde: die Ueberzeugung von der Unficherheit aller bis— herigen Erfenntniß und das Bedürfniß nad einer neuen. Die Sade der Wiffenfchaft muß wieder ganz von vorn, die Arbeit des Verjtandes ganz von neuem unternommen werden. Genau ſo denken Bacon und Descartes. Darum foll durch den Zweifel alle bisher gültige Erkenntniß zunächſt aufgehoben fein, um freies Gebiet für eine neue zu ſchaffen. Ihr Zweifel ijt reformatorifcher Art: er ift die Reinigung des Verſtandes in Abfiht auf eine vollfommene Erneugrung der Wiſſenſchaft. Aber was ſoll nun der fo gereinigte und zunächſt leere Ver— jtand? Hier unterfcheiden ſich die beiden Neformatoren der Philofophie und nehmen entgegengejegte Richtungen, denen die Zeitalter folgen. Descartes jagt; der reine Verjtand muß

*) Nov. Org. I, Aph. 37 u. 67. Bgl. Scala intellectus sive

_ filum lab. (Imp. phil.) Op. p. 710. *#) Nov. Org. I, 126.

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ganz ſich ſelbſt überlaffen werden, um alle Urtheile lediglich aus fich felbjt zu jchöpfen, aus der Kraft des Haren und deut- lichen Denkens; Bacon dagegen erklärt gleich) in der Vorrede zu feinem Organon: „Das einzige Heil, das uns übrig bleibt, befteht darin, daß die geſammte Arbeit des Verſtandes ganz von neuem wieder aufgenommen und der Verſtand jelbft vom erſten Anfange an niemals fich ſelbſt überlafien, fondern bejtändig geleitet werde.” *)

Den jfeptifch gereinigten Verſtand richtet Descartes auf ſich ſelbſt, Bacon auf die Erfahrung: jener macht ihn fogleid) jelbftändig, diefer macht ihn vollfommen abhängig von der Natur als dem Gegenjtand der Erfahrung; bei Descartes reift der Berftand, kaum feiner VBorurtheile Tedig, fogleih zum Mann, bei Bacon bleibt er zunächſt Kind und wird als Kind behandelt; diefe Behandlung ift weniger fühn, aber fie er- jcheint naturgemäßer. Bacon behandelt den menſchlichen Ver— jtand wie ein Erzieher, das Kind ſoll allmälig ſich entwideln, wachen, zunehmen. In einer jolhen Eindlichen Gemüthsver- fafjung, die den Eindrücen der Welt unbefangen offen fteht, joll ji die Wiffenjchaft erneuern, indem fie ſich wahrhaft verjüngt. Den Idolen gegenüber läßt Bacon die Wilfen- ichaft mit dem durdgängigen Zweifel, der Natur gegenüber mit der reinen Empfänglichfeit beginnen. Der menfchliche Verſtand foll fi) der Natur mit findlihem Sinne ganz hin— geben, um in der Natur wirklich einheimifch zu werden; er muß heimlich mit ihr vertraut fein, um fie erft zu erkennen, dann zu beherrfchen. Daher vergleicht Bacon die Herrſchaſt de8 Menfchen, die in der Erfenntniß befteht, oft und gern

*) Nov. Org. Praef. Op. p. 278. Indicia vera de interpr. nat. (Imp. phil.) Op. p. 677.

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mit dem Himmelveih, von dem die Bibel fagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, fo werdet ihr nicht in das Himmel- veih kommen!’ „Die Idole jeglicher Art müffen alle durch einen beharrlihen und feierlihen Beihluß für immer ver- nichtet und abgeſchafft werden. Der menſchliche Verſtand muß ſich davon gänzlich befreien und reinigen, auf daß in das Reich der menſchlichen Herrſchaft, welches in den Wiſſenſchaften beſteht, der Eingang, wie in das Himmelreich, nur den Kin— dern offen ſei.“*)

3. Die Idole und deren Arten.

Wir können demnach im Sinne Bacon's diejenige Be— trachtung der Dinge als die wahre bezeichnen, die von der Erfahrung übrig bleibt nad) Abzug aller Idole. Um den Ausgangspunkt und Weg der Erfahrung richtig zu beftimmen, ift daher das erſte Erforderniß, daß jene Trugbilder genau erfannt und in Abrechnung gebracht werden. Es ift die Grund form aller Täufhungen, daß wir unwillfürlich unfere Natur in die der Dinge einmifchen und deshalb Fein richtiges Bild der leßteren gewinnen. Aus der Berfaffung der menfchlichen Natur und Gefellfchaft folgen eine Menge Vorurtheile jehr verjchiedener Art, die uns gefangen nehmen und unfere Auf- faffung der Dinge verwirren. Um fie genauer zu beftimmen, unterfcheidet Bacon vier Quellen der Idole und ebenfo viele Arten, die daraus entjpringen: die natürlichen Trugbilder haben ihren Grund entweder in dem allgemeinen oder in dem individuellen Charakter der menfchlichen Natur, jene find die Eigenthümlichfeiten unferer Gattung, unferes Stammes (idola

*) Nov. Org. I, 68. Cog. et Visa, Op. p. 597.

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tribus), diefe die Eigenheiten des Individuums, die ſich ins Unbeftimmbare und Dunkle verlieren (gleihjam in die Höhle der Individualität, idola specus); die geſellſchaftlichen Vor— urtheile bejtehen in dem eingebildeten Werthe, in der con- ventionellen Geltung der Dinge, die nicht durch die Natur bejtimmt wird, jondern dur die öffentlihe Meinung, fie ſtammen entweder aus dem täglichen Verkehr oder aus der ererbten Weberlieferung, jene Beftimmung macht der Markt, wie die Geltung der Waare (idola fori), dieje die Schule. Die (etsteren find die ſchlimmſten von allen, da fie die größte Geltung, die der Wahrheit, beanfpruchen, das größte Anfehen, das der Weisheit, behaupten, und doch im Grunde nicht gehaltvoller find als die Kabeln und Dichtungen der Theaterwelt (idola theatri.*)

Bon diefen vier Klaſſen menjchlicher Trugbilder ift die zweite (die Eigenheiten des Individuums) zu vereinzelt und unberechenbar, um hier näher verfolgt zu werden; es genügt, die Beifpiele zu bemerken, die Bacon für jene idola specus giebt. Er rechnet dazu die Liebhabereien wie die Begabungen der Einzelnen, die befondere Art der Erziehung wie des Um— gangs, die individuelle Gemüthsart überhaupt und die jeweilige Lage der Gemüthszuftände im befonderen; der Verſtand des einen ijt vorzugsweife geſchickt Unterjchiede zu finden, der eines anderen dagegen Aehnlichkeiten, jener diftinguirt, diejer combinirt bejjer; oder bei dem einen tritt die Liebhaberei für das Alte in den Vordergrund und bejtimmt feine Neigungen und Urtheile, bei dem andern die Liebhaberei für alles Neue;

*) Weber die Lehre von den Idolen vgl. Nov. Org. I, 38—68. (Ueber die allgemeine Charafterifiif der Ipdole ebend. I, 41—44.) De augm. scient. V, cp. 4.

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fo verfchieden find auch die Objecte ihrer Bewunderung, die Vorbilder ihrer Nahahmung. Mit einem Worte jeder ein- zelne Menjch ift ein dunkler Mikrofosmus, und die Wahrheit ſoll nicht aus der Fleinen Welt gefchöpft werden, jondern, wie Ihon Heraflit gejagt hat, aus der großen. *)

Die drei andern Klaffen find von mehr allgemeiner und öffentlicher Geltung, fie können deutlich bezeichnet und grund- jäglic) aufgegeben werden. Auch Bacon hat an einer andern wichtigen Stelle die Widerlegung der Ydole, die den negativen Theil feiner Lehre ausmacht, als eine dreifache bezeichnet, in- dem er die „idola specus‘ bei Seite ließ; er hat hier die drei anderen fo geordnet, daß die „idola theatri“ den erjten Ort einnehmen, die „idola tribus‘ den legten. **) Diefe An- ordnung erjcheint uns zweckmäßiger, denn fie geht von außen nad innen, von den überlieferten Vorurtheilen zu den an- geerbten und natürlihen. Dan muß fi zuerft von der Au- torität der Schulſyſteme, dann von der Geltung der herfümm- lichen Beweife, zulegt, was das Schwierigjte ift, von den Zäufhungen losmadhen, die aus der natürlichen Berfaffung

*) Weber die idola specus, ebend. I, 42. Im befonderen darliber I, 53—58. Vgl. De augm. scient. V, 4. An diefer Stelle erflärt ſich aud) der Name idola specus durd) die Hinweifung auf das pla- toniſche Bild (im Eingang des fiebenten Buchs der Staatslehre), worin die in dunflen und falſchen Vorſtellungen befangenen Menfhen mit Höhlen- bewohnern, die das Licht der Sonne nicht kennen, verglichen werden,

**) Itaque pars ista, quam destruentem appellamus, tribus red- argutionibus absolvitur: redargutione philosophiarum, redargutione demonstrationum, redargutione rationis humanae nativae. Part. II del. et arg. Op. p. 680. Aehnlich unterfcheidet Bacon in der Ueber- fit, die dem Gefammtwerf vorausgeht (distributio operis): die Idole zerfallen in zwei Klaffen, überlieferte und eingeborene (adsecititia und innata); jene find die Schuljyfteme und herkömmlichen Beweiſe, dieje die idola tribus.

Fiſcher, Bacon. 11

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der menschlichen Vernunft felbft (ratio humana nativa) her- rühren. Nach diefer Reihenfolge wollen wir jegt die Idole in Abrechnung bringen.

I. Die Ausfchließung der Idole. 1. Idola theatri.

Demnad) find die erften Irrlichter, die um fo gefährlicher ſcheinen als fie in der Einbildung der Menſchen für leuchtende Geftirne gelten, die „idola theatri“.*) Sie bezeichnen die großen Heerftraßen der öffentlichen Irrthümer, breit getreten durh Schulen und Secten, denen die Menge folgt, und ver- zweigt in verfchiedene Richtungen, die alle von der wahren Erfenntniß abführen. Je gefchwinder und länger man auf falfchen Wegen geht, um fo weiter verirrt man ſich. Daher ijt hier nichts wichtiger, al8 die Verirrung einzufehen und bei Zeiten umzufehren.

Zwei Richtungen find vom Uebel: die falſchen Behaup- tungen und der faljche Zweifel, der dogmatifche Weg und der jfeptifche, diefer Tettere fo verftanden, daß er die Unbegreif- lichkeit der Dinge zu feinem Grundfag macht und damit felbft in die falfche Behauptung umfchlägt. Auf beiden Wegen wird der Verſtand irregeführt und verdorben, dort durch die An- nahme unbegründeter Anfichten unterdrüdt, hier durd die Ueberredung von der Erfolglofigfeit alles Denkens erichlafft und entnervt. Die neue Afademie ift das Beifpiel einer folchen ffeptifchen Denkweiſe, dagegen das Mufter eines falfchen und

*) Nov. Org. I, 61-67.

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anmaßenden Dogmatismus die ariftotelifhe Philofophie, die nad) türfifher Sitte die Rivalen umgebracht und ſich dadurd) eine Art Alleinherrfchaft erworben hat.*)

Der Grundzug aller dogmatifchen Philofophie ift das unbegründete Annehmen und Behaupten. Mit der wahren Naturphilofophie verglichen, treten ihre Mängel zu Tage: entweder ijt fie auf die Erfenntniß der wirflichen Dinge gar nicht oder nicht ernjthaft oder auf eine verfehrte Weife gerichtet. Berfehrt wird die Naturphilofophie, wenn die Natur nad) der Analogie eines mechanischen Kunftwerfs betrachtet und erklärt wird, als ob ihre Körper durch Zufammenfegung aus gewiſſen Elementen, durch darin verborgene Kräfte nach gewiffen darin angelegten Formen entftänden. Daher kommen die faljchen Begriffe urfprünglicher elementarer Dualitäten, verborgener Eigenfchaften, jpecififcher Kräfte u. f. f.**)

Unbegründet ift die dogmatifche Bhilofophie, wenn ihr die fiheren Grundlagen der Erfahrung fehlen, fei e8 daß die empirische Grundlage unficher oder gar nicht vorhanden ift. Sie ift unfiher, wenn. auf Grund der gewöhnlichen ungeprüf- ten Erfahrung allgemeine Annahmen gemacht werden, oder wenn dafjelbe ftattfindet auf Grund einer zwar geprüften, aber viel zu geringen Erfahrung; fie fehlt ganz, wenn fid) die An- nahmen auf religiöfen Glauben und theologifche Ueberlieferungen jtügen. Im erjten Fall entjteht eine Philofophie aus leerem Verſtande, ſophiſtiſch und rationaliftifch, im zweiten eine em— pirifche, im dritten eine myſtiſche Philofophie. Als Beifpiel der erjten Art gilt Ariftoteles, als Beifpiel der zweiten die

*) Nov. Org. I, 67. Op. p. 293. **) Ebend. I, 66. 11*

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Alchymiſten, mit denen Bacon ſehr unberedhtigter Weife Gil- bert zufammenftellt, als Beifpiel der dritten Pythagoras und Plato, wie gewiffe neuere Verjuche aus der bibliſchen Schöpfungs- gefhichte die Kosmogonie abzuleiten. Diefe Myſtiker ſuchen das Lebendige unter dem Todten, fie irren nicht blos, ſondern vergöttern den Irrthum, das ijt das größte aller Uebel, eine wahre Belt für den Verſtand. Im diefe drei Arten theilt ſich das Geſchlecht der Irrthümer: die fophiftifche, empirifche und myſtiſche Philofophie.*)

Die idola theatri grundfäglich ausſchließen, Heißt die Er— fenntniß frei machen von allen Einflüffen der Ueberlieferung, von allem Glauben an das Anfehen fremder Meinungen, das heißt fie anweifen auf die eigene Betrachtung, die nicht was andere jagen oder für wahr halten, gläubig annimmt und wie- derholt, fondern nur was fie jelbjt erfahren und wahrgenom- men hat, aus Ueberzeugung feithält. Nah Abzug des erften Idols bleibt daher nichts übrig als die Erfahrung in eigener Perfon. An die Stelle des Autoritätsglaubens tritt die felb- ftändige Wahrnehmung.

2. Idola fori.

Hier wird uns ſogleich eine zweite Einbildung gefährlich. Wir meinen die Dinge ſelbſt zu kennen, ohne fie jemals ernft- lich kennen gelernt zu Haben; wir meinen über ihren Werth fiher zu fein, weil wir die Zeichen dafür befiten und mit Leichtigkeit ausgeben. Diefe Zeichen der Dinge find deren Namen und Worte, die wir cher kennen lernen als die Natur der Dinge felbft, und durch welche wir unfere VBorftellungen

*) Nov. Org. I, 62—65. Op. p. 290 fig.

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bon den Dingen einander mittheilen. Gewöhnt von Kindheit an, ftatt der Dinge Worte zu feken, mit diefen Worten jedem verftändlich zu fein, Halten wir unwillkürlich die Worte für die Sahen, die Zeichen der Dinge für die Dinge felbft, den Nominalwerth für den Realwerth. Die Worte find gleichjam die geläufige Münze, womit wir im gefelligen Verkehr die Borjtellungen der Dinge ausgeben und einnehmen: fie find, wie das Geld im Handel, nicht der fachliche und natürliche, jondern der conventionelle Werth der Dinge, der durd die Berhältniffe des menfchlichen Verkehrs gemacht wird. Wir müffen uns hüten, diefen Marktpreis für die Sache zu nehmen, er iſt für diefe felbjt eine völlig auswärtige und gleichgültige Beftimmung. Die Worte richten ſich jo wenig nad) der Natur der Dinge, daß z. B. in unferm Spracdgebraud) die Sonne fi nod) immer um die Erde bewegt, während cs in Wahr- heit niemals der Fall war, während wir felbft feit lange von dem Gegentheil überzeugt find. Die Worte fagen nicht, was die Dinge find, fondern was fie ung bedeuten, wie wir fie uns vorftellen, und in den meiften Fällen find unfere Worte jo unſicher, als unfere Borftellungen unklar. Entweder find die Worte leer und bezeichnen nichts, wie 3. B. das Wort „Zufall“, oder fie find verworren und bezeichnen etwas Un— klares, wie 3.B. die Worte „Erzeugung und Untergang, fchwer, leiht, dünn, feucht u. ſ.f.“ Weil Worte und Spradgebraud) die Dinge bezeichnen, nicht wie fie ihrer Natur nad) find, fon- dern wie fie im menfchlichen Verkehre vorgeftellt werden: darum rechnet Bacon die Einbildung, die an den Worten hängt und im Wort die Sache felbjt zu Haben meint, unter die idola fori, darum liebt er fo fehr, der Wortweisheit die Sach— fenntniß entgegenzufeßen: ein Gegenſatz, der unter feinen

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Nachfolgern zum Stichwort wurde. Was Bacon bei den idola fori über die Worte jagt, enthält in der Kürze das Programm aller Unterfuchungen, die in feiner Richtung über die Sprade angeftellt werden; fowol das Forum als die Idole fpielen in diefen Unterfuchungen ihre Rolle: das Forum, weil die Sprache als Werk der menfchlichen Uebereinkfunft, d. h. als ein willfür- fihes Machwerk gilt, die Idole, weil die Worte Allgemein begriffe und darum wefenlofe Vorftellungen bezeichnen. Wir müffen uns hüten, aus der Autoritätsherrjchaft unter die Wort- herrſchaft zu fallen, die im Grunde mit jener zufammengeht und ſchlimmer ift, weil fie weniger bemerkt wird, denn wir glauben, daß wir die Worte beherrfchen, während im Gegen- theil fie uns beherrichen. *)

Die Verblendung durch die idola theatri lag darin, daß wir, befangen unter der Autorität überlieferter Anfichten, nicht

mit eigenen Augen fehen, fondern mit fremden; die Verblen-

dung durch die idola fori befteht darin, daß wir die Dinge

nehmen, nidht wie fie find, fondern wie fie im menfchlichen Verkehr gelten, daß wir ftatt der Dinge nur mit Worten zu

Au

8

thun haben. Die Ausſchließung dieſer Idole iſt demnach die Hinweiſung unſerer Erfahrung von den Zeichen der Sache an die Sache ſelbſt, vom Reden und Disputiren auf die fachliche, in das Object ſelbſt eingehende Unterſuchung. Nach Abzug der idola theatri bleibt uns nichts übrig als ſelbſt kennen

lernen, nicht von anderen annehmen; nad) Abzug der idola

fori leuchtet ein, was wir fennen lernen follen: die Dinge

ſelbſt. Dort wird die eigene Erfahrung gegen den Autori-

tätsglauben, hier die Sachkenntniß gegen die Wortweisheit

*) Nov. Org. I, 59-60.

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aufgeboten. Verſuchen wir alfo, unverblendet durch fremde Meinungen und die Gewohnheit dev Worte, mit unjeren eigenen Organen die Objecte ſelbſt zu erfaffen, die Natur der Dinge im genauen Sinne felbft wahrzunehmen.

3. Idola tribus.

Hier erhebt ſich aus unferer eigenen Natur die gewaltigfte alfer Täuſchungen, das fehwerfte aller Bedenken: ift unfere Wahrnehmung der Dinge auch wahr, find die Dinge wirklic) fo, wie wir fie nehmen, wie fie fih in unfern Sinnen dar- ſtellen und fpiegeln, find die finnlichen Eindrüde die richtigen Abbilder der Dinge felbft, der entjprechende Ausdrud ihres Wefens oder nicht vielmehr der entſprechende Ausdrud des unfrigen? Unfer Wahrnehmen und Begreifen der Dinge ift gleihfam ein Ueberfegen derjelben aus der phyfiihen Natur in die menfhlihe, aus dem Univerfum in unfere Individuali- tät, aus der großen Welt in die Heine: eine Meberfeßung, wo— bei das Driginal feine Eigenthümlichkeit einbüßt und die menſchliche unmwilltürlih annimmt. So mifcht ſich in unfere jelbfteigene Wahrnehmung der Dinge, unabhängig von den autorifirten Yehrmeinungen und den geläufigen, im menfchlichen Berfehre gültigen Vorftellungen, etwas den Dingen Fremdes, das wir unmwillfürlid von uns aus mitbringen, das in den Bedingungen umnferer Natur liegt, wodurd) wir die wahren Abbilder der Dinge verfehlen und verunftalten. Unſere eigene Natur fpiegelt uns Trugbilder vor, täuſcht uns mit falfchen Borjtellungen: das find unfere angeftammten Vorurtheile (idola tribus*): fie find die mächtigften, denn fie beherrfchen das

) Nov, Org. I, 45-52.

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ganze menfchliche Gefchleht; ihre Herrichaft iſt am fchwerjten zu ftürzen, denn fie ift nicht durch gefchichtliche Autorität im Laufe der Zeiten geworden, jondern durch die Natur ſelbſt be- gründet. Die menfhlihe Seele ift ein Spiegel der Dinge, aber diefer Spiegel ift von Natur fo gefchliffen, daß er die Dinge, indem er fie abbildet, zugleich verändert, daf er keines darftellt, ohne e8 zu verkehren und wie durch Zauber unjerer Natur analog zu madhen.*) Was aber hat die menfchliche Borftellungsart mit den Dingen gemein und umgefehrt? Was hat 3.9. die Sonne damit zu thun, daß fie dem Auge des ivdifhen Planetenbewohners die Erde zu umkreiſen fcheint? Das ift ein Trugbild, deffen Grund nicht in der Beichaffen- heit der Sonne, fondern in unferer Beihaffenheit, in unferm Auge liegt, in unferm Standpunkt. Wenn ic) behaupte, die Sonne bewegt fi), denn fo fagt die Bibel, fo lehrt Ptole- mäus, fo urtheile ich durch ein idolon theatri; wenn ich daffelbe behaupte, weil alle Welt fo redet, fo urtheile ich durch ein idolon fori; wenn ich ſage, die Sonne bewegt fi, denn ich ſehe e8 mit eigenen Augen, jo urtheile id) durch ein idolon tribus. Ic fühle die Wärme de8 Waffers mit meiner Hand und nad diefer Wahrnehmung Halte ich dafjelbe Waſſer jekt für kalt, wenige Augenblide fpäter für warn, ohne daß ſich das Maß feiner Wärme verändert hat. So ift es mit allen unfern Wahrnehmungen, mit unferer gefammten Betradhtung der Dinge; wir mefjen und beurtheilen die Dinge nad) unferm Maß, betrachten fie unter dem Geſichtspunkte unferer Natur, der freilih für uns der nächjte und natürlichfte, den Dingen jelbjt völlig fremd und gleichgültig ift; wir faſſen fie auf, nicht

*) Nov. Org. I, 41.

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wie fie find, fondern wie fie fi) zu uns verhalten, nicht nad ihrer, fjondern nad) unferer Analogie, wir be— trachten fie „ex analogia hominis“, nicht „ex analogia uni- versi“. Unter diefer Formel laſſen fid die idola tribus am beiten bezeichnen. „Dieſe Idole“, jagt Bacon, „find in der menjhlichen Natur felbft begründet, in dem Stamm oder Ge-

ſchlechte der Menfchheit. Es ift falſch, den menfhlihen .

Sinn für das Maß der Dinge zu halten. Im Gegen- teil find vielmehr alle unfere Wahrnehmungen fowohl der Sinne als des PVerftandes nad) Analogie des Menſchen, nicht nad) Analogie des Univerfums. Der menfhlide Verſtand verhält fi zu den Strahlen der Dinge wie ein unebener Spiegel, der feine Natur mit der Natur der Dinge vermifcht und fo die letztere verkehrt und verdirbt.“ *)

*) Nov. Org. I, 41. Diefe Stelle hat Spinoza in feinem zweiten Briefe an Oldenburg jehr verächtlich erwähnt; er behandelt Bacon als einen beriworrenen Schwätzer, der Üiber den Grund des Irrthums und die Ratur des Geiftes ins Blaue fafele, aber er widerlegt ihm nicht, er zeigt nicht einmal deutlid) den Punkt, der zwifchen ihm und Bacon die durchgängige Differenz ausmacht. Es ift der Mühe werth, diefen Punkt hervorzuheben, denn es ift offenbar in der obigen Stelle fehr vieles, was Spinoza ganz ebenjo hätte jagen können: 1) Der Menſch iſt nicht das Maß der Dinge; diefer Sat ift aus der Seele Spinoza’s geredet. 2) Alle unfere Borftellungen find falfch, die nicht nad) Analogie der Natur, ſon— dern nach menfchlicher gemacht find; darin liegt der-Grund unfers Irr— thums, der Irrthum befteht in unfern inadäquaten Vorſtellungen: diefer Sat ift nicht weniger ächt fpinoziftifh. 3) Alle unfere VBorftellungen, die ſinnlichen wie die logischen, find nad menſchlicher Analogie, alfo inadäquat; der menjchliche Berftaud ift von Natur ein inadäguater Spiegel der Dinge. Hierin allein liegt zwifchen beiden der Differenzpunkt, welchen Spinoza deutlicher hätte hervorheben follen. Denn nad ihm ift die Wahrheit dem menſchlichen Geifte von Natur immanent, nur zumächft eingehüllt und verdunkelt durd) die inadäquaten (finnlichen) Ideen. Darum befteht die richtige Erfenntniß bei Spinoza allein in der Aufllärung. Bei

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Zwei Hauptquellen des Irrthums Tiegen in unferer Na- tur: die Sinne und der Berjtand. Berglichen mit der Fein- heit, mit der wirklichen und beftändigen Natur der Dinge, find unjere Sinne bejchränft, ftumpf, täuſchend und mwandel- bar; der Verſtand dagegen hat die natürliche Neigung zu ord- nen, zujfammenzufaffen, zu vereinigen, daher pflegt er aud) eine größere Ordnung, Einförmigfeit, Webereinftimmung in der Natur der Dinge anzunehmen, als die Wahrnehmung findet, er macht diefe Vorausfegung nad feiner Art, Hält daran fejt, überficht die widerfprechenden Fälle, die Hartnädig- feit macht ihn eigenfinnig, der Eigenfinn anmaßend, ungedul- dig, hochmüthig, die Vorliebe für die ihm günftigen That-

ihm corrigirt fid) der Berftand aus ſich felbft; anders bei Bacon, wo er am Gängelbande der Natur durd) fortgeſetzte Erfahrung zur richtigen Erfenntniß erzogen wird. Dieſer Gegenfat zwifchen Spinoza und Bacon ift derjelbe als zwifchen Bacon und Descartes, als zwifchen Lode und Leibniz, zwiſchen Empirismus und Rationaliemus überhaupt. Daß hierin Spinoza dem Gegner fein Recht zuerfennt, Yiegt im Charakter feines Standpunkts. Bielleiht war es Spinoza aud) unbequem, auf einem entgegengefesten Standpunkte foviel Berwandtes zu finden, vielleiht war e8 diefe Berwandtfchaft, die ihm an Bacon befonders widerwärtig auf, fiel. Bei ihm galt der Wille als eine Folge der Erfenntnig, darum konnte er nie der Grund des Irrthums fein. Nun fagt er von Bacon: „Was diefer noch weiter zur Erklärung des Irrthums vorbringt, läßt ſich alles auf die cartefianifhe Theorie fehr Leicht zuridführen, daß nämlich der menſchliche Wille frei und umfaffender fei als der Berftand, oder wie fih Bacon jelbft im 49. Aph. nod) verworrener ausdrüdt: „Der menschliche Verſtand ift fein reines Licht, fondern durd den Willen ver- dunfelt.” Die Stelle ift nicht genau angeflihrt; fie lautet: „Der menſch— liche Verſtand ift fein reines Licht, fondern wird durd den Willen und die Affecte verdunfelt, daher braucht er die Wiffenfchaft, wozu er will, er hält für wahr, wovon er wlinfcht, daß es wahr fei u. f. mw.” Bacon fagt, daß die Begierde den Verſtand verwirre, Spinoza jagt, daß die Begierde ein verworrener Berftand fei. In der That erklären beide Urtheile daffelbe, nämlich) die Verworrenheit der Begierde.

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jachen, die Abneigung gegen die widerftreitenden machen ihn oberflählich und unerfahren. Die Affecte mifchen fich ein und trüben ihn gänzlich. Aus Vorliebe zur Einheit und ſyſtema⸗ tifhen Ordnung fuht er nad fogenannten Principien oder legten Gründen; ftatt die Dinge zu unterfucdhen und zu zer: legen, abjtrahirt er davon und ergeht fich in leeren Begriffen, überfpringt die wirklichen Heinen Theile der Körper und ergötzt ſich an eingebildeten Atomen, überfpringt die Mittelurfachen und fpielt mit Endurfachen, läßt das Nächfte unbekannt und geht im Fluge auf das Entferntefte, das er in den Endur— fachen ergriffen zu haben meint. Dieſer Flug ift eine doppelte Täuſchung: er foll nicht fliegen, fondern Schritt für Schritt gehen, in Wahrheit ift er auch nicht geflogen, denn jene End- urfachen oder Zwede hat er nicht aus der Duelle des Weltalls geihöpft, fondern aus fi, aus feiner eigenen Natur, blos aus diefer. Er Hat das Nächte außer Acht gelaffen und ift bei dem Allernädhiten ftehen geblieben, bei fich jelbit; er hat das Entferntefte gefucht, vorwärts ins Unermeßliche geftrebt und ift feinen Schritt weiter gefommen.*)

Was bleibt demnach übrig, wenn uns Verſtand und Sinne täufhen und der menschliche Geift von Natur ein trügerifher Spiegel der Dinge ift? Verſtand und Sinne dürfen nicht gelaffen werden, wie fie find; man muß fie be- - arbeiten, berichtigen, unterjtügen, damit fie den Dingen ge- recht werden; man muß „den Zauberfpiegel des Geiftes’ Kar und eben fchleifen, damit-aus dem speculum inaequale ein speculum aequale werde. Dies gejhieht nicht durch Natur,

*) Nov. Org. I, 45—52. 2gl. De int. nat. sent. XII. Una veri- tas, una interpretatio: Sensus obliquus, animus alienus, res im- portuna. Op. p. 734.

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fondern allein durh Kunft. Was dem bloßen Sinn und dem ſich ſelbſt überlaffenen VBerftande nicht möglid) ift, nämlich die Dinge richtig wahrzunehmen, das foll beiden mit Hülfe Fünft- licher Werkzeuge gelingen. Ausgerüftet mit dem geſchickten Inftrument wird die menfhlihe Wahrnehmung ridhtig, ohne daffelbe ift fie trügeriih. Was dem bloßen Auge unfihtbar oder undentlic ift, wird dem bewaffneten Auge fihtbar und Har mit Hülfe des Fernrohrs und Mikroſkops. Die menſch— lihe Hand kann wohl die Wärme des Waffers fühlen, aber nicht eigentlich wahrnehmen, nicht beurtheilen, denn wir empfin- den nur die eigene Wärme und wie fid) dazu die des berühr- ten Körpers verhält. Die Temperatur des Körpers für ſich genommen zeigt uns das Thermoflop, e8 fagt dem Auge, was die Hand nicht wahrzunehmen vermag.*) Wir wollen die Wahrnehmung mit Hülfe des Inftruments Beobadhtung nennen, und das Mittel, wodurch wir eine Naturerfheinung vein dar: jtellen, ohne fremdartige und verhüllende Zuſätze, Verſuch oder Erperiment. Was daher übrig bleibt nad) Abzug der „idola tribus”, ift die Beobadhtung und der Verfuh. So erflärt ſich Bacon ſelbſt: „Weder die bloße Hand noch der fich ſelbſt überlaffene Verſtand Fönnen viel ausrichten. Sie bedürfen beide der Injtrumente und Hülfsmittel.” Und an einer andern Stelle: „Alle wahre Erflärung der Natur beftcht in richtigen Experimenten, wobei der Sinn nur über das Experiment, diefes über die Natur und die Sache felbft urtheilt.“**) Der ſich

*) Nov. Org. II, Aph. 13. Ueber die Wärmeempfindung, die blos jubjectiv und relativ ift, ebend. Tafel der Grade Nr. 41; liber die Wärme: beobachtung vermöge des Thermoffops, ebend. Nr. 38.

**) Nov. Org. I, 2. Aph. 50. Vgl. Aphorismi et cons. de auxiliis mentis (Imp. phil.). Op. p. 733.

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felbft überlaffene Berftand, wenn er auch noch jo logiſch ge- ſchult ift, Töft Fein Näthfel der Natur und bewegt Feines ihrer Werke, ebenfo wenig vermögen es unfere bloßen Sinne und Leibeskräfte, wären fie auch noch fo geübt. Die Dialektik kann fo wenig ein Naturgefeg erkennen, als die Athletif einen Obelisken aufrichten. *)

In der Natur des menfchlichen Verſtandes iſt e8 vorzüg- fih ein Begriff, der uns verführt, die Erflärung der Natur verfäljcht und die Hauptfchuld der Unwiffenheit und Unfrucht- barfeit der bisherigen Philofophie trägt. Wir find geneigt, unfere Natur und deren Beitimmungen auf die Dinge zu über- tragen, die Dinge nad) uns, ftatt uns nad den Dingen zu richten und auf diefe Weife die Naturerfcheinungen nad) menſch— licher Analogie aufzufaffen. So erklären wir die Natur falich, wir tragen menſchliche Bejtimmungen auf fie über und denfen ihre Erfcheinungen nicht phyſikaliſch, ſondern anthropomorphifch. Es Liegt in der VBerfafjung unfers Verſtandes, Gattungsbegriffe zu bilden, in der unferes Willens, nad) Zweden zu Handeln; diefe Gattungsbegriffe und Zwede find Formen, die zum Wefen des Menfchen gehören, in der Natur der Dinge nichts erklären, und diefe nichtserkflärenden Begriffe Haben in der Philofophie die Rolle der Principien gefpielt. „Der wißbe- gierige Verſtand“, ſagt Bacon, „kann nirgends Halt machen oder ausruhen, ſondern er ſtrebt über jede Grenze hinaus, aber vergebens. Ihm ſcheint undenkbar, daß es eine letzte äußerſte Grenze der Welt geben ſoll; unwillkürlich meint er, es müſſe noch etwas jenſeits der Grenze geben. Auf der andern Seite iſt es ebenſo undenkbar, daß bis zu dieſem Augen—

*) Nov. Org. Praef. Op. p. 277, 278.

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blif eine Ewigfeit abgelaufen fei, denn jene gewöhnliche Unter- iheidung des Unendliden a parte ante und a parte post fann man unmöglich gelten laſſen; daraus würde folgen, daf eine Unendlichkeit größer jei als die andere, und daß fid) das Unendliche felbjt verzehre und zum Ende neige. Aehnlich ift die fubtile Theorie von der unendlichen Theilbarfeit der Linien, die auf der Ohnmacht des Gedanfens beruht. Aber am ver- derblichjten zeigt fich diefe Ohnmacht des Geiftes in der Auf- findung der Urſachen. Obgleich oberjte und allgemeinfte Ur- jahen in der Natur eriftiren müffen, die fi) nicht weiter be- gründen laffen, fo greift dennoch der raftlofe Geift nad) Be— ftimmungen, die ihm befannter find. Während er in weite Fernen hinausftrebt, fällt er zurüd auf das Allernächſte, näm- (ih auf die Endurfahen, die aus der menſchlichen Natur, niht aus der des Univerfums ftammen: und aus diejer Quelle fließt das unglaubliche Verderben der Philojophie. Es verräth den unerfahrenen und ober- flählichen Denker, wohl im Allgemeinen nad) Urſachen zu ver- langen, im Einzelnen dagegen nicht darnad) zu fuchen.‘*) Im Zwecbegriff unterfcheidet fi die Metaphyfif von der Phyſik. Die Natur nah Zweden erflären, heißt die Metaphyfif in die Phyſik einmifchen, das heißt die Phyſik verwirren und unfrudtbar machen. Die Unfruchtbarkeit einer Wiſſenſchaft ift ihr Elend. Wie fih Bacon die Aufgabe fett, diefem Elende abzuhelfen, jo ift er darauf bedacht, überall in den Wiffenfchaften die verworrenen Zuftände aufzuklären, das Vermiſchte zu trennen, das Ungleichartige zu fondern. Er will die Phyſik reinigen, darum verweift er die Endurfachen,

*) Nov.\Org. I, 48. ©. oben ©. 171.

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die der Phyſik nichts helfen fünnen, in die Metaphyſik. Die Phyſik befchäftigt fich nicht mit den Formen, jondern mit der Materie der Dinge, fie erflärt die Erfcheinungen im Einzelnen, bejcheidet fich mit den Mittelurfachen (causae secundae) und überläßt die erften Gründe der Dinge der Metaphyfif, fie er- klärt nichts durch Zwede, fondern alles in der Natur durch wirfende Urfachen (causae efficientes). Die wirfenden Ur- ſachen find die phyfifalifchen (causae physicae). So bezeichnet Bacon in feiner Schrift „De dignitate et augmentis scien- tiarum“ die Theorie der Zwede als einen Theil der Meta- phyſik, den man bisher zwar nicht außer Acht gelafjen, aber an einen faljchen Ort geftellt hatte. „Man pflegte die End» urfachen im der Phyſik, nicht in der Metaphyſik zu unterfuchen, aber dieje verkehrte Ordnung hat fehr fchlimme Folgen gehabt und bejonders in der Phyfil den größten Schaden angerichtet. Denn die Methode der Endurfachen in der Phyfif hat die Unterfuhung dev natürlichen Urſachen vertrieben und zu nichte gemacht. Deshalb war die Naturphilofophie eines Demofrit und anderer, welche Gott und Geift von der Bildung der Dinge fernhielten, die Weltordnung aus dem Spiel der Natur- fräfte erklärten (welches fie Schidfal oder Zufall nannten) und die Urfachen der einzelnen Erfcheinungen aus einer materiellen Nothwendigkeit, ohne alle Einmifhung von Zweden, herleiteten, in phyſikaliſcher Rückficht bei weiten ficherer und eindringlicher . als die Theorien eines Plato und Ariſtoteles.“ „Die Unter- juhung der Zwecke iſt unfruchtbar und Ffinderlos wie eine gottgeweihte Jungfrau.” *)

Damit ift Bacon's Ziel und Weg in der Hauptfache be—

*) De augm. scient. Lib. II, cap. 4 u. 5. gl. unten Cap. X.

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zeichnet. Er will die Herrichaft des Menſchen über die Natur durch die Erfindung, die Erfindung durd) die erfahrungsmäßige Erklärung der Natur, die Erklärung der Natur ohne alle Idole. Laß dich in deiner Anfiht von den Dingen nicht durch irgend welche Autorität oder Lehrmeinung beftimmen, fondern betrachte ſelbſt, lerne jelbit die Dinge fennen! Lerne die Dinge kennen nicht durch Worte, fondern in der Wirklich— feit, nicht wie fie in den landläufigen Vorftellungen erfcheinen, jondern wie fie in der Natur find, d. 5. unterfudhe die Dinge felbit, nimm fie wahr! Aber nimm fie wahr ohne alfe menfchlihe Analogien: laß dich nicht irren durch die Sinne, die dir Trugbilder vorjpiegeln, durch den fchnellfertigen Verſtand, der das Einzelne überfliegt und unmwillfürlich fich jelbjt den Naturkräften unterfchiebt, d. h. ftüße deine Wahr: nehmung auf Beobadtungen und Berfudhe, fchließe von deiner Naturerflärung von vornherein die Zwede aus, juche überall nichts als die wirkenden Urfaden der Naturerfheinungen!

Was alfo übrig bleibt nad Abzug aller Idole, das ift die exrperimentirende Wahrnehmung unter dem Gefichtspunfte der mechanifchen oder natürlichen Caufalität. Auf dieſem Wege allein kann der menfchliche Geift das wirkliche Abbild der Natur treffen. Und das ift nad) Bacon die Aufgabe Ber Wiſſenſchaft: „Die Welt foll nicht, wie bisher gefchehen ift, in die enge Sphäre des menschlichen Verftandes eingezwängt, fon- dern dieſer joll ausgedehnt und erweitert werden, um das Bild der Welt, wie fie ift, in ſich aufzunehmen.‘ *)

*) Garascene ad hist. nat. N. IV. Op. p. 422.

Drittes Kapitel, Der Weg der Erfahrung.

1. Die Aufgabe. 1, Die wahre Differenz.

Die einzig wahre und fruchtbare Betrachtungsweife ift aljo die erperimentivende Wahrnehmung, gerichtet aklein auf die wirfenden Urfachen der Dinge Wir wollen diefe von allen Idolen gereinigte Wahrnehmung, diefe vollfommen ob- jective Beobachtung der Dinge mit Bacon die reine Erfahrung nennen (mera experientia). Was die Erfahrung foll, leuchtet ein: fie geht aus von den Thatſachen der Natur umd richtet ji) auf deren Urſachen. Es Handelt ſich darum, den Weg ausfindig zu machen, der nicht durch einen glüdlichen Zufall, fondern mit Nothwendigfeit von dem einen Punkte zum andern führt: diefer Weg ift die Methode der Erfahrung. Ihre erite Aufgabe verlangt, die Thatjachen der Natur Fennen zu lernen und deren Merkmale aufzufaffen, die Fälle zu ordnen umd zu fammeln, auf diefem Wege das Material herbeizufchaffen, welches den Stoff der Wilfenjchaft bildet. Denfen wir uns diefe Aufgabe mit möglichiter Vollftändigkeit gelöft, jo Haben

Fiſcher, Bacon. 12

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wir eine Neihe von Fällen, eine Sammlung von Thatjachen, die zunächſt nur befchrieben und erzählt werden fünnen. Die Löſung der erjten Aufgabe bejteht mithin in der einfachen Auf- zählung der wahrgenommenen Thatfachen (enumeratio simplex), deren fachliche Zufammenftellung die Naturbefchreibung oder Naturgefhichte ausmacht. Wie wird aus einer jolchen Natur— befehreibung Naturwiffenfchaft, aus diefer Erfahrung Erfennt- niß, oder was dafjelbe Heißt, aus der Erfahrung der That- jachen die der Urſachen? Erſt die Erfahrung der Urfaden iſt wirkliche Erfenntniß, denn „alles wahre Wiſſen ijt Willen durch Gründe”. Wie alfo erfahre ic) die Gründe oder die wirffamen Bedingungen, unter denen die fragliche Erſcheinung jtattfindet?

Jede Naturerſcheinung ift mir unter gewilfen Bedingungen gegeben. Es Handelt fid) darum, unter den gegebenen die- jenigen zu erfennen, welche zur Erſcheinung ſelbſt nothwendig und wejentlich find, ohne welche die fragliche Erfcheinung nicht ſtattfinden könnte. Alfo lautet die Frage: wie finde ich die wejentlihen Bedingungen? Und die Antwort: indem ic) von den gegebenen die unweſentlichen oder zufälligen abziche; der Reſt, welcher bleibt, bejteht offenbar in den wejentlichen und wahren. Weil die nothwendigen Bedingungen in allen Fällen die gegebenen nach Abzug der zufälligen find, darum nennt fie Bacon die wahre Differenz (differentia vera) und bezeichnet diefe als die Duelle der Dinge, die wirkende Natur oder die Form der gegebenen Erſcheinung (fons cmanationis, natura naturans, naturae datae forma. *) Wie die wahre Betradhtung der Dinge die menſchliche Wahr-

*) Nov. Org. II, 1.

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nehmung iſt nach Abzug aller Idole, jo find die wahren Be— dingungen eines Phänomens die vorhandenen nah Abzug der zufälligen. Alfo Heißt die Frage: wie erfenne ich die zu— fälligen? Dieſe herauszufinden und von den gegebenen auszufcheiden, macht die eigentliche Aufgabe und das Ziel der baconifchen Erfahrung. Iſt diefe Aufgabe gelöft, fo ift damit die Einficht in die weſentlichen Bedingungen des Phänomens, die Erfenntniß der Urſache, die interpretatio naturae, ge- geben. - 2. Die Formen,

Die ariftotelifche Metaphyſik Hat vier Arten der Urfachen unterschieden: Materie, Form, wirkende Urſache, Endurfache. Die Endirfadhen find aus der Erklärung der natürlichen Dinge auszufchließen; fie Haben Hier nichts ausgerichtet, vielmehr ge- ſchadet, denn fie gehören unter die Trugbilder unferes Ver— jtandes. Ariftoteles hat die Form mit dem Zweck zuſammen— fallen laffen, Bacon fett jie gleid) der wirffamen Urfache oder den Bedingungen, aus denen eine Erſcheinung ſtets hervorgeht, die das Weſen derjelben ausmachen. Daher ijt ihm die Form der Natur gleichbedeutend mit ihrer nothwendigen Wirkungsart, d. h. mit ihrem Gefeß; die Erforichung, Auffindung, Erklärung dieſes Geſetzes gilt ihm als die Grundlage alles Wiffens und erfinderifchen Handelns.*) Es iſt wohl zu beachten, im wel- hem Sinne Bacon den Begriff der Form verjteht, diefen in der philofophifchen Schulfpradhe eingenifteten, vielumftrittenen, der Misdeutung ausgefetten Terminus. Auch ift er felbjt in diefem Punkte vielfach misverftanden worden von Seiten der Ueberfeger und Erflärer. Er verfteht unter Form nicht Zweck,

*) Nov. Org. II, 2.

180.

nicht Gattung oder Typus, fondern Wirfungsart, jo fällt fie zufammen mit der causa efhiciens, aber fie deckt ſich mit diefer nicht ganz. Was unter gewiffen Umftänden gejchehen kann und gefchieht, durd) das Zuſammenwirken der verjchiedenen Körper, durch deren Einwirkung auf einander, folgt ebenfalls aus Urſachen, aber aus jplchen, die, an veränderlide Be— dingungen gefnüpft, nicht bejtändig, jondern vorübergehend wirfen, fie find „causae fluxae“, hier fällt die causa efficiens mit der causa materialis zuſammen, weshalb Bacon an der- jelben Stelle auch jagt „causa efficiens et materialis‘.*) Demnach verjteht Bacon unter Form die conftante oder be— jtändige Wirfungsart der Natur, er verfteht unter Formen die allgemeinen und nothwendigen Naturfräfte, die immer wir: fen und deren jede das Wefen einer allgemeinen phyfi- kaliſchen Eigenjchaft ausmadht. Es find die Grundfräfte, entfprehend den Grumdeigenfchaften der Körper. Darum nennt er aud) die Formen „ewig und unwandelbar“ und be— zeichnet die Erforſchung derfelben als die Aufgabe der Grund— wijjenichaft oder Metaphysik, während die Phyfif cs mit der Wirkfamkeit der verjchiedenen Stoffe (causa efficiens et materialis) zu thun hat.**) Die Metaphyfik fpielt bei Bacon eine doppelte Rolle, was freilic zur Präcifion ihrer Stellung nicht beiträgt: fofern fie die Endurfachen oder Zwede be— trachten ſoll, bildet jie eine Provinz für fi), die von der Phyſik zu trennen it; als Erforfhung der Grundfräfte da- gegen bildet fie die Grundlage der Phyſik, und Bacon würde bejjer gethan Haben jie „allgemeine Phyſik“ zu nennen. Auf

*) Nov. Org. II, 3. ®2gl. De augm. Lib. III, cp. 4. Op. p. 80. **) Ebend. II, 9. S. unten Cap. X.

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die Metaphyfil in diefem phYyfifalifchen Sinn ift das baco- nische Organon gerichtet.

Es kann Fein Zweifel fein, daß Bacon nur diefen Sinn ° mit dem Ausdrud „Form“ verbindet. Wer die Formen er: fennt, der hat die Einſicht in die allgemeinen Naturfräfte ge— wonnen und vermag das Höchſte zu leiſten, „der begreift“, jagt Bacon, „die Einheit der Natur in den verfchiedenartigften - Erſcheinungen, der kann Dinge entdecken und hervorbringen, die völlig nen find, die weder die wandelbare Natur noch die eifrigfte Kunft jemals zu bewirken vermocht, deren Gedanke felbft nie wirde im eines Menfchen Kopf gekommen fein‘ Wer der Natur im Einzelnen hie und da eine Wirkung ablaufcht, der kann manches erfinden, aber die Grenzen der menschlichen Herrſchaft rückt er nicht weiter. Wer die allgemeinen Natur: fräfte verfteht und dadurch zu regieren weiß, dem jteht die höchſte Erfindungsfraft zu Gebot, die Bacon „Magie nennt, nicht weil fie Wunder verrichtet, fondern „wegen des weiten Spielraums und der größern Herrſchaft über die Natur“. Die Metaphyfif im obigen. Sinn, praftifch angewendet, ift Magie; die Phyfif in der engeren Bedeutung, praktiſch ange- wendet, Mechanif.*) Die Form ift der Inbegriff der wefent- lichen Bedingungen, aus denen die Erjcheinung nothiwendig hervorgeht. Dieſe Form gejett, jagt Bacon, jo iſt die Er- icheinung unfehlbar da, die Form aufgehoben, jo ift die Er- icheinung unfehlbar entjchwunden: fie ift der Wejensgrund (fons essentiae), aus dem die Erfcheinung folgt. **)

Die Erſcheinung, um die e8 ji) handelt, iſt eine allge:

*) Nov. Org. 1, 3 u. 9. **) Ebend. II, 4. ©. unten Cap. X.

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meine und durchgängige Eigenjchaft aller Materie, wie Wärme Licht, Schwere. Der Inbegriff ihrer wefentlichen Bedingungen, der Wefensgrund iſt Fein geheimnigvolles Ding, jondern eine Thätigfeit, ein Vorgang, ein bloßer Act (actus purus), der auf eine geſetzmäßige und beftimmte Weife gefchieht. „Wenn . Ich von Formen fpreche”, jagt Bacon, „ſo verjtehe ich darunter nichts anderes als die Gefete und Beltimmungen des reinen Actes, die das Wefen einer einfachen und allgemeinen Natur— erfcheinung ausmachen. Es ift ganz dafjelbe, ob ih Form der Wärme, Form des Lichtes, oder Gejet der Wärme, Gefet des Lichtes ſage.“*)

Demnach heißt die Aufgabe des Organons: wie erkennen wir die Form oder die weſentlichen Bedingungen einer ſolchen Erſcheinung?

II. ‚Der Weg zur Löſung.

1. Die Tafeln der Inſtanzen.

Die Auffindung der wefentlichen Bedingungen fett die Ausſchließung der umnmefentlichen voraus, diefe werden aus— gejchloffen von den vorhandenen Bedingungen, unter denen uns die fragliche Erfcheinung, z. B. die Wärme, gegeben ift, alfo fett die Ausfchliefung der unmefentlichen Bedingungen voraus die Wahrnehmung einer Reihe gegebener Fälle. Die Forderung heißt: finde die wejentlichen Bedingungen, d. i. die Differenz, welche bleibt nac) Abzug der unmejentlichen Be— dingungen von den vorhandenen! Mit einem Subtractiong- exempel verglichen, ift die Aufgabe dreitheilig: ſtelle den

*) Nov. Org. II, 17.

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Minnendus auf, dann den Subtrahendus, finde den Reſt! Das Erfte ift die Wahrnehmung und Aufzählung gegebener Fälle, das Zweite die Ausſchließung (exclusio, rejectio) der unweſentlichen Bedingungen, das dritte die Einſammlung, gleichfam die Weinlefe der wefentlichen (vindemiatio),

In jedem gegebenen Fall, z. B. der Wärmeerfcheinung, find nothwendig alle wejentlichen Bedingungen enthalten, aber zugleich find eine Menge anderweitiger Beftimmungen, begleitende Umftände u. . f. damit verbunden, die mir den eigentlichen Vor— gang verhüllen. Die wejentlichen Bedingungen find da, aber für mic) nicht erfennbar. Wie mache ich fie erkennbar? Was zwar in jedem Falle ftattfindet, aber in feinem einzelnen mir erfennbar hervortritt, wird einleuchtender fein, wenn ich viele Fälle zufammenjtelle, darin gleichartig, daß in jedem die frag- fihe Erſcheinung jich zeigt. Was die Bedingungen betrifft, fo ftimmen in einigen dieje vielen Fälle überein, in anderen nicht; ich werde die letzteren mit Sicherheit für unweſentlich und nicht zur Sache gehörig halten, die erjten mit einer ge— wiſſen Wahrjcheinlichkeit für weſentlich. Jedenfalls läßt fich das Gebiet der Unterſuchung verengen. Jetzt iſt das Ergebniß zu. prüfen. Die weſentliche Bedingung geſetzt, jo iſt die Er— iheinung da. Dit fie nicht da, fo ift die Bedingung nicht wejentlich, jondern zu eliminiven. Alſo müſſen jett andere Fälle gefuht und wahrgenommen werden, darin den eriten vergleichbar, daR fie ähnliche Bedingungen Haben, aber darin entgegengejetst, daß die fragliche Erfcheinung nicht ftattfindet. Es find die Gegenfälle. Sie enthalten den Subtrahendus, wie die eriten den Minuendus. Bene nennt Bacon „die pofitiven oder übereinftimmenden‘, diefe „die negativen oder contradic- torischen Inftanzen”. Die Ordnung und Aufzählung der poji-

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tiven Inftanzen bildet die „tabula essentiae et praesentiae“, die der negativen die Tafel der Abweichung („tabula declina- tionis sive absentiae“). Um in dem Bilde des Kechenerempels zu bleiben: die Aufgabe der Subtraction wird angefett durch die Vergleihung der pofitiven und negativen Inftanzen, fie wird gelöſt durch die Ausfchliefung der unmefentlichen und Einfammlung der wefentlichen Bedingungen („‚rejeetio“ und „vindemiatio“). Zwiſchen den Anjat und die Pöjung hat Ba- con noch eine dritte Vergleihungsreihe gejtellt, die dazır bei— tragen foll, die wejentlichen Bedingungen erfennbar zu machen. Mit der Zunahme der leßteren, wenn fie in der That wejentlic) find, muß auch die Erjcheinung zunehmen und ebenfo umge: fchrt. Die hier aufgeführten Fälle beziehen ſich auf die gra- duelle Bermehrung und Verminderung, Bacon nennt fie daher „die Tafel der Grade“,

Die fünf Abfchnitte, die nad) Bacon den Weg zur Löfung bezeichnen und eintheilen, find demnach: die Aufftellung der pojitiven Inſtanzen, die Entgegenftellung der negativen, die Bergleihung der Grade, die Ausichliefung des Unweſentlichen, die Sammlung des Wejentlichen.

2. Das Beifpiel, (Die Wärme.)

Bacon hat diefen Weg nicht blos vorjchreiben, fondern auc) zeigen wollen, wie man ihn geht. Das Beifpiel, welches er wählt, ift die Wärme. Daß die Wärme unter den Wir- fungsweifen der Natur eine centrale Stellung einnimmt, hat die ältejte Phyfif geahnt, die neueſte bewiefen; es giebt viel: feicht Keinen Punkt, in welchem alltägliche Lebenserfahrung, Specnlation und exacte Naturforichung jo nah zufammenftoßen,

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Der erjte italienifche Naturphilofoph Telefius fette Stoff und wirkende Thätigfeit als die Urprincipien der Natur, den Stoff als das pajfive, Wärme und Kälte als die activen (nature agenti) umd verglich fie mit dem, was die Peripatetifer „Formen“ nannten.*) Wir wilfen, daß Bacon unter Formen nichts anderes verjteht als die active Natur felbft, die gejeß- mäßige und nothwendige Wirkungsweife, die Wärme gilt ihm als Hauptforum, als das vorzüglichite und hauptfächlichite aller Beifpiele. Wer die Formen erfennt, jagt Bacon, durchſchaut die Einheit der Natur. Aus der mechanischen Wärmelehre wird in der heutigen Phyſik die Lehre von dev Erhaltung und Einheit der Kraft bewiefen, das höchſte und umfaſſendſte Princip der geſammten Naturwiffenichaft. Und es ijt merkwürdig ge— nug, daR in der Auflöfung der Frage: was ift Wärme? Ba— con auf feinem Wege zu einem Ergebniß gefommen ift, das mit dev Erklärung der neueſten Phyfif faft übereinftinmt.

Es iſt wahr, daß diefer baconifche Weg ſehr umſtändlich, künſtlich erfjhwert, in mancden einzelnen Beftimmungen falſch it, theils fehlten dem Zeitalter, theils ihm ſelbſt die richtigen Borjtellungen von Wärmebejchaffenheit, Wärmever- breitung, Wärmeleitern, Wärmecapaeität u. ſ.f. Im Wider: ſpruch mit ſich ſelbſt macht er die Wärteempfindung zum Map der Wärmebefchaffenheit (Temperatur), er nimmt Wärme und Kälte, als ob fie entgegengefette Qualitäten wären, und jagt gelegentlich bei der Vergleihung der Grade: „Holz ift nicht jo kalt als Metall, doch das gehört in die Tafel der Kältegrade.“ Zuerſt werden 28 pofitive Inſtanzen der

*) Bern. Telesio ossia studi storici su l’idea della natura nel risorgimento italiano di Francesco Fiorentino (Firenze 1872), I, 224.

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—Wärmeerſcheinungen aufgeführt, diefen 32 negative Inftanzen entgegengeftellt, dann folgen 41 Fälle gradueller Bergleihung, darauf 14 Erelufionen, endlich die Yeje.*)

Als pofitive Inftanzen gelten vor allem die Wärnte- ericheinungen unter Einwirkung der Sonnenftrahlen und des Feuers, dann die Erwärmung flüffiger und Luftförmiger Körper, die thierifche Wärme (die thierifchen Bedeckungen, wie Wolle, Haare, Federn nimmt er für warnte Körper, während fie Schlechte Wärmeleiter find), Entftehung der Wärme unter chemischen Einflüffen, durd) Reibung u. |. f. Das Alles wird vereinzelt aufgeführt, die wichtigften Inftanzen neben folden, die nichtig oder falfch find. Um gründlich zu erſcheinen, hat ſich Bacon den eigenen Weg ohne Noth erfchwert und durd) Seftrüpp ungangbar gemacht. Wäre er bei fundamentalen Erfcheinungen geblieben, hätte er den Begriff der negativen Inſtanz etwas weiter und richtiger gefaßt, jo wäre fein Weg fürzer und lichtvoller gewejen. Wärme unter Einwirkung der Sonnenftrahlen ift eine pofitive Inftanz, Wärme durd) Reibung ebenfalls. Nun gilt ihm als negative Inftanz die ähnliche Bedingung ohne die fragliche Erfcheinung. Sommenftrahlen ohne Wärme, Neibung ohne Wärme würden in den beiden gegebenen Fällen negative Inſtanzen ſein. Gegen die Reibung giebt es feine negative Inſtanz, Bacon räumt es ſelbſt ein**), gegen die Sonnenftrahlen verfucht er als negative Inftanz den Sat, daß die Monditrahlen nicht wärmen, aber erftens ijt der Mond Feine Sonne, und zweitens läßt er es felbit auf den Verſuch anfommen, ob die Mondftrahlen durch ſtarke Con—

*) Nov. Org. I, 11—13. 18. 20. (Pofitive Inftanzen giebt Bacon eigentlih nur 27, die letzte heißt „alia‘.) **) Nov. Org. II, 12. Tab. decl. s. abs. Nr. XXL.

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centration nicht auch) wärmen.*) Wenn Wärme unter Licht: entwicelung als pofitive Inftanz gilt, fo iſt die entfprechende negative Licht ohne Wärme. Aber hier Tiegt eine zweite nega= tive Inftanz offen zu Tage: Wärme ohne Licht, Wärme durch Neibung! Eine Entgegenfeßung, um fo wichtiger, weil fie gar nicht problematisch ift, eine Erſcheinung, um fo fundamen— taler, eine Inftanz, um fo prärogativer (mit einem ſpäteren baconifchen Ausdruck zu reden), weil es gegen fie, wie Bacon ſelbſt jagt, Feine negative Inftanz giebt.

Hier ijt ein Grumdfehler, der nicht der Methode, fondern der Ausübung zur Laſt fällt. Ich Habe den Fall vor mir: A unter der Einwirkung von B. Der Fall hat zwei mögliche Gegenfälle: A ohne B, B ohne A. Es ſei fraglich, ob ſich A ohne B conftativen läßt, es ift nicht fraglich, daß B ohne A jtattfindet. Jetzt iſt die ficherfte Gegeninftanz: B ohne A, Wärme ohne Licht, Wärme dur) Reibung. Statt gleich bei dem erjten Schritt Halt zu machen und die ficherjte Gegen injtanz aufzurufen, jchlendert Bacon im Zuge dev pofitiven Inftanzen weiter und kommt hier unter andern auch zur Reis bung mit der Genugthuung, daß er e8 auf Nr. 16 gebracht hat.

Daher Fommt es auch, daß Bacon manches erſt am Schluß feiner Tabellen jagt, was er glei) zu Anfang hätte jagen jollen: erjt in der letten Stelle der Gradvergleichungen bezeichnet er den Unterfchied zwifchen Wärmeempfindung und Wärmebefchaffenheit, und daß jene nur relativ und fubjectiv jei; erſt in der letzten Stelle der Excluſionen zieht er aus der Thatſache der Wärme durch Reibung den erleuchtenden Schluß, daß die Wärme nicht etwas urfprünglich Gegebenes, alfo Fein

*) Nov. Org. II, 12. Tab. decl. Nr. V.

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Stoff jet, fondern eine Thätigfeit, eine Wirkung im activen Sinn. *)

Zulett gewinnt er fein Nefultat aus wenigen Inftanzen, die er felbjt die einleuchtenden Fälle (eluscentiae, instantiae ostensivae) nennt, weil hier die Sache ſelbſt weniger durch Nebenumftände verdeckt wird; als ſolche gelten ihm die Flamme, die Neibung, das Sieden, BVBerdampfen, Schmelzen. Man jieht, daf die vorhergehenden Aufftellungen zum großen Theil Parademarſch und jene vielen Inftanzen Paradefoldaten waren, von denen die wenigjten in den Krieg fommen. Aus einigen hervorgehobenen TIhatfachen wird ausgemacht, was die Wärme als folche ift, abgefehen von unferer Empfindung: der phyſi— falifche Begriff der Wärme Wärme ift Bewegung, nicht etwa fo, als ob die Bewegung eine ihrer Eigenfchaften ei, als ob fie Bewegung erzeuge oder durch diefelbe erzeugt werde: fie iſt felbit nichts anderes als Bewegung, als cine befondere Art der Bewegung. Was für eine Art? Die Reibung zeigt, daß diefe Bewegung nicht von einer Maffe auf eine andere übertragen oder mitgetheilt wird, jondern innerhalb der Theile eines Körpers vor fich geht; die Erfcheinungen des Siedens, Berdampfens u. |. f. zeigen, daß die Bewegung expanſiv, die Wärme alfo ein aunsdehnender Bewegungsact ift; aus der Flamme will Bacon erkennen, daß diefe ausdehnende Bewegung nad) aufwärts ftrebt, aus dem Feuer und der Verbrennung, daß fie unregelmäßig, oscillivend, die kleineren Theile durch— dringend, heftiger Art ift, Seine Definition heißt: Wärme ijt eine ausdehnende, gehemmte, durch die kleineren Theile jtrebende Bewegung. Die heutige Phyſik erflärt: Wärme ift

*) Nov. Org. II, 20.

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fein Stoff, jondern Bewegung, eine bejondere Art der Be- wegung, feine Bewegung größerer Maffengruppen, feine fort- ichreitende, Feine drehende, feine wellenartige, wie Schall oder Licht, fondern eine unvegelmäßige Bewegung der Fleinften Theile, dev Molecüle und Atome: fie ift unvegelmäßige Mole- cularbewegung.

3. Induction und Deduction.

Jetzt laſſen fi) die Wege genau erfennen und unterjchei- den, auf denen der menjchliche Geijt die Erkenntniß ſucht. Es giebt überhaupt nur zwei Wege, die verfucht werden können, der eine führt in die Irre, der andere zur Wahrheit: entweder folgen wir den Irrlichtern unſerer Idole oder dem wahren Ficht der Natur. Jede Erfenntnißart, da fie durch Gründe jtattfindet, ift eine Beweisart, die falfchen Beweife find gleich— jan die Befeftigungen und Schutwehren unferer Vorurtheile, die dadurd) bewaffnet und verjtärft werden. Den Trugbildern entjprechen die Trugbeweife. Der fchlimmfte von allen, der die natürliche Ordnung des Erfennens völlig verkehrt, ift der Schluß aus bloßen Begriffen, aus allgemeinen Vorderſätzen durch erkünſtelte Mittelfäge auf leere Schlußſätze; dieſe Be— weisart geht nicht von Thatſachen zu Geſetzen, ſondern von Worten zu Worten, ſie verfehlt nicht blos die Natur, ſondern läuft ihr zuwider und verliert ſie ganz außer Augen. Darum nennt Bacon dieſe Art der Wortbeweiſe, die bei der Schule in Anſehen ſtehen, dieſes leere dialektiſche Verfahren der ge— wöhnlichen Deduction „die Mutter der Irrthümer und die Calamität der Wiſſenſchaften“.*)

*) Nov. Org. I, 69.

Bu -

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Das entgegengefette Verfahren beginnt nicht mit leeren Begriffen, fondern mit Thatfachen oder Wahrnehmungen. Wenn aber aus der erjten beiten Wahrnehmung jogleid ein allgemeiner Sat abgeleitet und daraus die übrigen jchulgerecht gefolgert werden, jo find wir um nichts gebefjert, jondern fallen zurück in die ſchlechte für grundfalſch erkannte Beweis- art. Es ijt nicht genug von Wahrnehmungen auszugehen, es muß auc am Yeitfaden der Thatſachen, nach der Richtſchnur der Erfahrung von Sat zu Sat fortgejchritten werden. An die Stelfe der gewöhnlichen Deduction tritt der Erfahrungs- beweis.*)

Unfere Sinneswahrnehmungen find bejchränft und trüge- riſch. Wenn wir von falfhen Wahrnehmungen ausgehen, fo ift der ganze Erfahrungsbeweis nichtig. Um als brauchbare Prämijfen zu gelten, müſſen die Wahrnehmungen berichtigt, die Thatſachen feitgejtellt werden. Dies geſchieht durd) Be- obachtung und Verſuch. Der menfchliche Verſtand ift aus Borliebe für allgemeine Süße geneigt zu voreiligen Schlüffen. 68 darf aus den gegebenen umd richtigen Thatfachen nicht mehr gefchloffen werden als daraus folgt: der Grfahrungsbe- weis fei ftreng und exact, er gehe von Schritt zu Schritt, nicht jprungweife, jondern jtufenweife. **)

Aus wenig Thatfachen läßt ſich mit Sicherheit nicht viel ichliegen. Nun ift das Ziel der Erfahrung die Entdedung der verborgenen Naturprocefje, die Einfiht, wie die Natur handelt, die Erklärung der Naturgefege. Eine ſolche Erklärung nennt Bacon „Axiom“. Um mit Sicherheit Ariome zu fin-

*) Nov. Org. 1, 19. 76. **) Ebend. I, 19.

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den, darf der Gefichtsfreis der Erfahrung, ich meine die That- jahen, die fie beherrfcht, nicht zu beſchränkt und dürftig fein. *)

Geſtützt alfo auf richtige, durd) Beobachtung und Verfuch fejtgejtellte Thatfachen, auf ein umfafjendes Material folcher Fälle, jchreite diefe weitblidende Erfahrung vorfidtig und be- hutjam vorwärts, von Schritt zu Schritt, von Stufe zu Stufe, bei jedem Schritt immer die Thatſache vor Augen, woraus jie Schließt, bei jedem Schluß, den fie macht, immer fpähend, ob nicht Thatjachen vorhanden find, die dagegen zeugen. Diefer Weg richtiger Erfahrung ift die Induction, der eigentliche Schlüffel zur Erklärung der Natur. „Zur Grundlegung der Sache Handelt es fi) zuerjt um eine ausreichende und brauchbare, durch Beobachtung und Berfuch feſtgeſtellte Natur- bejchreibung. Denn was die Natur thut oder leidet, läßt ſich nicht evdichten noch erdenken, ſondern nur entdeden. Aber eine ſolche Naturbejchreibung iſt jo mannichfaltig und zeritreut, daß fie den Verſtand verwirrt und diffus macht, wenn fie nicht geordnet dargeftellt wird. Daher find Tabellen und Reihen der Inftanzen zu entwerfen und jo einzurichten, daß der Berftand fein Verfahren darauf richten kann. Aber auch nach einer folchen Vorbereitung ift der ſich ſelbſt überlafjene und willfürliche Verſtand noch nicht zuveichend und gejchickt, . die Ariome zu entdecken, wenn ev nicht gelenft und gefchützt wird. Darum muß man drittens die methodische und wahre Induetion anwenden, die der eigentliche Schlüffel iſt zur Er- Härung der Natur,“ **)

Der wahren Induction entfpricht die wahre Deduction.

*) Nov. Org. I, 70. **) Ebend. II, 10.

192

Das Ziel aller Erfenntnif follte die Erfindung fein, nicht die zufällige, jondern die abjichtliche, methodifche. Die Kunft des Erfindens vuht auf der Anwendung der Naturgefeße, fordert alfo deren Entdeckung, die im Wege der reinen Erfahrung, der richtigen Imduction gefchieht. So theilt fih der neue Weg, auf den Bacon Hinweift, in zwei Hauptabjchnitte: von der Wahrnehmung zur Entdelung, von der Entdeckung zur Erfindung, vom Verfuh zum Ariom, vom Ariom zum Ber: ſuch; der erſte Verſuch geht auf Entdedung, der lette auf Er: findung. Den erjten Weg nennt Bacon Induction, den zwei— ten Deduction: jene ift die Methode der Erklärung, diefe die Methode der Anwendung. Die Induction endet mit dem erfannten Gefeß, die Deduction mit der gelungenen Erfindung. *) So schließt Bacon’ Philojophie, wie er fein Leben gefchloffen haben wollte: mit dem Triumph des Experiments.

Was die bloße Erfenntniß der Dinge betrifft, fo giebt es nur einen Weg, der zum Ziel führt: die Methode der Induction. Sie ift, jagt Bacon, der wahre Weg, den bisher noch feiner verfucht hat.**) Und was für die Bedeutung und Würdigung Bacon's ſehr wichtig ift: die Induction gilt ihm als der wahre Weg, in Abſicht nicht bloß auf die Phyſik, fondern auf alle Erfenntniß ohne Ausnahme. Er erklärt aus- drüdlich, daß diejfelbe Methode, worad Wärme, Licht, Vege— tation u. |. f. unterfucht werden, auch allein gültig ſei zur Er: forfhung der Gemüthsbewegungen, der Geiftesthätigfeiten, des bürgerlichen Lebens u. f. f., dab auch Logif, Moral, Politik, überhaupt alle Wiffenjchaften mit der Naturphilofophie unter einen und denjelben Geſichtspunkt fallen.

*) Nov. Org. II, 10. **) Ebend. II, 127.

Dierles Kapitel, Die Methode der Induction.

1%

. Die negativen Inftanzen.

Wir müffen den Punkt hervorheben, auf den Bacon felbit in feiner Methodenlehre das größte Gewicht gelegt, den er ala das eigentliche Kennzeichen ihrer Neuheit an fo vielen Stellen geltend gemacht Hat. Geſetzmäßige und wahre Induction nennt er die feinige, um fie von einer andern zu unterjcheiden, die weder gefeßmäßig noch wahr it, die regellos verfährt und zu falfchen Ergebnifjen fommt. Erfahrung und Induction als ſolche find fo wenig neu, daß fie vielmehr den täglichen Un— terhalt unferer Erfenntnig ausmachen; jeder Tag bringt uns Erfahrungen, aus einer Reihe täglicher Erfahrungen ziehen wir zulett eine Summe, die uns als endgültiges Nefultat oder Ariom gilt. Diefer Schluß von der Thatſache auf das vermeintliche Ariom gejchieht aud) im Wege der Induction, und nad) einer ſolchen Induction bildet ſich die tägliche Yebens- weisheit, wie die Wetterregel im BVBerftande des Bauern. Aber ebenfo überzeugen wir uns täglich von der Unficherheit unferer jo gemachten Erfahrung, von der Unrichtigfeit ihrer Schlüffe.

Fiſcher, Bacon. 13

194

Eine neue Erfahrung, worauf wir bei der Summe der früheren wicht gerechnet Hatten, zeigt, daß unfere Regel falich war, und eine einzige genügt, das vermeintliche Gefeß zu widerlegen, Wenn auch nur einmal nicht eintrifft, was unferer Kegel nad) eintreffen folfte, fo ift bewiefen, daß dieſe Regel nicht gültiger war als ein Idol. Der eine Fall bildet gegen unfere Hegel die negative Inſtanz. Und im Laufe der gewöhnlichen Er- fahrung ftoßen wir fortwährend auf folche negative Injtanzen, die wieder zu nichte machen, was wir auf unſere bisherige Erfahrung gegründet und auf diefen Grund Hin geglaubt Hatten. An folhen negativen Inftanzen pflegen die Wetterregeln der gewöhnlichen Art zu Schanden und lächerlich zu werden, und die gewöhnliche Erfahrung fteht nicht ficherer als der Kalender. Sicher jteht die Erfahrung erft, wenn fie die negativen In— tanzen nicht mehr zu fürdten hat, wenn ihre Nefultate nicht mehr der Gefahr ausgeſetzt find, daß fie der nächite Augenblic mit einer unerwarteten Erfahrung widerlegt: wenn ihr mit einem Worte feine unvorhergefehenen Fälle mehr begegnen fünnen. Daher muß die Erfahrung, um ficher zu gehen, jo- viel als möglich alle Fälle vorherjehen, fie muß fich bei Zeiten gegen die Gefahr der negativen Inftanzen ſchützen, indem fie diejelben bedenkt; fie jelbjt muß, bevor jie ihr Nefultat ab- jchließt, die negativen Inſtanzen auffuchen und ihnen begegnen, damit nicht diefe ihr begegnen und das vorzeitige Nejultat umftoßen. Der einzig fichere Weg der Erfahrung führt mit- ten durch die negativen Inftanzen hindurch. Diefen Weg nennt Bacon im Unterfchiede von der gewöhnlichen Er- fahrung die methodische, im Unterfchiede von der gewöhnlichen Induction die wahre. Widerlegt überhaupt fan eine Erfahrung nur werden durd) das Zeugniß widerfprechender Thatſachen.

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Wenn feine Thatjfache mehr gegen fie zeugt, fo ift fie unwider— feglih, jo jteht fie feit. Und gegen diejes Zeugniß kann ſich die Erfahrung nur dadurd ſchützen, daß fie es ſelbſt auffucht und abnimmt, daß fie, wie in einem Nechtsftreite, die pofi- tiven Inftanzen mit den negativen gleichfam confrontirt und erſt nad) diefem Verhöre ſich entjcheidet; fie muß den erften Grundſatz der Gerechtigkeit befolgen: audiatur et altera pars!

Die negativen Inftanzen machen die Erfahrung jchwierig und im wiljenjchaftlichen Verjtande gejegmäßig; ohne diefelben iſt fie leicht und unkritiſch, darum legt Bacon ein jo großes und nachdrüdliches Gewicht auf die negativen Imftanzen: fie gelten ihm als das Kriterium der erfahrungsmäßigen Wahr- heit, als deren einzige Bürgschaft. VBerbürgt ift die Wahrheit, wenn fie widerfpruchslos ift; verbürgt ift die erfahrungsmäßige Wahrheit, wenn fi) die Erfahrung bei jedem ihrer Urtheile die möglichen Widerfprüche vorhält, klar macht und löſt. Dies geihieht durch die Beachtung der widerjtreitenden Fälle. Diefe hemmen und fichern jeden Schritt der Erfahrung und geben ihr die Richtſchnur, wonacd fie langſam dem fihern Ziele zu- jtrebt, nicht vorſchnell zu einem eingebildeten und nichtigen forteilt. „Ich halte dafür“, jagt Bacon in feinen Gedanken und Meinungen, „daß man eine folche Form der Induction einführe, die aus einzelnen Thatſachen allgemeine Schlüſſe zieht, aber fo, daß dagegen nachweislich Fein widerſprechendes Zeugniß, feine negative Inftanz mehr aufgeführt werden kann.“) Durch die unausgefette Vergleihung der pofitiven Inftanzen mit den negativen werden die nothwendigen Bedingungen von den zufälligen gejondert. Deshalb nennt Bacon diejen ver-

*), Cogitata et Visa. Op. p. 597.

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gleichenden Verjtand „das göttliche Feuer“, wodurd) die Natur gefichtet und die Geſetze ihrer Erjcheinungen erleuchtet werden: „Es muß eine Sichtung und Zerjetung der Natur jtattfinden nicht durch das elementare Feuer, jondern durd) den Berjtand, der gleichjam das göttliche Feuer ift.“ „Nur durch die ne— gativen Bedingungen Fünnen wir zu den affirmativen vor— dringen nad alffeitiger Ausſchließung.““s) Anfpielend auf die Alchymijten, jene philosophi per ignem, die im wirf- lihen Feuer die Körper auflöjen und jcheiden, jagt Bacon, er brauche zu feiner Scheidung nicht den Vulcan, ſondern die Minerva, freilic) eine andere Minerva als die der bisherigen Wiſſenſchaften, die zur Einſicht in die verborgenen Procejje der Natur viel zu plump und unbeholfen war.**)

Wir jahen früher, wie die baconiſche Wiflenjchaft aus dem Zweifel hervorging, der ihr nichts übrig ließ als die reine Erfahrung; fie will den Zweifel nicht gleid) den Skep— tifern fejthalten, jondern jtrebt nad) jichern Erfenntnijfen, aber auf diefem Wege nimmt fie den Zweifel mit ji) als fort- währenden Begleiter aller ihrer Unterfuhungen und fchließt feine ab, ohne diefen Begleiter gehört und beruhigt zu Haben. Jener erjte Zweifel, der aller Wiffenfchaft vorausgeht, macht diefe rein empirifch; dieſer zweite, der die Wiſſenſchaft auf jedem ihrer Schritte begleitet, macht die Erfahrung kritiſch. Ohne den erjten würde die Erfahrung jchon in ihrem Urfprunge mit Idolen behaftet fein und deshalb ftets im Trüben bleiben; ohne den andern würde fie auf ihrem Wege Idole ſtatt der Wahrheit ergreifen und deshalb leichtgläubig und abergläubifch

*) Nov. Org. II, 15 u. 16. **) Ebend. IL, 6 u. 7.

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werden. Davor fchütt fie der fortgefette Zweifel, der Fritifche Verſtand, der gegen jede pofitive Injtanz die negative aufruft. Woher anders fommt die Yeichtgläubigfeit und der Aberglaube der Leute, als aus diefem Mangel an kritiſchem Verſtande, aus diefer Nichtbeachtung der negativen Injtanzen, aus diejer feihten und faulen Befriedigung mit ein paar pofitiven be- fiebigen Fällen? Hätte man die negativen ebenfo gut gehört, fo würden fo viele Wunderdinge, die man unerflärlichen umd dämonifchen Kräften zufchreibt, nie geglaubt worden fein. Da fabelt man von hellfehenden Schlafwandlern, welche die Zu— funft weiffagen und treffen, von prophetifchen Träumen, die erfüllt worden u. ſ.f. Der leihtgläubige Verſtand, ſchon durch die ungewöhnliche und außerordentliche Begebenheit gefeſſelt, be- gnügt ſich mit dem einen, nicht weiter unterjuchten Falle, erzählt die Sache weiter, wird abergläubifch und macht Abergläubifche. Der fritifche Verſtand fragt: wo find die Schlafwandler, die nicht weifjagen, deren Weiffagungen nicht eintreffen? Ohne Zweifel würde man fie finden, wenn man fie fuchte, und eine einzige folche negative Inftanz würde hinreichen, aller Welt den Glauben an die Unfehlbarfeit folder Weiffagungen zu nehmen, alle Welt zu überzeugen, daß hier andere Kräfte im Spiele find als dämonifche oder gar göttlihe. Wenn jeder Glaube der Art, der fi) auf gewiſſe Fälle, auf gewiffe Erfahrungen be- ruft, die Fenerprobe der negativen Inftanzen bejtehen follte, die er erfahrungsmäßig bejtehen müßte, wie wenige würden dieje Probe aushalten! „Als man jemand‘, jagt Bacon, „in einem Tempel die Votivtafeln der Geretteten zeigte und dann mit der Frage zur Laſt fiel, ob er jett die gnädige Gottheit anerfenne, antwortete er ſehr richtig mit der Gegenfrage: aber wo jtehen die verzeichnet, die troß ihrer Gelübde im Sciff-

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bruch umgefommen find? Und diefelbe Bewandtniß hat es (fährt Bacon fort) mit jeglichem Aberglauben, den Stern- deutereien, Träumen, bedentungsvollen Wahrzeichen, Berhäng- niffen und was dergleichen mehr ift. Die Menfchen, die fi) an folchen leeren Dingen ergößen, bemerken immer nur die Fälle, wo die Sache zufällig eintrifft, die erfolglofen dagegen, obwohl fie bei weitem die Mehrzahl find, laſſen fie außer Acht. Am tiefften aber hat ſich diefes Uebel in die Wiſſenſchaften und die Philofophie eingejchlichen. Der menjchliche Berjtand hat einmal diefen eigenthümlichen und feitgewurzelten Irrthum: daß er ſich (den Hang zum Wunderbaren ganz bei Seite ges fetst) überhaupt mehr durch pofitive Inftanzen als durch nega= tive bejtimmen läßt, während er fi) dod) beiden mit gleicher Unparteilichfeit hingeben follte. Ja für die Aufftellung eines wahren Arioms ift die Bedeutung der negativen Inftanz alle mal größer als die der pofitiven.“*) Denn offenbar können hundert Fälle nicht beweifen, was ein einziger widerlegt.

Die negativen Inftanzen, welche Bacon methodifch geltend macht, bilden in feiner Philoſophie den kritiſchen Widerſpruchs— geift, die Bürgſchaft gegen alle leichtgläubige Empirie, gegen alles Leichtfertige Annehmen, mit einem Worte gegen alle Idole, vor denen die bloße Erfahrung nicht ſchützt, noch weniger der fich felbjt überlaffene Verſtand. Denn die bloße Erfahrung beachtet die negativen Inftanzen nicht, fie fammelt Fälle und macht daraus leichtfertige Axiome; noch weniger beachtet fie der fid) felbjt überlaffene Verſtand, der die Erfenntnig nur aus ſich ſchöpft ohne Rückſicht auf alle äußern Inftanzen: fo verfehlen beide die wirklichen Abbilder der Dinge. Dagegen

*) Nov. Org. I, 46. 2gl. De augm. scient. V, cp. 4. Op.p. 140.

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die kritiſche Erfahrung vereinigt den Reichthum der Erfahrung mit der Kraft des Berftandes, indem fie die Kinfeitigfeiten beider und darum deren Irrthümer vermeidet. Sie ſammelt, indem fie fichtet, und Handelt auf diefe Weife ebenſo erfahrungs- mäßig als verftändig: fie iſt rationelle, denfende, vernunftge- mäße Erfahrung. In diefer allein findet Bacon das Heil der Wiſſenſchaft, in der Vereinigung von Vernunft und Erfahrung, wie er das Elend der Wiffenfchaft in der Trennung beider er— blickt. „Wir wollen‘, jagt er in der Vorrede zu feinem Ge: ſammtwerk, „zwiſchen Erfahrung und Vernunft jene unfelige Scheidung aufheben, die alle menjchlichen Angelegenheiten ver— wirrt hat, und für ewige Zeiten eine wahrhafte und gejeß- “mäßige Verbindung ſtiften.“*)

So begreift Bacon feinen Standpunkt der Vergangenheit gegenüber als einen neuen und höhern, der die bisherigen jtarren Gegenfäte auflöft und vereinigt. Jene Gegenfäte waren unfruchtbar und mußten es fein. Mit ihrer Ber: einigung erjt beginnt die fruchtbare und erfinderiiche Willens ihaft. Im der bildlich treffenden Ausdrudsweife, die ihm jtet8 zu Gebot jteht und feine Schreibart auszeichnet, vergleicht Bacon die bloße Erfahrung mit den Ameifen, die nichts können als fammeln, den ich ſelbſt überlaffenen Verftand mit den Spinnen, die aus fich ihr Gewebe hervorbringen, die denfende Erfahrung, welche die feinige ift, mit den Bienen, die zugleich jammeln und fichten. „Alle, die bisjetst die Wiffenfchaften be- trieben haben, waren entweder Empirifer oder Dogmatiker. Die Empirifer find wie die Ameifen, die viel brauchbares Material zufammentragen, die Vernünftler wie die Spinnen,

*) Inst. Magna. Praef. Op. p. 275.

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die aus fich heraus ein Gewebe zufammenfügen, aber die Ver- nunft in der Mitte von beiden gleicht der Biene, die ihr Material aus den Blumen der Gärten und Wiefen zieht und diefes Material dann mit eigener Kraft fichtet und ordnet. Nicht unähnlich ift die wahre Arbeit der Philofophie, denn fie ſtützt fi nicht ausfchlieglicd oder hauptſächlich auf die Mittel des bloßen Verftandes, fie legt das durd Erfahrung gefammelte Material nicht im bloßen Gedächtniß nieder, fondern im Ber: Itande, nachdem fie den Stoff geformt und in ihre Herrſchaft gebradt hat. Darum müſſen, was bisher nicht gejchehen, Erfahrung und Vernunft ein feftes und unverlegliches Bünd— niß eingehen, um dem troftlofen Zuftande der Wiſſenſchaft ein Ende zu macden.”*) Der angefammelte Erfahrungsjtoff wird zur Wiſſenſchaft durch methodifche Bearbeitung; diefe Be- arbeitung befteht in der wahren Imduction, für welde der Erfahrungsftoff gleichfam das Hausgeräth ift, das fie ordnet und braucht, gleichfam der Wald, den fie fichte. Daher be- zeichnet Bacon die historia naturalis als „verae inductionis supellex sive silva“. **)

I. Das Erperiment.

Die Erfahrung auf ihrem Wege von der Wahrnehmung zum Axiom ift von zwei Gefahren bedroht: in der Auffaffung der Thatjachen wird fie beirrt durch die Sinnestäufhung; in- dem fie die Thatjachen auf Geſetze zurücführt, droht ihr der Trugſchluß. Sie bedarf daher, wie Bacon fo oft jagt, der

*) Nov. Org. 1, 95. Bol. als PBarallelftelle Cog. et Visa. Op. p. 596.

**) Parasceue ad hist. nat. Nr. II. Op. p. 421.

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Leitung. Das Weltgebäude ift ein LYabyrinth*); um es zu erforichen und fi) im Dunkel deffelben nicht zu verirren und zu verlieren, bedürfen wir den Faden der Ariadne, jenes „filum labyrinthi”, wie Bacon die Wegweifung aus dem Felde der Thatfachen in das der Urfachen zu nennen liebt. **) Gegen die Blendung der Sinneswahrnehmung fchütt die Be— rihtigung durd) Beobachtung und Verſuch, gegen die voreiligen falfhen Schlüffe die Beachtung der negativen Injtanzen, die fritifche Vergleihung der Thatjachen. In beiden Fällen wer- den die Bedingungen, unter denen die Thatſache wahrgenom— men wird, verändert, fowohl auf Seiten unjerer Wahr- nehmung als auf Seiten der Erjdeinung, und zwar werden fie nicht zufällig, fondern abfichtlich verändert, um aus dem Gebiete der Wahrnehmung den blos jubjectiven Eindrud, aus dem der Thatſache die blos zufälligen Umftände zu entfernen. Auf diefe Weife wird die Erfahrung auf ein bejtimmtes Ziel gerichtet, fie fommt nicht, ſondern wird gejucht: wenn jie von ungefähr kommt, ift fie Zufall; wenn wir fie ſuchen, beabfid)- tigen, anftellen, ift fie Berfuc oder Erperiment (experien- tia quaesita = experimentum). „Es bleibt nichts übrig“, jagt Bacon, „als die reine Erfahrung. Wenn fie uns Tommt, heißt fie Zufall, wenn wir fie ſuchen, Experiment. Dod hat diefe Art der Erfahrung Feine fejten Ziele, fie tappt umher, wie die Menjchen bei der Nacht zu thun pflegen, ob fie nicht zufällig den rechten Weg treffen. Sie wirden Flüger und befjer handeln, wenn fie den Tag erwarten oder Licht anzün— den und fid) dann auf den Weg machen wollten. Die wahre

*) Inst. Magna. Praef. Op. p. 274. **) Imp. phil. Op. p. 709 (scala intellectus sive filum labyrinthi).

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Erfahrung dagegen zündet zuerjt Licht an, dann zeigt fie mit dem Lichte den Weg, fie hebt an mit geordneten, gefichteten, wohlbedadhten Wahrnehmungen, zieht daraus ihre Ariome und aus den fejtgejtellten Ariomen neue Experimente. „Darum mögen fich die Leute nicht länger über die Dede in den Wifjen- ichaften wundern. Sie haben fih nah allen Kichtungen vom Wege verirrt, entweder haben fie die Erfahrung gänzlich ver- laffen oder ji) in der Erfahrung wie in einem Yabyrinthe verirrt, indem fie blind umhertappten. Die wahre Methode feitet auf ficherem Wege mitten durch die Wälder der Erfahrung in das offene Feld der Geſetze.“*)

Alſo nicht die bloße Erfahrung gilt, fondern die experimen— telfe, nicht der VBerfuch auf gutes Glück, in der Hoffnung auf diefen oder jenen Gewinn, fondern in Abficht auf wahre Erkenntniß: das entdedende Erperiment, die „lucifera experimenta”**), nicht das blinde Experiment, fondern das von dev Methode erleuchtete und ſicher geführte.

Diefer Begriff der experimentellen Erfahrung entfcheidet den Charakter der baconifchen Methode, wie diefe den Charaf- ter der baconischen Philofophie überhaupt. Mean hat neuer- dings in Frage, ja in Abrede gejtellt, da Bacon den Begriff des Experiments gehabt habe, eine Frage, die natürlich ganz unabhängig ift von der anderen, ob er die Kunſt des Experi— ments bejejfen, ob er jelbjt gute und wohlinftruirte Erperi- mente gemacht hat? Da er fi in diefer Kunſt verfucht Hat, jo ift die Frage aufzuwerfen, fie ift in der Hauptſache zu »erneinen, aber damit ift nichts über die Frage entjchieden, bei

*) Nov. Org. I, 82. **) Ebend. I, 99.

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der wir ſtehen. Windelman wirde diefelbe Bedeutung für die Erfenntniß der griehifchen Kunft haben, wenn ev jelbjt ein Ichlechter Bildhauer gewefen wäre, er war gar feiner; es thut dem Berdienfte Bacon's um die Erneuerung der Philofophie, um die Erfenntniß neuer Ziele und Bahnen nicht den min- deften Eintrag, daß er in der Ausübung feiner Methode wenig vermocht und nichts Erhebliches geleiftet. Sein Werk war die Aufjtellung, die Wegweifung, und wo er im Gefühl feiner Miſſion vedet, hat er ſelbſt nie etwas anderes beanjprucht. „Ich übernehme blos die Rolle des Zeigers‘, jagt er in dem Vorwort zu feinem Hauptwerf.*)

Erdmann verneint, daß Bacon in feiner Methode die Aufgabe und Bedeutung des Experiments richtig erkannt Habe, er habe fie nur geahnt; diefer Mangel gilt ihm als Haupt: grund, weshalb Bacon nicht an die Spike der neuern Philo- fophie zu ftellen, fondern nod zu den Männern der Ueber- gangszeit zu vechnen fjei. Das Experiment, jagt Erdmann, jei nicht bloße Erfahrung, jondern gehe aus auf Erfahrung. Genau dafjelbe jagt Bacon in der oben angeführten Stelle, nur daß er mit dem bloßen Suchen fich nicht begnügt, fondern geordnetes und methodifches Suden fordert. Das Experiment hat nad) Erdmann die Bedingungen zu entfernen, die zur Erfcheinung nicht nothwendig gehören, es läßt nur die wefent- lichen übrig. Genau dafjelbe fordert Bacon und es ift, wie wir ausführlich gezeigt haben, der Grundgedanke feiner ganzen Methode. Daher find ihm die negativen Injtanzen jo wid): tig. Aber, fo wendet Erdmann ein, er verhält fich dazu blos

*) Nov. Org. Praef. Op.p.278: „Nos indicis tantummodo per- sonam sustinemus.‘ gl. Nov. Org. I, 32.

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wahrnehmend, und die Abwefenheit gewijfer Bedingungen wahrnehmen, Heißt nicht fie veranlaffen.*) Er fucht andere Bedingungen auf, aber er felbit thut von ſich aus nichts, die gegebenen Bedingungen zu verändern durd) einen kunſtgerechten Eingriff in die Natur, durch eine naturfundige Dperation, welche Tettern erft das Weſen des Experiments ausmachen. Wer eine Erfcheinung unter andern Bedingungen ſucht, um zu erproben, ob die von ihm gefundenen aud) die wejentlichen find, um dieſe Frage an die Natur zu vichten, um von der Natur felbft und vor ihr allein ſich die Antwort zu Holeı, der ift Schon im Wege des Experiments, und es müßte jonder- bar zugehen, wenn er die Hände nur im Schoß behalten und nicht ſelbſt ans Werk legen wollte, um die Natur zur Antwort zu bewegen. Es müßte ein Gelübde fein, das ihn verhindert. Kin folches Gelübde hatte Bacon nicht abgelegt, und e8 war feineswegs feine Meinung, ſich der Natur gegen über nur contemplativ zu verhalten. So oft fagt er, daß zur Einfiht in die Natur die bloße Wahrnehmung, auch wenn fie mit den beiten Werkzeugen ausgeriüftet fei, nicht ausreiche, daß auch die feinſte Beobachtung, die nur zufieht, fih nur wahr: nchmend verhält, nicht fein genug fei, um die verborgenen Procefje der Natur zu ducchichauen, daß zu diefer Einficht der fundige Eingriff in die Natur felbjt gehöre. Ich gebe eine Stelle aus der Lleberfiht des Gefammtwerfs: „Zeugniß und Unterweifung der Sinne find ſtets nach menjchlicher Analogie, nicht nach der des Univerfums, und es ijt grundfalich zu be- haupten, daß der Sinn das Maß der Dinge fei. Um diefem

*) J. Erdmann, Grundriß der Gefchichte der Philofophie (2. Xufl.), I, 569.

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Uebelftande zu begegnen, Haben wir zur Berichtigung der Sinneswahrnehmung allerhand Hülfsmittel zu vereinigen ge- jucht. Und zwar fuchen wir diefen Schutz gegen die Täufchungen und die Wandelbarfeit der Sinne nit fowohl in Werf- zeugen, als in Verſuchen. Denn die Feinheit der Erperimente ijt weit größer als die der bloßen Sinne, auch wenn fie ausgerüftet find mit den beiten Inſtru— menten. Ich ſpreche von foldhen Experimenten, die unter dem Gejichtspunkte einer bejtimmten Frage kundig und Funft- gerecht ausgedacht und angewendet werden. Daher lege id) auf unjere eigene unmittelbare Sinneswahrnehmung fein großes Gewicht, jondern will die Unterfuchung jo geführt jehen, daß die Wahrnehmung über das Experiment, das Experiment über die Sache entjcheidet.‘*) Zwiſchen die finnliche Wahr- nehmung, ausgerüftet mit allen Werkzeugen, die fie berichtigen und verfeinern, und die fragliche Naturerjcheinung, um deren Erforfhung es ſich handelt, ftellt Bacon das Experiment, nicht beiläufig, jondern grundfäßlid. Das Erperiment findet ſich bei Bacon als ein wefentlicher Bejtandtheil feiner Methode genan an der Stelle, wo es Erdmann vermißt, und genau in der Bedeutung, die Erdmann ihm zuſchreibt. Bacon fordert grundſätzlich (d.h. bei ihm immer wegweifend) die Erfahrung durch Experimente und verwirft die Erfahrung ohne diejelben, er fordert die erperimentelle Erfahrung. Er hätte aud) jonft nicht jo häufig und nachdrücklich gefagt, das Ziel feiner Methode fer der Sieg der Kunſt über die Natur**); die bis- herige PhHilofophie kenne nichts Höheres als den Sieg über

*) Distributio Operis. (Die zweite nicht numerirte Seite der von

mir citirten Gefammtausgabe.) Vgl. Nov. Org. I, 50. **) Nov. Org. I, 117.

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Gegner durch Worte, die feinige wolle den Sieg über die Natur durch Werfe*), dort wird gefiegt im Disputiven, hier durch Erperimentiren. Man kann ein Object nicht befiegen wollen, wenn man ruhig vor ihm ftehen bleibt und es be- trachtet, man muß ſich mit ihm einlaffen und es zwingen. Diefer experimentelle Charakter feiner Methode läßt ſich nicht fürzer und treffender ausdrüden als mit Bacon’8 eigenen Worten: „Ich Halte die Induction für diejenige Be- weisart, welde den Sinn ſchützt und die Natur be— drängt.“**) An einer andern Stelle, nachdem er weitläufig über die Kunſt des Erperimentirens gehandelt Hat, charakterifirt er diefes Bedrängen der Natur in einem ſchönen und fprechen- den Bilde: „Wie man die natürliche Gemüthsart eines Men— chen nur erfennt und auf die Probe ftellt, wenn man fie er- regt und herausfordert, wie Proteus einjt feine Gejtalten nur wechjelte, wenn man ihm feilelte und gebunden fejthielt, fo offenbart fi) aud) die Natur weit deutlicher, wenn man ihr funjtgereht Zwang anthut, als wenn man fie frei ſich ſelbſt überläßt.““**“s) Die Natur gleicht diefem Proteus; die Gewalt, die ihr Funftgerecht angethan wird, ift das Experiment.

Daß alfo Bacon das Experiment in feiner ganzen Be— deutung erfannt, gewürdigt und die Erfenntniß darauf Hinge- wiejen habe, nicht blos als einen Weg unter anderen, jondern als den alleinigen Weg, der zum Ziel führt, jteht außer Zweifel. Auch darf man nicht fchlechtweg behaupten, daß er in dev

*) Distr. Operis (erfte Eeite). **) Ebend. „Inductionem enim censemus eam esse demonstrandi formam, quae sensum tuetur et naturam premit.' ***) De angm. scient. II, cp. 2. Op. p. 47. Bgl. de sap. vet. Nr. XIII. Proteus sive materia. Op. p. 1266 fig.

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eigenen Ausübung feiner Methode, wie wir fie oben kennen gelernt, das experimentelle Verfahren nicht ſelbſt angewendet, ſondern zu den gegebenen Thatſachen pofitiver und negativer Art fih nur wahrnehmend verhalten habe. Ob 5.3. die Strahlen des Mondlichtes auch wärmen, ift eine Frage, die unfere unmittelbare Wahrnehmung verneint, aber diefe Ant- wort genügt ihm nicht, es joll verfucht werden, ob durd) eine Goncentration der Mondftrahlen vermöge des ftärfiten Brenn- jpiegels nicht Wärme erfcheine, wenn nicht fühlbar, doch ther- moſkopiſch. Er fordert einen Verſuch, der die gewöhnlichen Bedingungen, unter denen wir das Mondlicht wahrnehmen, verändert und gefliffentlich jo verändert, daß die Wirkung ver- jtärft, die zu geringe Intenfität entfernt wird.*) Wenn Bacon in der Sammlung feiner Experimente, die jo reih ift an falfhen, rohen, mislungenen, jchlecht inftruirten Verſuchen, unter anderem die Frage aufwirft, ob die Luft fich zu einen fejten Körper verdichten und denfelben ernähren könne, und einen DVerfuch darüber anordnet, der mit Pflanzen gemacht wird, die frei aufgehangen wachen, der alle Bedingungen an- derweitiger Ernährung, jede Berührung mit einer andern er— nährenden Subjtanz ausſchließt und dann die Gewichtszu- nahmen jener Pflanzen prüft, um daraus zu jchliefen, daß aus der Luft Nahrungsitoffe in den Pflanzenförper aufgenom- men jind, jo wird man einem ſolchen DBerfahren bei allen Mängeln, die es hat, doch nicht die Anlage und Bedeutung eines Experiments abjpreden wollen und in dem gegebenen Fall jogar einräumen müffen, daß diefer Verſuch auf eine ſehr wichtige Entdeckung ausgeht. Daß die Pflanzen wirklid)

*) Nov. Org. II, 12. Nr. V.

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von der Luft leben umd deren Stoffe zu ihrer Ernährung brau- chen, ift eine Entdefung, die Bacon gejpürt, und nad) den Einfichten der neueren Chemie erjt Liebig in dem Streit über die Humustheorie zu Ende geführt hat.*)

Indeffen handelt es ſich gar nicht um den Werth oder Unwerth der von Bacon felbjt gemachten Verſuche, jondern nur um den methodologiſchen Werth des Erperiments in feiner Lehre. Und Hier, in dem Bilde zu reden, weldes Bacgı jelbft jo gern braucht, wollen wir gezeigt haben, daß die Hinweifung auf das Experiment fi) zu feiner Lehre verhält, wie der aus- geftredte Arm zum Wegweifer. Die Erperimente jelbjt laſſen ſich nad) den beiden Hauptzielen des baconischen Weges in zwei Arten unterfcheiden: die einen führen von der Wahr- nehmung zum Ariom, die anderen vom Ariom zur Erfindung, jene heißen „Lihtbringende“, diefe „fruchtbringende“, welche letzteren Bacon geringer fchätt, wenn fie blos auf Gewinn ausgehen, ohne von der Einficht in die Natur erleuchtet zu fein. **)

Schon die Beobadtung der Thatjache, die berichtigte und verfeinerte Sinneswahrnehmung ift nicht möglich ohne Werf- zeuge, deren Erfindung und Anfertigung nur zu Stande fommt durch Verſuche und Experimente. Es giebt daher neben den entdedfenden Experimenten zwei Arten erfinderifher: das Ziel der einen find Werkzeuge zur Erkenntniß, das der andern Werke zur Bermehrung der menſchlichen Herrſchaft. Zwifchen beiden fteht das lichtbringende Experiment, die Entdeckung des Geſetzes. Um an das baconifche Beispiel von der Wärme

*) Silv. silv. Cent. I, 29. Op. p. 760. Zu vgl. Bacon von Veru— lam befonders vom medicinifchen Standpunfte von Dr. 9.v. Bamberger (Wlirzburg 1865), ©. 15.

**) Nov. Org. I, 99. Bgl. oben ©. 149 flg. ©. 192.

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anzufnüpfen: e8 wird wahrgenommen, dat Wärme die Körper ausdehnt, daß bei ihrer Zunahme das Waſſer zuletzt verdampft, bei ihrer Abnahme zulett gefriert, daß alſo die verjchiedenen Wärmegrade des Waffers von diefen beiden Grenzpunkten näher oder weiter entfernt find; zur Unterfcheidung und Be— ſtimmung diefer Grade reicht unfere Wärmeempfindung nicht hin, es muß ein Werkzeug erfunden werden zur Meffung der Temperatur: die Aufgabe wurde gelöjt durch die Erfindung des Thermometers. Die Anfertigung, Herjtellung, Verviel— fältigung, Vervollkommnung diefes Inftruments giebt eine Ge— ihichte von Experimenten. Es wird wahrgenommen, daß der Drud der Luft die Entwidelung der Dampfblafen hindert, daß alfo zum Sieden des Wafjers bei größerem Drud mehr Wärme erforderlich ift als bei geringerem, daß daher auf hohen Bergen der Siedepunkt niedriger ſtehen müſſe als in der Ebene. Wie e8 fi) damit wirflih und genau verhält, fann nur ausgemacht werden durch Verſuche, augeftellt auf verjchiedenen Höhen, durch eine Reihe vergleichender Verſuche, deren Rejultat eine phyſikaliſche Einficht if. Hier iſt das Thermometer nicht Ziel der Erfindung, fondern Werkzeug zur Erfenntniß und als ſolches vorausgejeßt. So ijt die exrperi- mentelle Erfindung eines Iuftruments felbjt wieder die Be— dingung zur experimentellen Erforſchung eines Gefetes. Gilt der Sat: je höher der Ort, um fo geringer der Yuftdrud, um fo niedriger der Siedepunkt, jo darf man ihn umkehren: je niedriger der Siedepunkt, um fo geringer der Yuftdrud, um jo höher der Ort, und nichts hindert, das zur Wärme— meſſung erfundene Inftrument anzuwenden zur Höhenmefjung. Sollen Verſuche angeftellt werden unter gänzlicher Aus— ſchließung des Luftoruds, jo muß ein Inftrument erfunden Fiſcher, Bacon. 14

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jein zur Herftellung eines Iuftleeren Raums, wie die Luft- pumpe. Seben wir die Wahrnehmung voraus, daß der auf— jteigende Dampf die Yuft aus einem Gefäße vertreibt, daß dann in dem Luftdicht verjchloffenen Gefäß durch Abkühlung oder Verdichtung des Dampfes (Verminderung feines Volu— mens) ein Iuftleerer Raum hergejtellt wird unter dem Kolben, der das Gefäß nad oben luftdicht verfchließt, jo wird der atmofphärifche Kuftdrud den Kolben abwärts treiben, und es ift die Einfiht gegeben zur Erfindung der atmoſphäriſchen Dampfmaschine. Werden in der Fortbildung diefer Erfindung die Borfehrungen jo getroffen, daß nicht mehr eine andere Majchine, fondern der Dampf ſelbſt den Kolben aufwärts treibt und nicht mehr der atmofphärifche Luftdruck ihn abwärts bewegt, fondern der Dampf jelbjt, jo ift diefer als die be- wegende Kraft in die Mafchine eingeführt und die Grundform der eigentlihen Dampfmajchine erfunden, die fi) zu unſerm Zeitalter verhält, wie die Anwendung jener drei großen Er- findungen, die Bacon fo häufig anführt, zu feinem Zeitalter: diefe Erfindung Hat auch die Phyfiognomie der Welt umge- jtaltet und ift eines der größten Beifpiele jener fruchtbringen- den Experimente, die gemacht find in Abficht auf den menjch- lichen Nugen und zur Vermehrung der menjhlichen Herrſchaft.

Ich habe Beifpiele gewählt, die fich bei Bacon nicht finden fünnen, die aber ſämmtlich in der Richtung auf feine Ziele liegen und feines außerhalb feines Weges; fie follen hier dazu dienen, um jeine Unterfcheidung der Experimente deutlich zu machen und den Sat, der die Summe feiner Lehre enthält: daß richtige Beobach— tungen, wahre Entdedungen, nütliche Erfindungen nur gemacht werden können durch reine, völlig vorurtheilsfreie, durchgängig experimentelle Erfahrung.

Fünffes Kapitel, Die prärogativen Juftanzen als Hilfsmittel der Erkenntniß.

L Uene hülfsmittel. 1. Bacon's Mängel.

Es iſt immer wieder hervorzuheben, daß man in der Lehre Bacon's ein Syſtem weder ſuchen noch vermiſſen darf. Den Vorwurf dieſes Mangels würde ſich Bacon gern gefallen laſſen, er würde ihn umkehren und in ſeine Vertheidigung ver— wandeln. „Vielmehr“, ſo könnte er ſagen, „gehört es noth— wendig zu meiner Denkweiſe, daß ſie den Abſchluß nicht ſucht und nicht will; genug daß ich die nothwendigen Ziele bezeichne, den richtigen Weg angebe, ſelbſt ein Stück dieſes Weges ver— ſuche, Schwierigkeiten forträume, Hülfsmittel erſinne und das Uebrige den Geſchlechtern und Jahrhunderten überlaſſe; ſie werden weiter kommen, hoffentlich nie zu einem letzten Ziele. Es iſt genug, die Menſchheit in die Bahn fortſchrei— tender Bildung zu lenken, ſie mit den Hülfsmitteln auszu— rüſten, um ihr Wiſſen und damit ihre Herrſchaft zu erweitern; auf dieſer Bahn gewährt jeder Punkt einen Triumph, bildet jeder Punkt ein Ziel, und nach dem letzten Ziele als dem Ab— ſchluß aller Arbeit können nur ſolche ſuchen und fragen, te

14*

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in dem großen Wettlauf menfchlicher Kräfte nicht mit— jtreben!“

Nicht ein Syftem war feine Aufgabe, fondern das Seßen der "Ziele, die Richtung, die Wegweifung. Und fo wie Bacon diefe feine Sache erfaßt und empfunden Hat, mit diefer feuri- gen Gewißheit, daß fie die unmiderftehlich gewaltige, die

fiegreiche und fiegverfprechende ſei, fo Hat er, wie fein zweiter neben ihm, es vermocht, fie in das Bewußtfein der Welt zu erheben und hier zu erleuchten, nicht al8 eine Bejtrebung neben anderen, fondern als Ziel und Aufgabe der Menfchheit. Dies allein macht ihn zum Philofophen, ſowenig es ihn zum Natur- forfcher gemadt Hat. Nimmt man ihn als Naturforicher, der er nicht war, fo ijt er mit feinem der großen Naturforicher jeines Zeitalters zu vergleichen; nimmt man ihn als Philo- fophen, der die Geijtesrichtung, in welche die Naturwiſſenſchaft fällt, allgemein gemacht, dem Zeitalter vorgehalten und ein- geprägt hat, beides in unauslöfchlichen Zügen, fo vergleicht ſich feiner mit ihm. Ueberſieht man diefen Unterfchied, jo iſt es leicht, den Berg, welcher Bacon heißt, in einen Maulwurfs- hügel zu verwandeln, aber es ift darum nicht ebenjo leicht, uns zu erklären, warum die Welt Jahrhunderte lang am diefer Stelle einen Berg fah.

In einer Zeit, wo die Weltrichtungen fih ändern und eine neue Richtung durch die Arbeit vorgerüdter Geifter ſchon ihren Aufſchwung genommen hat, während fie noch mit vielen Hemmungen kämpft, ift die philofophifche Erleuchtung diefer Richtung als der allein mächtigen, der allein fiegreichen, eine gewaltige und entjcheidende That. Sie war Bacon zugefallen. Die Ueberzeugung von ihrer Nothwendigfeit durchdrang ihn völlig und ift vielleicht die einzige, die unter allen Wandlungen

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feines Yebens, bei aller Schwähe und Nachgiebigfeit feines Charafters feſt hielt und nie erfchüttert wırde. Hier liegt feine Stärke, die Macht, die er über feine Zeit ausgeübt hat und über die Gefchlechter, die ihm gefolgt find. Und wo die Stärfe ijt, da ſuche man, wie immer bei bedeutenden Menfchen, auch die wirflihen Mängel; der Mangel eines Syſtems hat mit Bacon’s Stärke nichts zu thun und iſt keine wirflihe Schwäche.

Ich fpredhe von den Mängeln feiner Methode, die zum Theil in deren nothwendiger Einfeitigkeit, zum Theil in ihm jelbjt liegen. Wir haben jolche perjünliche, durd) die Methode nicht verjchuldete Mängel jchon bei der eriten Einrichtung feines Weges erfannt, in der Art der Beitimmung und Ent: gegenfetung der Injtanzen.*) Ein zweiter unlengbarer Mangel, der ihm, nicht jeiner Methode zur Yajt fällt, ift fein Verhal- ten zu den hervorragenden Naturforfchern feiner Zeit. Kepp— ler's Entdedungen fennt er nicht, Harvey, wie es fcheint, ebenfo wenig, Galilei und Gilbert fennt und erwähnt er öfters, namentlich den letteren, aber fajt nur, um fie zu befümpfen. Er nimmt Gilbert gern als Beifpiel jener „empiriſchen Philo- fophie‘, die er verwirft, weil fie aus zu wenig Verfuchen zu viel herleiten wolle, und ftellt ihn mit den Alchymiſten zufam- men; er ift dem copernifanifchen Syitem abgeneigt und nimmt den erjten Beweggrund dejjelben, dag die Natur einfacher und regelmäßiger verfahre als bei der geocentrifhen Weltanficht und den Epichkeln der Planeten der Fall ift, dieſen erſten Stütpunft der copernifanifchen Hhpothefe von der Bewegung der Erde und den freisförmigen Bahnen der Planeten, für eine jener täufchenden Liebhabereien des menfchlichen Verftandes, die er

*) &, oben S. 185—87.

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zu den „idola tribus” vechnet.*) Es fcheint, daß ihm dieſes größte aller Beifpiele gegen die Wahrheit unferer Sinnes- wahrnehmung eine zu vernichtende Inftanz gegen die Erfennt: niß war, die nad) ihm den Ausgangspunkt und die Grundlage aller Erfenntniß bilden folltee Er weiß, daß unfere Sinne täufhen, daß ihre VBorftellungen unferer Natur, nicht der Natur der Dinge entiprechen, er fordert jtets, daß fie durch Inftrumente berichtigt werden, aber dabei jett er doc immer voraus, daß dieſe Berichtigung unſere Sinnesvorſtellungen nur genauer beſtimmt, nur mehr verfeinert, aber nicht völlig über den Haufen wirft. Wenn wir mit optiſchen Mitteln die Bewegung der Erde ſehen könnten, ſo würde Bacon ein Coper— nikaner geworden ſein. Um einzuſehen, daß ſich mit der Wahr— heit des copernikaniſchen Syſtems unſere entgegenſetzte Sinnes— wahrnehmung vollkommen verträgt, hätte er unterſuchen müſſen, was er vorausſetzt: das Erfenntnißvermögen der Sinne. Wie fritifch und vorfichtig er auch verfährt, die Quellen der Sinnes— erfenntnig ſelbſt unterjucht er nie; er ftellt zwifchen unfere Wahrnehmung und die Objecte das künſtliche Beobachtungs— werkzeug und den Verſuch: das Erperiment foll über die Sadıe, der Sinn über das Erperiment entjcheiden, jo erſcheint die Sinneswahrnehmung doch als die lette, zwar zu läuternde, aber unerforfchte und ungeprüfte Quelle aller wirklichen Er— fenntniß. Um Galilei’8 und Keppler’s Unterfuchungen würdi- gen zu können, hätte Bacon eine tiefere Kenntniß der Mechanik und dazu eine mathematiihe Bildung nöthig gehabt, die ihm fehlte; jogar die Einfiht in den Werth der Mathematif ging ihm ab, und wenn er auch gelegentlich einmal fagt, daß durch

*) Nov. Org. I, 64. 45. II, 36.

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Mathematik die Phyfif am meisten gefördert werde *), fo fteht diejes Wort vereinzelt da und trägt feine Früchte, Er hat bei aller Stepfis den Standpunkt der natürlichen Sinneswahr- nehmung fo naiv gelten Laffen und fejtgehalten, daß ihm die mathematifchen Dbjecte als Fünftliche Abftractionen, und die copernifanifche Aſtronomie als eine verdächtige Hypotheſe er:

ſchien.

2. Die letzte Aufgabe des Organons.

Don der Sinneswahrnehmung beginnt der Weg der Indue— tion, der durch Beobachtungen und Verſuche zur Erkenntniß der Gefete und durch deren Anwendung zu den Erfindingen führen foll, die das Neid) und die Herrfchaft des Menfchen erweitern. Die Richtung ijt gegeben, die Hauptjtationen find bezeichnet, alles übrige ift noch unbejtimmt. Jeder Schritt fann in die Irre führen, daher ift eine durchgängige Leitung, ein Gängeln von Schritt zu Schritt, eine Reihe befonderer methodijcher Mafregeln nothwendig, die Bacon als die Hülfs- mittel des Berftandes „auxilia intellectus‘ bezeichnet, und deren Nachweiſung die lette Aufgabe des Organons ausmacht. Hier foll gezeigt werden, welche Fälle vor allem zu beachten, wie die Induction zu unterjtügen und zu berichtigen, wie die Unterfuhung vorzubereiten, zu ordnen, zu verändern, zu be— grenzen, wie die Anwendung der Gefete zu machen und von der theoretifchen Phyſik zur praftifchen fortzufchreiten fei. Da num bei jeder neuen Entdeckung und Erfindung eine Reihe phyfifalifcher Sätze vorhergeht, jo muß das lette und wichtigite Hülfsmittel die jtufenmäßige Ordnung der Ariome felbit fein,

*) Nov. Org. II, 8. Bgl. unten Cap. X, 4.

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gleihjam eine Stufenleiter derjelben nad) aufwärts und ab— wärts.*) Es find neun Arten der Hülfsmittel, die Bacon aufführt, er Hat nur eines davon, das erite, näher behandelt; jo ift das Organon unvollendet geblieben, nicht aus Zufall, auch nicht weil andere Arbeiten ihn gehindert hätten, er Hatte Muße und feine Arbeit Fonnte ihm wichtiger fein als die Vollendung diejes feines Hauptwerfs. Er lieh es liegen und ging in den „Wald der Wälder”. Daß diefer Abjchluß dem MWerfe fehlt, iſt kaum zu beflagen, e8 würde in der Sade winig gewonnen haben und innerlich nicht mehr vollendet fein als es iſt. Der Weg der Imduction läßt fi nicht von An— fang bis zu Ende mit guten Rathſchlägen pflaftern und zu einer Wunderjtraße machen, auf der nie ein Fuß ftrauchelt. Die leitenden Grundgedanken hatte Bacon ausgefprodhen, fie fehren in feinen verjchiedenen Schriften immer wieder, häufig in derjelben Form, und wenn er das obige Negifter ausgeführt hätte, jo würde er fie wiederholt haben, ohne etwas wejentlich Neues zu geben. Darum nehmen wir aud) das Organon, mit der Gejtalt verglichen, die Bacon ihm geben konnte, feines- wegs für fo unvollendet als es äußerlich jcheint. Das richtige Gefühl, die Sache im Speziellen nicht weiter führen zu kön— nen, mag Bacon gehindert Haben, an die legten Ausführungen zu gehen, und am Ende mochte es ihm gerathener fcheinen, die Erwartungen zu fpannen, als zu täufchen. Auch das ift unter jeinen perfönlihen Mängeln einer, den wir nicht unbemerkt lafjen. Jedem Neuerer, je umfaffender feine Aufgaben find, liegt die Gefahr um fo näher, mehr zu verfpredhen als er leiftet, und den Schein einer peinlichen und pedantifchen Gründ-

*) Nov. Org. II, 21.

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lichkeit mit großjprechenden Verheißungen auf feltfame Weife zu mifchen. Es ift jchwer zu fagen, wo hier die Selbft- täufhung aufhört. Der Speifezettel wird größer als die Küchenvorräthe, das Schaufenster glänzender als das Waaren- lager, und es joll nicht zur Entfehuldigung, fondern nur zur richtigen Beurtheilung dienen, wenn wir hinzufügen, daß cs mehr Beifpiele als Bacon giebt, in denen die Kraft der Neuerung durch ein zu reges und ehrgeiziges Selbitgefühl ver- führt wurde, auf ſolche Weije ihr Maß zu überfchreiten. Das Schlimmſte ift, daß dadurch die Sache verunftaltet wird und an ihrer Einfachheit Schaden leidet.

1.

Die prärogativen Inftanzen. 1. Mangel der Methode.

Unter den Hilfsmitteln, die Bacon nennt, ift das erfte und allein ausgeführte auch das hauptſächlichſte. Hier gilt es Abhülfe zu finden gegen einen wirklichen und augenfälligen Mangel der Methode, die auf rein inductiven Wege, wie wir ihn kennen gelernt, die Vorgänge der Natur erkennen, die Geſetze entdeden, die Axiome feftjtellen foll. Der vorgejchrie- berre Weg geht durch die unausgefette Beachtung der nega- tiven Iuftanzen. Hier erheben fich gegen die Möglichkeit, das Ziel zu erreichen, zwei Schwierigkeiten.

Die negativen Inftanzen beachten, heißt noch lange nicht fie erſchöpfen, und erſchöpft müffen fie fein, wenn das Ariom feititehen fol. Es darf dagegen feine negative Inftanz mehr zeugen, fie darf, wie Bacon ausdrüdlich jagt, „nachweislich

218

nicht mehr vorhanden fein.*) Nicht genug aljo, daß man feine widerfprechenden Thatſachen mehr findet, man muß auch be= weijen können, daß es Feine mehr giebt. Dieſen Beweis kann die Erfahrung nie führen, fie kann nicht einmal behaupten, geichweige denn beweifen, daß in irgend einem Fall die con= tradictorifche Inftanz unmöglich ſei. Denn die. Natur ift reicher als die Erfahrung. Mit Recht verlangt Bacon, daß die Wilfenfchaft nah Ariomen trachten, und daß dieſe gelten müffen im Sinne der jtrengen Nothwendigfeit und Allgemein heit, die jede Ausnahme verbietet. Aber eben dieje ftrenge Allgemeinheit läßt fi auf dem Wege der bloßen Erfahrung nie volljtändig, fondern nur annäherungsweife erreichen. Durd) die. Methode der Induction find die negativen Inftanzen nie mals bis auf die Nagelprobe zu erjchöpfen.

Aber auch die Beachtung derfelben hat ihre Schwierig- feit. Sie befteht in der forgfältigen Vergleichung der pofiti- ven und contradictorifchen Fälle. Solange num diefe Fälle gleich- berechtigt find, müſſen ſehr viele gefammelt fein, muß ſich die genaue Vergleichung durch eine lange Reihe derjelben fortge- jet und wiederholt haben, bevor man zu einem Schluß von den Thatfachen auf das Ariom auch nur den erjten Verſuch wagen darf. Hier fommt alles an auf die Ausjcheidung der zufälligen Bedingungen. Und eben dazu ift die Vergleichung jehr vieler Fälle, alfo viele Zeit und viele Mühe nöthig. Ein Schluß aus wenigen Fällen hat offenbar die negativen In— ſtanzen mehr zu fürchten als ein Schluß aus vielen. In der Zahl der verglichenen Fälle liegt hier die einzig mögliche Bürg— ihaft gegen das Vorhandenfein widerfprechender Thatſachen.

*) Cog. et Visa. Op. p. 597. Vgl. oben ©. 195.

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Hier liegt die Schwierigkeit in der Breite des erforderlichen Materials, in der langen, umftändlichen, zulett unfichern Ver- gleihung. Die Sichtung erleichtern heißt fie verkürzen, die zufälligen Bedingungen fchneller fenntlich, die wejentlichen leich— ter überfichtlich machen oder, wie fid) Bacon ausdrüdt, in die Enge treiben. Dies kann nur gefchehen, wenn fich die vielen Fälle auf wenige zurückführen laſſen, wenn ich ftatt vieler nur wenige zu beobachten brauche. Aber mit welchem echte ijt dies möglih? Solange ein Fall fo beadhtungswerth ift als der andere, folange in diefer Nückficht die Fälle gleichbered)- tigt find, leuchtet ein, daß deren immer viele fein müſſen, um mit einigem Erfolge verglichen zu werden. Wenn ſich aber Fälle finden, deren einer foviel gilt als eine Reihe anderer, jo werden wir jtatt diefer vielen mit Necht jenen einen betrach- ten und unfer Nefultat foviel jchneller erreichen. Solche Fälle find unferer Betrachtung würdiger, fie find in diefer Rückſicht mehrberechtigt als andere und haben durch ihre Beichaffenheit gleichſam ein natürliches Prärogativum. Deshalb nennt fie Bacon prärogative Injtanzen. Ohne Zweifel giebt es Fälle, in denen fid) ein gegebenes Naturphänomen veiner und unge— mifchter darftellt al8 in andern, offenbar laſſen fich hier die zufälligen Bedingungen jchneller ausfondern, weil weniger da find, umd darum die wejentlichen leichter und deutlicher erfen- nen. Die prärogative Inſtanz erleichtert meine Sichtung, denn fie zeigt mir wie auf einen Blick die wahre Differenz, die wirkende Natur, das Gejet der Erfcheinung. Was ich fonft aus einer Menge von Fällen durd eine lange Vergleichung mühſam zufammenjuchen muß, finde id) hier in einer einzigen Erjcheinung beifammen.

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2. Die baconiſche Anordnung.

Das ift der wahre, auch von Bacon bejtimmte Begriff der prärogativen Inftanz, und wenn er ihn feitgehalten hätte, fo würde feine Lehre einfacher und befjer ausgefallen fein als jet, wo er eine feiner beliebten Tabellen daraus gemacht hat, die fiebenundzwanzig Arten prärogativer Inftanzen aufführt *), darunter folche, die nicht Erkenntnißobjecte, fondern Erkennt— nigwerfzeuge find, und wieder andere, die nichts mit der Er— fenntniß zu thun Haben, jondern technifchen Zwecken dienen. Unter feinen Händen ift die Theorie der prärogativen Inſtan— zen von ihrem Wege abgefommen und zu einem Spielraum geworden, auf dem Bacon eine Menge Bemerkungen und Ein- fülfe, darunter bedeutfame und werthvolle, ausgejtreut Hat. Er verfucht zulett alle diefe Fälle unter allgemeine Gefichts- punkte zu ordnen, die theils auf Erkenntniß, theils auf praf- tiſche Ziele gerichtet find. In Rückſicht auf die Erfenntnif werden folche Fälle hervorgehoben, die vorzüglich geeignet find, die finnlihe Wahrnehmung zu berichtigen, die Verftandesein- jiht zu erleichtern, den Standpunkt zu erhöhen, die Weltan- jicht zu erweitern, von der herfümmlichen und gewohnten Vor— jtellungsweife abzulenken, gegen falfche Annahmen zu fchüten.**) Die erjten fünf Fälle erfcheinen jeder für fich, die folgenden fünf gruppirt, die nächjten fünf wieder vereinzelt, die folgenden fünf wieder gruppirt, ebenfo die letzten fieben. Dabei fpielt er mit den Namen feiner Injtanzen, als ob diefe magifche Schlüſſel wären, welche die Geheimniffe der Natur öffnen: „die Inftanzen der Macht, des Bundes, des Kreuzes, der

*) Nov. Org. II, 22—52. **) Ebend. II, 52.

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Pforte, der Tadel, die magiſchen Inftanzen u. ſ. w.“ In— dejfen geht alles nmatürlid) zu, und Bacon weiß wohl, daß Geſchwindigkeit Feine Hererei, aber eine Hauptbedingung der jogenannten magiſchen Experimente ift.*) Unter den Inftan- zen der Fackel**), die mit denen der Pforte beginnen, finden wir jtatt Thatjachen Inftrumente, die zwar zur inductivem Beobachtung jehr wichtig find, aber doch nicht unter den Be— griff der Fälle gehören, wie Mikroſkop, Teleſkop, Aftrolabium, Thermoffop, daneben die telegraphiichen Zeichen, die feine naturwiffenichaftlichen Inftrumente find, daneben Symptome, die nichts mit Inftrumenten gemein haben. |

Bacon hat wiederholt eine Gefhichte der Erfindungen gewünscht als eines der unftreitig lehrreichſten Mittel zur Ein- ficht in den Erfindungsproceß. Auch hier kehrt diefe Forderung wieder unter dem Namen „„Inftanzen der Macht“. Aber da es fi) hier um natürliche Thatſachen von hervorragender Be- deutung handelt, jo find diefe Inftanzen nicht am Ort, und Bacon jelbjt weiß nicht recht, welche Stelle fie haben, ob fie zur Belehrung oder zur Erfindung dienen follen. Aufgeführt find fie in der Gruppe folcher Fälle, die vorzüglich geeignet fein follen, den Verjtand zu orientiren, dagegen im Rückblick nimmt fie Bacon aus diefer Gruppe heraus und jtellt fie unter den technifchen Gefichtspunft. ***)

Da Bacon die inductive Methode auf alle Objecte aus- dehnt, jo ijt ihm fein Vorwurf daraus zu machen, daß er unter den natürlichen Thatſachen auch piychiiche Vorgänge erwähnt und 3.3. das Gedächtniß befonders aus den Mitteln er:

*) Nov. Org. II, 38 flg. **) Ebend. II, 46. ***) hend. II, 31. Val. 52.

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fennen will, die es vorzugsweifeunterftügen, weshalb er dieje Ge— dächtnißmittel als Beifpiel einer prärogativen Inftanz anführt.*)

Die natürlihen Thatfahen im engeren Sinn find die Eigenfchaften, Beränderungen, Bildungen der Körper. Die Beränderungen find Bewegungen, Kraftäußerungen, die Bacon unter dem Namen der „Inſtanzen des Streites“ zu unterjchei- den fucht; diefe Tafel der Bewegungsarten giebt er als eine „Skizze der Naturwiffenfchaft‘‘.**) Die Bewegung wird be- ftimmt durch Meffung ihrer Raum- und Zeittheile: dies for- dern „die mathematischen Inftanzen“.***) Es Tann die Frage entjtehen, ob Körper und Kraft trennbar feien, ob die Kraft- ünßerung unabhängig vom Körper ftattfinden Fünne? Fälle, die zur Beantwortung diefer Frage prärogative Bedentung haben, nennt Bacon „Inſtanzen der Scheidung“. Er giebt als bedeutjames Beifpiel die Wirkfamkeit in die Ferne, die Anziehung der Körper. Iſt diefe Wirkſamkeit thatſächlich, To findet fie in Orten jtatt, wo der Körper nicht ift, alſo unab- hängig vom Körper, fo giebt c8 Wirffamfeit ohne Körper, alſo unförperlihe Subftanzen, da dod) feine Wirkſamkeit ohne Träger gedacht werden kann.)

Es fei eine Veränderung, die zunächſt verfchiedene Er- flärungsarten erlaubt, von denen nur eine die richtige fein kann. Die Frage der Unterfuchung fteht hier an einem Punkt, wo ſich verjchiedene Wege kreuzen: Bacon nennt hervorragende Fälle diefer Art „Inſtanzen des Kreuzes“. in folder Fall 3. B. iſt die Erflärung der Ebbe und Fluth. Entweder er-

*) Nov. Org. II, 25. Bgl. unten Cap. XII, N. II, 3. **) hend, II, 48. ***) Ebend. II, 44—48.

7) Ebend. II, 37.

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fläre fich diefer Wechfel aus periodifchen Zufluß und Abfluf, oder aus periodifcher Hebung und Senkung des Meeres; im eriten Fall gefchehe die Bewegung entweder wie in einem ichwanfenden Beden, fodaß auf der einen Seite der Zufluß und gleichzeitig auf der entgegengefeten der Abflug jtattfinde, oder der Zufluß fei gleichzeitig auf beiden Seiten und erfolge dann durch Einftrömung von außen. Gegen die gleichzeitige Ebbe und Flut auf den entgegengefegten Ufern dejjelben Meeres ſprechen Thatjachen, gegen die Möglichkeit der Ein- ſtrömung von außen ebenfalls. Alfo bleibe die Hebung ud Senkung, die nicht durd) Vermehrung und Berminderung der Maſſe, and nicht durch Ausdehnung und Zufammenziehung erffärt werden könne, alfo feinen anderen Erflärungsgrund übrig laſſe als die magnetiſche Anziehung.*) Den wahren Erflärungsgrund fand Bacon nicht und konnte ihn bei feiner Befangenheit gegenüber den aftronomifchen Thatſachen nicht finden. Ein zweites Beifpiel ift der Fall der Körper. Ob die Anziehung der Erde die Urſache de8 Falles jei? Dit fie die Urfache, jo müßte der Körper, je näher der Erde, um fo ſchwerer fein, je ferner, um jo weniger ſchwer, jo müßte diefer Unterfchied an der Pendelbewegung, alfo an der Uhr wahr: genommen werden, deren Gang auf der Höhe eines Thurmes langfamer fein werde als in der Tiefe der Erde. Hätte Bacon die Achjendrehung der Erde eingeräumt, fo hätte er Schließen dürfen, daß die Schwere der Körper abnimmt, je größer die Breitenfreife werden, und er hätte hier das Mittel gefunden, wie man diefe Abnahme mißt: durch die Modifica— tion der Pendelbewegung (worin fpäter erft Newton eine Folge

*) Nov. Org. II, 36. Vgl. De fluxu et refluxu maris. Op. p. 639—50.

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der mit den Breiten wachjenden Gentrifugalfraft, einen Be- weisgrund für die Achſendrehung der Erde erkannte. *)

Daß die Natur ihre Arten nicht trennt, jondern durch Mittelbildungen von einer zur andern continuirlich fortgeht, dafür zeugen in prärogativer Weife die jogenannten „Grenz⸗ inſtanzen“**) oder Uebergangsformen, unter deren Beiſpielen der anthropomorphe Affe nicht unerwähnt bleibt. Daß manche Thiere intelligent handeln, iſt ein Beiſpiel für die „Inſtanzen der Vereinigung“, die gewiſſe Eigenſchaften, die man zu tren— nen pflegt, wie menſchliche Intelligenz und thieriſche Geſchick— lichkeiten, in augenſcheinlicher Verbindung darthun.***)

3. Die beſchleunigte Induction.

ALS Bacon an dem Beifpiel der Wärme die Anwendung jeinev Methode zeigen wollte, hatte er zwar eine Menge ein— ſchlagender Thatfachen in drei verfchiedenen Tabellen aufgeführt, zuleßt aber aus wenigen Fällen, die er felbjt „hervorleuchtende“ nannte, die wejentlihen Bedingungen gefammelt.7) Diefe Fälle find ſchon prärogative Inftanzen im eigentlichen und richtigen Verſtande. Auch geht Bacon unmittelbar von hier zu feiner Lehre von den prärogativen Inftanzen über, die er dann ungebührlid) erweitert. Im der einfachen und urfprüng- lichen Bedeutung ſolcher Fälle, dag fie nämlich hervorleuchtende und darum bejonders beachtenswerthe Thatſachen find, Tiegt dev Werth ihrer Leiftung. Sie bejteht darin, daß die richtige

*) Nov. Org. II, 36. **) Ebend. II, 30. **) Ebend. II, 33. 7) ©. oben ©.188. Nov. Org. II, 20. Bacon felbft bezieht fich auf dieſe Stelle zurück II, 24.

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Beachtung derjelben den Gang der Induction abkürzt und da- durch bejchleunigt, daß hier auf einen Bli eine Menge un— wejentlicher Bedingungen, wenn nicht alle, ausgejchloffen find; Thatſachen, welche diefem Zweck entfprechen, diefem Bedürfniß der inductiven Unterfuhung entgegenfommen, find in Wahr- heit prärogativ.

E8 ſei z. B. die Erfcheinung dev Farben, die wir an fehr verfchiedenartigen Körpern wahrnehmen, Steinen, Metallen, Blumen, Hölzern u. ſ. w. Giebt es nun Erjcheinungen, die mit den angeführten nichts gemein haben als Farben, fo er- fennen wir hier das Phänomen der Tetteren am veinften, am wenigjten mit anderen Zuthaten vermiſcht. Solche Er- Iheinungen find Thautropfen, Kryjtalle, vor allen das Prisma oder Farbenfpectrum. In diefer vor allen übrigen hervorftechen- den Erfcheinung, in diefer Thatſache einzig in ihrer Art, die Bacon deshalb unter die Fälle rechnet, die er „instantiae solitariae” nennt (es find die erjten, die er anführt), ent- det jich Leicht, daß die Farbe nichts anderes iſt als „eine Modification des Lichts durd die verfchiedenen Grade des Einfalls‘“.*)

Am Prisma fehen wir, wie die Farben entjtehen, und erfennen daher weit offener und leichter ihre Bedingungen, als da, wo fie wie inhärente Eigenfchaften ericheinen. Deshalb läßt Bacon gleid) an der zweiten Stelle als prärogative In— ſtanzen ſolche Thatjachen überhaupt gelten, an denen wir eine Eigenschaft in ihrem Entſtehen oder Vergehen beobachten kön— nen, und nennt fie „„instantiae migrantes“, nur daß feine Beifpiele weniger glücklich gewählt find.**) Goethe Hat in

*) Nov. Org. II, 22. **) Nov. Org. II, 23. Fiſcher, Bacon. 15

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feinen Materialien zur Geſchichte der Farbenlehre auch Bacon’s gedacht, aber die obige merkwürdige Stelle nit gekannt, ſonſt würde er fie angeführt Haben. Ueberhaupt muß ihm die baconiſche Theorie der prärogativen Inftanzen entgangen fein, ſonſt hätte er von Bacon nicht jagen Fönnen, „daß ihm in der Breite der Erfcheinung alles gleich) war“. Er verfennt und unterjhätt die baconifhe Methode, die er mit der ge- meinen Erfahrung auf gleihem Fuße behandelt, und ihr ſchuld— giebt, daß fie die Menfchen auf eine grenzenlofe Empirie hin- gewiejen habe, „wobei fie eine ſolche Methodenſcheu empfanden, daß fie Unordnung und Wuft als das wahre Element anfahen, in welchem das Wiſſen allein gedeihen könne”. Bacon’s Er: klärung der Farben, die er beifpielsweife und beiläufig giebt, enthält einen Gedanken, mit dem fich Goethe Hätte befreunden fünnen. Newton”, jagt Goethe, „ſcheint vom Einfadhen aus- zugehen, indem er fich blos ans Licht halten will, allein er jetst ihm Bedingungen entgegen jo gut wie wir, nur daf er denjelben ihren integrivenden Antheil an dem Hervorgebrachten ableugnet.“ Diefen integrivenden Antheil des brechenden Me— diums läßt Bacon gelten, indem er das Prisma von den farbigen Körpern abjondert und von der Farbe fagt, fie fei „modificatio imaginis lucis immissae et receptae, in priore genere per gradus diversos incidentiae, in posteriore per texturam et schematismos varios corporis“.*)

In den prismatifchen Erfcheinungen liegen die wejentlichen Bedingungen der Farbe am Tage. Andere Fälle find dadurd) prärogativ, daß fie die umwefentlichen Bedingungen fofort er-

*) Nov, Org. U, 22. Bgl. Goethe’s ſämmtliche Werte, XXIX, &. 89, 93. XXVII, ©. 293 fg.

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fennbar machen und alfo deren Ausſchließung bejchleunigen. Bacon nennt fie „instantiae ostensivae”. Es handle ſich 3. B. um die Bedingung, von der die fpecififchen Gewichte der Körper abhängen, ob etwa Eigenfchaften, wie Feſtigkeit oder Härte, dabei maßgebend fein können, fo genügt eine flüffige Subjtanz, die jo viele harte und feſte Körper an ſpecifiſchem Gewicht weit übertrifft, um auf das dentlichjte zu zeigen, daß jene Eigenfchaften nicht in Betracht fommen, vielmehr die wefentliche Bedingung der fpecififchen Schwere in der Dichtig— feit (Menge der Theile bei gleichem Volumen) zu fuchen fei. Das Quedjilber, fo viel fchwerer als Diamant und Eifen, als ſämmtliche Metalle, ausgenommen Gold (und Platina, wie Bacon nicht Hinzugefügt hat), ift ein vortrefflihes Beifpiel einer ſolchen oftenfiven Inftanz.*)

Das Ziel der methodischen Erfahrung ift die Erfenntniß im größten Umfange, die Einficht in den Zufammenhang, die Berwandtichaft und Einheit der Dinge. Dieſem ächt wiſſen— ichaftlihen Triebe war Bacon feineswegs fremd, er hatte ihn jo gut wie jeder große Denfer, er behielt die Erfenntniß des Ganzen als letztes Ziel der Naturwiffenfchaft ſtets vor Augen, nur jollte fie nad) feiner Meinung durch Bienenarbeit, nicht als Spinnengewebe erreicht werden. Die Induction geht von der Wahrnehmung zum Ariom, von der Thatſache zum Gejet, fie hat den natürlichen Trieb, nachdem fie einige Thatſachen erflärt Hat, deren mehr zu erklären, den Umfang ihrer Gefeße zu erweitern und ihre Ariome im ftetigen Fortichritte zu ver- allgemeinern. Das allgemeinfte Ariom ift das der ganzen Natur, das größte Gefeß ijt die Erflärung aller Erfheinungen.

*) Nov. Org. U, 24. 15*

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Wie jedes Geſetz die Einheit gewiſſer Erfcheinungen ausdrüdt, jo begreift diefes größte Gefet die Einheit der gefammten Natur oder das All-Eine, die „unitas naturae”. Diefes Ziel hält Bacon der Wiſſenſchaft vor, darauf richtet er ausdrüd- lic) feine Methode. Er jett die Einheit der Natur nicht in einem Principe voraus, ſondern will diefelbe aus der Natur jelbjt erfennen, aus ihren Erfcheinungen ſchließen. Gleich Spinoza fieht er in den Dingen natura, naturata, der als wirfende Kraft die natura naturans zu Grunde liegt; diefe gilt aud) ihm als die Duelle aller Dinge, als unitas naturae. Wäh- vend aber Spinoza aus der natura naturans die naturata deducirt, will Bacon umgefehrt aus der naturata die natu- rans induciren. Er ſucht deshalb nad) Erfcheinungen in der Natur, die auf die Einheit des Ganzen Hinweifen, Gefichts- punfte in die Einheit der All-Natur eröffnen und fo den Schluß der Induction unterftüßen. Giebt es folche Erfcheinungen, die mehr als andere die Einheit de8 Ganzen ahnen laſſen, jo fejleln fie als prärogative Inſtanzen unfere auf das Ganze gerichtete Aufmerkſamkeit. Es leuchtet ein, welcher Art dieſe wichtigen Fälle fein müfjen: es find die hervorftechenden Aehn- lichkeiten in den verfchiedenen Bildungen der Natur, die be— deutfamen Analogien, die ung die einmüthig wirfende Natur- fraft vor Augen rüden. Hier ftellt Bacon die Induction unter den Gefihtspunft der Analogie, d.h. er macht die naturwifjenjchaftliche Unterfuchung aufmerkfam auf die Verwandt: ihaft der Dinge, indem er fie auf die Einheit des Ganzen wendet.*) Er zeigt gleichfam die Familienähnlichkeiten in der

*) Inter praerogativas instantias ponemus sexto loco instantias con-

formes sive proportionales, quas etiam parallelas sive similitudines physicas appellare consuevimus. Nov. Org. II, 27.

229 Natur, um den Stammbaum der Dinge auszufpähen bis in feine Wurzelir.

In dem Auffuchen der Analogien offenbart fich ein charaf- teriftifher Zug des baconifchen Geiftes. Um die Induction unter den Gefichtspunft der Analogie zu ftellen, müffen die Achnlichkeiten entdeckt und richtig wahrgenommen fein; diefe Entdeckung macht nicht die Methode, fondern das Auge des For- ſchers, die Methode folgt der Entdeckung, nachdem fie gemacht ift. Auch ift es nicht die bloße Wahrnehmung mit ihren finn- lichen oder Fünftlichen Werkzeugen, wodurd die Analogien ent- deeft werden, jondern der weiterdringende Geift. Die bedeut- ſamen Analogien find die innern, geheimen Aehnlichkeiten, die nicht auf der Oberfläche der Dinge liegen, welche den bloßen Sinn jtreift; der jpeculative Sinn, das Talent des Forſchers muß fie juchen, der Zact, der das Talent begleitet, muß fie treffen. Beides läßt ſich methodifch bilden, aber nicht geben. Jede treffende Analogie it ein richtige Kombination, die allein durch den finnigen Verftand gemacht wird. So geſchickt Bacon ist, mit foldyen eindringenden und überrafchenden Combinationen feine Methode zn unterftügen, jo behutfam möchte er den combinationsluftigen Verſtand mit Hülfe des methodischen Geiftes zügeln. Ic will nicht behaupten, daß Bacon ſelbſt diefe Grenze eingehalten habe, daß alle feine Analogien auch immer jo treffend waren als fühn und finnig, aber er war fic Klar über die Tragweite und den wiffenfchaftlichen Werth der Ana- logie. Er fuchte das Gleichgewicht zwifchen feinem Genius und jeiner Methode, fein Geift lebte in einer beftändigen Wechjelwir- fung beider. Noch bevor er ſelbſt jeine Analogien vorbringt, als Beifpiele, die er im Vorübergehen Hinwirft, mäßigt er durd) richtige Grenzen die Bedeutung und den Gebrauch derjelben.

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Man joll fie nicht als Ariome zur Erfindung, jondern als Wegweiſer nehmen, die auf die Einheit des Ganzen hin— deuten. Sie haben in Bacon’s eigenem Verſtande weniger eine exacte als eine anregende Bedeutung; fie dienen ihm ſelbſt mehr dazu, den anfchauenden Verſtand auf das Ganze zu richten, als im Einzelnen zu belehren. Von der Harmonie des Univerfums find die Analogien gleihjfam die erjten Accorde, die wir vernehmen. „Sie find“, fagt Bacon, „gleichſam die erften und unterjten Stufen zur Einheit der Natur. Sie. be- feftigen nicht fogleich ein Axiom, fondern bezeichnen und be— obachten nur eine gewiffe Uebereinftimmung der Körper; fie befördern nicht gerade die Auffindung exacter Geſetze, aber jie enthüllen uns die Werkftätte der Welt in ihren einzelnen Thei- fen, und fo leiten fie uns bisweilen wie unter der Hand zu erhabenen und trefflichen Erfenntniffen, namentlid) jolchen, welche mehr die Bildung der Körper als die einfachen Natur: gejete betreffen.““) Und mitten im VBortrage feiner Analogien begriffen, die mit Fühnen Kombinationen das Weltgebäude durch- eilen, unterbricht fic) Bacon, bemerkt von neuem den wilfen- Ichaftlihen Nuten der Analogie und zugleich die Gefahren und Bedenklichfeiten, die gerade diefe Art dev Kombination bedrohen. Es iſt richtig, nur mit Hülfe der Analogie kann die Induc- tion wirkliche Einheit in die Naturwiffenfchaft bringen und das geiftige Band der Dinge entdeden, das fie in der bloßen Be— ichreibung der Theile niemals findet und zulett ganz aus den Augen verliert. „Man muß‘, jagt Bacon im Rückblick auf die angeführten Analogien, „ſolche Gefichtspunfte vorzeichnen

*) Jtaque sunt tanquam primi et infimi gradus ad unionem naturae etc. Nov. Org. II, 27.

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und öfters daran erinnern, daß die eifrige Forſchung beim Unterfuhen und Zufammenhäufen des naturgefchichtlichen Ma— terials die entgegengejeßte Richtung ergreife, al8 welche bisher im Gange war. Denn bisher erging fich der menfchliche Fleiß mit Vorliebe in den Varietäten der Dinge und juchte gern die Berichiedenheiten im Reiche der Thiere, Pflanzen und Meines vale, aber dieje Varietäten find dem größten Theile nad) mehr Spiele der Natur als von ernftlichem Nuten für die Wiſſen— haft. Dergleichen Dinge find ergötzlich und haben bisweilen auch praktiſchen Nuten, aber fie tragen wenig oder nichts bei zur wirklichen Einfiht in die Natur. Deshalb müffen wir unjere Mühe darauf verwenden, die Achnlichkeiten und Aıta- logien der Dinge fowohl im Ganzen als im Einzelnen zu unterfuchen und zu bemerken. Denn es find die Analogien, welche die Natur vereinigen und den Anfang zur wirklichen Wiffenichaft machen.”*) Indeſſen wollen fie behutfam und mit kritiſchem Berjtande gefucht werden. Sind nämlich die unendlichen Varietäten dev Dinge ſehr oft ein bloßes Spiel der Natur, jo können die Analogien, welche unfere Combination auffindet, ſehr Leicht ein bloßes Spiel des Verftandes oder der Einbildungskraft werden. Wir machen Analogien, die in der

*) Nov. Org. II, 27. Op. p. 360. „Das ift wahrlich von ge— ringer Bedeutung, daß man alle Species von Blumen im Gedächtniß habe und benennen könne, alle die Iris- und Tulpenarten oder alle Con- hyfien, oder die endlofen Varietäten von Hunden und Falken; diejes find vielmehr Naturjpielereien und zufällige Eigenthümlichkeiten. Auf ſolche Weife fann man fid) eine Maffe von Keuntnijjfen erwer- ben, ohne eine Ahnung von Wiffenfhaft zu haben, und doc) brüftet fich gerade damit die gewöhnliche Naturgefchichte, die mit allem Diftinguiren und Sanımeln nimmermehr zu dem Ziele gelangen kann, weldyes ic) meine.‘ Deser. globi intell. III. Op. p. 607.

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Natur nicht find, finden Aehnlichkeiten, wo fie in Wahr: heit fehlen, heften uns an zufällige, wejenlofe Uebereinſtim— mungen umd machen fo etwas Bielfagendes aus einem Nichts- fagenden. Solche Spielereien, denen ſich eine Tpeculivende und wenig behutfame Phantafie oder ein jchwärmender Ver— ſtand gern überläßt, Haben die Naturwiffenichaft mit einer Menge von Idolen bevölkert. Wenn die Analogien fruchtbar fein follen, müſſen fie die Achnlichkeiten der Dinge in wefen- haften Punkten ergreifen und gleihjam der geheimen Werf- jtätte der Natur abgelaufcht fein. Darum fährt Bacon fo fort: „Aber in allen ſolchen Analogien ift eine gewichtige und ſtrenge Vorficht anzuwenden. Denn nur ſolche find gültig, die natürliche Achnlichfeiten bezeichnen, d. h. wirkliche und jub- itantielle, die im Weſen der Natur liegen, nicht zufällige, die ih auf eine Specialität beziehen, noch weniger eingebildete, wie fie die Leute der natürlichen Magie (ganz oberflächliche und untergeordnete Menjchen, die man bei ernten Dingen, wie die unjrigen find, Faum nennen jollte) überall zur Schau tragen, die mit der größten Eitelfeit und Unbefonnenheit Leere Aechnlichkeiten und Sympathien in der Natur befchreiben und oft jogar den Dingen andichten.‘‘*)

Die Analogien felbjt, die Bacon als Beifpiele anführt, jind weitausfehend und vorgreifend, anziehende und reiche Ge- ſichtspunkte, welche fruchtbare Perfjpectiven eröffnen. Er ent- wirft in flüchtigen Zügen den großen Stammbaum der Dinge, er zeigt in umfaffenden Combinationen, wie alles in der Welt zu einer Yamilie gehöre. Vielleicht ift nie in der gedrängten Form eines Furzen Aphorismus und in flüchtig ausgeftreuten

*) Nov. Org. II, 27. Op. p- 360.

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Beifpielen eine fo vielverheißende Ausfiht in den Weltzu- jammenhang dargelegt worden. Er beginnt mit einer Ver: gleichung zwifchen Spiegel und. Auge, Ohr und Echo; Spiegel und Auge veflectiven die Lichttrahlen, Ohr und Echo die Schalf- wellen. Es bejteht, jo jchließt Bacon, überhaupt eine Analo— gie zwifchen den Sinnesorganen und den veflectivenden Kör— pern, zwiſchen Warnehmungsarten und Bewegungsarten, zwifchen der organischen und unorganiſchen Natur. Die Idee einer durchgängigen Analogie aller natürlichen Erjcheinungen jteht deutlich vor feiner Seele. Alle Berhältniffe und Stim- mungen der leblofen Natur find wahrnehmbar; daß fie von uns nicht wahrgenommen werden, liegt nur in der Beichaffen- heit unfers Körpers, dem fo viele Sinne fehlen; darum find mehr Bewegungen in den lebloſen Körpern als Sinne in den lebendigen, aber gewiß tft: fo viele Sinne in diejen, jo viele Bewegungen in jenen. Im diefer Rückſicht entjprechen fid) beide. So viele Arten z. B. jhmerzlider Empfindung im menſch— lihen Organismus möglid find, fo vielerlei Bewegungen, wie Drud, Stoß, Zufammenziehung, Ausdehnung u. |. f. giebt es in den leblojen Körpern, nur daß diefe die Bewegung nicht empfinden, weil ihnen die Lebensgeifter fehlen. *) Die Ber- gleihung der organischen und unorganifchen Natur im Ganzen führt Bacon auf Analogien im Einzelnen, Er bemerkt die ähnlichen Bildungen zwijchen Pflanzen und Steinen und ver- gleicht hier beifpielsweife den Gummi mit gewiffen Edelfteinen, Innerhalb des Pflanzenbaus bemerkt Bacon die ähnliche Struc- tur der Theile und weift ſchon mit dem Verſtande der jo viel jpätern Pflanzenmorphologie darauf Hin, wie fid) im vegetabi-

*) Nov. Org. II, 27. Op. p. 358 fig. ©. Cap. XI, 2.

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liſchen Wachsthum die Elementarformen vervielfältigen und peripherifch entwickeln. Im ihrer entgegengefetten Richtung findet Bacon den einzigen Unterfchied zwifchen Wurzeln und Zweigen, jene find die abwärts der Erde zuftrebenden Zweige, dieje die aufwärts der Yuft und Sonne zuftrebenden Wurzeln. Den Bau der Pflanze vergleicht er mit dem des Menfchen und bejtimmt den lettern als umgekehrte Pflanze (planta in- versa). Was bei der Pflanze die Wurzel, foll beim Men— ihen das Gehirn fein; Hier entjpringen dig Nerven, um ſich im Organismus allfeitig zu verzweigen und auszubreiten; fo ift die Wurzel des menſchlichen Baues nad) oben gerichtet, die Sejchlechtstheile nad) unten, umgekehrt bei der Pflanze. In der Thierwelt vergleicht er die Bildung der Bewegungsorgane bei den Vierfüßern, Vögeln, Fiſchen. Bon den individuellen Bildungen lenkt er zulett den Blick auf die großen Weltver: hältniffe und bemerkt, ſchon der fpeculativen Geographie unferer Zage vorgreifend, die Analogien in der Formation der Erd- theile; jo jpringt ihm die Achnlichkeit zwijchen Afrika und Südamerika in die Augen, die ſich beide über die füdliche Hemifphäre erjtreden und analoge iſthmiſche und promontori- Ihe Bildungen haben. „Das iſt nicht zufällig”, jeßt Bacon beveutfam Hinzu. Er faßt die alte und die neue Welt in einen vergleichenden Blick und bemerkt hier, wie fid) die beiden großen Yändermaffen gegen Norden breit ausftreden, gegen Süden verengern und zufpisen. Das Große und Ueber— vafchende in diefen Bemerkungen ift, daß fie überhaupt gemacht werden, daß Bacon die Analogie auch in diefen Verhältniſſen entdedt. Es wird nicht ſchwer fein, den einmal hervorgeho— benen Gefichtspunft zu detailliven und ins Einzelne zu ver- folgen. Denn anerkannt ift in diefen flüchtigen und kurzen

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Andeutungen ein höchſt wichtiger Gefichtspunft der geographi- ſchen Wiffenfchaft, nämlich die Bedeutſamkeit der Arcalbildung. Zum Schluß verfuht Bacon feinen vergleichenden Blick nod) an den Künften und Wiſſenſchaften und ſpäht nad) den hier befindlichen Analogien. Er nimmt als Beifpiel Rhetorif und Muſik, Mathematik und Logik. Dort findet er ähnliche Tro- pen oder Figuren, hier ähnliche Denkweifen. Der rhetorifchen Figur, die man „praeter expectationem‘ nennt, entſpreche vollfommen die mufifalifche ‚‚declinatio cadentiae”. Die Mathematik hat den Grundfag: wenn zwei Größen einer drit- ten gleich find, Jo find fie aud) unter einander gleich; dem ent- Ipreche ganz die logiſche Schlufform des Syllogismus, der zwei Begriffe durch einen dritten verbindet.

Wir urtheilen nicht über den wiljenfchaftlichen Werth und die Tragweite aller diefer beifpielsweife gemachten Analogien, fie find uns wichtig zur Kenntniß Bacon’s, nicht weniger durch ihren Inhalt, als die Art, wie fie auftreten. Sie zeigen einen Geiſt von großer Gefichtsweite, von leichtem combinatorifchen Scharffinn, Er braucht die Analogien nicht als Gegenftand, jondern als Inftrument, als Hülfsmittel feiner Methode; er braucht diefes Mittel verfchwenderifh, wie es feine Neigung und feine reihe Kraft mit ſich bringt; ev greift damit über die Methode hinaus, und die Gefahr Tiegt nahe, fo fehr fie Bacon zu vermeiden ftrebt, daß er die Methode nicht blos ver- läßt, fondern ihr zumiderhandelt. Denn im Grunde ift jede Analogie eine anticipatio mentis, Aber die Abficht der baco- nischen Analogien zeigt, daß er mehr fuchte, als die Erfahrung einträgt, er fuchte auf diefem Wege, was er auf.dem der In— duction allein nicht entdeden Fonnte: die Einheit der Natur in der Berwandtfchaft aller Dinge oder die Harmo-

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nie des Univerfums. Hier finden wir Bacon im Bunde mit Leibniz und dejjen Nachfolgern, wie früher mit Spinoza und Descartes. Er muß fich gefallen laffen, daß wir auf ihn jelbjt jenen vergleichenden Blick anwenden, den er für die ganze Natur hatte, daß wir ihm jeine geiftigen Verwandtſchaf— ten, feine eigenen Analoga vorhalten: es find feine „parallelen Inftanzen”, angewendet auf unfere Betradhtung. Sie ſchmä— fern nicht feine Originalität, jondern erleuchten feinen umfaſſen— den Geift. Was in Yeibniz grundſätzliche Richtung, war in Bacon ergänzende; was dort als Ariom, galt hier als Hülfs- conftruction und umgekehrt. Yeibniz bedurfte der Induction ebenso jehr, als Bacon der Analogie.

Bacon’8 Geift reicht weiter als feine Methode, aber in diefer Liegt feine epochemachende Kraft, und wir müſſen hier feinen Gegenjaß zum Altertum und der davon abhängi- gen Philofophie begreifen. Dabei verfegen wir uns ganz in den Geift Bacon’s und ftellen uns jenen Gegenfat fo vor, wie er ſelbſt ihn dachte.

Sechsles Kapitel. Die baconiſche Lehre gegenüber der frühern Philojophie,

Ziehen wir die Summe der baconifchen Bhilofophie im Rück— blick auf die folgerichtige Ordnung ihres Ideenganges:

1) Die Wiffenfchaft joll dem Menfchen dienen, indem fie ihm müßt; jie joll ihm nüßen durch Erfindungen: ihr Zweck ijt die Herrſchaft des Menfden.

2) Erfinderiih kann die Wiffenfchaft nur werden durch die Erforſchung der Dinge: ihr Mittel ift die Erflärung der Natur.

3) Die richtige Erklärung der Natur ift nur möglich durd) reine und methodische Erfahrung. Nein ift die Erfah- rung, wenn fie nicht nach Idolen und menjchlichen Analogien urtheilt, in feiner Weife die Dinge anthropomorphifirt, nichts vorausjeßt, nichts vorwegnimmt, fondern ich zu dem gegebenen Thatjachen völlig unbefangen, wahrnehmend, beobachtend, ver: fucchend verhält; fie ift methodifch, indem fie den Weg der wahren Induction geht. Wahr ift die Induction, wenn jie aus vielen Fällen durd) genaue und Fritifche Vergleichung die Geſetze erjchließt; Kritifch ift die Vergleihung, indem fie den pofitiven Inftanzen die negativen gegenüberftellt; bejchleu- nigt wird die inductive Schlußfolgerung durd) die Unterſuchung

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der prärogativen Inftanzen. Dieje jo eingerichtete Erfahrung vermeidet durchgängig, ſowohl in ihrem Ausgangspunkt als in ihrem Berlauf, die unficheren und vorläufigen Hypotheſen. In diefer Faffung jtellt Bacon feine Lehre und fich ſelbſt der Vergangenheit entgegen. Er fieht in feinen Principien alle Bedingungen vereinigt, um die Wiſſenſchaft volljtändig zu er— neuern, wozu bisjett feiner den Muth und die Kraft hatte; er fühlt ſich als den Träger diefes erneuernden Geiſtes, ala den Neformator der Wiffenfchaft. ‚Niemand‘, jagt Bacon, „sat bisjet jo viel Beharrlichkeit und Stärke des Geiftes gehabt, um es über ſich zu gewinnen, alle herkömmlichen Theo- rien und Begriffe vollfommen abzulegen und den jo gereinig- ten und geflärten Verſtand von neuem auf die einzelnen Dinge zu richten. Daher war die menfchliche Vernunft in ihrer bis- herigen Verfaſſung ein Gemiſch von vielem Autoritätsglauben, zufälligen Erfahrungen und Findifchen Begriffen. Und es wird mit der Wiffenfchaft erft bejjer werden, wenn jemand fic) fin- det, der im reifen Alter, mit gefunden Sinnen und befreitem Geiſte fih ganz von neuem auf die Erfahrung und die Dinge im Einzelnen richtet.” „Hier aber können fich die Menfchen mein eigenes Beifpiel zur Hoffnung gereichen laſſen. Das jage ich nicht aus Prahlerei, jondern um des allgemeinen Beiten willen. Wenn fie in die Sache fein Vertrauen jeten wollen, jo mögen fie mid) anfehen, der ich nur ein Menjch unter Menfchen bin: wie ich in meinem Alter, von Staats- geichäften überhäuft, nicht begünftigt durch eine Fräftige Ge— jundheit und darum zu vielem Zeitverluſte genöthigt, vollfom- men als der Erjte diefe Sache verfucht habe, ohne alle Bor: gänger, deren Fußtapfen ich folgen könnte; wie ich ganz allein daftehe und dennoch den wahren Weg ergriffen, den Geift den

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Dingen allein unterworfen und die Sache ſelbſt, wie ich glaube, ein Stück vorwärts gebradjt habe.’‘*)

L Die Entgegenſehung des Alten und NUeuen. 1. Das Ziel,

In allen jenen Punkten, von denen die Erneuerung der Bhilo- jophie abhängt, findet Bacon einen ausgemachten Gegenfat zwifchen fich und der Vergangenheit. Er will die Wiffenfchaft hingewiefen Haben auf ein anderes Ziel, eine andere Grund- lage, einen anderen Weg. Er richtet die Philofophie unmittel- bar auf die Erweiterung der menjchlichen Herrichaft, er will fie gemeinnüßig und praftiih machen und widerjtrebt aus diefem Gefihtspunfte ihrem bisherigen Charakter, der theore- tifch und nur wenigen zugänglich war.) Aus einer Sache der Schule, was fie vor ihm gewefen, will Bacon die Wifjenjchaft zu einer Sache des Yebens umgejtalten; fein Ernenerungsplan jteht in einem ähnlichen Gegenfage zur frühern Philofophie als der kantiſche: Kant will die Philofophie Fritifch machen, Bacon praftifch, jener fieht in allen frühern Syſtemen un— fritifche, diefer unpraftifhe Philofophie. Unter einem folchen jummarifchen Urtheil, welches beide aus fo verjchiedenen Ge— fihtspunkten über ihre Vergangenheit füllen, find fie wenig im Stande, den philofophifchen Bildungen der Vergangenheit im Einzelnen gerecht zu werden; fie fommen darin überein, daß alle Bhilofophie vor ihnen unfruchtbare Speculation gewejen, daß die Syſteme der Vergangenheit dem Gegenja von Dog—

*) Nov. Org. I, 97. 113.

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matismus und Sfepticismus verfallen und eben dadurd) gegen- feitig ihre Refultate aufheben. Für Kant find die Repräſen— tanten der dogmatifchen und ffeptifchen Philofophie Wolf und Hume, für Bacon die dogmatifchen Ariftotelifer und die afa- demifhen Sfeptifer. „Die Einen fommen zu falfchen und feichtfertigen Zielen, die Andern geflifjentlich zu gar keinem.“) Um diefe beiden Wendepunfte der neuern Philofophie unter einen gemeinfchaftlichen Ausdrud zu faſſen, jo wollen Bacon und Kant, überzeugt von der Unfruchtbarkeit der bisherigen Speculationen, jeder in feiner Weife die Philofophie frucht- bar und praktiſch machen. Bacon richtet fie auf praftifche Naturerfenntniß, Kant auf praftifche Selbſterkenntniß. Die reifjte Frucht der baconifchen Philofophie ift die Erfindung im Intereffe der menſchlichen Herrjchaft, die der Fantifchen die Moral im Sinne der menfchlichen Freiheit und Autonomie. Es ift die Unfruchtbarkeit in Folge des blos theoretiichen Philofophirens, die Bacon nicht müde wird, der Vergangen— heit vorzumwerfen. Die Leute bilden ji) ein, in ihren über- lieferten Shitemen viel zu wiffen, darum fommen fie nicht weiter, jondern beharren im thatlofen Stillftande. Die Ein- bildung des Reichthums ift die Urfache ihrer Armuth. „Die Weisheit”, jagt Bacon, „die wir von den Griechen überfommen haben, erjcheint uns als die Kindheit dev Wiſſenſchaft; fie tft, wie. ein Kind, fertig zum Schwagen, unfräftig und unreif zum Zeugen.” „Wäre diefe Wiffenfchaft nicht völlig todt, jo hätte fie niemals viele Jahrhunderte Hindurd in ihrem alten Ge— leife ohne alles Lebendige Wachsthum dergeftalt beharren kön— nen, daß nicht blos die Sätze Süße, jondern auch die Fragen

*) Nov. Org. I, 67.

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Tragen blieben, deren feine durch Disputiren gelöjt, jondern genährt und nicht von der Stelle gerücdt wurde. Der Gang der Weberlieferungen und Schulen zeigt immer nur Meifter und Schüler, niemals einen Erfinder, nie einen folchen, der Erfindungen um etwas Beträchtliches vermehrt und weiter- geführt. Aber das Gegentheil fehen wir an den mechanifchen Künften: als ob fie Lebensluft athmeten, wachjen fie und ver- volffommmen fi) mit jedem Tage!“ ‚Dagegen die Philoſo— phie und die fpeculativen Wiffenfchaften werden wie die Statuen angebetet und gefeiert, aber fchreiten, wie diefe, feinen Schritt vorwärts.‘ *)

2, Die Grundlage.

Iſt die Erweiterung der menschlichen Herrfchaft durch die Erfindung das Ziel der Philofophie, jo giebt es nur eine Grundlage, auf der fie ruhen und gedeihen kann: die Natur— wiſſenſchaft. Das ift e8, was der bisherigen Philojophie gefehlt Hat: fie ift das Erbtheil der Griechen, deren Weisheit, die älteften Philofophen ausgenommen, im Grunde nichts war als Sophiftif, ohne reales Wiffen, ohne erfinderifche Kraft, bloße Wortweisheit, bloßes Wort- und Schulgezänf. Wie den Glauben, foll man aud die Philofophie an ihren Werfen er- fennen. Die Früchte, die fie getragen, waren nicht Trauben und Dliven, jondern Dornen und Dijteln. Die Vorzeit war weifer, die Aegypter haben doc) in den Thieren die erfinderi- ſchen Inſtincte verehrt, die Griechen der gerühmten claffifchen Zeit haben blos in Reden gewetteifert; darüber find fie, wie jener ägyptiſche Priefter jagte, Kinder geblieben, die weder das

*) Inst. Magna. Praef. Op. p. 271. Bgl. Cog. et Visa. Op. p. 585. Fiſcher, Bacon, 16

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Alter der Wiffenfchaft noch die Wiffenfchaft des Alters Hat- ten. Mit Recht fpottete Dionyfins gegen Plato über die Schulweisheit der Philofophen, über diefe Reden müßiger Greife vor unerfahrenen Iünglingen! Die Schulweisheit ijt im Sculftreit jtedlen geblieben. Man laffe fich darüber nicht täufchen durch die Herrichaft, welche die ariftotelifche Philo- jophie davongetragen, durd die Einigung der Geifter unter dem Scepter des Ariftoteles. Die Einigung ift nur fcheinbar, fie beruht auf blinder Nachbetung, auf dem Beifall der Menge, der ebenfo blind ift. Diefer Beifall ift nirgends verdächtiger als in wiffenfchaftlichen Dingen, wo man ihn nehmen follte, wie Phocion, als feine Rede beflatfcht wurde: er frug, was habe ich Faljches gejagt?*) Selbſt die Wahrheit, wenn jie nachgebetet wird, führt nicht weiter, denn die Nachbeter jind wie die Gewäſſer, die nicht höher emporfteigen als der Ort fiegt, von dem fie herabfallen. **)

Daß es mit den Wiffenfchaften fchlecht jteht, liegt am Tage. Woher fommt es, daß es nicht befjer fteht? Die Haupt: urfache findet Bacon in der zu Furzen Dauer ihrer Entwid- fung, denn von der Geſchichte dev Menfchheit überhaupt Habe nur der kleinſte Zeitraum den Wiſſenſchaften gehört, von der wifjenjchaftlichen Arbeit jelbjt nur der geringjte Theil den Naturwifjenfchaften. „Und doc ift die Naturwiſſenſchaft die Mutter aller Wiffenjhaften Alle Künfte umd Wiffenfchaften, fobald fie von diefer Wurzel losgeriffen werden, fünnen wohl noch als Zierrath gepflegt und gebraucht werden, aber fie wachfen nicht mehr.‘***) ‚Bon den drittehalb Jahr—

*) Nov. Org. I, 71—77. **) Inst. Magna. Praef. Op. p. 274. ®gl. De augm. I. Op. p. 19. *“**) Nov. Org. I, 79.

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taufenden der Menfchengefchichte gehörten kaum ſechs Jahr— hunderte den Wiffenfchaften. Denn die Zeit hat ihre Wüſten wie der Raum. Es gibt nur drei wiffenjchaftliche Perioden: die griechische, römische, neueuropäifche.” ‚Nachdem fich der chriftlihe Glaube über die Welt verbreitet hatte, mußten fid) die vorzüglichiten Geifter auf die Theologie wenden; ihr wur- den alle Belohnungen, alle Hülfsmittel gewidmet. Das Stu- dium der Theologie bejchäftigte das dritte Zeitalter der Wiſſen— Ihaft im neueuropäiſchen Abendlande; während des zweiten er- gingen fich die philofophifchen Unterfuchungen in der Moral, die bei den Heiden die Stelle der Theologie vertrat, aud) be- jchäftigten ſich damals die erjten Geifter mit politifchen An— gelegenheiten, die bei dem Umfange des römifchen Staats fait alle Kräfte in Anfpruch nahmen. Jene Zeit aber, wo bei den Griechen die Naturphilofophie aufzukommen fchien, war Klein und von fehr geringer Dauer. Denn früher waren es die jogenannten ſieben Weifen, die fi, Thales ausgenommen, nur mit Moral und Bolitif abgaben, und fpäter, nachdem Sofra- tes die Philofophie vom Himmel auf die Erde herabgeführt hatte, eritarkte die Moralphilofophie noch mehr und entfrem- dete der Naturwifjenichaft die Gemüther.“ „Indeſſen möge niemand erwarten, daß die Wifjenfchaften beträchtlich weiter- fommen, bevor die Phyſik in die einzelnen Wifjen- Ihaften eingedrungen und diefe wiederum auf die Phyſik zurüdgeführt find. Darum find Aſtronomie, Optik, Mufil, die meiften mechanischen Künfte, ſogar die Medicin und (was manche noch mehr verwundern wird) auch die Moral, Politik und Logik fo ungründlic) und ſchwankend auf der Oberfläche der Dinge, weil fie als felbftändige und befondere Wiffenfhaften, wozu man fie gemacht hat, nicht mehr 16*

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von der Naturphilofophie ernährt werden.” „So ift e8 fein Wunder, daß die Wiffenfchaften nit wachen, da fie ihren Wurzeln entriffen find.‘ *)

3. Die Wege.

So falih Ziel und Grundlage, jo verkehrt waren die Wege und Mittel der bisherigen Philojophie, und aud) darin liegen die Urfachen des Elends. Entweder ift man ganz ab- feit8 der Erfahrung gegangen, oder hat ſich in der Erfahrung dem Zufall und blinden Berjuchen überlaffen. Schon bei den Alten ift die Naturphilofophie verdorben worden, von Plato durch Theologie, von Ariftoteles durch Logik, von Proklus durch mathematische Hirngefpinfte.**) Statt aus der Erfahrung zu ſchöpfen, dichtet man fich metaphyſiſche Vorausſetzungen. Dazu kommt die Einmifchung religiöfer Borftellungen, die Hemmungen durch den Aberglauben, durch den blinden und zügel- lofen, der Naturwiſſenſchaft feindlichen Religionseiferr. Die Griehen haben ihre Naturphilofophen wegen Gottlofigkeit ver- folgt, nicht beſſer haben die chriftlichen Kirchenväter gehandelt, die jene richtigen und naturwiſſenſchaftlich begründeten Vor— ftellungen von der Kugelgejtalt der Erde und dem Gegenfühlern verdammten. Grundlofer Weife fürchtet man die Erforfchung der Wahrheit aus Angft für die Religion, und der Unverftand der Theologen verjperrt faft jeder befjern Philofophie den Zu- gang. Bei den einen ift diefe Feindfeligkeit einfältiger, bei den anderen ſchlauer, diefe letzteren halten es für weit zuträglicher, daß die Mittelurfachen nicht erforfcht werden, denn fo lange

*) Now. Org. I, 78—80. **) Nov. Org. I, 82. 96.

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die Menfchen über die natürlichen Urfachen der Dinge in Un- wiſſenheit bleiben, Fönne man leichter alles auf den Zauber- jtab Gottes zurücdführen. Das heift freilich nichts anderes als Gott mit der Lüge einen Gefallen thun wollen.*) Was Bacon an diefer Stelle die „virgula Dei” nennt, hat Spi- noza in derſelben Rückſicht als das „asylum ignorantiae‘ bezeichnet.

Nicht blos aller Art mächtige Borurtheile verfperren den Weg, aud) die vorhandenen Zuftände der gelehrten Bildung find ganz dazu angethan, daß fie den Fortſchritt nicht auf- fommen laffen: die Werfftätten dev Gelehrten, wie ihre Schu- fen. Ihre Werkftätten find die Bibliotheken, ihre Schulen die Akademien und Kollegin. Betrachtet man die Bibliothelen, fo erftaunt man über die unermeßliche Menge der Bücher, und wenn man fie Lieft, erftaunt man auf entgegengefegte Art über die endlofen Wiederholungen; zuerft wundert man fidh über die Mannichfaltigkeit diefer Schäße, und zulett wundert man fi über die Dürftigkeit und Armuth, die als Frucht dev Büchergelehrſamkeit übrig bleibt.**) Um diefe Früchte immer von nenem zu erndten, find die gelehrten Atademien und Collegien die beften Pflanzfehulen. Hier wird eine gewiſſe Büchergelehrfamteit, das Studium gewiffer Schriftjteller zum Gefängniß gemacht, in das man die Jugend einfperrt. Wehe, wenn einer an den Schranken rüttelt, wenn einer das Soc) der Büchergelehrfamkfeit abwerfen will! Die Vorlefungen und Uebungen find fchon fo bejtellt, daR in den abgerichteten Köpfen ſchwerlich ein neuer Gedanke, ein eigenes Urtheil erwacht, und

*) Nov. Org. I, 89. gl. De augm. I. Op. p.5. **) Ebend. I, 85.

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wenn diefer feltene Fall eintritt, wenn einer oder der andere von feiner freien Urtheilsfraft Gebrauch macht, fo möge er ſehen, wie er zurechtlomme, er wird bei der Zunft feinen Bei- stand finden und auf. feiner Laufbahn erfahren, daf feine Be- ftrebung und Geiftesfreiheit ihm Hinderniffe bereiten, die feines- wegs leicht find. (Als Bacon diefe Bemerkungen niederſchrieb, mag ihm feine eigene Jugendgeſchichte vorgejchwebt haben.) Wer nit in dem Herfümmlichen Geleife der Büchergelehrjam- feit bleiben, fondern eigene und neue Wege gehen will, wird als ein unruhiger Kopf verdächtigt. Aber es ift ein großer Unterfchied zwifchen Neuerungen im Staat und in der Wiffen- haft; ein neues Licht, das in der Wiſſenſchaft aufgeht, tft nicht fo gefährlic als eine neue Bewegung in bürgerlichen Dingen, wo eine Verbeſſerung felbft der öffentlichen Zuftände bedenklich ift wegen der Störungen, die daraus folgen, denn die Wiffenfchaft ruht auf Beweiſen, das bürgerliche Leben auf Autoritäten und Einrichtungen. Auf dem Gebiete der Künfte und Wiffenfchaften muß, wie in den Bergwerfen, alles in Be- wegung fein, hier muß unaufhörlich gearbeitet, immer weiter fortgefchritten werden. So follte e8 fein, wenn es vernunft- gemäß zuginge, fo ift e8 micht im wirklichen Leben, wo es auch in den gelehrten Dingen eine Verwaltung und Polizei giebt, die mit zu fehwerem Drud auf dem Fortſchritt der Wiſſenſchaften Lajtet.*)

Es ift kaum beſſer beftellt mit der Art, wie man bisher die Er— fahrung betrieben. Die vorhandenen Erfindungen werden ange- jtaunt wie Wunderwerfe, und darum weder verbeffert noch ver- mehrt.**) Die Verſuche find blind, daher entdeden und

*) Nov. Org. I, 90. **) Ebend. I, 85.

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erfinden fie wenig; die Erfahrung ift unkritiſch und Hält fich lieber an unfichere Gerüchte als an geprüfte Zeugniffe, fie macht e8 wie ein Staat, der Tieber glauben wollte, was bie Leute in der Stadt ſchwatzen, als was feine glaubwürbdigen Geſandten berichten. Am Ende ift bei den abenteuerlichen Verfuchen der Alchymiſten, fo unmethodifc und blos umher: tappend fie verfahren, nod) das Meifte herausgelommen, wenn auch etwas ganz anderes, als fie juchten; es ift ihnen ge— gangen, wie den Söhnen in der Fabel, denen der Bater einen Weinberg vermacht hatte mit einem Schatz an verborgener Stelle, die niemand Fannte, fie gruben den Berg um und dachten nur an den Schatz, fie fanden fein Gold, aber die Weinerndten wurden gut.*)

Bei diefen fo lange fortgefegten, immer unfruchtbaren und ziellofen Beftrebungen im Reiche der Wiffenfchaft, Hat fich zuleßt eine völlige Hoffnungslofigfeit der Geifter bemäch— tigt, ein Unglaube an die Möglichkeit eines wahren Fortſchritts, an die Erreichbarkeit großer Ziele. Die Natur fei dunkel, das Leben furz, die Sinne trügerifch, die Urtheilsfraft ſchwach, die Verfuche fchwierig. So Hört man felbjt verjtändige und ernfte Männer reden. Diefer Unglaube, diefe ffeptifche Ge— finnung ift gleihfam das Facit der Rechnung und unter allen Hinderniffen, die dem Fortfchritt entgegenjtehen, das größte. Man nimmt die Wiffenfchaft, als ob fie ein Werf der Zeiten und des Schickſals wäre, woran die Menjchen nichts ändern können; jest ſei Ebbe, ein andermal

Fluthl**)

*) Nov. Org. I, 98 u. 85. **) Ebend. I, 92.

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II. Bacon's Stellung zu den alten Philofophen.

1. Verhältniß zu Ariftoteles,

Der Abftand des, Alten und Neuen kann nicht größer fein als Bacon ihn empfindet. Es iſt uns weit wichtiger, feine Beurtheilungsweife in diefem Punkte Tennen zu lernen, als fie ſelbſt zu beurtheilen, denn wir haben es nicht mit einem Hiftorifer zu thun, jondern mit einem Neuerer. Mefjen wir daher die Abftände zwifchen ihm und den alten Philojo- phen jo, wie Bacon felbjt ſich ihnen entgegenjtellt und feine Lehre mit dev ihrigen vergleicht.

Die Naturerflärung ift die Aufgabe. Alle Idole, die fie hindern, find verworfen, darunter die Zwede, die Gattungs- begriffe, die abftracten Denkformen als menjchliche, den Dingen jelbjt fremde Analogien; er fett den Zweden die wirkenden Urfahen, den Gattungsbegriffen die einzelnen Dinge, den Denkformen die Naturformen entgegen und verneint damit alles, was die Naturerflärung teleologijch, idealiſtiſch, forma— liſtiſch macht. Um diefe Gegenfäge unter einen Ausdrud zufammenzufaffen: er legt fein Gewicht in die Oppofition wider die geſammte Formalphilofophie, die vor ihm die über- wiegend mächtige gewejen war, ſowohl durd) den Umfang als die Dauer irer Herrſchaft. Unter der Formalphilofophie, die ihm entgegenjteht, begreift Bacon die ariftotelifch-fcholajtifche, die platonifch=ariftotelifche, die pythagoreifch-platonifche. Alle diefe Syſteme unterliegen dem leitenden Gefichtspunfte der Endurfahen, die in Bacon's Augen als ZTrugbilder des menſchlichen Verſtandes eriheinen; die Schöpfungen der For: _

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malphilofophie find die gefchichtlichen Ausbildungen diefes Irr- thums, fie find die Erdichtungen, welche in der Philofophie die Theaterwelt bilden, und gelten ihm darum als „idola theatri“. Der theoretifchen Philofophie jtellt Bacon die praf- tifche entgegen, der Metaphyſik und Theologie, als den bis- herigen Fundamenten dev Wiffenfchaft, die Phyfil, der Formal— philofophie die materiale, der gemeinen Erfahrung die wiffen- ſchaftliche. Alle diefe Gegenſätze concentriven fih (Bacon gegenüber) in Ariftoteles, der in dem Reiche der bisherigen Philofophie die Dictatur führte.*) Er Hatte die Theorie felig gefprochen als den höchſten Auffchwung des Geiftes, wodurch wir den Göttern ähnlich werden, er hatte die Metaphyſik iyftematifch ausgebildet und die Naturerflärung darauf ge- gründet, er war der eigentliche wiſſenſchaftliche Träger der Formalphilofophie und der Schöpfer ihrer Logik, er ftellte die Phyſik unter den teleologifchen Gefichtspunft, nachdem er denjelben metaphyſiſch befejtigt, und brachte die ganze griechi— ſche Formalphilofophie in ein Syſtem, womit ev das Mittel- alter beherrichte. Und zulett trägt Ariftoteles in Bacon’s Augen auch die Schuld der bisherigen unmethodifchen und unfritiihen Erfahrungsweife, denn er hat die Induction in die Philoſophie eingeführt, ohne diefelbe Eritifch zu fichten und zu ordnen, Neben einer unfruchtbaren Logik hat Ariftoteles eine unkritiihe Erfahrung zum Anfehen erhoben: was alfo fonnte die Philofophie, die ihm folgte, Großes erreichen, da fie jolche ftumpfe Waffen führte? So ſieht Bacon alle idola theatri, welche den Schauplag der Wiſſenſchaft einnehmen, vereinigt in Ariftoteles. Auf diefen Punkt richtet er daher alle

*) Cog. et Visa. Op. p. 585.

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Widerftandskraft, die er gegen das Altertfum und die Ver— gangenheit überhaupt aufbietet. Der Name des Arijtoteles bildet gleichſam die hervorragende Spike, die alle Blitze ab- leiten muß, die Bacon gegen die frühere Philofophie ſchleu— dert. Wir müfjen diefen Namen im Munde Bacon’s mehr al® ein nomen appellativum, denn als ein nomen proprium nehmen, damit er gegen den wirklichen Ariftoteles nicht zu ungerecht erjcheine. Inwieweit er diefen durchdrungen und getroffen Hat, ift eine Frage, an der wir vorübergehen. Denn wir unterfuchen hier nicht, was Ariftoteles war, jondern wie ſich Bacon ihn vorftelltee Er befämpfte in Aristoteles den Theoretifer, den Metaphhfifer, den Formaliften und den Em— pirifer; er machte fich zum Teibhaftigen Anti-Ariftoteles. Dem arijtotelifhen Organon fett Bacon das feinige entgegen in doppelter Rückſicht: er befämpft die ariftotelifche Logik durch die Erfahrung, die ariftoteliihe Erfahrung, welche er der ge- wöhnlichen gleichjeßt, durch die methodifche. Dem Shllogis— mus ftellt er die Induction, der ariftotelifchen Induction die wahre gegenüber. Seine Taktik ift in beiden Fällen diefelbe: jowohl von dem Syllogismus als von der arijtoteliihen Er- fahrung ſoll gezeigt werden, daß fie unfruchtbar, unpraktiſch, zur Naturerflärung unbrauchbar ei.

Der Syllogismus ift unfruchtbar, denn er kann nichts Neues entdeden, nichts Unbekanntes finden, jondern nur Be— griffe, die ſchon befannt find, ſchlußgerecht darjtellen; er ift eine bloße Gedanfenform, die zu ihrer Erfüllung einen gege- benen Inhalt vorausfegt. Aber die ächte Wiffenjchaft will ihren Inhalt ſelbſt finden, nicht blos den jchon gegebenen oder über- lieferten ordnen, fie jucht aus dem Bekannten das Unbekannte. So ift der Syllogismus, der nur Belanntes verfnüpft, in

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der Hand der Wiffenfchaft ein unnützes Inftrument, das zu ihren Unterfuhungen nichts Hilft, zu ihren Zweden nichts bei- trägt. Die Logik, welde ſyllogiſtiſch verfährt, kann Feine Wiſſenſchaft machen, fie it untauglic), wie Bacon fagt, „zum Auffinden wiffenfhaftliher Wahrheiten”. Der Syllogismus be- jteht aus Urtheilen, diefe aus Worten, Worte find Zeichen für Begriffe, und die Begriffe felbft find zumächft undeutliche und abjtracte Vorftellungen der Dinge, die ohne gründliche Unterfuhung gemacht und vorausgefaßt find, die auf bloßen Credit angenommen und wmitgetheilt werden. So beruht der Syllogismus, wenn wir ihn in feine legten Elemente zer- legen, auf unflaren und unfihern Bejtimmungen.*) Dieſe unfichern Beitimmungen werden von der formalen Logik zur gültigen Münze gemacht, als ſolche behandelt und ausgegeben. Sp dient diefe Logik nicht dazu, die Wahrheit zu unterfuchen, jondern den Irrthum zu befeftigen, fie ift nicht blos unnüß, jondern ſogar jhädlih.**) Die Syllogiftif lebt nur von Worten, fie kann nur Worte machen, niht Erfindungen, fie nützt nicht zu Thaten, fondern blos zum Reden, fie macht nicht erfinderifch, fondern vedefertig, und das bloße Hin- und Her— reden nüßt nichts. Die Wortfunft dient nicht dem „regnum hominis”, fondern nur dem „munus professorium“,

Anders dagegen, als dieſe Logik, handelt die Erfahrung Sie beweift nicht durch Worte, fondern durch Thaten, fie de- monjtrirt ad oculos, fie redet nicht, fondern exrperimentirt. Mit dem Imftrument berichtigt fie unfere jinnlihe Wahrneh-

*) Nov. Org. I, 14. Bgl. Cog. et Visa. Op. p. 589. De augm. seient. V, cap. 2. Op. p. 125. **) Nov.£Org. I, 12.

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mung und macht diefe den Dingen adäquat. „Wir müſſen“, fagt Bacon in feinen Gedanken und Meinungen, „unſere Zu: flucht zu der Beweisführung nehmen, die durch Experimente (per artem) gelenft wird. Ueber den Syllogismus, der bei Ariftoteles die Stelle des Drafels vertritt, können wir uns kurz fallen. Wo c8 fih um Lehrbegriffe handelt, die auf menschlichen Meinungen beruhen, wie in moralifchen und poli- tiſchen Materien, mag er nütlic und in gewifjfen Sinne für- derlich fein. Aber für die Feinheit und Verborgenheit der Naturerfcheinungen ift er unfähig und nicht zutreffend.” „Daher bleibt als einziges Hilfsmittel und legte Zuflucht allein die Induction übrig. Auf diefe fegen wir unfere wohlbegründete Hoffnung, da fie mit emfiger und genauer Sorgfalt die Dinge jelbft befragt, deren Zeugniffe jammelt und dem Berjtande zuführt.‘ *)

Alfo Feine Syllogiftif, fondern Erfahrung, aber nicht die arijtotelifche, denn diefe ift ebenfo unfruchtbar als der Syllo- gismus, fie verfehlt nicht weniger das wahre Ziel aller wiffen- ſchaftlichen Forſchung. Bernünftigerweife follte die Yogif Wahrheiten entdeden und die Erfahrung Werke erfinden, jene jollte uns neue Erfenntniffe, diefe neue Erfindungen verjchaffen. Aber die ariftotelifche Logik trägt nichts bei „ad inventionem scientiarum“, die ariftotelifche Erfahrung nichts „ad inven- tionem operum‘‘, beide jind unfähig zum Erfinden und darum unnüg. Die ariftotelifche Erfahrung ift unfruchtbar aus dop— peltem Grunde: entweder ift fie eine bloße Beichreibung, ein breites, formlojes Material (wie der Syllogismus eine leere, inhaltlofe Form war), ‚eine fehr einfältige und ganz Eindifche

*) Cog. et Visa. Op. p. 589.

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Art, wie Bacon jagt, „die in der Aufzählung einzelner Fälle fortläuft und deshalb niemals mit Nothwendigfeit, fondern unficher und precär ſchließt“*), alfo zu Feiner Erfenntniß der Gefete, zu Feiner Erklärung der Natur, zu Feiner Erfindung führt, fondern troden und unfruchtbar bleibt; oder dieſe Er- fahrung ſchließt aus wenigen Fällen fogleich auf die allgemein- jten Geſetze, ohne die negativen Inſtanzen zu beachten, ohne ihren Weg, fei es durch gründliche Vergleihung verſchieden— artiger Fälle auszudehnen, fer es durch Auffindung präroga- tiver Inftanzen zu verkürzen. Sie findet nicht, ſondern ab- ftrahirt die Gefete: fo ift fie unmethodifch und unkritiſch. Sie unterfucht nicht, fondern anticipirt die Natur. Bon den ein- zelnen Thatfachen zu den allgemeinen Gejeten geht fie wie im Fluge, nit Schritt für Schritt, von Stufe zu Stufe. Ihr Fehler ift eine zügellofe Ungeduld, deren Antrieb die Erfah- rung nicht raften läßt, jondern bewirkt, daß fie nicht aufwärts jteigt, jondern fliegt und jo das Ziel verfehlt, das fie nicht Schnell genug erreichen kann. Sie greift fogleih nad) den oberften Gefegen, beſtimmt die erjten Urfachen der Erſcheinun— gen, bevor fie deren Mittelurfachen Fennen gelernt hat, und meint dann in der Kette der Wefen die fehlenden Glieder durch fyllogiftifche Kunft zu ergänzen. Auf eine ſolche Er- fahrung läßt ſich Fein Experiment, feine Erfindung gründen; fie ijt mithin ebenjo unfruchtbar als der Syllogismus.

An die Stelle diefer Erfahrung fett Bacon die erfin- derifche, die einen andern Weg geht. „Zwei Wege”, jagt Bacon, „führen zur Wahrheit. Der eine fliegt von den innlihen Wahrnehmungen aufwärts zu den allgemeinften

*) Cog. et Visa. Op. p. 589 fig.

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Ariomen und ſucht von hier aus die mittlern: diefer Weg ift der übliche. Der andere führt von den finnlichen Wahrneh- mungen zu den Aromen, indem er continuirlih und jtufen- weife emporfteigt und erſt zulett bei den allgemeinften Ariomen ankommt: diefer Weg ift der wahre, aber noch nicht verfuchte.‘‘*) Der wahre Weg von den Erjcheinungen zu den höchiten Na— turgefegen führt durch eine Stufenreihe von Axiomen. Diefe Stufenreihe macht im Unterfchiede von der bisherigen Er- fahrung das charafteriftifche Kennzeichen der baconifchen. „Der menschliche Verjtand darf von der Wahrnehmung der einzelnen Dinge zu den entfernten und allgemeinften Aromen nicht fpringen oder fliegen und dann mit der jo gefundenen Wahr- heit die mittlern Ariome auffuchen: jo hat man es bisjett gemacht, der Verſtand hat dem ungeftümen, nach vorwärts drängenden Triebe die Zügel ſchießen laſſen, um jo mehr, als er durch fyllogiftiiche Beweisführungen dazu belehrt und ans gehalten war. Aber die Wiffenichaft kann erſt dann gedeihen, wenn auf einer wirklichen Leiter, von Stufe zu Stufe, in gejchloffener Reihe, worin fein Glied fehlt, Feine Kluft Raum findet, emporgejtiegen wird von den einzelnen Dingen zu den untersten Gefegen, von da zu den mittlern, fodaß jedes Ge- jeg immer mehr umfaßt als das nächjt vorhergehende, und erft zulegt zu den allgemeinjten. Denn die unterften Gejeße grenzen ganz nahe an die bloße Erfahrung, die oberften aber und allgemeinjten find bloße Begriffe, abftract und ohne be- jtimmten Inhalt. Dagegen die mittlern, die fich zwifchen den Ertremen befinden, find die wirklichen, bejtimmten, lebendigen Geſetze. Auf diefe gründen fich die menfchlichen Angelegen-

*), Nov. Org. I, 19.

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heiten und die allgemeinften, Feineswegs abjtracten Grundfägße. Darum müffen wir dem menjchlichen Geifte nicht Fittige, ſon— dern Blei und Gewicht anlegen, um feinen Flug zurüdzuhalten und zu zähmen.“*)

Syllogiſtik und Erfahrung, dieſe beiden Werkzeuge der ariſtoteliſchen Philoſophie, ſtehen, wie Bacon bemerkt, in wechſelſeitigem Verkehr; ſie ergänzen einander, indem ſie ſich gegenſeitig unterſtützen. Die Shllogiſtik braucht die ſtoffliche Erfahrung, um von dieſer den Inhalt zu empfangen, den ſie ſchlußgerecht ordnet; die Erfahrung braucht die Syllogiſtik, um mit ihrer Hülfe zwiſchen den Erſcheinungen und den allgemei— nen Geſetzen die Mittelglieder zu finden. Ohne Erfahrung wäre die Syllogiſtik lerr und bewegungslos; ohne Shllogiſtik wäre die Erfahrung aphoriſtiſch und ſelbſt ohne den Schein einer jhitematifchen Ordnung.

Der erfindungsluftige Geift hat von beiden nichts zu er- warten. Seine Erfenntnißweife ift die logijche Erfahrung oder die erfinderifche Logik. Diefe fett Bacon dem Ariftoteles ent- gegen, ſowohl dem Logiker als dem Empirifer. Die logifche Erfahrung unterfcheidet fi) als Erfahrung von der formalen (erfahrungslofen) Logik, und als Logik von der gewöhnlichen (unlogifhen) Erfahrung. Sie verhält fich zu diefen beiden, um mit Bacon zu reden, wie Wein zu Waſſer. „Wir müjjen auf ung ſelbſt“, jagt Bacon zu verfchiedenen nalen, „jenes treffende Witwort anwenden: daß unmöglid) gleid) denken Fünnen, die Wafjer und die Wein trinken. Alle ande ren, ſowohl die Alten als die Neuern, haben in der Wiſſen— Ihaft rohen Saft getrunfen, gleichſam Waffer, das entweder

*) Nov. Org. I, 104.

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unmittelbar aus dem Verſtande felbjt floß oder durch dialel- tiſche Kunſt wie durd) Räder aus der Erde hervorgeholt wurde. Wir dagegen trinken einen andern Trank und trinken ihn allen Uebrigen zu, der aus zahllofen Trauben gewonnen, die veif und gezeitigt, von den Zweigen gefammelt und abgepflüdt, dann in der Kelter gepreft, zulett in Gefäßen gereinigt und geklärt find. Darım ift e8 fein Wunder, wenn wir mit jenen Waffertrinfern nicht übereinjtimmen.‘*)

2, Verhältniß zu Plato.

Innerhalb der Formalphilofophie maht Bacon ſelbſt einen bemerfenswerthen Unterfchied zwifchen Ariftoteles und Blato. Bon beiden erfcheint ihm Plato als der höhere Geift, als der genialere Kopf.**) Zwar find diefe größten Philofo- phen des claffifchen AltertHums in ihren Syftemen beide gleich weit von dem wahren Bilde der Natur entfernt, fie find beide in Idolen befangen, aber die platonifchen find ebenfo poetiſch, als die ariftotelifchen ſophiſtiſch.“**, Die Irrthümer Plato’s, jowenig er fie theilt, erfcheinen in Bacon's Augen Tiebens- würdiger und natürlicher. Der Bhantafie verzeiht man es eher, wenn fie irrt, als dem Verſtande. Bacon hatte eine

*) Nov. Org. I, 123. Bgl. Cog. et Visa. Op. p. 5%. Offenbar verfteht Bacon unter „aquam sponte ex intellectu manantem‘ die Syllogiftit, und unter „aquam per dialecticam tanquam per rotas ex puteo haustam‘ die Erfahrung, die aus wenigen Thatfachen die all- gemeinften Ariome wie mit einem Ruck bervorbringt. In der Parallel: ftelle der Cog. drüdt er dafjelbe aus durch „industria quadam haustum (liquorem)‘'.

**) Platonem virum sine dubio altioris ingenii fuisse. Cog. et Visa. Op. p. 585.

***) Platonem tam prope ad poetae, quam illum (Aristotelem) ad sophistae partes accedere. Cog. et Visa, p. 585.

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beweglide Einbildungsfraft und einen empfänglichen Sinn für die Reize der Poefie, diefer Sinn fand fid) angezogen von dem Zauber der platonifchen Philoſophie; diefer poetifche Zug in Bacon, der fi) nicht blos in feiner größern Zuneigung zu Plato Fumdgiebt, ſondern auch feine Schreibart bewegt und die Wahl feiner Beifpiele und Bilder lenkt, beweift aufs neue, was Humboldt einmal an Columbus finnig bemerft, daß fich die dichterifche Phantafie in jeglicher Größe menſchlicher Cha- raktere ausſpricht.*) |

Bacon beurtheilt und unterjcheidet Plato und Ariftoteles ungefähr jo, wie e8 im unferer Zeit manche mit Schelling und Hegel gehalten haben. Er fett beiden die empirifche Forſchung entgegen, welche Plato durch Phantaſie, Ariſtoteles durch Dia— lektik verdorben habe: „Das größte Beiſpiel der ſophiſtiſchen Philoſophie iſt Ariſtoteles; er hat die Naturwiſſenſchaft durch ſeine Dialektik verdorben, da er die Welt aus Kategorien ent— ſtehen ließ.“ Dem Ariſtoteles wirft Bacon vor, daß er die Wirklichkeit in Kategorien auflöſe, dem Plato, daß er die Wirklichkeit in Phantaſiebilder verwandle und umdichte: jener ſetze an die Stelle der Dinge logiſche Schemen, dieſer dichte— riſche Anſchauungen, beide Idole. Plato ſei myſtiſch und poetiſch, Ariſtoteles dialektiſch und ſophiſtiſch. So urtheilte damals Bacon über die claſſiſchen Philoſophen des Alterthums; ganz ähnlich wurde und wird bei uns über Schelling und Hegel geurtheilt.. Nimmt man dazu, daß man Hegel mit Ariftoteles, Schelling mit Plato zu vergleichen liebt, fo wird unfere Parallele des baconifchen Urtheils mit dem heutigen noch jprechender.

) A. von Humboldt, Anfichten der Natur, I, 256 flg. Fiſcher, Bacon. 17

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Bacon verwirft die platonifchen Ideen wie die aritoteli- ſchen Kategorien; beide find ihm abjtracte, unfruchtbare, in der Natur nichts erklärende Formbegriffe. Aber die platonijche Philofophie hält ihre Ideen, die in Wahrheit Idole find, für die göttlichen Urbilder der Dinge ſelbſt, fie vergöttert ihre Idole und erfcheint jo dem realiftiichen Denker als eine Apo- theofe des Irrthums, fie befticht den Verſtand durd die Ein- bildungskraft und erjcheint ihm in diefer Rüdficht als ein logiſches Verderben, als eine phantaftiiche Philofophie. „Denn der menfchliche Verftand‘‘, fagt Bacon, „ijt dem Einfluß der Phantafie ebenfo unterworfen, als dem der herfömmlichen Be- griffe. Jenes ftreitfüchtige und jophiftiiche Geſchlecht verſtrickt den Berftand, dagegen jchmeichelt ihm das andere phantaftilche, ftolze, poetifche Gefchlecht der Philoſophen. Auch der Berjtand wie der Wille hat jeinen Ehrgeiz, namentlich in hohen und emporftrebenden Geiftern. Ein vorzügliches Beifpiel diefer Philofophengattung ijt unter den Griechen Pythagoras, nur vermifcht und belajtet mit einer Menge abergläubijcher Theo- rien. Dagegen gefährlicher und feiner tritt fie auf in Plato und deijen Schule. Hier zeigt ſich das Uebel in allen Theilen der Bhilofophie: abjtracte Formbegriffe werden eingefirhrt, die Endurjachen und erjten Gründe, dagegen die Mittelurfachen und was dazu gehört außer Acht gelafjen. Hier muß man die allergrößte Vorficht anwenden. Denn unter allen Uebeln ift die Bergötterung des Irrthums das jchlimmite: es iſt geradezu für das Verderben des Geijtes zu halten, wenn fich zum Wahn nod die Verehrung geſellt. Solchem eiteln Wahn haben fich manche der Neuern mit dem größten Leichtfinn der- geftalt Hingegeben, daß fie in dem erften Gapitel der Genefis, im Bude Hiob und andern heiligen Schriften die Grundlagen

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der Naturwiffenichaft finden wollten, indem fie das Todte unter dem Lebendigen fuchten. Dergleichen faljche Beftrebungen müffen um jo mehr gehemmt werden, weil aus der unver- ftändigen Bermifhung des Göttlihen und Menfchlichen nicht blos eine phantaftifche Philofophie, fondern aud eine irr- gläubige Religion entjteht. Darum ift es gut, mit nüchternem Verſtande dem Glauben zu geben, was des Glaubens ift.‘*)

Indeffen findet ſich bei diefem durchgängigen Gegenjate der Denkweiſen und Richtungen doch ein philofophiicher Be- rührungspunft zwifchen dem größten Idealiſten des Alterthums und dem Begründer der realiftiichen Philofophie der neuen Zeit. Die platonifhe Methode hat etwas der baconifchen Verwandtes. Auf ähnliche Weife jucht jener die Ideen, diefer die Geſetze der Dinge; die fofratifc) - platonifhe Methode entbindet aus den VBorftellungen den Begriff, die baconifche aus den Naturerfcheinungen das Gefeß; in beiden Fällen iſt der Ideengang inductiv, er beginnt vom Einzelnen und erhebt fih zum Allgemeinen, in beiden Fällen ift die Induction eine jolde, die allmälig und ftufenweife zum Allgemeinen fort- fchreitet, dort zu den Ideen, hier zu den Gefegen, dort zum Urbild, hier zum Abbild der Natur, dort zu den Endurfachen der Dinge, bier zu deren wirkenden Urfadhen. Und was die Hauptfache ift: diefer Stufengang der Imduction führt bei beiden durd) die negativen Inftanzen. Plato läßt nad) dem Borbilde des Sokrates jede Begriffsbeitimmung die Probe der negativen Inſtanzen beftehen, feine Definitionen berichtigen und läutern fich fortwährend durch die contradictorifchen Fälle, die hier nicht Naturerfcheinungen find, fondern Begriffsbeſtim⸗

*) Nov. Org. I, 65. 17*

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mungen oder Urtheile. In dem Gefprädh über den Staat handelt e8 fih um die Idee der Gerechtigkeit; der Gerechte, fo jcheint e8 dem Kephalos, muß jedem das Seinige geben, alfo das Geliehene, wenn es der Andere fordert, zurüderftatten. „Iſt e8 auch gerecht”, fragt Sofrates, „die geliehenen Waffen zurilcdzugeben, wenn fie der Andere im Wahnfinn fordert?‘ Dffenbar nit. Hier ift die negative Inftanz, fie zeigt, daß die erjte Definition der Gerechtigkeit zu weit war und darım die Sache nicht traf; nicht in allen Fällen ift die Gerechtigkeit, wie fie Kephalos ſich vorftellte.*) Es hieße die platonijchen Gefpräche abjchreiben, wollte man die Beifpiele ſolcher nega- tiven Inftanzen fammeln. Ebenſo madht Bacon durch die negative Inftanz die Probe, ob die gefundenen Bedingungen eines Naturphänomens die wejentlichen find oder nicht. Plato verſucht es mit den Begriffen, wie Bacon mit den Dingen; beide laffen ihre Vorftellung die Probe der negativen Inftanz bejtehen, um zu fehen, ob die Sache fo ift, wie fie meinen; beide experimentiven, der Eine logiſch, der Andere phyfifalifch; jener, um den wahren Begriff in unfern VBorftellungen, diefer, um die wahren Gejete in der Natur zu finden. Sie gehen auf Ähnlichen Wegen nad) entgegengefegen Zielen: per veram inductionem. Auch der Menſch und das menschliche Denken ift, wie die Natur, ein Proteus, den man nöthigen muß, fid) zu äußern und Rede und Antwort zu ftehen. Iſt das Experi- ment eine Frage an die Natur, jo geftellt, daß diefe ant- wortet und ſich offenbart: was find dann die ſokratiſch-plato— niſchen Geſpräche anderes als Experimente mit der Natur des menſchlichen Denkens?

*) Platon. Rep. I, 331.

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Auch diefe Verwandtichaft hat Bacon erkannt; fie macht ihn dem Plato geneigter als dem Ariftoteles. Er felbft giebt darüber folgende Erklärung: „Die Induction, die zur Erfin- dung umd zum ſichern Beweis von Wilfenfchaften und Künften dienen foll, muß die Natur fichten und fcheiden, indem fie die wejentlichen Bedingungen von den zufälligen trennt; fie muß die negativen Inftanzen durchmachen, um durch einen richtigen Schluß zu den affirmativen zu fommen. Und dies ift bisher noch nicht gefchehen, ja nicht einmal verfucht worden, außer etwa durch PBlato, der zur Sichtung feiner Defini- tionen und Ideen wenigftens diefe Form .der Induc— tion brauchte.“*)

Die platonifche Induction führt zu einer Ydeenwelt, die fih auf dem Wege fortgefetster Abjtraction bildet; die baco- niſche Imduction führt zum Abbild der wirklichen Welt auf dem Wege fortgejetter Erfahrung. Unter dem Gefihtspunfte Plato’s ericheint die wirkliche Welt als das Abbild, wozu die Philojophie das Urbild finden foll; unter dem baconijchen da- gegen erjcheint die wirkliche Welt als das Urbild, dejjen Ab- bild die Philofophie zu treffen ſucht. Die platonifche Abjtrac- tion bejteht im Analyfiren der Begriffe, die baconifche Erfahrung im Analyfiren der Dinge. Die Analyfe der Dinge ift die Zerlegung der Körper, darum fordert Bacon ftatt dev plato- nischen Abftraction die „dissectio naturae‘, die „anatomia corporum“. „Denn wir gründen im menjchlichen Geifte das wahre Bild der Welt fo wie es ift, nicht wie e8 jedem Be— liebigen feine Vernunft aus eigener Willfür eingiebt, und diefes

*) Nov. Org. I, 105.

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Bild kann nur getroffen werden durch die genauefte Zerlegung und Theilung der Dinge. *)

3. Verhältuiß zu Demofrit und zur alten Naturphilojophie.

Dies führt uns auf das legte Verhältniß, welches zugleid) einen feſten Berührungspunft bildet zwifchen der baconifchen und griehifchen Philofophie. Dem Ariftoteles widerſtrebt Bacon aus allen Kräften und in allen Punkten, er will mit ihm gar nichts gemein haben, feine Methode erſcheint ihm ebenfo un— nüg und unfruchtbar als feine Lehren. Plato bietet ihm eine formale Verwandtſchaft; er findet hier feine Methode wieder, die wahre Induction, nur gebraucht zu nichtigen Zweden und unnügen Erfindungen, denn die platonifhen Ideen oder Dichtungen Haben nichts mit dem menjchlichen Leben gemein und können auf dieſes nicht praktiſch und umgeftaltend ein- fließen.

Indeſſen giebt es einen Lehrbegriff des Altertfums, der für Bacon eine wirkliche VBerwandtfchaft enthält: das ift der Gegenjag zur Formalphilofophie, der Materialismus, die Na- turphilofophie des vorſokratiſchen Zeitalters; es ift vor allem die atomiftifhe Lehre des Demokrit, welder fid) Bacon zuneigt und mit ihm alle folgenden Philofophen feiner Richtung. Diefes philofophifche Zeitalter, das ältefte, lebte noch in der eoncreten Anſchauung der Natur, in der einfachen Auffaffung der Körperwelt, nicht in Ieeren, daraus abgezogenen Formen. Die Principien, welche man hier den Dingen zu Grunde legte, waren Förperliher Art und fielen zufammen mit den Ele— menten. Bacon's Abneigung gegen die Formalphilofophie

*) Nov. Org. I, 124.

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macht und erflärt feine Zuneigung zum Materialismus; fein Gegenſatz zum Ariftoteles macht und erflärt feine Verwandt: ihaft zu Demokrit. Bacon und Demokrit, dem Epifur folgte, wie diefem Lucrez, find gleichſam die beiden Gegenfühler der Kormalphilojophie, die das claffifhe Altertfum und von hier aus das ſcholaſtiſche Mittelalter beherrichte. ,, Es ift beſſer“, fagt Bacon, „die Natur zu feciren, als zu ab» ftrahiren. Das hat die Schule Demokrit's gethan, die tiefer als alle übrigen in die Natur felbft eindrang.”*) Eben wegen feiner Schärfe und Griündlichfeit habe Demofrit bei der Maſſe feinen Anklang gefunden und feine Lehre fei von den Winden anderer Bhilofophien beinahe verweht worden. Und doch habe dieſer Mann in feiner Zeit das höchſte Anfehen genoffen und einftimmig unter allen Weifen für den größten Naturphilofo- phen, ja für einen Magus gegolten. Weber des Ariftoteles Polemik, der ſich die Nebenbuhler um den Thron der Philo- fophie nad türkifcher Art aus dem Wege fchaffte, noch Plato’s Hoheit und gefeiertes Anfehen hätten vermocht diefe Lehre zu vernichten. Während in den Schulen alles von Ariftoteles und Plato wiederhallte und der Lärm und Pomp, der damit gemadht wurde, groß war, ftand bei denfenden Männern, welche die ftillen und ſchwierigen Betrachtungen lieben, Demo- frit’8 Lehre in hohen Ehren. Wie Hoc) fie in der römijchen Zeit gehalten wurde, ſah man aus dem Lobe Eicero’s, aus bem Gedichte des Rucrez, der aus der Denkweife feines Zeit- alters geredet. Nicht Ariftoteles und Plato, fondern die Bar- baren der Völkerwanderung, die Genferih und Attila, hätten diefe Philofophie mit der Weltbildung überhaupt vermiüitet.

*) Nov. Org. I, 51.

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Erft nad) diefem großen Schiffbrud dev menſchlichen Wiffen- haft hätten jene beiden Philofophen den Sieg über Demokrit bei der Nachwelt davongetragen, ihre Tafeln jeien wie Teichtere Waare vom Strome der Zeit fortgetragen und bis auf uns herabgeführt worden, während die ſchwerer wiegenden unter- ſanken und in Vergefjenheit geriethen. Die Zeit fei gefommen, Demokrit im Andenken der Welt wiederherzujtellen. *)

Und nicht blos Demofrit, das ganze Zeitalter der älteſten griechifchen Naturphilofophie jet Bacon den jpäteren Philo- fophen, insbejondere der Lehre des Ariftoteles entgegen, die er als das Mufter fophiftifcher Philofophie Hinftellt. Wie Aristoteles die Naturphilofophie durch Dialektik verdorben, die Welt aus Kategorien zurechtgemacht, willfürliche Einfälle ftatt Erfenntniß gegeben, immer bemüht fi jo zu äußern, daß feine Worte wie eine pofitive Erklärung erfchienen, wenig be- fümmert um die innere Wahrheit der Dinge, das zeige fich am beiten, wenn man feine Lehre mit jenen früheren ver- gleiche, die bei den Griechen verbreitet waren. „Denn die Homoiomerien des Anaragoras, die Atome des Leucipp und Demokrit, Himmel und Erde des Parmenides, Streit und Liebe des Empedofles, der Weltproceß des Heraflit, der die Körper in das Urfeuer ſich auflöfen und wieder daraus her- vorgehen läßt: alle diefe Lehren haben doc etwas von ächter Naturphilofophie, fie Schmeden nad) Welt, Erfahrung, förper- liher Natur, während die Phyfif des Ariftoteles zum großen Theil aus dialektifchen Wortkünften befteht, die dann unter jolenneren Namen in der Metaphyſik wiederfehren, als ob fie

*) Parmenidis et Telesii et praecipue Democriti philosophia tractata in fabula de cupidine. Op. p. 652. 53.

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hier eine vealere Geltung hätten und nicht ebenfalls blos no— minal wären.” *)

Dod giebt Bacon unter jenen griechischen Naturphilofo- phen alter Zeit den Atomijten den Vorzug; ihre Vorftellungs- weife, da fie die Körper im eigentlihen Wortverftande durch- dringt und in die Feinften Theile auflöft, ift die naturgemäßeſte, die am meiften materialiftiihe. Demokrit hatte den richtigen Grundſatz, daß die Materie ewig fei, daß die ewige Materie fein form= und geftaltlofes Wejen, jondern von Anbeginn durch bewegende und gejtaltende Kräfte bejtimmt werde, daf Materie und Kraft fchlechterdings unzertrennlich feien, in der Natur der Dinge nie gefhieden und darum in der Naturer- Härung wohl zu unterfcheiden, aber nicht zu trennen. Bene form- umd gejtaltlofe Materie, von der Plato und Ariftoteles mit ihren Schülern fo viel reden, ift nicht die Materie der Dinge, jondern nur die Materie jener unbeftimmten und un— Haren Reden, womit fi) die Wortphilofophie breit macht. **) Demokrit's Mangel Tiegt nur darin, daß er feine richtigen und unzerſtörbaren Grundſätze nicht durch methodische Natur— erklärung gewonnen, ſondern aus dem ſich ſelbſt überlaſſenen Verſtande vorweggenommen, daß er ſie nicht phyſikaliſch be— wieſen, ſondern metaphyſiſch behauptet hat.“**) Dieſer Mangel

*) Nov. Org. I, 63.

**) Atque abstracta materia ista est materia disputationum, non universi. Parmenidis, Telesii et praecipue Democriti phil. etc. Op. p. 654.

+) Dies ift der Grund, warum Bacon feine Philofophie mit der atomiftifchen nicht identificirt. Er wollte phyſikaliſche Atome, nicht me» taphufische; die phyſikaliſchen Atome find die Corpuskeln oder Partikeln, d. 5. die legten Heinften Theile der Körper, die wir wahrnehmen und nachweifen Können, die Atome im metaphyſiſchen oder ftrengen Wortver-

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Demokrit's trifft überhaupt die griechiſche Naturphilofophie, deren Charakter jid) in den Atomijten am jchärfiten ausprägt. Die folgenden Zeitalter von Sofrates bis herunter zu Bacon, ausgenommen die Wiederholungen der atomiftifchen Lehre in Epikur und Lucrez, verfchlechterten die Naturphilofophie und damit den wifjenfchaftlihen Zuftand überhaupt in zunehmender Entartung. Zuerft wurde die ächte Naturphilojophie verdorben und in Schatten gerücdt durch die platonifche Ideenlehre, die an die Stelle der Dinge Begriffe ſetzte, dann noch mehr durd) die ariftotelifche Logik, die ftatt der Dinge und Begriffe Worte fegte, ſpäter durch die römische Moralphilofophie, zuletzt durd) die hriftlihe Theologie, die fich zur Vollendung der Barbarei und Geiftesverwirrung mit der ariftoteliichen Philofophie ver: mifchte. Jenes ältefte Zeitalter allein, noch nicht verbildet durch eine falfche Vhilofophie, nocdy wenig verwirrt durch idola theatri, hatte den richtigen Inftinet und die richtige Abficht. Um fie auszuführen, fehlten ihm nur die wiljenjchaftlichen Mittel. Ohne Inftrumente, ohne Methode, wie fie waren, fonnten diefe älteften Naturphilofophen nicht erfahrungsgemäß und wahrhaft phyſikaliſch denken. Was blieb ihnen übrig, da fie die Natur nicht auf wiſſenſchaftlichem Wege erklären konnten, als dieſelbe zu anticipiren? Ihre Phyſik wurde ſchon im Ur— ſprunge Metaphyſik. Es war richtig, daß ſie die Principien der Dinge in den Elementen und wirklichen Naturkräften ſuchten, aber dieſe verwandelten ſich ihnen ſogleich in allgemeine Axiome;

ſtande dagegen Gedankendinge, die noch kein Naturforſcher je entdeckt hat. „Die Sache ſoll nicht bis auf Atome zurückgeführt werden, die einen leeren Raum und eine unveränderliche Materie fälſchlich voraus— ſetzen, ſondern auf wirkliche Heine Theile, die in Wahrheit eriftiren (ad particulas veras, quales-inveniuntur).”“ Nov.Org. II, 8. Vgl, ebend. I, 66.

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fie fanden ihre Principien mehr durch einen divinatorifchen Blick als durd gründliche Unterfuhung. Ohne fichere Er- fahrungsmethode waren fie angewiejen auf den bloßen Verjtand. Sie hatten Feine falſche Methode, fondern gar feine. Und was kann der fich jelbjt überlafjene Verſtand, da er zu wiffen nicht vermag, anders als dichten? So erſcheint in Bacon’s Augen die ältefte Weisheit zwar ihrem Inhalte nad) der Natur und Wahrheit verwandt, am nächſten unter allen Bhilojophien der Vergangenheit, aber ihrer Forn nad) mehr als Dichtung, denn als Wiffenfchaft. Natur und Wahrheit find darin gegen- wärtig, nicht als deutliche Erkenntniß, gegründet auf Erfahrung, fondern als Mythus und Erfindung des dichterifchen Verjtan- des. Hier erblidt Bacon die Verwandtſchaft der griechifchen Phyfiologie und Mythologie, und unter diefem Gefichtspunft entfteht jeine Auffaffung von der „Weisheit der Alten‘. Die Phyfiologie erjcheint ihm als Dichtung, was fie in der That aud in dem älteften Zeitalter war, und die Mythologie als Weisheit im Gewande der poetifchen Erzählung, d. h. als Fabel, als Sinnbild der Natur und ihrer Kräfte, der Menfchen und ihrer Sitten, denn auch die Dichtung ift ein Abbild dev Wirk- lichkeit. Darin alfo ftimmen die ältefte Dichtung und die ältefte Weisheit überein, daß fie der einfachen Wahrheit, von der fie noch nicht durch falſche Verſtandeswege abgekommen find, am nächſten ftehen und den Sinn der Natur, der fie er- füllt, auf bildfiche Weije auslegen. Daher nahm Bacon die Mythen des Alterthums als Sinnbilder oder Parabeln und verfuchte eine folche allegorifhe Erklärung in feiner Schrift über die Weisheit der Alten. Er gelangte, wie es jcheint, auf doppeltem Wege zu diefem Gefichtspunkte. Auf dem einen entdedte er in dem älteften Zeitalter naturwifjenichaftliche

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Mythen, Fabeln, die als bedeutungsvolle Anſchauungen auf- treten und, ihrer dichterifchen Hille entkleidet, ſich in natur— philoſophiſche Sätze verwandeln, die ſeiner Denkart näher ver— wandt ſcheinen als alle Syſteme der ſpätern Weisheit. Wenn aber in einigen Fällen die Mythen offenbar allegoriſche Be— deutung haben, warum nicht ebenſo gut in vielen andern? Wenn es naturwiſſenſchaftliche Mythen giebt, warum ſoll es nicht ebenſo gut moraliſche und politiſche geben? So konnte Bacon ſchließen und demnach den Verſuch machen, die allegoriſche Erklärung, die ihm in einigen Fällen durch die Natur der Sache geboten ſchien, auf viele ähnliche Fälle anzuwenden. Und nicht genug, daß er ſo ſchließen konnte; nach der Entdeckung, die er bei ſeiner Anſchauung der frühern Philoſophie in dem älte— ſten Zeitalter derſelben zu machen glaubte, mußte er ſogar die allegoriſche Erklärung der alten Dichtungen jeder andern vorziehen. Dazu zwang ihn außerdem der Geſichtspunkt, unter dem er die Poeſie als ſolche auffaßte. Dies iſt der andere Weg, den wir meinen. Der erſte führt in Weiſe der Induction von einer geſchichtlichen Thatſache zu einem Axiom, das Bacon verallgemeinert, indem er daſſelbe auf viele Fälle anwendet; der andere führt in Weiſe der Deduction von einer allgemeinen Theorie zu einem Experiment, welches die voraus— geſetzte Theorie beſtätigen und an einer Reihe von Fällen bei— ſpielsweiſe geltend machen will. Beide treffen in einem Ziele zuſammen, und dieſes Ziel iſt Bacon's Schrift „über die Weisheit der Alten“. Der kürzere von beiden Wegen, der in gerader Linie auf ſein Ziel losſteuert, iſt der zweite, der un— mittelbar aus dem Geſichtspunkte der baconiſchen Poetik her— vorgeht.

Siebentes Kapitel. Die baconiſche Philojophie in ihrem Verhaltniß zur Poeſie.

4, - Bacon’s Poetik. 1. Bhilofophie und Mythologie,

Bei der kritiſchen Mufterung, die Bacon über die frühere Philofophie hält, fieht ev fi) am äußerften Ende derfelben der Poefie gegenüber; der einzige Berührungspunft, den feine Philofophie mit der Vergangenheit gemein Hat, liegt in dem älteften Zeitalter, wo die Wiſſenſchaft noch eins war mit der Didtung. Am weiteften entfernt ift der baconifche Geift von dem ariftotelifch-[cholaftiichen, er nähert ſich in einer gewiffen Rückſicht dem platonifchen, er trifft am nächjten zufammen mit dem demokritifch-atomiftifchen; Hier begegnen fich die diver- girenden Richtungen der baconifchen und der frühern Philofo- phie; fie convergiven ganz in der Nähe der Mythologie, in dem dichterifchen Zeitalter der Wiffenfchaft, wo Philojophie und Poefie nod) unmittelbar miteinander verkehrten. Bacon’s Interejje an den Mythen der Alten ift auf die Berwandtjchaft geftügt, die er mit dem früheften Zeitalter der Naturphilofo- phie empfindet, und feine VBerfuche dev Mythenerklärung lajjen

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fih) unmittelbar zu den Zügen rechnen, die jein Verhältniß zur alten Philofophie namentlich nach der pofitiven Seite er- leuchten. Daher fegen wir unfern Weg aus dem vorigen Ab- jchnitt fort, wenn wir unferem Philoſophen gleih von hier aus in das Gebiet feiner Mythenerflärung wenigftens jo weit folgen, um die Art und Richtung derfelben fennen zu lernen, Aus feinem Verhältnif zur Philofophie der Alten folgt fein Verhältniß zu den Mythen, und aus diefem letzteren läßt fich der Standpunkt erfennen, den feine eigene Lehre zur Poeſie überhaupt einnimmt. Obwohl nun die Poetif eigentlih in das enchklopädifche Hauptwerk gehört, jo wollen wir jchon jett davon veden und bei der fpätern Darftellung feines zwei- ten Hauptwerfs nur das vein wifjenfchaftliche Feld beachten. Es kommt dazu, daß die mythologiſchen Verfuche früher find, als die Ausführung der Enchflopädie, daß Bacon die Bei- jpiele, die ev hier gab, aus jenen fchöpfte, während auf der andern Seite der Typus feiner Poetik ſchon feititand, bevor er die Schrift über die Weisheit der Alten verfaßte. Sie jteht zwifchen dem Entwurf und der Ausführung des enchklo- pädifchen Werks und ihre Verſuche können nicht blos, fondern müffen betrachtet werden als in doppelter Hinficht bemerfens- werthe Beifpiele, denn fie erleuchten jowohl Bacon's Philo- jophie gegenüber den Alten, als feine Poetif.

2, Die Dihtung ald Alfegorie.

Wir wiffen, welche praftifche Ziele umfafjender Art Bacon der Philojophie fett, ihre Früchte follen Werfe fein, welche die Erfenntniß in die Macht des Menfchen über die Dinge verwandeln und diefe Herrichaft erweitern; der praftifche Geiſt ſoll die Welt erfinderifch umbilden, der theoretifche ſoll fie er—

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fahrungsgemäß abbilden. Dieſe abbildlihe Darftellung der Welt ift Weltbefchreibung und Welterflärung, jene ift die Ge- Shichte der Natur und Menfchheit, diefe die Wiffenfchaft, welche erfennt, was die Gefchichte berichtet; die Gejchichte ge- hört dem Gedächtniß au, welches unjere Erfahrungen ſammelt und aufbewahrt; die Wifjenjchaft ift das Werk der Vernunft, welche jene Erfahrungen durchdenkt und auf allgemeine Gefege zurüdführt. Aber außer Gedächtniß und Vernunft hat der theoretifche Menfchengeijt noch ein anderes Vermögen: die Ein- bildungsfraft oder Phantafie. Es muß mithin auch ein Abbild der Welt möglich fein durch die Phantafie, welches nicht rein factifch ift,; wie das Abbild der Welt im Gedächtniß, nicht rein gejegmäßig, wie das Abbild der Welt in der Vernunft, jondern von beiden fich darin unterfcheidet, daß es nicht ge- funden wird, fondern erfunden. Wahrnehmung und Ver— nunft jollen die treuen Spiegel fein, welche die Dinge reflec- tiren, ohne fie zu verändern, die Phantafie dagegen ift ein Zauberfpiegel, der die Dinge verändert, indem er fie abbildet. Sie imaginirt das Abbild der Welt. Diefes erfundene Welt- abbild ift die Poefie. Ihr gehört in dem Reiche des theore- tifhen oder abbildenden Geiftes die mittlere Provinz zwiſchen Gecſchichte und Wiſſenſchaft.

In ihrem Verfahren iſt die Poeſie dem praktiſchen Geiſte verwandt, denn fie iſt erfinderiſch, aber ihr Zweck bleibt theo— retifch, denn er befteht in der bloßen Darftellung der Welt. In der Art ihrer Weltdarftellung unterjcheidet ſich die Poefie von dev Wiſſenſchaft und Gejchichte; dieſe nämlich müſſen die Welt darftellen, wie fie ift; die Poefie dagegen darf fie dar- ftellen, wie das menfchlihe Gemüth wünfcht, daß fie fein möchte; jene machen den menjchlichen Geift den Dingen adä-

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quat, dieje die Dinge dem menjchlichen Geift. „Deshalb fann die Poefie mit Recht als etwas Göttliches erjcheinen, weil fie die Abbilder der Dinge unferm Wunjche gemäß er- icheinen läßt und nicht unfern Geift den Dingen unterwirft, was Vernunft und Geſchichte verlangen.“*) Demnach iſt unter dem baconiſchen Geſichtspunkte die Poeſie das Abbild der Welt nicht blos in, ſondern auch nach unſerm Geiſte: das Abbild der Welt, dargeſtellt unter den Idolen der Phan— taſie. Alſo hier erſcheint die Poeſie nur als Spiegel der Welt, nicht als Spiegel der menſchlichen Seele, nur als Abbild der Geſchichte, nicht als Abbild des eigenen Gemüths. Es giebt mit andern Worten für Bacon keine lyriſche Poeſie. Das folgt mit Nothwendigkeit aus ſeinem Standpunkte, der dem theoretiſchen Geiſte nur Weltabbildung, der Poeſie nur phantaſiegemäße Weltabbildung zuſchreibt. Bacon ſelbſt erklärt: „Sativen, Elegien, Epigramme, Oden und was zu dieſer Gattung gehört, entfernen wir aus der Betrachtung der Poeſie und rechnen es zur Philoſophie und Rhetorik.“**) Hier zeigt ſich ſchon die eigenthümliche Beſchränkung der baconiſchen Poetik: ſie verneint die lyriſche Poeſie und iſt unvermögend, dieſelbe zu erklären. Damit überſieht ſie nicht blos eine ganze Welt der Poeſie, die exiſtirt, gleichviel mit welchem Namen man ſie bezeichnet, ſondern, was mehr iſt, ſie überſieht zugleich die unverſiegbare Quelle aller Dichtung, ſie überſieht, was die menſchliche Phantaſie erfinderiſch macht und poetiſch ſtimmt.

*) De augm. scient. Lib. II, cp. 13. Op. p. 60.

**) De augm. scient. Lib. II,cp. 13. Per poesim autem hoc loco intelligimus non aliud quam historiam confictam sive fabulam. Carmen enim stili quidam character est atque ad artificia orationis pertinet. II, cp. 2. Op. p. 43.

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Die lyriſche Poeſie ift der Ausdrud der Gemüthsbewegungen und Empfindungen, welche die Phantafie infpiriven, zum Dichten fähig und bebürftig machen, die poetifche und künſt— ferifche Thätigfeit überhaupt bedingen und hervortreiben. Es giebt Feine Kunftfhöpfung ohne Phantafie, es giebt Feine ihaffende Phantafie, ohne ein im Innerften bewegtes Gemüth, und die lyriſche Poejie jagt, was das bewegte Gemüth leidet. Wer die Poefie fo erflärt, daß er die lyriſche ausfchließt, der denkt fi) Poefie und Kunſt überhaupt ohne ſchaffende Phantafie und Gemüthsbewegung; es ift aljo natürlich, daß er von bei- den nichts übrig behält als die Profa. Dies wird fich deut- (id) genug an Bacon zeigen. Seine Begriffe von Poefie find weit profaifcher als er ſelbſt. Er beginnt damit, daß er das Urpoetifche in die Rhetorik, d. h. in die Profa verweift: die lyriſche Poefie; er Hört damit auf, daß er das Urprojaifche als den höchſten Grad des Poetifchen Hinftellt: die allegorifche Poeſie. In feinen Augen kehrt fich die Voefie geradezu um. Wo jie aus ihrer natürlichen und erften Quelle jchöpft, da ericheint fie ihm gar nit; wo fie im Begriff ift, fich in Proja zu verwandeln, und nur ihre Hülle noch nicht ganz abgelegt hat, da erfcheint fie ihm auf dem Höhepunkte ihrer Wiirde und Kraft. Denn was bleibt der Poefie übrig, wenn jie die Iyrifche Gattung ausschließt? Nichts als die Abbildung der Geſchichte, die fie darftellt in Form der Erzählung als vergangene Begebenheit, in der Horn des Dramas als gegen- wärtige Handlung, in der Form des Sinnbildes als bedeut- jamen Borgang. Das poetifche Abbild der Gefchichte ift ent- weder Erzählung oder Drama oder Sinnbild, daher die Gattungen der Poeſie epifch, dramatifh, parabolifh. Die epische Poefie jtellt die Gejhichte dar als vergangen, d. h. fie Fisher, Bacon. 18

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erzählt, die dramatiſche vergegenwärtigt die Gejchichte, d. h. fie giebt fie al8 Handlung, die parabolifche läßt fie als Bild einer Wahrheit ericheinen, d. h. fie verfinnbildficht. Die erjte ift „historiae imitatio“, die zweite „historia spectabilis“, die dritte „historia cum typo“,*)

Die epifche Poefie grenzt an die Geſchichte, die parabo- liche an die Wiffenfchaft; jene ift Darftellung, diefe Deutung der Gefchichte; die Darftellung fett die Ueberlieferung voraus, die Deutung ftrebt auf die Erklärung zu. Da nun Bacon’s ganze Aufgabe dahin zielt, aus der Geſchichte (Weltbefchrei- bung) Wiſſenſchaft (Welterflärung) zu machen, jo begreift fi, wie ihn unter allen Gattungen der Poeſie am meijten diejenige anzieht, die der Wiffenfchaft zunächſt jteht. Die parabolifche ijt ihm die wichtigſte: „ſie überragt die an- dern“. **) Sie feifelt die Phantafie durch ihre Bilder und veizt den Verſtand durch deren Bedeutſamkeit. So bildet fie gleihjam die Einleitung oder Vorſchule, den erſten, Findlichen, phantafiegemäßen Ausdrud der Wiſſenſchaft; ihr didaktiſcher Werth ift in Bacon’s Augen zugleich) der poetifche. Nicht das Intereffe für die Kunft, fondern für die Wiffenfchaft fteigert hier die Bedeutung der allegorifchen Poefie, fie erjcheint um jo viel poetifcher, als fie nüßlicher und der Wiljenfchaft dienftbarer ift al8 die andern poetischen Gattungen; fie ver- wandelt die Gefchichte in ein Sinnbild, in einen Typus, ent- weder um Geheimniffe zu verhüllen oder um Wahrheiten zu verfinnlichen; im erſten Fall Aft fie myſtiſch, im zweiten didak— tiſch; die myſtiſche Symbolik dient der Keligion, die didaktische

*) De augm. scient. II, cp. 13. Op. p. 59. **) At pocsis parabolica inter reliquas eminet. Op. p. 60.

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der Wiffenfchaft. Die Heiligen Geheimniffe der Religion wer- den durch Sinnbilder dem Auge der Menge ebenjfo verhültt, als die Wahrheiten der Natur dadurch faßlich und allen zu— gänglich gemacht werden. Menenius Agrippa überzeugte durch feine Fabel das römiſche Volt von der Gerechtigkeit der politiihen Standesverhältniffe. Aehnlich redete auch die Wiſſenſchaft in dem ältejten Zeitalter zu den Menfchen. „Denn damals waren die Schluffolgerungen der Bernunft nen und ungewohnt, darum mußte man die Bernunftwahrhei- ten durch Sinnbilder und Beifpiele den Menſchen anſchaulich machen. Deshalb war damals alles voll von Fabeln, Bara- bein, Räthſeln und Gleichniſſen. Daher kamen die finnbild- fihen Körper des Pythagoras, die Kabeln des Aeſop und was dergleichen mehr iſt. Selbjt die Sprüde der alten Weiſen vedeten durch Gleichniſſe. Wie die Hieroglyphen älter find als die Buchftaben, jo find die Parabeln älter als die Be- weife: fie find die durchfichtigiten Argumente und die wahrften Beispiele.” *) |

Das ift der Gefichtspunkt, unter dem Bacon die Sagen des AltertHums auffaßt. Diefe Götter- und Wundergefchich- ten find Abbilder der Welt (der Natur und Meenfchheit) durch) die Phantafie. Aber fie find nicht natürliche Abbilder: was fünnen fie anders fein als bedeutfame? Sie find weder epiſch noch dramatiich: was Fünnen fie anders fein als paraboliſch? Sie find weniger Abbilder als Sinnbilder der Welt, deren die Ältejte Weisheit bedarf, um ihre Wahrheiten einleuchtend zu machen. Die Wiffenfchaft hat das Intereffe, den Sinn zu

*) De augm. scient. II, cp. 13. Op. p. 60. Bgl. De sap. vet. Praef. Op. p. 1248.

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erklären, den jene Sagen bildlih, gleihjam hieroglyphiſch ausdrüden; diefe Mythenerklärung, die nur eine allegorifche jein kann, vechnet Bacon unter die zu löfenden Aufgaben der Wiffenfchaft und macht jelbjt den Verſuch einer Yöfung. „Da alfe bisherigen Erflärungsverfuche jener paraboliichen Dichtung ungenügend find, jo müfjen wir eine Philojophie, die jenen alten Parabeln nahforiht, unter die wifjenjchaftlichen Auf- gaben rechnen. Zu diejem Zwede wollen wir jelbjt das ein. oder andere Beifpiel angeben, denn für alle Arbeiten, die wir unternommen wünjchen, werden wir ftets entweder Vorſchrif— ten oder Beispiele aufftellen, damit e8 nicht fcheine, als ob wir nur oberflädhlicd die Sache geftreift und wie die Auguren die Gegend nur mit geiftigem Auge meffen, aber nicht ver- jtehen, felbjt die Wege zu betreten. Was nun die Poefie be- trifft, jo ift die Erflärung der alten Parabeln das Einzige, was uns in diefem Zweige wünfchenswerth erſchienen.“*)

So führt feine Poetik ihn geraden Weges zu feiner Schrift über die Weisheit der Alten. Hier wird an einer Reihe von Beifpielen die Yöfung der bezeichneten Aufgaben vorbildlich gezeigt. Und zu diefer Löſung bietet die baconifche Poetif nicht blos Gefihtspunft und VBorfchrift, fondern zugleich) eremplarifche Fälle, die ſchon die Schrift über die Weisheit der Alten enthält. Die Sagen vom Pan, Perjeus und Dio- nyſus dienen gleichſam als prärogative Inftanzen, um an der erjten das Sinnbild einer fosmifchen oder naturphilofophifchen, an der zweiten das einer politifchen, an der dritten das einer moralifhen Wahrheit nachzuweifen.**)

*) De augm. scient. II, cp. 13. Op. p. 61. **) Ebend. II, cp. 13. Vgl. De sap. vet. VI, VII, XXIV.

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3. Bacon's Erllärungsart.

Um zu fehen, wie Bacon in feiner Auflöfung der My— then verfährt, werden einige Beifpiele genügen. Das wichtigite ſei das erfte. Verknüpfen wir den Standpunkt feiner Poetik mit dem beftändigen Hinblid auf die alte Naturphilofophic, jo konnte ihm nichts gelegener fein als wenn er denſelben Mythus im Munde der Dichter und Philoſophen zugleich an— traf und fand, daß beide in verwandter Abficht ſich deijelben Sinnbildes bedienten. Kein Mythus feifelte feine Aufmerkſam— feit mehr als der fosmogonifche, aus deſſen Bildern die alt- poetiſchen und altphilofophifchen Borftellungen bon dem Urſtoff und der Urkraft der Dinge hervorleucdhten. In der Fabel vom Eros fuchte er die ihm verwandten Züge der Lehren des Bar menides, Telefins und insbefondere des Demokrit. Dieſer kosmogoniſche Eros ift nicht der Sohn der Afrodite, ſondern der ältefte der Götter, der Bildner der Welt, die geftaltende Ur fraft, hervorgegangen aus dem Ei, das jelbft aus dem Schoße der Nacht hervorging. Als Urwefen ift er ohne Eltern, ohne Urfadhe, d. h. unerfennbar und dunfel. Die lebten Urſachen aller Dinge find dunkel. Mit Recht läßt der Mythus das Ei, aus dem cr hervorgeht, im Schoße der Naht reifen und die Nacht darüber brüten. Aber das Ei wird aus der Naht geboren, aus ihm der Eros, er tritt hervor und kommt zum Borfchein. Die Geburt ift eine Ausfchliefung. Auch die Erkenntniß geſchieht durch Ausſchließung, durd negative Inſtanzen, die das Verborgene enthüllen. Jetzt vergleicht ſich die Geburt des Eros mit der baconiſchen Methode, die Ver gleichungspunkte ſind ſo willkürlich als wankend, ſie ſpringen von dem Erkenntnißobject auf die Erkenntnißart, von der Na—

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tur der Dinge auf die der Erfahrung; in der baconifchen Methode find die negativen Inftanzen die Feuerprobe der Er- fenntniß, der Weg zum Licht; in der Vergleihung mit dem Mythus ericheinen fie als der Weg durch die Nacht, freilich) jolange wir das Licht fuchen, find wir nod nicht im Licht, alfo noch im Dunkel. Bis die Ausſchließung vollendet ift, jagt Bacon an diefer Stelle, folange find wir noch nicht im Klaren, daher der Beweis dur Ausichliegung der Inftanzen, bevor er jenes Ziel erreicht hat, noch Feine Erfenntniß ift, fon- dern gleichſam Nacht. So fpielt Bacon mit feiner Methode, um jie dem Bilde anzupafjen, welches darüber ganz aus den Augen verloren wird. Denn der Eros, um wieder in den Mythus zurücdzufommen, ift der Urftoff mit feinen Kräften, und nun wird von dem Mythus gerühmt, daß er den Urftoff nicht als die unbejtimmte und abjtracte, form- und gejtaltlofe Materie einführt, jondern als durchgängig in allen ihren Theilen ge- jtaltet und bewegt. Da find wir bei den Atomen des Demo: frit, bei dem Gegenfat diefer Lehre gegen die platonifche und ariftotelifche, an derjelben Stelle, die wir im vorigen Ab- jchnitt ausführlich) kennen gelernt. *)

In allen einunddreißig Fällen, woran fi) Bacon in feiner Schrift über die Weisheit der Alten verfucht Hat, finden wir diefelbe Erflärungsart. Wo er der Sache näher kommt, da it c8 dem Mythus zu danken, nicht ihm. Er fest überall

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*) De priucipiis atque originibus secundum fabulas Cupidinis et coeli sive Parmenidis et Telesii et praecipue Democriti philo- sophia tractata in fabula de Cupidine. Op. p. 650—53. Bgl. De sap. vet. XII (coelum sive origines), XVII (cupido sive atomus). S. vor. Cap, ©. 362—68.

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die allegorifhe Beichaffenheit der Mythen voraus, ohne fich im mindeften um ihre Gefchichte zu kümmern, ohne ihren Ur: ſprung, ihre veligiöfen, volfsthümlichen, Tocalen Elemente zu unterfuchen, die frühern Bildungen von den fpätern, die epi— ihen Beſtandtheile von den allegorifhen zu fondern. Er nimmt fie nicht als Mythen, fondern nur als Parabeln, als Steichniffe, bei denen das Bild gegeben, der Sinn zu finden ijt; er verwandelt die Parabel in ein Gleichniß und über- fchreibt jede einzelne mit der Gleichung, die er hineinlegt und ausführt: „cupido sive atomus“. Er allein ift hier der allegorifhe Dichter und ift in feiner Erklärung fo wenig ein Mytholog als Aefop ein Zoolog war. Wenn wir die My: thendichtung mit Naturproducten vergleichen dürfen und uns jest daran erinnern, wie eifrig Bacon verlangt hat, daR die Bildungen der Natur in ihren Eigenthümlichkeiten aufgefaßt und erflärt werden, alle vorgefaßte Meinungen, alle menfchlichen Analogien aus unſerer Betracdhtungsweife entfernt werden folfen, fo ift feine Mythendichtung eines der ſtärkſten Beifpiele des Gegentheils. Viel Tieffinn wird hier mit vielem Leicht- finn fruchtlos verfchwendet, und es wimmelt von verfehlten Analogien, vor denen das baconifche Drganon jelbjt gewarnt hatte. Statt vieler Beiſpiele wollen wir eines anführen, Der Gott Pan gilt ihm ald Sinnbild der Natur. Wie ihm die Natur erfcheint, jo muß fie fich in jenem Bilde verfinn- lichen, in diefer Abficht muß das Altertfum den Panmythus gedichtet haben. Pan repräfentivt den Inbegriff der irdiſchen Dinge, die der Bergänglichkeit anheimfallen, denen die Natur eine beſtimmte Yebensdauer vorjchreibt: darum find die Parzen die Schweftern des Gottes; die Hörner des Pan fpiten ſich nach oben zu: ebenſo die Natur, die von den Individuen zu

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den Arten, von den Arten zu den Gattungen emporfteigt und fo dem Bau einer Phramide gleicht, die fi) in den Pan- hörnern verfinnbildlicht; diefe berühren den Himmel: die höchften Gattungsbegriffe führen aus der Phyſik zur Meta— phyſik und zur natürlichen Theologie; der Körper des Pan ift behaart: diefe Haare find ein Symbol der Lichtftrahlen, die von den leuchtenden Körpern ausgehen; der Pankörper ift doppelförmig, gemischt aus Menſch und Thier, aus der höhern und niedern Gattung: daffelbe gilt von allen natürlichen Bildungen, überall zeigen ſich Webergangsformen von der niedern Stufe zur höhern, Mifchungen aus beiden. Die Ziegenfüße des Gottes find ein Symbol der aufjteigenden MWeltordnung, die Panflöte ein Sinnbild der Weltharmonie, die fieben Rohre bedeuten die fieben Planeten; der gefrünmte Stab ift das bedeutfame Zeichen des verfchlungenen Weltlaufs, endlich die Echo, die fi) dem Pan vermählt, veranſchaulicht die Wiffenfchaft; die das Echo der Welt, deren Abbild umd Wiederhall fein joll.

Es kann nicht fehlen, daß ſich Hier und da, wo ſelbſt die erfünftelte Erflärung den Gegenjtand nicht ganz verfehlen konnte, auch finnvolle und treffende Züge finden. Es giebt gewiffe Mythen, denen Charakterzüge einer menjchlichen Ge: müthsart aufgeprägt find, und die als jolhe Typen umnjere Einbildungskraft feſſeln. So ift der Prometheus gleichfam ein Urtypus des im Selbitgefühl eigener unabhängiger Kraft aufftrebenden Menfchengeiftes. In diefem Vorbild haben fich Goethe und Bacon gefpiegelt. Diefer fieht in dem Titanen der Sage den erfinderifhen Menfchengeift, der die Natur feinen Zwecken unterwirft, die menfchliche Herrfchaft begründet, die menſchliche Kraft ins Grenzenlofe fteigert und gegen die

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Götter aufrihtet.*) Wie er im Prometheus das Vorbild des emporjtrebenden, durch Erfindung mächtigen Menſchengeiſtes jieht, jo erjcheint ihm Narciß als Typus der menfchlichen Eigenliebe. Er benußt die Dichtung, um mit deren Zügen den Charakter der Selbitliebe zu ſchildern, und wie fehr er auch die Züge des Dichters misdeutet, wie fremd feine Er- färung dem Charakter des Mythus ift, jo ſehr beweiſt fie feine eigene feine und finnige Menſchenkenntniß. Den Dichter hat er verfehlt, aber den Charakter der Eigenliebe fo menfchen- fundig getroffen, daß wir die Schilderung mit feinen Worten wiederholen. „Narciß, fo erzählt man, war wunderbar von Geſtalt und Schönheit, aber zugleich erfüllt von unmäßigem Stolz und unerträglider Verſchmähung. Selbitgefällig, wie er war, verachtete er die Andern und lebte einfam im Walde und auf der Jagd mit wenigen Gefährten, denen er alles war. Sehnfüchtig verfolgte ihn überall die Nymphe Echo. Sp fam er einjt auf feinen einfamen Wanderungen zu einer Haren Quelle, und bier lagerte er ſich am heißen Meittage. Kaum hatte er im Waſſerſpiegel fein eigenes Bild erblict, fo verſank er in dejjen Betrachtung, ftaunte fi) an, und ganz und gar in diefe Anfchauung vertieft und davon Hingerifjen, fonnte ihn nichts von diefem Bilde entfernen. An die Stelle feitgebannt, erſtarrte er und verwandelte ſich zuletzt in die Blume Narciß, die im erſten Frühlinge blüht und den unter: irdiihen Göttern, dem Pluto, der Proferpina und den Eu: meniden geweiht ift. Diefe Fabel jcheint die Gemüthsver- fafjung und die Scidjale folder zu veranichaulichen, Die alles, was fie find, von der Natur allein haben, ohne eigene

*) De sap. vet. XXVI (Prometheus = status hominis).

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Anftrengung, jener Yieblinge der Natur, die fi in Selbtliebe auflöfen und gleichjam verzehren. Dieſe Gemüthsart bringt es mit fi, daß ſolche Menfchen felten im öffentlichen Leben erjcheinen und ſich mit den bürgerlichen Geſchäften einlafjen. Denn im öffentlichen Leben müſſen fie mande Bernadhläffigung, manche Geringſchätzung erfahren, die ihr Selbjtgefühl drüden und jchmerzen würde, Darum leben fie Lieber einfam, für ih, gleichſam im Schatten, nur mit ſehr wenigen auserwähl- ten Gefährten, und nur mit ſolchen, von denen fie verehrt und bewundert werden, die ihnen echoartig in allem, was fic jagen, beiftimmen und gleihjfam ihr Wiederhall find. Sind fie nun, wie es nicht anders fein kann, von diefer Yebensart entfräftet, ausgehöhlt und von Selbjtbewunderung verzehrt, dann ergreift fie eine unglaubliche Thatlofigkeit und Trägheit, ſodaß fie ganz und gar erjtarren und alles Feuer und allen Yebensmuth einbüßen. Sinnig lafjfen ſich diefe Gemüther mit den Frühlingsblumen vergleichen; im erjten Jugendalter blühen fie und werden von aller Welt bewundert, im reifen Alter täuſchen und vereiteln fie die Hoffnungen, die man auf fie gejett hatte. Wie die Frühlingsblumen find diefe veichbegab- ten Naturen den unterirdichen Göttern geweiht, denn fie ver: Ihwinden fpurlos, ohne der Welt etwas genügt zu haben, Denn was feine Frucht von fich giebt, fondern wie ein Schiff im Meere vorübergleitet und verfinkt, das pflegten die Alten den Schatten und unterivdiichen Göttern zu weihen.‘*) Man ficht aus diefen Beifpiele, das wir gefliffentlic) gewählt haben, wie vücdfichtslos Bacon, mit den Zügen der Dihtung umgeht. Sein Nareiß ift ein anderer als der des

*) De sap. vet. IV. (Narcissus = philautia.)

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Dvid. Gerade der dichteriihe Hauptzug erſcheint bei Bacon in jein Gegentheil verkehrt: in der Dichtung verſchmäht Nareif die Echo, die ihn verfolgt, in der baconifchen Erklärung ſucht er die Echo als die einzige Gefellfchaft, die er verträgt. Aus der jehnfüchtigen Nymphe macht Bacon Parafiten und aus dem Narciß einen allgemeinen menfchlihen Typus, den er treffend und meijterhaft zeichnet.

11: Das griechifche und römische Alterthum.

Bacon nnd Shafipeare,

Für die gefchichtliche und religiöfe Grundlage der Mytho— logie hat Bacon weder Sinn noch Maßſtab; er nimmt die Mythen als Iuftige Gebilde einer willfürlihen Phantafic, als poetiſche Yehrbegriffe, die er nad der Form feines Geiftes erklärt und verwandelt. Aber die Mythologie bildet die Grundlage des Alterthums. Sowenig er dieje erkennt, ſo— wenig ift er im Stande, die Welt zu beurtheilen und zu ver: jtehen, die fi) auf jener Grundlage erhebt. Er urtheilt über das Altertum mit fremden Geiſte. Ihm fehlt der Sinn für dejfen gefchichtliche Eigenthümlichkeit, der congeniale Ber: jtand für das Antike, der hier, wenn irgendwo, nöthig ift zu einer eimdringenden Erkenntniß. Diefer Mangel bleibt in der gejammten von Bacon begründeten Aufklärung. Auch die deutjche Aufklärung hat an diefem Mangel gelitten und fid) durch Windelman und dejfen Nachfolger davon befreit; dieſe Ergänzung ift auf der englifch-franzöfiichen Seite ausgeblieben, und es jcheint, als ob dem Geifte, der hier die Herrichaft

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führt, dafür die Anlage fehlt, die durch Feine empirische Kenntniß erworben, gefchweige erſetzt werden kann; denn fie beruht auf einer Verwandtſchaft, die unter den denfenden Völ— fern der neuen Welt das deutjche auszeichnet, vielleicht zum Erfat für mande andere Mängel. Wir reden hier von dem griechifchen Altertfum, welches Bacon von dem vömijchen nicht genug zu unterscheiden wußte; diejer Unterfchied aber iſt jo groß, daR er fanm den gemeinfamen Namen duldet. Das claffifhe Altertfum im fpecififhen Sinn ift das griedifche auf homerifher Grundlage. Bacon dagegen, wie es fein Nationalgeift und fein Zeitalter mit ſich brachte, erblidte das griechische Altertfum nur durd) das Medium des römi- ihen. Er hatte jelbjt in feiner Denf- und Empfindungsweife etwas dem römifchen Geifte Verwandtes, der fid) zum griechi— chen verhält wie die Profa zur Poeſie. Wie die griechische Mythendichtung im römischen Verſtande erfchien, ähnlich er: jcheint fie in dem baconifchen. Die Römer erklärten die alten Dichtungen in jener allegorifchen Weife, die bei den fpätern Philoſophen nad) Ariftoteles, namentlich bei den Stoifern verbreitet war und befonders durd) Chryfipp geltend gemacht wurde. Diefe fpätern Philofophen waren fon auf dem Uebergange aus der griechiſchen Welt in die römifche. So ſehr ſich Bacon in der Vorrede feiner Schrift über die Weis- heit der Alten gegen die Stoifer, vorzüglid) gegen Chryſipp zu verwahren fucht, jo wenig hat er ein Recht, ihre Mythen- erklärung für eitler und willkürlicher zu halten als die jeinige. Das ganze Zeitalter, in dem er lebte, kannte das griechiſche Altertum nur im Geifte des römischen, mit diefem ſympa— thifirte der englifche Nationalgeift vermöge feiner Weltjtellung und die baconijche Denkweife ſelbſt. Zwifchen dem römischen

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und baconischen Geijte liegt die Verwandtſchaft in dem über- wiegend praftiihen Sinn, der alles unter dem Gefihtspunfte des menjchlihen Nutens betrachtet und deſſen Tekter und größter Zwed fein anderer ift als die Vermehrung der menſch— lihen Herrſchaft. Man darf diefe Parallele durch einige Punkte verfolgen. Die Römer begehren die Herrjchaft über die Völker, Bacon die Herrfchaft über die Natur, beide brau- chen als Mittel die Erfindung: bei den Römern iſt diefes Mittel die militärifhe, bei Bacon die phyſikaliſche Erfindung. Was dort die fiegreichen Kriege, das find hier die fiegreichen Experimente. Um ihren Kriegen einen fichern Hintergrund zu geben, finden die Römer die bürgerlichen Geſetze, welche die innern Rechtszuftände befeftigen und vegeln; um feine Ex— perimente auf eine fichere Bafis zu ftügen, fucht Bacon die natürlichen Geſetze, welche die innern Bedingungen auf- jtelfen, unter denen die Experimente gelingen. Und bei beiden macht die Erfahrung die Richtfehnur, wonach die Gefete ge- bildet werden, dort in politifchem, hier in naturwiffenfchaft- lichem Berftande. Praktiſche Weltzwede beftimmen die Rich— tung des römiſchen und des baconifchen Geiftes und erzeugen in beiden eine gewiffe VBerwandtichaft der Denfweife. Unter dem Gefichtspunfte des praftifchen Nutzens, der von ihren nationalen und politifchen Zweden abhing, haben fich die Römer die griechifche Götterwelt angeeignet, fie haben fie bürgerlich gemacht und die Phantafie daraus vertrieben. Darum neigte ſich der römische Verſtand von felbft zur allegorifchen Erklärung der Mythen, wodurch die naive Dichtung zu einer Sache des reflectivenden Verftandes gemacht und aus der freien Schöpfung der Phantafie in ein Mittel für didaftifche oder andere Zwede verwandelt wird. Ueberhaupt ijt die allegorifche

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Erklärung poetifher Werfe erſt möglich mit-der Frage: was will die Dichtung, wozu dient fie? Auf diefe Frage ift die alfegorifhe Erklärung eine denfbare Antwort. Die Antwort ift jo profaifch und dem Geifte der Poeſie fremd als die Frage. Die Alfegorie felbjt dient dem Künftler, wo er fie braudt, nie zum Zwed, jondern nur als Mittel, fie ift nie fein Ob— ject, ſondern ſtets Inftrument, und er braucht fie nur da, wo er fein Object nicht anders als mit ihrer Hülfe ausdrüden fann. Sie ift in der Poefie, wie überhaupt in der Kunft, eine Hilfsconftruction, die allemal einen Mangel beweift ent- weder in den natürlichen Mitteln der Kunft oder in denen des Künſtlers. So läßt ſich die Poefie erſt dann allegoriſch erflären, wenn man diefe felbjt fo betrachtet als fie die Alle— gorie: nicht als Zwed, jondern als Mittel für auswärtige Zwede. Das war die römische Auffaffungsweijfe gegenüber den Schöpfungen der griechischen Phantafie, und damit ſtimmte die baconifche überein.

Diefelbe Verwandtſchaft mit dem römischen Geifte, die- jelbe Fremdheit gegenüber dem griecdhifchen finden wir in Bacon’s größten Zeitgenoffen wieder, deſſen Phantafie einen jo weiten und umfafjenden Gefichtsfreis beherrfchte als Bacon’s Berftand. Wie fonnte der griehifchen Poefie gegenüber dem Verſtande eines Bacon gelingen, was der gewaltigen Phantafie eines Shaffpeare nicht möglih war? Denn in Shaf- jpeare ftellte fi) der Phantafie des griehifchen Alterthums eine gleichartige und ebenbürtige Kraft gegenüber, und nad dem alten Spruche jollte doch das Gleiche durd) das Gleiche am erſten erkannt werden. Aber das Zeitalter, der National- geift, mit einem Worte alle die Mächte, welche den Genius eines Menſchen ausmachen, und denen unter allen das Genie

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felbft am wenigften widerftehen Tann, festen hier die undurd)- dringliche Schranke. Sie war dem Dichter jo undurchdring— lih als dem Philofophen. Shakſpeare vermochte jowenig griehifche Charaktere darzuftellen, als Bacon die griechiſche Poeſie zu erklären. Wie Bacon hatte Shakſpeare etwas Römi— ſches in ſeinem Geiſt, nichts dem Griechiſchen Verwandtes. Die Coriolane und Brutus, die Cäſar und Antonius wußte ſich Shakſpeare anzueignen: er traf die römiſchen Helden des Plutarch, nicht die griechiſchen des Homer. Die letztern konnte er nur parodiren, aber ſeine Parodie war nicht zutreffend, ſowenig zu— treffend als Bacon's Erklärungen der Mythen. Es müſſen verblendete Kritiker ſein, die ſich überreden können, die Helden der Ilias ſeien in den Caricaturen von Troilus und Creſſida übertroffen; dieſe Parodie konnte nicht zutreffend ſein, weil ſie von vornherein poetiſch unmöglich war. Schon der Verſuch, den Homer zu parodiren, beweiſt, daß man ihm fremd iſt. Denn was ſich nie parodiren läßt, iſt das Einfache und Naive, das in Homer ſeinen ewigen und unnachahmlichen Aus— druck gefunden! Ebenſo gut könnte man Caricaturen machen auf die Statuen des Phidias! Wo die dichtende Phantaſie nie aufhört, einfach und naiv zu ſein, wo ſie ſich nie verunſtaltet durch Ziererei oder Unnatur, da iſt das geweihte Land der Poeſie, in dem der Parodiſt keine Stelle findet. Dagegen läßt ſich eine Parodie denken, wo ſich der Mangel an Ein— fachheit und Natürlichkeit fühlbar macht, ja ſie kann hier als poetiſches Bedürfniß empfunden werden. So konnte Euripides, der oft genug weder einfach noch naiv war, parodirt werden, und Ariſtophanes hat gezeigt, wie treffend. Selbſt Aeſchylus der nicht immer ebenſo einfach als groß blieb, konnte nicht ganz der parodirenden Kritik entgehen. Aber Homer iſt ſicher!

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Ihn parodiren heißt, ihn verfennen und fo weit außer jeiner Tragweite ftehen, daß man nichts mehr von der Wahrheit und dem Zauber homerifcher Dichtung empfindet. Hier ftanden Shaffpeare und Bacon. Die Phantafie Homer’8 und was durch diefe Phantafie angefhaut und empfunden fein will, blieb ihnen fremd, und das war nicht weniger als das griechijch- claffifche Altertfum. Man kann den Ariftoteles nicht verftehen ohne den Plato, und ich behaupte, man kann die platonifche Ideenwelt nicht mit verwandten Geifte anfchauen, wenn man nicht vorher mit verwandten Geifte die homerifche Götterwelt empfunden hat. Ich rede von der Form des platonifchen Geiſtes, nicht von feinen Objecten; der homerifche Glaube (dogmatifch genommen) war freilich nicht der platonifche, jo- wenig als der des Phidias. Aber diefe dogmatifchen oder logischen Differenzen find weit geringer als die formale und äfthetifche VBerwandtichaft. Die Conceptionen Plato's find von homerifcher Abkunft.

Diefen Mangel gefchichtlicher Weltanschauung theilt Bacon mit Shaffpeare neben jo vielen VBorzügen, die fie gemein haben. In die Parallele beider, welche Gervinus in der Schlußbe- tradhtung feines „Shakſpeare“ mit der ihm eigenthümlichen Kunft der Kombination gezogen und durd eine Reihe treffen- der Punkte durchgeführt hat, gehört auch die ähnliche Stellung beider zum Altertum, ihre Verwandtichaft mit dem römijchen Geifte, ihre Fremdheit gegenüber dem griechifchen.*) Beide hatten in eminenter Weife den Sinn für Menſchenkenntniß, der das Intereffe am praftifchen Menschenleben und an der. gejchichtlihen Wirklichkeit fowohl vorausfett als hervorruft.

*) Shafjpeare von Gewinus, Bd. IV, ©. 343 flg.

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Diefem Intereffe entſprach der Schauplatz, auf dem fich die römischen Charaktere bewegten. Hier begegneten fid) Bacon und Shaffpeare, in dem Intereffe an diefen Objecten und in dem Verſuch, fie darzuftellen und nachzubilden: diefe Meberein- ſtimmung erleuchtet ihre Verwandtichaft mehr als jedes andere Argument. Dabei findet fi) Feine Spur einer wechfelfeitigen Berührung. Bacon erwähnt Shakſpeare nicht einmal da, wo er von der dramatifchen Poefie redet, er geht an diefer mit einer allgemeinen und oberflächlichen Bemerkung vorüber, die weniger auf fie jelbjt al8 auf das Theater und dejjen Nuten gerichtet ift; umd was fein eigenes Zeitalter betrifft, jo redet Bacon von dem moralifchen Werth des Theaters mit großer Geringſchätzung. Aber man muß auch Bacon's Verwandt— ſchaft mit Shaffpeare nicht in feinen äſthetiſchen Begriffen, fondern in den moralifchen und piychologifchen auffuchen. Seine äjthetifchen Begriffe folgen zu fehr dem ftofflichen In— terejfe und dem utiliftifchen Geſichtspunkt, um die Kunſt als jolhe in ihrem jelbjtändigen Werthe zu treffen. Indeſſen das hindert nicht, daß Bacon’s Art, Menfchen zu beurtheilen und Charaktere aufzufaffen, mit Shakſpeare zufammentraf, daß er den Stoff der dramatifchen Kunft, das menjchliche Xeben, ähn- lich vorstellte als der große Künftler jelbft, der diefen Stoff wie feiner zu geftalten wußte. Iſt nicht das unerſchöpfliche Thema der fhafjpearefhen Dichtung die Geſchichte und der naturgemäße Gang der menfchlichen Leidenjchaften? Bft nicht in der Behandlung diefes Themas Shakſpeare unter allen Dihtern der größte und einzige? Und eben diefes Thema fett Bacon der Moralphilofophie zur vorzüglichen Aufgabe. Er tadelt den Ariftoteles, daß er die Affecte nicht in der Ethik,

jondern in der Rhetorik behandelt, daß er nicht ihre natür- Fiſcher, Bacon, 19

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liche Geſchichte, jondern ihre Fünftlihe Erregung ins Auge gefaßt habe. Auf die natürliche Geſchichte der menschlichen Affecte richtet Bacon die Aufmerkfamkeit der Philofophie, er vermißt die Kenntniß davon unter den Wifjenjchaften. „Die Wahrheit zu reden“, jagt Bacon, „jo find die vorzüglichen Lehrer diefer Wiſſenſchaft die Dichter und Gejchichtichreiber, die nad) der Natur und dem Xeben darjtellen, wie die Yeiden- ichaften aufgeregt und entzündet werden müſſen, wie gelindert und befänftigt, wie gezügelt und bezähmt, um nicht auszubrechen, wie die gewaltfam unterdrüdten und verhaltenen Yeidenjchaften fi dennoch verrathen, welche Handlungen fie hervorbringen, welchen Wechfeln fie unterliegen, welde Knoten fie ſchürzen; wie fie einander gegenfeitig befämpfen und widerſtreben.“*) Eine ſolche lebensvolle Schilderung verlangt Bacon von der Moral, er verlangt damit nichts Geringeres als eine Natur- gejhichte der Affecte: genau daffelbe, was Shafjpeare geleijtet hat. Welcher Dichter hätte es befjer geleiftet als er? Wel— cher hätte den Menfchen und feine YLeidenfchaften, wie ſich Bacon ausdrückt, mehr „ad viyum“ gezeichnet? „Die Dich— ter und Gefchichtichreiber‘‘, meint Bacon, „geben uns die Ab- bilder der Charaktere; die Ethik joll nicht diefe Bilder felbit, wohl aber deren Umrifje aufnehmen, die einfachen Züge, welche die menſchlichen Charaktere beftimmen. Wie die Phyfif die Körper ſeciren foll, um ihre verborgenen Eigenfchaften und Theile zu entdeden, jo foll die Ethik in die menfchlichen Ge- müthsverfaffungen eindringen, um deren geheime Dispofitionen und Anlagen zu erfennen. Und nicht die inneren Anlagen, auch die äußeren Bedingungen, welche die menschlichen Charaktere

*) De augm. scient. Lib. VII, cp. 3. ©. unten Cap. XIII, N. II. 4.

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mit ausprägen, will Bacon in die Ethik aufgenommen wiffen: alfe jene Eigenthümlichfeiten, die fich der Seele mittheilen von Seiten des Gefchlehts, der Lebensftufe, des Vaterlands, der Körperbefhaffenheit, der Bildung, der Glücksverhältniſſe u.f.f.*) Mit einem Wort, er will den Menfchen betrachtet wifjen in feiner Individualität: als ein Product von Na— tur und Geſchichte, durchgängig beftimmt durch natür- liche und geſchichtliche Einflüffe, durd) innere Anlagen und äußere Einwirkungen. Und genau fo hat Shaffpeare den Menfchen und fein Schicdfal verftanden: er faßte den Cha— rakter als ein Product dieſes Naturells und diefer gefchicht- lihen Stellung und das Schidfal als ein Product diefes Charakters. Wie groß Bacon’s Intereſſe für ſolche Charafter- Schilderungen war, zeigt fich darin, daß er jelbjt fie zu machen verfuchte. Er entwarf in treffenden Zügen das Charafterbild von Julius Cäfar, in flüchtigen Umriſſen das von Auguftus.**) Beide faßte er in ähnlichem Geifte auf, als Shaffpeare. Er fah in Cäſar alles vereinigt, was an Größe und Adel, an Bildung und Reiz der römifche Genius zu vergeben hatte, er begriff diefen Charakter als den größten und gefährlichiten, den die römische Welt Haben Fonnte. Und was bei der Analyfe eines Charakters jtets die Probe der Rechnung macht, Bacon erklärte den Charakter Cäſar's jo, daß er fein Schidjal mit- erflärte. Er jah, wie Shaffpeare, daß es in Cäfar die Neigung zum monarhifchen Selbjtgefühl war, die feine großen Eigen- Ichaften und zugleich deren Verirrungen beherrſchte, wodurd) er der Republik gefährlich und feinen Feinden gegenüber blind

*) De augm. scient. Lib. VII, cap. 3. ©. unten Cap. XII. 3. **) Imago civilis Julii Caesaris. Im. civ. Augusti Caesaris. Op. p: 1320 fg. 19*

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wurde. „Er wollte”, jagt Bacon, „nicht der Größte unter Großen, fondern Herriher unter Gehorchenden fein.” Seine eigene Größe verblendete ihn fo, daß er die Gefahr nicht mehr fannte. Das ift derfelbe Cäſar, den Shakſpeare jagen läßt: „Ich bin gefährlicher als die Gefahr, wir find zwei Leuen, an einem Tage geworfen, dod) ich der ältere und der fchredlichere! Wenn Bacon zulest Cäſar's Verhängniß darin fieht, daß er feinen Feinden verzieh, um mit diefer Großmuth der Menge zu imponiren, jo zeigt ev uns ebenfalls den verblendeten Mann, der den Ausdrud feiner Größe auf Koften feiner Sicherheit jteigert.

Es ift ſehr charafteriftiich, daß Bacon unter den menſch— lihen Leidenfchaften am beiten den Ehrgeiz und die Herrſch— jucht, am wenigjten die Liebe begriff, die er am niedrigften Ihäßte. Sie war ihm fo fremd als die Inrifche Poeſie. Doch erfannte er in einem Fall ihre tragifche Bedeutung. Und ge- vade aus diefem Fall hat Shaffpeare eine Tragödie gelöft. „Sroße Seelen und große Unternehmungen“, meint Bacon, „vertragen ſich nicht mit diefer Kleinen Leidenfchaft, die im menfchlichen Leben bald als Sirene, bald als Furie auftritt. Jedoch“, fügt er Hinzu, „ift hiervon Marcus Antonius eine Ausnahme.“*) Und in Wahrheit, von der Kleopatra, wie fie Shakſpeare aufgefaßt Hat, läßt ſich treffend jagen, daß fie dem Antonius gegenüber Sirene und Furie zugleich war.

*) Sermones fideles, X, de amore, Op. p. 1153.

Achles kapilel. Organon und Enchklopüdie.

Nachdem wir über den Geſichtspunkt im Klaren ſind, unter dem Bacon ſeine neue Lehre gründet und die alten be— kämpft, beſchreiben wir von hier aus den Umfang und Ge— ſichtskreis ſeiner Philoſophie. Wir kennen die ſechs Haupt— theile, in welche das Geſammtwerk zerfallen follte*), von denen zwei in geordneter Weiſe ausgeführt, wenn auch nicht in gleicher Weiſe vollendet ſind: der Grundriß, nach welchem, und die Methodenlehre, kraft welcher der Bau einer andern Philoſophie errichtet werden ſollte. Die Methode lehrt das Organon, den Grundriß enthalten die Bücher über den Werth | und die Vermehrung der Wiffenfchaften, fie umfegeln gleichſam, um mit Bacon jelbft zu reden, die Küften der Wiſſenſchaft und befchreiben den Globus der gefammten Geifteswelt, der alten und neuen. Unter den philofophifhen Werken, die er jelbft Herausgab, war der Entwurf zu diefem Grundriß das erfte, die Erweiterung und Ausführung defjelben das letzte.

In diefen beiden Schriften, dem Drganon und dem Grundriß, liegt Bacon's ernenernde, wegweifende, bahn-

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*) S. oben Bud) I, Cap. VIII, ©. 121—24.

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brechende That, der folgenreihe Anfang, den er gemacht hat, den allein er machen wollte; er wußte zu gut, daß die Zeit fortfchreitet und die Syſteme der Philofophie auflöft, auch wenn fie noch fo gefchloffen erfcheinen, daß diefer auflöjenden Macht am eheften und am gründlichiten gerade die Lehrgebäude verfallen, die für die Ewigkeit gelten wollen. Daher war es von Anfang an feine Abficht, eine Philofophie einzuführen, die nicht troß der Zeit bejtehen, ſondern mit ihr fortfchreiten ſollte. Er ſuchte die Wahrheit der Zeit, kein abgeſchloſſenes, ſondern ein progreſſives Werk, das er ſelbſt mit unverblendetem Urtheil den Mächten der Zeit unterwarf und hingab. Als er den erſten Entwurf ſeines Grundriſſes veröffentlichte, ver— glich ſich Bacon in einer brieflichen Aeußerung mit dem Glöckner, der die Leute zur Kirche ruft; als er achtzehn Jahre ſpäter das vollendete Werk herausgab, ſagt er am Schluß: „Man kann mir vorwerfen, daß meine Worte ein Jahrhundert erfor— dern, wie einſt zu dem Geſandten eines Städtchens, als dieſer Großes verlangte, Themiſtokles ſagte: «Deine Worte ſollten einen Staat hinter fi Haben!» Ich antworte: Vielleicht ein ganzes Jahrhundert zum Beweifen und einige Jahrhunderte zum Vollenden.“

Darum blieb auch bei allen Erweiterungen und Aus: führungen die Grundform feiner Werke Entwurf, die Grund- form feiner Darftellung encyklopädiſch und aphoriftifh. Der Grundriß hat die Form der enchklopädifchen Ueberficht, das Drganon die der Aphorismen. An einer Stelle feiner Ench- Hopädie, wo er bei Gelegenheit der Rhetorik von der Kunft des wiſſenſchaftlichen Vortrags handelt, bemerkt Bacon felbft, daß die Darftellungsweife in Aphorismen, wenn fie nicht ganz oberflächlich fein wolle, aus der Tiefe und dem Mark der

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Wiſſenſchaften gefchöpft werden müffe und die allmälig geveifte Frucht des gründlichjten Nachdenfens fei. Diefe Bemerkung trifft ihn felbjt, die Beziehung auf das Organon liegt nah und er durfte in Anfehung diefes Werkes, das er lange durd)- daht und zwölfmal umgearbeitet Hatte, wohl fordern, daß man feine Aphorismen nicht für abgeriffene und flüchtige Ge- danken nehme.

Bergleihen wir Organon und Grundriß, fo find ihre Aufgaben verfchieden, ihr Zufammenhang einleuchtend. Die Encyflopädie will aufbauen, die Methodenlehre muß wegräu— men, was im Wege fteht; dort foll „das Magazin des menschlichen Geiftes’ gefüllt, hier „die Tenne deſſelben“ ge- fegt und geebnet werden. Daraus erklären fi) mancherlei Abweihungen und jelbjt Widerfprüche, die zwijchen beiden Werfen auffallen können und für welche jene Berfchiedenheit der Aufgaben ein ausreichender und befjerer Erklärungsgrund ift als etwa perfünliche Abfichten anderer Art, die Bacon ge: habt haben könnte. Die Bücher über den Werth und die Vermehrung der Wilfenfchaften wenden ſich ſämmtlich an den König und beginnen mit einer Pobrede, die nicht fchmeichel- hafter und in der Schmeichelei faum ausfchweifender fein kann. Freilich galt damals an den Höfen nad der Sitte der Zeit die äußerſte Schmeichelei für den gewöhnlichen Grad der Höf- fichfeit. Daß nun Bacon in Rückſicht auf den König mande Stellen gemäßigt und vorfichtig gehalten, manche gefliffentlic) fo gewendet hat, daß fie dem Könige gefallen follten, ift nicht in Abrede zu ftellen. Indeſſen war mit dem Geſammtwerk auch das Organon dem Könige gewidmet. Als Bacon diejes herausgab, lebte er am Hofe und ftand in der Fülle des An- fehens; als ex feine enchflopädifchen Bücher veröffentlichte,

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war er gefallen und vom Hofe fern. Es iſt nicht einzufehen, warum er hier in der Rückſicht auf Fönigliche Liebhabereien hätte übermäßiger fein und weiter gehen jollen als dort. Da— gegen ift leicht zu fehen, daß in der Aufgabe des Drganons die Entgegenfeßung, in der des enchklopädifchen Werkes die Umfaffung lag, daß Bacon dort fchärfer und negativer, hier, wo er jede mögliche Wiſſenſchaft zu berücfichtigen, ihr die Stelle anzumweifen, die vorhandenen Yeiftungen einzufchließen hatte, anerfennender und pofitiver verfahren mußte Im Organon find die Urtheile über Ariftoteles und die Scholaftifer wegwerfend und geringihäßig, von dem Beſtreben erfüllt, fie aus dem Wege zu räumen, in dem Grundriß finden ſich Ur- theile auch anderer Art; bei Ariftoteles wird die wiſſenſchaft— lihe Größe feiner Leiftungen anerkannt, bei den Scolajtifern die formelle Denkkraft, die große Lichter aus ihnen gemacht hätte, wenn nicht ihre Dbjecte jo einförmig gewejen wären. Im DOrganon gilt die Naturwilfenichaft als die große Mutter aller Wiffenfchaften, in der Enchklopädie wird eine Funda— mentalphilojophie gefordert, die auch der Naturwiffenjchaft zu Grunde Tiegen foll; dort ift die Metaphyſik der Inbegriff phyfifaliicher Ariome, aus deren Auffindung und Beitimmung die Zwecbegriffe grundſätzlich ausgefchloffen find, Hier enthält die Metaphyfif im Unterfchiede von der Phyfif die teleologiiche Erffärung der Dinge; das Organon redet gegen die DVer- miſchung der Theologie und Philofophie, die Enchklopädie anerfennt eine natürliche Theologie und giebt ihr den Plak innerhalb der Philofophie. Freilich) war dort unter Philofophie immer Naturphilofophie verjtanden, und daß mit diefer die Theologie in Feinerlei Weife vermifcht werden folle, wird auch hier ebenfo nahdrüclich gefordert. Man fieht deutlich, daß

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es ſich um eine Veränderung nicht des Standpunftes und der Sache, jondern des Umfangs der Wiſſenſchaft handelt, der erweitert werden muß, um Plat zu gewinnen. Es find mehr Wiffenihaften da, als im DOrganon Raum haben. Hier foll eine neue Welt der Erkenntniß entdeckt werden, während auf dem Globus der Wiffenfchaften Plat fein muß auc für die alte. Dort gilt nur das Neue, hier das Alte und Neue. „Wir haben den ganzen Umfang ſowohl der alten als neuen Welt der Wiffenfchaften umſegelt“: mit diefen Worten beginnt das Tette der enchklopädifchen Bücher.“) Die Natur der Wiffenfchaft und Philofophie ift bei Bacon elaftifh, das Or— ganon faßt Wiffenjchaft, Philofophie, Phyſik in daſſelbe Vo- (umen und verftärkt ihre Spannkraft bis zum heftigſten Wi- deritande unter dem Druck aller veralteten Geijtesatmofphären ; die Enchflopädie läßt die Wiffenfchaft ihre größte Ausdehnung nehmen, fie hebt den Drud und vermindert den Widerjtand: hier veicht die Wiffenfchaft weiter als die Philofophie und be- herbergt auch die geoffenbarte Theologie, die Philofophie wei- ter als die Naturphilofophie und beherbergt neben diefer aud) die natürliche Theologie. Erwägt man, wie fhwierig es tft, die jtreng methodifche und enchklopädiſche Denkart zu vereini- gen, wie jene ebenfo nothwendig Ausſchließungen als dieje Einräumungen fordert, jo wird man finden, daß die Leber: einftimmung der beiden Hauptwerke Bacon’s nicht größer fein fann, als fie ift.

Die Erweiterung der Wiffenfchaft ift bedingt durch ihre Erneuerung von Grund aus. Im diefer Geſammtaufgabe find beide Werfe dergeftalt einig, daß das Organon auf die Er—

*) De augm. IX. Op. p. 257.

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neuerung, die Enchklopädie auf die Erweiterung bedacht ift. Das ganze Gebiet der Wilfenfchaft wird ausgemeffen, in feine verfchiedenen Reiche getheilt, die Gegenden gezeigt und bezeich- net, die noch brach liegen und angebaut werden follen. Auch hier erkennen wir jene beiden Grundzüge der baconifchen Geiftes- art: die Richtung auf das Ganze und der Trieb nad) Neuen. In der erſten Abficht fucht Bacon eine vollftändige Ein- theilung des menfchlihen Wiffens, in der zweiten fpäht ex überall nach ungelöften und zu löfenden Aufgaben, Er fnüpft an das Vorhandene das Nene, an die Yeijtung das Problem. Nach ihm ſoll die Wiffenfchaft das Abbild der wirklichen Welt fein; in dem Zuftande der Wifjenfchaften, den er vor fich fieht, erfcheint ihm diefes Abbild fo verfehlt, fo unähnlich, fo lückenhaft. Wer nichts vermißt, jucht nichts. Wer nicht richtig jucht, findet nicht viel und nichts auf richtige Art. Das rid)- tige Suchen ift das Thema des Drganons, das richtige Ver— miffen das der Enchklopädie. So greifen beide Werke in einander und bedingen ſich gegenfeitig.

Was Bacon zunächſt vermißte, war der Zuſammen— hang der einzelnen Wiffenfchaften; was ev zunächſt fuchte, war deshalb die Wiffenfchaft als ein Ganzes, die natürliche Verbindung ihrer Theile, deren Feiner abgetvennnt und [os- geriffen von den übrigen exiftiven ſollte. Er wollte Reben in der Wiſſenſchaft weden; darum mußte hier vor allem ein febensfähiger Körper gefchaffen werden, ein Organisinus, dem fein Theil fehlt, defjen Theile ſämmtlich fo verknüpft find, daß fie in Wechjelwirfung ftehen. Die Unfruchtbarkeit der bisherigen Wiffenfchaft, welche dem Geifte Bacon’s fo peinlich auffiel, war zum großen Theile mitverfchuldet durd) Die Trennung, worin fi) die Wiffenjchaften befanden, abgejperrt

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von einander, ohne gegemfeitigen Austaufcd) und Verkehr. So unfruchtbar die Trennung ift, jo fruchtbar muß die DVereini- gung fein. Schon die überfichtlihe Darftellung der Wilfen- Ichaften befördert die wiſſenſchaftliche Culture und erleichtert deren Mittheilung; die vollftändige Kintheilung zeigt, was zum Ganzen der Wiffenfchaft noch fehlt, was noch nicht ge- wußt wird, und bewegt fo den wiffenjchaftlichen Geiſt zu neuen Beftrebungen. Endlich treten durch die encyklopädiſche Ord- nung die einzelnen Wiffenfchaften in lebendigen Verkehr, fie können ſich jet gegenfeitig vergleichen, berichtigen, befruchten. Auf diefen Punkt Legt Bacon ſelbſt das größte Gewicht und macht denfelben im Anfange des vierten Buchs zum Yeitjtern des enchflopädifchen Weges: „Alle Eintheilungen der Wiffen- Schaften find fo zu verftehen und anzuwenden, daß fie die wiſſenſchaftlichen Gebiete bezeichnen und unterfcheiden, nicht etwa trennen und zerreißen, damit durchgängig die Auflöfung des Zufammenhangs in den Wiffenfchaften vermieden werde. Denn das Gegentheil Hiervon hat die einzelnen Wiffenjchaften unfruchtbar, leer gemacht und in die Irre geführt, weil die gemeinfame Duelle und das gemeinfame Feuer fie nicht mehr ernährt, erhält, läutert. *)

Auf einen folhen Zufammenhang gerichtet, dürfen die Bücher über den Werth und die Vermehrung der Wiffenfchaf- ten als der Verfuh eines Syſtems angejehen werden, aber nicht mit den Augen des Syitematifers, ſondern mit denen des Enchflopädiften. Die Syſtematiker werden mit Recht fin- den, daß die baconifchen Eintheilungen nicht fehr genau und durchgreifend, die baconiſchen Verknüpfungen oft fehr locker

*) De augm. IV, cp. 1. Op. p. 98.

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und willfürlih find. Das Kintheilungsprincip ift neu, die Eintheilungsregeln find die gewöhnlichen logiſchen Divifionen. Unterfcheiden wir den Syſtematiker vom Enchklopädiſten, fo genügt dem Teßtern die bloße Zufammenftellung des wiffen- Ihaftlichen Materials, welches der andere zufammenfügen, d. 5. innerlich verknüpfen möchte durch ein gefegmäßiges Band. Der Enchflopäbdift fucht vor allem die Vollftändigfeit in den Materien, er wählt darum für fein Werk diejenige Form, welche die Bollftändigfeit am meiften begünftigt und ſoviel als möglich verbürgt. Wenn diefe Form die ſyſtematiſche nicht ift oder jein kann, fo wählt er die aggregative, und unter allen aggregativen Formen wird die Vollftändigfeit der Materien am eheſten fejtgeftellt durch die alphabetifhe. Wenn eine En— eyklopädie Fein wirkliches Syftem fein kann oder will, jo muß jie Wörterbuch werden. Die baconifche Encyklopädie war Fein Syſtem, genau genommen, fondern eine logiſche Aggregation; darum wurde fie in ihrer Fortbildung zum Dictionnaire und vertaufchte die logische Form mit der alphabetifhen. Diefe Fortbildung ift nah Bayle’s kritiſch-hiſtoriſchem Dietionnaire die franzöfifche Enchklopädie, das philofophifche Wörterbuch von Diderot und d’Alembert, die fi in der Vorrede ihres Werks. felbft auf Bacon berufen und namentlich auf feine Schrift über die Vermehrung der Wiffenfchaften.*) Die fran- zöfifche Eichflopädie, diefes Magazin der Aufklärung, führt fih auf Bacon zurüd, nicht blos als den Begründer der realiftifchen Philofophie überhaupt, jondern zugleich als den eriten Enchflopädiften diefer Richtung. Aber der Unterjchied

*) Encyclopedie ou dictionnaire raisonné des sciences et des arts par Diderot et d’Alembert (1758). Le discours pr&liminaire. Vgl. Art. Baconisme.

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zwiſchen Bacon und den franzöfifchen Enchflopädiften befteht nicht blos im der logifchen und alphabetiichen Form ihrer Werfe, jondern, was damit zufammenhängt, in der verjchie- denen Stellung beider zur Wiffenfchaft. Diderot und d'Alem— bert ernteten, was Bacon gejäet hatte: diefer erneuerte die Philojophie, jene fammelten, was die neue Philofophie erzeugt hatte; Bacon Hatte es vorzugsweife mit Aufgaben zu thun, die franzöfifchen Encyflopädiften mit Rejultaten, fie redigirten die Acten der Philofophie, Bacon juchte deren Probleme. Seine Bücher über die Vermehrung der Wifjenfchaften nannte d’Alembert „Catalogue immense de ce qui reste a d&couvrir“,

lieuntes Kapitel. Die baconiſche Encyklopüdie.

L Einleitung. 1. Die Vertheidigung der Wiflenfchaft.

Die Bücher über den Werth ımd die Bermehrung der Wiffenfchaften, wie fie das ausgeführte Werk giebt, zerfallen in zwei jehr ungleiche Daupttheile; das erjte Buch handelt von dem Werth, die folgenden von der Bermehrung der Wiljen- Ihaften. Beide Theile verhalten ſich jo, dag in dem erjten die Aufgabe vorbereitet wird, die in dem zweiten ausführlid) gelöft werden fol. Daher nehmen wir das erſte Buch als die Einleitung des Ganzen.

Wenn man für nothwendig findet, den Werth der wiſſen— ſchaftlichen Erfenntniß erft zu rechtfertigen, fo muß man nod) Grund haben, ihn zu vertheidigen, man muß Gegner vor fic) ſehen, welche die wiffenfchaftlihe Forfhung befämpfen, Ein:

würfe, die ihre Bedeutung in Frage ftellen oder herabſetzen. Man kann eine Sache nicht vertheidigen, ohne die Feinde der- jelben anzugreifen, daher begegnen uns gleich im Anfange des Werks polemifche Züge, die in manchen Punkten an das Organon erinnern. Die Gegner, die Bacon zurücweifen will, -

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bevor er pofitiv von dem Werthe der Wiffenfchaft redet, find die Einwürfe der Theologen, der Staatsmänner und der Ver— ächter der Gelehrten überhaupt.

Die Theologen wittern in der Wiffenfchaft die alte Schlange, welche die Menfchen verführe; fie fürchten, daß die Erforschung der natürlichen Urfahen die Menfchen gottlos mache, weil fie darüber die oberjte und höchſte Urfache ver- geſſen. Da er zu dem Könige redet, citirt Bacon eine Menge jalomonifcher Ausfprüce, die für den britifchen Salomo Be- weisgründe ad hominem waren. Das Zeugniß der biblischen Schlange führt Bacon gern an, da e8 nicht gegen, fondern für ihn ſpreche, denn die Schlange habe die Menfchen nicht zur GErfenntniß der Natur, jondern zu der des Guten und Böſen verführt und damit auf den falfchen Weg geleitet, der von der Naturerfenntniß ablenfe, eben darin habe der Sün— denfall bejtanden. Auch ſei die Naturphilofophie den Glanben feineswegs feindlih, nur folange fie an der Schwelle ftehen bleibe und die Dinge oberflächlid betrachte, könne fie dem Atheismus zufallen; dagegen je tiefer fie eindringe in die Ur- ſachen dev Dinge, um fo näher komme fie Gott, denn der leßte Ring der natürlichen Kette der Dinge hänge am Throne Ju— piter’s, Ein Tropfen aus dem Becher der Philofophie, jagt Bacon anderswo, bringe zum Unglauben; wenn man den Becher bis auf den Grund leere, jo werde man fromm.

Die Einwürfe der Stantsmänner find ebenfo falſch als die der Theologen. Es fei nicht war, daß die Wiffenjchaft die Geifter verweichlice und zum Dienjte des Staats im Kriege und im Frieden untauglich mache. An jo vielen Beifpielen geichichtlicher Erfahrung laſſe fich zeigen, daß der Ruhm der Waffen mit dem der Wiffenjchaften zufammen beftehe und das

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Wohl der Völker am beften gedeihe unter Fürften, welche die wifienschaftliche Bildung fördern und felbft darin vorleudhten. Das fchlechtefte Beifpiel, das er wählen konnte, fchien ihm hier das wirffamfte: König Jakob!

Abgejehen von den Bedenken, die falfcher Religionseifer und Gejchäftsdünfel gegen die Wiſſenſchaft zu richten pflege, haben fich aus einer gewiſſen Geringſchätzung der gelehrten Leute eine Menge Vorurtheile gegen die Wiffenfchaft ſelbſt verbreitet. Wenn man die Gelehrten, die zum großen Theil arme Schul- meifter feien, etwas näher anfehe und auf ihre Sitten, ihre Irrthümer und Eitelfeiten achte, fo könne man unmöglich von der Sache, die fie betreiben, eine hohe Meinung faffen. Was die Armuth betrifft, jo will es Bacon den Bettelmönden überlaffen, deren Yobrede zu Halten. Die Geringfhäßung der Schulmeifter jtraft er mit einem niederfchlagenden und merf- würdigen Wort. Entweder veracdhte man die Zöglinge, weil fie unmindig, oder das Gefchäft der Erziehung, weil es niedrig fei; im erjten Fall verfenne man die Bedeutung der Jugend, im andern die der Erziehung. Die Verächter der Jugend er- innert er an das Wort der Rabbiner: „Eure Jünglinge wer- den Gefichter jehen und eure Alten Träume Haben!” Die Verächter der Pädagogif mögen bedenken, daß die Erziehung unter die woichtigften Aufgaben der Gefetgebung und des Staats gehöre, daß die bejten Zeitalter dies wohl gewußt und die Erziehung in diefer Bedeutung gewürdigt, daß es fehr jorglos und thöricht fei, fie wie ein herrenlofes Gut auf die Seite zu werfen und ſich von Staatswegen gar nicht darum zu kümmern. Dieſes Eoftbare Gut hätten in neuerer Zeit die Jeſuiten an fich genommen und wüßten es zu pflegen. „Wenn ich jehe‘, fügt Bacon Hinzu, „was diefer Orden in

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der Erziehung leiftet, in der Ausbildung fowohl der Gelehr- famfeit als des Charakters, jo fällt mir ein, was Agefilaus vom Pharnabazus fagte: „Da du ein folder bift, jo wünfchte ich, du wäreft der unſrige!“*)

An den Sitten der Gelehrten werde allerhand getadelt, bald finde man fie zu gejchmeidig und biegfam, bald zu un- höflich und unfein; jet werfe man ihnen vor, daß fie ihr eigenes Intereffe zu wenig verftehen, jett, daß fie die Reichen und Mächtigen zu gern auffuchen und die größte Nachgiebig- feit gegen fie zeigen. Dieſen letten Tadel verwandelt Bacon, indem er fih auf Beifpiele alter Philofophen beruft, in ein Lob der Klugheit. Wenn die Philofophen die Reihen auf- fuhen, was nicht ebenfo umgekehrt der Fall fei, fo wiſſen jene beijer was fie brauchen, als diefe, wie ſchon Dio- genes gejagt. Als ein Philoſoph mit dem Kaifer Hadrian disputirte, gab er nad, weil ein Mann, der über dreißig Legio- nen gebiete, immer Recht haben müffe. Alles zufammengefaßt, jo feien die Sitten der Gelehrten fo entgegengefegter Art, daf fie nicht den gelehrten Stand, fondern die Menfchen und deren Gemüthsart bezeichnen, alſo gar feinen Grund gegen die Wiffenihaft bieten. Aehnlich verhalte es fich mit der Lehr— art, die bei dem einen zu fchwülftig und wortreich fei, bei ‚- dem andern zu jpitfindig und ftreitfüchtig, bei dem dritten zu unkritiſch und leichtgläubig. Als Beiſpiel der erjten Art nennt Bacon jenes Hafen nah BilderreihtHum und Wi, welches damals in England Mode war, als Beifpiel der zwei— ten die Scholaftifer, wobei er nicht vergift, auch die Stürfe derjelben hervorzuheben, als Beiſpiel der dritten die Berichte

*) De augm. Lib. I. Op. p. 11. Fiſcher, Bacon. 20

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der Rirchenväter über die Wunderthaten der Märtyrer, die leichtgläubigen Erzählungen aus dem Gebiet der Naturgefchichte bei Plinius, Albertus, Cardanus u. a., denen gegenüber ex den Ariftoteles hervorhebt als ein leuchtendes Beiſpiel wiffen- chaftlicher Größe, der in feiner Thiergefchichte wohl verjtan- den habe, das Glaubhafte von Zweifelhaften zu jondern.*) Und wenn man als Beifpiele leichtgläubiger und abergläubi- iher Wiffenfchaft auf Ajtrologie, Magie und Alchymie hin— weife und auf den Charlatanismus, der hier getrieben werde, fo folle man deren Nuten nicht ganz überfehen, denn die Ajtrologie fuche doch nad) dem Einfluß der himmlischen Kör- per auf die ivdifchen, wie abergläubifch fie ji die Sache auch vorftelle, die Magie wolle ſich der Naturfräfte bemeiftern und trachte nad) praftifchen Zielen, die Alhymie endlich finde zwar feinen Schat, aber bearbeite doch den Weinberg.

2. Das Rob der Wiſſenſchaft.

Nachdem die Einwürfe gegen die Wiſſenſchaft entkräftet find, wird gezeigt, daß unter allen göttlihen und menjchlichen Dingen feines werthvoller fei als die Erfenntnif. Voran jtehe die göttliche Weisheit in der Schöpfung der Welt, die himmlische Hierardhie ftelle die Engel der Erleuchtung höher als die des Dienftes, in der Gründung des Chriſtenthums habe die Weisheit Chrifti mehr vermocht als die Wunder, zur Ver- breitung dejjelben habe der weifefte der Apoftel das meifte beigetragen, die Kirche fei mächtig geworden durch die Weis- heit und Gelehrfamfeit der Biſchöfe, und eben jetzt zeigen die Jeſuiten, wie viel die Kirche gewinnen könne durch die Pflege

*) De augm. Lib. I. Op. p. 18.

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der Wiffenfchaften. Was aber die rein menfhlichen Dinge betreffe, jo Haben jchon die Alten die Kraft der Erfindung und des Wifjens vergöttert und Höher gejtellt felbft als die Staatengründung; Theſeus haben fie zum Halbgott, Bacchus und Geres, Merkur und Apollo dagegen zu Göttern gemadt, Plato habe das Heil des Staats in die Herrfchaft der Philo- ſophen gejett und wenigjtens fo viel beweife die Gefchichte des römifchen Kaiferreichs, daß unter den weiſeſten Fürften die Bölfer am glüdlichjten leben. Philofophifche Einficht Habe Xenophon mit militärifcher Kunft, Mlerander und Cäfar mit welterobernder Thatkraft vereinigt. Unter allen menfchlichen Genüffen fei der Genuß der Erfenntniß der höchſte, der einzige, der immer befriedige, der nie überfättige. Nichts fei erhabener und wohlthuender als, wie Xucrez preife, von der Höhe der Wiſſenſchaft, aus der Burg der Wahrheit herabzufchauen auf das Getümmel menfchlicher Leidenfchaften, auf die Irr- thümer und Mühfeligkeiten, die unter uns find. Und wie es nichts Höheres gebe als die Wiſſenſchaft, jo fei auch nichts dauernder und ficherer als ihr Nachruhm.

Was der Wiffenfchaft entgegenfteht, find nur VBorurtheile, die nie ganz aufhören werden, weil fie in der Gedanfenlofig- feit und dem Mangel an Urtheilsfraft ihren Grund haben. Man wird nie verhindern können, daß es Leute giebt, die, wie der Hahn in der Fabel, das Gerjtenforn dem Edelfteine vorziehen, oder wie Midas den Pan lieber haben als den Apollo.

3. Die VBorfrage.

Iſt nun die Wiffenfhaft das werthvollſte Gut, das die

Menſchheit befitt, fo ift auch die Vermehrung deſſelben eine 20

*

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der wichtigſten öffentlichen Angelegenheiten, und der Staat muß, ſoviel er vermag, auf die Mittel zur Förderung der Wiſſenſchaften bedacht ſein. Das iſt die Vorfrage, die Bacon im Anfange des zweiten Buchs behandelt und die er als Auf— gabe dem König ans Herz legt. Bier fommt alles darauf an, die wifjenfchaftlichen Anftalten zeitgemäß zu verbefjern, veraltete Einrichtungen abzufchaffen, neue auf den Fortſchritt der Wiffenfchaften berechnete an deren Stelle zu fegen. Die profeffionelle Gelehrfamfeit, das „munus professorium“, hat fi) überlebt, die Bücherweisheit trägt Feine Früchte mehr, die fcholaftifchen Borlefungen und Uebungen find nichtig. Logik und Rhetorik jollte die lette aller VBorlefungen fein, weil fie nur fruchtbar fein kann, wenn aus den übrigen Wiffenfchaften ein Reichtum von Kenntniffen eingefammelt ift; jet, wo fie ohne diefe VBorausjegung die erjte aller Vorlefungen fein joll, muß fie nothwendig die dürftigfte und armfeligfte werden. Ebenfo fruchtlos und verderblich find die Uebungen in der Redefunft. Entweder wird auswendig gelernt oder improvifirt: im erjten Fall ijt gar Feine geiftige Selbftthätigfeit vorhanden, im zweiten ift fie leer, beides daher unnüß.

Die gelehrten Anftalten bedürfen einer gründlichen Re— organifation, um zwei Aufgaben zu löſen: Männer für den Staatsdienft zu bilden durch das Studium der Gefchichte, Politif und neueren Spraden, dann die Wiffenfchaften und Künfte in der freien und umfaffenden Bedeutung des Worts weiterzuführen. „Ich wundere mich“, jagt Bacon, „daß es in ganz Europa unter fo vielen gelehrten Collegien nicht eines giebt, das den freien und univerfellen Studien der Künfte und Wiffenfhaften gewidmet iſt.“ Er fordert eine allgemeine philo- fophifche Facultät als Pflanzfchule befonders der Naturwiffen-

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ichaften, ausgerüftet mit allen dazu nöthigen Hülfsmitteln, denn es fehle nicht fowohl an Büchern als an Stern» und Erdfarten, Darftellungen des Himmels- und Erdglobus, aftro- nomifchen Inftrumenten, botanifchen Gärten, phhyfifalifchen und chemifchen Laboratorien u. f. f. Alte Bücher habe man genug, e8 fehle an neuen, man bedürfe Anftalten zur Bereinigung ſolcher wiffenfchaftlicher Kräfte, deren alleinige Aufgabe die Vermehrung der Wifjenfchaften, die Titerarifche Verbreitung der neuen Entdedungen fei. Was Bacon hier gefordert und eine fpätere Zeit ins Werk gefett Hat, find Afademien der Wiſſenſchaft. Und da die Wirkungen, die er ins Auge faßt, nur möglic find durch die Vereinigung der Kräfte, fo wünfcht er einen fortdauernden wechjelfeitigen Verkehr aller Akademien Europas. Eine folhe Fülle von Kräften in Bewegung zu jegen, iſt natürlich nicht die Sache eines Privatmannes, fon- dern der Könige und Staaten. Der Privatmann verhalte fi - hier wie der Merkur am Sceidewege, der zwar mit aus— gejtredtem Finger die Richtung zeige, aber nicht felbjt den Fuß rühren und von feinem Geſtell herabfteigen Fönne. *)

I.

Eintheilung. Die Weltbefchreibung.

Das Princip, wonad) Bacon den „globus intellectualis“ eintheilt, ift pfychologifh. Wie Plato aus den menfchlichen Seelenfräften die politifhen Stände herleitet, fo Bacon die großen Abtheilungen der Wiſſenſchaft. Soviele Kräfte in uns die wirkliche Welt vorftellen können, foviele Abbildungen

*) De augm. Il. Op. p. 37—43.

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derjelben find möglich, in foviele Theile zerfällt das Gefammt- bild des Univerfums. Unſere Vorftellungskräfte find Gedächt- niß, Phantafie, Vernunft: daher giebt e8 ein gedächtnißmäßiges, phantafiegemäßes, vernunftgemäßes Abbild der Welt. Das Gedächtniß ift aufbewahrte Wahrnehmung und Erfahrung. Das empirifche Abbild ift Weltbefchreibung, das phantafie- gemäße Poefie, das rationelle Wiffenfhaft im engeren Sinn. Bon der Poefie haben wir gehandelt, fie ift, mit der Gefchichte verglichen, eine „Fiction“, mit der Wiſſenſchaft verglichen ein „Traum“. Es bleiben uns mithin als die beiden Haupttheile des welterfennenden Geiftes Gefhichte und Wiſſenſchaft übrig, die fi zu einander verhalten, wie das Gedächtniß zur Ver— nunft. Die menfchliche Seele erhebt ſich vom finnlichen Wahr- nehmen zum vernünftigen Denken; denfelben Gang befolgt die baconifche Methode, denfelben die Encyklopäbdie.

1. Die Naturgeſchichte.

Die Weltbefchreibung oder Gefchichte enthält das Abbild der Weltbegebenheiten, gefammelt durch Erfahrung und auf- bewahrt im Gedächtniß. Da nun die Welt das Reich der Natur und der Menfchheit in ſich begreift, jo zerfällt die Weltgefchichte in „historia naturalis‘ und „historia civilis“. Die Werke der Natur find entweder frei, wenn fie blos durch Naturkräfte geſchehen, oder unfrei, wenn fie aus’ ſolchen Be— wegungen der Körper hervorgehen, die durch menfchliche Kunft bewirkt werden: die freien Bildungen können regelmäßig oder anomal fein, die einen nennt Bacon „generationes“, die an— dern „praetergenerationes“, die Fünftlichen Naturwerfe find mechaniſch. Die Naturgefchichte zerfällt demmad) in die hi- storia generationum, praetergenerationum und mechanica.

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Die lettere wäre eine Gefchichte der Technologie, die Bacon vermißt und darum fordert, wie auc eine Gefchichte der natür- lihen Misgeftaltungen. Die Reihe der regelmäßigen Natur- bildungen läßt er in fünf Klaffen zerfallen, indem ev nad) dem Vorbilde der Alten von den oberjten Regionen in die jublunarifchen Herabjteigt: er beginnt mit den Himmelsförpern und geht von hier abwärts zu den Meteoren und atmojphäri- ſchen Erfcheinungen, dann zu Erde und Meer, den Elemen- ten oder allgemeinen Materien, endlich) zu den fpecififchen Körpern.

Die Beichreibung diefer Objecte ift entweder blos er- zählend oder methodifh. Der letzteren widmet Bacon ſchon hier ein aufmerkſames Intereffe, ev empfiehlt „die inductive Naturbefchreibung‘ als den Weg, auf welchem der natur- gefchichtliche Stoff der Philofophie zugeführt wird. „Die er: zählende Befchreibung ift geringer zu fchäten als die Induction, welche der Philofophie die erfte Bruft reicht.” ine ſolche wiffenfchaftliche oder der Wiſſenſchaft zugängliche Gefchicht- Ichreibung der Natur vermißt Bacon und wollte in feinen naturgeſchichtlichen Schriften felbft zur Löſung diefer Aufgabe einige Beiträge liefern.

2, Literaturgeſchichte.

Das menschliche Gemeinwesen zerfällt in Staat und Kirche: daher theilt fi) die Gefchichte der Menfchheit in „historia ecelesiastica” und „‚historia civilis“ im engeren Sin. Zwifchen beiden bemerkt Bacon eine Lücke, was immer fo viel fagen will als eine Aufgabe. Noch giebt es Feine Literatur: und Kunftgefhichte. Für die Löfung diefer Aufgabe hat Bacon zwar felbft fein Beifpiel, aber mit wenigen Zügen eine Bor:

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fchrift entworfen, die wir jet erft wahrhaft würdigen fünnen, weil man erjt in unferer Zeit angefangen hat, fie zu erfüllen. Seine Vorſchrift ift Heute noch jo gültig als damals. Sie zeigt, wie gründlich Bacon die Aufgaben, welche er der Zu- funft feste, zu faffen mußte, in welchem neuen, gejunden, weitblietenden Geift er ſie dachte. Schon die bloße Forderung einer Literatur und. Runftgefchichte überrafht im Munde der eben erwachten Philofophie, unter den baconifchen Neuerungs- plänen, noch mehr die eracte Vorfchrift, wonach er feinen Plan wollte ausgeführt wiſſen. Was ift die Literatur anderes als ein Abbild der Weltzuftände im menfchlichen Geifte? Was alſo kann die Gefchichte der Literatur anderes fein als ein Abbild vom Abbilde der Welt? Und eben deshalb über- vafcht uns diefes Poftulat im Munde Bacon’. Diefer reali- ftifche Kopf richtete fich jo ausſchließend auf das Abbild der Welt, daß wir uns wundern, wie er zugleich ein Abbild von diefem Abbilde vermiffen und wünfchen Fonnte. Das erklärt fi) allein aus dem großen realiftifchen Berjtande, womit Bacon die menfchlihen Dinge anfah, er jchätte die Literatur nach ihrem realen Werthe, er bemerkte ihren realen Zufammen- hang mit dem menjchlichen Leben im Großen und wollte fie unter diefem weltgefchichtlihen und politifchen Gefichtspunfte dargeftellt wiffen. Literatur und Kunft galten ihm als das feelenvollfte Glied im Organismus der menfchlichen Bildung; bier fpiegelt fi) das Bild der Welt im Auge des menjchlichen Geiftes. Darum fagt Bacon: „Wenn die Gefchichte der Welt in diefem Theile verfäumt wird, fo gleicht fie einer Bild— ſäule des Polyphem mit ausgerifjenem Auge” Die Literatur ift immer der Spiegel ihres Zeitalter, fie ift in diefem Sinne ein Theil der Univerfalgefhichte. Aber es giebt

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noch feine Univerfalgefhichte der Literatur: in dieſem Sinn macht fie Bacon zu einem wiffenfchaftlichen Defiderium. Die einzelnen wifjenfchaftlihen Fächer, wie Mathematif, Philo- fophie, Rhetorik u. f. f., haben wohl einige Notizen ihrer eigenen Gefchichte, aber es fehlt das Band, welches dieje ab- geriffenen und zerftreuten Bruchſtücke zu einem Ganzen ver: fnüpft, es fehlt das gefchichtliche Geſammtbild der menjchlichen Wiffenfchaft und Kunſt. Es ift nicht genug, daß jede Wiſſen— Schaft ihre Vorläufer ferne. Es giebt einen Zufammenhang in allen Titerariihen Werfen eines Zeitalters, es giebt einen pragmatifhen Zufammenhang in der Reihenfolge diefer Zeit- alter. „Die Wiffenfchaften‘, jagt Bacon treffend, „Leben und wandern, wie die Völker.” Die Literaturgefchichte Toll die Zeitalter jchildern, die Epochen ins Auge faffen, den Gang verfolgen, den die Wiffenfhaften genommen haben von den eriten Anfängen durch die Blüthe zum Verfall, und von da wieder zu neuen Anfängen: wie fie erwedt, erzogen, dann allmälig aufgelöft und zerjett, endlich wieder von neuem be- febt worden. In diefem Gange find die Schidfale der Litera— tur auf das genauefte mit den Schiefjalen der Völfer verbun- den. Es giebt einen Caufalzufammenhaug, eine Wechfelwirfung zwijchen dem literarifchen und politifchen Leben. Auf diejen bedeutfamen Punkt richtet Bacon jehr nachdrücklich die Auf- merkjamfeit des Gejchichtjchreibers. Die Literatur foll darge- jtellt werden in ihrem nationalen Charakter, unter den Einflüffen des bejtimmten Volkslebens, dejjen Abbild fie dar- jtellt; ihre Werfe find immer mitbedingt durd die Flimatifche Beichaffenheit der Weltgegend, die natürlichen Anlagen und Eigenthümlichkeiten der Nationen, deren günftige und ungünftige Schickſale, durd die Einflüffe der Sitten, Religionen, politi-

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ſchen Zuftände und Geſetze. Die Objecte der Literargefchicht- lihen Darjtellung find demnach die allgemeinen Zuftände der Literatur in Verbindung mit den politifchen und- religiöfen. Mit andern Worten: Bacon faßt die Literatur als einen Theil der gefammten menfchlichen Bildung; er will die Literatur: und Kunftgefhichte im Sinne der Culturgefhichte behandelt wifjen.*) Und in welchem Geift, in welcher Form wünjcht Bacon diefe Gefchichte gefchrieben? „Die Gefchichtfchreiber follen nicht nach Art der Kritiker und Kritikaſter ihre Zeit mit Yoben und Tadeln zubringen, jondern die Dbjecte dar- jtellen, wie fie find, und die eigenen Urtheile fparfamer ein- mifchen. Dieſe Objecte follen fie nicht aus den Darftellungen und Beurtheilungen Anderer entlehnen, fondern aus den Duellen ſelbſt jchöpfen, nicht etwa fo, daß fie die darzu— jtellenden Schriften blos ausziehen und ihre Lejefrüchte feil bieten, fondern fo, daß fie den Hauptinhalt derfelben durch— dringen, ihre Eigenthümlichkeit in Stil und Methode lebhaft begreifen und auf diefe Weife den literarifhen Genius de8 Zeitalters, indem fie feine Werke darftellen, gleihfam von den Todten erweden.‘ **)

3. Staatengefhidte.

Auch der politifchen Gefchichte fett Bacon neue Aufgaben und Vorſchriften in dem fruchtbaren Geifte feiner Philofophie. Die Gefhichtfchreibung gründet ſich, wie alle Wiffenfchaft, auf die Erfahrung, und die Erfahrung hat zu ihrem nächſten Vor— wurf die Particularien, zu ihrem nächften Gebiete die eigene Anſchauung. Darum legt Bacon mit gutem Grunde einen fo

*) Mas die deutjche Literaturgeſchichte betrifft, fo ift Gervinus

derjenige, der Bacon's Aufgabe gelöft hat. **) De augm. Lib. II, cp. 4. Op. p. 49 fig.

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großen Werth. auf die Particulargefchichte, die Memoiren und Biographien gegenüber den Univerfalhiftorien, die in den meiften Fällen den Leitfaden der Erfahrung, die Faßbarkeit des Inhalts entbehren und in demfelben Grade einbüßen an Lebendigkeit und Treue der Darjtellung. Sehr richtig fagt er im Hinbli auf die Univerfalgejhichte: „Bei einer genauern Erwägung ficht man, wie die Gejege der richtigen Gefchicht- fchreibung fo ftreng find, daß fie bei einer fo ungehenern Weite des Inhalts nicht wohl ausgeübt werden Fünnen, und fo wird Anfehen und Werth der Gefhichte durch Maffe und Umfang des Stoffs cher verkleinert als vermehrt. Muß man von überall her die verfchiedenartigiten Materien hereinziehen, jo focert fi nothwendig der gebundene und ftrenge Zuſammen— hang der Darftellung, jo erichlafft die Sorgfalt, die ji) auf jo viele Dinge erftreckt, in der Ausführung des Einzelnen, fo wird man allerhand Traditionen und Gerüchte aufnehmen und aus unächten Berichten oder jonft leichtem Stoff Geſchichte zufammenfchreiben. Ja es wird fogar nothwendig werden, um das Werk nicht ins Grenzenlofe auszudehnen, vieles Er- zählenswerthe gefliffentlich wegzulaffen und nur zu oft in die epitomarifche Darjtellungsweife zu verfallen, d.h. Auszüge zu machen jtatt der epiichen Erzählung. Dazu fommt nod eine andere nicht geringe Gefahr, die dem Werthe der Univerfal- gefhichte ſchnurſtracks zuwiderläuft. Wie diefe nämlich manche Erzählungen aufbewahrt, die fonft verloren gegangen wären, jo vernichtet fie andererjeits manche fruchtbare Erzählungen, die ſonſt fortgelebt hätten, nur um der Fürzeren Darftellung willen, die bei der Menge jo beliebt ift.*) Dagegen erlauben die

*) De augm. Lib. II, cp. 8. Op. p. 55.

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Lebensbejchreibungen bedeutender Menfchen, die Specialgefchich- ten, wie der Feldzug des Cyrus, der peloponnefifhe Krieg, die catilinarifche Verſchwörung u. f. f. eine lebhafte, treue, fünftlerifche Darftellung, weil ihre Gegenjtände durchgängig beftimmt und abgerundet find. Die ächten Hiftorifer, die Ken- ner der Gefchichtfchreibung, werden mit Bacon übereinstimmen. Der wahre und Fünftlerifche Geſchichtsſinn fucht ſich von felbft zur Darjtellung ſolche Stoffe, die er vollfommen bemeiftern und in allen ihren Theilen deutlich) ausprägen fanı. Nur aus gründlichen Specialgefhichten kann die Univerfalhiftorie refultiren, wie nad) Bacon die Philofophie aus der Erfahrung, die Metaphyfif aus der Phyſik. Die großen Hiftorifer be- ginnen gewöhnlich mit Monographien und fpecialgefchichtlichen Aufgaben, die fie am Liebften aus dem Gebiet ihrer Tebendig- ten Anfchauung nehmen. An foldhen durchgängig beftimmten und faßbaren Materien kann ſich das Talent des Hiftorio- graphen zugleich beweifen und üben. Es geht hier dem Hiftorifer wie dem Kiünftler. Je unbejtimmter und allgemei- ner der Vorwurf ift, den fich der Künftler wählt, um fo un— lebendiger und unwirkſamer ift feine Darftellung. Was dem Stoff an natürlicher Rebensfülle fehlt, entbehrt das Kunſtwerk an poetifchemn Heiz. Innerhalb des gejchichtlichen Völkerlebens iteht aber dem Gefchichtjchreiber nichts näher als die eigene Nation. Hier fchöpft er nicht blos aus der erfahrungsmäßigen Gefchichte, fondern aus der eigenen, gewohnten Erfahrung. Darım empfiehlt Bacon die nationale Gefchichtichreibung als das Tebendigfte und nächte Thema. Dieſe Aufgabe ift im Intereffe der Gefchichte und des Zeitalters; fie entfpricht dem Geiſte des reformatorifchen Princips, welches dem Mittelalter gegenüber eine nationale Kirche, eine nationale Politik, eine

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nationale Literatur erwedt und diefe Mächte vor Allem in England fiegreich behauptet Hatte. Und nicht genug, daß Bacon die nationale Gefhichtjchreibung zur Aufgabe machte, er unternahm felbjt die eremplariiche Löſung derfelben, er wählte die Gefchichte feiner Nation in dem eben erfüllten Zeit- raum ihrer nationalen Wiederherftellung, die Geſchichte Eng- lands von der Vereinigung der Roſen unter Heinrich) VII. bis zur Vereinigung der Reiche unter Jakob I. Im feiner Ge- Ihichte der Regierung Heinrich’8 VII. hat er den erjten Theil diefer Aufgabe gelöft.*)

Bacon will die politifhe Gefhichte ebenfo rein und ſach— lich dargejtellt wiffen als die literarifche. Hier foll die Dar- jtellung nicht fortwährend Fritifiven, dort nicht politifiren. Er deutet auf das Gejchlecht jener Hiftorifer, die einer Doctrin zu Liebe Gefchichte jchreiben und immer mit Vorliebe auf ge- wife Begebenheiten zurückkommen, um ihre Theorie daran zu demonftriren; ſie vergleichen jedes Factum mit der Doctrin, die fie im Kopfe Haben, und wie die Vergleihung ausfällt, jo das Urtheil. Haben fie irgend ein modernes Verfaſſungs— ideal im Kopfe, fo werden fie auch Männer wie Alerander und Cäſar nah ihrem Schema beurtheilen und uns belehren, daß jene Welteroberer nicht conftitutionelle Monarchen waren, Diefe unausftehliche Art, Gefchichte zu fchreiben, nennt Bacon jehr treffend „die Gefhichte wiederfäuen”. Das möge dem Politiker erlaubt fein, der die Gefchichte nur benugen will, jeine Doctrin zu belegen, aber nicht dem wirklichen Gefchicht- ſchreiber. „Es ift unzeitig und läftig, überall politifche Be— merfungen einzuftreuen und damit den Faden der Gedichte

*) Bgl. oben Bud I, Cap. VII, ©. 119.

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zu zerſtückeln. Freilich ift jede etwas umfichtige Geſchicht— ſchreibung mit politifchen Vorſchriften gleichſam geſchwängert, aber der Geſchichtſchreiber ſoll nicht an ſich ſelbſt zur Hebamme werden.*)

III. Welterkenntniß. 1. Eintheilung.

Die Beichreibung der Dinge hat es mit Thatfachen, die Poefie mit bloßen Bildern, die Wiffenfchaft mit den Urfachen der Dinge zu thun; die Gefhichte Friecht, die Poefie träumt, die Wiffenfhaft entdeckt, fie forfht nad) den Quellen, die gleih den Gewäffern entweder vom Himmel herabfallen oder aus der Erde hervorbredhen. Ohne bildlihen Ausdrud: die Urjachen find entweder übernatürlich oder natürlich), jene wer— den offenbart, dieje erfahren. Erkenntniß durch Offenbarung ift pofitive oder geoffenbarte Theologie, Erfenntniß durch Er- fahrung ift Philofophie, die Duelle der Offenbarung ift das göttliche Wort, die der Erfahrung der menfchlihe Sinn,

Das Gebiet der Philofophie reicht fo weit als das natür- liche Licht. Indem Bacon das Erfennen mit dem Sehen, die Erſcheinungsweiſe der Objecte mit der Bewegungsart der Lichtftrahlen vergleicht, unterfcheidet er drei Zweige oder Theile der Philofophie: die natürlichen Dinge erfcheinen uns in directem Licht, Gott in gebrochenem, unfer eigenes Wefen in reflectirtem; wir ftellen die Natur unmittelbar vor, Gott

*) De augm. II, cp. 10. Op. p. 56.

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dur die Natur, uns ſelbſt vermöge der Reflexion. Daher zerfälft die Philofophie in die Xehre von Gott, von der Natur, vom Menfchen. *)

2. Fundamentalphilojophie,

Wenn fih die Wiffenjchaft in fo viele Theile verzweigt, fo muß es auch einen Stamm geben, aus dem jene Zweige entipringen, Wurzeln, aus denen der Baum der Wiffenfchaft hervorwächſt. Hier ftellt fi in den Gefichtsfreis Bacon’s die Aufgabe einer Stamm- und Grundwiſſenſchaft, die er, weil alle übrigen Wiffenfchaften aus ihr hervorgehen, deren „Mutter nennt; er bezeichnet fie im Unterfchiede von den befonderen Wiſſenſchaften als die allgemeine (scientia generalis), im Unterjchiede von den heilen der Philofophie als deren Grundlage (prima philosophia). Es fei die Weisheit, die man früher „die Wiffenfchaft aller göttlichen und menschlichen Dinge‘ nannte. **)

Im Drganon galt die Naturphilofophie als die Mutter aller übrigen Wiffenfchaften, die Metaphyſik als der Inbegriff der oberften phyfifalifchen Grundfäge; in der Enchflopädie gilt die Metaphyfif als eine befondere Art der Naturerklärung, welche die ſtreng phyſikaliſche nicht ift.***) Alfo iſt die Meta- phyſik bei Bacon entweder phyſikaliſche Grundwiſſenſchaft oder naturphilofophifche Nebenwiffenfchaft, in feinem Fall allgemeine Grundwiſſenſchaft. Bacon unterſcheidet feine prima philosophia ausdrücklich ſowohl von der Metaphyfif, wie von ihm die philofophifche Grundwiſſenſchaft genannt wurde, als

*) De augm. II, cp. 1. Op. p. 73.

**) hend. III, cp. 1. Op. p. 74. *4*) Bol, oben Bud) II, Cap. II, ©. 174 fig. Bol. Cap. X, 2.

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auch von der Naturphilojophie, die er felbit im Organon mit demjelben Namen bezeichnet, den er im dritten feiner enchklopädifchen Bücher der prima philosophia giebt.

Was wollte Bacon mit diefer Fundamentalphilofophie, von der er nicht recht weiß, ob er fie vermifjfen und unter die neuen Aufgaben vechnen jol? „Ich zügere, ob fie jchlechter- dings in die KRepofitur des Vermißten gehört, doch glaube ich fie dahin rechnen zu dürfen.” Unficher, wie die Faſſung der Frage, iſt die Antwort. Wir finden nur unbejtimmte und Ihwanfende Umriffe, die weder an diefer Stelle noch fonft wo in feinen Schriften näher ausgeführt werden. Jede be- jondere Wiffenfchaft ſoll e8 vermöge der Induction zu gewiffen allgemeinen Sätzen bringen, die feititehen und die übrigen tragen. Einige diefer „Axiome“ find ihr eigenthümlich, einige teilt jie mit anderen Wiffenfchaften, einige mit allen. Cs giebt gewiſſe Ariome, die ebenſo mathematische als Logische, phyſikaliſche, ethifche, politifche, theologische Geltung haben, Es darf daher eine Wifjenfchaft geben, die alle jene den übrigen gemeinfamen Grundfäge in fi aufnimmt und gleich— jam ein „‚receptaculum axiomatum“ bildet. Dies wäre eine Aufgabe der philosophia prima.*) Bei allen durch Induc- tion gefundenen Sätzen handelt es fi) um mehr oder weniger Fälle, um Uebereinftimmung und Verſchiedenheit, wefentliche und unweſentliche Bedingungen, Möglichkeit und Unmöglich— feit u. ſ. f, alfo um eine Reihe von Beftimmungen, unt die alles Erfennbare fällt. Diefe Beitimmungen, wie Biel und Wenig, inheit und Verfchiedenheit, Wefentlicheg und Unwejentlihes, Mögliches und Unmögliches u. f.f. nicht als

*) De augm. III, cp. 1. Op. p. 74.

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leere Abjtractionen, nicht in ihrer dialektiſchen, fondern in ihrer realen Bedeutung zu behandeln, wäre eine zweite Auf- gabe. Was Bacon hier vorfchwebt, fünnten wir eine induc- tive Rategorienlchre nennen.*)

Alle diefe Fingerzeige geben noch Feine beftimmte Weifung. Bielleicht kommen wir auf einem Umwege dem Ziele etwas näher. Einheit in der Verſchiedenheit ift Uebereinftimmung, Sonfenfus, Analogie. Wenn es in den Wiffenfchaften Ana- (ogien giebt, Süße, in denen alle Wiffenfchaften, wie ver- jchieden fie fein mögen, übereinftimmen, jo würde die Einficht in diefe Analogie, die Erfenntnig diefer Süße das fein, was die baconifche Grundwiffenfchaft Leiften fol, Wenn es in der atur der wirflihen Dinge Analogien giebt, deren Umfang ji) erweitert, fo würden diejenigen Beichaffenheiten, worin alle übereinftimmen, diefe Analogien vom größten Umfange das fein, was jene baconifche Grundwiffenfchaft unterfuchen ſoll. Damit find wir Hingewiefen auf die Vorftellung der Analogien, die Bacon im zweiten Buche de8 Organons unter den prärogativen Inftanzen behandelt. Die natürlichen Ana- (ogien find, wie Bacon fagte, die eriten Stufen, die zur Einheit der Natur führen. Diefelben Stufen führen zur Einheit der Wiffenfchaften, die doch nichts anderes fein kann, als das Abbild der Einheit der Natur, zu jener Grundwiffen- ihaft, die nichts anderes ift, als die Wiffenfchaft unter dem Geſichtspunkte der Analogie. Hatte doch Bacon ſchon an jener Stelle de8 Organons die Wiffenfchaften unter diefen Gefichts- punkt geftellt und 3. B. Mathematik, Logik, Rhetorik u. ſ. f. in ähnlichen Beifpielen verglichen als hier, wo er ſich die

*) De augm. III, ep. 1. Op. p. 76. Fiſcher, Bacon. 21

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Sundamentalphilojophie zum Ziel jest. Die natürlichen Ana- (ogien führen auf die Stufenreihe der Dinge und erklären jid) daraus. „Man hat viel von der Einheit und Verſchie- denheit der Dinge geredet“, jagt Bacon an unferer Stelle, „aber nicht darauf geachtet, wie die Natur beide vereinigt, wie fie ihre verfchiedenen Arten ſtets durch Mittelarten ver- bindet, zwifchen Pflanzen und Thieren, Fifchen und Vögeln, Bögeln und Bierfüßern u. f. f. Uebergangsformen einjchiebt.” Berallgemeinern wir diefe Borjtellung des Stufenreichs zu dem Begriff einer umiverfellen Ordnung fowohl der Dinge als der Wiffenfchaften, die deren Abbild find, fo fehen wir das Problen der baconifchen „‚scientia generalis“ vor uns. Daß alle Dinge von dem unterften Weſen bis zu dem höchſten eine Stufenleiter bilden, ift der Grundgedanfe, den Bacon hatte, der ihn antrieb, überall Analogien zu fuchen in den Dingen wie in den Wiffenfchaften, der das Motiv zu feiner Srumdwifjenjchaft bildet, obwohl er. ihn nur fragmentarifc) äußert und in rohen Beifpielen zum Vorfchein bringt. Hätte er ihn tiefer erfaßt und folgerichtig ausgebildet, jo wäre feine Lehre auf den Begriff der Weltentwidlung eingegangen, er wäre dann der englifche Leibniz geworden umd nicht der Gegenfüßler des Ariftoteles. Diefelbe Idee, die in der Ench- flopädie eine Grundwiſſenſchaft ftiften, das Ariom der Ariome ausmachen, das „receptaculum axiomatum” fein wollte, begnügte fi im Organon mit der Nebenrolle eines Hülfs- mittels.

3. Theologie und Philofophie,

Die Theologie findet auf dem baconifchen globus intel- lectualis zwei Pläte, den einen völlig außerhalb der Philo-

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fophie, den andern innerhalb derfelben: dort die geoffenbarte, hier die natürliche Theologie, beide getrennt durch die Grenz- linie der Philofophie; jene nennt Bacon die göttliche Theologie, dieſe die göttliche Philofophie, weil ihr Gegenftand Gott, ihre Erfenntnißart das natürliche Licht ift. Die Grenze beider Theologien ift die Grenze zwifchen Offenbarung und Natur, Religion und Philofophie, Glaube und Wiſſen: diefe Grenze joll die Wiſſenſchaft nie überfchreiten, eingedent der Worte: „Gebet dem Glauben, was des Glaubens iſt“, womit fich Bacon einmal für immer die möglichen Grenzjtreitigfeiten aus dem Wege räumt und fi) mit dem Glauben weniger anseinanderjett als abfindet. Wird jene Grenze verwijcht, jpielen Philofophie und Religion ineinander über, jo entjteht auf beiden Seiten der Irrthum: die mit der Wiffenfchaft ver- mijchte Religion wird heterodox, die mit der Religion ver- mifchte Wiſſenſchaft phantaftifch; eine „häretiſche Religion“ und eine „phantaſtiſche Philofophie‘ find die unvermeidlichen Folgen der Grenzverwirrung.*)

Das richtige Verhältnig ijt die Trennung. Die natür- liche Theologie erkennt Gott aus der Natur, wie man den Künſtler aus feinen Werfen erkennt, fie kann aus der Eriftenz und Ordnung der natürlichen Werfe die Macht und Weisheit des Schöpfers darthun, fie kann den Gottesleugner widerlegen, vielleicht befehren, aber weiter reicht fie nicht; aus der Natur läßt jich nicht erkennen, was Gott in Abficht auf den Menfchen gewollt und zum Heile defjelben verordnet hat. Die göttliche Heilsordnung ift fein Werk der Natur, fondern pofitiver Offenbarung. Der Glaube daran ift Religion, ein faljcher

*) De angm. III, cp. 2. Op. p. 76 fig. Bgl. unten Cap. XV. 21*

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Sottesglaube ift Gößendienft, die Verneinung des göttlichen Dafeins überhaupt ift Atheismus. Die natürliche Theologie kann den Atheiften widerlegen, aber in der Religion nichts ausrichten, fie kann weder die wahre begründen nod) die falfche berichtigen, fie fan die Religion weder machen noch beweifen, fondern nur ihr Gegentheil verhindern. Daher kann fie der Religion feinen pofitiven, jondern nur einen negativen Dienft leiſten.

Auch über die möglichen Mittelweſen zwiſchen Menſch und Gott, über Geifter, Engel, gute und böfe, kann die natürliche Theologie ihre Betradhtungen und Bermuthungen anftellen, indefjen kann man diefe Aufgaben nicht zu den neuen und Leiftungen diefer Art nicht zu den vermißten vechnei, denn fie find im Ueberfluß vorhanden; vielmehr wäre zu wünſchen, daß die natürliche Theologie weniger ausfchweifend und die meiften Unterfuchungen über Engel und Dämonen weniger eitel, abergläubifch und ſpitzfindig wären. *)

Da num die geoffenbarte Theologie alle Bhilofophie gänz- lich ausschließt, wie kann innerhalb derjelben noch von Wifjen- chaft geredet werden? Denn Bacon ftellt fie doc im den Umfreis der Wiffenfchaft, wenn auch nicht in den der Philo— jophie. Wir werden fpäter auf das baconifche Berhältnig der Religion und Philofophie in einem befonderen Abfchnitt zurüc- fommen und wollen hier nur die Hauptpunfte zur Beantwor- tung der obigen Frage bezeichnen. Daß Bacon die geoffen- barten Heilswahrheiten gleichjett der chriftlichen Neligion und diefe der wahren, bedarf Feiner weiteren Grörterung. Diefe Dffenbarungen find pofitive Glaubensnormen, die feftftchen,

*) De augm. III, cp. 2. Op. p. 77—78.

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wie die Kegeln im Spiel. Wer mitjpielen will, muß fidh den Regeln des Spiels ohne weiteres fügen, dagegen ſteht die Anwendung und der Gebraud) derjelben frei, und hier hat die Vernunft ein Wort mitzureden; es ift ihre Sade, daf geſchickt und vichtig gefpielt wird, dazu gehört, daß man erſtens die Regeln vichtig verfteht und zweitens richtige Schlüffe daraus zieht. Das richtige Verſtehen und Schließen ift eine Sade der Logik, und hier würde eine Art „göttlicher Logik“ am Drt. fein, die viele Streitigkeiten befeitigen und darum heilfam wirken könnte, wie „eine mit Opium vermifchte Arz- nei. Eine folche Yogif wird vermißt und gewünſcht. Wenn die Vorderfäße vermöge des Glaubens außer Streit find und die Schlußfäte vermöge einer foldhen Logik ausgemacht und bewiefen werden, jo werden eine Menge ftreitiger Glaubens: materien hinfällig. Die Bernunft geht nicht über jene Vor— derjäße hinaus, als ob jie diefelben zu prüfen Hätte, jondern folgt ihnen blos, daher nennt Bacon diefe Art des logiſchen Bernunftgebrauchs „ratio secundaria”. Es giebt ferner in Glaubensfragen Abweichungen, die nicht von gleichem Gewicht find und darum auch nicht von gleichen Wirkungen fein follen. Die einen gehen bis zum Abfall; in Rückſicht auf foldhe Differenzen gilt das Wort: „Wer nicht für mich ift, der ift wider mich!“ Dagegen jollen abweichende Anfichten, die nicht jo weit gehen, nach dem andern Worte beurtheilt wer- den: „Wer nicht wider mich ift, der ift für mich!‘“*) Beide Worte Laffen ſich dann, wie es gejchehen foll, richtig vereini- gen, wenn innerhalb der Slaubenseinheit gewifje Grade unter: ichieden werden. Eine folche richtige Unterfcheidung wefentlicher

*) De augm. IX. Op. p. 257—261.

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und unwefentlicher Glaubensfragen würde zum Neligionsfrie- den viel beitragen, und ift deshalb, da jie vermißt wird, zu wünfchen. *) Im diefer Abfiht auf eine der Offenbarung gemäße Glaubensreinheit und Berminderung theologifcher Streitigkeiten wünſcht Bacon zuletzt Beifpiele der Schriftaus- legung, die weder die Fünftliche Methode der Scholaftifer nad)- ahmen noch im die willfürliche Weife des Paracelfus oder der rein natürlichen und menſchlichen Erflärungsart verfallen, fon- dern den kirchlich praktiſchen Zweck vor Augen haben; er vermißt und wünfcht eine protejtantifche Exegefe nad) der Glaubensrichtſchnur der englifchen Staatskirche: fo Tiefe ſich kurz bezeichnen, was er meint.

Nachdem wir von der Weltbefchreibung in ihren verfcie- denen Zweigen, von der Fundamentalphilofophie und den bei- den Arten der Theologie gehandelt haben, bleiben uns von der baconifchen Enchklopädie die philofophifchen Wiffenfchaften im Bejonderen übrig, deren Objecte und Erkenntnißart im natürlichen Licht Liegen: dig Lehre von der Natur und vom Menjchen.

*) De augm. IX, 2. Op. p. 261.

Behntes Kapitel, Kosmologie, A. Naturphilojophie,

Will man die Gefammtaufgabe der Menfchheit, wie Bacon fie beftimmt Hat, in die Fürzefte Formel faſſen, fo befteht fie darin, daß wir die Welt abbilden und fortbilden. Nur auf die Abbildung läßt ſich die Fortbildung gründen: auf das Reich der Erkenntniß das Neid) der Cultur oder das regnum hominis. Daher fagt Bacon fo gern: „Wir wollen einen Tempel gründen im menfchlichen Geift nad) dem Vorbilde der Welt.” Das Driginal ift die Welt, das Abbild die Vor- stellung der Welt in uns, unfere Aufgabe ift, die richtige Borftellung zu gewinnen. Diefer Weg allein führt zur Herrichaft.

Nun war das Weltgemälde, je nachdem es durch Phan- tafie oder Wahrnehmung (Gedächtniß) und Vernunft ausgeführt wird, entweder poetifcher oder wiljenfchaftlicher Art, und das (etstere, das die Welt nimmt und darjtellt, wie fie ift, un: verhält und ohne Sinnbild, Hat die zweifache Aufgabe der Beihreibung und Erklärung. Die Befchreibung giebt das Ab- bild der Thatſachen, das Hiftorifche Weltabbild, die Erklärung giebt das der Urfachen, das feientififche Abbild, welches, ab- gejehen von den übernatürlichen Urfachen oder der geoffenbar-

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ten Theologie, das philoſophiſche Gebiet der Erlenntniß um: faßt, gerichtet blos auf die natürlichen Urſachen. Und abge: jehen von der Gotteserfenntniß aus natürlichen Urſachen oder der natürlichen Theologie, bleibt für das philojophiiche Erkennt: nißgebiet der Inbegriff der natürlichen Dinge oder die Welt als das einzige und eigentlihe Object übrig: die Philojophie als (rationelle) Kosmologie. Alle Theile des Weltabbildes, die nicht philofophifche Kosmologie find, Haben wir im vor- hergehenden Abjchnitt behandelt; von der Philofophie als Kos— mologie ift jet zu veden.

Die Eintheilung der Kosmologie ergiebt ſich von jelbit: fie zerfällt in die beiden Sphären der phyfiihen Welt im engeren Sinn und der Menjchenwelt, fie ift in der eriten Rückſicht Naturphilofophie, in der zweiten Anthropologie im weiteften Umfange. Um in der baconifchen Encyflopädie den Ort der Kosmologie deutlich zu jehen, geben wir das folgende Schema:

Abbild der Dinge (globus intellectualis).

Weltbeſchreibung. Dichtung. Erkenntniß der Urſachen. Natur Menſchheit epiſch übernat. natürliche freie be⸗ nr: i | Welt 9hatır Iherrfpte | weltl. tirchlich geof, | Gott | Gros dolbaic) ——— paraboliſch a Se Bildun- |Wejch.der) polit. Kirchen— nat. | Natur | Menjd)- gen |XTedmo= | Geſch. geſch. Theol. heit misnir-| N | Giter, dungen, Geſch.

Die Aufgaben der UNaturphiloſophie. 1, Theoretiſche und praktifche, Wir Haben zunächſt das Gebiet der Naturphilofophie vor und. Ihr Ziel ift die Erfindung d.h. die Beherrfhung der

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Natur durch Anwendung ihrer Geſetze, die ſelbſt bedingt iſt durch deren Erkenntniß. Man kann beſtimmte Wirkungen nur bezwecken und hervorbringen, wenn man die Urſachen kennt und in ſeiner Gewalt hat. Daher theilt ſich die ganze Bahn der Naturphiloſophie von der Erfahrung bis zur Erfindung in zwei Hauptwege: der erſte ſteigt von der Erfahrung zu den Urſachen oder den Quellen der Thatſachen empor, der andere geht von hier abwärts zur Erfindung; auf dem erſten Wege verhält ſich die Naturphiloſophie unterſuchend, entdeckend, theoretiſch, auf dem zweiten verſuchend, operativ, praktiſch. Demgemäß unterſcheidet Bacon die Naturphiloſophie in die beiden Gebiete der theoretiſchen und praktiſchen, oder wie er ſich bildlich und ſpielend ausdrückt, die theoretiſche Naturphi— loſophie fährt in die Bergwerke der Natur und fördert die Erze zu Tage, die praktiſche bringt ſie in die Oefen, unter den Hammer, auf den Amboß, ſie bearbeitet, ſchmilzt und ſchmie— det, was jene ergründet und aus dem verborgenen Schooße der Natur hervorholt.*)

2. Phyſik und Metaphyſil.

Die theoretiſche Naturphilofophie erforfcht die natürlichen Urfachen der Dinge, welche felbjt zweifacher Art find, Die Bacon nad) dem VBorgange und der Ausdrucdsweife des Arijto- teles jo unterfcheidet, daß er die alten Namen beibehält, aber die Bedeutung ändert. So ändern ſich auch in der bürger- lihen Welt die Zuftände und Berfaffungen, aber die Namen der Obrigkeiten bleiben ſich gleih.**) Er unterfcheidet die

*) De augm. Lib. III, cp. 3. Op. p. 78. Bol. oben S. 141—49. **) Ebend, II. 4. Op. p. 79. Bol. oben Cap. II, ©. 180,

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natürlichen Urfachen im materielle und formale, in wirkende und zwecthätige oder in mechanische Urjachen und Abfichten (causae eflicientes und finales). Mit der Materie und den wirkenden Urfachen Hat es die Phyſik, mit den Formen und Endurſachen die Metaphyfif zu thun, Die theoretiihe Natur- philojophie zerfällt demnach in Phyſik und Metaphyſik: die Grundbegriffe der phyfifalifchen Erklärung find Materie und Kraft, die der metaphyſiſchen Form und Zwed.*)

Die Phyſik fteht in dev Mitte zwifchen Naturgefchichte und Metaphyfif: von der breiten Grundlage der Thatfachen jtrebt fie empor zu den Urfachen, die, je höher man fteigt, fich immer mehr und mehr vereinfachen, To gleicht die gefammte (theoretifche) Naturwiſſenſchaft einer Pyramide, deren Spite die Metaphyſik ift. Es wird daher einen Theil dev Phyſik geben müſſen, der jid) näher an die Naturgefchichte Hält, und einen höher gelegenen, der an die Metaphyfif grenzt. **)

Die phyfiichen Körper find zufammengefeßt: fie find in ihrer Zuſammenſetzung unendlich mannigfaltig und verjchieden, fie find jelbjt wieder Theile eines Ganzen und bilden zuſam— men das Woeltgebäude oder Univerſum, fie beſtehen aus Ur: jtoffen, die ihre Principien oder Elemente ausmachen. Daher wollen fie unterfucht werden ſowohl in Rückſicht ihrer Einheit und Verbindung als ihrer Mannigfaltigfeit und Verſchieden— heit, und fo zerfällt die Phyſik in drei Theile: fie handelt in Rückſicht der Einheit von den Prineipien oder Urftoffen und von der Welt, in Nückficht der Mannigfaltigkeit von den ver- jchiedenen Körpern. Und da diefe bei aller Verfchiedenheit

*) Physica est, quae inquirit de efficiente et materia, meta-

physica, quae de forma et fine. De augm. III, 4. Op. p. 80. **) Ebend, II, 4. Op. p. 80. 81. Bol. ©. 91.

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gewiſſe Grundeigenſchaften gemein haben und in gewiſſe Haupt— claſſen ſich unterſcheiden, ſo wird hier die Phyſik zwei Auf— gaben löſen müſſen, indem ſie die Unterſchiede im Einzelnen erklärt und dann die gemeinſamen Factoren: ſie handelt in der erſten Rückſicht „de concretis“, in der zweiten „de na- turis“, jene nennt Bacon die conerete, dieſe die abſtracte Phyſik, und es iſt Har, daß die concrete Phyfif näher der Katurgefchichte fteht, die abjtracte näher der Metaphyfik. *) | Die erfte unterfucht die einzelnen concereten Körper, wie Mine: ralien, Pflanzen, Thiere, die andere die allgemeinen phyfifa- liſchen Eigenfchaften, wie Schwere, Wärme, Yicht, Dichtigfeit, Sohäfion u.f.f. Die conerete Phyſik nimmt diefelbe Ein- theilung als die Naturgefchichte, nur daß fie die Dbjecte er: Härt, welche diefe blos bejchreibt. Hier vermißt Bacon vor allem die Phyſik der Himmelskörper; es giebt nur, einen mathematiſchen Abriß ihrer äußern Korn, feine phyfifalifche Theorie ihrer Urſachen und Wirkungen. Es fehlt eine phyfi- kaliſche Aſtronomie, die Bacon im Unterfchiede von der mathe: matifchen die lebendige nennt, eine phyſikaliſche Ajtvologie, die im Umnterfchiede von der abergläubifchen die geſunde heißen fol. Unter der lebendigen Aftronomie wird die Ein- fiht in die Gründe der Himmelserfcheinungen, in die Urjachen ihrer Gejtalt und Bewegung verftanden, unter der gefunden Aftrologie die Einfiht in die Wirkungen und Einflüffe, welche die Gejtirne auf die Erde und deren Körper ausüben. Diefe Wirkungen find in allen Fällen natürliche, nicht fataliftifche, die Geſtirne beftimmen nicht das Schieffal der Welt, in diefem Aberglauben bejtand der Unfinn der bisherigen Aftrologie,

*) De augm, III, 4. Op. p. 80. 81.

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wohl aber üben fie, wie Sonne und Mond, auf die Erde phyſiſche Cinflüffe aus, die fih im Wechſel der Jahreszeiten, in Ebbe und Fluth, im gewiſſen Yebenserfcheinungen u. ſ. f. kundgeben. Eben diefe Wirkungen find zu erklären, ihre Ur- ſache und Kraft, ihre Art und ihr Spielraum.

Die baconiſche Metaphyſik gehört in die Naturphilojophie: fie hat es blos mit dev Natur zu thun, darum ift fie nicht gundamentalphilofophie, wie bei Ariftoteles, fie hat es nur mit natürlichen Urfachen zu thun, darum ift fie nicht Theo: logie, wie bei Plato. Bacon vergleiht den Bau der Welt und der Wilfenfchaften gern mit dem der Pyramiden, „Alles jteigt nad) einer gewiffen Stufenleiter zur Einheit“: diefe Betradhtungsweife, die jchon Parmenides und Plato ge— habt haben, freilich nur als „nuda speculatio‘*), bildet das Grundthema feiner Fundamentalphilofophie, welche die ftufenmäßige Ordnung aller Weſen vor fid) Hat, während die Metaphyſik nur die Scala der phyfifchen Dinge betrachtet und in der Stufenleiter der Wiſſenſchaften auf der oberjten Sprojje der Naturlehre fteht, Hinausblidend über die Grenze der Phyfil, nicht über die der Naturphilofophie. Die Meta— phyſik bejchreibt zwei Gebiete, von denen das eine mit der Phyſik verfchrt umd zufammenhängt, das andere gar nicht. Es iſt wichtig, zwifchen Metaphyſik und Phyſik diefen Zuſam— menhang wie dieſe Grenze im Sinne Bacon's genau zu be— zeichnen. Die natürlichen Urſachen metaphyſiſcher Art, die mit der Phyſik zufammenhängen, find die Formen, die natür- lichen Urſachen metaphyfifcher Art, die gar nicht phyſikaliſch find und fein dürfen, find die Zwede. Wir kennen beveits

*) De augm. III, 4. Op. p. 91.

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den baconijchen Begriff der Formen als den dev wirkenden Naturen oder Urſachen, welche allein die Richtſchnur der phyſi— falifchen Erklärung bilden. Es ift nicht leicht zu jagen, worin hier die metaphyſiſche Erklärung ſich von der phyſikaliſchen noch umnterjcheiden jol. Im Grunde nur im Namen. Geben wir, daß die wirkenden Urfachen der natürlichen Dinge ſich immer mehr und mehr vereinfachen, jo würden die letsten, einfachiten, oberjten Urſachen gleichfam die Formen evjter Claſſe, die Gegenftände der Metaphyfif fein. So erklärt ſich der Ausspruch Bacon’s: „Die Metaphyſik betrachtet vorzugs- weife jene einfachen Formen der Dinge, die wir früher die Formen erjter Claſſe genannt haben.““s) Hier hat die Meta- phyſik ihre gegen die Phyſik offene Seite und die abjtracte oder bejjer gejagt allgemeine Phyſik geht ungehemmt im die Metaphyſik über.

Dagegen iſt das phyfifaliihe Gebiet von metaphyſiſchen völlig gejchieden durch den Begriff des Zweds, der in der Phyſik nichts ausrichtet, won diefer ganz fern zu halten ift und in feiner Anwendung auf Naturerfcheinungen eine Pro- vinz blos der Metaphyfif bildet. Soweit die Metaphyſik in dem vorher erklärten Sinne allgemeine Phyfif ift oder fein joll, wird fie von Baron vermißt und gefordert; als teleolo: giſche Naturerflärung wird fie der Sache nad) nicht vermißt, nur die richtige Stellung diefer Erklärungsweife zur Phyſik ſucht man vergebens. Es ift von der größten Wichtigfeit, daß hier die beiden Gebiete auf das Sorgfältigfte geſchieden werden, denn es war vom größten Uebel, daß die Grenze

*) De augm. III, 4. Op. p. 91. Ueber die Bedeutung der For- men vgl. oben ©. 179 fig.

*

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verrückt und die teleologifche Erflärungsweife in die phyſika— lifche eingemifcht wurde. Dies Hat die Lettere fortzufchreiten gehindert und unglaublich verwirrt. Wie die Philofophie durch Bermifhung mit der Theologie phantaſtiſch wird, fo die Phyſik durch die Vermifchung mit der Teleologie. „So— bald die Endurfahen”, jagt Bacon, „in das phHfifalifche Gebiet einfallen, entvölfern und verwüjten fie diefe Provinz auf jammervolle Weife.“ Die Phyfif reinigen, heift die End- urſachen in die Metaphyſik verweifen. In der Phyſik ift die Erklärung der Dinge nad) Zweden unfruchtbar und fchädlich, in der Metaphyfik ift fie am richtigen Ort. Der teleologifche Geſichtspunkt ſoll nicht überhaupt verneint, jondern nur in feiner Anwendung befhränft, er fol dem phyſikaliſchen auch nicht entgegengefeßt, jondern nur davon getrennt werden; beide ſchließen fich Teineswegs aus, fondern können fi) wohl mit einander vertragen. Was in diefer Rückſicht Tediglid) als Wirkung blinder Kräfte erjcheint, warum joll es in anderer Rückſicht nicht zugleich nützlich und zwedmäßig erfcheinen dirfen? Man wird gern anerkennen, daß die Augenwimpern zum Schutze der Augen, das Fell der Thiere durch feine Seftigfeit zur Abwehr gegen Hitze und Kälte, die Beine zum Tragen des Körpers dienen; aber was nüten folche Erklärungen in der Phyſik? Die phyſikaliſche Frage Heißt nicht: wozu dienen die Augenwimpern, fondern warum wacfen an diefer Stelle Haare? Dffenbar hat die hier wirkſame phyfifalifche Bedingung nicht die Abficht, ein Schutmittel für die Augen zu bilden. Ebenſo wenig will die Kälte, wenn fie die Poren der Haut zufammenziceht und dadurch die Härte derfelben be- wirkt, die Thiere gegen die Einflüffe der Temperatur fchügen. Die phyfilaliichen Erklärungen find von den teleologifchen

r | 335 | völlig verfchieden. Widerfprechen fi) darum beide? Hindert 1 | etwa die Urſache, daß ihre Wirkung nüßlich wird in einer ce | Beziehung, die der Urſache jelbjt fremd iſt? Die Confufion o | entjteht erſt, jobald man den Nugen, den die Wirkung hat, zu deren Urſache macht. Gegen diefe Konfufion richtet ſich : I Bacon; um fie aufzuklären, trennt er, was nicht zuſammen gehört: die causa cfficiens von der causa finalis, die mecha— nifche Erklärung der Dinge von der teleologifhen, die Phyſik von der Metaphyfif. Jene zeigt uns nur die gefemäßige Natur, diefe zugleich die zwecdmäßige. Sie deutet damit in letzter Inſtanz auf eine vorjehende Intelligenz, welche das blinde Walten der Naturfräfte mit weifer Defonomie lenkt und ordnet, und fo gewährt die Metaphyfif eine Ausficht, die näher zu verfolgen der natürlichen Theologie überlaffen bleibt. *)

3. Mechanik und natürliche Magie.

Der theoretifchen Naturphilojophie fteht die praftifche zur Seite. Wie jene in Phyfif und Metaphyſik, jo theilt fich diefe in Mechanik und Magie: der Phyſik entfpricht die Mecha— nie, der Metaphyfif die Magie; die Mechanik ift angewandte, praftifche, erfinderifhe Phyfif, die Magie in demfelben Sinne praftiihe Metaphyfif. Nur als allgemeine Phyſik, nicht jofern jie von den Abfichten der natürlichen Dinge Handelt, kann die Metaphyſik überhaupt praftifch werden. Als Teleologie hat fie feine Praxis; die Teleologie ift zur phyfifalifchen Erfindung ebenfo untauglich als zur phyſikaliſchen Erfenntniß. An diefer

*) De augm. Lib. III, 4. Op. p. 91—93. Ueber den Gegenfaß der Metaphyfif und Phyfif im Betreff der teleologifchen Betradhtungs- weije vgl, oben S. 174 fig.

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Stelle findet fich jenes berühmte und oft wiederholte Wort Bacon’s: „Die Unterfuhung der Endurſachen ift unfruchtbar und gebiert nichts, gleich einer Gott geweihten Jungfrau. *)

Die Mechanik ift nicht ganz vernachläſſigt, dagegen fehlt die Magie, fie wird, wie die Wiffenfchaft, deren Praris oder erfinderifche Anwendung fie bildet, vermißt und gefordert. Nur laffe man fid) durd) das Wort „Magie nicht irre führen über Bacon’s wirffihe Meinung; ev fett die natürliche oder ächte Magie der abergläubifchen und unächten entgegen, wozu er die Träume der Ajtrologie und Alchymie rechnet. Es bleibe dahingeftellt, ob das Ziel, welches die Alchymiften gejucht haben, die Erzeugung des Goldes und der Panacee, überhaupt erreichbar fei, jedenfalls leuchtet ein, daß es auf die Art, wie fie e8 fuchten, durch Tincturen, Elirive u. dgl. nothwendig ver- fehlt werden mußte. Denn bevor man zur Herjtellung des Goldes irgend einen Verſuch macht, muß man die phyfifali- Ihen Bedingungen und Factoren defjelben, feine wefentlichen Eigenjchaften und deren natürliche Entftehungsart genau Fennen, und davon Hatten die Alchymiften Feine Ahnung. Die Magie im Sinne Bacon's gründet fih auf die allgemeine Physik, auf die Kenntniß der oberften und einfachften Naturkräfte, anf die Einficht in die erzeugende Wirkſamkeit der Natur umd deren innerjten Grund. Im diefer Einficht liegt die Möglid)- feit, wie die Natur zu handeln, und die erftaunlichjten Wirkungen, gleichjfam natürliche Wunder Hervorzubringen. Was in unferen Tagen die erfinderifche Mechanik und Chemie feiftet, ich meine die Erfindungen, welche die Welt umgeftaltet

*) Nam causarum finaliam ingqnisitio sterilis est et tanquam

virgo Deo consecrata nihil parit. De augm. III, 5.. Op. p. 98. Bol. oben ©. 175.

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haben, das erfüllt und verdeutlicht die Aufgaben, die Bacon unter dem Namen der natürlihen Magie dachte und der Zu- funft zum Ziel feste. Diefe neue und ächte Magie, fagt Bacon vortrefflid, verhält fi zur frühern und unächten in Betreff der phyfifalifhen Wahrheit, wie ſich die Erzählungen von den Thaten Arthur’8 von der Tafedrunde zu den Com— mentaren Cäſar's in Betreff der Hiftoriihen Wahrheit ver- halten. Jene find Mährchen, diefe dagegen Geſchichte. Die Wirklichkeit übertrifft die Phantafie. Cäſar hat Größeres ge- feiftet, als jene Mährchen ihren Scattenhelden anzudichten auch nur gewagt. Jene alte abergläubifche Magie hat fidh zur Natur verhalten, wie Irion zur Juno, fie hat ftatt der Natur die Dunjtgebilde ihrer Träume ergriffen, wie biejer ftatt der Göttin die Wolfe. *)

Zu dieſen naturphilofophifchen Wifjenfchaften, wie fie hier auseinandergefegt find, kommen noch gewijje Anhänge, bie Bacon der theoretiihen Phyfit, der praftiichen Phyfit und der gefammten Naturphilojophie Hinzufügt.

Um die theoretifche Phyſik vorfihtig zu machen, ſoll in ihrem Anhange Hingewiefen werden auf die berechtigten Zweifel und Bedenken, welche der Erflärung ſowohl der einzelnen Dinge als des Weltganzen gegenüberftehen. In der erften Rüdficht fordert Bacon ein Verzeichniß der Probleme und rühmt Ariftoteles, der hier mit gutem Beispiele vorangegangen; in der zweiten Rückſicht, was die Anficht von den Principien und dem Weltganzen betrifft, will er die Theorien ber alten

——

*) De augm. III, 5. Op. p. 3—9. Bgl. Nov. Org. II, 3. 9. Vgl. oben &. 181. 210. Bilder, Bacon, 22

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(oorfofratifchen) Naturphilofophen, die er dem Ariftoteles vorzieht, aufgeführt, in ihrem folgerichtigen Zufammenhange dargeftellt und beherzigt wiffen, damit man nicht für neu halte, was alt fei, beſſere Autoritäten von den fchlechteren zu unterfcheiden wifje und überhaupt die Verjchiedenheit der An— fihten Fennen lerne. Zu den alten Namen fügt er von den neueren die des Paracelfus, Telefins, Gilbert. *)

Als Anhang der praftifchen Phyfif oder der erfinderifchen Naturwiffenfchaft erneut Bacon jene Forderung, auf die er bei fo vielen Gelegenheiten zurüdfommt: daß ein Inventar der menfchlichen Güter, welche die Natur verliehen oder die Erfindung erworben Hat, angelegt und befonders diejenigen Erfindungen hervorgehoben werden, die man vorher für unmöglich gehalten. Dann follen in einem zweiten Ver— zeihnig die nüßlichjten und fruchtbarften Erfindungen auf- geführt werden, die zugleich den Stoff und die Aufgabe zu weiteren Verſuchen in ſich tragen (catalogus polychresto- rum, **) Ä

4, Mathematik.

- Den „großen Anhang“ zur gefammten Naturphilofophie bildet die Mathematik; fie gilt bei Bacon als Hülfswiffenfchaft der. theoretifchen und praftifchen Phyſik. So wenig ihm die Logif für eine felbftändige Wiffenfchaft gilt, fo wenig .die Mathematif; der Werth beider liegt in dem, was fie zur

* De augm. II, 4. Op. P. 87—89. **) Ebend. II, 5. Op. p. 95 fig.

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Naturerflärung beitragen, fie jollen nicht Herrchen, fondern dienen, nämlich zur Löfung phyfifalifcher Aufgaben und zur Erweiterung phyfifaliicher Einfichten. „Denn viele Theile der Natur können ohne Hülfe und Dazwifchenkunft der Mathe- matif weder fein genug begriffen, noch deutlich genug bewiefen, noch ficher genug praktiſch gebraucht werden.“ Bacon unter- ſcheidet die reine und gemifchte oder angewandte Mathematik, zu welcher Teßteren er Ajtronomie, Geographie, die Lehre von der Berfpective, Mufif u. f. f. rechnet, während die reine Mathematik es mit Figur und Zahl d.h. mit der bloßen Größe oder abjtracten Duantität zu thun hat. Da num die Duanti- tät als folche zu den Formen der natürlichen Dinge gehört, eine der beftändigen, der wirffamften und zugleich die ab- jtractefte diefer Formen ift, jo fällt unter dieſem Gefichtspunft die reine Mathematif in das höchite Gebiet der abftracten oder allgemeinen Phyfif und bildet demnach) einen Theil der Meta- phyſik.*)

Wenn die Naturwiſſenſchaft dieſe ihre Aufgaben und Wege richtig anerkennt und ſich derſelben bemeiſtert, ſo wird ſie friedlich und unaufhaltſam fortſchreiten und ſich der Geiſter ohne Widerſtand bemächtigen, gleich jenem franzöfifchen Heer, von dem Alerander Borgia fagte, daß es Neapel erobere nit mit den Waffen, fondern mit der Kreide in der Hand, um feine Quartiere zu bezeichnen. Die Abficht der baconifchen Erneuerung der Philofophie ift nicht der Krieg und die Er- regung von Streitigkeiten, jondern „‚pacificus veritatis in- gressus .**)

*) De augm. III, 6. Op. p. 96—98. **) Ebend. III, 6. Op. p. 98. 22*

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Hier ift ein Schema der baconijchen Dispofition der Naturphilofophie:

Naturphilofophie Theoretiſche | praltiſche Phyſit Metaphyſit | Medanit Magie eonerete | abftracte | Formen | Enb- | I. @lafje urſachen reine Math. Es Mathematit

| gemifhte

Elftes Kapitel. Kosmologie, B. Authropologie.

Die Aufgaben der Anthropologie. 1. Eintheilung. Vorbetrachtung.

Den zweiten Haupttheil der Kosmologie bildet die Wiffen- fhaft vom Menſchen, in ihr Liegt das Ziel des menfchlichen Wiffens, worauf das beiphifche Wort: erfenne dich felbft! fhon die alte Philofophie hinwies. Und wie der Menſch feine Ausnahme von den Dingen, fondern ein Theil der natürlichen Welt ift, fo foll auch die Erfenntniß der menfd- fihen Natur im Zufammenhange mit den übrigen Wiffen- fchaften- gehalten fein und fortſchreiten. Wird dieſer Zuſam— menhang aufgelöft und bie einzelnen Glieder des großen Or- ganismus ber Wiffenfchaften von einander getrennt, fo werden fie nicht mehr von der gemeinfamen Lebensquelle ernährt und veröden. Die Wiffenfchaften einander zu benachbaren und burch gegenfeitige Theilnahme zu fördern, ift der ausgefprochene Hauptzwed ber baconifchen Enchklopädie, und es hat feinen guten Grund, daß Bacon gerade beim Eintritt in die Anthro- pologie diefe Aufgabe beſonders hervorhebt.*)

*) De augm. IV, 1. Op. p. 97 fig.

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Das menfchliche Leben erfcheint in zwei Hauptformen: in der natürlichen Bereinzelung und in der gefellfchaftlichen Verbindung, dort „‚jegregirt“, hier „‚congregirt”; demgemäß theilt fi) die Anthropologie in.die beiden von Bacon fehr ungleich behandelten Theile: die Lehre von dem menſchlichen Individuum und von der Geſellſchaft (phil. humanitatis und phil. civilis). Und da die menſchliche Natur Förperlih und geiftig ift, fo muß die Erkenntniß derfelben ſich in die beiden Theile der Somatologie und Pſychologie jondern, welche letztere in Rüdficht auf die beiden Hauptfräfte des menfchlichen Geiſtes, Verftand und Willen, in die Wiffenfchaften der Logik und Ethik auseinandergeht, das Wort Logik im weiteften Um— fange genommen. Aus diefer Cintheilung ergeben ſich vier anthropologifche Hauptfächer nad folgendem Schema:

Anthropologie. Individuum Geſellſchaft (Staat) Körper | See | Politit Somatologie | Logit | Ethit

Indeſſen bevor Bacon in die einzelnen Gebiete eingeht, wünſcht er eine anthropologiſche Vorbetrachtung allgemeiner Art, die ſich theils auf die perſönlichen Lebenszuſtände des Menſchen, theils auf das Verhältniß oder Band zwiſchen Seele und Körper beziehen ſoll. Was jene betrifft, ſo ſoll die Rede weniger ſein von Elend und Unglück, als von den Kraftäußerungen der menſchlichen Natur; die Darſtellung des menſchlichen Jammerthales ſei ſchon beſetzt durch eine reiche Literatur philoſophiſcher und theologiſcher Schriften, hier ſei nichts zu vermiſſen und es ſei unnöthig, dieſe heilſamen und ſanften Unterhaltungen zu vermehren. Dagegen möchte er,

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was Pindar vor Hiero rühmt, die Blüthen der menjghlichen Tugenden abpflücden und die Vorhalle der Anthropologie mit erhabenen Menfchenbildern ausſchmücken, mit Beifpielen ge- waltiger intellectweller und fittlicher Leitungen.

Daß Seele und Körper eng verbunden, nicht von einan- der unabhängige, jondern auf einander wirffame Naturen find, läßt fi) an gewiffen Thatfachen darthun, die Bacon näher unterfucht und unter den Prolegomena zur Anthropologie an zweiter Stelle beleuchtet wünfcht. Gewiſſe Seelenzuftände haben ihren eigenthümlichen Förperlichen und gewifje körper— liche Bejchaffenheiten ihren bejonderen pſychiſchen Ausdruck in Borftellungszuftänden, die unwillkürlich aus ihnen hervor- gehen: dort macht die körperliche Erfcheinung die pſychiſche Individualität erfennbar, hier der pſychiſche Zuſtand die körper— liche Bejchaffenheit; beide Arten der Wechjelwirfung nennt Bacon Kennzeichen (indicationes): die erfte findet er haupt: lählic in der Phyfiognomie, befonders im pathognomifchen Ausdruck Habituell gewordener Geberden, die zweite in den Träumen, die von förperlichen Zuftänden herrühren. Er vermißt die Fortbildung der Phyſiognomik und fordert nament- (ih Ariftoteles gegenüber, der fi) nur an die feſten Umriffe gehalten, den Fortfchritt zur Pathognomil.. Die Chiromantie berwirft er als Chimäre und ebenfo die gewöhnliche Traum- deuterei: Eine zweite Form der Wechfelbeziehung zwifchen Seele und Körper find die unmittelbaren Einwirkungen (im- pressiones) pfychifcher Veränderungen auf Fürperliche Zuftände und umgekehrt, die Localifirung pſychiſcher Anlagen und Fähig— keiten in körperlichen Organen u. f. f.*)

*) De augm. IV, 1. Op. p. 98—102

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2. Somatologie. Medicin,

Die Wiffenihaft vom menfchlihen Körper faßt Bacon wefentlich praftifch, fie foll dem Wohle des Körpers dienen, und da bdiefes in der Gefundheit, Schönheit, Stärke und Sinnesluft befteht, jo ift jene Wiſſenſchaft vierfah: Medicin, Kosmetik, Athletif und die Kunft zu genießen (sc. voluptaria oder eruditus luxus, wie Tacitus jagt).

Die drei lebten werden nur flüchtig und vorübergehend behandelt. In der Kosmetik ift weniger zu vermiffen als zu berwerfen, wie bie weibifchen Putzkünſte, namentlic; wäre zu wünfchen, daß den Frauen das Schminken durch öffentliche Geſetze unterfagt würde; die Athletik foll die Körperfräfte üben in Abficht ſowohl jeder Art der Gefchiclichkeit als der Ab- härtung; die lette Disciplin umfaßt alles, was die Sinne an— genehm reizt und unterhält, die äfthetifchen wie materiellen Sinnesgenüffe, auch die amüfanten Täuſchungen der Taſchen— fpielerei werden dazu gerechnet, Malerei und Muſik als Augen weide und Ohrenſchmaus genommen und den Tafelfreuden be— nachbart; von der Wolluft will Bacon nicht reden, da fie mehr bes Genfors bedürfe als des Lehrers. Die Künfte gehen Hand in Hand mit den Entwidlungszuftänden des Gemeinwefens: wenn es emporfteigt, blühen die Künfte des Kriegs, wenn es in voller Kraft fteht, die freien Künfte, wenn es herabfinft die Künfte des’ genießenden Luxus.“*)

Unter allen dem körperlichen Wohl gewibmeten Wiffen- fchaften ift ihm die wichtigfte und mit der Naturphilofophie am nächften verfnüpfte die Medicin, die er deshalb auch am

*) De augm. IV, 2. Op. p. 102. 113 fig.

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ausführlichiten betrachtet. Man darf den menfchlichen Körper einem Mnufifalifchen Inftrumente vergleichen, deffen Wohlklang und Harmonie in der Gefundheit befteht, daher die Alten mit Recht Muſik und Heilfunft demjelben Gotte zufchrieben. Da aber der Werth diefer großen Kunft gewöhnlich nur nad dem bloßen Erfolge gefhätt wird, fo weiß die Menge nicht den Duadfalber vom Kiünftler, den Charlatan vom Arzt zu unter: iheiden, ja fie fchäßt jenen höher als diefen; jo hat ſich die Charlatanerie mit dev Medicin verfchwiftert, wie in der Sage der Alten die Zauberin Eirce mit dem Gotte Aesculap. Daher ijt die Medicin von allerhand Blendwerk erfüllt, fie wird mehr prahleriſch gehandhabt, als ernjthaft bearbeitet, und die Arbeit jelbft ift der Art, daß fie die Einfichten nicht erweitert. Von diefer ſchlimmen Verwandtichaft mit dem Charlatanismus, von diefer blinden Empirie, die nicht vorwärts fommt, von diefen abergläubifchen und eiteln Beimiſchungen möchte Bacon die Medicin gereinigt jehen, er möchte fie von den Uebeln befreien, an denen fie leidet, und aus ihr eine gefunde Wiffenfchaft und Kunſt machen, wie aus der Ajtrologie und Magie. Sie foll nicht8 anderes fein oder werden als praftifhe Natur- wiffenfhaft, gerichtet auf das Wohl des menfchlichen Kör— pers. Daher find ihre drei Aufgaben: Erhaltung der Gejund- heit, Heilung der Krankheit, Verlängerung des Lebens (Diä- tetik, Pathologie, Makrobiotik), welche letztere eine Wiſſenſchaft für ſich ausmacht, die Bacon vermißt und mit beſonderem In— tereſſe behandelt. Er hat in ſeiner „historia vitae et mortis“ den Verſuch gemacht, nach dem Leitfaden einer beſtimmten Theorie ein Syſtem der Makrobiotik zu geben. Zur Erhal— tung ber Geſundheit, wobei Lebensordnung und Lebensart, die Hauptfächlichen Bedingungen ausmachen, ift die Mäßigfeit

allein nicht ausreichend und man überſchätzt ſie häufig, die Gewohnheit körperlicher Bewegung iſt hier von überaus großem Nutzen, nicht blos das Spazierengehen, ſondern Bewegungen, bei denen gewiſſe Organe beſonders angeſtrengt und gekräftigt werden, wie Ballſpielen, Bogenſchießen u. ſ. w.

Um Krankheiten zu behandeln, muß man deren Natur, Ur— ſachen und Heilmittel kennen und gründlich unterſuchen. Darum fordert Bacon vor allem nach dem Vorgange des Hip— pokrates und ſeinen eigenen Grundſätzen gemäß, daß die ver— ſchiedenen Krankheiten genau und präcis beſchrieben werden in ihrer Beſchaffenheit, ihrem Verlauf, in der Anwendung und dem Erfolge der Heilmittel: er vermißt und fordert Krank— heitsgeſchichte; zur Erkenntniß der Krankheitsurſachen, die häufig in den mechaniſchen Zuſtänden der Organe ihren Sit haben, fordert er ſorgfältige anatomisch er Unterfuchungen vergleichender Art, pathologiſche Anatomie, Vivifectionen an Thieren; es ijt drittens eine auf wiſſenſchaftliche Unter- ſuchung gegründete Arzneimittellehre nöthig, um nad) der Einficht in die Natur und Wirfungsart der Medicamente die Anwendung derjelben zu richten, fonjt Herrfchen wohl die Aerzte über die Arzneien, nicht aber diefe über die Krankheiten. Hier verweilt Bacon auf die Heilfräfte der Natur und fordert die Fünftlihe Nahahmung der Mineralwafjer. Die Aerzte ſollen fich nicht damit begnügen, daß gewifjfe Krankheiten als unheilbar auf ihren Proferiptionsliften ftehen, ſondern gerade in Betreff diefer Krankheiten fordert Bacon, wie vor ihm ſchon Paracelfus gethan, die genauejten fortgefegten Beobachtungen, damit fi) die Zahl der profcribirten vermindere. Und endlich, wo die Heilung nicht möglich und der Tod nicht aufzufchieben ist, follen die Aerzte darauf bedacht fein, die Schmerzen zu

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lindern, das Sterben zu erleichtern und einen Zuftand herbei- zuführen, den Bacon im Unterfchiede von der zum Tode wohl vorbereiteten Gemüthsverfaffung die äußere Euthanafie nennt. *)

Nachdem in unfern Tagen ein berühmter Chemiker Bacon für einen naturwiffenfchaftlichen Charlatan erklärt Hat, wollen wir an diefer Stelle, welche die Frage von der medicinifchen Seite berührt, die Stimme eines Mannes hören, deſſen Worte das Gewicht einer fachmänniſchen Autorität haben. „Auf dem Felde der praftifchen Medicin‘‘, jagt Bamberger, „welches befannt- ih halb zum Gebiete der Kunſt, halb zu jenem der Wiffen- Ihaft gehört, hätte Bacon, wenn er fid) demfelben gewidmet hätte, ganz gewiß glänzende Erfolge errungen. Für diefe Arena war fein vorzugsweife dem Praftifchen zugewendeter, das Aeußere der Erfcheinungen, ihre Analogien und Differen- zen jo raſch und glücklich auffindender Geift wie gefchaffen.” „Meberdieß zeigt Bacon eine fehr große Vertrautheit mit allen Theilen der Medicin, die jedenfalls fehr eingehende theoretifche Studien vorausſetzt.“ Nachdem Banıberger die Epoche der Medicin, in welcher Bacon auftritt, gefchildert, giebt ev mit dejfen eigenen Worten die daraus furz zufammengefaßten Ur- theile und Forderungen, um zu zeigen „wie in diefer Periode des Kampfes, der Verwirrung und der Gährung in der Me- diein Bacon’s wunderbar klar und jcharf blicfender Geift das, was dieſer Wifjenfchaft noth that, erkannte und den Weg, den fie verfolgen müfje, mit faft mathematifcher Präcifion be- ftimmte‘.

„Diefe Süte, die Bacon vor drittehalb Yahrhun- derten fchrieb, haben heute noch ihre Geltung, es läßt ſich

*) De augm. VII, 2. Op. p. 103—110.

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nichts von ihnen wegnehmen und kaum etwas hinzufügen; in- joweit die Medicin Bacon’s Defiderate erfüllt Hat, Hat fie ſich zum Range einer Wiffenfchaft emporgefchwungen; was ihr daran noch fehlt, bildet die Aufgabe der Zukunft. Und hier müffen wir uns wohl fragen: wie viele Aerzte der baconifchen Zeit waren wohl im Stande, die Bedürfniffe ihrer Wiſſenſchaft und den Weg, den diefelbe verfolgen mußte, fo richtig zu er— fennen und mit folcher Genauigkeit zu formuliren? Wie viele mochten wohl einjehen, daß die pathologifche Anatomie und Chemie damals fait noch unbefannte Begriffe in Ver— bindung mit einer forgfältigen Cafuiftif und einer geläuterten und verläßlichen materia medica, die möglichjte Befreiung von Theorien und vorgefaßten Anfichten, die aufmerkffame Beob- achtung und Unterfuhung allein im Stande feien, der Medi— cin einen ebenbürtigen Pla im Kreife der Wiſſenſchaften zu erringen? Ich glaube, es gab feinen, oder wenn e8 einen gab, jo hat er wenigjtens unterlaffen, der Nachwelt feine Goal zu überliefern.‘*)

Biel weniger unbefangen und vorurtheilsfrei, als in der Pathologie, deren Aufgaben er rein naturwiſſenſchaftlich faßt und beurtheilt, zeigt fi) Bacon in feinen mafrobiotifhen An— fihten. Es fehlt auch hier nicht an richtigen und feinen Beob— achtungen im Einzelnen, aber die ganze Grundlage, auf der feine Regeln und Operationen (zehn an der Zahl) zur Ver— längerung des Lebens beruhen, ift unhaltbar und falſch. Wir reden von feiner „historia vitae et mortis”. Neben einigen

Ueber Bacon von Verulam beſonders vom mediciniſchen Stand» punkte, von Dr. H. dv. Bamberger. Der K. K. Univerfität zu Wien zur Feier ihres fünfgundertjährigen Jubiläums bargebraht von ber Yultus- Marimilians-Univerfität zu Würzburg. 1865. S. 17. 19. 21 fig.

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vernünftigen diätetifchen Vorfchriften wird alles von der Ein- wirkung auf die Zebensgeifter (spiritus vitales) abhängig ge- macht: es ift die pmeumatifche oder fpiritwaliftifche Theorie, die Bacon vorfand und feinen mafrobiotifchen Regeln zu Grunde legte. Den Grundirrthum eingeräumt, jo waren die Folgeirrthümer, in die Bacon gerieth, wenigftens jo conjequent als fie fein Fonnten. „Betrachtet man‘, jagt Bamberger, „dieſes abenteuerlihe Syitem, jo muß man fich wohl unwill- fürlich die Frage vorlegen, ob fid) Bacon wirklich dem Wahn hingeben konnte, daß diejes ewige Bejalben und Bepflajtern, Klyftiren, Purgiven und Mediciniren im Stande fei, das menſch— fihe Leben auch nur um die Dauer einer Stunde zu verlängern, ober ob er damit nur die Welt täufchen und fi) auf wohl- feile Weife bei der großen Menge Ruhm und Anfehen ermwer- ben wollte. So nahe e8 läge, bei dem jcharfen Geiſte und dem ruhm- und ehrgeizigen Charakter Bacon’s das letztere an- zunehmen, fo würde man damit doch bei der Beurtheilung Bacon’s einen gewaltigen Misgriff begehen. Denn man darf nicht vergeffen, daß die Grundlage und der Ausgangspunkt des ganzen Syſtems die Theorie der den Organismus be- herrfchenden Spiritus, ihrer Natur und Bedürfniffe eine mit der ganzen Naturanfchauung Bacon's auf innigfte verwebte ift. Er hält es für überflüffig, dafür auch nur einen Beweis bei- zubringen, womit er doch ſonſt nicht farg ift: „patet e con- sensu et ex infinitis instantiis‘‘; es ift für ihn jo klar wie die Sonne. Es kann alſo in diefer Beziehung von abficht- licher Täufhung nicht die Rede fein. Die falfchen Prämiſſen müſſen aber nothmwendig zu falfchen Schlüffen führen, und jo liegt dem ganzen Syſtem, fo fehr es auf den erjten Anblid abenteuerfich und willkürlich erfcheinen mag, eine zwingende

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logische Nothwendigfeit zu Grunde, Waren die Lebensgeifter wirflih jo befchaffen, wie Bacon überzeugt war, jo mußte man ihnen auf diefem und feinem andern Wege beifommen, man mußte fie verdichten, damit fie fich nicht verflüchtigten, fie abkühlen, damit fie fich nicht zu ſehr erhigten u. ſ. f. Es handelte ſich alſo nur um die zu diefem Zwecke geeignetiten Mittel, und hier war Bacon ganz von den herrichenden mebdi- einifchen und pharmakologiſchen Anfichten abhängig, die er fo gut als möglid für feine Intentionen auszubeuten fuchte.‘ „Auch hier wie bei vielen andern Gelegenheiten ift es ihm be- fonders darum zu thun, die Aufmerffamfeit und die Beobad)- tung auf ein bejtimmtes Ziel zu lenken. «Die Aerzte und die Nachlommen werden jchon beſſere Sachen erfinden, als jene, die ich hier empfehle. »*) 3. Pſychologie.

Im Hinblid auf das pſychiſche Gebiet des menſchlichen Lebens ſieht Bacon gleich ein Problem vor ſich, das im Wege der natürlichen Erkenntniß nicht aufgelöft werden kann und ihn daher nöthigt, den Text der legteren zu unterbrechen. Denn die Aeußerungen der menjchlichen Vernunft oder die bewußte Geiftesthätigkeit laſſen fi) nicht aus derfelben pſychiſchen Ur- jache erklären, welche das förperliche Leben bewegt und unter dejjen natürliche und materielle Bedingungen gehört. Aehnlich wie Arijtoteles aus gleichem Bedenken den thätigen und leiden- den Verſtand jo unterfchieden hatte, daß er jenen Suradev in den Menfchen eintreten, diefen dagegen dem lebendigen Körper inwohnen ließ, unterfcheidet Bacon die vernünftige und unver- nünftige Seele: jene ift erjchaffen, diefe erzeugt, jene ift gött-

*) Bamberger, Ueber Bacon von Berulam u. f. w., ©. 21 fig. Bl. hist. vitae et mortis. Op. p. 489—572.

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lichen und übernatürlichen, diefe elementarifchen Urfprungs und thierifcher Art; er nennt die leßtere auch die niedere oder finn- liche Seele (anima inferior vel sensibilis) im Unterſchiede von der erften, die höherer Art oder im engeren Sinne des Wortes Geift if. Zwifchen beiden iſt Fein gradueller, fon- dern ein wefentlicher oder jubjtantielfer Unterfchied. Daß es jo ift, Teuchtet auch der Erfahrung ein und anerkennt die Philo-—- fophie, fie anerkennt das Wirken geiftiger Kräfte in der menſch— fihen Natur; da aber der Geiſt göttlihen Urfprungs ift, fo fann fie nichts ausmachen über defjen Subjtanz und Herkunft. Was diefe Tetteren betrifft, jo weiß Bacon für die Piychologie feinen andern Rath, als fi) an die Dffenbarungen . der Theologie und Religion zu halten. Die finnlihe Menfchen- feele iſt darum nicht gleich der thierifchen. Der große Unter- ſchied beider bejteht darin, daß die finnliche Seele im Thiere herricht, im Menfchen dagegen der Vernunft dient und dienen ſoll, alfo herabgefeßt wird zu einem Drgan des Geiftes. *) Bacon Teugnet den Geift nicht, jondern erklärt ihn für unbegreiflih und verweift den Begriff defjelben aus dem Gebiete der Wiffenfchaft in das der Religion, er macht zwifchen finnliher und vernünftiger Seele eine Kluft, die er nicht aus— zufüllen vermag. Der Geift wird bei ihm zu einer unerflärlichen, die Seele zu einer körperlichen Subjtanz,, die ihren Sit im ‚Gehirn habe und nur unfichtbar jet wegen der Feinheit ihres äthe- riſchen Stoffs; der Geift wird auf Gott, die Seele auf den Körper zurüdgeführt. So finden wir in Rückſicht auf das Verhältniß zwifchen Geift und Körper (Gott und Welt) Bacon in einem Ähnlichen Dualismus als Descartes. Aber die Wiffen-

:.. #} De augm. IV, 3. Op. p. 114—116.

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haft, die mit ihrem Erfenntnigbebürfniß überall auf die Ein- heit und den Zufammenhang der Erfcheinungen ausgeht, wider: ſtrebt von Natur jeder endgültigen Trennung; daher find die Nachfolger Bacon’s, je folgerichtiger fie in der angebahnten Richtung fortfchreiten, um fo eifriger beftrebt, jene dualiftifche Borjtellungsweife zu befeitigen, das Unerklärliche für nichtig und den Geiſt mit der Seele zugleich für eine Förperliche Sub- itanz oder für einen körperlichen Vorgang zu erklären. Im demfelben Maße als innerhalb der baconifchen Richtung dem Dualismus widerftrebt wird, wird dem Mlaterialismus zu- geftrebt, und es fonnte nicht fehlen, daß diefer die legte Con— fequenz war. Aehnlich wie Spinoza zu Descartes verhalten fih die Materialiften des vorigen ISahrhunderts zu Bacon. Man muß fi) das Zeitalter vergegenwärtigen, in dem die Magie fo vielen philofophifchen Reiz und populäres An- fehen Hatte, um es begreiflich zu finden, warum Bacon fo oft und gern auf die magifchen Dinge zu fprechen fommt, immer bemüht, fie auf richtige und natürliche Begriffe zurüdzuführen und die abenteuerlichen Vorftellungen zu befeitigen. So will er auch bei Gelegenheit der menfchlichen Seele beiläufig von der Weiffagung und Bezauberung (divinatio und fascinatio) handeln, von der natürlichen Weiffagung im Unterfdiede von der wiffenfchaftlichen, die aus natürlichen Urfachen Tünftige Dinge vorherfieht. Diefe Art von Weiffagung, die aus Einficht vorherfieht, fällt mit der natürlichen Erfenntniß zufammen, die andere Art unmittelbarer Divination ift entweder Ahnung oder Erleuchtung, und Bacon urtheilt richtig, wenn er die unge- wöhnlichen efjtatiihen Stimmungen der Seele mit krank— haften Zuftänden des Körpers, wozu aud die Wirkungen der Uskefe zu rechnen find, in Zufammenhang bringt. Die foge-

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nannten magifchen Mittel haben die Wirkſamkeit, die man ihnen zufchreibt, nur durch unfere Imagination und den Glau— ben daran; ohne den Glauben an den Talisman giebt es feinen, und wie es fich auch mit der Macht und Zauberfraft der Jmagination verhalten möge, fo iſt fie hinfällig gegen das Gebot: „Du follft im Schweiße deines Angefichts dein Brod eſſen!“ Dir follft nicht zaubern, fondern arbeiten! *)

Was aber näher die Kraftäußerungen der körperlichen oder jinnlihen Seele betrifft, jo beftehen fie in der wilffürlichen Bewegung und der finnlichen Wahrnehmung, und hier bieten ſich der wiſſenſchaftlichen Unterſuchung ungelöfte Aufgaben der wichtigften Art. Noch ift nicht erklärt, wie die willfürliche Bewegung zu Stande kommt, wie Wille und Einbildimg die förperlichen Organe ſowohl bewegen als die Bewegung der- jelben hemmen. Ebenſo ift e8, um die Natur der Empfindung zu erklären, von der größten Bedeutung, daß man die Wahr: nehmung im allgemeinjten Sinne des Worts von der Empfin- dung oder finnlichen Wahrnehmung („perceptio“ und „‚sen- sus“) wohl unterfcheide. Jene kann ohne dieje ftattfinden. Ueberall, wo Körper auf einander einwirken und fich ver- ändern, ſich gegenfeitig anziehen oder abjtoßen, mechaniſch oder chemisch, ift Perception ohne Empfindung. Wenn der Magnet das Eifen anzieht, die Flamme zum Naphtha jpringt u, ſ. f., ift eine wahrnehmende Thätigkeit im Spiel ohne Sinne. Auch in der thierifchen Affimilation, in den vegetativen Lebens— verrichtungen wird wahrgenommen, aber nicht gefühlt. Die Wahrnehmung oder Perception ift allgegenwärtig.**)

*) De augm. IV, 3. Op. p. 116—118. **) hend. IV,3. Op. p. 118 flg. Ubique denique est perceptio. Fiſcher, Bacon, 23

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Es handelt ſich Hier nicht um eine Wortftreitigfeit, ſon— dern um eine der wichtigjten Fragen, eine „res nobilissima “, wie Bacon jagt. Wenn man das Verhältnig und den Unter- ichied zwifchen Wahrnehmen und Empfinden nicht einfieht und beide zufammenfallen läßt, jo ift man zwei Irrthümern preis- gegeben: entweder läßt man die Sinne fo weit reichen als die Perception und befeelt in phantaftifcher Weife, wie die Alten gethan Haben, die ganze Körperwelt, oder man läßt die Perception nur da gelten, wo Sinne und ſinnliche Empfin- dungen auftreten, und dann bleiben die Vorgänge der unbe: jeelten Natur räthjelhaft. Im erften Fall giebt es feinen Unterfchied zwijchen den unorganifchen und organifchen Kör- pern, im zweiten feinen Weg von jenen zu diefen.

Bwölftes Kapitel. Logik als Lehre vom richtigen Verſtandesgebrauch.

I. Kogik im Allgemeinen. 1. Berftand, Wille, Phantafie.

Die menfhlichen Geiftesfräfte find Verftand und Wille. Da der Urfprung diefer Vermögen fid) der wiffenfchaftlichen Unterfuhung entzieht, jo richtet fi die Hauptfrage der An- thropologie auf deren Gegenftände und Gebraudh: die Wiffen- ſchaft vom richtigen Verſtandesgebrauch iſt die Yogif, die vom richtigen Willensgebraud die Ethik; jene lehrt den Weg zur Wahrheit, diefe den zum Guten. Wenn beide Vermögen rihtig gebraucht werden, fo it das Wahre mit dem Guten aufs engjte verbunden, So foll es fein, aber der Fall ift in Wirklichkeit jehr felten, und die Männer der Wifjenfchaft müffen erröthen, daß fie in eigener Perſon häufig Beispiele des Gegentheils find; während ihr Verſtand dem Lichte der Wahrheit nachgeht, folgt ihr Wille den Berlodungen des Böfen, in ihrem Streben nad Erfenntnig gleichen fie Engeln, die emporjchweben, in ihren Begierden Schlangen, die auf

23*

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der Erde riechen. Diejes Bild hat Macaulay von Bacon entlehnt, um e8 gegen ihn jelbjt zu fehren. *)

Es giebt ein Vermögen, weldes jowohl den Verjtand als den Willen zu bewegen vermag, indem es jenem die Wahrheit, diefem das Gute im Bilde erfcheinen läßt: diefe Kraft mit dem Janusgeficht ift die Phantaſie. Sie wirft in beiden Vermögen als gemeinjchaftliches Organ, fie verhält fi) zur Vernunft nicht wie der Körper zur Seele, fondern wie die Bürger zur Obrigkeit. Der ‚Körper dient der Seele, die Bürger gehordhen der Obrigfeit, aber fie fünnen felbjt Dbrigfeit werden; jo kann auch die Phantafie zur Herrſchaft kommen und unfere Vorftellungen und Entjchlüffe lenken, wie es in der Religion, in der Kunft, in der Beredfamfeit wirf-

(ic) geſchieht.**) 2, Werth nnd Eintheilung der Logik.

Wir handeln zunächſt von der Logik, die zu ihrem Gegen- Stande hat, was in allen übrigen Wiffenfchaften das wirkſame Organ bildet: die Berjtandsthätigkeit ſelbſt. Schon daraus erhellt, worin ſich diefe Wiſſenſchaft von allen übrigen unter- fcheidet: 1) fie hat c8 mit einem Gegenftande zu thun, der nicht unter die Erfcheinungen der Sinnenwelt gehört, in deren Gebiet die concereten und befonderen Wiffenfchaften fich theilen, fie ift darum abjtracter als diefe; 2) ihr Gegenjtand ift als Drgan in allen anderen Wiffenfchaften enthalten und ihnen gemeinfam, daher ift die Logik al8 die umfaffende und allgemeine Wiffenfchaft univerfeller als die übrigen; 3) fie

*) De augm. Lib. V, 1. Op. p. 121. ©. oben ©. 37, *) Ebend. V, 1. Op. p. 121.

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unterfuht die Bedingung, die alle übrigen Wiffenfchaften vorausfegen, und durch welche fie zu Stande fommen. So ift die Logik in Rücficht der anderen Wifjenfchaften funda- mental, fie ift Wiffenfchaft der Wiffenichaften, Wilfen- ſchaftslehre.

Ihre abſtracte Natur macht, daß nur wenige ſich mit ihr befreunden und die meiſten ſie widerwärtig finden; denn die weichlichen und faulen Köpfe können das trockene Licht nicht vertragen. Die concreten Wiſſenſchaften haben gleichſam mehr Fleiſch, und es geht mit der geiſtigen Nahrung, welche die Wiſſenſchaft bietet, wie mit der leiblichen: die meiſten Menſchen haben den Gaumen der Israeliten in der Wüſte, ſie verſchmähen das Manna und ſehnen ſich nach den Fleiſch— töpfen Aegyptens. Es giebt keine Wiſſenſchaft, keine Erfin— dung, keine Kunſt ohne richtigen Verſtandesgebrauch. Wegen dieſer ihrer fundamentalen Bedeutung iſt die Logik nicht eine Wiſſenſchaft oder Kunſt neben anderen, ſondern verhält ſich zu dieſen, wie die Hand zu den Werkzeugen, wie die Seele zu den Formen. Wie die Hand das Organ der Organe heißt, ſo darf die Logik die Kunſt der Künſte genannt werden. Indem ſie dem Verſtande zeigt, wie er ſeine Ziele ſetzen und erreichen ſoll, bringt ſie ihn zugleich in die richtige Bewegung; ſie ſtärkt den Verſtand, indem ſie ihn leitet; wie ja auch die Uebung im Pfeilſchießen nicht blos bewirkt, daß man beſſer zielt, ſondern auch den Bogen leichter ſpannt.*)

Wir können nur darjtellen und einleuchtend mittheilen, was wir in Wahrheit geiftig bejigen; wir befiten nur, was

*) De augm. V, 1. Op. p. 122. („At istud lumen siccum plurimorum mollia et madida ingenia offendit et torret.“ Ein ähnlicher Ausſpruch findet ſich bei Heraffit.)

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wir erwerben und behalten. Die Kunft des Darſtellens jet daher die des Behaltens und Erwerbens voraus, der Geiftes- erwerb aber befteht darin, daß wir Unbekanntes entdecken, Geſuchtes finden, Gefundenes richtig verftehen und beurtheilen. Demnad zerlegt fi) die Gefammtaufgabe der Yogik in vier befondere Aufgaben, deren jede zu ihrer Yöfung eine eigene logische Kunft fordert: die Kunſt der Erfindung (Entdedung), Beurtheilung, Fefthaltung und Darftellung (Mittheilung); die beiden erſten bilden die Logik im engeren Sinne, die dritte ift die Gedächtnißkunſt (Mnemonik), die vierte die Rhetorik, das Wort im weiteften Umfange genommen.*)

1. Die logifhen Künſte. 1. Erfindungskunſt.

Die Erfindungsfunft ift fo gut als nicht vorhanden. Es giebt Erfindungen, aber feine Kunft des Erfindens, das Mittel fehlt, durch welches alle Erfindungen zu haben find, wie durch Geld alle möglichen werthoollen Dinge. Diefer Mangel im Inventar der Menfchheit ift al8 ob in dem Verzeichnif einer Hinterlaſſenſchaft alles Geld fehlt. Der menfchliche Geiſt hat Fein Geld, Fein zinstragendes Capital. Das ift der größte aller Webelftände, der empfindlichjte aller Mängel, da- her die Abhilfe in diefem Punkte die nahdrüdlichite aller Forderungen. Hier ift in der baconifhen Enchflopädie die Stelle, wo das neue Organon einfeßt und Bacon ſelbſt die Hand ans Werk legt.*)

*) De augm. V, 1. Op. p. 122.

399

Sudet, jo werdet ihr finden. Das Suchen ift exrperi- mentell, die Kunft des Sucens bejteht in Verſuchen, die auf Entdedungen ausgehen, und nach den Zielen, die gefucht werden, unterfcheiden fich die Arten der Verfuche, der Wege, der Erfindungskunft ſelbſt. Entweder man fucht neue Erfin- dungen, indem man die vorhandenen verändert und auf die mannigfaltigjte Weife modificirt, oder man fucht neue Ein- fihten, indem man die Natur der Dinge ausforfcht und er- gründet; jene Verſuche find gewinnbringend, diefe lichtbringend. Die Erfindungsfunft der erjten Art ift imduftriell, die der zweiten experimentell im eigentlichen Sinn oder phhyſikaliſch. Die induftrielle oder technische Erfindungsfunft jagt auf allen möglichen Wegen nad) neuen nüßlichen Werfen, die erperimen- telfe oder phyſikaliſche Entdeckungskunſt forfcht nach den Ur- ſachen und Gefegen der Natur und fällt daher mit der wirf- lichen Naturwiffenfhaft zufammen, jene nennt Bacon „Jagd des Pan’, diefe „interpretatio naturae‘ und hier verweift er ausdrüdlid auf das neue Drganon, das die methodische Naturerflärung in Abficht auf die Erweiterung der menschlichen Einfiht und Herrfchaft zu feiner Aufgabe gemacht. Die Jagd des Pan ließe ſich mit der „silva silvarum“ vergleihen, nur daß fie nicht auf den naturwiffenfchaftlichen Zweck eingejchränft bleibt. Es wird gezeigt, auf welcherlei Arten gegebene Er- fahrungen und Verſuche durd Veränderung, Verſetzung, Ver— fängerung, Umkehrung des Verfahrens ur. f. f. ſich modificiren, um neue praftiiche Ergebniffe und Erfindungen zu liefern. Das Machen und Fabriciren in Abficht auf den menjchlichen Nutzen und Gewinn ift dabei die Hauptfahe. Habe man z. B. Inftrumente erfunden, um dem Gefichtsfinn zu Hülfe zu kommen, fo fei das Project nahegelegt, ähnliche Werkzeuge

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für das Gehör herzuftellen. Nachdem man gelernt, aus leine— nen Stoffen Papier zu fabriciren, laſſe ſich daſſelbe mit anderen Stoffen, z. B. Seide verfuhen. Das Siegel zeige, wie eine Form in Wachs abgedrüdt und vervielfältigt werde; fee man an die Stelle de8 Wachſes Papier, an die Stelle der Form die Buchſtaben und Schriftzeichen, jo jei das Motiv zur Erfindung der Buchdruderfunft gegeben. Die Erfahrung lehre, daß uns das Bild eines befannten, aber nicht gegen— wärtigen Objects an die Sache felbjt erinnere: darin Tiege ein Fingerzeig, wie man mit Bildern dem Gedächtniß zu Hülfe fommen und eine Art Gedächtnißkunſt erfinden Fönne.*)

2. Gedankenkunſt.

Die Kunft richtig zu denken follte unter den logiſchen Künsten eigentlich die erjte fein, und wenn Bacon fie hier au zweiter Stelle behandelt, jo hat er das Mittel dem Zwede nachfegen und dem Erfinden (Entdecken) als der Hauptaufgabe des menfchlichen Denkens den Vorrang Laffen wollen. Nur durfte er in der Reihenfolge der logischen Künfte die Stellung der erjten nicht jo beftimmen und gleichjam rechtfertigen, als ob das Erfinden (Entdecken) die Vorausſetzung des Urtheilens wäre. Erfinden und Denken verhalten fi) wie Zwed und Mittel, und die Erreichung des Zweds ift bedingt durch die richtige Anwendung des Mittels.

Der menſchliche Verſtand ftrebt nad) Gedanfenverfnüpfung und alles wiſſenſchaftliche Denken fordert eine Grundlegung, welche wie ein Atlas unjere Vorftellungswelt trägt. Entweder bejteht diefes Fundament in der richtigen Vorftellung der er:

*) De augm. V, 2. Op. p. 122—132. ©. oben S. 141—45.

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fahrungsmäßigen Thatfachen, d.h. in Wahrnehmung und Beobachtung, oder in allgemeinen Grundſätzen, aus denen durch Mittelfäse alles Weitere folgt. Im dem eriten Fall ift die Art der Beurtheilung und Beweisführung inductiv, im zweiten ſyllogiſtiſch. Der Weg zur Erfindung ift die in- ductive Logik, welche die Aufgabe des neuen Organons aus: macht. Wir wiſſen bereits, in weldem Sinne Bacon eine neue Induction fordert und die gewöhnliche verwirft: weil fie die negativen Inftanzen außer Acht läßt und ſich mit ein paar gegebenen Fällen befriedigt. Hätte Samuel es ebenſo gemacht, als er den Nachfolger Saul’s fuchte, jo würde er nicht nad) dem abwejenden David gefragt, fondern einen beliebigen von den eben vorhandenen Söhnen Iſai's zum Könige gewählt haben. *)

Die ſyllogiſtiſche Beweisführung ift nicht entdeckend, fon- dern darjtellend, ſie gejchieht direct oder indirect (durch die Unmöglichkeit des Gegentheils), fie ift richtig oder falſch. Die richtigen Beweife find die Syllogismen im engeren Sinne, die falſchen die Trugichlüffe (elenchi); die Lehre von den richtigen Beweiſen ift die Analytik, die von den falſchen die Widerlegung der Trugichlüffe Nun bejtehen die leteren in falfchen Begriffen und Sätzen oder in falſchen Deutungen oder in Zrugbildern. Daher ift die Widerlegung der Trugjchlüffe eine dreifache, gerichtet gegen die Zophismata, gegen bie „elenchi hermeniae‘ und gegen die Idole. Für die Wider- fegung der Sophismen hat Ariftoteles vortrefflihe Regeln, Plato noch bejjere Beifpiele gegeben. Hier bleibt nichts zu wünſchen übrig; die falfchen Deutungen und Auslegungen

bs *), De augm. V, 2. Op. p. 124.

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werden hauptſächlich dadurch verjchuldet, daß man in dem Gebrauch der allgemeinften Begriffe und der Worte nicht ſcharf und vorfihtig genug unterfcheidet; die Widerlegung der Idole ift eine der wichtigiten Aufgaben, die erfte zur Begründung einer neuen Philofophie: die Löſung derfelben gefchieht durch das neue Organon. |

Die Natur der Beweiſe richtet fi) nad) der Art der Materien, politifche Beweisführungen müffen anderer Art fein al8 mathematische, auf gewiffen Gebieten gilt Feine apodiktiſche Gewißheit, auf anderen gilt nur dieſe. Man- muß diefe in der Natur der Gegenftände begründeten Unterfchiede wohl in Acht nehmen und fi) demgemäß hüten, hier allzu jtrenge Be- weife zu fordern, dort allzu leichte anzunehmen.)

Es find drei Punkte der Logik, die Bacon in der Enchklo- pädie unerörtert läßt, weil fie im neuen Organon ausgeführt find: fie betreffen die Erflärung der Natur, die Methode der Induction, die Widerlegung der Idole. Ihre Reihenfolge ift im neuen Drganon die umgekehrte, wie es dem natürlichen Gange der Aufgaben entjpricht.

3. Gedächtnißlunſt.

Das Vermögen Vorftellungen aufzubewahren und feit- zuhalten nennt Bacon Gedächtniß und fordert, daß die Ge- dächtnigmittel unterfucht, gelehrt und diefe Lehre zu einer förmlihen Kunft ausgebildet werde. Da nun die Bor: ftelfungen entweder durd äußere Hülfsmittel oder ohne eine ſolche Beihülfe durch das bloße Gedächtniß feftgehalten werden, welches die Dbjecte aus eigener Kraft wieder hervorbringt, in—

*) De augm. V, 4. Op. p. 136—142.

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dem es diefelben, wie man zu fagen pflegt, auswendig weiß, jo handelt Bacon zuerft von jenen äußeren Hilfsmitteln (ad- minieula memoriae), dann von dem Gedächtniß jelbjt. Erſt unter diefen zweiten Gefichtspunft fällt die eigentliche Ge— dächtnißkunſt.

Das Gedächtniß hat, ſowohl was den Umfang als die Genauigkeit des Behaltens angeht, ſein Maß. Daher ſind ihm äußere Hülfsmittel nothwendig, ſie beſtehen darin, daß die Objecte äußerlich gemerkt, fixirt, aufgezeichnet, nieder— geſchrieben werden; je mannigfaltiger und complicirter die Menge der aufzubewahrenden Vorſtellungen iſt, um ſo wichtiger iſt es, daß man die Aufzeichnung in wohlgeordneter Weiſe einrichtet, die Gegenſtände überſichtlich zuſammenſtellt, tabella— riſch aufführt, unter Gemeinplätze bringt. Natürlich richtet ſich die Art der Anordnung nach der Art der Objecte. Die Aufbewahrung durch die Schrift, ohne welche unſer Gedächt niß arm bliebe und z. B. jede wirkliche Geſchichtskunde unmög— lich wäre, iſt weniger Memoria als Mnemoſyne.

Die eigentliche Gedächtnißkunſt, vermöge deren wir ge- habte Vorjtellungen aus eigener Kraft (ohne jede äußere Bei- hülfe) ung wieder vergegenwärtigen und auswendig behalten, ift eine Aufgabe logischer Induftrie, die ſchon die Alten ge- fannt und bearbeitet haben. Man kann daraus eine jehr brodlofe Kunst machen, wenn es ſich nur darum handelt, eine große Reihe von Worten oder Zahlen, die vorgefagt wird, auf der Stelle zu wiederholen. Mit folchen Dingen läßt fich prahlen und flüchtiges Staunen erregen, aber nichts ausrichten. Das menjchliche Gedächtniß ift fein Seil, um darauf zu tan- zen. Bacon umnterfcheidet hier zwei Arten der Gedächtnigmittel: die eine, wodurd wir BVorftellungen, die ung entfallen find,

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ſuchen und finden, die andere, wodurd wir Vorjtellungen in unferem Gedächtniß fo befeftigen, daß fie augenblidlih zur Hand find. Wir können nichts fuchen, ohne eine gewifje Vor— kenntniß deffelben zu haben, und wir befeftigen unſere Vor— jtellungen am beften, indem wir fie vermöge der Phantafie in Bilder verwandeln, denn das Bild, wie jhon oben erwähnt wurde*), erinnert uns jogleih an die befannte Sache. it die leßtere eine abftracte Vorftellung, fo ift ihr Abbild ſym— bolifh. Daher nennt Bacon die erfte Art der mnemoniſchen Mittel Vorbegriff (praenotio), die zweite Sinnbild (emblema). Wir werden in dem weiten Gedächtnißfelde ein Object leichter finden, wenn wir das Gebiet, in dem die Borftellung Liegt, vermöge des Borbegriffs mehr und mehr einengen, bis wir den gefuchten Punkt haben; dazır helfen gewiſſe Eintheilungs- ſchemata, gleichfam Verſtandes- und Gedächtniffächer, das Auffinden verborgener Vorjtellungen gleicht darin dem Auf- finden äußerer Dinge, es tft fchwer eine Sache juchen, wenn man in der Welt nicht weiß, wo fie fein mag, wogegen fie leicht gefucht und gefunden wird, wenn man weiß, fie fann nur in diefem Zimmen, diefem Schrank, diefem Fade u. ſ. f. fein. Wir behalten Worte und Sprüche eher in gebundener als im ungebundener Rede, weil dort der Reim oder das Metrum die Pränotion giebt, die das Gedächtniß ſchnell orientirt.

Sollen abjtracte Vorftellungen in bejtimmter Ordnung dem Gedächtniß eingeprägt werden, jo ift das Emblent oder Sinnbild das hülfreiche mnemoniſche Mittel. Bei dem Bei: jpiele, welches Bacon giebt, hat ihm offenbar der nädjfte unter

*) ©. oben ©. 221 fig. ©. 360.

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feinen Händen befindliche Fall vorgefchwebt; er braucht als Beifpiel die Begriffe: Erfindung, Ordnung, Vortrag, Hand- fung (e8 find die Gegenftände der Logik und Ethik, die drei eriten find die uns befannten Theile und Aufgaben der Logik). Man wird diefe Begriffe leicht behalten, wenn man 3.8. die Erfindung unter dem Bilde eines Jägers, die Ordnung unter dein eines Apothelgrs, der feine Büchjen zuvechtitellt, den Vor— trag unter dem eines Predigers auf der Kanzel, die Handlung endlich) unter dem Bilde eines Schaufpielers auf der Bühne vorjtellt. [Bacon hat das Beifpiel nicht weiter ausgeführt und in einem mnemoniſchen Hauptpunft unvollftändig gelajfen. Es ift nicht genug, daß man Bilder ftatt der Begriffe hat, man muß die Bilder, damit fie zufammenhalten, auch verketten in einer Weife, die der Ordnung und Reihenfolge der Begriffe entſpricht. In dem gegebenen Fall müßte man fich etwa vor: jtellen, daß der Jäger feinen Freund den Apothefer Sonntags bejucht und beide zujammen erſt in die Kirche, dann ins Theater gehen. Bon diefen Bildern lieft das Gedächtnig ohne Mühe die Begriffe: Erfindung, Ordnung, Vortrag, Handlung ab und behält fo die baconifche Eintheilung der Philofophie.|*)

4. Darftellungsfunit. a. Charafteriftif.

Hier hat Bacon den ganzen Umfang der Bedingungen und Mittel vor fi), durd welche Vorftellungen mitgetheilt werden, es gejchieht auf zwei Arten: entweder ohne Vermittlung der Worte oder durch diefelbe.

Die Mittheilung ohne Worte befteht in Zeichen, die un— mittelbar die Sache oder Vorſtellung ſelbſt ausdrüden, ent-

*) De augm. V, 5. Op. p. 142—44.

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weder bildlich oder nicht bildlih. Das bildlihe Zeichen ift ein Gleichniß der Sade, es hat mit diefer ein tertium comparationis, während das bildlofe Zeichen mit der Sache gar nichts gemein Hat. Bacon nennt die erjte Art Diero- glyphen, die zweite Charaktere, und zwar (im Unterſchiede von den Buchjjtabenzeihen, welche Yaute ausdrüden) Real— haraftere (characteres reales), Wenn ich durch gewiſſe Stride, jo oder jo verbunden oder geftellt, unmittelbar Vor- jtellungen ausdrüde, jo find foldhe Zeichen erſtens bildlog, denn fie fchließen jede bildliche VBergleihung mit dem Object aus, zweitens real, denn fie bezeichnen nicht Worte. jondern Saden. Ließen fih Zeichen diefer Art erfinden und im literarifchen Weltverfehr allgemein gültig machen, jo könnten die verjchiedenften Bölfer gegenfeitig ihre Gedanken austaufchen, ohne ihre Spraden zu verftehen. Das wäre die fosmopoli- tifche Erfindung einer Univerfalcharakteriftif oder Pafigraphie, auf welde Bacon an diejer Stelle hinweift, und die unfer Leibniz zu einer feiner Lebensaufgaben machte, die er unabläffig verfolgte. Gebehrden als Ausdruf von Borjtellungen find lebendige Dieroglyphen. Als Periander gefragt wurde, was ein Tyrann thun müfje, um jeine Herrſchaft zu erhalten, ſagte er nichts, fondern ging im Garten umher und fchlug den Blumen die Köpfe ab. Er antwortete mit einem Gleichniß

ohne Worte, *) b. "Grammatif, Die Mittheilung durch Worte ift die Rede und deren

jihtbares Zeichen die Schrift; die Darftellung durch Spreden und Schreiben bildet den eigentlichen Gegenstand und die Auf-

*) De augm. VI, 1. Op. p. 143—46. (Diogenes läßt den Thra- ſybulos von Milet das obige Gleichniß fpielen).

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gabe der NAhetorif als einer logiſchen Kunft. Bacon zerlegt

- feine Unterſuchung in drei Fragen: die erjte betrifft die Sprad)- bildung, die Sprache als Organ oder Werkzeug, die zweite den Gebraud) diefes Werkzeugs in Abficht auf die Darftellung beftimmter Objecte, alfo die Methode der Darftellung oder die Sprache als Kunft, die dritte geht auf die Wirkungen, welche durch diefe Kunft hervorgebracht fein wollen, und auf die Art und Weife, wie fie erreicht werden. Die erite Frage gehört der Grammatik, die zweite, welche hier die Haupt- ſache ift, dev Rhetorik im engeren Sinne, die dritte hat es mit der Beredſamkeit als einem Mittel der Ueberredung d. 5. mit der Wirkung auf die Zuhörer zu thun. Die Grammatif befchäftigt jich mit dem Bau und der Eonftruction der Sprache, die Rhetorif mit der Methode oder Anwendung auf die dar- zuftellenden DObjecte, die Beredfamfeit mit der Wirkung auf die zu erregenden Gemüther.*)

Das Element der Spracde ift der Laut. Wie die Laute durh die Stimmorgane erzeugt werden, ift eine Frage der Phyfiologie, welche die Grammatik vorausſetzt; die Yehre vom Wohllaut, Accent, Sylbenmaß u. ſ.f. gehört in die Profodie, welche der Poetif zur Grundlage dient, das Gebiet der eigent- lichen Grammatik find die Spradformen. Hier unterfcheidet Bacon die Grammatif im fiterarifhen und philofophifchen Sinne: die erjte dient zur Erlernung einer gegebenen Sprache, die andere zur Einficht in die Entftehung und Entwidlung der Spraden. Da dieje Einfiht nur durch Spracdvergleihung gewonnen werden kann, fo läßt Bacon die philofophifche

*) Bacon unterfcheidet dieje drei Theile der ars traditiva jo: 1) de organo sermonis, 2) de methodo sermonis, 3) de illustratione ser- monis.

nn

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Srammatif mit der vergleichenden Sprachkunde zujammen- fallen. Sie allein gilt ihm als der Weg zu ächter Sprach— wiſſenſchaft; er formulirt ſchon die Aufgabe, deren ernjthafte und weittragende Yöfung erjt zwei Jahrhunderte nad) ihm be: gonnen wurde, und es ijt Feineswegs der Zufall eines glüd- lihen Vorblicks, daß Bacon diefe Aufgabe ſah, fondern unter dem Gefihtspunfte, der feine ganze Lehre charakteriſirt umd überall auf die methodische VBergleichung der vielen verfchieden- artigen Fälle dringt, mußte er die Aufgabe der Sprachver— gleihung entdeden und fordern, er konnte einer philofophifchen Srammatif fein anderes als diefes Ziel feßen; wir dürfen Hinzufügen, daß ihm auch die Tragweite einer folchen Wiffen- Schaft und die Aufjchlüffe, die von ihr zu erwarten feien, im voraus einleuchteten. Er ſah, wie von hier aus das Dunkel vorgejchichtliher Zuftände fich einigermaßen erhellen, wie an der Hand diefer Unterfuchungen eine Art Bölferpfychologie ji ausbilden, wie aus der Sprachvergleichung fich werde er- klären laffen, warum die alten Spracden einen weit größeren Reichthum an Formen und Flexrionen entwicelt hätten als die modernen u.a. m.*)

Die Elemente der Schriftiprache find die Buchſtaben, das Alphabet. Es ift Schon vet, daß man die Worte fchreibt wie man fie jpricht, da aber die Screibart bei der Dauer der Schriftwerfe füglich diefelbe bleibt, während die Aussprache mit den Zeiten fich ändert, jo entfteht eine natürliche Differenz beider, die man nicht ausrotten kann durch Fünftliches Gleich— machen und plößliche Umwandlungen der Orthographie. Bacon hatte als. nächjtes und ftärkftes Beifpiel einer ſolchen Differenz

*) De augm. VI, 1. Op. p. 146 fig.

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die eigene Volksſprache vor fi, und man hätte feine Be— merfung beherzigen follen, als im vorigen Jahrhundert in der englifchen Literatur der Plan aufkam, eine neue, der Ausſprache gemäße Schreibart einzuführen. *)

Das Alphabet, jelbft eine der größten und fruchtbarften Erfindungen, enthält Stoff und Aufgabe zu weiteren Erfin- dungen. Da die alphabetischen Charaktere die Elementarlaute bezeichnen, jo müffen fie, um Worte und Sätze auszudrüden, erjt einzeln zufammengefügt werden, weshalb das Schreiben weit langſamer vor fich geht, als das Sprechen. Könnte man Charaktere erfinden, die ftatt der Laute fogleih Worte und ganze Wortgefüge bezeichnen, jo würde fi) auf diefe Weife viel Zeit ſparen und ebenjo gejchwind fchreiben als fprechen laſſen. Hier ift das Motiv zur Erfindung der ftenographifchen Kunft. Die gewöhnliche alphabetifche Geltung der Rautzeichen fennt jeder, der lefen und fchreiben fann. Da e8 nun man- cherlei jchriftliche Aufzeichnungen und Mittheilungen giebt, die nicht für jedermann, fondern nur für einen oder wenige be- ftimmt find, fo muß man außer dem Wulgaralphabete noch ‚verborgene oder private Alphabete‘” Haben, die nur Ein- geweihte verftehen. Das efoterifche Yautzeichen ift die Chiffre (eciphra). Hier berührt Bacon die Kunft des Chiffrirens und Dechiffrirens und verlangt, daß die dazu erforderlichen Zeichen für den Schreibenden fo leicht und bequem, für den Unein- geweihten jo unverjtändlid und zugleich fo unverdächtig als möglich ferien. Diefe Aufgabe fei am glüclichften gelöft, wenn man daſſelbe Alphabet zugleich exoterifch und efoterifch brauche, ſodaß derfelbe Brief zugleich einen Sinn habe für jeder-

*) De augm. VI, 1. Op. p. 148. Fiſcher, Bacon,

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mann und einen verborgenen nur fir die Eingeweihten (eine Erfindung gleichfam palimpfeftifch zu jchreiben). Das Vulgar- alphabet enthalte den Stoff zu einer beliebigen Menge ejoteri- ſcher Alphabete; man nehme zwei Yautzeihen, z. B. a und b, und bilde aus ihnen eine Complexion von fünf Stellen, jo erhält man 32 Combinationen, von denen 24 ftatt der gewühn- lihen Buchftaben gefett werden, auf diefe Weife entjteht aus zwei beliebigen Yautzeichen ein hiffrirtes Alphabet. *) c. Rhetorif,

Der zweite Hauptpunft betrifft die Methode des Vor— trags, die durch den Zwed des letteren und die Natur der darzuftellenden Dbjecte bejtimmt wird. Man Fann nicht alle Materien über denfelben Leiften fchlagen und nad) einem vor— räthigen Schema behandeln, daher die vorjhriftsmäßigen Dis- pofitionen, die dichotomijchen Eintheilungen oder gar die ſo— genannte lulliſche Kunft für die AhHetorif völlig unbrauchbar und leer find. Kine andere Art des Vortrags gehört ſich für Anfänger, eine andere für Unterrichtete, welche die Wiffenfchaft fortbilden follen. Ob die Darftellung weitläufig erklärend oder furz und gedrängt, ob fie aphoriftiic oder methodiſch, behauptend oder fragend verfahren joll, richtet fi) nad) der jedesmaligen Aufgabe. Mit vorräthigen Regeln ift hier nichts auszurichten, und es ift thöricht, die Darftellung für alle Fälle an folche Richtſchnuren binden zu wollen. Sie joll zwedmäßig eingerichtet werden, in jedem Fall die Mittel anwenden, die den gegebenen Zwed erreichen, d.h. kurzgeſagt fie joll Flug

*) De augm. VI, 1. Op. p. 148—51. Wenn Bacon „ciphrae verborum” fordert und als erfte Bedingung verlangt „ut siut expe-

ditae, non nimis operosae ad scribendum *, fo ift darin die Aufgabe zur Erfindung der ftenographifhen Kunft angelegt.

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ſein. Daher nennt Bacon dieſen zweiten Hauptpunkt auch „die Klugheit des Vortrags“.*)

d. Beredjamteit.

Nun foll die Redekunſt nicht blos den Verſtand unter- weijen und überzeugen, fondern das Gemüth der Zuhörer be- herrjchen und ihrem Willen Impulſe geben; fie foll Wahrheiten nicht blo8 Lehren, fondern durch die Wendung und den Schein, den fie ihnen für die Einbildungskfraft zu geben weiß, in Mo- tive des Handelns verwandeln und auf die Willensrichtung jowohl der Einzelnen als der Maſſen einwirken. Gerade darin liegt die Macht des Redners, der Triumph der Beredfamfeit. Mit Recht Hat deshalb Ariftoteles die Rhetorik zwifchen die Dialektif auf der einen und die Ethik und Politik auf der andern Seite geftellt. Gegenwärtige Eindrüde find immer mächtiger als vergangene und künftige. Darum muß der Redner, was er jchildert, jo lebhaft darjtellen, daß es mit der Macht des gegenwärtigen Eindruds die Gemüther ergreift, er muß die Kunſt befigen, alle Vorftellungen, die er ausprägt, leiht und gewaltig in die Phantafie der Zuhörer eindringen zu lafjen. Wenn man die Tugend fehen könnte, jagt Plato, fo würde alle Welt fie lieben. In diefem Sinne und in diefer Abſicht joll der Redner die Tugend malen fünnen. Das ift es, was Bacon „die Illujtration der Rede‘ nennt und woraus er eine befondere Aufgabe der Rhetorik macht. Hier handelt e8 ji) blos um die vernunftgemäße Einwirkung auf die Phantafie der Zuhörer, die jo mannigfaltig gejtimmt ift, als deren Gemüthsart. Auf diefe Stimmung muß fid) der

*) De augm. VI, 2. Op. p. 151—56 (scientia metlodi= pru- dentia traditivae).

24*

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Redner verftehen, er muß in den Wäldern ein Orpheus, unter den Delphinen ein Arion fein Fönnen, *) |

Es giebt eine Menge populärer Vorftellungen fehr wirk- famer und beweglicher Art, die der Redner ganz in feiner Gewalt haben und gleichjam fpielen muß, wie ein Birtuofe fein Inftrument. Er muß daher in der Behandlung jolcher Borftellungen geübt fein und auf diefem Gebiet einen Vorrath gleihfam von Bravourftüden befigen, die ihm augenblicklich, wo er fie braucht, zur Hand find. Bacon bezeichnet deshalb diefen Theil der rhetoriſchen Kunſt als „ars promptuaria“ und behandelt ihn anhangsweife in Beifpielen. Ich glaube, daß aus diefem Bedürfniß in ihm felbjt die Eſſays entjtanden find, fie liegen dicht neben feinen Parlamentsreden, fie jind aus dem rhetorifchen Gebrauh und in Abficht auf denfelben hervorgegangen, und aus einem Theil jener Eſſays Hat er die Beifpiele gefchöpft, die er Hier in fein enchflopädiiches Werk aufgenommen. Er giebt zwei verfchiedene Arten folcher Beifpiele und fagt jelbit, daß beide aus einem Vorrath ent- lehnt find, den er in feiner Jugend gefammelt und von dem er noch viel in Bereitfchaft habe. Ich weiß Feine Stelle, die jo viel Licht über den Urfprung feiner Eſſays verbreitet als diefe. **)

. Unter die populärjten VBorftellungen, die in der öffentlichen Schätzung eine jehr große und zugleich fehr ſchwankende und wetterwendifche Rolle fpielen, gehören offenbar die des Guten und feines Gegentheils. Leber diefe Werthe, die durd) die Einbildung einen jo mächtigen Einfluß auf die Urtheile und

*) De augm. VI, 3. Op. p. 156—58. **) Ebend. VI, 3. Op. p. 168.

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Affecte der Menge ausüben, find die Leute in allerhand Täu— Ichungen befangen, die fih aus Sceingründen ebenjo leicht beweijen als aus guten Gründen zerftören laſſen. Es iſt für den Redner nothwendig, daß er die Sophiftif, die auf dem Gebiete jener Vorftellungen herrſcht, völlig durchſchaut und bemeijtert, daß er fi) auf die Farben verjteht, womit man das Gute und Böfe ausmalt, daher wird es ihm fehr dien- (ic) jein, wenn er in feinem Vorrath die „Farben des Guten und Böſen“ befitt: unter diefem Namen hatte Bacon ſchon der erjten Ausgabe feiner Effays eine Reihe folder Betrachtungen mitgegeben, deren jede in gebrängter und fcharfer Faſſung, ganz dem vhetorifchen Zwecde gemäß, ein Sophisma und deſſen Widerlegung enthielt; er wiederholt fie hier al8 „exempla colorum boni et mali“. Gut ift, was die Leute loben, fchlecht, was fie tadeln: fo lautet der erite Satz, defjen Geltung fo weit reiht als die abhängige und beftechliche Einbildung der Menfchen. Die Widerlegung zeigt, aus welcher trüben Duelle diefe Schägung herrührt, aus der öffentlichen Meinung, die bald aus Unwiffenheit täufcht bald aus Abficht, wie der Kauf: mann, der feine Waare lobt.*)

Das zweite Beifpiel find die fogenannten „Antithefen“, deren Bacon aus einem weit reicheren Vorrath an diefer Stelle 47 anführt. Das Thema find populäre Begriffe, die fortwährend im Munde der Leute umlaufen und darum in der Gewalt des Redners fein müffen. Jeder diefer Begriffe Hat feinen Werth und Unwerth, fein Für und Wider; es ift num Bacon's Aufgabe, in jedem diefer Fälle das Für und Wider dicht neben einander zu ftellen, in der prägnanteften Faſſung,

*) De augm. VI, 3. Op.p.163—68. Bgl. oben Buch I. Cap. VII. S. 118.

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fodak man den Cindrud erhält, als ob entgegengefetste Pole aufeinander ftoßen; jede feiner Wendungen ift leicht, fpielend, pointirt und dabei fo gedanfenvoll und menjchenkundig, daß - man diefe Antithefen mit äſthetiſchem Vergnügen Tieft und fich an der Gabe ächten Wites, die Bacon zu Gebote ftand, er. götzt. Die Themata, die zum größten Theil unter die allge: meinen Gegenſätze von Gut und Lebel fallen, betreffen äußere Güter, wie Adel, Wohlgeftalt, Jugend, Geſundheit, Familie, Reichthum, Ehre, öffentliches Anfchen, Herrihaft, Süd, oder Untugenden, wie Aberglaube, Stolz, Undankbarkeit, Neid, Unkeuſchheit, Grauſamkeit u. |. f., oder Tugenden, wie Gerech— tigfeit, Tapferkeit, Enthaltfamfeit, Beftändigfeit, Großmuth, Wiſſenſchaft, Gelehrſamkeit, Kühnheit, Liebe, Freundſchaft u. f.f. Läßt fich für und wider den Reichthum etwas Beſſeres ſagen als die paar Worte: „Reichthum ift eine gute Dienerin und die Schlimmfte Herrſchaft?“ Für die äußeren Ehren: „in ihrem Lichte werden jowohl die Tugenden als die Yafter deutlicher gejehen, darum rufen fie jene hervor und zähmen diefe”. Dagegen: „die fie genießen, müfjen die Meinung des Pöbels borgen, um ſich für glücklich zu Halten“ „Wie fid) Verſtand und Glück verfetten‘‘, jagt Goethe, „das fällt dem Thoren niemals ein.‘ Bacon jagt vom Glück: „es ift wie eine Milchjtraße, ein Haufen verborgener Tugenden, die man nicht Fennt.”“ Ueber den Unwerth des Stolzes ift Leicht zu reden, über den Werth deffelben findet fi bei Bacon ein wahrhaft tieffinniger Ausſpruch: „wenn der Stolz; von der Verachtung Anderer zur Selbſtverachtung emporfteigt, jo ent: jteht aus ihm unmittelbar die Weisheit”. Um die Undanf- barkeit zu erflären, jagt Bacon: „fie folgt aus der Einficht in die Urſache der Wohlthat“; um fie zu verwerfen: „fie

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wird nicht durd Strafen gezüchtigt, fondern ift den Furien zu überlaſſen“. Zum Lobe der Tapferkeit fpricht er wie ein Stoifer: „nichts ift fürchterlicher als die Furcht“, „die übri— gen Tugenden befreien uns von der Herrichaft der Yajter, die Tapferkeit allein von der des Schickſals“. Gegen die Tapferkeit ſpricht er wie Fallſtaff. Das Lob der Beftändigkeit heißt: „Sie erträgt Widerwärtigfeiten vortrefflich‘‘, der Tadel: „fie verurfacht welche”. Dem Schweigjamen muß man jagen: „wenn du Hug bift, jo bift du thöricht; wenn du thöricht bift, fo bift du Hug“. Die Schweigſamkeit Toben, heißt die Geſprächigkeit tadelm und umgekehrt. Ein einziges inhaltfchweres Wort hat er gegen die Großmuth zu jagen: „ſie ift eine poetifhe Tugend!“*) Es find der Beifpiele genug. Man wird jowohl in den Themata als in der Behandlung die Achnlichleit mit Bacon's Eſſays leicht erkennen.

ALS allgemeinen Anhang zur Darftellungskunft giebt Ba- con einige Bemerkungen über Kritik und Pädagogik. Die Aufgabe der Kritik ift die Herausgabe und Beurtheilung der lefenswürdigen Schriftfteller; die Herausgabe bejteht in der Herftellung und Erklärung des Textes. In der Pädagogik verweift Bacon, was manche befremden wird, als Vorbild auf die Schulen der Jeſuiten, die e8 verftanden haben, den Un— terricht im großen Anftalten zu organifiren; das Kollegium (institutio collegiata) fei beſſer als die Erziehung in der Familie und als der Unterricht in der gewöhnlichen Schule, denn das Zufammenleben der jungen Yente unter ſich wecke die Nadeiferung und der beftändige Verkehr mit den Yehrern die Beſcheidenheit; aus Rückſicht auf die verjchiedenen Bega—

*) De augm. VI, 3. Op. p. 167—182.

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bungen müfje der Unterricht gründlich und langfam fortichreiten und dürfe nicht treibhausartig werden; bei der genauen Kennt— niß der Zöglinge könne fih im Einzelnen die Erziehung nad) den Anlagen richten und dadurd der Natur der Imdividuali- täten gerecht werden. Mit ganz befonderer Anerkennung hebt Bacon hervor, daß die Jeſuiten eine Kunft, die al8 Gewerbe übelberufen, als Uebung vortrefflic fei, die Schaufpielfunft (actio theatralis) in ihren Schulen pädagogifch zu verwerthen und dadurd eine Ausbildung der körperlichen Beredſamkeit, der Ausſprache, des Gedächtniſſes u. ſ. f. zu erzielen wiſſen, welche die gewöhnliche Erziehung zum Nachtheile der Zöglinge ganz vernadhläffigt. *)

*) De augm. VI, 3. Op. p. 183—84.

Dreizehntes Kapitel. Eittenlehre,

L Aufgabe der Sittenlehre.

Die Ethik iſt der Logik nebengeordnet. Wie dieſe den richtigen Verſtandesgebrauch, ſo ſoll jene den richtigen Willens— gebrauch lehren und hat darum zwei in ihrer Aufgabe ent haltene Fragen zu löſen: worin beſteht das Willensobject oder der zu erreichende Zweck? Wie wird er erreicht, auf welchem Wege und durch welche Mittel? Die erſte Frage betrifft das Gute, gleichſam das Muſterbild (exemplar), welches der Wille zu verwirklichen hat, die zweite die dazu nöthige Aus- bildung des Willens, die fittliche Geiftescultur, die Behand- lung und gleihjfam Bewirthihaftung des piychifchen Bodens, auf dem das Gute wachen und gedeihen foll: darum nennt Bacon diefen zweiten Theil feiner Sittenlehre „georgica animi“. Es ift weit leichter, fittliche Ideale und Mufterbilder aufftellen al8 fie verwirklichen und aus der menfchlichen Natur hervor— gehen lafjen; die bisherige Ethik hat ſich die Sache leicht ac- macht und weit mehr in der Lehre von dem fittlihen Mujtern al8 in der von der fittlihen Bildung geleiftet, fie hat falli- graphifche Vorſchriften gezeigt, aber nicht gelehrt, wie man

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zum Schreiben die Feder führt, fie hat Aeneiden gedichtet, aber die Georgica fehlen, und fo hat die frühere Philofophie viel- mehr eine vhetorische als eine natürliche Sittenlehre ausgebil- det. Hier ift der Hauptmangel. Die bisherige Sittenlehre it unpraktiſch. Die Sittenlehre praftifh zu machen, it die Aufgabe, deren Yöfung Bacon vermißt, und daher die Korderung, die er ftelt.*) Freilich wird diefe praftiihe Sittenlchre bei weitem nicht fo glänzend und erhaben ausjehen, als die früheren Moralſyſteme mit ihren hochfliegenden Betrachtungen über das höchſte Gut und die höchſte Glückſeligkeit, aber ſie wird um ſo viel nützlicher und dem menſchlichen Leben näher ſein als dieſe. Denn ſie will ſich auf die Materien des menſchlichen Handelns ſelbſt einlaſſen und dieſe mit demſelben Intereſſe durchdringen als die Phyſik die Stoffe der Körper. Er wolle hier nicht ſeinen Witz leuchten laſſen, ſagt Bacon, ſondern nur das Wohl der Menſchheit im Auge haben; man müſſe das Erhabene mit dem Nützlichen verbinden, wie Virgil neben den Thaten des Aeneas auch die Lehren des Ackerbaus beſchrieben; die rechte Sittenlehre müſſe mit Demoſthenes ſagen können: „Wenn ihr thut, was ich euch rathe, ſo werdet ihr nicht blos mich den Redner loben, ſondern euch ſelbſt, denn euer Zuſtand wird ſich bald zum Beſſern wenden.“

II. Die Lehre vom Guten.

1. Grade des Guten. Was nun zunächſt die Lehre vom Guten betrifft, ſo iſt wohl zu unterſcheiden, in welchem Sinne der Begriff gelten

*) De augm. VII, 1. Op. p. 186.

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ſoll, ob einfach oder vergleichungsweife (bonum simplex und bonum comparationis), ob es fich um die Arten oder Grade des Guten handelt? Die Alten haben dieje Arten auseinander- gejett, und darin bejtand ihre ethijche Hauptleiftung; fie Haben ſich mit der Frage nad) dem höchſten Gut außerordentlich viel befchäftigt, und darin beftand in ihrer Ethif der Hauptftreit. Diefem Streit hat das Chriftenthum ein Ende gemacht, ces hat das Höchfte Gut aus dem Diefjeits ins Jenſeits, aus der PHilofophie in die Religion verwiefen, wir haben in diefer Rückſicht nur zu glauben und zu Hoffen; das Gute, womit die philofophifche Sittenlehre ſich befchäftigt, ift eingejchränkt auf das dieffeitige Yeben und darf feine höhere Geltung be- anfpruchen als die relative menjchlicher Werke. *)

2, Arten des Guten.

Das Gute in Rückſicht auf das irdiſche Menfchenleben zerfällt in zwei Arten, von deren richtiger ‚Unterfcheidung fo- wohl die Löſung ftreitiger Fragen als die Grundrichtung dev Sittenlehre abhängt. Da alles Gute relativ ift, fo muß man den Mafftab Kennen, nad) welchen, und das Yebensgebiet, für welches die Beitimmung deffelben gilt: ob es gilt blos fir den Einzelnen oder für die menfchliche Gemeinschaft. Das Gute im relativen Sinn ift das Nützliche; die beiden Arten find das Einzelwohl und das Geſammtwohl (bonum indivi- duale oder suitatis und bonum communionis). Das Einzel- wohl geht auf den individuellen Genuf, das Geſammt— wohl auf die jociale Pfliht. Nah der Werthihätung diefer beiden Arten, je nachdem fie ausfällt, vichtet fich die

*) De augm. VII, 1. Op. p. 187.

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Unterordnung der einen unter die andere, und von hier aus entjcheidet fich der Charakter der Ethil. Da die Beitimmung des Guten mit dem Lebenszweck zufammenfällt, der jelbjt aus den Bedürfniffen und dem Umfange der verfchiedenen Lebens— gebiete hervorgeht, jo giebt uns jene Artunterfcheidung zugleid) die Einfiht in die Wurzeln oder Quellen des Guten: ob es aus dem Cinzelintereffe oder aus gemeinnüßigen Intereſſen entipringt, ob es im legten Grunde egoiftijch motivirt iſt oder nicht. Daß die bisherige Sittenlehre in diefe Triebfedern des Guten und Böfen nicht gründlich genug eingedrungen ſei, rügt Bacon als einen ihrer Grundfehler.*)

Die Natur felbit zeigt den richtigen Weg, den fie geht überall auf die Erhaltung der Gattung und des Ganzen, die hriftliche Religion lehrt ihn, denn fie fordert die Hingebung und Aufopferung des Einzelnen für die Zwede der Menfchheit; die Alten dagegen haben in ihrer Sittenlchre denfelben gründ- lich verfehlt, denn in ihren Streitigkeiten über das höchſte Gut fragen fie nicht: was ift beſſer und werthvoller, der individuelle Genuß oder die fociale Pflicht? fondern: welcher individuelle Genuß ift der größte? Welche Art der perfönlichen Selbjt- befriedigung ift die vollfommenfte? Dahin war in allen jenen Streitfragen über die menjchliche Glückſeligkeit, die zwifchen Sokrates und den Sophiften, den Cynikern und Cyrenaikern, den Stoifern und Epifuräern, den Dogmatifern und Step- tifern geführt wurden, der Compaß ihrer Ethik gerichtet: was befjer fei, ob das theoretifche oder praftifche Leben, Tugend oder Glüdfeligfeit, die Glückſeligkeit der Gemüthsruhe oder der bewegten Sinnesluft u. ſ.f.? Und am Ende famen fie

*) De augm. VII, 1. Op. p. 187 fig.

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alfe darin überein, daß je ijolirter das Individuum fei, je unabhängiger und abgefonderter von der Welt, je weniger in deren Getriebe verflochten, um jo wohler müſſe es fich fühlen. Das war der Punkt, auf den fie alle zielten. Nur deshalb wurde das theoretifche Leben höher gejchätt als das praftifche, denn die Vhilofophie, wie einer der eriten Philojophen zu einem Könige jegte, verhalte fih zur Welt, wie die Zufchauer zu den olympifchen Spielen. Es ift genußreiher und bequemer die Wettkämpfe zu betradhten als jelbjt daran theilzunehmen. Je mehr man ſich von der Welt abjondert und außer Berührung mit ihr hält, um jo bejorgter, zarter, empfindlicher wird das Gefühl für die eigene Würde, mit einem fo dünnhäutigen Ehr- gefühl, das ſich überall vitt, läßt fich in der wirklichen Welt nichts ausrichten, während die fittlihe Tüchtigkeit abhärtet und eine Art militärifcher Ehre ſowohl fordert als ausbildet, die dichter und feiter gewebt ift.*)

In der Ethik überhaupt hebt Bacon die praftifche Seite hervor, die Lehre von der Charafterbildung; in der Xehre vom.Guten insbefondere läßt er den Begriff der focialen Pflicht als den wichtigſten erfcheinen. Eine ſolche Hervor- hebung bedeutet bei Bacon allemal eine nothwendige, bisher ungelöfte Aufgabe.

3. Das Einzelwohl.

Das Einzelmohl umfaßt die perfünlichen (vom Gemein: wohl unabhängigen) Yebenszwede, die Befriedigung der indi-

) „— e tela crassiore minimeque tam tenui, ut quidvis illud vellicare et lacerare possit.‘ De augm. VII, 1. Op. p. 1%.

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viduellen Bedürfniffe und Begierden. Nun begehrt jedes In— dividunm von Natur dreierlei: es ftrebt ſich zu erhalten, zu vervollfommmen, zu vervielfachen (fortzupflanzen).. Da das leßtere durch Erzeugung gefchieht, jo bezeichnet Bacon die Er— füllung diefer Begierde al8 „bonum activum” und unter- icheidet davon die Befriedigung der beiden anderen, die nur auf den gegebenen Zuftand des Individuums gerichtet jind, als „bonum passivum” (was der Selbjterhaltung dient, iſt „bonum conservativum“, was den eigenen Lebenszuſtand er— höht und fteigert, „bonum perfectivum‘). Sittlich handeln ift beffer als fittlihe Ideale im Kopfe haben und das Gute blos betrachten, in der Betrachtung des Guten ift die Rich— tung auf das Gemeinwohl bejjer als die auf das eigene Beſte, in der leßteren Richtung ift es beſſer, fich zu dem eigenen Wohl activ verhalten als paffiv. Das paffive Verhalten jucht nur das Angenehme, den bloßen Genuß, das Wohlleben, und alle darauf bezüglichen Meinungsverfchiedenheiten bewegen ſich um die Frage: wie man am beften lebt, ob dazu der Gleich— muth oder die Sinnesluft, der ruhige Genuß oder der bewegte u. ſ. f. tauglicher fei? Im diefer Richtung, jo meint Bacon, ging die Moralphilofophie der Alten. Sie ift falſch. Aetiv jein ift in jedem Sinne werthvoller als fich pajfiv verhalten; es ift ein höherer Grad der Selbftbefriedigung, fid) in Werfen bethätigen als in Genüffen; der Genuß ift vergänglich, „die Üerfe folgen uns nah”. Wer blos genießen will, bleibt beim Alten, wer fi) fortpflanzen und vervielfältigen will, ftrebt nad) Neuem. Indeſſen iſt diefe active Selbftbefriedigung wohl zu unterfcheiden von der Wirkſamkeit fürs gemeine Befte, denn man fann aus Thatendurft diefem zumwiderhandeln, wie

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e8 3.98. im monftrofen, weltzerftörenden Ehrgeiz geſchieht, jener „gigantea animi conditio“.*)

4, Das Geſammtwohl.

Die focialen Pflichten unterfcheidet Bacon in allgemeine und befondere (officia generalia und respectiva), jene find bedingt durch die Natur der menfchlichen Gattung, diefe durch die befonderen menfchlichen VBerhältniffe, die leßteren umfaſſen die Pflichten des Berufs, des Standes, der Familie, Freund- ſchaft, Kollegialität, Nachbarſchaft u. ſef. Bacon verhält fi) hier nur andeutend, nicht ausführend. Indem er die Berufs: und Standespflichten hervorhebt, ftreift er ſchon das Gebiet der Politif umd jagt Hier dem Könige, der ein pedantijches Bud über den Negentenberuf gejchrieben, die gefuchteften Schmeicdeleien, wobei er in Betreff der nothwendigen Ein- Ichränfungen der Füniglichen Gewalt gerade die Weisheit und Gefinnungen rühmt, welche Jakob nicht hatte. Sehr charak teriftifch ift, was Bacon auf diefem Gebiete der Sittenlehre vermißt. Ueber die politifchen Pflichten und Tugenden ijt viel geredet, bei weiten weniger find die entgegengefetten Yafter erfannt, die gerade hier auf den verborgenen Pfaden des Staatslebens in Schlangenwindungen alle Moral zu umgehen und aus der Täufchung eine gefährliche Kunft zu machen wiſſen. Man muß diefe Schlangenfünfte, die „malae artes“, fehr genau kennen, um ihr Gift zu vermeiden und ihre Klugheit fi) anzueignen, damit das Wort: „klug wie die Schlangen und ohne Faljch wie die Tauben‘ richtig erfüllt werde. Die jociale Pflichtenlehre jagt nur, was die Menſchen thun jollen;

*) De augm. VII, 2. Op. p. 191—19.

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die Lehre von den entgegengefegten Laſtern jagt, was fie wirf- ih thun. Die verderblichen und mannigfaltigen Künfte der Täuſchung find die Gefahr, der man nur entgeht, wenn man ihr ſcharf ins Geficht fieht. Hier gilt, jagt Bacon vortreff- ih, die Fabel vom Bafilisfen, der durch den Blick tödtet und getödtet wird; alles fommt darauf an, wer den Andern zuerft erkennt: trifft uns zuerſt der Blick des Bafılisfen, fo find wir verloren, umgefehrt tödten wir ihn. Daher ift Mac- hiavelli zu preifen, der in feinem Bud) vom Fürſten diefen Bafilisken jo vollfommen befchrieben und getroffen hat. Bacon verlangt von der Sittenlehre, daß fie den focialen Pflichten (befonderer Art) gegenüber die böfen und geheimen Kinfte der Politif in einem „tractatus de interioribus rerum“ enthülfe und diefem Thema eine jehr ernjthafte Satyre (satyra seria) widme.*) Unwillfürlich find wir bei diefer Stelle an die Worte des fhakefpearifchen Richard erinnert, der feine Meifter- ichaft gerade in den Künften rühmt, für deren Schilderung Bacon ein Kapitel der Sittenlehre fordert:

Ich will mehr Schiffer als die Nir erfäufen, Mehr Gaffer tödten als der Bafilisk,

Ich will den Redner gut wie Neftor fpielen, Verſchmitzter täufchen als Ulyß gefonnt,

Und Sinon glei) ein zweites Troja nehmen, Sc leihe Farben dem Chamäleon,

Berwandle mehr wie Proteus mich und nehme Den mörderifchen Macchiavell in Lehr'.**)

*) De augm. VII, 2. Op. p. 194—%. **) Vgl. meine Schrift „Shakeſpeare's Charakterentwidlung Richard’s III.“ (Heidelberg 1868), ©. 86.

III. Die Sittenenltur.

1. Das fittlihe und leibliche Wohl.

Das Gute im praftifhen Sinne find die gemeinnügigen Zwede, die nicht blos theoretifch abgehandelt und gerühmt, fondern erfüllt und ins Werk gejegt fein wollen, Hier findet Bacon die zweite und wichtigjte Aufgabe der Sittenlehre: fie foll die menfchliche Seele tüchtig mahen zum gemeinnügi- gen Handeln. Diefe Tüchtigkeit iſt ächte Tugend, und es it Sache der Ethik, die Tugenden nicht blos zu befchreiben, jondern zu erzeugen. Das wollte auch Ariftoteles, er hat es gefordert, aber nicht geleiftet; das Feld der eigentlichen ethifchen Seelforge Tiegt unbebaut, und fo lange man nicht verfteht, Sitten und fittliche Charaktere zu bilden, bleibt die Xehre vom Guten eine Bildfäule ohne Leben.*)

Das Wohl der Seele, wie Bacon im Anhange zu diefem zweiten Theil feiner Sittenlehre erörtert, vergleicht fi) dem leiblichen Wohl umd unterliegt ähnlichen Bedingungen. Wie die Somatologie Gejundheit, Schönheit, Kraft und Genuß des Körpers zu bedenken hat, jo joll die Ethif als Seelforge gerichtet fein auf die Gefundheit des Geiftes, die Schönheit der Sitten, die Stärfe der Thatkraft und jene Xebensheiterfeit und Frifche, die das Gegentheil ftoifcher Melandolie und Stumpf- heit iſt. Wenn alle diefe vier Bedingungen zufammen und auf gleiche Weife erfüllt find, jo ift eine ſittliche Vollkommen— heit erreicht, die freilich nur in den jeltenften Fällen gelingt. *)

*) De augm. VU, 3. Op. p. 197. **) Ebend. VII, 3. (Additamentum.) Op. p. 204— 206. Fiſcher, Bacon, ; 25

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2. Die ſittliche Geſundheit.

Die vorzüglichſte unter jenen vier Bedingungen iſt die Geſundheit. Die Seele iſt geſund, wenn ſie tüchtig und gewöhnt iſt zu gemeinnützigem Handeln. Für die Geſundheit forgen, heißt fie vor Störungen bewahren und aus denſelben wiederherftellen. Es verhält ſich darin mit der geiftigen Ge— jundheit, wie mit der leiblichen. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, muß die Medicin die Befchaffenheit des Körpers (Conftitution), die Natur der Krankheit und die richtigen Heilmittel kennen; an dem Vorbilde der Medicin orientirt fi) die Ethik am bejten über ihre eigenen Aufgaben: der Leibesverfaffung entjpricht die Gemüthsbefchaffenheit oder Gemüthsart, den Krankheiten, welche die Harmonie des Körpers ftören, entſprechen die Ge- müthsbewegungen, welche die Seele verftimmen und trüben, den körperlichen Heilmitteln entfprechen die ethifhen. Darum hat die Ethif als Seelforge die dreifache Aufgabe der Einficht in die Gemüthsarten oder Charaktere, in die Gemüthsbewe- gungen oder Affecte und in die Heilmittel. Ohne eine genaue Kenntniß der menſchlichen Charaktere und Affecte, die fich zur Seele verhalten, wie der Sturm zum Meer*), ift eine richtige Anwendung moralifher Heil- und Bildungsmittel, d.h. über- haupt moralifche Bildung nicht möglih. Die menschlichen Charaktere und Affecte find gegeben, die moralifchen Bildungs- mittel find zu finden. Nur im diefer Rückſicht ift die Ethik erfinderiſch; was die menſchliche Natur felbjt betrifft, fo fann und ſoll fie nicht Erfindungen machen, fondern blos Er- fahrungen. Ihre Erfahrung ift wirflide Menfden-

*) De augm. VII, 3. Op. p. 19.

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fenntniß, das Studium der Charaktere und Leidenfchaften ; ihre Erfindung find die Mittel der fittlichen Cultur. So hält fi die baconiſche Sittenlehre völlig im Geifte der baconifchen Philofophie: Erfindung gegründet auf Erfahrung, praftifche Menfhenbildung gegründet auf praftifhe Menſchenkenntniß. Diefe letztere iſt das Fundament aller Sittenlehre.*)

E8 giebt feine Moral aus allgemeinen Regeln. Weder fünnen wir die Menfchen mit Einem Schlage moralifch machen durch die rhetorifche Ankündigung und das wortreiche Kobpreifen der Tugend, noch jeden auf diefelbe Weife. Der Sittenlehrer muß die pfychiichen Eigenthümlichfeiten der Menfchen ebenfo forgfältig unterfuchen, als der Arzt die körperlichen. Es giebt in der Ethif fo wenig als in der Medicin eine Panacee. Der Yandwirth prüft die verfchiedenen Befchaffenheiten des Bodens, denn es ift unmöglich, auf jedem jedes zu pflanzen, der Arzt die verjchiedenen Konftitutionen des menſchlichen Körpers, die jo mannigfaltig und zahlreich find als die Individuen, der Ethiker die verfchiedenen Gemüthsbejchaffenheiten, die fo viel- fältig find als die Förperlichen Gonjtitutionen. Eben dieje Grundlage praktiſcher Menfchenfenntnig vermißt Bacon in der bisherigen Sittenlehre, die aus abjtracten Grundfägen und für abjtracte Menfchen gemacht war und in der Anwendung ebenfo charlataniſtiſch ausfällt, als eine Medicin, die allen Kranken diejelbe Arznei verſchreibt. So wenig die Phyfik Natur machen oder die Elementarftoffe der Körper verändern fann, fo wenig kann die Ethik die Menjchen aus andern Stoffe maden, als fie gemacht find. Die Phyſik fordert Na- turfenntniß, die Ethik Menſchenkenntniß; die Phyfif fucht die

*) De augm. VII, 3. Op. p. 197 fig.

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Mittel, um auf Grund ihrer Naturkenntniß neue Erfindungen zu maden und das äußere Wohl der Menſchen zu befördern, die Ethif fucht die Mittel, um auf Grund der Menjchenfennt- niß die Sittencultur zu befördern und die Liebe zu gemein- nützigem Handeln.

3. Charaftere. -

Die menſchlichen Charaktere bilden. ſich (nach dem Goethe’- ſchen Ausſpruch) „im Strome der Welt“, unter dem Drange des eigenen Naturells und den äußeren Einflüffen des Scid- jals, jo mannigfaltig diefe find; fie werden daher bejjer in der Welt und im Leben als in Büchern jtudirt, die gewöhn- fiche Lebenserfahrung befitt mehr Menfchenfenntnig als die gelehrte Literatur, und man wird finden, bemerkt Bacon, daß in dieſer Rüdficht die gemeinen Reden der Menfchen Flüger find als die meijten Bücher. Will man aus Büchern Men- ichenfenntniß gewinnen, jo gewähren die philofophifchen Schrif- ten die wenigfte Ausbeute, dagegen die reichite ſolche Dar- jtellungen, die uns das große Schaufpiel der Welt und der darin wirffamen Charaktere nad) dem Leben vorführen im ge- Ichichtlichen oder poetifchen Abbild. Man halte fich deshalb an die Dichter, namentlich die dramatiſchen, und befonders an die bejjeren Gefchichtsfchreiber, die uns die Charaktere nicht in Lobreden und losgelöft von dem Grunde ihrer Zeit, jon- dern mitten auf der Weltbühne und eingewebt in den Gang der Begebenheiten jchildern. Unter den alten nennt Bacon den Livius und Tacitus, unter den neueren Commines und Guie— ciardini und findet, daß die hiftorifchen Charakterbilder eines Scipio und Cato, eines Tiberius, Claudius und Nero, eines Yudwig XI., Ferdinand von Spanien u. ſ. f. ſehr Iehrreiche

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Beiträge zu jener Menſchenkenntniß liefern, deren die Sitten- fehre bedarf. Auch die Briefe und Berichte der Gefandten und fürftlichen Räthe, die bisweilen vortreffliche Charakterge- mälde enthalten, fünnen der Ethik gute Dienfte leiften. Das alles find Materialien, welche die Ethik in ihrer Weife und zu ihren Zweden verarbeiten fol. Aus dem reichen Schat ihrer menfchenfundigen Welterfahrung, angefanmelt aus dem Leben felbft, aus Gefchichtsjchreibern und Dichtern, aus diefer Fülle individueller Charafterbilder, wird fie leicht gewiſſe Charakter— grundriffe und Typen (imaginum lineae) entwerfen können, welche die menschliche Natur, wie fie in Wahrheit ift, ethifch anſchaulich machen. *)

4. Affecte.

Die Sittencultur würde eine leichte Arbeit haben, wenn ihr nicht auf Schritt und Tritt die menſchlichen Begierden und Leidenjchaften im Wege ftänden. Das find menfchliche Naturmäcdte, denen man, wie der Natur überhaupt, nur bei- fommen fann, wenn man jie einficht. Darum fordert Bacon eine Naturgefhichte der Affeete und findet diefe Lehre, ohne welche es Feine wahre Menfchentenntnig giebt, in der bisherigen Philoſophie theil® gar nicht bearbeitet, theils jehr vernadhläffigt; Ariftoteles hat in feiner Rhetorik viel Scharf: finniges über die Art und Erregung der Affecte gejagt, die Stoifer haben ſich in mancherlei Definitionen verfucht, man hat auc Abhandlungen über einzelne Affecte gefchrieben, aber fie find weder in ihrem natürlichen Zufammenhange noch am richtigen Ort, nämlich in der Ethik, behandelt worden. “Diefe

*) De augm. VII, 3. Op. p. 198 fig.

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von Bacon geforderte Aufgabe einer Naturgefchichte der Affecte in ethifcher Abficht Hat von den folgenden Philofophen Feiner tiefer und gründlicher gelöft ale Spinoza.*) Bacon verlangt, daß fie nad) dem Leben gefchildert werden, wie fie entjtehen und wachen, wie fie erregt, gefteigert, gemäßigt und bemeiftert werben, wie man fie fängt, den Affeet durch den Affect, wie auf der Yagd Thiere durch Thiere, gegenfeitig einfchränft wie im Staat Partei durch Partei, die einen durch die andern regiert, zuleßt duch Hoffnung und Furcht alle anderen be- herrſcht und ſich auf diefe praftifche Einficht in die Natur der Affeete die Regierungskunft und Politif gründe. Durch die Afferte werden die Charaktere bewegt. Mean kann dieſe nicht fhildern und treffen ohne jene, daher weiß Bacon aud) zum Studium der menjchlichen Leidenſchaften die Ethil auf Feine bejjere Quelle zu verweifen als auf die Gefchichtsjchreiber und Dichter. Er hätte ftatt aller einen einzigen nennen follen, der in feinen dramatifchen Werfen das vollendete, reichfte, un— erichöpfliche Abbild menfchlicher Charaktere und Leidenfchaften entfaltet Hat: feinen Landsmann und Zeitgenofjen Shafejpeare. So wie Bacon den Menſchen von Seiten der Ethik erfannt wiffen will, fo hat ihn Shakeſpeare gedichtet. **)

5. Bildung.

Um num die praftifche Aufgabe der Sittenlehre zu löſen, muß man die Affete zu zähmen und in Organe des gemein- nügigen Handelns umzubilden wiffen. Dazu giebt c8 der Hüffsmittel viele, ſämmtlich aus der Natur der Verhältniffe

*) Bol. Meine Geſchichte der neuern Philofophie, Bd. I, 2. Abth. (2. Aufl. 1865), Cap. XVIII, ©. 3547-50, **) De augm. VII, 3. Op. p. 199 fig,

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geihöpft, aus den natürlichen Neigungen des Individuums, den gejelligen Einflüffen, der intellectuellen Erziehung u. ſ. f. In dem Uebergewicht einzelner Leidenfchaften Liegt die Gefahr, daher ijt das Gleichgewicht der Affecte die zu erzeugende Dis- pofition. ine herrfchende Leidenschaft läßt fic nicht gewalt- jam ausrotten, jondern nur allmälig bewältigen, auf natür- lichem Wege, man muß die ihr entgegengefette Neigung be- fördern und mit allen möglichen Mitteln verjtärfen, bis fie gleichſam alpari ſteht. So kann man die Seele gevade machen, wie einen Frummen Stab, den man vorfidtig und allmälig biegt. Die Gewöhnung ift der Weg, den die fittliche Er- ziehung zu nehmen hat; er führt von der erjten Natur zur zweiten, von dev rohen zur gebildeten und ift in feinen Rich— tungen fo verjchieden als die Anlagen und Neigungen der Menfden. Um eine Fähigkeit in Fertigkeit zu verwandeln, nimmt die Bildung den Weg, den die erjte Natur bezeichnet, fie geht in der Richtung des Talents; um das Lafter zu ver- hüten, zu dem eine übermäßige Leidenſchaft Hinneigt, nimmt die Bildung den Ausgangspunkt ihres Weges von der ent- gegengejegten Neigung. Es giebt eine natürliche Neigung, die auf den Endzwed des Lebens felbjt geht und bejtimmt ift, alle übrigen zu beherrichen: der Sinn für die Gemeinichaft, die Hingebung an das Ganze, die Liebe, in der das höchſte Na- turgejeg übereinftimmt mit dem höchſten Gejet des chriftlichen Glaubens. Sie ift der einzige Affect, der die Seele erweitert, der einzige, der kein Uebermaß hat umd darum das Streben nach dem Hödjften erlaubt und fordert. Das Streben nad) der Macht und Weisheit Gottes hat den Fall erzeugt, aber wenn wir Gottes Liebe und Güte gleichfommen wollen, jo werden wir ihm ähnlich.

392

In der Lehre von den focialen Pflichten ftreift die baco- nifhe Sittenlchre ſchon das Gebiet der Politif; indem fie auf die Liebe als die höchjte aller Neigungen und Pflichten hinweift, berührt fie das Gebiet der Religion.

Die Summe diefer Ethik liegt in dem Sak, der das Gepräge der ganzen baconiſchen Philofophie trägt: Menfchen- bildung gegründet auf Menſchenkenntniß, die auf einer Er- fahrung beruht, welche jelbjt aus den lauterjten und tiefiten Quellen gefhöpft ift. Die Träume der Ethik, fagt Bacon, follen durch das Thor von Horn, nicht durd) das von Elfen: bein kommen. *)

) De augm. VII, 3. Op. p. 200-206.

Ich gebe als Anhang folgendes Schema der baconischen Ethik:

Sittenlehre. Das Gute. | Die ſittliche Bildung. , Menjchen- Menſchen— Arten Grade fenutniß bildung f i [ 3 j Cingelmohl sociale WBitichten) > ai

activ | palfiv allg. | beiond.

Vierzehnles Kapitel.

Geſellſchaftslehre.

Die Anthropologie hatte Bacon eingetheilt in die Lehre von der menſchlichen Natur und die von der menſchlichen Ge— ſellſchaft; jene verzweigt ſich in die verſchiedenen Gebiete des körperlichen und geiſtigen Menſchenlebens, dieſe hat es zu thun mit dem bürgerlichen Verkehr, einer äußerſt verwickelten, da— her in Grundſätze ſchwer auflöslichen Materie. Und zwar ſind es Schwierigkeiten doppelter Art, denen die Auseinander— ſetzung der „scientia civilis“ unterliegt, denn zu der compli— cirtert Natur der bürgerlichen Gefellfchaft kommt die geheime und verborgene Natur der Staatsfunft; jene erjchwert die wiſſenſchaftliche, diefe die offene Behandlung der hierher gehöri- gen Gegenftände. Die Regeln der NRegierungskunft feien Ar- cana, die vor aller Welt zu erörtern am wenigjten dem er— laubt fei, der fie übe. Was daher diefen Theil dev Gefell- ſchaftswiſſenſchaft betrifft, jagt Bacon, indem er fid) an den König richtet, To zieme es ihm, dem hochgeftellten Staatsmann, fih in Schweigen zu Hüllen, er habe in feinem Abriß der Künfte eine vergeffen, die er jett an feinem eigenen Beispiele zeigen wolle, die Kunſt des Schweigens, die Cicero für einen Theil der Beredfamfeit halte; ev werde hier das Beifpiel des (etsteven befolgen, der in einem feiner Briefe an den Atticus

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Ihreibt: „An diefer Stelle habe ich etwas von deiner Bered— famfeit angenommen, denn ic) habe geſchwiegen.“*)

Unter den vorangegangenen anthropologifchen Wifjenjchaf- ten fteht der Politif am nächften die Ethif, mit der Bacon jene vergleicht. Das fittliche Regiment Habe e8 mit dem Einzel: nen und dejjen Gefinnung zu thun, das politifche mit der Mafje und deren Handlungsweife; daher fei das Amt ber Ethik ſchwieriger als das der Politik; denn die Bewegungen und Veränderungen der Maffe feien langſamer und regelmäßi- ger als die Einzelner, die ihre Richtung fchnell und plötlid) ändern können; eine Heerde Schafe, wie Cato von den Römern zu jagen pflegte, fei leichter zu treiben als eines für ſich; end- lid) fei das Ziel der politiihen Sorgfalt leichter zu erreichen als das der ethifchen, da unter dem politifchen Geſichtspunkt nur Uebereinftimmung der Handlungen mit dem Gefet, unter dem ethiſchen dagegen Webereinftimmung der Gefinnung mit der Pfliht, dort „bonitas externa“, hier „bonitas interna” gefordert werde. Oder, wie diefen Unterjchied Kant ausgedrückt hat: die Politif verlange blos die Legalität der Handlungen, die Ethik deren Moralität.**)

Wird nun das bürgerliche Zufammenleben fo gefaßt, daf bon jeder fyftematifchen oder principiellen Behandlung ebenfo abgejehen wird als von der Mafgebung ethifcher Zwede, fo

*) De augm. Lib. VII, 1. Op.p. 205. Diefes Bud) jeiner En— chflopädie hat Bacon mit dem vollen Bewußtſein feiner politifchen Würde gefchrieben, und da er an einer Stelle ausdrüdlid jagt, daß er jeit vier Jahren das höchſte Staatsamt befleide, feit 18 Jahren dem Könige diene, fo fällt (jeinen Worten gemäß) die Abfaffung in das Jahr 1621, alſo unmittelbar vor feinen Sturz. Vgl. cp. 3. Op. p. 236.

**) Ebeud. VII, 1. Op. p. 206.

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konnte Bacon nichts anderes übrig behalten als eine aphoriftifche Betradhtungsweife, gerichtet auf die äußeren Intereffen der menschlichen Coexiſtenz und geſchöpft aus feinem Schate men— ihenfundiger Welterfahrung. Das der „scientia civilis“ gewid- mete Buch feiner Enchflopädie fällt ganz in die Sphäre und Richtung feiner Eſſays, und es finden fih, mit der Sammı- lung der letzteren verglichen, in jedem feiner Theile Parallel: ſtücke.

Die drei Theile nämlich, in welche Bacon ſeine ſocial— politiſchen Betrachtungen zerfallen läßt, ſind dem geſelligen Verkehr oder Umgang, den Geſchäften und der Rechtsordnung oder Regierung gewidmet. Der geſellige Umgang ſchützt vor Einſamkeit, der Geſchäftsverkehr gewährt Hülfe und Unter— ſtützung, die öffentliche Gerechtigkeit in der Hand der Regierung ſichert uns gegen Unrecht. Die Wohlthaten der bürgerlichen Coexiſtenz beſtehen daher in der Geſelligkeit, in der gegen— ſeitigen Förderung und im Rechtsſchutz. Wie nun der Um— gang, der Gejchäftsverfehr, der Staat einzurichten fei, damit jener dreifahe Nuten ficher erreicht werde, das ift die eigent> liche Aufgabe der baconifchen „scientia ceivilis“, die fi) dem- nad) bejchränft auf eine Reihe von Anweifungen oder Regeln zur Klugheit im Umgang, in Gefchäften, in der Regierung. *)

Die homiletifche Klugheit (prudentia in conversando) befteht in dem höflichen und einnehmenden Betragen, in dem fiheren und maßvollen Anftand, gleich entfernt von anmaßen- der und unterwürfiger Art, von voher Natürlichkeit und theatra> liſcher Ziererei, vollfommen beaufjichtigt und geregelt, ohne gefünftelt zu fein, in Haltung und Geberde, in Meienenfpiel

*) De augm. VIII, 1. Op. p. 206.

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und Rede; das Beuehmen im gejelligen Verkehr gleiche einem bequemen und wohleingerichteten leide, das nirgends zu eug und überall jo drapirt jei, daß es die guten Eigenfchaften unſerer Natur hervorhebe und die Mängel verberge. *)

Die Gefhäftsflugheit (prudentia in negotiando), die den Gelehrten gewöhnlich abgeht und deren Theorie Bacon unter den bisherigen Wiffenfchaften vermißt, hat zweierlei zu beden- fen: 1) wie man andere bei den mannigfachen und zerjtreuten Anläffen der Privatgefchäfte des Yebens (occasiones sparsae) am beiten berathe, und 2) wie man fein eigenes Glück her— jtelle und die Yebensziele, die man verfolgt, am ficherften er= ' reiche. Die erfte Kunst, andere gut zu bevathen, nennt Bacon sapere, die zweite, fich jelbft gut zu berathen, sapere sibi;**) man fann die eine haben ohne die andere, die ächte Lebens— klugheit ſoll beide vereinigen.

Um die Denfweife darzırlegen, aus der bei allen mög: lihen Gelegenheiten die beiten und Flügften Rathſchläge für andere gejchöpft werden, hat Bacon beijpielsweife 34 ſalomo— niihe Sprüche genommen, die er Parabeln nennt und jedes- mal jo erläutert, daß fie unmittelbar auf Fälle des täglichen Lebens angewendet und nutbar gemacht werden, wie 3.9. der Sat, daß das Ende der Rede beſſer ſei als der Anfang, daß der Weg der Faulen durch Dornen gehe u. ſ. f.***)

Indeſſen fordert die praftiiche Yebensflugheit, dag man nicht blos fremde Gejchäfte wohl berathen, jondern namentlich

*) De augm. VIII, 1. Op. p. 206—208. Bgl. Sermones fideles Nr. LVIIL, de eivili conversatione. Op. p. 1240 fig. **) De augm. VIII, 2. Op. p. 221. ***) Ebend. VII, 2. Op. p. 209—20 = Sermones fideles etc. (Lugd. Bat. 1644) Nr. LIX.

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die eigenen Angelegenheiten gedeihlic führen und gleichſam der Baumeister oder, um mit dem Sprüdwort umd Bacon zu reden, „der Schmidt feines Glücks“ werden könne. Dazu gehört als die wejentlichite aller Bedingungen Menſchenkennt— niß, eine richtige und unverblendete Schägung ſowohl feiner jelbjt als der Menfchen, mit denen man lebt, denn darin be- jteht das Material, aus dem jeder fein Glück zu geftalten hat, und ohne Kenntnig des Baumateriald wird niemand ein Baumeilter. Man muß, jagt Bacon, fid) das Fenſter des Momus verihaffen, um in die verborgenften Schlupfwinfel der menjchlichen Herzen zu fehen, und zu diejer Einficht feien eine Menge feiner und forgfältiger Beobachtungen nothwendig, da man einerfeits das menschliche Thun und Treiben von dem äußeren Schein, den es in Miene, Wort und Werf annimmt, bis in den innerjten Kern der Gemüthsbeichaffenheit und Mo- tive zu verfolgen, andererjeits den Leumund zu beachten habe, indem man die Einflüffe, die ihn beftinnmen, wohl unterfcheidet. Denn mande Eigenthümlichfeiten werden am jchärfjten von Freunden, andere von Feinden, andere von Hausgenofjen u. ſ. f. wahrgenommen. Am beften erfenne man die Menfchen aus einer tiefen Beobachtung ihrer Charaktere und Abfichten, nur müfje man, um fi) vor Täuſchungen zu ſchützen, die letteren in der Kegel nicht zu großartig und zu Hoc faſſen, denn es pflege uns mit den Abfichten Anderer wie mit deren Ber- mögensumjtänden zu gehen, gewöhnlich werden jie überjchätst und man finde Heinere Summen als man erwartet.

Aber auch die richtigjte Kenntnig anderer wird zur Grün: dung des eigenen Glücks demjenigen nicht viel helfen, der ſich jelbjt faljch beurtheilt und durch Trugbilder verblendet. Viel— mehr iſt alle Menſchenkenntniß auf ächte Selbſtkenntniß gegründet

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und ohne diefe nicht möglich; wer ſich nicht in das eigene Innere das Momusfenjter geöffnet hat, für den ift es blind nad) außen. Unter jener Selbftlenntnig aber, die den richtigen Lebensweg erleuchtet, verjtcht Bacon weder die fokratifche Speculation über die Menfchennatur im Allgemeinen, noch das Beäugeln individueller Abfonderlichkeiten, denn mit folchen Arten der Selbſtſchätzung macht man feine Laufbahn, jondern er verlangt die Selbjterfenntniß im Spiegel des Zeitalters. Je— der ift das Kind feiner Zeit, daher die Selbſterkenntniß, wie jede Wahrheit, die Tochter der Zeit. Wir finden Bacon aud hier, wo er die Selbjtbetradhtung an den richtigen Ort rückt, in völliger und feiner Webereinftimmung mit der Richtung feiner ganzen Philofophie. Zeitgemäß denken Heißt ihm philo- jophiren; fich felbjt im Spiegel der Zeit betrachten heißt ihm fich erfennen. Wer über die Zeit, in der er lebt, im Dunkeln bleibt oder fi) Trugbildern Hingiebt, verfennt ſich felbft und vergreift fih von vornherein in feinen Zielen. Daher iſt die richtige Wahl der Rebensart, des Berufs, der Freunde, das Geltendmachen des eigenen Werthes auf dem ihm gemäßen Gebiet, der Eintritt in den erfolgreichen Wettjtreit, in die richtige Mitbewerbung, die Haushälterifche Verwaltung der eigenen Tugenden und Mängel, mit einem Wort die gefammte Einrichtung und Ordnung des Lebens bedingt durd die richtige Werthſchätzung der Dinge, durch jene Hare Erfenntniß der Zeitgrößen (die eigene Natur und deren Vermögen miteinge- rechnet), welche Bacon eine „mathematica vera animi” nennt. *) Und hier gelte die Grundregel: daß man die eigenen

*) De augm. VIII, 2. Op.p. 220—36 Sermones fideles etc. (Lugd. Bat. 1644) Nr. LX (faber fortunae).

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Mittel und Fähigkeiten wohl erwäge, ſich nicht Kräfte zutraue, die man nicht hat, die vorhandenen nicht überſchätze und alle Anftrengungen darauf richte, diefe Mittel’ zu vermehren. Denn nicht das Geld, fondern die Geiftesfräfte find die Nerven des Glücks; das Glück ift die Frucht hartnädiger Arbeit, nicht blinder Schiefalsgunft: darum ſoll man der Schmidt des Glücks fein, nicht der zudringliche Freier.

Die eigentliche Regierungskunſt übergeht Bacon mit jenem ausdrudsvollen Schweigen, das er dem Staatsmann zur Pflicht macht und womit er fich felbjt als einen Träger der Staats- geheimniffe anfündigt. Nur um die Stelle nicht ganz leer zu laffen, will er zwei nad) außen gelegene Punkte zwar nicht ausführlich erörtern, aber durch Andeutungen darauf Hinweifen. Der erfte betrifft die Macht des Staats, der zweite die Form der öffentlichen Gefeßgebung, auf der die bürgerliche Rechts— ordnung beruht. Wie jedes lebendige Wefen, ftrebt der Staat nad) Erhaltung und Vermehrung feines Dafeins, die Ver: mehrung bejteht in der Entfaltung feiner Kräfte nad) innen, in der Erweiterung feiner Grenzen nah außen. Das find drei Aufgaben der Staatsfunft, von denen Bacon hier nur die dritte in Angriff nimmt: „die Erweiterung der Grenzen des Reichs“. Er meint die Kunft, deren fich Themiſtokles rühmte, als er bei einem Gaftmahl aufgefordert wurde, die Laute zu fpielen: „Spielen kann ich nicht“, fagte Themiftofles, „aber id) fann aus einer Kleinen Stadt eine große machen. Das fei die Kunft, fügt Bacon Hinzu, die fi) in der Um— gebung der Könige höchſt felten finde, denn die Hofleute feien in der Regel zum Tändeln gejchickter als zum Herrfchen und befjere Mufifanten als Staatsmänner, Er felbit, indem er auf die Frage, wie man ein Neid) vergrößere, fich einläßt,

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hat das Beifpiel der Römer und Mackhiavelli vor fih, von dem er ſchon früher bemerkte, daß er die Gefchichte wieder politifch gedacht und dargejtellt habe. Im Uebrigen jchreibt Bacon als englifher Staatsmann, der, wie man fieht, die Größe und das Wachsthum des eigenen Baterlandes dicht vor Augen hat; er fordert die Kriegstüchtigkeit der Bürger, die öfonomifchen Bedingungen, welche die Bevölkerung Fräftig und ftarf machen, die Befreiung und Hebung des Bauernftandes, die Drganijation der Wehrfraft in einem jtehenden Heere, Bolkszuftände, die ihrer ganzen Einrichtung nach ficher find vor inneren Kriegen, dagegen ftetS gerüftet zu äußeren, jedem Feinde gewachfen, bei jeder rechtmäßigen Gelegenheit zur Kriegsführung bereit; der Bürgerkrieg gleiche der Fieberhitze, der auswärtige dagegen der Wärme, die aus der Bewegung hevvorgehe und der Gefundheit diene; vor allem aber müſſe die Herrichaft zur See erzielt und bewahrt werden, denn fie allein führe zur Weltherrfchaft und ſei gleichjam ‚„‚monarchiae epitome”, Hier berührt ev den Lebensnerv der Machtjtellung Englands. „Um den Gipfel der Herrichaft zu erreichen‘, jagt Bacon, „iit heutzutage und zumal in Europa die Seemacht, die jett unferem Großbritannien zu Theil geworden ift, von der größten Bedeutung, einmal weil die meisten Neiche Eu- ropas nicht einfach binnenländisch find, fondern zum größten Theil von Meer umgeben, dann weil die Schäte und Reich— thümer beider Indien derjenigen Macht zufallen, die das Meer beherrſcht.“*)

*) De augm. VII, 3. Op. p. 237 40 (exemplum tractatus de proferendis finibus imperii) = Serm. fideles XXIX (de proferendis finib. imp.). Op. p. 1186—93.

[un ——

Fünfehntes Kapitel. Die baconiſche Philofophie in ihrem Verhältni zur Religion.

1; Bacon's Stelung zur Religion. 1. Trennung von Religion und Philoſophie.

Das legte der Bücher de augmentis ift der geofjenbarten Theologie gewidmet. Wir haben dafjelbe bereits vorweg: genommen und feinen Inhalt in einem früheren Abjchnitte dar- geftellt, wo unſere Aufgabe war, die Stellung der Theologie überhaupt in dem baconiſchen Grundriß der Wijfenfchaften zu fennzeichnen.*) Auf diefe VBorausfegung jtügen wir die gegen— mwärtige Betrachtung, die das Verhältniß der baconifchen Lehre zur Neligion näher beleuchten folt.

Es giebt nad) Bacon eine doppelte Theologie, die ge- offenbarte jenfeits aller philofophijchen Erkenntniß, die natür- (liche innerhalb derjelben,; es giebt eine Erfeuntniß Gottes aus natürlichen Urſachen, eine Gewißheit des Dafeins einer welt- Ichafjenden und ordnenden Intelligenz, gegründet blos auf die Betrachtung der natürlichen Ordnungen der Dinge. Diefer Glaube an Gott iſt wiſſenſchaftlich nothwendig, der ihm wider- fprechende Unglaube oder Atheismus ift wiſſenſchaftlich unmög- lid. „Es ijt leichter”, jagt Bacon, „an die abentenerlichften

*) ©. oben S. 32 —. Wiicher, Bacon, 26

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Fabeln des Korans, des Talmuds und der Legende zu glauben, als zu glauben, daß die Welt ohne Verſtand gemacht fei. Darum hat Gott zur Widerlegung des Atheismus Feine Wun— der gethan, weil zu diefem Zwed feine gejegmäßigen Natur- werfe hinreichen.‘ *)

Es iſt aljo die natürliche Theologie im Sinne Bacon’s nichts anderes als der Glaube an den göttlichen Verſtand in der Welt, an die Offenbarung Gottes in dem geregelten Lauf der Natur; fie überfchreitet nicht den Horizont der natürlichen Urfahen und erfennt daher nichts von Gottes übernatürlichem Wejen, von feinen Rathſchlüſſen zum Heile des Menſchen, nichts von der Religion, deren Duelle jenſeits der Natur liegt, nichts von dem Reich der Gnade, deſſen Duelle in der Religion gejucht werden muß. Die Religion beruht auf der übernatür- lihen Offenbarung Gottes, die den Inhalt der geoffenbarten Theologie ausmadt. Die natürlihe Theologie gehört zur Philofophie, die geoffenbarte zur Religion. Da nun die Grenze der natürlichen Urfachen zugleic die Grenze des menſch— lihen Verſtandes bildet, fo ift zwiſchen Philofophie und Reli— gion eine unüberjteiglihe Scheidewand. Die natürliche Theo— logie ijt fein vermittelndes Bindeglied, fondern hält fich diefjeits auf dent Gebiete der Philoſophie. Es ift bei Bacon gewiß, daß fie die Religion nicht unterftüßt; es ift zweifelhaft, in- wieweit fie felbjt von der Philoſophie unterftügt wird, denn es finden fi) Stellen, wo von der natürlichen Theologie als einer der Philofophie fremden Sache geredet wird. Es fteht aljo zweierlei feſt: 1) die Religion, welche allein diefen Namen verdient, gründet fich nicht auf eine natürliche Erfenntniß, es

*) Sermones fideles, XVI. De atheismo. Op. p. 1165.

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giebt in diefem Sinne feine natürliche Religion. 2) von den Religionswahrheiten ift eine wifjenfchaftlihe Erfenntniß un- möglich, e8 giebt in diefem Sinne feine Religionsphilofophie. *) Um aus der Philofophie in die Neligion, aus dem Reiche der Natur in das der Offenbarung zu gelangen, müfjfen wir aus dem Boote der Wiffenfhaft, worin wir die alte und neue Welt umfegelt haben, in das Schiff der Kirche treten und hier die göttlichen DOffenbarungen fo pofitiv annehmen, wie fie ge- geben werden.**) So bejteht zwijchen Religion und Philofo- phie eine Trennung, die jeden Wechjelverfehr ausſchließt: PHilofophie innerhalb der Religion ift Unglaube, Religion innerhalb der Philoſophie ift Phantafterei. Es kann auf dem baconifhen Standpunkte der religiöjfe Glaube durch die menſch— liche Bernunft weder ergriffen noch geprüft werden. Er duldet keinerlei VBernunftkritif; er verlangt die blinde Annahme der göttlichen DOffenbarungsftatute. Webernatürlih in ihrem Ur— fprunge, find diefe Offenbarungen undurchdringliche Meyfterien für die menschliche Vernunft. Der Widerfprud) unjeres Willens entkräftet nicht die Verbindlichkeit der göttlichen Gebote, ebenfo wenig entfräftet der Widerfprud unferer Vernunft die Glaub- wiürdigfeit der göttlichen Offenbarungen. Vielmehr befräftigt gerade diefer Widerfpruc ihre höhere göttliche Abkunft, viel- mehr müffen wir die göttlichen Offenbarungen um fo eher an- nehmen, je weniger fie unferer Vernunft einleuchten. Je un— gereimter fie find, deſto glaubwürdiger, „je vernunftwidriger

*) Theologie und Religion ift bei Bacon gleichbedeutend. Er nennt deshalb die natlirliche Theologie auch natürliche Religion. Um die Zwei- deutigfeit der Ausdrüde zu vermeiden, werden wir das Wort Religion nur im Sinne der geofjenbarten Theologie brauchen.

**) De augm. scient., Lib. IX. 26 *

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das göttliche Myfterium ift“, lautet der baconifhe Kanon, „um jo mehr muß es zur Ehre Gottes geglaubt werden‘. *) Das Bernunftwidrige im menſchlichen Sinne, weit entfernt, eine negative Slaubensinftanz zu fein, ift vielmehr eine pofi- tive, ein Kriterium der Glaubenswahrheit; nicht obgleich, ſon— dern weil fie der menſchlichen Vernunft zumwiderläuft, ſoll die göttliche Offenbarung geglaubt werden. Der religiöſe Glaube ſoll nicht hinter der Wiſſenſchaft, ſondern jenſeits derſelben ſtehen auf einem ganz andern Grunde; er ſoll unbedingt, ohne alle Vernunftgründe, ohne alle logiſche Hülfsconſtructionen, daher ſo gut als blind ſein. Alſo auch im Gebiete der Theo— logie iſt Bacon durchweg antiſcholaſtiſch. Die Scholaſtik war eine jpeculative Theologie, eine verſtandesmäßige Beweisführung der Glaubensſätze, ein logiſches Bollwerk der Kirche. Dieſes Bollwerk zerſtört Bacon im Intereſſe der Philoſophie und Religion, die Philoſophie ſoll es nicht aufbauen, die Theo— logie ſoll ſich nicht mit ſolchen Mitteln befeſtigen; indem er beide trennt, zerſtört er den ſcholaſtiſchen Geiſt, der beide vereinigt oder vermiſcht hatte. Vielmehr ſcheint Bacon zu dem vorſcholaſtiſchen Glaubensprincipe zurückzukehren und den Wahl— ſpruch Tertullian's zu erneuern: „Credo quia absurdum.“ „Chriſtus, der Sohn Gottes“, hatte Tertullian geſagt, „iſt geſtorben, das glaube ich, denn es iſt vernunftwidrig; er iſt begraben worden und wieder auferſtanden von den Todten, das iſt gewiß, denn es iſt unmöglich.“ Aber zwiſchen Ter— tullian und Bacon liegen die Syſteme der Scholaſtik, beide unterſcheiden ſich wie ihre Zeitalter; dem engliſchen Philoſo— phen erſcheint die menſchliche Vernunft nicht ſo ohnmächtig als

*) De augm. scient, Lib. IX, ep. 1. Op. p. 258.

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dem Tateinifhen Kirchenvater; derfelbe Ausſpruch ift ein anderer im Munde eines Reformators der Wiffenfchaften, ein anderer in dem eines Lehrers der altchriftlihen Kirche. Was Bacon im lebten feiner enchflopädifchen Bücher erklärt, hat offenbar einen andern Sinn, als derjelbe Sat Tertullian’s in der Scdrift „de carne Christi”. Bacon hat Hinter ſich die „dignitas scientiarum“, die er mit jo vielem Eifer verthei- digt, mit fo vielen Schäten vermehrt hat; dieſe dignitas scientiarum fehlt in der Anerkennung Zertullian’s, vielmehr wird von ihm nur deren Gegentheil anerkannt, der Unwerth der Wiffenfchaften und die Ohnmacht der menjchlichen Bernunft. Der Sat Tertullian’s ift einfach, der baconifche doppelfinnig. Ein Intereffe haben fie gemein: fie wollen feinen raifonniren- den Glauben, feine VBermifhung von Glauben und Vernunft, Religion und Bhilofophie, Offenbarung und Natur; daher müffen fie den vollen Gegenſatz beider behaupten und damit den Satz, daß die PVernunftwidrigfeit in der Religion die Slaubwürdigfeit vermehre. Es giebt in dem VBerhältniß von Glaube und Vernunft nur drei Fälle, von denen einer allein den Glaubenspuriften zufommt: entweder der Glaube entfpricht oder widerfpricht der Vernunft, ev widerfpridht derjelben ent- weder mit oder ohne ihre Erlaubnig. Der erfte Fall Heißt: id) glaube, weil es vernünftig ift; hier ift der Glaube Ver: nunftdogina, denn er wird von der Vernunft beglaubigt. Der zweite heißt: ich glaube, obgleich e8 vernünftig ift; Hier ift der Glaube Vernunftconcejfion, denn er wird von der Ver— nunft eingeräumt und gleichfam erlaubt, die Bernunft thut hier ein Uebriges am Glauben, fie entfchließt fich zum Glau— ben mit ſchwerem Herzen, fie jagt: „Ich glaube, Herr! Hilf meinem Unglauben!“ Auf diefem Standpunkt würde es der

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Glaube viel Lieber fehen, wenn feine Säte vernünftig wären, er würde fie dann für fo viel glaubwirdiger halten. Endlich der dritte Fall lautet: ich glaube, weil es unvernünftig ift; hier Fündigt der Glaube der Vernunft nicht blos den Gehor- ſam, fondern auch jeden Vertrag, er ergreift ihr gegenüber die Contrapofition und erlaubt ihr gar feine Einrede. Wenn man mit XTertullian und Bacon den Glauben der Bernunft entgegenfett und die Vernunftwidrigfeit zum pofitiven Glau— bensfriterium macht, fo bleibt nur diefer dritte Fall als der einzig mögliche übrig. Der Vernunft und Philoſophie gegen- über fann der Glaubenspurismus feine andere Formel finden. Freilich iſt auch dieſe Formel gegen ihren Willen mit der Ver— nunft verſetzt, und darin beſteht der Widerſpruch, der ihre innere Unmöglichkeit ausmacht. Sie iſt Raiſonnement, ſie be— gründet den Glauben, zwar durch das Gegentheil der Ver— nunft, aber gleichviel, fie begründet: ſie kann das quia nicht loswerden, fie ift ſelbſt Yogif, indem fie alle Logik aus- ſchließt! Indeſſen wollen wir den guten Willen für die That nehmen und fragen, ob das credo quia absurdum von Bacon ebenfo gut gemeint iſt als von Zertullian,

Zertullian Hatte mit feinem Bekenntniß nur ein einziges Ziel vor Augen: die Reinheit des Glaubens; er wollte der Wiffenjchaft feine Wohlthat erweifen, denn fie galt ihm nichts, fein Sat war einfah und eindeutig. Dagegen Bacon wollte mit feiner Trennung von Glaube und Wiffenfchaft beide von einander unabhängig machen, er wollte beide vor der Ver— mifchung bewahren, er bezwedte die Unabhängigkeit der Wiffen- ſchaft nicht weniger als die der Keligion. Wir müfjen unfere Behauptung fteigern: Bacon wollte die Unabhängigkeit des Glaubens, weil er die der Wiffenfchaft im Sinne hatte; er

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handelte mehr im Intereffe der Wiffenfchaft als in dem des Glaubens, feine Erklärung war doppelfinnig und zweidentig, fie kann zum Bortheile beider, fie muß mehr zum Bortheile der Wiffenfhaft ausgelegt werden. Die Wiffenfchaft war fein Schatz, und bei feinem Schate war fein Herz. Nannte er nicht felbit die auf die Wiffenfchaft gegründete Herrfchaft des Menjhen das Himmelreich, welches er auffchliegen wollte? Sein Intereffe für Glaube und Wiffenfchaft war getheilt, es hatte zwei Seiten, und wenn auf einer von beiden ein Ueber— gewicht ftattfand, jo lag es ohne Zweifel auf der wiffenfchaft- fihen. In der That war hier ein folches Uebergewidt. Wer diefen wiffensdurftigen Geift kennen gelernt hat, wird micht zweifeln, daß fein wahres und unwillkürliches Intereffe allein der Wiffenfchaft zufiel; ihr widmete er den beiten Theil feines Lebens, während der andere nicht der Religion, jondern den Stoatsgejhäften gehörte. Seiner Neigung nad) galt ihm der Glaube fo viel als dem Zertullian die Wiffenfchaft; er war fo wenig ein theologifcher Geift als Tertullian ein phyfifalifcher. Wie verhielt fi) alfo Bacon jelbjt zur Neligion bei diefer Doppelfeitigfeit feines Standpunktes?

In der Auflöfung diefer jchwierigen und vielumftrittenen Frage nehmen wir Bacon’s philojophifche Denkweife zur Richt— ſchnur und wollen zufehen, ob jie mit feiner perfünlichen Ge- finnung ganz übereinftimmt? 8 giebt drei Fälle, welche die möglichen Verhältnifje der Philoſophie zur Religion auseinan- derjegen. Die Philofophie foll die Religion erklären, indem fie diefelbe durchdringt, das iſt ihre erjte und natürliche Auf- gabe; wenn fie diefelbe zu löfer nicht vermag, fo bleibt ihr nichts übrig, ald von der. Religion einfach zu behaupten, daß jie unbegreiflich fei, und hier find zwei Wege möglich: ent—

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weder muß die Bhilofophie das unbegreifliche Object ganz ver: einen oder anerkennen, entweder vollfommen umjtoßen oder vollfommen unangetaſtet laſſen. Das thut die wiſſenſchaftliche Erklärung nie, ſie iſt jedesmal zugleich Rechtfertigung und Kritik.

Die baconiſche Philoſophie iſt unfähig, die Religion zu erklären; fie konnte weder die ſchaffende Phantaſie der Kunſt, noch das Wefen des menjchlichen Geiftes begreifen; ihr fehlen alle Drgane, um der Religion beizufommen, diefem Zuſam— menhange zwifchen dem göttlichen und menjchlichen Geifte. Religion ift in allen Fällen ein Verhältniß, deſſen Seiten Sott und Menfchengeift find. Wie fanı ein Verhältniß be: griffen werden, deſſen Seiten man nicht begreift? Wie kann eine Philojophie, die nur mit den Mitteln der experimentellen Erfahrung erkennen will, den Geift ergründen, fei es in der göttlichen oder menjchlihen Natur? Die baconifhe Philofo- phie begreift felbjt an diefem Punkte ihre Schranke, fie ift fi deutlich) bewußt, daß innerhalb ihrer VBerfafjung Geift, Gott, Religion unergründliche DObjecte find; diefe deutliche und ausgejprochene Einficht beweift, daß fi) die bloße Erfahrungs- philofophie in ihrem Urheber felbjt richtig erfannte und ihre Grenzen einzuhalten wußte. Sie hatte zu wählen zwifchen der VBerneinung und Anerkennung der Religion; welde Seite fie auch ergreift, fie muß die ergriffene ohne alle Bedingungen annehmen; fie muß die Religion, fo wie fie ift, en bloc ent- weder verwerfen oder bejtehen laſſen. In diefer nothiwendigen Alternative befindet ſich die baconifche Philofophie aus unver- meidlihen Gründen. Sie entfcheidet fich ihrem wiſſenſchaft— lichen Charakter gemäß für die unbedingte Anerkennung. Aber es iſt ſchwer, wenn nicht überhaupt unmöglich, in einer folchen

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Entfcheidung jedes Schwanfen zu vermeiden und in einem ſol— hen Entweder Oder auf einer Seite allein unbeweglich ſtill zu jtehen, namentlih für eine jo bewegliche Philojfophie als die baconifche. Einmal in jenes Dilemma zwijchen unbedingte Bejahung und unbedingte Berneinung der Religion gejtellt, geräth fie unwillfürlih in eine gewiffe pendularifche Bewegung, die von dem pofitiven Haltpunft der Anerkennung, welden Bacon ergreift, nicht felten der verneinenden Richtung zuftrebt. Die Widerfprüche, welche man in Bacon’s Stellung zur Reli- gion wahrnimmt, find nichts Anderes ald Bewegungen inner— halb jenes Dilemmas, als unwillfürlide Schwankungen in einer an fi) amphibolifchen Lage. Prüfen wir genau Bacon’s Stellung zur Religion, jo erfennen wir wohl den Widerſpruch, worin fie befangen war: die baconiſche Philofophie anerkannte und bejahte das pofitive Glaubensſyſtem, während fie felbft in einer abweichenden und außerreligiöfen Richtung ihren eige- nen Weg ging; fie hielt den Verneinungstrieb zurück, aber fie fonnte ihn nicht ganz unterdrüden. Man muß aljo fragen: warum äußerte die baconiſche PBhilojophie ihren Widerftand gegen die Religion nicht ohne allen Rückhalt, wie die meiften ihrev Nachfolger wirklich gethan Haben? Warum ergriff fie die Seite der Anerkennung, die fie ohne inneres Widerftreben, ohne offene Widerfprüce kaum feſthalten konnte? Sie wäre in der negativen Stellung fejter und mehr fie ſelbſt gewejen: warum wählte jie die pojitive? Die erjte und gewöhnliche Antwort ift, daß Bacon aus perfünlichen Rückſichten dem An— jehen der Religion nachgab, daß er unter einer fcheinbaren Anerkennung den antiveligiöfen Charakter feiner Philoſophie verbarg, daß mit einem Worte feine Stellung gegenüber der Religion Hypokritifh war. Die erjte Antwort ift nicht immer

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die bejte, fie ijt in diefem Fall die fchlimmfte, die man geben fann, und zugleicd) die unverftändigfte. Es wäre doch in die: fem Falle der Mühe werth, erſt die wiffenfchaftliche Erklärung der Sache zu verjuchen, bevor man ungefchent die moralifche Verurtheilung der Perſon ausfpridt. Und Eines liegt auf der Hand: wenn Bacon die Anerkennung der Religion heuchelte, jo war er einer der ungeſchickteſten und einfältigiten Heuchler; denn was fein Dedmantel verhüllen follte, die abweichende Denkweiſe feiner Philofophie, trat an fo vielen Stellen offen hervor. Die Heuchelei beweijt einen unehrlichen Mann, die ungeſchickte Heuchelei einen Thoren. Wenn man mit Bacon’s Charakter die eine Vorftellung vereinigen kann, wie will ınan mit feinem Geifte die andere "vereinigen?

2. Die theoretifhen Geſichtspunlte.

Er hätte die Religion verneinen ſollen, weil er ſie nicht erklären konnte? So hätte er aus denſelben Gründen den menschlichen Geift und die Erijtenz Gottes verneinen müſſen, denn er jelbft befannte, daß feine Philofophie unvermögend fei, fie zu erklären; fo hätte er aus denjelben Gründen die Metaphyfif und die natürliche Theologie verneinen müſſen, denn fie paffen beide nicht in den ftreng phyſikaliſchen Geift jeiner Philofophie. Wenn Bacon innerhalb der phyſikaliſchen Erklärung der Dinge nichts von zwecdthätigen Kräften, nichts von Geift und Gott wiſſen wollte, mußte er fie deshalb ver- neinen? Wenn er diefe phyſikaliſch nicht zu erflärenden Mächte dennoch bejahte, war jeine Bejahung Heuchelei? Wenn fie es nicht war, warum follte e8 feine Anerkennung der Reli- gion ſein?

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Und in der That fand Bacon in feiner natürlichen, wenn auch nicht phnfifalifchen, Welterflärung Gründe genug, um das Dafein Gottes anzuerkennen. Er entdedte hier Endurfachen, die er nicht phyſikaliſch beweiſen und brauchen, aber ebenfo wenig aus empirifchen Gründen leugnen konnte. Die Phyſik erklärt die Dinge als Effecte blind wirkender Kräfte, fie kennt nur die Gejete mechanischer Caufalität, aber leugnen kann fie nicht, daß ſich in diefen Wirkungen zugleich eine zweckmäßige Anordnung fundgiebt. Sie überläßt der Metaphyjif, für die zweckmäßigen Wirkungen die zwecthätigen Kräfte aufzufuchen; fie überläßt der natürlichen Theologie, diefe zwecthätigen Kräfte auf eine intelligente Urkraft als die weltfchaffende zurüd- zuführen. Bacon Hat fi) wiederholt darüber erklärt, daß in feinen Augen eine völlig mechaniſche und atomiſtiſche Natur: philofophie, wie die Syſteme des Leucipp, Demokrit und Epi- fur, eine natürliche Theologie nicht blos zulaffe, fondern ver- lange und mehr als jede andere Philofophie befejtige. Der Aomismus leugnet die Zweckurſachen in der Naturerflärung, er leugnet nicht die Zwede in der Natur, er muß in der Na- tur ſelbſt Drdnungen anerkennen, die ſich unmöglid) aus den zufälligen Bewegungen zahllojer Atome herleiten laſſen. Um jo viel mehr ift er gemöthigt, einen intelligenten Welturheber anzuerkennen, der jene Ordnungen bildet. Diefe Annahme erjcheint dem Berjtande Bacon’s jo nothwendig, daß er Lieber allen möglichen Aberglauben bejahen, als fie verneinen will. „Gerade jene philofophifche Schule des Yeucipp, Demokrit und Epifur, die vor andern des Atheismus befchuldigt wird, giebt näher betrachtet den klarſten Beweis für die Religion. Denn e8 ijt immer noch wahrfceinlicher, daß die vier ver- änderlichen Elemente und ein fünftes unveränderliches Wefen,

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die von Ewigkeit her genau zufammenhängen, feines Gottes bedürfen, als daß die zahllofen Atome und Keime, die ohne Ordnung umbherivren, diefe Ordnung und Schönheit des Welt- alls ohne einen göttlichen Baumeister haben hervorbringen können.“*)

So führt die natürliche Welterklärung ſelbſt (durch die Metaphyſik zur natürlichen Theologie und damit) zur Ent— deckung einer göttlichen Macht, die nicht gedacht werden kann ohne Verſtand und Wille. In der Natur offenbart ſich die göttliche Macht, in den Statuten der Religion der göttliche Wille. Und zwar handelt dieſer Wille allmächtig, d. h. aus bloßer grundloſer Willkür. Ueberſteigt nun die natürliche Offenbarung der göttlichen Macht die erklärende Menſchenver— nunft, um wie viel unbegreiflicher ſind die Anordnungen und Statute der göttlichen Willkür, um wie viel unerklärlicher alſo die Religion! Iſt ſie darum weniger anerkennenswerth? Wenn die Naturphiloſophie die göttliche Macht anzuerkennen ſich genöthigt ſieht, wird ſie wagen, den göttlichen Willen in der Religion zu verneinen? So wenig in Gott ein Wider— ſpruch ſtattfinden kann zwiſchen Macht und Wille, ſo unmög— lich erſcheint in Bacon's Augen ein Misverhältniß zwiſchen Religion und Philofophie.**) Wenigſtens die Naturphiloſo— phie jet den Menfchen nicht in Widerfprud mit den gött- lichen Dffenbarungen. „Es war nicht die Naturwifjenjchaft, jondern die Moral, das Wiffen vom Guten und Böfen, wo- durch die Menſchen aus dem Paradiefe vertrieben wurden.“ ***)

*) Serm. fid., XVI. De atheismo. Op. p. 1165. **) Nov. Org. I, 89. Op. p. 307. ***) Praef. Nov. Org. Op. p. 275.

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Ich will damit nur bewiefen haben, daß Bacon’s theo- retiſche Gefichtspunfte ihm nicht Hinderten, die Religion anzu— erkennen; ic werde weiter zeigen, daß feine praktiſchen Ge- fichtspunfte ihn hinderten, die Religion zu verneinen oder aud) nur zu befämpfen. So wird von beiden Seiten feine Stellung zur Religion genau in die Lage gerüdt, worin wir fie finden,

3. Die praltiſchen Geſichtspunkte.

Man fee den Fall, welcher nicht der thatfächliche ift, daß ſich Bacon der Religion feindlic) ‚gegenübergeftellt und die natürlihe Wahrheit zum Kriterium der religiöfen gemacht hätte: was wäre die Folge gewejen? Dffenbar ein Kampf mit der Religion, ein Kampf um Dogmen, d.h. in Bacon’s Augen ein Kampf um Worte: eine jener unnügen Disputationen, die jeit Jahrhunderten den menfchlichen Geift verödet und der gefunden Weltbetrachtung entfremdet haben. Statt die Wifjen- ichaften zu vermehren, hätte Bacon die Religionsftreitigkeiten vermehrt und das wiſſenſchaftliche Elend jelbjt mit einem nenen Beitrage bereichert. Wer diefen Geift fennen gelernt hat, der weiß, wie jehr gerade er allen Disputationen der Art abge: neigt war, wie feine ganze Natur in jeder Weife inftinctiv dem Wortgezänf widerftrebte. Dieſer eine Grund reicht Hin, Bacon's Stellung zur Religion zu erflären und zu vedhtferti- gen. Er wollte um feinen Preis ein Neligionszänfer fein, darum mußte er um jeden Preis der Religion gegenüber eine friedfertige Haltung annehmen; er hatte zu wählen zwifchen dem Glauben sans phrase und den Phrajen der Glaubens jtreitigfeiten.. Daß er jenen vorzog, ijt deshalb feine Heuchelei, weil er in allem Ernſt und aus allen Gründen diefe vermei- den wollte. Wir urtheilen aus dem Geifte Bacon’s: in dieſem

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folgte die Nothwendigfeit feiner friedfertigen Religionsftellung aus der Unmöglichkeit ihres Gegentheils. Das fcheinen fich diejenigen gar nicht überlegt zu haben, die mit dem Vorwurfe der Heuchelei glei) bei der Hand find. Bacon wollte die Srenzitreitigfeiten zwifchen Glaube und Wiffenfchaft vermeiden, nicht blos weil fie ihm mislic) und unbequem waren, jondern vor Alfem deshalb, weil er von folchen Streitigkeiten gar feinen Nuten, gar feinen praftiihen Erfolg abfah. Seine ganze Denkweife ging darauf aus, der Wifjenfchaft allen un— nüten Streit zu erſparen, um die Zeit, die damit verloren ‚wurde, fruchtbarern und beſſern Unterjuchungen zu gewinnen. Diefen Zwed zu erreichen, nahm Bacon feinen Anftand, etwas von dem formellen Anfehen der Philofophie zu opfern; defto ungeftörter Konnte fie ihre wirkliche Herrſchaft befeftigen und ausbreiten. Schon diefe eine Rüdficht genügt, um Bacon’s Berfahren gegen den Borwurf der Berftellung oder Heuchelei zu ſchützen. Er war einmal der fyftematifhe Denker nicht, mit dem man rechten darf, wenn er feinen Grundfägen etwas vergiebt; außerdem waren Bacon’8 theoretiſche Grundfäte, wenigftens in feinem eigenen Verſtande, gegen die Religion nicht ausjchließend; zugleich Hatte er den ausgeſprochenen Grundfag, in allen Fällen praftifch zu fein, unter allen Um— jtänden den Nuten der Wiffenfchaft im Auge zu Haben, und im Intereffe der Wiſſenſchaft ſchien es ihm zweckdienlicher, mit der Religion Frieden zu halten, als Krieg zu führen. Das war eine Klugheit, die ihm feine Henchelei Foftete, die Schonung nad der einen Seite war in der That eine Sicher- heit nad) der andern, und diefe Sicherheit war nöthig. Se weniger die Philojophie, die Bacon reformiren und vor Allem brauchbar machen wollte, in das Gebiet der Theologie eingriff,

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je behutfamer fie fic) abgrenzte, um jo weniger hatte fie von dort eine feindliche Intervention zu fürchten, um jo mehr Zeit gewann fie für ihre eigene ungeftörte Fortbildung. Im diefer Rückſicht behandelte Bacon das Berhältnig der Wiſſenſchaft zur Theologie als eine auswärtige Angelegenheit mit praftifcher Umficht, mit politifchem Tacte, mit mehr Klugheit als Kühn— heit; die unſchuldige und untergeordnete Haltung, welche er der Religion gegenüber annahm, war fein Deckmantel feines Unglanbens, fondern ein Schugmittel für jeine Philofophie. Und geſetzt nun den unmöglichen Fall, daß Bacon die Religion verneint, befämpft, eine neue Religionsftreitigfeit be— gonnen hätte: was wäre der praftifche Erfolg gewejen, wenn fie überhaupt einen gehabt hätte? Die Stiftung einer neuen Religionspartei, einer Secte, welche die Kirchenfpaltung ver- mehrt hätte! Und Bacon hätte der Mann fein follen, der auf einen ſolchen praftiichen Erfolg hinarbeitete? Ein abge- jagter Feind des Sectengeiftes, wie Bacon war, hätte er den Sectengeift befördern follen? Nicht einmal in der Philofophie wollte Bacon eine Schule ftiften, und in der Religion hätte er eine Secte geftiftet? Man kann ihm dod) wahrlich feinen Vorwurf daraus machen, daß er mit widerwärtigen Mitteln einen widerwärtigen Zwed nicht verfolgte. Die widerwärtigen Mittel waren die dogmatifchen Wortftreitigfeiten, der wider- wärtige Zwed die Religionsfecte. Um der Wiſſenſchaft willen lag ihm der Friede am Herzen. Er fand gerade deshalb feine Epoche günftig für die Wiffenfchaft, weil nad) langen Spal- tungen und Kriegen der Augenblid des Friedens wiedergefom- men war und damit die Werfe des Friedens, wozu Kunft und Wiſſenſchaft vor Allem gehören, eine neue Aera und eine neue Blüte Hoffen konnten. Um des Friedens willen entjchied ſich

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Bacon unbedingt für die Einigkeit in Neligion und Kirche und wurde deren Wortführer in feinen Efjays. „Da die Religion ein jo vorzügliches Band der menschlichen Geſellſchaft ift, jo muß fie durch die geziemenden Bande wahrer Einig- feit und Liebe vereinigt bleiben. NReligionsftreitigfeiten find Uebel, von denen die Heiden nichts wußten.” „Ein Bortheil der kirchlichen Einigkeit ift der Friede, der eine zahlloſe Reihe von Wohlthaten in fich begreift.”*) Um den Frieden zu er- halten, bejahte Bacon die kirchliche Einigkeit, gegründet auf die Statute der Religion, und er wenigftens Fonnte nie ver- juchen, diefe Einigkeit durdy einen Angriff zu gefährden. Für ihn galt der Ausfprud), der vollfommen feine Stellung bezeic)- net: „Wer nicht wider uns ift, der ift mit uns!“**)

Und gejett nun, Bacon hätte mit den widerwärtigen Mitteln religiöjer Controverfen den widerwärtigen Zwed aus- geführt und eine neue Neligionsfecte geftiftet, was wäre die Folge gewejen? Ein neuer eifriger Sectengeift, d. h. ein neuer Fanatismus, der natürlid; dieſem Denker auf das äußerfte widerftreben mußte. Fanatismus ijt blinder Neligionseifer, und diefer erjhien in Bacon's Augen als die giftige Aus- artung der Religion, als ein Ausſatz, dem er offen und mit Kühnheit den Grundſatz der Toleranz entgegenftellte.

4. Die politiihen Geſichtspunkte.

Wenn Bacon im Intereffe des Friedens allen Religions- jtreitigfeiten aus dem Wege ging und von fi) aus feinen Schritt unternahm, um die kirchliche Einigkeit zu ftören, fo

*) Serm. fidel., III. De unitate ecclesiae. Op. p. 1142. **) Ebend. Op. p. 1148.

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mußte er natürlich auch von Seiten der Religion und Kirche diejelbe Friedensgefinnung verlangen. Denn was hilft es, die Kirche friedlich anerkennen, wenn fie felbft den Krieg will? Hier fett Bacon dem Anfehen der Religion und der firchlichen Macht die beftimmte, nicht zu überfchreitende Grenze, er will in der Kirche felbjt den Geift der Friedensftörung unterdrückt und gehemmt wiffen. Innerhalb der Kirche entfpringt die Friedensftörung aus dem blinden Weligionseifer, denn diefer ift immer geneigt zu gewaltfamen Ausbrüchen; feine praftifche Form ift der Fanatismus der Propaganda, feine theoretifche Form ift der Aberglaube; in beiden Formen fest Bacon dem blinden Religionseifer Gewalten entgegen, die ihn hemmen und zurüdtreiben. Die praftifche Gewalt gegenüber der fana- tiihen Propaganda, die wir füglich die Firchliche Eroberungs- Inft oder Herrſchſucht nennen, bejteht in der weltlichen Macht, im Staat und in der Politik; die theoretifche gegenüber dem Aberglauben bejteht in der Wiffenfchaft und befonders in der Naturphilofophie. Der Aberglaube ift der innere Grund des religiöfen Banatismus, welcher jelbjt den Grund der Religions- friege bildet; diefe foll der. Staat, jenen die Wiffenfchaft ver- hindern. Es ift nad) Bacon eine faljche Religionseinigfeit, die fih) auf Aberglauben gründet, denn der Aberglaube ift Unmwiffenheit, geiftiges Dunkel, und „im Dunkeln find alle Farben glei“. Und ebenfo falſch ift die Firchliche Einigkeit, die fi) mit gewaltfamen Mitteln auszubreiten fucht und in den Religionskriegen jene furchtbaren Gräuel entfefjelt, die von jeher die Gemüther mit Recht der Kirche entfremdet haben. Um fie zu verhindern, ftellt Bacon die Kirche unter die welt- liche Obrigkeit, fie darf niemals den bürgerlichen Frieden

ſtören und die Staatsgewalt, welche die menſchlich höchſte ift, Fifher, Bacon, 27

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angreifen; fie darf nie das Schwert Mohammed’s führen. Mit einem Worte: Bacon entwaffnet die Kirche im Namen des Staats. Wenn die Religion den Staat bekämpft, „jo heißt das nichts Anderes, als eine Tafel des Gejetes an der andern zertrümmern und die Menſchen jo ausjchlieflid als Chriften betrachten, daß man darüber zu vergefjen ſcheint, es jeien Menfhen. Der Dichter Qucrez, da er fi) das Opfer der Iphigenia vergegenwärtigte, rief aus: «Solche Abſcheu— lichkeiten Konnte fie eingeben, die Religion!v Und was würde er erjt gejagt haben, wenn ihm die parifer Bluthochzeit und die Pulververfhwörung in England bekannt gewefen wäre? Gewiß, er würde ein fiebenfad) größerer Epifuräer und Atheift geworden fein, als er wirklich war.” *)

Der fanatifhen Ausbreitung der Religion fett der Staat in feiner Gewalt einen feiten Damm entgegen. Diefe ftrenge Zucht und Aufficht des Staats ift vor Allem deshalb nöthig, damit die Religion nicht die Brandfadel der politifchen Revo- lution entzünde. Auf diefe Gefahr, die feinem Zeitalter nahe lag, macht Bacon bejonders aufmerkſam. Es ift Leicht zu fürdten, daß die Religion durch ihre Verwandtichaft mit dem Fanatismus, der Fanatismus durch feine VBerwandtichaft oder, beſſer gejagt, durch feine Webereinftimmung mit der Roheit den Pöbel entfefjelt und alle ſelbſtſüchtigen Intereffen, die ſich damit verbinden, unter den Waffen der Religion gegen den Staat ins Feld führt. So entjtehen die religiöfen Bürger- friege, das furchtbarſte aller politifchen Uebel. Iſt innerhalb der Kirche eine Reform nöthig, jo fol fie nicht durch das Bolf von unten herauf, fondern durd den Staat gemacht wer:

*) Ebend. Op. p. 1144.

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den. So richtet fi) Bacon’s Stellung zur Religion vollfom- men nad dem Vorbilde der englifhen Reformation, wie es das Zeitalter Elifabeth’8 ausgeprägt hatte. „Es fieht einem Ungeheuer glei, wenn man das weltlihe Schwert im Intereffe der Religion dem Volk in die Hände giebt. Die Wiedertäufer und dergleichen rafende Fanatifer mögen fich das merfen. "Die Gottesläfterung des Teufels: «Ich will Hinauffteigen und dem Höchften gleich werden», ift groß; aber noch größer wäre jene, wenn Gott jemand jagen ließe: «Ich will Hinabfteigen und dent Fürften der Finfterniß gleich werden.» Und was ijt es anders, wenn die Sache der Religion jo tief herabfteigt, daß fie fidh zu Graufamfeiten und verruchten Verbrechen hinreißen läßt: Regenten zu morden, Völker auszurotten, Reiche zu zerjtören? Das heißt doch wohl den heiligen Geift nicht in der Geftalt einer Taube, fondern eines Geier oder eines Naben herab: fteigen lafjen und auf das Schiff der Kirche das Panier der Räuber und Mörder auffteden. Es it daher recht und dem Bedürfniß der Zeit noch bejonders angemeſſen, daß die Kirche durch Lehren und Bejchlüffe, die Fürften durd) ihre Gewalt und im Bunde damit alle religiöfen und moraliſchen Schrif- ten als friedensverfündigende Herolde den religidfen Fanatis— mus und alle Lehren, die ihn begünftigen, in den Abgrund ver- dammen und auf ewige Zeiten vertilgen.”

Damit ift Bacon’s Stelfung zur Religion von ihm felbft auf das deutlichjte bezeichnet. Er führt den Stab des Herolds, der den Waffenftillftand verfündigt, er will den Frieden: darum erflärt er von fich aus die unbedingte Anerkennung der geof- fenbarten (und vom Staate angenommenen) Religion; darum verlangt er von Seiten der Kirche diefelbe Friedensftellung, fie ſoll aufhören, eine weltliche Herrſchaft zu führen, und diefe

27°

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dem Staat allein überlaſſen, fie foll fih aller Zwangsmittel begeben, wodurd fie die Gewiffen unterdrücdt und den Frieden ftört. Jeder Gewiffenszwang, den die Kirche verfucht, verräth unzweidentig ihre Abficht auf weltliche Herrichaft. „Um die volle Wahrheit zu ſagen“, fo ſchließt Bacon feinen Verfud) über die Einheit der Kirche, „erklären wir mit dem gelehr- ten und weifen Kirchenvater: diejenigen, welche zum Gewiffens- zwang rathen, ſoll man anjehen als Leute, die unter diefer Lehre nur ihre eigenen Leidenschaften verbergen und ihr eigenes Intereffe damit zu befördern fuchen.‘*)

II. Aberglaube und Frömmigkeit.

"Was demnad) Bacon unbedingt anerkennt, ift die frieden- jtiftende und friedfertige Religion, die allein von Gott fommt; was er unbedingt verwirft, ift die friedenftörende und verfin- jterte Religion, die fid) auf den menjchlichen Aberglauben gründet. Die geoffenbarte Religion widerfpricht dev menſch— lihen Vernunft, aber nie dem menſchlichen Wohle Diefer Gefichtspunft des praftifchen Nugens war in Bacon fo feit gewurzelt, daß er ihn jogar zum Maßſtabe des göttlichen Wil- lens machte. So rüdfichtsvoll und unterwürfig er fich gegen die geoffenbarte pofitive Religion zeigt, jo rüdjichtslos und fritifch verfährt er mit dem Aberglauben, gegen defjen gemein- Ihädliche Folgen er die weltliche Staatsmacht als Polizei und theoretiih die Wiſſenſchaft als Heilmittel aufbietet. Daher jagt er von der Naturphilofophie: „fie fei die fiherfte Medicin des Aberglaubens und die treuefte Dienerin der Religion“. **)

*)Ebend. Op..p. 1145. **) Nov. Org. I, 89.

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Der Aberglaube ijt in Bacon’8 Augen die überjpannte, entartete, im Grunde felbjtfüchtige Religion, die ihm weit ihlimmer erfcheint als die ausgeartete Philofophie. Die Aus- artung der Philofophie ift der Unglaube oder Atheismus. Bacon widerlegt ihn durch die natürliche Theologie, diefe fteht dem Unglauben gegenüber, wie die geoffenbarte Theologie dem Aberglauben. Wäre num feine andere Wahl möglich als zwi- ichen Atheismus und Aberglauben, jo würde fi Bacon un- bedingt für den Atheismus erklären, weil er diefen für weniger gefährlich hält als jenen. Sowohl theoretifch als praftifch ge- nommen, erfcheint ihm der Aberglaube verderblicher, denn theor retifch ift er eine unmwürdige Vorftellung Gottes, von dem er fih) ein Gößenbild macht, und praftifch ift er gemeinfchädlich, weil er die Unfittlichfeit und den Fanatismus begünftigt, aljo in der menfchlihen Gefellfchaft ein friedenftörendes Gift ver- breitet. Der Atheismus Hat feine Vorftellung von Gott, das ift beffer als eine ungereimte und dem Wefen Gottes wiber- ſprechende Vorſtellung; es ift befjer, meint Bacon, das Dafein Gottes dahingeftellt fein laffen oder verneinen, als bafjelbe durch die unwürdigſten Vorftellungen entehren; dies thut der Aberglaube: „er ift in Wahrheit ein Pasquill auf das gött- liche Weſen“. Plutarch habe ganz Recht, wenn er fagt: wollte in der That Lieber, die Leute glaubten, daß es nie einen Plutarch gegeben habe, als daß fie glaubten, es habe einen Plutarch gegeben, der feine neugeborenen Kinder immer ver: ihlungen Habe, wie die Dichter von Saturn erzählen.“*) Der

*) Serm. fid., XVII. De superstitione. Op. p. 1166. Hier ift eine Probe jener Widerfprüche, deren man jehr viele in Bacon's Schrif- ten finden kann, wenn man will. Borher fagte Bacon: lieber Aber- glauben als Atheismus! Jetzt fagt er: lieber Atheismus als Aberglau-

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Aberglaube tyrannifirt die Meuſchen, entzweit fie und verdirbt alfe gefunden Geiftesfräfte. Das thut der Atheismus ebenſo wenig: „er läßt die gefunde Vernunft, die fittlichen Geſetze, das Streben nad) gutem Auf beftehen, er untergräbt den bür- gerlichen Frieden nicht, jondern macht die Menfchen vorfichtig und auf ihr Intereffe und ihre Sicherheit bedacht. So kann er auch ohne Religion eine gewiſſe Sittlichfeit Hervorbringen, und es gab freigeiftige Zeitalter, welche glücklich und ruhig waren, wie das römische unter Auguſtus“. Dagegen der Aber: glaube führt zu politifchen Berirrungen. „Hier fpielt das Volk den Meifter, die Weifen müffen den Thoren gehorchen, die allgemeine Ordnung der Dinge wird umgefehrt, da alle praftifhen Bernunftgründe aufgehört haben zu gelten.““) Und fieht man auf die Gründe des Aberglaubens, jo find e8 „an— genehme und den Sinnen fchmeichelnde Ceremonien und Kirchen- gebräuche, pharifäifche Heiligkeit, überfpannter Traditionsglaube, hierarchiſche Kunftgriffe, welche die Geiftlichen zur Befriedigung ihres eigenen Ehr- und Geldgeizes fpielen Laffen, zu große Be- günftigung jener fogenannten guten und frommen Abfichten, welche den Neuerungen und den ſelbſtgemachten Gulten die Thüre öffnen, anthropomorphifche Vorftellungen aller Art und

ben! Mit dem erften Ausfpruch beginnt ev feinen Verſuch gegen den Atheismus, mit dem andern feinen Verſuch gegen den Aberglauben. Welchen von beiden zog Bacon in der That dem andern vor? Man erwäge die Gründe, welche er beiden entgegenfeßt: er hat offenbar mehr Gründe und ftärlere gegen den Aberglauben als gegen den Atheismus. Damit ift der Widerfprud), der im feinen Worten eriftirt, in feinem Geifte gelöft, er eriftirt nur noch für dem oberflächlichen Leſer. Ich möchte den Schriftfteller kennen, der für einen ſolchen Lefer feine Wider- ſprüche hat. *) Serm. fid. XVII. De superstitione. Op. p. 1167.

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endlich barbarifhe Zeiten.” Man laſſe ſich nicht täufchen durch die Aehnlichkeit des Aberglaubens mit der Religion; ge- rade diefe Achnlichkeit macht ihn um fo viel häßlicher, „er verhält fih zur Religion, wie der Affe zum Menden”. „Ebenfo wenig‘, fest Bacon befonnen Hinzu, „ſoll man fid durch Furcht vor dem Aberglauben zu voreiligen Reformen hinreißen laffen. Bei Reformen in der Religion muß man, wie bei der Reinigung des Körpers, mit Vorfiht zu Werke gehen und nicht die gefunden Theile zugleich mit den verdor- benen wegichaffen; dies nämlich ift gewöhnlich der Fall, wenn Reformationen vom Haufen geleitet werden.” *)

Der Aberglaube, tyranniſch und felbjtfüchtig, wie er ift, haft feine Gegner und bezeichnet jeden, der ihm widerſpricht, mit dem Namen eines Atheiften. Man muß darum fehr vor- fihtig mit diefem Namen umgehen. Atheismus ift Gottlofig- feit; der wahre Atheismus ift die praftifche Gottlofigfeit, welche unter dem Schein der Religion die felbitfüchtigen Intereffen begünjtigt und dem Eigennutze dient, die theoretiihe Gott- Lofigfeit, der fpeculative Atheismus, ift überhaupt fehr felten. „Die wahren Atheiften, deren Anzahl groß ift, find die Heuch— fer, die das Heilige beftändig im Munde führen und die Ge- bräuche mitmadhen, ohne daß Herz und Sinn etwas davon weiß, jodaß fie zulegt-mit dem Brandmal auf der Stirn da- ſtehen.“**)

Bacon's religiöſer Charakter ſteht im Einklange mit ſeiner Philoſophie. Wir können auch über dieſen verborgenſten Punkt (denn die eigene religiöſe Geſinnung iſt eine Angelegenheit, des

) Ebend. Op. p. 1169. **) Serm. fid. XVI. De atheismo. Op. p. 1165 fig.

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Herzens) ein beftimmtes Urtheil fällen. Er war dem Aber- glauben, als der verunftalteten Religion des menſchlichen Wahns, gründlich abgeneigt und befämpfte ihn von ſich aus durch die wifjenfchaftliche, namentlich naturphilofophifche Aufklärung; er feste dem Atheismus wiffenfchaftliche Gründe entgegen, ohne Erbitterung. Die geoffenbarte Religion und die darauf ge- gründete Kirche erfannte Bacon an aus Gründen, welche feine theoretifchen Gefichtspunfte nicht Hinderten, welche feine praf- tifhen und politifchen Gefichtspunkte verlangten. Er wollte die geoffenbarte Religion wie die Naturwiffenichaft gereinigt wiffen von allen menfchlichen Idolen, in diefem Punkte dachte Bacon antikatholiſch als ein echter Nachkomme des reforna- torifhen Zeitalters; er wollte fie angenommen wifjen ohne logiſche Beweisform, in diefem Punkte dachte er antiſcholaſtiſch als der Begründer einer neuen Philofophie. Diefe Bhilofo- phie hatte feine Gründe, die den Sätzen der geoffenbarten Religion zu Beweifen dienen Fonnten, und Bacon war der Kopf, um diefes Nichtlönnen feiner Philofophie zu begreifen. Was fie der Religion allein bieten konnte, war die unbedingte formelle Anerkennung. Ich gebe zu, daß Bacon's perfünliche Stellung am Hofe Jakob's J., feine Rückſichten für den König, für die Zeitverhältniffe überhaupt und mancherlei Nebenmotive den Ausdrud diefer Anerkennung jehr begünftigt und oft ver- jtärft haben. Einer formellen Anerkennung wird es leicht, in allen Tonarten zu reden. Und Bacon redete bisweilen aud) die Sprache der Frömmigkeit. Was er in der Religion be- fümpfte, war die menjchliche Autorität; was er unbedingt an— erfennen wollte, war die göttliche. Freilich läßt ſich dagegen fragen, in welchen Punkt Bacon das entjcheidende Kennzeichen der göttlichen Autorität feste? Wenn ſich Bacon diefe Frage

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aufwarf, jo mußte er fie mit der Bibel beantworten und darüber mit feinen phyſikaliſchen Begriffen in manche Wider: fprüche gerathen. Aber die Frage der biblifchen Autorität nicht ernftlich zu unterfuchen, gehört zum religlöfen Charakter feines Zeitalter. Die formelle Anerkennung, welde Bacon der geoffenbarten Religion widmete, fchließt die innere Aner— fennung nicht aus; ich fage nicht, daß fie diefelbe beweift. Aber gewiß ift, daß ein Geiſt wie der feinige zu weit und umfafjend war für eine Aufklärung, die alles ſchlechtweg ver- neint, was fie nicht im Stande ift zu erklären; er überliek eine ſolche Aufklärung den Spätern, die enger und darum inftematifcher denken Fonnten als er. Indeſſen war die innere Anerkennung, welche diefer von wiffenfchaftlihen und prafti- ſchen Weltintereffen erfüllte Kopf für die Religion übrig be- hielt, weder eine eifrige noch tiefe Gemüthsbewegung. Sie war fühl wie alle feine Neigungen. Bacon's Glaube beruhte auf einem unterdrüdten Zweifel und behielt an diefem ein fortwährendes Gegengewicht. Sein eigentliches Intereſſe lebte in der Welt, in der Natur und Erfahrung; der religiöfe Glaube war und wurde nie der Schatz feines Herzens; dazu fehlte ihm das einfache und Findlihe Gemüth, das eigentliche Glau— bensgefäß. Er war wie überall fo aud in der Religion vom Zweifel: ausgegangen; wenn die Schrift über die chriftlichen Paradoren, die nad) feinem Zode erſchien, ihm wirklich ange- hört, jo beweift fie feine veligiöfe Skepfis.*) Er Tannte die Antinomien zwiſchen den religiöfen Offenbarungen und der menſchlichen Vernunft, bevor er fie durch einen Machtſpruch befeitigte. Durch negative Urtheile läßt fi Bacon's religiöfe

*) Christian paradoxes. 1645.

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Geſinnung am fiherften bejtimmen; fie war nicht Heuchelei, denn die Anerkennung war ihm ernft, fie war aud nicht Fröm— migfeit, denn die Weltintereffen lagen ihm mehr am Herzen, und es fehlte ihm von Natur alles, was in der Religion die Natur, um nit zu jagen das Genie, ausmacht: die naive Slaubensempfänglichkeit und das kindliche Glaubensbedürfniß. Denken wir uns feine religiöfe Gefinnung dem Unglauben näher als dem Aberglauben und gleichweit entfernt von Fröm— migfeit und Heuchelei, fo treffen wir fie an ihrem richtigen Orte, in einer Fühlen Mitte, welche wenigjtens ſehr nahe an Gleichgültigkeit oder Glaubensindifferenz grenzte, wenn fie nicht wirklich im? Indifferenzpunfte ſtand. Gemüthlid betrachtet, foftete ihm die Anerkennung, weldhe er der Religion zolite, nichts, nicht einmal eine BVerftellung. Seine Glaubensanfich- ten famen nicht aus der Fülle des Herzens, fondern waren eine wohlüberlegte und wohlbegründete Haltung; fie waren nicht Maske, fondern zeitgemäßes Coſtüm, weldes ihm natür- ih ftand, aber fie berührten ihn nicht tiefer.

ſSechzehnles Kapitel. Bacon und Joſeph de Maiſtre.

Aeußerlich aufgefakt und einfeitig beurtheilt zu werden ift das fehr begreiflihe Schickſal aller Philofophen. infeitige Urtheile, von einem fharffinnigen Kopfe gebildet, find immer beachtenswerth, denn fie jehen von der Eigenthümlichfeit des Philofophen ein Merkmal vor allen, und weil fie diefes be- fonders hervorheben, machen fie e8 bejonders fichtbar. Was nun Bacon’s religiöfen Standpunkt betrifft, fo ift es in der That ein intereffantes und lehrreiches Schaufpiel, die darauf bezüglichen Urtheile zu hören. Indem fie einen Standpunkt einjeitig auffaffen, der in feiner Natur doppeljeitig war, fo müffen fie einander auf das härtefte widerfpredhen. Alle mög: lihen, einander entgegengejegten Urtheile, die über Bacon’s Berhältniß zur Religion denfbarer Weife gefällt werden konn— ten, find wirklich darüber gefällt worden. Sie zeigen, welche Gegenſätze Bacon felbft in fich vereinigte. Mit ihm verglichen, find fie einfeitig; unter fich verglichen, bilden diefe Urtheile ein Exemplar von Antinomien. In Englands öffentlicher Mei— nung gilt Bacon gewöhnlich als ein echt kirchlich Gefinnter; das wird in Deutfchland von den Gelehrten, die das Thema berührt haben, ſtark bezweifelt, in Frankreich fo geleugnet, daß

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fie vielmehr das äußerſte Gegentheil religiös-kirchlicher Gefin- nung in Bacon behaupten. Aber aud in Frankreich, wo man fi) mit Bacon ungleich mehr befchäftigt hat als in Deutſch— land, find völlig entgegengefegte Stimmen laut geworden, deren Beifpiele wir vorübergehend vergleichen wollen.

Ih muß zuvor bemerken, daß die von Bacon eingeführte Trennung zwifchen geoffenbarter Religion und menfchlicher Bernunft bei den verfchiedenften Geiftern Eingang fand und völlig entgegengejegten Interejjen zum Ausdrud diente. Diefe baconifche Formel wurde begierig ergriffen von den Einen zum Schutze des Glaubens, von den Andern zum Schutze des Un— glaubens. So unterſcheiden ſich in dieſem Punkte das ſieb— zehnte und achtzehnte Jahrhundert. Wo ſich in dieſem die fortgeſchrittene Aufklärung noch der baconiſchen Concordien— formel bedient, da geſchieht es im entſchieden antireligiöſen In— tereſſe: ſie iſt der Religion gegenüber zu einer blos formellen Anerkennung geworden, von der man behaupten kann, daß ſie die innere ausſchließt, vielmehr deren Gegentheil verbirgt. In dieſer Form erſcheint das baconiſche Glaubensprincip bei Condillae, der die baconiſche Philoſophie auf die Spitze eines ausſchließenden und vollendeten Senſualismus ſtellte. Dagegen im ſiebzehnten Jahrhundert finden wir in Frankreich dieſelbe Trennung von Glaube und Vernunft zu Gunſten des Glaubens. Aber innerhalb dieſer poſitiven Glaubensſtellung iſt wiederum ein Gegenſatz möglich; denn es kommt an auf die Gründe, aus welchen man die Vernunft der geoffenbarten Religion opfert, ob es die Frömmigkeit thut oder der Zweifel. Die Frömmigkeit kann das Intereſſe haben, ſich in die göttlichen Offenbarungen zu verſenken, unbehindert und unbeirrt durch menſchliche Weisheit. Die ſkeptiſche Vernunft kann das In—

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tereffe haben, die Knoten des Zweifel mit dem Schwerte des Glaubens zu zerfchneiden, weniger um das Schwert des Glau- bens zu fchärfen, als um der Vernunft die Macht zu nehmen, ſelbſt ihre Zweifel zu löſen, d. h. um die Vernunft als jolche im Zweifel zu lafjen. Die Vernunft wird dem Glauben ges opfert, nachdem fie dejjen Widerſprüche von allen Seiten be- tradhtet und mit ffeptiihem Scarffinn analyjirt hat. Diefer Triumph des Glaubens über die Vernunft ift im Grunde der Sieg des Skeptifers; können nämlich nur jo die Zweifel ge- löſt werden, jo find fie in der That unlösbar, und damit hat der Skeptiker fein Spiel gewonnen. Woran er in Wahrheit glaubt, das ift die unfichere und ungewiffe Menfchenvernunft, das ift fein Glaubensinterefje: der Unglaube an die VBernunft- wahrheit, den er überfegt in den blinden Glauben an die Wahr- heit der göttlichen Offenbarung. Diefe beiden innerlich fo ver- ſchiedenen Glaubensintereffen, das religiöfe und das ffeptifche, ftügen fid) auf die baconifhe Trennung von Religion und Philofophie. Zwei der größten und interefjanteften Geifter des fiebzehnten Jahrhunderts behaupten jene Trennung zu Gunften des Glaubens, aber fo, daß ihre Glaubensinterejjen einander zuwiderlaufen, ein Janſeniſt und ein Sfeptifer: Blaife Pascal ift der eine, Pierre Bayle der andere. Nachdem die baconifhe Glaubensformel auf fo einfeitigen Standpunkten erjchienen, Hier dem Glauben, dort dem Unglau— ben zugefallen war, kann e8 uns nicht Wunder nehmen, daß man Bacon’s religiöfen Standpunkt jelbjt in ähnlicher Weife ein- jeitig auffaßte, daß ihn die Einen durch Pascal, die Andern durch Bayle, die Dritten durch Condillac vorftellten und erklärten. „Er war entſchieden ungläubig“, fo urtheilen Condillac und jeine Schule, die Encyklopädiſten und deren Epigonen, Mallet,

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der Biograph Bacon’s, Cabanis, fein Panegyrifer, Lafalle, jein Weberfeger, der geradezu erklärt, Bacon ſei im Herzen ein vollfommener Atheift gewefen und in feiner äußern An— erfennung der Religion nichts als ein Heuchler,und Höfling.*) Alle diefe Leute, die zu einer Geiftesfamilie gehören, ſehen in Bacon ihren Stammvater und beurtheilen ihn nad) der Fa— milienanalogie als einen ihres Gleichen. Indeſſen hören wir auf der andern Seite die entgegengefette Stimme: „er war entjchieden gläubig und devot“, fo urtheilt de Luc, der Inter: pret der baconifchen Philofophie, gegen welchen Lafalle den Unglauben Bacon’s vertheidigt. An de Luc jchließt ſich der Abbe Emery mit feiner apologetifhen Schrift über Bacon's Chriſtenthum (derfelbe, der Leibniz’s Gedanken über Religion und Moral erläutert hat.**)

Alle diefe Auffaffungen find einfeitig und viel zu vag, um Bacon's Geift zu erſchöpfen. Aber fie haben jede einen gewifjen Berührungspunft mit ihm gemein und treffen ihr Ziel in diefem einen Punkte, der freilich das Centrum nicht :ift. Am nächjten verwandt mit Bacon find (unter den Bezeichneten) Condillac und jeine Anhänger, die ſich zu ihm verhalten, wie etwa bei uns die Wolfianer zu Leibniz. Die Treidenfer wie die Gläubigen haben Bacon für den Ihrigen erklärt, indem fie ausjchlieglich die ihnen zugewendete Seite des BPhilofophen jehen. Was an Bacon dem Glauben ähnlicd) fieht, halten die Freidenker für nichtigen Schein, bloße Maske, gefliffentliche Heuchelei; Lafalle, der fich felbft „Bacons Kammerdiener“

*) Cabanis, Rapport du physique et du moral de l’homme. Lasalle, CEuvres de Bacon. Preface générale, p. 44.

**) De Luc, Precis de la philosophie de Bacon. Emery, Christianisme de Bacon.

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nennt, fpricht ungefcheut, wie ein Kammerdiener, von diejer partie honteuse feines Herrn. Was in Bacon dem Unglauben ähnlich jieht, nehmen feine gläubigen Bewunderer für unbe- deutende Aeußerungen oder für Irrthümer, die Bacon jelbjt eingefehen und mit der Zeit abgelegt habe. „Die Lobeser- hebungen, welche die Feinde der hriftlichen Religion auf Bacon häufen”, jagt der Abbe Emery, „haben uns beinahe dejjen Glauben verdädtig gemacht. Aber wie freudig überrajchte uns fein religiöfes Gefühl und feine frommen Ausſprüche!“ So hat Bacon unter den Ungläubigen wie Gläubigen feine Apo- logeten gefunden, oder, um moderner zu reden, die Advocaten, die für ihn plaidiren. Es fehlt, um die Gruppe zu jchließen, der Bolemifer, der advocatus diaboli, den wir Bacon gegen- über nur in einer gewiffen Claſſe von Menfchen juchen können, nämlich allein unter den Fanatikern; und hier findet fich wirk- lid) diefer advocatus diaboli, er fommt wie gerufen, in der Perfon des Grafen Joſeph de Maijtre, durd) den die fran- zöfifche Literatur in der Gruppe ihrer auf Bacon bezüglichen Schriften die Lücke der Polemik zu erfüllen wenigjtens den beiten Willen gehabt hat. Unter dem Titel „Prüfung der baconiſchen Philofophie” Hat Maiftre in zwei Bänden nicht die Bekämpfung, fondern die Vernichtung Bacon's verſucht.*) Er Hat infofern das Recht zu einer radicalen Polemik, weil jein Standpunkt den radicalen Gegenſatz zu dem baconifchen bildet. Nichts widerftrebte dem toleranten und phyfifalifchen Denker fo fehr als der religiöfe Fanatismus; Maiſtre ift ein Fanatiker. Keinem kirchlichen Standpunkte war Bacon feind-

*) Examen de la philosophie de Bacon, l’on traite differen- tes questions de la philosophie rationelle. (Euvr. posthume du comte Joseph de Maistre. 2 Vols. Paris et Lyon, 1836.

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licher entgegengefegt als dem katholiſchen; unſere Leer wer- den bemerkt haben, daß Bacon vom Katholicismus die Züge entlehnte, womit er den Aberglauben ſchilderte; Maiſtre ift nit blos Katholif in ultramontanem Verſtande, fondern ein jefuitifh gejinnter Katholik. Keinem wifjenfchaftlichen Standpunkte widerftrebte Bacon entjchiedener als dem ſcho— faftifhen, der die Theologie des Mittelalters ausgemacht hatte; Maiſtre ift ein Fünftliher Scholaftifer, da er ein natürlicher vermöge feines Zeitalters nicht fein Tann, er ift Romantifer, einer von Denen, die durch eine politifche Re— ftauration mit den Einrichtungen des Mittelalters künſtliche Belebungsverfuche anftellen. Er nimmt alfo feinen Gefichts- punkt jenfeitS der baconifchen Philofophie auf einer Bildungs- stufe, die Bacon Hinter ſich hat; das ift für die Polemik des Grafen de Maiftre eine unglüdliche Stellung, fie fieht ihr Ob- ject nur von Hinten und fie beurtheilt Bacon, wie fie ihn fieht. Bergleihen wir beide, jo find ihre Standpunkte ent- gegengejeßt, nicht ihr Zeitalter. Bacon's Gegenfak zur Scho- laftit war natürlich, nothwendig und entjchieden; Maiſtre's Gegenfat zu Bacon ift Fünftlich, gemacht, ſchwankend, und weil er der entfchiedenfte fein will, fo wird er im höchſten Grade heftig, ungerecht, unfinnig. Das verdirbt und vergiftet von vornherein den Kreuzzug, welchen der franzöſiſche Romantifer des neunzehnten Jahrhunderts gegen den englifchen Philofophen des fiebzehnten predigt.

Was de Maiftre an der baconiſchen Philofophie am we— nigften vertragen kann, ift die Trennung zwiſchen Philofophie und Religion, Wiffenfhaft und Theologie, weldhe Bacon ein- führte; was ihn am meiften in der baconiſchen Philofophie empört, ift die Herrfchaft der Naturphilofophie und Phyſik, der

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untergeordnete Rang, der den moralifchen und politischen Wiffen- chaften übrig gelaffen wird. „Den Naturwiffenfchaften gehört der zweite Platz; der Vorſitz gebührt mit Recht der Theologie, Moral, Politik. Jedes Volk, welches diefe Rangordnung nicht jorgfältig einhält, befindet fich im Zuftande des Ver— falls.”*) Dem NRomantifer jchweben die Kirchenväter und Scholaftifer vor, die im Intereffe und zum Beſten der Kirche philofophirten. Er behauptet gegen Bacon eine Ähnliche Ein- heit zwifchen Religion und Philofophie, aber er läßt fich hin- reißen, diefe Einheit durch Gründe zu vertheidigen, welche nicht der Scholaftif, fondern der Aufklärung angehören. Man traut feinen Augen faum, wenn ein de Maiftre für die Ueberein- ftimmung zwifchen Offenbarung und Bernunft Argumente vor- bringt, die Leffing gebraudt hat. Er jpridt von dem erzie— hungsmäßigen Gange der göttlichen Dffenbarungen, ihrem natürlichen Verhältniß zur Faffungskraft des menfchlichen Ver- ftandes: wie jede Offenbarung eigentlich nichts fei als eine zeitiger mitgetheilte Wahrheit, eine pädagogifch geleitete Auf- Härung.**) Was ein de Maiftre allein durd die Autorität der Kirche vertheidigen follte, vertheidigt er aus rationellen Gründen, die ihm eine außerlirchliche Aufklärung an die Hand ‚giebt. Indem der moderne Diplomat gegen Bacon die Partei der Scholaftik ergreift, wird er ein Romantiker; indem er fie

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*) Examen de la phil. de Bacon, tom. II, chap. II, p. 260.

*) ‚Die Offenbarung wäre nidtig, wenn nidt nad) der göttlihen Belehrung die menjhlihe Vernunft im Stande wäre, ſich jelbft vie geoffenbarten Wahrheiten zu bemweijen: wiedie mathematifhen oderalleandern menſch— lihen Lehren erft dann als wahr und gültigerfannt find, wenn die Bernunft fie geprüft und wahr befunden hat.‘ Bd. I, ©. 22.

Fiſcher, Bacon, 28

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vertheidigt und ihren Advocaten macht, wird er ein Sophift und verfällt dem Schickſale aller feiner Partei und Geiftes- genoffen. Geftügt auf die gefchichtliche Autorität, welche die Gewalt für fid) hat, können diefe Leute triumphiren; geftütt auf Vernunftgründe, opfern fie charakterlos ihre Grundjäge und müffen fo unterliegen, daß fie dem Feinde freimillig ihre Waffen ausliefern. Uebrigens ift Bacon Feineswegs das aus— Ichließlihe Ziel für die Polemif de Maiftres. In ihm will er ein ganzes Gefchlecht, ein ganzes Zeitalter vernichten: das achtzehnte Jahrhundert mit den Trägern der franzöſiſchen Auf- färung. Jeder Schlag, den Bacon von den Händen de Maiftre’8 empfängt, foll zugleich Condillac und die Enchklopä— diften treffen. Maiſtre's Buch gegen Bacon ift eine Kriegs- erklärung der franzöfiihen Romantik des neunzehnten Jahr— hunderts gegen die franzöfifhe Aufklärung des achtzehnten: „Bacon war das Idol des adhtzehnten Jahrhunderts, er war der Großvater Eondillac’s, er muß nad) feinen Ablömmlingen, nad) feinen geiftigen Wahlverwandticdhaften beurtheilt werden, und diefe find Hobbes, Locke, Voltaire, Helvetius, Condillac, Dide- rot, d'Alembert u.f.f. Bacon hat die Grundfäge der Ench— Hopädiften gemacht, diefe haben Bacon's Ruhm verbreitet und ihn auf den Thron der Philofophie erhoben. Er war der Urheber jener „Theomiſie“, die den Geift des achtzehnten Yahr- hunderts erfüllt hat.“*) ——

Dies iſt nach Maiſtre Bacon's geſchichtliche Bedeutung; ſie ift unleugbar eine große und weitreichende. Um fo mehr liegt dem Gegner der Aufklärung daran, diefen Charakter auf feinen wahren Werth zurücdzuführen, da fi von ihm ein

*) Tom. I, p. 27, 13, vgl. chap. VII.

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feindliches Iahrhundert herleitet. Wir fuchen aus den langen Ziraden die charakteriftifchen Züge zufammen, um unfern Lejern zu zeigen, wie fi) Bacon in dem Kopfe de Maiſtre's abbildet. Es ift eine menſchenunähnliche Caricatur, die nicht ihren Ge- genftand abjcheulich, fondern ihren Urheber lächerlich mad. Der Fanatismus verwüftet jedes Talent, fogar das Talent, die Dinge zu verzerren, er vertilgt die legte Spur natürlicher Aehnlichkeit, weil er felbft mit der Natur nichts mehr gemein hat.

Maiftre ſchätzt vor allem fein Object nad) dem römiſch— fatholifchen Gefichtspunft, welchen er den chriftlicd) -veligiöfen neriht. Wie erfcheint ihm Bacon unter diefem Gefihtspunft? Er war, wofür ihn die Enchflopäbdiften erflärten, ein Un- gläubiger, „ein Gottlofer“, fagt de Maiftre, „ein entjchiedener Atheift”. Aber er Hat dody dem Glauben das Wort geredet und denfelben in feiner Mactvolffommenheit unbedingt aner- fanıt? „Um fo ſchlimmer“, fagt de Maiftre, „er war alfo zugleich ein vollendeter Heuchler.*) Hier fommt ihm Lafalle fehr zu ftatten, der auch feinen Herrn und Meifter, wie er Bacon nennt, für einen Atheiften unter hypokritiſcher Masfe erflärte. Wo aber find für de Maiſtre die Kriterien von Bacon’8 Unglauben und Heuchelei? Hier ift eine Föftliche Probe, wie fein de Maiftre diefe Kriterien aufzufpüren weiß; einem folhen Spürorgan fonnte freilich Niemand entgehen. Bacon jagt im 29. Aph. des zweiten Buches feines Organons: „man müſſe auch die ungewöhnlichen Naturerfcheinungen, die Misgeburten, u. f. f. beobachten und fammeln, aber mit Vor- fiht, und für befonders verdächtig müſſe man diejenigen hal—

*) Tom. II, p. 13, 18 und viele a. St. 28*

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ten, deren Erzählungen von irgend welchem religiöfen Urjprunge jeien, wie die Prodigien beim Livius.“*) Diefen Sa nimmt Maiftre gefangen, hier muß ihm Bacon feinen Atheismus und feine Heuchelei in einem Athemzuge befennen. Die angeführte Stelle redet von ungeheuerlihen Naturphänomenen, das find nit Wunder, ſondern Monftra, wie fie Bacon aud nennt; was dieſe betrifft, will er den vreligiöfen Grzählungen, welche e8 auch feien, nicht unbedingt geglaubt wiffen. Halt! ruft de Maiftre, das ift eine Blasphemie! Bacon meint hier das ChriftenthHum, er Läftert die heilige Religion, er ift ein Undrift, ein Atheift! Aber Bacon fett Hinzu: „wie 3.3. die Wundererzählungen des Livius , ev citirt noch weiter die Leute der Magie und die alchymiſtiſchen Schriftſteller, ſeine Seele denkt nicht an die chriſtlichen Wunder, die gar nicht unter die betreffende Kategorie fallen! „Seht!“ ruft de Maiſtre, „den Heuchler, er meint das Chriſtenthum und citirt den Livius! Seht, wie ſich der geſchickte Komödiant augenblicklich zu deden weiß, indem er den Living vorfchiebt! Ich muß ihm das Wort der Frau von Sevigne zurufen: «Schöne Maske, ich fenne dich»! Er Hat gejagt: «man joll, was die Monftra betrifft, den religiöfen Erzählungen nicht unbedingt glauben, welche es auch feien.» Das Wort iſt gejchrieben, es fteht da: melde e8 auch feien! Er meint alle, alfo auch die chriſtlichen.“**) Weil Bacon die Glaubwürdigkeit der Monftra bezweifelt, befonders in den Erzählungen religiöfen Urfprungs, darum gilt er in den Augen de Maiftre’s für einen Undhriften; weil er fi) dabei an den Livius hält, für einen Heuchler.

*) Nov. Org. II, 29. **) Jos. de Maistre, tom. II, p. 317, 318, Anm. 2.

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Und was ift Bacon in der Wiſſenſchaft nah dem Ur— theile deffen, der ihn foeben in der Religion als einen Gott- lojen und Heuchler entlarvt Hat? „Er predigt“, jagt de Maijtre, „die Wiſſenſchaft, wie feine Kirche das Chriftenthum ohne Miffion!”*) Der Graf de Maiftre erlaube ung, bei diefem Ausfprudhe mit der Frau von Sevigne ihm zu jagen: „Maske, wir kennen dich!“ Was er in Bacon be- fümpft, ift nicht blos der Großvater Condillac's, das Idol des achtzehnten Sahrhunderts, dev Philofoph, jondern der Proteftant! Daß ein Proteftant, ein Glied der abtrünnigen Kirche, dev Mutterkirche den Dienft der Philofophie gefündigt, die Hegemonie der Wiffenfchaften übernommen und dem Pro- teftantismus zugeführt hat, diefe unbequeme Thatſache fällt dem Fanatiker des Katholicismus, dem romantiſchen Schola> jtifer, dem Diplomaten der Reſtauration zur Laft und er möchte diefen Stein feines Anftoßes wegräumen. Bacon Hatte zur Reformation der Wilfenfchaften ebenfo wenig Beruf als der Proteftantismus zur Reformation der Kirche: das Heißt in de Maiftre’s Sprade, er hatte feinen; das heißt in der unfrigen, ev hatte einen ebenfo großen, und für diefen großen Beruf zeugen uns die drei Jahrhunderte, welche der Prote- ftantismus beftanden und gewirkt hat. Bacon war nad) dem Urtheile de Maiftre’s fein wifjenfchaftliches Genie. Warum? Weil er ſelbſt Feine Entdedungen gemacht, fondern nur über die Kunſt, Entdedungen zu machen, gefchrieben hat, weil er der Theoretifer diefer Kunft war.*) Das heißt, dem Aeſthe— tifer vorwerfen, daß er fein Künftler if. Wenn man von

*) Ebend. tom. I, p. 83. **) Tom. I, chap. II.

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den DObjecten nur jagen will, was fie nicht find, jo kann mar viel über fie veden; die Zahl ſolcher unendlichen Urtheile, wie fie die Logif nennt, ift ſelbſt unendlich, die Logik follte die Beifpiele folder unendlichen Uxrtheile, die eigentlich Feine find, aus unfern Kritikern ſchöpfen. Was endlid) war Bacon, wenn er ein wiffenfchaftliches Genie jo wenig war, als ein Aeſthetiker Künftler? Er war, entjcheidet de Maiftre, ein belle triſtiſcher Schriftiteller der Leichtfertigiten und roheften Art, ohne eine Spur von Driginalität, denn feine Sprache win: melt von Gallicismen!*) Seine Liebe zu den Wiſſenſchaf— ten war eine unglüdliche, zeugungsunfähige Liebe: die Verliebt- heit eines Eunuchen!“*) Seine fogenannte Philofophie iſt ein geiftlofer Materialismus, ſchwankend und haltungslos in feinem Ausdrud, frivol in feiner Gefinnung und voller Irrthum in alfen feinen Behauptungen. Auch nit ein Fünkchen Wahr- heit will de Maiftre in Bacon anerkennen, er verfichert ihn wiederholt feiner tiefſten Verachtung. Man fieht, daß man es mit einem Raſenden zu thun Hat, der fich mit jedem Worte mehr in die befinnungslofe und darum Lächerlihe Wuth Hin- einredet und unter dem Namen Bacon’s eine Vogelſcheuche mishandelt, die fein eigenes ungejchictes Werk ift, wenn man Süße, wie folgende, Lieft: „Der Gefammteindrud Bacon’s, der mir nad) forgfältiger Prüfung übrig bleibt, ift ein durch— gängiges Mistrauen und darum eine vollkommene Beratung; ich veradhte ihn in jeder Beziehung, ſowohl wenn er Ja, als wenn er Nein jagt.” „Bacon irrt, wenn er behauptet; er irrt, wenn er verneint; er irrt, wenn er zweifelt; er irrt mit einem

*) Tom. I, p. 97. > **) Tom. II, p. 365.

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Worte überall, wo es Menſchen möglih ift zu irren.‘ *) Und ber Grund diefer durchgängig falfchen und verderblichen Philofophie war jo eitel und verächtlich als fie ſelbſt. Es war nichts als die Neuerungsſucht, „die Krankheit des Neolo- gismus“**), die Bacon und die gefammte neuere Philofophie in England, Frankreich und Deutjchland verführt hat: es war lediglich die Sudt, dem Alten zu widerfprechen, die allen ſo— genannten Syſtemen der neuern Philofophie ihr eintägiges Dafein und den Urhebern derfelben die Tagesberühmtheit ver- liehen hat, welche der Graf de Maiftre mit dem Hauche feines Mundes vernichtet. Sein unwilliger Blick trifft nicht ohne Bedauern auch den größten und fehwierigjten Denker der neuern Philofophie, unfern Landsmann Immanuel Kant, in der Reihe der Neologen. Es ift ergöglid, einen Kant vor dem Richter: ftuhle eines de Maiftre zu finden, und noch ergößlicher, das Urtheil zu hören, welches dem größten der Philofophen von diefem befangenften der Richter gefprodhen wird. Kant hätte nad) der Meinung de Maiſtre's ein Philofoph fein können, wenn er fein Charlatan gewejen wäre. Die unübertreffliche Stelle lautet: „Wenn Kant einfältigen Sinnes einem Blato, Descartes, Malebranhe nachgegangen wäre, fo würde die Welt längft nicht mehr von Locke reden, und Frankreich hätte fich vielleicht ſchon eines Beſſern belehrt Hinfichtlic feines trau- rigen und lächerlichen Condillac. Statt deſſen überließ ſich Kant jener unfeligen Neuerungsfuht, die Niemand etwas zu verdanken haben will. Er redete wie ein dunkles Drafel. Er wollte nichts wie andere gewöhnliche Menfchen fagen, fondern

*) Tom. II, p. 326, 363. **) Tom. II, p. 364.

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erfand fich eine eigene Sprache, und nicht genug, daß er ung zumuthete, deutjch zu lernen (in der That, diefe Zumuthung war jchon ziemlich jtarf!), wollte er uns jogar nöthigen, den Kant zu lernen. Was ift die Folge gewejen? Unter feinen Landsleuten hat er eine flüchtige Gährung erregt, einen künſt— lihen Enthufiasmus, eine fcholaftifche Erfehütterung, die ihre Grenze allemal am rechten Ufer des Rheins gefunden, und fobald die Dolmetſcher Kant’s ſich über diefe Grenze hinaus- wagten, um vor den Franzofen das ſchöne Zeug auszuframen, haben fich diefe nie enthalten Fünnen zu lachen.‘ *)

Ich beforge ernftlih, dak dem Grafen de Maiftre bei den Landslenten Bacon’d und Kant’s etwas Aehnliches begegnen wird, und zwar werden wir über ihn aus ganz andern Grün- den lachen als die Franzofen über Kant, nicht auf unſere Koften, fondern auf die feinigen.

*) Tom. I, p. 12, 13. Ueber 3. de Maiftre's politifch-Fiterarifche Stellung vgl. Gervinus' „Geſchichte des neunzehuten Jahrhunderts‘, Bd. J, S. 379 fg; Bd. II, ©. 73.

Siebjehntes Kapitel. Bacon und Bayle, Die religiöfe Aufklärung.

Wir haben gefehen, welcherlei Motive Bacon’s religiöſen Standpunkt bewegen und eine Richtung bejchreiben Tafjen, die aus dem Zuſammenwirken verjchiedener Kräfte erkannt fein will und falſch beurtheilt wird, wenn man fie aus einer Duelle alfein ableitet, fei e8 des Glaubens oder des Unglaubens. Mit der Erfahrungsphilofophie, die Bacon begründet, find auch die Bedingungen zu einer Geftalt veligiöfer Aufklärung gegeben, deren Grundzüge Bacon ebenfalls vorbildet. Seine natürliche Theologie enthält ſchon den Keim zu dem fpätern Deismus feiner Landsleute, der gegen die pofitive Religion eine Fritifche und im Fortgange abgewendete und feindliche Stellung einnimmt. Zwar wollte Bacon dem Offenbarungs- glauben von Seiten der Philofophie eine Anerkennung einge- räumt haben, die alle Vernunftkritik ausfchließt, er Hatte die blinde Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben gefor- dert, aber zugleich die freie Bewegung der Wiſſenſchaft in ihrem eigenen Gebiet gegen die Eingriffe der Religion ver- theidigt und die Macht des Staates über die Kirche für noth- wendig erklärt. Die Kirche foll anerkannt fein, aber nicht herrſchen, Bacon verlangte die Vernichtung der Glaubens-

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herrfchaft, die Geltung der Glaubenstoleranz, und welche Stellungen auch die Aufflärung in England und Frankreich gegenüber der gejchichtlichen Religion eingenommen hat, fie hat in jeder gegen die Glaubensherrfchaft geeifert und die Glau- benstoleranz gefordert. Nicht Hobbes, fondern Bacon ift der Erſte gewejen, der das Schwert der Kirche aus den Händen der Priefter in die des Staats gelegt wifjen wollte, und jchon vor Locke hatte er den Grundfaß der Duldung ausgeſprochen und im Intereffe der Wiſſenſchaft erhoben.

Aber aus dem baconifhen Standpunkte läßt fich neben dem Deismus und der Toleranz auch der entfchiedene Unglaube ableiten, welcher in England und namentlich in Frankreich der baconifchen Philofophie nachfolgt. Der Unglaube, der die religiöfe Vorftellungsweife überhaupt verneint und abwirft, ift jtets im Gefolge einer materialiftifhen Denkart, und in Bacon jelbft ift diefe Hinneigung zum Meaterialismus fo bemerkbar als erflärlich, fie ift nur verdedt und gleichfam überbaut durd) die Metaphyſik, auf welche fich die natürliche Theologie, diefer Anfag zum Deismus, gründet; fein Geift lebte in der phyſi— falifhen Betradhtung der Dinge, die er grumdfäßlich auf den Weg der mechanischen, atomiftifchen, materialiſtiſchen Erklä— rung verweist; wenn er wählen ſoll zwifchen Aberglauben und Atheismus, fo wählt er den letztern aus allen möglichen Grün— den. Der Zeitpunkt wird kommen, wo die Philofophie ihre formelle Anerkennung der pofitiven Religion fallen läßt und ihre naturaliftifche Denkweife dergeftalt ausbreitet, daß Meta— phyſik und natürliche Theologie jede Art der Geltung verlie- ren. Dann wird der Atheismus nicht blos dem Aberglauben vorgezogen werden, fondern offen an die Stelle der Religion felbft treten,

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Dergleihen wir Religion und Bhilofophie im Sinne Bacon’s, jo fpringt ihre Unverträglichkeit in die Augen: Re— ligion ift ihm göttliche (übernatürlihe) Offenbarung, Philo— fophie Erklärung der Natur; der Grund der Offenbarung ift die göttliche Willfür, die gar feine Nothwendigkeit hat, das Naturgefeß der Dinge die mechaniſche Nothwendigfeit, welche alle Zwecthätigfeit, um fo mehr jede Willfür ausschließt: die Philofophie weiß nichts von Willlür, die Religion nichts von Nothwendigkeit. Konnte Bacon einmal für die Religion kei— nen andern Grund ausfindig machen, als die göttliche Willkür, jo hatte er Recht, ihre Unbegreiflichkeit an die Spike zu jtel- len; konnte die Vernunft, wenn fie die Religion unterfucht, hier nur Widerfprüce auffinden, welche aufzulöfen fie fchlechter- dings unvermögend war, fo Hatte Bacon Nedht, diejen ziel- lojen Streitigkeiten, diefem unfruchtbaren Hin= und Herreden zwifchen Gründen und Gegengründen dadurd ein Ende zu machen, daß er der Vernunft jede Einrede verbot und ihr die unbedingte Anerkennung der göttlichen Glaubensdecrete zur Pflicht madhte. Man muß nur deutlich begreifen, auf welcher Bildungsstufe innerhalb der baconischen Philofophie die menſch— liche Vernunft jteht, welchen Werth fie der Religion auf der einen und fich felbit auf der andern Seite zuerfennt. Die Religion gilt ihr als ein pofitives Glaubensſyſtem, zufammen- gejegt aus göttlichen Statuten, welche die Willfür oder Gottes grundlojer Rathſchluß angeordnet hat. Und was gilt die Ver— nunft ſich ſelbſt? In allen natürlihen Dingen ift fie Erfah: rung, in allen übernatürlichen Dingen hört mit der Erfahrung auch die Vernunft und alles wohlbegründete Schließen auf, fie wird jenfeits der Erfahrung gänzlich) Haltungslos und ergeht ſich Hier in leeren Streitfragen, in unfrudhtbaren und

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endlojen Wortgefechten; der Natur gegenüber wird die menſch— lihe Vernunft zur erfahrungsmäßigen Wiſſenſchaft, der Re— ligion gegenüber zum Naifonneur, zum animal disputax; in der Religion herrjcht gebieterifch die göttliche Willfür, in der Religionsphilofophie herrſcht mit ihren leeren Vorſtellungen die menfchliche Willfür. So fieht Bacon die Sache, fo. ftehen hier Religion und Vernunft einander gegenüber; wenn er alfo der Religion die Vernunft unterwirft, jo heißt das fo viel als der göttlihen Willfür gegenüber die menfchliche zum Schwei- gen bringen. Und vorausgejegt einmal, daß die Werthe auf beiden Seiten fid) fo verhalten, wie Fonnte er anders zwiſchen beiden entjcheiden? Die Vernunft fchließt, jeder Vernunft: Ihluß verlangt einen Oberfag, eine Regel, ein Geſetz; die Geſetze der Natur müſſen wir finden, denn fie find in den Dingen verborgen; die Gefege der Religion müffen wir an: nehmen, denn fie find von Gott offenbart. Es ift der Ber: nunft erlaubt, aus diefen Gefegen zu fchließen, aber nicht die- jelben zu verändern oder zu prüfen, fie find die ewig feiten Regeln, welche von der Vernunft gebraucht, aber nicht ge- macht werden. Welche Geltung Bacon diefer Art eines fecun- dären Vernunftgebrauch8 in religiöfen Dingen einräumte, ſagte er in einem fehr charakteriftiichen Bilde: es follte fih nad feiner Meinung mit der Religion verhalten wie mit einem Spiel, man dürfe die Geltung der Spielregeln nicht beanftan- den oder umjtoßen, wenn man mitfpielen wolle, wohl aber - dürfe man diefe Kegeln vernunftgemäß anwenden, benußen und feine Schlüffe darnad) einrichten. Die Religion fei ein Spiel, defjen Regeln die göttliche Willkür feitgeftellt und durd) Dffenbarung den Menſchen mitgetheilt habe; wer ſich an ihr betheilige, müfje ihre Regeln einfah annehmen wie fie ge-

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geben jeien, und die eigene Vernunft feft an deren Richtſchnur binden. *)

Diefe PVergleihung der Glaubensftatute mit Spielregeln war von Bacon naiv gemeint, aber im Grunde frivol umd für die Ehrmwürdigfeit des Glaubens feineswegs zuträglid); man verfuchte ſehr bald, auf dem Schachbret jo zu jpielen, daß die menſchliche Vernunft der Religion „matt!“ zurufen fonnte. Die Religion mit einem Spiele vergleichen, hieß in der That, die Religion aufs Spiel fegen, und die Philofophie, die von Bacon ausging, überredete ſich ſchon nach wenigen Zügen, ihr Spiel gewonnen zu haben. Wie auf dem baco- nischen Standpunkte Religion und Vernunft gefaßt und gegen- einander gejtellt waren, fo bilden fie einen natürlichen Wider- ftreit, der zwar durd) ein Machtgebot niedergehalten, durch) eine formelle Anerkennung befeitigt, aber Feineswegs verhehlt wurde. Die formelle Anerkennung ftüßte fi) zum großen Theil auf praftifhe Gefichtspunfte, politifhe Rückſichten, ſub— jective Gründe, die nicht aus der Philofophie ſelbſt Hervor- gingen; es waren Nothftügen, die jehr bald fallen mußten, mit ihnen fällt die baconifche Glaubensftellung, das Band zerreißt, welches Religion und Vernunft zufammengehalten hatte, fie trennen ſich und ihr innerer Gegenſatz tritt hervor in der Antipathie unverträglicher Denkweifen. Das ift das Thema, das fi) in der Fortpflanzung der baconifchen Philo- jophie weiter und ſchärfer ausbildet: entweder muß die Philo- fophie an fi) oder am Glauben verzweifeln, entweder verliert die menſchliche Vernunft oder die pofitive Religion ihre Glaub-

*) ©. oben Bud) II, Cap. IX, ©. 324 fig. Vgl. Cap. XV, ©, 402—410. De augm. scient. Lib. IX. Op. p. 260.

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würdigfeit, entweder Fehrt die Vernunft fich ffeptifch gegen fich jelbft oder ungläubig gegen die Religion. Von den beiden Mächten fteht nur eine noch feit. Die Feſtigkeit der geoffen- barten Religion erjchüttert die Grundlagen der Philofophie, den Glauben an die Sicherheit der menjhlichen Vernunft; die Sicherheit der letztern erjchüttert das Anfehen der pofitiven Religion, und zwar bildet die Skepſis, die noch auf einen Augenblick den blinden Glauben unterftügt, den Uebergang zum Unglauben: diefen Durchgangspunkt im Fortgange der baconifchen Philofophie bezeichnet Pierre Bayle, er ift das Mittelglied zwifchen Bacon und der franzöfiichen Aufklärung, er fteht im Wendepunkt des fiebzehnten und achtzehnten Sahr- hunderts.

Bayle macht, wie Bacon, die Vernunftwidrigkeit zum Bejahungsgrunde des Glaubens; er betrachtet, wie jener, den Widerſpruch zwiſchen Religion und Vernunft als unlösbar, weil er ebenfalls die Quelle der Religion in der göttlichen Willkür, die Quelle der menſchlichen Vernunft in natürlichen Geſetzen findet. Die abſolute Willkür eines unbedingten We— ſens und die natürlich bedingten Erkenntnißkräfte des Menſchen erlauben keinen Vergleich, ſtehen in keinem Vernunftverhältniß, und am wenigſten können die Acte der göttlichen Willkür von dem menſchlichen Geiſte begriffen werden; ſie verlangen blinden Glauben und blinden Gehorſam. Jeder Verſuch einer Ver— nunftkritik der poſitiven Glaubensmaterien kann nur die Wider- ſprüche beider klar machen: gerade darin beſteht Bahle's ori— ginelle und merkwürdige That, daß er dieſe Widerſprüche erleuchtet und allen Scharfſinn aufwendet, den Proceß zwiſchen Glaube und Vernunft zu articuliren und. fo durchzuführen, daß er offen zu Tage liegt; er läßt die Vernunftwidrigkeit

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des Glaubens, die Bacon einfach behauptet hatte, Punkt für Punkt auftreten ſowohl in theoretifcher als praftiicher Hinficht. Er wird, was Bacon nicht war, ein Kritiker des Glaubens, Die Frömmigkeit erfcheint auf praftifchem Gebiet als Heilig- feit, auf theoretifchen als Anerkennung der geoffenbarten Heils- wahrheit. Bon der Heiligkeit zeigte Bayle, daß fie die Probe der natürlihen Moral nicht aushalte, von den geoffenbarten Slaubensobjecten, daß deren Anerkennung mit der menfchlichen Vernunft ftreite. Seine Glaubenskritik verfuhr in baconifcher Weife: fie bewies den Widerſpruch zwifchen Heiligkeit und Moral, Dffenbarung und Vernunft, indem fie denfelben an bejtimmten Fällen hervorhob und alſo auf dem Wege der Induction darftellte; durch negative Inftanzen widerlegte er die Uebereinftimmung, welche zwifchen Religion und Philofophie gelten ſollte. Daß der heilige Charakter nicht zugleich der fittliche fei nad) den Vernunftbegriffen der natürlichen Moral, zeigte er an dem Leben biblifcher Perjonen, wie 3. B. des Königs David*); daß die pofitive Glaubenslehre nicht zu— gleich Vernunftlehre fei und niemals werden könne, zeigte er an dem Dogma von der Erlöfung dur die Gnadenwahl Gottes, von dem Siündenfall des Menfchen nad göttlichen Rathſchluß. Der menfhlihe Sündenfall war für Bahle die negative Inftanz gegen alle rationale Theologie. Wie diefe auch die Sünde nad) göttlihem Rathſchluß erklären mag, jedem ihrer Ausſprüche und Wendungen widerftreitet ein Vernunft⸗ jag. Die Thatſache des Sündenfalls mit dem Heere mora- fifcher Uebel, welche nachfolgen, erjcheint ihm fchlehterdings unerflärlid. Entweder ift der Menfch nicht frei, dann ift

*) Dictionnaire historique et critique. Art. David.

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jeine Handlung niht Sünde, oder er ift frei, dann hat er jeine Freiheit von Gott; entweder wollte Gott die Sünde, was feiner Heiligkeit widerftreitet, oder er wollte fie nicht, fondern verhielt fich dagegen zulaffend, d. 5. er Hinderte nicht, daß fie gefhah; entweder alfo wollte fie Gott nicht hindern, fo war er nicht gut, oder er konnte fie beim beiten Willen nicht Hin- dern, fo war er nicht allmächtig. Von allen Seiten fieht ſich die Vernunft in ein Labyrinth von Widerfprüchen eingejchlof> jen, fobald fie den Sündenfall, das moralifche Uebel in der Welt, zu erklären ſucht. Ohne Sünde feine Erlöfung, ohne Erlöſung keine hriftliche Religion, deren geoffenbarte Glaubens⸗ wahrheiten daher undurchdringlid find für die menjchliche Bernumft. Dur die philofophifchen Säge, neunzehn an der Zahl, welde Bayle den fieben theologifchen entgegenftellt, will er die Unverträglichkeit beider, die Unmöglichkeit einer ratio- nalen oder natürlichen Theologie bewiefen haben. Das Er- gebniß feiner Glaubenskritif ift der nicht zu Löfende Wider- ſpruch zwifchen Offenbarung und Vernunft. Aber damit will Bayle nicht dem Anfehen der Offenbarung, fondern der Ver— nunft den Fall bereiten. Die Vernunft foll ſich der Religion unterwerfen, fie foll blind glauben und aus allen Wider- ſprüchen, welche fie jcharffinnig entdeckt hat, nur ihre eigene Nichtigkeit, ihre Ohnmacht eingefehen Haben, die Religion zu erflären und durch Vernunftgründe zu beweifen; nicht der religiöfe, fondern der philofophifche Skepticismus ift das Ziel womit Bahle feine Unterfuchungen fchließt: ihm gilt der Zwei- fel, womit die Vernunft ſich ſelbſt zurüczieht und bejcheidet, als die wahrhaft chriftliche Philofophie.*) Praktiſch meinte

*) Dict. hist. et crit. Art. Pyrrhon.

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e8 Bayle gewiß ehrlich mit feiner Entfcheidung, er wollte als ein guter Calvinift gelten und blieb, um als folder leben zu fünnen, gegen feine Neigungen in einem freiwilligen Exil; auch entſprach die Philofophie, weldye in der Sfepfis endet und beharrt, feiner Geifteseigenthümlichkeit, die bei ihrer ency- flopädifchen Ausbreitung, bei ihrem Intereſſe für die Hifto- riſche Mannichfaltigkeit, bei ihrer vorzugsweise kritifchen Stim- mung fein bindendes Syſtem vertrug. Aber eben dieje kriti— ſche Neigung, die Bahle mit einer fehr ausgedehnten Gelehr- famfeit verband, ließ nicht zu, daß im ihm das religiöfe Glaubensintereſſe ein wirkliches Herzensbedürfnig ausmachte. Seine Confeffion war ihm werth, aber das Glauben jelbit lag nit in feiner Gemüthsverfaffung und vertrug fich nod) weniger mit dev Art feiner Bildung. Nachdem er fein Friti- ſches Gelüfte befriedigt, jeine Zweifel ausgelaffen, die Wider- ſprüche aufgededt und verdeutlicht Hatte, welche die Philofophie gegen die Glaubensfäte einwendet, wurde es ihm leicht, von der Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben zu reden, Seine Vernunft Hatte ihr letztes Wort geſprochen, das letzte Wort war der Widerſpruch zwifchen Glaube und Vernunft: die VBernunftwidrigfeit des Glaubens. Mehr wußte Bahle ſelbſt niht. Er konnte den Widerſpruch nicht löſen, ſondern nur auffinden und Hinjtellen, diefer Widerfprud) war ihm ernft, fein Geift bewegte ſich mit raftlojer Behendigkeit zwifchen Religion und Philofophie, wie zwifchen den fpeculativen Sy— jtemen; er ſelbſt war der lebendig gewordene Widerfpruc) zwifchen Glaube und Vernunft, der Leibhaftige Widerfpruchs- geift, der, ohne fich untreu zu werden, alle Einwände gegen den Glauben mit einem Sclage in Widerfprüche gegen die

Bernunft verwandeln fonnte, ja jogar, um ſich treu zu bleiben, Fiſcher, Bacon. 29

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verwandeln mußte. So allein wird Bayle richtig verjtanden, und fo verftanden darf er weder ernjthaft gläubig noch ernit- haft ungläubig genannt werden: er war durchgängig ffeptifch, er blieb auch in der Religion ein Skeptiker, und wenn er hier feiner fein wollte, fo war er e8 gegen feinen Willen, er konnte nicht anders. Was ihm allein feitftand, war die Unmöglid)- feit, jene Zweifel zu löſen, welde die Vernunft in die Glau- bensfragen einführt, diefe Unmöglichkeit nannte er blinden Glauben; aber ein Glaube, der aus der Ohnmacht entiteht, welcher Art fie auch fei, wird mit feinem Urfprunge Eines gemein Haben: er wird ſchwach fein. Die Schwäche der Ver— nunft macht den Glauben nicht ftark, den fie begründet oder einräumt; der Zweifel an der Vernunft macht unfern Glauben an die geoffenbarten Wahrheiten nicht ficher. Es gibt einen Glauben, der durd ſich jelbjt jtarf genug ift, um Vernunft und Wiffenfchaft nicht zu bedürfen, und der niemals nad ihren Zweifeln und Einwänden frägt; diefer bedürfniglofe, urjprüng- lie, kindliche Glaube iſt feiner felbjt gewiß, mag ihn die Bernunft bejahen oder verneinen; ihn fümmert es nicht, was die Vernunft dazu jagt, ob fie ihn mit einem „weil“ begrün- det oder mit einem „obgleich“ einräumt. Zu diefen Glüd- lichen gehörte Bayle nicht, fein Geift war fo reich, jo man— nichfaltig, fo zerjtreut, daß er unmöglich einfach) genug werden fonnte, um in das Himmelveih des Glaubens einzugehen. Der Glaube kann ftarf und Lebendig fein, wenn auch die Ver— nunft ſchwach ift, aber durch die Schwäche der Vernunft kann er nicht ftart werden. In Bayle’s Glaube ſteckt der Zweifel als Erbtheil, er ijt eine Geburt der zweifelnden Vernunft, da— her werden die Gläubigen wohl thun, wenn fie einen jolchen Bundesgenoffen wie Bayle vorfichtig vermeiden. Der Glaube,

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welchen die Sfeptifer aus der Philofophie der Keligion an: bieten, ift ein Danaergefchenf, weldyes die Keligion beſſer ab- lehnt; Bayle's Glauben in das Chriftentfum aufnehmen, hieße in der That, das hölzerne Pferd nach Troja bringen, und man wird jehen, was über Nacht aus dieſem Glauben hervorgeht: nichts als zerftörende Zweifel! Nachdem Bayle den Glauben kritiſch zerjegt und aufgelöft hat, kann er ihn ſo— wenig ins Leben zurüctufen, als der Anatom im Stande ift, aus dem zerjtücten Organismus wieder einen lebendigen Kör— per zu machen, oder es müßte mit Hülfe der Medea geſchehen, ich weiß nicht durch welche Zauberei. Mit einem Worte: Bahle's Glaube iſt nichts als der veränderte Ausdruck des Zweifels, und die Unmöglichkeit, worauf er fid) gründet, ift in ihm ſelbſt eine Unfähigkeit, die er beim beiten Willen nicht in eine Fähigkeit verwandeln konnte, auch nicht in die Fähig- feit zu glauben. Verglichen mit Bacon, verlangt zwar Bahle aus denfelben Gründen diefelbe Unterordnung der Vernunft unter den Glauben, aber das Bewußtfein, womit die Vernunft diefe ihre Unterthänigkeit ausſpricht, ift in beiden ein fehr verjchiedenes; fie fernen beide den Widerſpruch zwifchen Reli— gion und Philofophie, aber Bacon ſetzt jid) darüber hinweg, während fic) Bayle Hineinbegiebt und den Abgrund zwijchen Glaube und Vernunft mit geometrifcher Genauigkeit ausmißt, er weiß von dem Widerfpruche beider weit mehr zu jagen als Bacon, in demfelben Grade ift das Bewußtjein, womit fid) Bayle dem Glauben unterwirft, weniger naiv und eher ge- neigt, ironifc) zu werden. Bacon wollte der Religion nicht widersprechen, Bayle widerfprady ihr wirklich; jener hielt zu— rück, was er dagegen hätte vorbringen können, diefer nahm

zurüc, was er dagegen vorgebradht hatte, er widerrief feine 29 *

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Oppofition, freiwillig und aufrichtig, aber jie war bereits fer- tig und ausgemacht, er konnte fie wohl ungültig, aber nicht ungejchehen machen, er Fonnte die ausgeſprochenen Zweifel nicht vergeſſen, dieje jcharfen Züge auf der Tafel feines Gei- ftes nicht mehr auslöfchen und mit aller Gewalt nicht glau- bensjtarf werden, nachdem er einmal gegen den Glauben feinen Scarffinn Hatte jpielen lajjen. Daß Bahle zuletzt fein wollte, wozu er fich ſelbſt die Möglichkeit genommen hatte, diejer innere Widerjpruch legt in fein Glaubensbefenntniß einen iro— nifhen Zug; nicht den Glauben, fondern ſich ſelbſt ironifirt Bayle, indem er die Waffen der Philofophie ftredt. Und daß fein Glaubensbekenntniß aufrichtig gemeint war, dadurd) wird diefe Selbjtironie feineswegs aufgehoben, jondern vielmehr verjtärkt, indem fie verfeinert wird. In diefer Beziehung ur- theilt Feuerbad) fehr richtig: „Der Sfepticismus war für Bayle eine hiftorifche Nothwendigkeit; er war die Conceffion, die er dem Glauben machte; er mußte der Vernunft ihre Tugenden als Fehler anrechnen. Das Bewußtjein der Stärke der Ver— nunft ſprach ſich ironifc) demüthig unter dem Namen ihrer Schwäche aus.“*)

Man kann in Wahrheit den Glauben nicht feindſeliger verneinen, als wenn man ihn auf ſolche Weiſe und aus ſolchen Gründen bejaht, nämlich durch ſeinen Widerſpruch gegen die Vernunft. Was bleibt der Wiſſenſchaft übrig, wenn ihr jede Möglichkeit genommen wird, ſich durch Vernunftgründe den Glauben anzueignen, von ſich aus einen Weg zu finden, der in die Religion einmündet? So wie Bacon und Bayle Glaube

*) Pierre Bayle, Ein Beitr. zur Geſch. der Philofophie und Menjchheit, von 2. Fenerbach. Sämmtl. Werke, Bd. VII, ©. 220.

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und Bernunft einander entgegenftellen, bleibt dieſer nichts übrig als entweder die unbedingte Anerkennung oder die un: bedingte VBerwerfung des Glaubens, es bleibt ihr nichts übrig als die völlige Verzichtleiftung entweder auf ſich oder auf die Religion. Eines ift unmöglich: daß die Vernunft wirklid) blind glaube. Wenn fie nicht überhaupt blind ift, jo kann fie gewiffen Dingen gegenüber nicht blind werden. Und weder Bacon noch Bahle Fonnten den ernftlihen Willen haben, die Bernunft blind zu machen, fie, die fich beide jo ſehr darum bemühten, ihr die Augen zu öffnen. Alſo mit dem blinden Glauben, den beide verlangen, kann es zulett Feine andere Bewandtniß haben, als daß die Vernunft der Religion gegen: über, da fie nicht blind ift, ſich blind ftellt, daß fie die Blinde jpielt. So führt die baconifhe Philofophie in ihrem Fort— gange nicht zum Glauben, jondern zum Sceinglauben, zu einer äußern Anerkennung, hinter dev fich entweder die eigene Ueberlegenheit um jo ficherer fühlt oder eine kalte Gleichgültig— feit verborgen hält. Dieſer Sceinglaube ift entweder Sronie oder Indifferenz, wenn er nicht Heuchelei ift. Will aber die Wiffenfchaft eine ſolche hohle und unwürdige Form nicht er: tragen, fo kann fie auf baconifher Grundlage der pofitiven Keligion gegenüber nur noch den Standpunkt der vollen Ber: werfung ergreifen. Unter demfelben Kriterium als ihr die Dffenbarung vorgejtellt und übergeordnet worden, verneint ſie jeßt das pofitive Glaubensſyſtem; aus dem ſcheinbaren Be- jahungsgrunde des Glaubens macht fie jett deijen ernftlichen und durchgreifenden DVerneinungsgrund; unter der Führung Bacon’8 und Bahle's wird die Aufklärung, wenn fie nicht ironisch, gleichgültig oder heuchlerifch fein will, vor aller Welt vollfommen ungläubig, die Neligion wird in ihren Augen ein

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Truggebilde, entweder Aberglaube oder Sceinglaube. Ueber: zeugt davon, daß fie felbjt heucheln müffe, um den Glauben an göttlihe Dffenbarungen zu befennen, ift diefe Aufklärung ebenfo überzeugt, daß alle heucheln und geheuchelt haben, die jemals folde Dffenbarungen glaubten; wie fie felbjt den Glauben, wenn fie ihn nicht offen verwirft, nur als Schein vor ſich Herträgt, jo meint fie, fei zu allen Zeiten derſelbe nichts al8 Schein gewefen. Da den Sceinglauben alle wah— ven Gründe fehlen, fo erklärt man ihn aus nichtigen Grün— den, aus felbftfüchtigen und eigennüßigen. Wie diefe Aufflä- rung felbjt nur um äußerer Zwede willen jenen Glauben an- nehmen könnte, fo meint fie, fei er ſtets nur um äußerer Zwede willen, nur aus weltlichen Abjichten befannt worden. So verwandelt fich im Geifte der baconifchen Aufklärung die geoffenbarte oder gefchichtlihe Religion in ein Gebilde des menfhlihen Wahns, ihre Erflärungsgründe in ein Spiel felbft- jüchtiger Triebfedern, die ganze Gefchichte der Religion in einen Pragmatismus von „Aberglauben, Heuchelei und Priefter: betrug“, mit einem Worte, in eine Krankheitsgefchichte des menfchlichen Geiftes. Im diefer Stimmung gegenüber der Religion findet fich die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts in England und befonders in Frankreich, fie hat fih in allen jenen Rollen vernehmen Laffen, welche Bacon und Bayle zwar nicht vorfchrieben, aber als die einzig möglichen übrig ließen: da fie den blinden Glauben nicht annehmen Fonnte und in ihrer Denkweiſe Feine Anlage zur Religion fand, fo hat fie mit diefer ihr Spiel getrieben, fie bald mit überlegener Ironie, bald mit vornehmer Gleihgültigfeit behandelt und unter Um— ftänden wohl auch geheudelt.e Wollte fie einmal in ihrer Weife ehrlih und kritiſch verfahren, jo behandelte fie die

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pofitive Religion fo verädtlih als möglich und erklärte die— jelbe der Art, daß nichts übrig blieb als „Aberglaube, Heu- chelei und hierarchiſche Kunftgriffe‘‘; fie verwandelte, was als göttlihe Offenbarung galt und geglaubt wurde, in ein Spiel menfchliher Willkür. Ihre Erklärungen der gejchichtlichen Religion waren ebenfo negativ als oberflächlich und feicht, fie fonnten nicht anders fein unter dem von Bacon und Bayle gegebenen Kanon, daß die Vernunftwidrigfeit der göttlichen Dffenbarung deren Glaubwürdigkeit befräftige. Diefe Formel war doppelfeitig: die pofitive Seite enthüllte ji) in Bacon und Bahle, die negative Kehrfeite in Bolingbrofe und Vol: taive.*) Hatte Bacon gejagt: „Je vernunftwidriger das gött- liche Myſterium ift, um fo mehr muß es zur Ehre Gottes geglaubt werden“, jo jagten jene: „um jo mehr muß man es zur. Ehre der menjchlihen Bernunft verwerfen“, Im dem Lichte diefer Aufklärung erſcheint jener baconifche Ausſpruch, der die Glaubensſätze mit den Spielregeln verglich, verhäng- nißvoller und bedeutfamer, als er gemeint war. Bolingbrofe und Boltaive mit ihrem ganzen Gefolge dachten jich wirklich die Religion als ein Spiel, dejjen Regeln unter dem Scheine göttliher DOffenbarungen die menfchlihe Willkür ſelbſtſüchtig erfunden habe, und fie erklärten die Religion, wie jic diefelbe vorftellten. Die Religion jo erklären, hieß damals die Welt über die Religion aufklären.

So jteht das Verhältniß zwifchen der pofitiven Religion und der baconifhen Aufklärung. Es ift nur der Ausdrud

*) Voltaire, Examen important de Milord Bolingbroke. (Euvr. compl., tom. 41. Hemarques critiques sur les pensees de Pascal, ton. 40, p. 395.

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diefes Verhältnifjes, den wir darjtellen. Wie ſich eine Philo- fophie zur Religion verhält, daraus läßt fid) ihre Denkart erkennen: auf welcher Höhe fie fteht, wie weit ihr Geſichtskreis reiht, wie tief fie eindringt in die Natur der Dinge, vor Allem in die menfchlihe Natur. Wenn die Religion der Träger ift des gefchichtlichen Lebens im Großen und die Philo- ſophie der Träger der wiffenfchaftlichen Bildung im Ganzen, fo darf man den Sat aussprechen: wie ſich die Philofophie zur Religion verhält, jo verhält fie fich zur Gefchichte; ift fie unfähig, die Religion zu erklären, fo ift jie ohne Zweifel zur Geſchichtserklärung überhaupt nicht gemacht, fie wird nie die fremde Gemüthsverfaffung und deren Zriebfedern begreifen und immer das fremde Zeitalter nad) der Analogie ihres eigenen beurtheilen und meistern, und das ijt ebenfo faljch, al8 wenn die Dinge in der Natur, wie Bacon zu jagen pflegte, nicht „ex analogia mundi”, fondern „ex analogia hominis“ betrachtet werden. Die Philofophie ift unfähig, die Religion zu erklären, wenn fie diefelbe entweder als Aberglaube berneint oder aus Triebfedern ableitet, die alles find, nur nicht religiöfer Natur. So urtheilte die englifch- franzöfiiche Auf- Härung in ihren freiejten Köpfen, ihre Denkweife war von Natur ungefhichtlih oder gejhichtswidrig; fie war in ihrem Urfprunge darauf angelegt, Religion und Philofophie, Dffen- barung und Natur, Glaube und Vernunft zu trennen und innerlich zu entzweien. Die Trennung, welde Bacon und Bayle in diefem Punkte vollzogen, war in der That eine innere, vollftändige Entzweiung, die bald auch zu der ent- jprechenden äußern Entzweiung führen mußte. Die Religion als Mittelpunkt des gefchichtlichen Lebens lag für die baconi- jche Denkweiſe jenfeits der Vernunft; jo jtand diefe Vernunft

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ſelbſt jenfeits der Gejchichte, fie war in ihren Begriffen cbenfo ungeſchichtlich, als ihr die Religion in ihren Offenbarungen unvernünftig erſchien. Die Religion erſchien ihr nur theo— logiſch, ſie ſelbſt war nur naturaliſtiſch. Und wie die Reli— gion, ſo war die Geſchichte überhaupt für dieſe Philoſophie das Ding an ſich, die Grenze ihres Verſtandes; jene Grenze, welche Bacon und Bayle zwiſchen Religion und Philoſophie aufgerichtet hatten, bildet in Wahrheit die Grenze ihrer Philo— ſophie und ihrer Vernunft gegenüber der Geſchichte. Und es iſt klar, warum der baconiſche Verſtand dieſe Grenze haben mußte, ſein Zweck iſt die nützliche Weltkenntniß, das utiliſti— ſche Wiſſen, ſeine wiſſenſchaftliche Methode die experimentelle Erfahrung; verglichen mit jenem Zweck muß die Religion als ein gleichgültiges Ding, verglichen mit dieſer Methode als ein irrationales erſcheinen. Die realiſtiſche Philoſophie war ſchon in ihrem Urheber der Religion fremd und abgewendet, dieſe fremde Denkweiſe wurde in Bacon's Nachfolgern eine feind— liche, deren innerſter Grund von Seiten der Philoſophie kein anderer war, als die Unfähigkeit, geſchichtlich zu denken. Anders urtheilte aus andern Geſichtspunkten die deutſche Aufklärung, die ſchon in ihrem Urſprunge auf eine Vereini— gung von Offenbarung und Natur, Glaube und Vernunft Bedacht nahm. Hier ſteht unſer Leibniz im Gegenſatz zu Bacon und Bahle; dieſen ſeinen Standpunkt zu vertheidigen und auszuführen, ſchrieb er die Theodicee; gewiß war dieſes Buch nicht das tiefſte und erſchöpfende Zeugniß ſeiner Philo— ſophie, welche bis zu dieſem Augenblicke nur von wenigen richtig erkannt iſt, aber es hatte ſeinen guten Grund, daß die Theodicee die populärſte ſeiner Schriften und ein Leſebuch des gebildeten Europa wurde, fie war direct gegen Bahle gerichtet,

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eine Confejjion des deutjchen Geijtes gegenüber dem englijch- franzöfifhen. Was Bayle als die negative Inftanz gegen alle Religionsphilojophie, gegen allen Vernunftglauben Hingejtellt hatte, den menjchlihen Sündenfall, das Uebel in der Welt, ſuchte Leibniz zu erklären, jeine Theodicee war die einzige Er- flärung, womit damals die Philojophie der Religion die Hand reichte. Mit diefer Bereinigung war es Leibniz auch in feinen tiefften Begriffen ernjt; er hatte die Idee einer Vernunft— religion, welche ſich dem pofitiven Offenbarungsglauben nicht entgegenjeßte, jondern denjelben ſich aneignen und in gewiſſer Weife reguliren wollte. Aber hatte Bacon nicht aud) diefen Gedanken einer „natürlichen Religion oder Theologie?” Nur den Namen, nicht dem Weſen nad. Was Bacon natürliche Religion nannte, war die Vorftellung Gottes, getrübt durd) das Medium der Dinge, die Erfenntniß vom Dafein Gottes, gejhöpft aus der Beobadhtung einer zwedmäßig geordneten Natur, ein bedenfliher Schlußſatz, gezogen aus bedenflichen Prämiffen! Und alle Bedenken diefer Art bei Seite gefekt, fo war die natürliche Religion, wie Bacon fie nahm, eine Be- trachtungsart des menfchlichen Verſtandes, ein Stück Philo- jophie, aber keinerlei göttlihe Offenbarung, wie Leibniz fie anfah. Ihm galt der Begriff Gottes als eine Urthatſache in unferer Seele, als eine dem menſchlichen Geift angeborene bee, die unmittelbar von Gott felbft Herrührte; daher war, was er natürliche Religion nannte, die natürliche Offenbarung Gottes im menſchlichen Geift, die mit den gefhichtlichen Offen- barungen unmöglih im Widerftreit fein Fonnte, oder Gott jelbjt hätte fich widerfprochen. Darım machte Leibniz in ge- wiffer Weife die natürliche Religion zum Kriterium der ge-

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offenbarten, ev wurde der pofitive Kritifer des Glaubens, wie Bahle der negative Was der menfhlihen Vernunft in der pofitiven Religion widerſprach, follte nicht geglaubt, was fie überftieg, follte anerkannt werden; er unterſchied zwifchen dem Uebervernünftigen, wie er e8 nannte, und dem Widervernünf- tigen: eine im Geiſte feiner Philofophie Teineswegs leere und unbegründete Unterfcheidung. Bacon und Bayle Fonnten fie nicht machen, fie fetten da8 Uebervernünftige gleich dem Wider- vernünftigen und machten diefes zum Kennzeichen der Glau— bensobjecte, weil fie alle geoffenbarte oder pofitive Religion aus der göttlichen Willkür ableiteten, die ohne jede beſtimmende Nothwendigkeit, alfo grundlos oder vernunftwidrig Handelt. Ganz anders dachte Leibniz. Er rechnete mit dev göttlichen Weisheit, und das war bei ihm fein bloßes Wort für eine erbauliche, im Uebrigen unverftändliche Eigenfhaft, fondern die Seßung eines Verftandes, dem die Vorjtellung dev ſtufen— mäßig entwidelten Welt mit der größten Deutlichkeit ihrem ganzen Umfange nach inwohnt. Darin lag jchon die Aufgabe, die pofitiven Religionen als geſchichtliche Entwicklungsſtufen zu denken, alfo vernunftgemäß zu begründen, womit der Streit zwijchen Vernunft und Offenbarung auf den Weg der Aus: föhnung einging. Aber bevor diefes Ziel hervortrat, kam es auch innerhalb der deutfchen Aufklärung zu einer Entgegen- jtellung der natürlichen und pofitiven Religion, e8 folgte aud) hier eine Phaſe der Aufklärung, die in jenen Gegenfat gerieth und ihn fo ernithaft geltend machte, daß alle Wahrheit nur auf der einen Seite fich finden follte und deren völliges Gegen theil nur auf der andern. Solange die natürliche Religion als die einzig mögliche und wahre galt, wie e8 die wolfiſche

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Berjtandesaufllärung forderte, mußte der pofitive Offenbarungs: glaube als eine Scheinreligion angejehen werden, die ic bei näherer Beleuchtung in ein Getriebe lauter weltlicher und felbit- fühtiger Motive auflöfte. Aber die religiöfe Natur eines ge— Ihichtlich gewordenen und befeftigten Glaubens läßt fich nicht vor dem Kichterituhl der gewöhnlichen Logik nad) den Satze des Widerſpruchs ausmachen, der nad) dem Schema: „ent weder wahr oder falſch“ urtheilt, jondern eine ſolche Glaubens— art will aus ihrem Urfprunge, aus den Bedingungen und der Eulturverfaffung ihres Zeitalters erfaßt und verjtanden fein. Mit dem eigenen Zeitalter und deffen Denkweife verglichen, erfcheint die pofitive Religion nicht als Gegenfat, fondern als Element und Grundlage diefer menſchlichen Bildungsitufe. Nun war die deutjche Aufklärung ihrer ganzen Anlage nad dazu berufen, gefhichtlih zu denken, fie zeigte dieſe Anlage ſchon in Leibniz, fie löfte und entwidelte diefelbe in Windel: mann, Leffing und Herder, nachdem fie zuvor in Reimarus den Gegenjat zwifchen Vernunft und Offenbarung zum vollen Austrag gebradht Hatte. Und vor allen war es Leſſing, der den gejchichtlichen Verſtand der deutſchen Aufklärung frei machte und in feiner „Erziehung des Menſchengeſchlechts“ den Gang der pofitiven oder geoffenbarten Religionen aus der Natur der menschlichen Entwicklung vechtfertigte,

Wie Leibniz unter feinen Zeitgenoffen zu Bayle jtand, ähnlich ftand Leſſing unter den feinigen zu Voltaire; und wie fi) jener von Locke und Bayle, diefer von Voltaire unter- fcheidet, fo unterjcheidet jich die deutjche Aufklärung von der englifch= franzöfifchen. Ihre Grundlagen waren jo verjchieden als die Bölfer. Die von Bacon begründete Philofophie be—

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freite den natürlichen Verſtand, gab ihn unter die Richtſchnug der Erfahrung, die auf die Äußere Natur der Dinge gerichtet war umd diefe um jo gründlicher zu erfaffen meinte, je völ- liger fie dabei von der geiftigen Natur des Menfchen abjah. Unter diefem Gefichtspunfte mußte der Fortgang von der Naturgefchichte zur Menjchengefchichte unerleuchtet bleiben, die ganze Erfahrung war nad) baconifcher Methode grundſätzlich fo eingerichtet, daß fie die Brüde zur Menſchengeſchichte Hinter fid) abgebrochen Hatte und in den Gefichtsfreis, den fie be— fhrieb, blos die Naturgefchichte einfaßte. Das neue Organon war nicht darauf angelegt, die Weltgefchichte zu umfaffen und deren beide Reiche, Natur und Menfchheit, aus dem Grund- gedanken einer gemeinfamen Weltentwidlung abzubilden. Diefer Grundgedanke trug die leibnizifhe Philofophie, die im bewußten Gegenfat zu Bacon und Descartes die Natur nad) menfchlicher Analogie vorftellte als ein Stufenreich von Bildungen, das auf die Menjchheit und deren Entwiclung zuftrebt. Die Natur, wie fie Leibniz betrachtet, präformirt die Eulturgefhichte, indem fie den Menjchen organifirt, darım it hier die Naturphilofophie Schon in ihrem Urjprunge darauf angelegt, Gejchichtsphilofophie zu werden. Eben diefe Anlage fehlt der baconifchen Lehre und muß ihr fehlen. Man wende mir dagegen weder Bacon’s vortrefflice Vorſchriften zur Ge- Ihichtsjchreibung noch feine eigenen Gefchichtswerfe ein, denn ih rede jetzt nicht von feinen Neflerionen und Beſchäf— tigungen, jondern von der grumdfäßlichen Einrichtung feiner Philojophie und der darin angelegten Weltanfhanung. Die- jer Weltanfchauung fehlte die philofophifche Vorftellung der Weltgefchichte, das gejchichtsphilofophifche Denken, der ge:

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rächichtliche Verſtand. Und Buckle Hat in dem Eingange ſei— nes befannten Werks ganz richtig bemerkt, daß Bacon wohl über Geſchichte gefchrieben, fie aber nicht als ein Haupt- object genommen und offenbar lange nicht jo viel Nach—

denfen auf fie verwandt habe, als auf andere Gegen- jtände.

Achtzehnles Kapitel,

Die baconiſche Philoſophie in ihrem Verhältniß zur Ge— ſchichte und Gegenwart. Bacon und Macaulay.

Es iſt zur Charakteriſtik der baconiſchen Lehre wichtig, daß wir den eben bezeichneten Mangel näher verfolgen, denn ihre Vergleichung mit der Aufgabe der Geſchichtserklärung läßt deutlich erkennen, daß ihr zur Löſung derſelben die Grund— bedingungen fehlen und wo Bacon ſelbſt Hand an die Sache legt, er mit ſeiner eigenen Methode in Widerſtreit geräth.

Wenn die Erfahrungsphiloſophie fo weit reichen ſoll, als das Gebiet der wirflihen Thatfachen, fo erjtredt fich ihre Aufgabe ohne Zweifel aud auf das Gebiet der culturgefchicht- lihen Dinge, die als Werke des menfchlichen Geiftes und be- dingt ſtets durch die Grundlage religiöjer Gefittung nur erklärt werden können, wenn man diefen ihren Urjprung, die Natnr des Geiftes und der Religion zu erleuchten weiß. Bacon hat beides unerforichlic und dem Lichte feiner Philofophie unzu— gänglicd) gefunden, offenbar ſtößt er hier an die Schranfe jei- ner realiftifchen Denfart, indem er im Umfange derfelben die Nothwendigfeit einer Aufgabe anerkennt und zugleich das Un- vermögen, fie wirklich aufzulöfen, einfieht; er hat die Forde—

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rung, die gefhichtlihen Erfcheinungen auch der geiftigen Natur zu erklären, geftellt, durch Vorſchriften, die nit ſachgemäßer fein konnten, verdeutlicht, aber Feineswegs erfüllt; fo oft er das geſchichtliche Gebiet betrat, hat ſich Bacon weniger erflä- rend als befchreibend verhalten, und wo er fi an geſchicht— lichen Objecten erflärend verfuchte, da waren dieſe Verſuche nicht blos mit der geſchichtlichen, ſondern auch mit feiner eige- nen Erflärungsmethode im augenfcheinlihen Widerfprud. Diefe hatte den richtigen Grundſatz, in der Auslegung nit die Dinge nad) uns, fondern uns nad) der Natur der Dinge zu richten, daher auch die menſchlich-hiſtoriſchen Erſcheinungen mit ihrem eigenen Maße zu mefjen und aus ihrem Zeitalter Heraus zu beurtheilen. Aber von diefem Grundfag, den er jo drin- gend empfahl, befolgte Bacon in feinen eigenen gejchichtlichen Erklärungen das Gegentheil, er beurtheilte die frühern Phi- loſophen, insbejondere Plato und Ariftoteles nicht nach ihrem eigenen Zeitalter, jondern Lediglih jo, daß er fie mit feinen Begriffen verglich: was diejen zu entfprechen jchien, wurde bejaht; was widerjprach, wurde verneint und als Verkehrtheit verworfen. Er madte feine Philofophie zum Maße aller übrigen, er beurtheilte und erklärte die gefchichtlichen Erfchei- nungen der Wiſſenſchaft lediglich nad) diefer Analogie, die nicht jubjectiver fein konnte; ebenjo erklärte er „die Weisheit der Alten”, er fette von den alten Mythen voraus, fie feien Parabeln, von diefen Parabeln fette er voraus, daß fie ge- wife natürliche und moralifche Wahrheiten ſinnbildlich dar- jteliten, denen er feine eigenen moralifchen und phyſikaliſchen Begriffe unterfchob, fo follte die Fabel vom Eros mit Demo- frit’8 Naturphilofophie und diefe mit der feinigen übereinjtim- men. Was aber find diefe Vorausfegungen anders als eine

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Reihe von „Verſtandesanticipationen“, die an Willkürlichkeit mit einander wetteifern? Solche Anticipationen machte derfelbe Bacon, der doch an die Spike feiner Erflärungsmethode den Sat geftellt hatte: feine „anticipatio mentis“, fondern nur ‚nterpretatio naturae”, völlig vorurtheilsfreie und natur- gemäße Auslegung dev Dinge! Darf von diefem Grundjat irgend eine Ausnahme gelten? Wenn feine, warum machen die Mythen bei Bacon felbft eine joldhe Ausnahme? Er erklärt jie durch vorgefaßte Begriffe, durch Anticipationen der will» firlichiten Art. Seine Erklärung verwandelt diefe Dichtungen in Gemeinpläte und begreift nichts von ihrer lebendigen Eigen: thümlichkeit, nihts von ihrem gefchichtlichen Urfprung, nichts von ihrem poetifchen und nationalen Charakter, Aus der Poefie wird durch diefe allegorifche Erklärung Profa, aus der griechifchen Dichtungsweife eine ungriechifche Denkweife. Außer: dem iſt jede allegorifche Erklärung als ſolche teleologifch, denn fie jieht und erklärt von ihrem Objecte nichts als den didaf- tiichen Zwed, die Tendenz, welche fie felbjt entweder unterlegt oder herausnimmt; jede Fabel Hat ihre Moral, fie ijt ein Zwedproduct und will als folches erklärt fein, aber Bacon verwarf ja in der methodifchen oder jtreng wiljenfchaftlichen Erflärungsmweife alle Zeleologie: warum erklärte er die Dich— tungen der Alten nur teleologifsh? warum jah er in den My— then nur Fabeln? oder bejjer gejagt, warum machte er aus den Mythen Fabeln durch eine jehr naturwidrige und gewalt- jame Erklärung, indem ev ihnen Zwede unterfchob, die fie augenfcheinlich nicht Hatten? Warum überhaupt galt ihm die Allegorie als die Höchfte aller Dichtungsarten? Die Allegorie it ein profaifches Zwedproduct, das poetifche Werk ift ein Genieproduc. Das geniale, dichterifhe Schaffen ift dem Fiſcher, Bacon, 30

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natürlichen am nächſten verwandt, die Werke der Natur wollte Bacon ausdrüdlid nicht durch zwecthätige Kräfte erklärt wiſ— jen, und doch jollten nad) ihm einer reflectirten Zweckthätigfeit die höchſten Werfe der Poeſie gelingen? Man fieht, wie naturlos und naturwidrig feinen eigenen Begriffen nad) Ba- con das Wefen der Poefie auffaßte, wie wenig er deren natür- (ihe Duelle erfannte. Die ſchaffende Phantafie begriff er nicht, die Iyrifche Poefie galt ihm als gar feine und die alle- gorifche als die hödhjite.*)

Der bezeichnete Widerfpruh liegt deutlich am Tage. Bacon's geſchichtliche Erklärungen und Urtheile widerſprechen der von ihm ſelbſt eingeführten wiſſenſchaftlichen Erklärungs— methode; dieje will die Thatfachen der Wirklichkeit aus ihren Urſachen begreifen, aber jie begreift nicht die Duelle der Poeſie, des Bewußtſeins, der Religion; fie verlangt eine Erflärung der Dinge ohne alle jubjective VBorurtheile, ohne alle menfd)- (ihe Analogien, aber Bacon’s geſchichtliche Erklärungen und Urtheile ftehen unter dem ausſchließenden Maßſtabe feiner Philofophie. So erklärt er die Dichtungen und fo beurtheilt er die Syſteme der Vergangenheit. Soll man jagen, daß er diefe Widerfprüche Hätte vermeiden, daß er feine wiſſenſchaft— liche Methode auf die gejchichtlihen Dbjecte mit größerer Treue und mit mehr Erfolg hätte anwenden können, daß er nur durch einen zufälligen Mangel Hinter feinen eigenen Grund- fügen zurücblieb? Dies wäre ebenfo voreilig als unrichtig geurtheilt. Vielmehr müſſen wir jagen, daß die baconifche Methode ſelbſt zur Gefchichtserflärung nicht ausreicht, daß fie der gejchichtlichen Realität nicht gleichfommt, daß fie grund-

*) Bgl. oben Bud) II, Gap. VII, ©. 269—83.

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ſätzlich Begriffe ausſchließt, welche geichichtlichen Kräften ent= iprechen; daß Bacon im Grunde feine Methode bejaht, indem er Scheinbar ihren oberjten Borichriften zumwiderhandelt. Seine Methode ift berechnet auf die Natur, die fid) vom Geifte fo- weit al8 möglich unterfcheidet, auf die geiftlofe, mechanische, blind wirkende Natur, auf die Natur, die man durch das Er- periment zwingen fann, ihre Geſetze zu offenbaren, die fich durch Hebel und Schrauben ihre Geheimniſſe abgewinnen läßt; diefe Methode will nichts fein als denkende Erfahrung, fie vereinigt Verſtand und finnliche Wahrnehmung und jchließt grundfäglich die Phantafie aus von der Betrachtung der Dinge. Was aber durch Phantafie gemacht ijt, kann das ohne Phan— tafie erklärt werden? Kann eine Erklärung, die ſich grundfäg- (ih aller Phantafie entichlägt, noch pajjen auf Poefie und Kunft? Sie möge Mafchinen erklären, aber nicht Dichtungen. Kann ohne Phantafie die Religion, ohne Religion die Ge- Ihichte erklärt werden? Läßt fich die Gefchichte, der lebendige Menfchengeift beifommen durch Erperimente? Durch welches Erperiment entdeckt fich die bildende Kraft in den Dichtungen Homer’s, in den Statuen des Phidias ?

Die baconifhe Methode felbjt ift in gleichem Grade naturgemäß und gefchichtswidrig. Wo die Natur ihre Schranfe hat gegenüber dem Geijt, eben da liegt die Schranke der baco- nifchen Methode, ic fage nicht des baconifchen Geiftes. Ba— con's geſchichtswidrige Urtheile find darum feiner Methode gemäß, diefe verlangt einmal für immer, daß feine andern Wahrheiten beftehen, als welche die Erfahrung in der Natur und im menfchlichen Leben beftätigt, jie verwirft einfach alle Bhilofophie, welche diefe Erfahrungsmwahrheiten verfennt, jie will gefunden haben, daß in der älteften Zeit eine der Dich—

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tung verfchwifterte Philofophie diefen Erfahrungswahrheiten am nächiten ftand, und näher als alle jpätern Shiteme; fie jegt im ihrem Intereſſe voraus, daß der älteften Weisheit und der älteften Dichtung nichts Anderes zu Grunde Liege, als die ihr gefälligen Erfahrungswahrheiten; diefe müfjen ſich in den Mythen finden, die Erklärung derfelben muß unter diefem Gefichtspunfte gefchehen. Es ift alfo die baconifche Methode jelbft, welche der Gejchichtserflärung im Wege fteht. Sowe- nig die Natur, wie Bacon diefelbe begreift, den menfchlichen Geift aus ſich erzeugen kann, ſowenig hat Bacon's metho- diſche Naturerflärung die Anlage, Gefchichtserklärung zu wer- den. Wir unterfcheiden hier genau zwifchen Gefchichtserflärung und Geſchichtsforſchung; jene erklärt und begreift die That: ſachen, welche diefe auffucht, feftftellt und befchreibt; fie unter- jheiden fic beide nad) baconifchen Begriffen wie Befchreibung und Erklärung, wie Hiftorie und Wiſſenſchaft. Nur von der Geſchichtswiſſenſchaft will ich behauptet haben, daß die baco- nifhe Methode der pafjende Schlüffel nicht fei. Der Ge ihichtsforfchung dient fie, wie der Naturforihung, als ge- ſchickter Wegweiſer, als einzig mögliche Handhabe, die That- jahen aufzufinden und zu conftatiren. Das Erfte iſt überalf die quaestio facti; Thatſachen können überall, ob fie der Na- tur oder der Geſchichte angehören, nur auf baconifchem Wege gefunden werden; um fie zu finden, bedarf der Geſchichts— | forfcher, wie der Naturforfcher, der eigenen Erfahrung und Beobachtung, er muß feine Thatſachen aus jelbjtgeprüften Quellen ſchöpfen; um diefe Thatfachen zu fichten, muß er eine vergleichende Quellenkritif üben, die nicht ftattfinden kann ohne eine forgfältige Abwägung der pofitiven und negativen Inftan- zen, die fich mit Ähnlichen Mitteln verkürzen und befchleunigen

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läßt, als Bacon in feinem Organon dem Naturforicher an: deutet. Das Finden des Thatfählihen ijt in allen Fällen das Reſultat eines vichtigen Suchens, und eben diejes Hat Bacon für alle Fälle formulirt; die gejchichtlichen Thatſachen entdeden jih, wie die natürlichen, nur durch richtige Erfahrung, uud deren Logik hat Bacon für alle Fälle "gezeigt. Ein Anderes aber ift Naturerflärung, ein Anderes Gefhichtserflärung ; beide unterjcheiden fi) wie ihre Dbjecte, Natur und Geift, und hier hat Bacon ſelbſt, deſſen Verſtand größer war als feine Methode, eingeräumt, daß die lettere nicht im Stande fei, den Geift zu erklären. Die Natur ftellt ihm nur That: ſachen gegenüber, die Geſchichte ftellt feinen Begriffen andere Begriffe und Borftellungsweifen entgegen, welche Bacon ver- neinen muß, um die feinigen zur Geltung zu bringen. Die gefchichtlih gewordenen Begriffe erjcheinen ihm als „idola theatri“, diefen Idolen gegenüber verwandelt ſich feine Me- thode und feine Philofophie in eine „anticipatio mentis“. Die Ungültigkeit aller frühern Syfteme wird in Bacon zum Gefhihtsporurtheil, und am diefes VBorurtheil fnüpfen fid) feine gefhichtlihen Erklärungen und Urtheile. Er denkt nur an die Gegenwart und die Zukunft, die er bereichern und von der Vergangenheit losreißen will; darum verneint ev die Ber: gangenheit, aber die Vergangenheit ijt die Geſchichte.

So begreiflich und groß diefe Denkweife in Bacon er: fcheint, der zu einer Reformation der Wiſſenſchaft berufen war, jo befremdlich und weniger groß will es uns jcheinen, wenn in unſern Tagen ein bedeutender Gefchichtsfchreiber die baconiſche Denkweife unbedingt befennt und mit einer con fejfionellen Einfeitigfeit hervorhebt, die ihrem Urheber felbft fremd war. Es befremdet uns, heute eine Denfweife feſtge—

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halten zu jehen mit dem ausjchlickenden Charakter, der vor drittehalb Jahrhunderten nöthig war, um die Epoche zu machen, welde in den Bedingungen der Zeit lag, fie feitgehalten zu jehen von einem Hiftorifer, der mehr als jeder Andere den Unterjcied der Zeiten fühlen und vor Allem den gejhicht- lien Gefichtspunft gegen den phyſikaliſchen aufrechthalten, wenigjtens die Grenze beider nicht überjehen jollte, die Bacon jelbjt beachtet hat. Indeſſen Macaulay redet „der praftifchen Philojophie”, die er mit Bacon’s Namen bezeichnet, unbedingt das Wort gegen die „theoretijche”; er wiederholt in dieſer Rückſicht die baconiſche Kritik des Alterthums, indem er ſie ſteigert. Auf dieſen Punkt hat Macaulay allen ſeinen Nach— druck gelegt: auf die praktiſche Philoſophie gegenüber der theoretiſchen, er drückt die Wagſchale der erſten mit allen mög— lichen Gewichten ſo herab, daß die Wagſchale der andern in die Luft fliegt und alles Gewicht verliert. Macaulay verbin— det die praktiſchen Intereſſen, wie er ſie nennt, ebenſo rück— haltslos und ſolidariſch mit der baconiſchen Philoſophie, als ihr de Maiſtre die religiöſen Intereſſen entgegenſetzte; in dem Verhältniſſe beider zu Bacon ſpiegelt ſich treffend der Gegen— ſatz des engliſchen Utiliſten und des franzöſiſchen Romantikers. Unter ſich verglichen, ſind die beiderſeitigen Schätzungswerthe Bacon's ſehr verſchieden, und im Falle der Wahl kann kein Zweifel ſein, welchen wir vorziehen; aber verglichen mit dem Gegenſtand ſelbſt, ſind beide unrichtig und übertrieben im belle— triſtiſchen Stil, der nicht gemacht iſt, die Wahrheit zu treffen. Aus dem Philoſophen Bacon möchte Maiſtre den Satan der Philoſophie machen, Macaulay deren Gott; ſolche Uebertrei— bungen mögen Romanleſer unterhalten, belehren können ſie keinen. Mit de Maiſtre haben wir gerechnet; Macaulay

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gegenüber find zwei Fragen zu erörtern: wie fteht es mit jenem Gegenfaß zwijchen „praftiicer und theoretifcher Philo- jophie”, den er fortwährend im Munde führt, und was hat feine praftifche Philofophie mit Bacon zu fchaffen? Macaulayh entfcheidet über das Schickſal der Philofophie mit einer fchnellfertigen Formel, die, wie viele ihres Gleichen, durch Worte blendet, Hinter denen nichts ift, Worte, die immer unflarer und leerer werden, je näher man fie unterfudt. Er fagt: die Philofophie foll um des Menſchen willen da jein, nicht umgefehtt der Menſch für die Philofophie, im erſten Fall iſt fie praftifch, im zweiten theovetifch; jene wird von ihın bejaht, diefe verneint; von der einen kann er nicht groß genug, von der andern nicht verächtlich genug reden. Praktiſch im Sinne Macaulay's ift die baconifche Philofophie, theore- tif die vorbaconijche, insbejondere die antife. Diefen Gegen fat treibt er auf die Spite und läßt uns den übertriebenen nicht in nackter Geftalt, fondern in bildlicher Verkleidung fehen, in wohlberechneten Figuren, ſodaß immer das impofante oder reizende Bild die praftifche Philofophie und das widerwärtige die theoretifche ausdrüdt; mit diefem Spiel gewinnt er die Menge, die nach den Bildern greift, wie die Kinder. Aus der praftifchen Philofophie macht Macaulay (weniger fein Princip als) feine Pointe und aus der theoretifchen feine Ziel- icheibe. Dadurd bekommt der Gegenſatz etwas von drama— tifchem Reiz, von energifcher Spannung, die fi) unwillkürlich dem Leſer mittheilt, diefer vergißt darüber ganz die wifjen- haftlihe Frage, und wenn der Schriftjteller außerdem Bilder und Metaphern nicht fpart, womit er die Phantafie feiner Leſer zu ergögen weiß, fo ift er ihrem Verſtande nichts mehr Ihuldig, jedes feiner Worte gilt für einen Treffer, für einen

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Apfelſchuß. Wer mit einiger Schnelligkeit, mit einigem dra- matifchen Effect Grundſätze in Bointen, Begriffe in Metaphern zu verwandeln weiß, der kann auf Koften der jchlichten Wahr- heit unglaublihe Triumphe feiern; wir erleben es oft genug, dag unter jolhen Formen jeder Unfinn fein Glück macht und jelbft das verfehrtefte Zeug nicht ficher ift vor der öffentlichen Verehrung. Ein Gran Wahrheit wird durd) leere Wortkünfte jo aufgeblafen, daß er in den Augen der Menge, die nad) dem Scheine urtheilt, Gentner überwiegt. Was will es heißen, wenn Macaulay jagt: die Philofophie foll für den Menfchen fein, niht der Menſch für die Philofophie? Wenn er die theoretifche deshalb verneint, weil fie fi) zum Zwed, den Menjchen- zu ihrem Mittel mache, und die praftifche deshalb bejaht, weil fie fi) zum Mittel mache und den Menſchen zum Zwei? Wenn nad ihm die praftifche Philofophie fi zur theoretifchen verhält, wie Werke zu Worten, wie Früchte zu Dornen, wie eine Heeritraße, die weiterführt, zu einer Trets mühle, wo man ſich immer auf demfelben Flecke herumdreht? Bei foldhen blendenden Reden fällt mir allemal das fokratifche Wort ein: „Geſagt find fie wohl, ob fie auch gut und richtig gejagt find?” Nach Macaulay zu urtheilen im ftrengen Ber: jtand feiner Worte, jo war niemals in der Welt eine Philo- fophie praktiſch, denn es hat nie eine gegeben, die blos aus fogenannten praftiichen und nicht zugleich philofophifchen Inter- ejfen entftanden wäre; ebenjo wenig war je in der Welt eine Philojophie theoretifch, denn es Hat nie eine gegeben, die nicht ein menjchliches Bedürfniß, alfo ein praftifches Intereffe zu ihrer Triebfeder gehabt hätte. Man fieht, wohin das dreifte Wortſpiel führt, es bejtimmt die theoretifhe und praftifche Philoſophie fo, daß die Erklärung auf Fein einziges Beiſpiel

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der Philofophie paßt. Die Antithefe iſt vollfommen nichts- fagend. Laffen wir die Antithefe und bleiben bei der nüch— ternen und verftändlihen Meinung: daß aller Werth der Theorie von ihrer Brauchbarfeit abhängt, von ihrem praf- tifchen Einfluß aufs menfchliche Leben, von dem Nuten, den wir daraus löfen. Der Nuten allein foll über den Werth der Theorie entfcheiden, es möge fein, aber wer entjcheidet über den Nuten? Nützlich fei alles, was zur Befriedigung menſchlicher Bedürfniffe dient, entweder als Object oder als Mittel; aber wer entjcheidet über unfere Bedürfniffe? Wir jtellen uns ganz auf Macaulay’s Gefihtspunkt und ftimmen ihm bei: die Philofophie foll praftifch fein, fie foll den Men— ſchen dienen, feine Bedürfniffe befriedigen oder zu deren Be— friedigung Helfen; wenn fie es nicht thut, jo fei fie unnütz und darum nichtig. Wenn e8 nun in der Menfchennatur Be- dürfniffe giebt, die gebieterifch Befriedigung fordern, die nicht befriedigt uns das Leben zur Dual machen: ift nicht praktiſch, was diefe Bedürfniffe befriedigt? Wenn darunter einige der Art find, daß fie fhlechterdings nur durch Erkenntniß, alſo durch theoretiihe Betrachtung befriedigt werden können: iſt dieſe Theorie nicht nützlich, muß fie e8 nicht fein, felbft in den Augen des ausgemachteften Utiliſten? Aber es könnte Leicht fein, daß in der menſchlichen Natur mehr Bedürfniffe Liegen, als der Utiliſt fi eimbildet und Wort Haben will, daß alle menſchlichen Bedürfniffe fid) nicht mit dem Bischen begnügen, das ihnen der Utilift zur Befriedigung ambietet; es könnte fein, daß dem Utiliften, was er theoretifche Philofophie nennt, nur darum unnütz und unfruchtbar jcheint, weil feine Begriffe vom Menfchen zu eng, zu wenig fruchtbar find. Wie man ſich den Menfchen vorftellt, darauf fommt Hier alles au, jo

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beurtheilt man feine Bedürfniffe, und je nachdem dieſe enger oder weiter gefaßt werden, fo beurtheilt man den Nuten der Wiſſenſchaft und den Werth der Philofophie. Aber es ift eine gewagte und eigentlich unziemlihe Sache, von vornherein zu befehlen: ihr dürft nur fo viel Bedürfniffe haben, darum braucht ihr aud nur jo viel Bhilofophie! Ein Leicht gewonne- nes Spiel! Aehnlich mahen es Heut zu Tage unfere Mode- pejjimiften, die Recht haben, wenn wir fo gefällig fein und alles als Mifere und eitel Elend empfinden wollen, was auf ihrem Papier unter der Ueberfchrift: „Unluft” figurirt. Wenn ih) Macaulahy's Beifpielen trauen darf, fo find feine Vorftel- [ungen von der menschlichen Natur nicht jehr ergiebig. „Wenn wir genöthigt wären‘, jagt Macaulay, „zwiſchen dem erſten Schuhmacher und Seneca, dem Verfaſſer der drei Bücher über den Zorn, unfere Wahl zu treffen, jo würden wir uns für den Schuhmadjer erklären. Der Zorn mag jehlimmer jein als die Näffe. Aber Schuhe haben Millionen gegen Näffe ge: Ihütßt, und wir zweifeln, ob Seneca jemals einen Zornigen befänftigt hat.“ Ich würde mir nicht den Seneca zur Ziel- ſcheibe nehmen, um die theoretifche Philofophie zu treffen, noch weniger, die Macaulay dem Seneca vorzieht, zu Bundes: genoffen machen, um die Theoretifer in die Flucht zu fchlagen. Mit folhen Hülfstruppen wäre es möglid. In der That, Macaulay wirft in die Wagjchale, die er ſchwer machen will, noch ganz andere Dinge als das Eifen des Brennus! In— deffen ſollte ev nicht zweifeln, fondern wiſſen, ob die Betrad)- tungen eines Philojophen (und wenn es ſelbſt Seneca wäre) wirklich nichts gegen die Leidenſchaften vermögen, ob fie die menschliche Seele nicht gleihmüthiger und gegen die Todes— furcht ſtärker machen können, als fie ohme diejelben fein würde.

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Aber um dem Beifpiel das Beifpiel entgegenzujegen, fo fennt die Welt einen Philofophen, weit tieffinniger als Seneca und in Macaulay's Augen ebenfalls ein unpraftifcher Denker, in welhem die Macht der Theorie jo viel größer war als die Macht der Natur und das gemeine Bedürfnig: feine Gedan— fen allein waren es, die den Sokrates heiter machten, als er den Giftbecher trank! Giebt e8 unter allen Uebeln ein ſchlim— meres als die Todesfurdt, das fchredliche Abbild des Todes in unferer Seele? Und das Mittel gegen diefes ſchlimmſte der phyfifchen Uebel wäre nicht praftifch im höchſten Sinn? Es gibt freilich fehr Viele, die den Tod lieber los fein möd)- ten als die Todesfurcht, die lieber in diefem Fall ihr Leben verlängern, als in allen Fällen jo gerüjtet fein wollen, daß fie dem Tode Falt und heiter ins Angeficht fehen können. Diefe alle würden den Sofrates für praftifcher Halten, wenn er den Rath des Kriton befolgt und aus dem Gefängniffe Athens geflohen wäre, um altersſchwach in Böotien oder fonft wo zu fterben; dem Sofrates felbjt ſchien es praftifcher, in dem Gefängniffe zu bleiben und als der erjte Zeuge der Geiftesfreiheit von den Höhen feiner Theorie emporzufteigen zu den Göttern. So entjheidet in allen Fällen über den praftifhen Werth einer Handlung oder eines Gedanfens das eigene Bedürfniß und über diejes die Natur der menfchlichen Seele. So verjhieden die Individuen und die Zeitalter, fo verfchieden find in beiden die Bedürfniffe Macaulay macht ein beftimmtes Gejchlecht menfchlicher Bedürfniffe, die des ge- wöhnlichen Lebens, zum Maßſtabe der Wiffenfhaft, darum verneint er die theoretifche und verengt die praftifche Philo- fophie. Dieje entjpricht fo wenig ihm felbft als der Natur des menjchlichen Geiftes; hätte Macaulay nicht mehr Bedürf-

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niffe und Höhere, als welche feine praktifche Philoſophie be= friedigt, jo wäre er nicht ein bedeutender Geſchichtſchreiber, fondern eher von denen einer geworden, die er dem Seneca vorzieht. Seine praftifche Philofophie verhält fi zum menſch— lichen Geift, wie ein enger Schuh zu den Füßen, fie drüdt, und ein drüdender Schuh ift ein böſes Schutmittel gegen die Näſſe!

Man erleichtert das menſchliche Leben nicht, wenn man die Wiſſenſchaft einſchränkt. Der Verſuch ſie zu dämmen, ſo gut er gemeint, fo wohlthätig ſelbſt er für den Augenblic fein mag, ift allemal ein Verſuch, den Wiffenstrieb ſelbſt in der menschlichen Seele zu zerftören, und gelingen auf die Dauer kann der erſte Verfuh mur unter der Vorausfeung des ge- lungenen zweiten. Solange fid) das Bedürfnig zu wiffen in unferm Innern vegt, folange müjfen wir, um diejes Bedürf- niß zu ftillen, in diefer rein praftifchen Abficht, nad) Erfennt- niß in allen Dingen ftreben, aud) in ſolchen, deren Erklärung nichts beiträgt zur äußern Wohlfahrt, die feinen andern Nuten jtiftet al8 die geiftige Klarheit, die fie erringt. Solange Religion, Kunst, Wiſſenſchaft thatſächlich exiſtiren als eine geiftige Schöpfung neben der phyfifchen, und dieſe ideale Welt wird nicht eher aufhören als die materielle, fjolange wird es dem Menschen Bedürfniß fein, ſich auf diefe Dinge zu vichten, neben dem Abbilde der Natur ein Abbild jener idealen Welt in ſich darzuftellen, d. h. mit andern Worten, er wird durch ein inneres Bedürfniß praftifch genöthigt, feinen Geift theore- tifh auszubilden. Das Haben die Alten in ihrem Sinne ge— than, das Mittelalter in dem feinigen, wir thun es in dem unfrigen. Es ift wahr, die Theorien der Alten taugen nicht mehr für unfere Bedürfniffe, jowenig als die der Scholaftifer,

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denn unfere Welt ijt eine andere geworden und mit ihr unfer Sinn. Aber deshalb jene Theorien unbedingt verwerfen, das heißt den Sinn verfennen, der ihnen als Bedürfnig zu Grunde lag, das heißt das Altertfum mit fremden Geifte beurtheilen oder über deſſen Theorien eine nicht zutreffende und deshalb unfruchtbare Theorie aufftellen, die unter die Hirngefpinnfte zählt: diefe ungefchichtliche Denfweife war Bacon’8 Mangel, den Macaulay theilt. In Bacon’s Augen waren die Theorien des claffischen Alterthums Idole, diefe baconifche Theorie vom Altertum ift ein Idol in den umfrigen; ihm erjchienen die Syſteme des Plato und Ariftoteles als „idola theatri“, uns erfcheinen gerade diefe Anfichten Bacon's als „idola specus‘ und „fori“, als perfönliche und nationale Vorurtheile. Ba— con hat hier den Geift der Geſchichte jo fehr verfehlt, als die Alten nad) feiner Meinung je die Gefege der Natur verfehlt haben.

Aber die Theorie überhaupt, nicht blos die der Ver- gangenheit, fondern die ganze in Betrachtung aufgehende Geiftesart verwerfen, weil fie nicht unmittelbar auf das praf- tiſche Leben einwirkt, das iſt nicht blos eine Verblendung gegen die Gefchichte, fondern gegen den Menjchen und die Bedürfniffe der Humanität, das heißt einen Trieb im Men- Ihen überjehen, der zu den Bedingungen unferer Natur ge- hört: diefe naturwidrige Denkweife ift der Mangel Macaulay's, den Bacon nicht theilt. Bacon dachte zu groß von dem praf- tiſchen Menſchengeiſte, um den theoretifchen zu verkleinern oder zu verengen, er wollte jenen zur Weltherrichaft führen, darum mußte er diefen zur Welterfenntniß erheben; er wußte wohl, daß unfere Macht in unferm Wiffen befteht, darum wollte er, um mit feinen Worten zu reden, im menfchlichen Geift einen

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Tempel gründen nad dem Mufter der Welt. Nach ihm follte die Wiffenfhaft ein Abbild der wirklichen Welt fein, das er nicht ausführen Konnte, das er aber gewiß im Yaufe der Jahr- hunderte ausgeführt wiſſen wollte; an diefem Abbilde ſollte nad) Bacon’s Abfiht nichts fehlen, auch nicht das Mindefte, denn Alles was da ift, dachte Bacon, hat ein Recht gewußt zu werden, und der Menſch hat ein Interefje, Alles zu wiffen. Ihm fchwebte die Wiffenfhaft vor wie ein Kunftwerf, deffen Bollftändigkeit ihm Selbftzwed war; fein großer Geift fah, daß die vollftändigjte Wiffenfchaft auch die vollftändigfte Herr- haft begründe, daß die Lüde in der Wiffenfchaft die Ohn— macht im Leben fei. In Bacon’8 Augen erfcheint die Theorie als ein Tempel, aufgeführt im menfchlichen Geifte nad) dem Mufter der Welt; in den Augen Macaulay's als ein beque— nes Wohnhaus nad) den Bedürfniffen des praftifchen Lebens! . Dem Lebtern genügt e8, die Wifjenfchaft fo weit auszubauen, daß wir mit unfern fieben Sachen ſchnell ins Trodne fommen und vor Allem gegen die Näffe gefhütt find, Die Herrlich- feit de8 Baus und feine Vollftändigkeit nad) dem Vorbilde der Welt ift ihm unnütes Nebenwerk, überflüffiger und ſchädlicher Luxus. So bürgerlid Hein dachte Bacon nit. Ihm war es mit der Wiffenfchaft Ernft im großen Sinn, er verwarf nur die Theorien, welche feiner Anſicht nad) die wahre ver- derben. Was ihm als faljches Abbild der Welt erfchien, warf er weg als Grundriß, wonad man Iahrhunderte lang nichts gebaut Hatte als Zuftfchlöffer; unter diefen Grundriffen fand er in der älteften Zeit einige, die zwar nicht Abbilder, wohl aber, wie e8 ihm ſchien, Sinnbilder der Welt waren, und er juchte fie in feiner Weife zu enträthfeln. Macaulay ift hier erjtaunt, bis zu welchem Franfhaften Grade fi in Bacon das

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Talent für Analogien verjtieg, aber den Zufammenhang diefes Talents mit Bacon’s Methode fieht er nicht ein; er fieht nicht, daß Bacon gerade hierdurch die Hüffgmittel fuchte, den Be— dürfnifjen der Theorie weiter zu folgen, als feine Methode erlaubte, um den Tempel der Wilfenjchaft weiter und höher hinauf zu bauen, als feine Inftrumente zuveichten. Macaulay verkleinert Bacon, inden er ihn großmachen und über alle Andern Hinwegheben will. Hätte er Bacon’s Geift fo begrif- fen, wie diefer die Welt, jo hätte er anders entweder von Bacon oder von der Theorie geurtheilt. Sein Irrthum iſt, daß er ein Gefchichtsvorurtheil Bacon’8 zu einem Gefet der Philojophie machen will, dag er diefes Gefchichtsporurtheil wiederholt und fteigert, als ob es heute noch jo gerecht, noch jo begreiflih wäre als damals. Bacon’s Gefchichtsvorurtheile erflären fid) aus der Bildungsjtufe feines Zeitalters, vecht- fertigen ſich vor Allem aus jeiner eigenen gefchichtlichen Stel- fung; er ſollte die Wifjenfchaft umbilden und dem neuen Geifte, der vor ihm ſchon auf kirchlichem Gebiete durchgebrocden war, jet auf dem wifjenfchaftlichen die Bahnen öffnen und anwei— jen; darum mußte er die Theorien der Vergangenheit von ſich jtoßen. Die Begründer des Neuen find felten die beiten Er- flärer des Alten, fie können es nicht fein, denn das Alte jteht ihnen als ein Fremdes gegenüber, welches fie den Beruf haben, aus der Anerkennung der Menjchen zu verdrängen. Erſt ſpä— ter kehrt das Vernichtete als ein zu Erflärendes in den menſch— lichen Gefihtsfreis zurüd, und dann ift der Zeitpunkt gefom- men, ihm wahrhaft gerecht zu werden. Dieje Gerechtigkeit liegt nicht in der Aufgabe veformatorifcher Geifter. Wen man wiſſen will, welcher gefchichtliche Werth der antiken und icholaftifchen Philofophie gebührt, muß man nicht Bacon und

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Descartes fragen, und der größte Neformator, den die Philo- fophie gehabt hat, Immanuel Kant, vermochte unter allen am wenigften, ihre Vergangenheit zu erklären, er jah und zielte nur auf die eine verwundbare Stelle, diefe traf er, und alles Uebrige fümmerte ihn wenig. Gerade diefer jchroffe und dic- tatorifhe Charakter, der unter feinem Gefichtspunfte Jahr— hunderte der Wiſſenſchaft zufammenfaßt und verwirft, unter- jtütte jowohl in Bacon als in Kant dag Erneuerungswerf der Philoſophie. Man wende uns nicht Leibniz ein, der troß feines reformatorifchen Berufs doch fo eifrig beftrebt geweſen fei, dem Alten in jeder Rüdficht gerecht zu werden, feine Stel- lung war eine ganz andere als die Bacon’ und Kant’s; er hatte nicht wie jene einen neuen Geiſt zu jchaffen, jondern einen ſchon vorhandenen neuen Geift, der von Bacon und Descartes ausgegangen war, zu reformiren; diejen wollte er von feiner Einfeitigfeit befreien, von feinem ausfchliegenden und fpröden Verhältnig zum Altertum und zur Scholaftif, und fo wurde in ihm die neue Lehre unwillfürlich eine Wieder- herftellung der alten; feine Neformation war zugleich eine „Rehabilitation“.

Was in Bacon’s Sinne richtig und zeitgemäß war, ift es heute nicht mehr; er durfte die Philojophie der Bergangen- heit für unpraftifch erklären und diejes ſummariſche Urtheil dadurch befräftigen, daß er die Philofophie der Zukunft machte; aber es ift ebenfo unrichtig als zeitwidrig, wenn man heute » Bacon’s Urtheil über das Alterthum noch feithalten und unter dem Anfehen feiner Philofophie aller Theorie den Krieg erflä- ren will. Eine folde Erklärung ift in jedem Sinn, was fie in feinem fein möchte, eine unpraktifche Theorie. Bacon’s Philoſophie jelbjt war, wie es in der Natur jeder Philofophie

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fiegt, nichts Anderes als Theorie: fie war die Theorie des erfinderifchen Geiftes. Große Erfindungen hat Bacon feine gemacht, er war weit weniger erfinderifch als Leibniz, der deutiche Metaphyſiker. Wenn man Erfindungen machen „‚prafs tiſche Philoſophie“ nennt, jo war Bacon ein bloßer Theore- tifer,, fo war feine Philofophie nichts als die Theorie der „praktiſchen Philofophie”. Bacon wollte die Theorie nicht einfchränfen, ſondern verjüngen und ihr einen größern Ge- fichtsfreis geben, als fie je vor ihm gehabt Hatte. Ich weiß nicht, mit welchen Augen man Bacon’s Schriften gelefen Haben muß, wenn man ihren Geift in einem engern Sinn auslegt; neben der männlichen Kraft, die fich zu großen Thaten berufen und tüchtig weiß, athmen diefe Schriften den unmiderjtehlichen Geiſt der Jugend und des Genies, in dem Neues erwacht ift, das fid) in feiner Kraft fühlt und diefes Selbitgefühl überall offen und ungejchminkft ausſpricht. Der nüchterne Gedanke redet hier nicht felten die Sprache der Phantafie, und die ge: meinnügige, praftiihe Aufgabe, die er verfolgt, erjcheint in feiner Darftellung oft wie ein jugendliches Ideal, das ſich gern durch bedeutende Bilder und große Beiſpiele fteigert. Mas uns insbejondere hier jo mächtig und eigenthümlich an- zieht, daß wir nicht blos mit Bacon denfen, fondern ganz mit ihm fühlen können, das ift neben dem Gewichte feiner neuen Ideen der erwachte Teidenfchaftliche Wiſſensdurſt, der ihn fort- reißt und alle feine Entwürfe durchdringt, dem er zwar immer mit befonnenem Berftande vorhält, daß er ſich zähmen, zurück— halten, nicht überftürzen folle, dem er aber niemals befiehlt, zu erlöfchen oder mit Wenigem fatt zu fein. Nein! Der Trank, den Bacon haben will, ift aus zahllofen Trauben

gepreßt, freilich nur aus folchen, die veif und gezeitigt, gefel- Fiſcher, Bacon, 31

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tert, gereinigt und geklärt find. Der Bacon, welder uns aus feinen Schriften entgegentritt, Fennt feine Grenze des Wiſſens, foweit die Welt reiht, fein ne ultra, feine Säulen des Hercules für den menfchlichen Geift, das find nicht unfere, fondern feine eigenen Worte, er hätte font nicht feine Bücher über den Werth und die Vermehrung der Wifjenfchaften ge- ichrieben. Diefe Schrift beweift am bejten, wie weit in Ba— con’8 Geift die Theorie reichte, daß er fie nicht bejchränfen und eindämmen, jondern erneuern und bis an die Grenzen des Univerfums ausdehnen wollte. Sein praftiiher Maßſtab war nicht der bürgerliche, jondern der menjchliche Nuten, zu dem das Willen als folches gehört. Im dem zweiten Bud) jenes Werks fagt Bacon, indem er den König anredet: „Eurer Majeftät geziemt es, nicht blos Ihr Sahrhundert zu erleuchten, fondern auch darauf Ihre Sorgfalt zu erftreden, was aller Nachwelt, jogar der Ewigkeit Stand hält. Und in diefer Rückſicht gibt es nichts, das werthvoller und herrlicher wäre, als die Veredlung der Welt durch die Vermehrung der Wiljen- ſchaften. Wie lange follen denn noch die paar Schriftiteller wie die Säulen des Hercules vor uns daftehen und uns hin- dern, weiter im Reiche der Erfenntniß vorzudringen ?’ Diefer Bacon ift nicht der Macaulay’s, der feinen Bacon zu einer Herculesfäule für die Wiffenfchaft machen möchte. Darin liegt der Unterfchied beider. Wenn man wie Bacon den praftifchen Nuten im Großen denft und nicht nach Indi— viduen, jondern nad dem Zuftande der Welt berechnet, fo er- weitert fich von felbjt die Theorie, und der menfchliche Wiffens- trieb hat nicht zu fürchten, daß ihm von einem ſolchen praf- tiſchen Geſichtspunkte aus jemals eine willfürlihe Schranfe gefeßt werde. Bacon's ächter Geift ift auch für unfere Zeit

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ein wohlthätiges Vorbild. Nachdem in der rein theoretifchen Arbeit eine Art Ebbe eingetreten, regt ſich Tebendiger wieder der Trieb zu gemeinnügiger ZThätigfeit und Bildung, die Philofophie ſucht von neuem die eracten Wiffenfchaften und die Erfahrung, fie richtet ihren Wiffenstrieb wieder auf die leben- digen Objecte der Natur und Geſchichte; die eracten Wiffen- ſchaften fuchen das öffentliche Leben, um erfinderifch oder be- lehrend und aufflärend darauf einzuwirfen; die phyſikaliſchen Wiffenfchaften befruchten die Induftrie, die hiftorifchen befruch- ten die Bolitif; überall zeigt fich auf Seiten der wiſſenſchaft— lihen Befhäftigungen das Streben, gemeinnüßig und gemein- verjtändlich zu werden. Die wiſſenſchaftlichen Fächer wetteifern untereinander, der öffentlichen Bildung ihre Beiträge zu lie- fern und den praftifchen Intereffen zu dienen. Welche von allen das Meifte beiträgt, hat für die gemeinnügige Cultur den größten Werth, und diefer gehört ohne Zweifel den phy— ſikaliſchen Wiffenfchaften, befonders denjenigen, die durch ihre Entdeckungen den erfinderifchen Geift gefteigert und vermocht haben, dem bürgerlichen Leben durch neue Mittel des Verkehrs und der Induftrie eine ganz neue Geftalt zu geben. Es ift hier, wo der Geiſt Bacon’s in unverfennbaren und mächtigen Spuren auf der Gegenwart ruht. Aber die ganze wiljen- Ichaftlihe Betriebſamkeit unferer Tage ftrömt dem baconijchen Geiſte zu, und wir begreifen, daß die Auguren der Zeit diejen Namen wieder mit größerm Nachdrude hervorheben. Auch ſoll fi) niemand einbilden, gegen jene Strömung einen Damm aufwerfen zu fönnen, der mächtiger wäre als fie; nur joll auch niemand aus der Strömung einen Damm maden und den Geift Bacon’s in eine Herculesfäule verfteinern wollen.

Weit entfernt, ung von dem Vorbilde Bacon's abzuwenden, 31*

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jeßen wir vielmehr dem falfchen das wahre entgegen: der Geijt Bacon’s möge der Gegenwart vorjchweben, aber jo groß wie er war, nicht in einem entjtellten und verkleinerten Nachbilde, wie ung der berühmte englifche Gejchichtfchreiber in feiner ra— dirten Zeichnung anbietet; Bacon's Gegenſatz zur Theorie war ein gejcjtchtlicher im doppelten Sinn, er ging gegen eine ge- fchichtliche Theorie, die vergangen war, er entjprang aus einer gefhichtlichen Stellung, die fich erheben und den Wendepunkt zwifchen Vergangenheit und Zukunft entjcheiden follte. Diefer Gegenfat war ein relativer, man ſoll ihn nicht in einen abjo- luten verwandeln, nicht auf uns und alle Zeiten anwenden wollen, was nur für ein gewiſſes Zeitalter gelten konnte. Was in Bacon felbjt ein Idol war, wenn aud) ein unvermeidliches, darf für uns nicht zur Wahrheit gemacht werden, oder man verwandelt das Licht des baconifchen Geiftes in ein verführe- rifhes Irrliht, dem Heute niemand weniger als Bacon felbft folgen würde, Auch zeigt fih an Macaulay, wie wenig in ihm jelbjt der Gegenfat begründet ift, welchen er unter Ba— con’ Namen feil bietet. Denn alles Andere bei Seite gefekt, fo zeigt ſchon die Nedeweife, daß bei ihm Spiel ift, was bei jenem Ernft war; Bacon hatte jenen Gegenjat zum Alterthum und zu dem, was er theoretiiche Philofophie nennt, in fich erlebt und empfunden, diefer Widerjtand lag in den Bedin- gungen feines geijtigen Dafeins; ganz anders erjcheint fchon in jeinem Ausdrud derjelbe Gegenſatz bei Macaulay: als eine fünftlihe Antithefe, die fi) aus einem Schlagwort ins andere mit behender Gejchielichfeit verwandelt; jo redet nicht die ein- fahe Empfindung der Sache, fondern die künſtliche Nachahmung. Macaulay in feiner Schrift über Bacon verhält fich zu diefem ſelbſt, wie eine rhetoriſche Figur zu einem natürlichen Charakter.

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Das endgültige Urtheil hat die Gefchichte ſelbſt gefällt, und dieje gejchichtliche Thatſache ift die lete negative Inftanz, die wir Macaulay entgegenfegen. Bacon's Philofophie ift nicht das Ende der Theorien, jondern der Anfangspunft neuer gewejen, die in England und Frankreich nothwendig daraus hervorgingen und deren feine in dem Sinne praftifc war, als Macaulay verlangt. Hobbes war Bacon's Nachfolger, fein Staatsideal ift dem platonifchen in allen Punkten entgegen- gejett, aber einen Punkt hat es mit ihm gemein: es ift eine ebenfo unpraftifche Theorie. Macaulay aber nennt Hobbes „den fhärfften und kraftvollſten der menjchlichen Geiſter“. War alſo Hobbes ein praftifcher Philofoph, wo bleibt Macz aulay’s Politik? War aber Hobbes fein praftifcher Philofoph, wo bleibt Macaulay’s Philofophie, welche dem Theoretifer Hobbes Huldigt?

Neunzehntes Kapitel. Liebig gegen Bacon.

I. Die Streitfadhe. 1, Liebig's Angriff.

Wir Haben jhon früher*) eines polemifchen Verſuches gedacht, der aus der jüngjten Vergangenheit herrührt, in der Teidenfchaftlichen und Haftigen Abſicht, Bacon's Anfehen von Grund aus zu zerjtören, mit dem Grafen de Maiftre wett- eifert, ähnlich wie diefer fanatifch gegen den englifhen Philo- fophen entbrennt, nur daß der Wind, der die Flamme jagt, von anderswoher bläft. Meaiftre haßte und verfolgte in Bacon den Gründer einer dem kirchlichen, insbefondere dem römiſch— fatholiihen Glauben abgewendeten Aufklärung, einen Uebel— thäter an der Religion, einen der einflußreichiten und darum verabjcheuungswürdigften, welche die nachreformatorifche Zeit gehabt Hat; Herr von Liebig, der deutfche Chemiker berühmten Namens, defjen VBerluft die Welt feit Kurzem zu beffagen hat, haßt und verfolgt in Bacon einen der ſchlimmſten Uebelthäter

*) S. oben Bud) I, Cap. III, ©. 38.

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an der Naturwiflenfchaft, von deſſen thatfählihem Einfluß er felbjt offenbar nicht weiß, ob er ihn gelten laſſen, bejahen oder berneinen fol, denn er thut beides: erjt werden wir von ihm belehrt, daß von den neuern Philoſophen Feiner einen Einfluß auf die Naturforfhung ausgeübt Habe, ausgenommen Bacon, mit dem es fich ganz anders verhalte, „fein Name glänzt noch) nad) drei Iahrhunderten als leuchtender Stern”, wogegen an einer andern Stelle gejagt wird: „es fei bemerfenswerth, daß fein Name anderthalb Sahrhunderte lang in den Werfen feiner Landsleute fo gut wie verfchollen war”. Die Frage nad) dem factifchen Einfluß Bacon's betrifft eine gefhichtliche Thatfache, aus deren Unfunde dem berühmten Chemiker fein Vorwurf erwächſt, nur hätte er billigerweije aus dem Stoff diefer Un- Funde nicht Urtheile machen follen, die fich in derjelben Sade verhalten wie Ia und Nein. Wie e8 nun auch mit jenem Einfluß, den Bacon auf die Welt geübt, ftehen möge, jeden- falls war oder ift derjelbe nad der Meinung des jüngjten Gegners vollfommen unberechtigt und der verderbliditen Art. Diefer Punkt, Bacon’s wiffenfchaftliche Bedeutung, ift Liebig's eigentliche Zielfcheibe, er beabjichtigt eine Rettung im umge- fehrten Stil, er findet die Welt über Bacon’s Bedeutung in der ärgſten Verblendung, in dem ausgemachteſten Vorurtheil befangen und erweilt ihr die Wohlthat, fie von diefem Irr— tum zu befreien. Aber auch diejes Ziel fladert vor feinen Augen und er fieht zwei Geftalten vor ſich. „Nichts Tann gewiffer fein‘, jagt Liebig, „als daß einem ſo ſcharfblickenden Mann wie Bacon die geiftige Bewegung in feiner Zeit nicht entgehen konnte, obwohl er ihre eigentlihe Richtung nicht be- griff, und er befaß das volle Talent und die Ausdauer, um fie zu feinem perfönlichen Nuten auszubenten.“ Was jah der

fo jcharfblidende Mann von der geiftigen Bewegung feiner Zeit, wenn er deren Richtung nicht jah? „Die Natur, die ihn fo reich mit ihren fchönften Gaben ausgeftattet Hatte, hatte ihm den Sinn für die Wahrheit und Wahrhaftigkeit verſagt.“ Ganz davon abzufehen, daß nach diefer Aeußerung der Sinn für Wahrheit nicht zu den ſchönſten Gaben zu gehören fcheint, findet Liebig in Bacon’s Eſſays „unverwerflihe Docu— mente feines feinen Geiftes und Scharffinns, fowie feiner tiefen Kenntniß und richtigen Beurtheilung menſchlicher Ver- hältniffe und Zuſtände“. Auf dem Gebiete der Menſchen— fenntnig, wo die Wahrheit zu fagen Feineswegs eine leichte und harmlofe Sache ift, Hatte und zeigte Bacon einen Wahr- heitsfinn, den Liebig ſelbſt rühmend hervorhebt, aljo die Natur nicht, wie jener meint, ihm verjagt hatte; wird diefer Sinn auf einem andern Gebiete von dem Gegner vermißt, fo kann er diefen Mangel nicht mehr als Naturfehler, fondern nur noch als Bildungsfehler anfehen, womit gerade die Spiße ſei— nes Urtheils über Bacon abbricht. „Mit Shafefpeare und Bacon beginnt eine neue Literatur‘, jagt Liebig, und derfelbe Mann, der auf diefe Weife unmittelbar neben den größten Dichter der neuen Zeit an deren Spite geftellt wird, ſoll nad) demfelben Kritiker nichts als „ein Taſchenſpieler“, „ein frecher unwiſſender Dilettant“ gewefen fein, dejfen Hauptwerk weiter nichts enthalte als „‚abgedrojchene triviale Wahrheiten‘? Daraus mache ſich einen Vers, wer es vermag. Es iſt ergöglich zu jehen, wie Herr von Liebig, indem er Bacon’s Bedeutung völlig entwerthen will, fich felbjt fortwährend im Wege fteht und von den Vorurtheilen, wie ev fie nennt, die zu Gunſten Bacon’s die Welt eingenommen haben, ſelbſt viel zu ſehr angeſteckt ift, um die Welt von dieſem epidemijchen

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Irrthum zu heilen. Daß Bacon ein bloßer Charlatan war, ift Liebig's Entdedung; daß er einer der begabtejten, geift- volfiten, einflußreichiten Männer gewefen, hört er andere fagen und hat nichts entgegenzufegen, er fagt es auch und macht jetst aus zwei unverträglichen Dingen, feiner Entdeckung und feinem VBorurtheil, einen Reim, der feiner ift. Glücklicherweiſe hört er von andern auch verfihern, daß Bacon ein fchlechter Menih war, ein Charakter „von bodenlos nichtswürdiger Geſinnung“, erklärt e8 do felbjt der berühmte Macaulay, der Bemwunderer des Philofophen Bacon; das kommt dem Gegner wie gerufen, er wird mit eigener Spürkraft diefe mo- ralifhe Entdeckung felbit, wir werden ſehen wie, zu machen wiffen, und jett ijt der Reim fertig, denn die Niederträchtig- feit des Charakters kann ja die begabtefte Natur Herunter- bringen bis zu einem elenden Charlatan. Wenn man diefes Bild mit der nöthigen tugendhaften Entrüftung der Welt vor- hält, jo müßte es fonderbar zugehen, wenn die Welt nicht mit der nöthigen tugendhaften Entrüftung, die fie jo gern empfin- det, in Aufruhr gerathen und die Bildfäulen Bacon’s über den Haufen werfen follte. „Ich bin fo wenig ein Freund oder Feind Bacon's“, jagt Herr von Liebig mit unerjchütter- lic) gleichgültiger Strenge, „als ich ein Freund oder Feind des Schwefels bin“, und nachdem er mit diefem treffenden Vergleich Bacon unter feine Objecte aufgenommen, ift es nicht feine Schuld, fondern eine Eigenschaft diefes Dinges, welches Bacon Heißt, wenn e8 Schwefelgerud) um fid) verbreitet.

2. Liebig und Sigwart.

Es ift zehn Jahre her, daß Liebig’s Schrift „Ueber Francis Bacon von Verulam und die Methode der Naturforſchung“

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erihien, durd) den Namen des Themas und des Verfaſſers Aufjehen machte, Stimmen für und wider hervorrief und namentlich einen Titerarifhen auf Bacon’8 Bedeutung bezüg- lichen Streit veranlaßte, den von philofophifher Seite C. Sig- wart aufnahm und fortführte; er begann mit dem Artikel: „Ein Bhilofoph und ein Naturforfcher über Franz Bacon von Verulam“, worin er den Gegenſatz zwifchen meiner Beurthei- lung Bacon’s (in der erjten Auflage diefes Buchs) und Lie- big’8 Schrift prüfend darlegte, mit ebenjo anerfennenswerther Unparteilichfeit al8 Sachkenntniß dazu Stellung nahm, die Frage erörterte und zu dem Ergebniß gebradjt wurde, daß Liebig in der Hauptfahe die wahre Bedeutung Bacon’s nicht erfannt, dagegen fo weit Recht habe, als er die Illufion einer baconiſchen Methode zerftört.*) Wenn Sigwart einen wefent- lichen Mangel Bacon's darin fehen will, daß diefer zwar die Aufgabe einer inductiven Logik geftellt, aber nicht gelöft habe, wenn er hinzufügt, daß diefe Aufgabe bis heute noch nicht ge- löſt fei, daß eine Logik fehle, die fich zu den naturwiſſenſchaft— lihen Geiftesoperationen, zu der Erzeugung und Bildung ber Begriffe verhalte, wie die ariftotelifche Logik zu der Bildung

*) Ueber Francis Bacon von Berulam u. f. w. Bon Juſtus von Liebig (München 1863). Mit Beziehung auf die obigen Anfüh- rungen vgl. ©. 1 und 54, ©. 38. 45. 57.

Dagegen Sigwart: „Ein Philofoph und ein Naturforfcher über Fr. Bacon von Verulam“, Preuß. Sahrb. (1863), Bd. XII, Heft 2, ©. 33—129. Dagegen Liebig's Replik, Allg. Zeitg. Beil. 1863, Nr. vom 2., 3., 6., 7. November. Sigwart's Duplif: „Noch ein Wort über Fr. Bacon v. Berulam. ine Entgegnung“, Preuß. Iahrb. (1864), Bd. XI, Heft S. 79—89, Liebig’s Triplit: „Noch ein Wort über Fr. Bacon v. Verulam“, Allg. Zeitg., Beil. 1864 (4.—7. März). Da- gegen Sigwart: „Eine Berichtigung in Betreff Bacons“, Allg. Zeitg., Beil. 1864 (30, März).

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der Urtheile und Schlüffe, jo anerfenne ich vollfommen, wie begründet und richtig diefe Forderung ift; an dem Tage, wo fie erfüllt und ein folches Werk gelungen fein wird, nenne man es „Logik der Erfahrungswiſſenſchaften“ oder „Kritik der naturforfchenden Vernunft“, ein Werk, das ohne die wirkliche Theorie der Empfindungen und die darauf gegründete Kritik der Sinne gar nit ausgemacht werden kann, wird die Philojophie einen ihrer größten Fortjchritte vollendet Haben. Dann wird jeder, der e8 heute noch nicht einfieht, vollkommen begreifen, daß Bacon zu der Löſung diefer Aufgabe mit feiner Methode Feineswegs einen verfehlten oder vergeblihen Schritt gethan Hat; denn Einiges von dem, was zur inductiven Denf- art und Forfhung gehört, hat Bacon fo hell erleuchtet, wie feiner vor und nad) ihm. Wenn daher Sigwart am Ende feiner Duplif, indem er mit Liebig abrecdhnet, alle feine Ent- gegnungen aufrehthält und Hinzufügt, „wenn ich einen Vor— wurf verdiene, fo ift e8 der, daß ich (in Betreff der Methode) zu viel zugegeben“ *), jo bin ich wirffich diefer Meinung.

I. kiebig’s Einwürfe. 1, Neue Beweife gegen Bacon's Gefinnung.

Da in der Polemik des Herrn von Liebig Bacon's Mo: ral eine jehr wichtige Rolle fpielt und aus dem völligen fitt- lichen Unwerth feines Charakters der ebenfo große willen Ichaftliche Unwerth feiner Leiftungen Hergeleitet wird, fo müffen

*) Preuß. Jahrb., Bd. XII, ©. 85.

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wir das Verfahren, welches der Gegner in diefem Punkte be- folgt Hat, etwas näher ins Auge faſſen. Bacon’s Charakter: ſchwächen liegen fo deutlich zu Tage, fie find in diefem Werke jelbjt jo umftändfich erörtert worden, daß unfere Lefer mit dem gejchichtlichen Thatbeftande ganz vertraut find; es ift einem fittlichen Rigoriften, der ſich in der eigenen Rechtſchaffenheit wohlfühlt, jehr Leicht gemacht, unbefümmert um den Charakter und die Schuld des Zeitalters, in dem Bacon lebte, den Stab über den Mann fchonungslos zu brechen, der durd) fein Un— glüd und den tiefen Hall die Sünden, die er mit Tauſenden feiner Art theilt, noch nicht fchwer genug gebüßt hat. Sein ihlimmfter Fehler war die Liebe zum Tand, zu den Gütern und Scheinwerthen der Welt. Wer von diefen Eitelfeiten und Gelüften ganz frei ift, Habe das Recht ihn zu fteinigen. Aber ih rede jest von dem eigenthümlichen VBerfahren, das Herr von Liebig einfchlägt, um den gefhichtlihen Beweis zu führen, daß Bacon ein Menſch „von bodenlos nichtswürdiger Gefin- nung“ war. Er hat befanntlidy in feiner „Historia vitae et mortis” eine Mafrobiotit zu geben verfucht, deren wifjenfchaft- lichen Unwerth wir fchon kennen gelernt*), aber Herr von Lie- big Hat in diefem Buche die Duelle entdeckt, woraus fid) gegen Bacon’3 Charakter eine Menge der ftärkiten Beweisgründe ergeben. Die Schrift zeige überall die Induftrie des Höflings, der fich nach den Sitten und Liebhabereien des Hoflebens richte und ſolche Lebensregeln erfinne, die nach dem Geſchmacke des Hofes find. Man muß fid) wundern, diefe Erfindungen ge— macht zu fehen in einem Zeitpunkt, wo Bacon bereits vom Hofe verbannt war ohne Ausfiht dev Rückkehr. Unter den

*) Bol, oben Bud II, Cap. XI, S. 348 -50.

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Mitteln zur Lebensverlängerung wird neben anderen Vor— Schriften, die unter Umftänden auch Ausfchweifungen erlauben, phthagoreifche Lebensart, ftrengite Enthaltfantkeit, Hungercuren, rauhe Kleidung u. f. f. empfohlen. ‚Der Inhalt des Buchs“, fagt Liebig, „iſt wie darauf berechnet, die Neigungen einiger Berfonen zu den Schwelgereien der Tafel und anderen Ge: lüften zu rechtfertigen.” Unter den Zeichen der Langlebigkeit werden von Bacon Symptome angeführt, die Liebig als ebenfo viele wohlberechnete Schmeicheleien deutet, denn die vornehmen Leute hören gern, daß fie langlebig ausjehen; bei dem einen Symptom (e8 betrifft die Befchaffenheit der Haare) habe Ba- con „wahrſcheinlich“ an den König, bei dem zweiten „wahr: fcheinlich” an den Prinzen von Wales, bei dem dritten „wahr— ſcheinlich“ an den Günftling gedadht: das find drei Wahr- fcheinlichkeiten, die ebenjo viele Unwahrfcheinlichkeiten find, denn es fehlt jede Spur eines Beweifes. Weil Bacon unter feinen diätetiſchen Vorſchriften Fleiſchbrühe zum Frühſtück, Aloepillen vor dem Mittageſſen und Glühwein beim Abend— eſſen empfiehlt, ſo entdeckt Liebig, man lerne aus Bacon's Buch, daß der König „höchſt wahrſcheinlich“ alle dieſe Mittel brauchte, alſo er ſchließt aus Bacon's Worten ohne jede Spur eines Beweiſes auf die Diät des Königs und löſt daraus die Entdeckung, daß Bacon ſeine Vorſchriften nach der Diät des Königs eingerichtet habe. Endlich „zieht er in Betracht, daß dieſes Buch höchſt wahrſcheinlich gegen Harvey, den Leibarzt des Königs, den dieſer ſehr liebte und gegen deſſen Rath— ſchläge gerichtet war, gegen den größten Arzt ſeit Hyppokrates, den Entdecker des Blutumlaufs“ u. ſ. f. Laſſen wir den Hippokrates, deſſen Name Liebig aus Achtung vor den Griechen mit einem y grec ausſtattet, ſo war Bacon nad) der Wahr—

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ſcheinlichkeitstheorie dieſes Gegners ein jonderbarer Schmeid)- ler: er, ein Laie, vom Hofe verbannt, erfinnt, um dem Könige zu fchmeicheln, ärztliche Vorſchriften in feindfeligfter Abficht gegen den Xeibarzt, den der König fehr liebt, in der Nähe des Königs! War das nicht der geradejte Weg, den König zu erzürnen, und das unfehlbarite Mittel, ſich zu bla— miren? Ohne jede Spur eines Beweifes hat Liebig fo viele „Wahrſcheinlichkeiten“ erfonnen, von denen die lebte „die höchſte Wahrjcheinlichkeit“ fein fol und in der That nad) fei- nen eigenen Worten die allerhödjfte Unwahrfcheinlichkeit ift. Und von einer ſolchen ganz aus der Luft gegriffenen und völ- fig verfehlten Wahrjcheinlichfeit macht er wörtlich folgenden Schluß: „Wenn man fie in Betracht zieht, fo wird man in das größte Erjtaunen verfett über die bodenlos nichtswilrdige Gefinnung, die e8 (da8 Buch Bacon’s) veranlafte.‘*)

2. Neue Art, Bacon zu überſetzen.

Bacon hatte nicht nöthig, dem Könige indirect zu ſchmei— heln, und Liebig hatte noch weniger nöthig, nach ſolchen in— directen und verborgenen Schmeicdheleien eine fo unglüdliche Jagd anzuftellen, da fid) in Bacon’s Schriften Stellen genug finden, wo er dem Könige offen, direct und mehr als billig gefchmeichelt Hat. Werfe den Stein auf ihn, wer nie einem Fürften Schmeicheleien gejagt, und zwar in einer Zeit, wo fie weniger an der Tagesordnung find, weniger zur Hoffitte ge— hören, als zu Bacon's Zeiten! Um zu beweifen, welcher „nie— drige Schmeichler” Bacon war, führt Liebig aus dem Eins

*) Weber Fr. Bacon v. Berulam u. f. f., ©. 41—44. Bol. Sigwart, Preuß. Jahrb., Bd. XI, ©. 81—83.

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gange der Schrift über den Werth und die Vermehrung der Wijfenihaften eine Stelle an, worin Bacon, der fein Werk dem Könige widmet, diefem die Pflege der Wilfenfchaften ans Herz legt als des Königs eigene Sache und bei diejer Ver— anlaffung die Gelehrfamfeit des Ietteren über die Maßen erhebt. Daß ein König und zwar ein geborner eine folche Fülle von Gelehrfamfeit befite, fei faft ein Wunder. Das ift die Stelle, in welcher Bacon feine Verwunderung ausdrüdt, daß ein geborener König ein fo gelehrter Mann ei. Um Bacon's übertriebene Schmeicheleien zu beweifen, würde id) diefe Stelle zuletst angeführt haben und faſt ebenfo wenig als daß er dem Könige zu gefallen gegen deffen geliebten Leibarzt eine medicinifche Polemik gejchrieben. Jakob Hielt die gebore- nen Könige für Ebenbilder der Gottheit. War es eine bejon- dere Schmeichelei, diefem Kmige zu jagen, daß eine Tugend, die Bacon aufs allerhöcjfte preijt, bei geborenen Königen ſich jelten finde? Noch dazu Hat Herr von Liebig die unglüclich gewählte Stelle falſch angeführt und unrichtig überfegt, er giebt unter dem Text feiner Schrift den Iateinifchen Sat fo wieder, daß er drei Fehler enthält, die wohl nicht alle Drud- fehler find. Bacon Hat von der Gelehrjfamfeit des Königs gefagt „prope abest a miraculo“, d. 5. fie ift nahezu ein Wunder; Liebig läßt ihn fagen „probe abest a miraculo“ und überjegt mit gefperrter Schrift: „fie ift in der That ein Wunder“. Nach feiner Ueberſetzung Heißt probe „in der That“ und abest a miraculo „fie ift ein Wunder“.*) Misverftändniffe diefer Art find Herrn von Liebig noch mehrere begegnet an Stellen, wo fie weit mehr zu bedeuten

*) Weber Fr. Bacon v. Berulam u. f. f., ©. 41.

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haben als hier. So maht er Bacon den ſchlimmſten Bor- wurf, der ihn im feiner ganzen naturwifjenjchaftlihen Blöße zeigen ſoll, daraus, daß diefer die Wärme zwar als Bewegung erklärt, aber die nähere Beitimmung der Erpanfion ausdrüd- fi) von der Bewegung, in welcher die Wärme beftehe, aus- geichlofjen Habe. Nun hat Bacon die Erpanfion ausdrüdlid) in den Bewegungsbegriff der Wärme eingefchloffen, wie in jeder Darftellung feiner Lehre, fie fei noch fo oberflächlich, zu lefen ift. Woher diefes Mißverftändnig? Aus einer Stelle, in welcher Bacon, um an dem DBeifpiele der Wärme feine Erelufionsmethode zu zeigen, erklärt, aus der Natur der Wärme fei die örtliche oder ausdehnende Bewegung auszuſchließen „secundum totum“, d. h. im Ganzen, in Nücdficht auf das Ganze, auf die Maffe, fie fei auszufchließen als fortfchreitende Bewegung, als Maffenbewegung, da, wie er fpäter erklärt, fie Diolecularbewegung („per particulas minores corporis“) fei. Was iſt zu tadeln? Daß Herr von Liebig Bacon fagen läßt, was er nie gejagt hat: „über Bord die ausdehnende Bewegung!“*) Daß er die nähere Beftimmung, auf die alles anfommt, „secundum totum” einfad ignorirt. Er hat es nicht mit Abſicht gethan, denn in der deutſchen Ueberſetzung, worin er den Sat gelefen, jteht nichts von dem „secundum totum“, weil diefe Hinzufügung der Ueberſetzer auch nicht verjtanden und darum für beffer gefunden hat, fie zu ver- Ihweigen. Aber nachdem Sigwart Herrn von Liebig auf diefe gröbliche Unterlaffung aufmerkfam gemacht, hätte diefer durch blinde Rechthaberei die Sache nicht verjchlimmern und fagen follen, im englifhen Text ftehe „in the whole” und das be-

*) Weber Fr. Bacon v. Verulam u. f. f., ©. 4.

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deute „im Einzelnen oder in der Mehrzahl der Fälle“, was es nicht bedeutet und am allerwenigften an der fraglichen Stelle, wo diefe Bedeutung völliger Unfinn wäre. Außerdem it „secundum totum“ nicht die Ueberfegung von „in the whole“, fondern umgefehrt. Seit wann aber heißt „secundum totum“, wie e8 Herr von Liebig erflärt haben will, „im Ein- zelnen oder in der Mehrzahl der Fälle‘? *)

3. Bacon's Dilettantenruhm.

Ich bin der lette, der Herrn von Liebig einen Vorwurf daraus macht, daß er das Latein nicht oder nur fehr mangel- haft verfteht, denn ein folder Mangel thut einem fo berühm- ten und um die Welt jo Hochverdienten Naturforjcher feinen Eintrag. Nur ift er vermöge diefes Mangels nicht gerade berufen, Bacon's Werke zu richten, und er hätte nicht mit der keckſten Sahunfenntniß behaupten follen, daß in der Auslegung der baconifhen Schriften der englifche Text zu Grunde gelegt werden müffe, weil Bacon Feines feiner Werfe Tateinifch ge- fchrieben habe, da er doc) fein Hauptwerk jelbft im dieſer Sprade verfaßt und zwölfmal umgefchrieben hat. Daß Bacon fih in feinen Werfen nur der Landesſprache bedient habe, wünfcht Herr von Liebig aus zwei Gründen: einmal weil nun jenes „in the whole“ als Grumdtert feititeht, das irgend ein erbärmlicher Ueberjeger mit „secundum totum‘ wiedergegeben, dann weil e8 fi für den Dilettanten Bacon ſchickt, nur in der Landesſprache gefchrieben und eben dadurch bei dem großen Haufen der Dilettanten jenen Beifall erworben zu haben, auf

*) Bol. Sigwart, Preuß. Iahrb., Bd. XII, ©. 98 flg.; Bd. XI, S. 83 jlg. Fiſcher, Bacon. 32

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dem allein nad) Liebig der Ruhm beruht, den ihm * Werke brachten.*)

Daß Herr von Liebig kein Lateiner war, iſt eür feinen Ruhm, wie gefagt, die gleihgültigite Sade der Welt. Daß er aber in diefem Punkte den Kenner fpielt und Bacon von oben herunter anfieht, weil er als Dilettant nicht in der Sprade der gelehrten Welt, fondern in der Landesſprache ge- fchrieben habe, um Dilettantenruhm zu erwerben, das verräth eine Unfenntniß der Sache und eine noch ſchlimmere Eitelkeit der Berfon, die man fehr hart beurtheilen müßte, wollte man biefelbe Elle an ihn anlegen, womit er Bacon nicht etwa mißt, fondern prügelt.

4. Das Urtheil über Bacon's Methode.

Was demnadh Herr von Liebig über Bacon's gejchicht- lihen Einfluß, perfönliche Bedeutung, fittlihen Charakter und dilettantiſche Schriftftellerei gejagt hat, ift fo widerſpruchsvoll, fo unbegründet oder geradezu falſch, daß diefe Feineswegs nebenfächlichen, ſondern von ihm felbjt ſehr nachdrücklich her— vorgehobenen Theile feiner Bolemif ihr Ziel gänzlich verfehlen und erfolglos zu Boden fallen. Bei alledem könnte er immer noch ins Schwarze getroffen haben, wenn er im Hauptpunfte Recht behalten und wirklih den Schein einer baconifchen Me— thode zerjtört haben jolite.

Bevor der Beifall gelten darf, den er gerade für diefen vermeintlichen Triumph von vielen geerntet, muß zuerjt gefragt werden: wie hat Liebig die baconifhe Methode verftanden? Eben diefe Frage, die doch vor allem zu unterfuchen war, ift

*) Weber Fr. Bacon v. Berulam u. ſ. f., ©. 34 flg.

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bei den Verhandlungen für und wider am wenigjten erhoben und fo gut wie gar nicht erörtert worden. Sonſt würde man gefunden haben, daß diejer ftärkite Theil feiner Polemik, wenn der Beifall die Stärfe ausmacht, der ſchwächſte von allen ift und die baconifche Methode bei diefer Gelegenheit nicht bloß durch) ein Misverjtändniß, fondern durd) eine beifpiellos ver- fehrte Auffaffung entjtellt worden. Was Liebig für die baco- niſche Methode anfieht, ift ein Unding; was er ihr entgegen- jet, ift die baconifhe Methode. Hier folgt der Beweis.

Es Heißt: „Um Bacon’8 Iuductionsproceß richtig zu ver— ftehen, ift e8 vielleicht nütlicy feine Theorie der Inftanzen zu entwideln, die er bei jeinen Unterfuhungen in Anwendung bringt.“ Beiläufig: Bacon's Induction befteht in der Be— obachtung und kritiſchen Bergleihung der Fälle oder That- fahen (Inftanzen). Um die Induction zu verftehen, ift es daher nicht „vielleicht nüglich‘‘, jondern einfach nothwendig zu wiſſen, was die Injtanzen bedeuten. Was bedeuten fie nad) Liebig? Er fagt wörtlid: „Bacon ftellt fi) nämlich vor, daß in jeder Imftanz, für fid betradtet, nur ein Stüd von dem Geſet erkennbar ſei, verhüllt und verborgen durch andere Dinge; daß es demnach bei der einen Inſtanz der Beobachtung oder dem DVerftande näher liege al8 bei einer anderen. Man müffe darum fo viel als möglid) Inftanzen beifammen Haben und diejenigen zu unterjcheiden wiffen, welche gleichſam handgreiflich das Geſetz erfennen ließen.” *)

Ich fage, daß nie in der Welt Bacon verfehrter aufgefaßt

*) Ueber Fr. Bacon v. Verulam u. ſ. f., ©. 23. 52*

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worden ift, denn es giebt nichts Verfehrteres als das vollfommen Sinnlofe. Er ſoll gedacht haben, daß man ein Naturgejet jtücfweife zufammenlefen müfje, wie der Vater der Medea den Abſyrtus, daß man in diefer Erfcheinung ein Stüd, in der andern ein zweites finde, etwa in dem Fall des einen Körpers den Fallraum, in dem eines anderen die Yallzeit erfenne, und fo allmälig das Gefeß wie eine Summe aus ihren Poſten zufammenaddire? Daher fordere Bacon die Beobachtung vie- fer Fälle. Und aus diefem Ungedanfen, der nie in eines Menſchen Kopf gekommen ift, foll er gefchloffen haben: „daß es (da8 Geſetz) demnach bei der einen Inftanz dem Verſtande näher liege als bei einer anderen?” Wie denn? Weil „in jeder Inſtanz, für fi) betrachtet, nur ein Stüd von dem Ge- jet erfennbar fei, darum foll „es (das ganze Geſetz) bei der einen Inftanz dem DBerftande näher liegen als bei einer an— deren?” Etwa deshalb, weil aus der einen Inftanz ein größe- res Stüd von dem Geſetz erfennbar ift?

Wäre die angeführte Stelle in Liebig’8 Schrift die ein- zige, die den fraglichen Punkt betrifft, fo würde ich zweifeln, ob er wirflih Bacon den volllommenen Unfinn zugetraut hat, daß in einer Erfcheinung nur ein Stüd des Gefetes erfenn- bar, nur ein Theil der Bedingungen, aus denen die Erfchei- nung folgt, enthalten fein foll; aber es kann über diefe Mei- nung Liebig’S fein Zweifel bejtehen, da er an einer anderen Stelle die einfache, jedem Kinde einleuchtende Wahrheit Bacon entgegenjegt als eine Einficht, die jenem gefehlt habe. „Ein jeder, der fich einigermaßen mit der Natur vertraut gemacht hat, weiß, daß eine jede Naturerfcheinung, ein jeder Vorgang in der Natur für fi), das ganze Geſetz oder alle Gefeke, durh die fie entftehen, ganz und umgetheilt in fich ein—

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ichließt.“*) Man braudt gar nicht mit der Natur vertraut zu fein, um zu wiffen, was nur Bacon nad) Liebig nicht ge- wußt haben ſoll: daß jede Ericheinung aus den Bedingungen folgt, aus denen fie allein folgen kann, und daß fie nicht folgt, wenn diefe Bedingungen nicht oder nur theilweife vorhanden find. Das iſt fo einleuchtend, als der Sag A= A. Wenn die nothwendigen Bedingungen ebenjo fiher, als fie da find, aud) erfennbar wären, fo hätte die Naturforihung ein leichtes Gejhäft; weil aber zu den wejentlihen Bedingungen nod) anderweitige Umftände hinzutreten und diefer Unterfchied des Nothwendigen und Accidentellen unferer Wahrnehmung Feines: wegs ohne weiteres einleuchtet, darum wird aus dem leichten Geſchäft eine jchwierige Aufgabe, deren Löfung die Fritifche Beobachtung und Bergleihung vieler Thatfachen fordert. Das war Bacon’s einfahe und unverfennbare Lehre, der Liebig Folgendes entgegenjtellt: „Die wahre Methode geht demnach nicht, wie Bacon will, von vielen Fällen, fondern von einem einzelnen aus, iſt diefer erklärt, jo find damit alle analogen Fälle erklärt.” Als ob die Analogie etwas anderes wäre, als die Einfiht in die wejentliche Achnlichkeit vieler Fälle, ge- gründet auf deren Bergleihung! Als ob man von vielen Fällen zugleich ausgehen Fönnte, während dod) die baconifche Methode von der Wahrnehmung eines Falles zu der anderer fortzugehen verlangt! „Unſere Methode‘, fagt Liebig weiter, „iſt die alte ariftotelifhe Methode, nur mit fehr viel mehr Kunft und Erfahrung ausgeftattet.” Was ift die baconifche Methode anderes? Was Hat Bacon an Ariftoteles weiter getadelt, als daß feiner Erfahrung die Kunft und Methode

*) Meber Fr. Bacon v. Berulam u. ſ. f., ©. 47.

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fehle? Liebig aber tadelt Bacon, daß diefer, weil ihm die „Stüde des Geſetzes“ im Kopfe fpufen, die erft aus vielen Dingen zufammenzulejen feien, darum die Beobadytung vieler Fälle für nothwendig halte. Was er ihm entgegenjegt, wird daher, fo vermuthen wir aus der Logik des Gegentheils, die Beobadhtung eines Falles fein. Indeſſen er fagt: „Wir unterfuchen das Einzelne und zwar jedes Einzelne, wir gehen vom Erjten zum Zweiten über, wenn wir von dem Erjten das Wefentliche begriffen haben.“ Als ob das „Weſentliche“ nicht ein Vergleichungsbegriff wäre, den man nur bilden kann durd) Vergleihung, d. h. nachdem man vom Erften zum Zweiten und Dritten fortgegangen ift! „Wir fchliefen nicht von dem Ein- zelnen, was wir fennen, auf das Allgemeine, was wir nicht fennen, fondern wir finden in der Erforfhung vieler Ein- zelnen das, was ihnen gemeinfam iſt.“s) Nun frage id): was hat Bacon anderes gelehrt? Verhalten fi) diefe Worte Liebig’8 zu den Vorſchriften Bacon's nicht wie ein ſchwacher und verwifchter Abklatfch zu dem Original, deffen Züge groß und deutlich ausgeprägt find? Erft Hat Liebig die Methode Bacon’ bis zum Unfinn entftellt, dann fett er ihr mit uns fiherer Hand entgegen, was Bacon mit der ficherjten ent- worfen. "

5. Unterſchied zwiſchen Liebig und Bacon.

Was der menfchliche Geift in der Vorftellung und Er- fenntniß der Dinge, in deren intellectueller und praftifcher Bearbeitung thut und zu thun hat, das zu duchfchauen, ins Bewußtfein zu erheben, in eine deutliche und beftimmte For—

*) Weber Fr. Bacon v. Berulam u. ſ. f., ©. 47.

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mel zu faſſen, iſt eine der höchſten und darum auch jchwierig- ften Aufgaben. An diefer Aufgabe jteht die Philofophie und ift no) lange nicht am Ziel ihrer Arbeit. Aber unter denen, die fich diefem Werke gewidmet und es um die Weite eines Zeitalters gefördert haben, behält Bacon feine Stelle und unerfchütterte Bedeutung. Er hat die Natur und den Werth der auf Beobachtung und Erperiment gegründeten Erfahrung, der auf ſolche Erfahrung gegründeten Erfindung jo Hell und nachhaltig erleuchtet, er Hat diefe Aufgaben dergejtalt in den Mittelpunkt der Philofophie gerüdt, daß die Nachwelt bei allen großen in diefer Richtung fortwirfenden Impulfen fich nach ihm umfieht. Das ift eine Thatſache, die feine Kritik un- geihehen macht, Feine wegredet, mit der darum jede zu rechnen hat. Wer Bacon fo beurtheilt, daß er es mit Liebig unbe- greiflich finden muß, wie die Welt diefem Manne jemals das Anſehen eines bahnbrechenden Geiftes Habe zufchreiben können, hat die Probe in der Hand, daß feine Rechnung falſch ift. Lie— big hat Bacon auf einem Wege gefucht, wo er ihn nothwendig verfehlen mußte; er ftieß fih an die praftifchen Landwirthe, die er gegen feine agriculturchemifchen Entdedungen voller Borurtheile fand, bejonders in England, er fpürte nad) dem Urfi des Uebels und entdedte „das Mufterbild der in Eng- fand unter den Dilettanten in der Wiffenfhaft üblichen Ex— perimentirmethoden und Schlußmweijen in Bacon's silva sil- varum“.*) Hier ein baconifches Experiment mit brennendem Spiritus, hier eines mit rothem Klee aus der Zeitfchrift der föniglihen Aderbaugefellfchaft von England: die Weberein- ftimmung ift fchlagend, und der wifjenfchaftliche Webelthäter,

*) Ueber Fr. Bacon dv. Berulam u. f. f., Vorrede, ©, V.

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der die Welt ein paar Jahrhunderte lang in die Irre geführt hat, ift endlich ertappt und buchjtäblid) in flagranti. Jetzt wird Bacon betrachtet, wie er hinter der Spiritusflamme aus- fieht, jet muß die „silva silvarum“, die gefchrieben wurde, als fein wifjenfchaftliher Ruhm feitjtand, und die man niemals unter feine erleuchtenden Schriften gezählt Hat, als das Haupt- und Grundbud) der baconifhen Philofophie gelten, was fie weder in Bacon's Augen nod in denen der Welt je war; jet wird der Proceß, den Liebig gegen Bacon anftrengt, auf die Frage gerichtet: was Hat Bacon in Erperimenten und Erfindungen geleiftet? Und da hier das Ergebniß zu feinen Ungunften ausfällt, jo wird der Stab über ihn gebrochen, und die Welt foll endlicd) eine Täuſchung losgeworden fein, in der fie nie war, denn fo oft fie auf Bacon zurüdgeblidt hat id) meine die Welt, die wirklich unter feinem Einfluffe geftan- den Hat und ſteht, Hat fie allemal das neue Organon vor fi) gefehen, und nie die „silva silvarum“. Und wenn heut zu Zage die englifhen Landwirthe noch nad) Bacon's Vorbild erperimentiven, jo iſt es nicht feine Schuld, fondern die ihrige, daß fie nad) drittehalb Iahrhunderten nicht weiter gefommen find. Hätte Bacon die Werke der Naturforfhung und Erfin- dung ebenfo praftifd) zu fördern gewußt, als er den Werth und die Bedeutung beider theoretifch zu erleuchten vermocht hat, jo würde er Bedingungen vereinigt haben, die fich in dem— jelben Kopf höchſt ſelten zuſammenfinden und faum fo, daß fie fi) gegenfeitig befruchten. Man Tann in den Werfen ber Entdeckung und Erfindung ein Meifter fein, ohne alle Fähig- feit darüber zu philofophiren, und man kann über den Werth und die Bedeutung beider vortrefflich philofophiren, ohne das

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Mindefte darin zu Leiften. Das Beifpiel eines ſolchen Philo- fophen möge Bacon fein, das Beifpiel eines foldhen Natur- forfchers ift Liebig, der nie weniger in feinem Element ift, al8 wenn er fi anfchict, über Entdedung und Erfindung zu philofophiren. Man höre über diejes Thema Bacon und man fühlt in jedem Wort feine Stärke, man höre Liebig, um zu erfahren, wie fi) das Gegentheil ausnimmt. „Die Erfin- dung ift Gegenftand der Kunft, der der Wiſſenſchaft ift die Erfenntniß; die erftere findet oder erfindet die Thatſachen, die andere erklärt fie, die Fünftlerifchen Ideen wurzeln in der Phantafie, die wiffenfhaftlihen im Verſtande. Der Erfinder it der Mann, der den Fortjchritt macht, er erzeugt einen neuen oder er ergänzt einen vorhandenen Gedanken, fodaß er jet wirffam oder der VBerwirflihung fähig ift, was er vor— her nicht war, fein Fuß überfchreitet den betretenen Pfad, er weiß nicht, wohin er tritt, und von Tauſenden erreicht viel- leicht nur einer fein Ziel; er weiß nicht, woher ihm der Ge— danfe fommt, noch vermag er ſich Rechenschaft zu geben über fein Thun. Erſt nad) ihm Kommt der Mann der Wilfen- ſchaft und nimmt Beſitz von feinem neuen Erwerb, die Wiffen- ſchaft mißt und wägt und zählt den Gewinn, fodaß der Erfinder und jedermann jett bewußt wird, was man hat; fie lichtet das Dunkle und macht das Trübe Har, fie ebnet den Weg für den nahfommenden Erfinder u. f. f.“*)

Sollte man glauben, daß diefe Süße von einem Manne herrühren, der das Genie und den Ruhm des Erfinder ge- habt hat? Sätze, in denen ein Wort das andere verdunkelt

*) Ueber Fr. Bacon dv. Verulam u. ſ. f., ©. 46.

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und wonach niemand weiß, was Erfindung fein foll, ob tappen, finden oder erfinden? Hätte Bacon auf diefe Art über die Natur und den Werth der Erfahrung, Entdedung, Erfindung geredet, jo würde feine Philofophie in der Welt feine Leuchte geworben und fo unberühmt geblieben fein, als ihr jüngfter Gegner fie machen möchte.

Drittes Bud.

Bacon's Nachfolger.

Erfies Kapitel, Die Fortbildung der baconiſchen Philofophie,

L Die baconifche Philofophie als Empirismus.

In den folgenden Abfchnitten, welche den Epilog diefes Werfes bilden, will ich die gefchichtliche Tragweite der baco- nischen Lehre darthun und zeigen, wie weit man von hier aus die neuen Gebiete der Philofophie überfhaut, die Bacon's geiftige Nachkommen angebaut haben. Es ift nur eine Aus- fiht, die ich meinen Leſern biete, Feine Reife. Da man Ba- con's epochemachende Bedeutung und feinen fortwirfenden Ein- fluß von manchen Seiten in Zweifel gezogen, ja fogar verneint hat, wie wir nod eben am Beifpiele Liebig's gefehen, fo werde ich die ſchon entwidelten Gegengründe nicht beffer unter- ftügen können als durch den gefchichtlich geführten Beweis, daß Bacon den Entwielungsgang der neuern Erfahrungsphilofophie beherriht, daß die Stufen und Wendepunfte der lebteren in feiner Lehre entweder unmittelbar oder mittelbar angelegt find.

Sowenig im gewöhnlichen Sinn von einem baconifchen Syſtem geredet werden kann, ſowenig giebt e8 ftreng genoms

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men eine baconifche Schule. Syſteme leben fich aus, denn die Formen find mwandelbar, aber eine nothwendige in der menjc- lichen Natur begründete Geiftesrihtung ift ungerftörbar. Se näher eine Philofophie dem Xeben felbjt fteht, je mehr ihre Begriffe Bedürfniffen entſprechen, um fo weniger fyftematifch wird wahrſcheinlich eine folche lebensvolle Philofophie fein, aber um fo nachhaltiger und dauernder ift ihre Geltung. Es ift unmöglid, aus der menſchlichen Wiffenfchaft die Erfahrung, aus der Erfahrung das Experiment, die Vergleichung der Fälle, die Bedeutung der negativen Inſtanzen, den Gebraud) der prärogativen zu vertreiben; es ift unmöglich, dem menfchlichen Leben die Bildung und Güter zu entfremden, welde das erfahrungsmäßige Wiffen einträgt, die Naturforfhung und die Erfindung; und wenn dies alles unmöglich ift, jo fteht die baconifche Philoſophie feit und gilt ihrer Richtung nad) für alle Zeiten. >

Aber eine andere Frage ijt, ob alles menſchliche Wiſſen blos in der finnlichen Erfahrung bejteht, ob aus diefem Prin— cip alle erfahrungsmäßigen Erfenntnigaufgaben wirklich gelöft und die Thatſache der Erfahrung felbjt erklärt werden kann. Ein anderes ift Erfahrungen machen, ein anderes die Erfah- rung zum Princip machen: das Erfte ift Empirie, das Zweite Empirismus. Empirie ift Erfahrung als geiftige Lebens- fülle, als erworbener VBorftellungsreihthum, Empirismus ift Erfahrung als Grundfaß, den man haben und dabei an wirk- lihen Erfahrungen fehr arm fein kann. Welterfahrung be- reichert die Wiffenfchaft immer und erweitert fie ins Unermeß- liche, in dem Antrieb dazu Liegt Bacon's pofitive und dauernde Wirkung; diefe bloße von der finnlichen Weltkenntniß genährte Erfahrung befriedigt nicht alle Erfenntnigbedürfniffe der menſch⸗

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lichen Natur, aber fie fteht auch feinem im Wege; dagegen die Erfahrungsphilofophie widerfegt fi) ausdrüdlich jeder fpecu- lativen Regung, die fid) in dem Stoffe der Welterfahrung nicht befriedigt; fie ſchwächt oder verneint das wiffenfchaftliche Intereffe an jedem Object, das nicht im Gefichtsfreife der empirifchen Vorftellung liegt. ‘Der Empirismus enthält einen Grundfag, der ohne weiteres gilt, und eine Schranfe, über welche das menfchliche Wiffen nicht hinausgehen foll: er ift in der eriten Rückſicht dogmatiſch, in der zweiten ausjchließend und bejchränft.e Und doch wollte Bacon, indem er die Er- fenntniß ganz an die Richtfhnur der Erfahrung legte, feinen Grundjag dulden, der Allgemeingültigfeit beanfprucht, und feine Schranke, die als Herculesfäule auftritt.

Es joll nur durch Erfahrung gewußt werden: das ift das erſte Ariom der baconifhen Philofophie. Wird diejes Ariom auch durd) Erfahrung gewußt und durch welche? Welche Erfahrung macht den Erfahrungsgrundfag? Welche verbürgt ihn? Wir beurtheilen die Erfahrungsphilofophie blos durd) ihre eigene Marime, wir unterwerfen das Anfehen derjelben lauter baconifchen Fragen, und wenn bei der fortjchreitenden Begründung am Ende die Unmöglichkeit einleuchten ſollte, die Erfenntniß auf Grund der bloßen Erfahrung zu rechtfertigen, jo wird in diefem Fortgange ein Punkt fonımen, wo fich der Empirismus nothgedrungen in Sfepticismus verwandelt.

II. Entwicklungsgang des Empirismus.

Der von Bacon begründete Empirismus beherrſcht eine Richtung der neuern Philoſophie vollkommen und entwickelt in

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feiner gefchichtlihen Fortbildung alle in ihm enthaltenen Fra— gen, eine nad) der andern, in naturgemäßer Ordnung. Es läßt fi) vorausfehen, daß auf diefem Wege die Erfahrungs: philofophie, indem fie fich in das Maß der Grundfäke fügt, mit jedem Schritt enger und ausjchließender, zugleich folge— richtiger und fyftematifcher ausfallen wird. Ihre Charafter- züge, die mit jedem Logifchen Fortſchritt Schärfer und deutlicher hervortreten, find in der baconifchen Lehre ſämmtlich angelegt und vorgezeichnet. -

In der That ift die Reihenfolge der Fragen fo einfach disponirt, daß ihre gefchichtliche Auseinanderfegung Feine andere fein konnte, al8 fie war. Alles Erkennen ift Erfahrung: auf diefem Sate fteht die baconiſche Philoſophie. Alfo ift die Erfahrungswiffenihaft, d. h. nad) Bacon die Naturwifjenjchaft, die Grundlage aller Wiffenfchaften, alfo die Natur der Grund, aus dem alle Erfcheinungen folgen, alle daher abgeleitet werden müſſen. Nennen wir diefen Standpunft Naturalismus, fo wird die Ausbildung defjelben der nächſte Schritt fein, dem der Empirismus thut, in baconifchem Geift, in Bacon’s Spuren, aber weit rückjichtslofer und darum folgerichtiger, als Bacon wollte oder wagte.

Alle Erkenntniß ift Erfahrung: fo lehrt Bacon. Soll dieſer oberſte Satz des Empirismus tiefer begründet werden, ſo heißt die nächſte Frage: was iſt Erfahrung? Welches ſind die Bedingungen, aus denen ſie folgt? Die Antwort lautet: alle Erfahrung iſt ſinnliche Wahrnehmung oder Senſualität, dieſe daher der Grund aller Erkenntniß. Die Ausbildung dieſes durch den Empirismus gebotenen und vorbereiteten Standpunkts iſt der Senſualismus.

Nehmen wir den Senſualismus zum Ausgangspunkt, ſo

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gefchieht von Hier aus der Fortgang in zwei Richtungen, die einander widerjtreiten, gleichwohl in der jenfualiftifchen Er- fenntnißtheorie ihren gemeinfamen Urjprung Haben.

Die neue Frage heißt: was ift Wahrnehmung? Oder da alles Wahrnehmen in einem Percipiven von Eindrüden in ung befteht, woher kommen diefe Eindrüde? Setzen wir, diefe Eindrüde in uns find VBorftellungen oder Ideen, die als folche geiftigen Urfprungs und geiftiger Natur fein müffen, jo lautet die Erklärung, alle Erfenntniß- oder Wahrnehmungsobjecte find Ideen, e8 giebt daher nichts als Geifter und Ideen: der Standpunkt des Idealismus, der geraden Weges aus dem Senfualismus hervorgeht. Setzen wir dagegen, jene Eindrücke oder Impreffionen find Bewegungserjcheinungen, die als ſolche förperlichen Urfprungs und Förperlicher Natur fein müffen, fo lautet die Erklärung, alle Wahrnehmung ift Sinnesempfin- dung, alfe Empfindung ift ein Erregungszuftand förperlicher Drgane, e8 giebt nur Materie und Bewegung: der en des Materialismus.

Wenn. aber die Elemente aller Erfenntnig bloß Eindrücde find, gleichviel ob diefe Eindrüde Ideen oder Impreffionen, ob fie Vorftellungs- oder Bewegungsacte, ob fie geiftiger oder förperlicher Natur find: wo bleibt die Möglichkeit einer ob- jectiven und nothwendigen Erfenntniß, einer objectiven, da jene Eindrüde lediglich in das Gebiet der jubjectiven menſch— lichen Natur fallen, gleichviel ob fie geiftiger oder Teiblicher Art find, einer nothwendigen, da in jenen Eindrüden nichts liegt, das fie in einleuchtender und allgemein gültiger Weiſe verbindet? Daher wird die Erfahrungsphilofophie, nachdem fie alle ihre Mittel dargelegt und berechnet hat, zu dem Er-

gebnig kommen müſſen, daß mit diefen Mitteln die Bedin— Fiſcher, Bacon. 99

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gungen zu einer wirffihen Erfenntniß nicht gededt werden können, daß es daher eine folche Erfenntniß nicht giebt: fie nimmt den Standpunkt des Sfepticismus, mit dem die Entwidlung des Empirismus endet. Der Entwidlungsgang führt von Bacon zu David Hume durd die Standpunfte des Naturalismus, Senfualismus, Idealismus und Materialismus: den Naturalismus auf baconifcher Grundlage vertritt Thomas Hobbes, den Senfualismus John Rode, den Idealismus George Berkeley, den Materialismus die franzöfiiche Aufklärung, die in Boltaire von Rode ausgeht, in Condillac fih dem Ma- terialismus zumendet, in Helvetius, Diderot, Ya Mettrie fort- fchreitet und in dem „systeme de la nature“ die äußerte Grenze erreiht. Dieſe franzöfifche Philofophie jtammt von Locke und ift ein Nebenzweig an dem großen Baum des Em- pirismus, der in Bacon wurzelt, in Hume gipfelt, und deſſen Hauptäfte Hobbes, Rode und Berkeley find.

In der Denkweiſe des Empirismus find gewiffe Grund» züge enthalten, die gleich in Bacon hHervortreten und fich in feinen Nachfolgern wie ein Familientypus erhalten. Die Er- fahrungsphilofophie kann als wirkliche Dinge nur die wahr- nehmbaren d. 5. einzelnen Dbjecte gelten laffen und erflärt die Gattungen oder Allgemeinbegriffe für bloße Abftracta, die nicht BVorftellungen der Dinge, fondern Zeichen für Vorftel- lungen find, wie die Namen oder Worte Zeichen für Abftracta, die darum die Dbjecte auch nicht erkennbar, fondern nur mit- theilbar machen. Diefe Erfahrungsphilofophen denfen in Rück— fiht der Gattungen nominaliftifch, wie die Scholaftifer, die ihnen vorausgehen, aber fie find antifholaftifch, da fi ihr Intereffe von den Glaubensobjecten abwendet und auf die natürliche Erfenntnig der finnlichen Dinge richtet; fie machen

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aus diefer Richtung den Grundzug des neuphiloſophiſchen Realismus im ausdrüdlichen Gegenjaß zu dem fcholaftifchen Realismus, zu Plato und Ariftoteles, zu der gefammten Tormalphilofophie, und in demfelben Maß, als fie die Gat- tungen, die Formen, die Zwede als Idole und veraltete Irr— thümer anfehen, müſſen fie die teleologifche Erklärungsweife verwerfen und die mechanifche zur Geltung bringen. Die Glemente aller wirklichen DObjecte find die Einzelvorftellungen und Einzeldinge, aus deren Verbindung und Zufammenfeßung alles Weitere abgeleitet fein will; daher nimmt die Erfahrungs- philofophie die Richtung der atomiſtiſchen Denfweife in dem Bewußtfein ihrer VBerwandtichaft mit Demofrit. Werden die wirklichen Dbjecte oder die finnlihen Dinge gleichgefet den Körpern, die unabhängig von der Vorftellung als Dinge an fich gelten, jo fällt der Atomismus mit dem Materialismus zufammen,

Wir werden hier in gedrängter und deutlicher Kürze die- jenigen Hauptzüge der Erfahrungsphilofophie herodrheben, welche die baconifche Lehre fortbilden, fei e8 daß fie Forde— rungen erfüllen, die Bacon gejtellt, oder Unterfuchungen aus- führen, die er angeregt hat, ich meine folche Forderungen und Aufgaben, welde unmittelbar die philofophifchen Grundfäte ſelbſt betreffen. Auf diefe ihre baconifche Herkunft richtet fich unfere befondere Aufmerkfamfeit aus zwei Gründen: einmal weil man diefe Genealogie zu wenig beachtet und die Fort- bildner der Erfahrungsphilofophie zu fehr als felbjtändige und eigenthümliche Denker angefehen hat, was fie Bacon gegenüber nicht oder im weit geringerem Maße find, als man glaubt, man hat verfannt, daß Bacon die Quelle des neuphilofophis

ihen Realismus ift und zwifchen ihn und die Fortbildner eine 33 *

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Waſſerſcheide geſetzt, die ihre Zeitalter trennt; dann weil die fpäteren Entwidlungsformen der Erfahrungsphilofophie jelbjt nicht befjer begriffen und gewürdigt werden Fönnen, als wenn man fie aus ihrem natürlichen Urfprunge, aus ihrem gefchicht- lichen Entjtehungsgrunde herleitet und gleichſam mit der Wur- zel aus der baconifchen Lehre heranszieht. Bacon felbjt, wo er von der Lehrmethode handelt, macht einmal die treffende Bemerkung, daß die Objecte am bejten gelehrt werden, wenn man den Lernenden ihre Wurzeln bloßlege. *)

*) De augm. Lib. VI, cp. 2. Op. p. 152.

Zweites Kapitel.

Der Naturalismns: Thomas Hobbes. A. Das Verhältniß von Natur und Staat.

I. Hobbes’ Aufgabe und Zeitalter.

Ale Erfenntniß foll fi nad) Bacon auf die reine Er- fahrung gründen und diefe auf den natürlichen Verſtand, dej- jen DObjecte die finnlihen Dinge find. Daher ift die Erfah: rungserfenntniß gleich der Naturwiffenihaft.e ‘Die Natur: wiffenfhaft, hatte Bacon mit großem Nachdrucke gejagt, ijt feine Hülfswiffenfchaft, fein Uebergang, feine Brücke (ponti- sternium) zu Anderem, fondern ‚die große Mutter aller Wiffenfchaften‘, auf ihrer Grundlage follen ſich nicht blos die phyſikaliſchen Fächer erneuen, wie Aſtronomie, Optik, Muſik, nicht blos die mechanischen Künfte und fogar die Me- dicin, fondern, was manche noch mehr wundern wird, aud) die humaniftifhen Wiffenfchaften, wie Moral, Politik, Logik. „Es ift fein Wunder, daß die Wiffenfchaften nicht wachen, da fie entwurzelt find.” Und an einer andern Stelle jagt er: „Ich muß wiederhofen, was ich ſchon oben erklärt Habe, daß

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man die Naturwiffenfchaft auf die einzelnen Wiffenfchaften an— wenden und diefe auf jene dergeitalt zurückführen müffe, daß fein Riß und Feine Zerftücdelung in der Erfenntniß entfteht, fonft ijt auf feinen Fortfchritt zu hoffen.“*)

Die Naturwiffenfchaft foll das Fundament aller Wiffen- ichaften, auch der moralifchen fein, diefe Forderung hatte Ba— con unumwunden gejtellt, wie er fie nad) der Anlage feiner Philofophie ftellen mußte, aber er ſelbſt Hatte diefer Forderung feineswegs Genüge geleiftet, ev Hatte fie in der Moral nur andentungsweife, in der Politit nicht erfüllt und die Religion von ihrer Erfüllung direct ausgefchloffen. Ueber die Politik wollte er jchweigen, die Religion follte nad) ihm nichts mit der natürlichen Erfenntniß zu thun haben: Hier ift innerhalb der baconifchen Philofophie eine offen gelaffene Lücke und des- halb die nächjte zu Löfende Aufgabe. Wenn die Philofophie an den Punkten ftehen bleiben will, wo Bacon aus Gründen, die wir fehr genau kennen gelernt haben, nicht weiter gehen mochte, jo entjteht jener Riß in unferer Erkenntniß, den er jelbft für einen verzweifelten Zuftand anfah.

Die Aufgabe ift einleuchtend: die moralifchen Wiffen- Ihaften follen.der Naturwiffenichaft gehorchen, die moralifche Welt ſoll aus Naturgefegen erklärt, auf den natürlichen Zu- jtand des Menſchen gegründet und daraus hergeleitet werden. Die Doppelfrage Heißt demnach: was ift der menſchliche Natur: zuftand? Wie folgt aus ihm die moralifche Ordnung? Oder in baconische Ausdrüde gefaßt: wie folgt aus dem menfchlichen „status naturalis” der „status civilis“? Es handelt fich

*) Nov. Org. Lib. I, 88. 107. Op. p. 300. 313—14. ©. oben Bud U, Cap. VI, ©. 243 fig.

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um die rein naturaliftifche Begründung der fittlihen Welt, um diefen Standpunft des Naturalismus, der aus dem Empiris— mus folgerichtig hervorgeht.

Diefe Aufgabe ergreift und löſt Thomas Hobbes, Ba- con’s unmittelbarer Nachfolger und Schüler. Er war im Jahr dev Armada geboren und hat den Meifter um mehr als ein halbes Jahrhundert überlebt (1588—1679); Bacon’s Zeitalter war das der Elifabeth und des erjten Stuart, es fällt zu— fammen mit. Englands nationalem Auffhwung unter dem Scepter der großen Königin, mit dem Abfall von der natio- nalen Politik und den parlamentarifchen Kämpfen unter Yalob, welche die Staatsumwälzung vorbereiten; KHobbes erlebt die Erfhütterungen, die Bacon kommen fah, die Rebellion, den Sturz des Thrones, die Errichtung der Republik, die Wieder: herftellung der Stuarts. Ein Iahrhundert englifcher Geſchichte liegt zwifchen dem Untergange der Armada und der BVertreis bung des letzten Stuart; dort fiegt die religiöfe Freiheit Eng- lands und mit ihr die politifche, hier die politifche Freiheit und mit ihr die veligiöfe, dort die zur Nationalfache gewor- dene Reformation, hier die „Revolution“; zwijchen beiden Epochen die „Rebellion“, die Republik, die Reftauration. Die drei größten Philofophen, die England im Laufe jenes Jahr: hunderts gehabt Hat, find die Söhne diefer Zeitalter geweſen und ihre Lehren verhalten fi, wie ihre Epochen. Bacon ent: jpricht der Reformation, Locke der Revolution, Hobbes, zwifchen beide gejtellt, in die Zeiten der Rebellion und Reftauration, hat feine Aufgabe jo gefaßt, daß er beiden Rechnung trägt und fid) die Frage aufwirft: wie muß der Staat befchaffen fein, um dem Ungeheuer der Rebellion, das ihn verjchlingt, den Fuß dergeftalt auf den Naden zu fegen, daß es fich nicht

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mehr rührt? Ungeheuer will durch Ungeheuer vertilgt oder beherrijcht fein, der Drache durch den Leviathan. Um die Drachenſaat des Kriegs, von der Natur ausgebrütet, zu ver: nichten, werde der Staat ein Leviathan! Bacon Hatte fo oft und nachdrücklich erklärt, c8 fei der Zwed des Staats, in fei- nem Gebiet den Frieden zu begründen und zu fihern; diefen Zwed will Hobbes auf unfehlbare Art erreicht fehen, daher ſoll nad) ihm der Staat alle Macht Haben, er foll in feinem Gebiet allmädtig fein, ein „Iterblicher Gott”, er foll es fein nicht im Widerftreit, fondern im Einklang mit dem Natur- geſetz. Auf diefen Punkt richtet fi) Hobbes’ Aufgabe und Lehre.*)

II. Löſung der Aufgabe.

1. Die Grundlage.

Die Löfung gefchieht in jener nominaliftifch- atomiftifchen Denfweife, die Bacon’s philofophifche Geiftesart Kennzeichnete

*) Die Hauptfragen, mit denen fi) Hobbes’ Werke befchäftigen, gehen auf die menfchliche Natur und die bürgerliche Gemeinfchaft, feine beiden erften Schriften, engliſch gejchrieben, nur wenigen mitgetheilt, nod) vor dem Ausbrud) des Bürgerkriegs verfaßt, find diefen Unter— fuchungen gewidmet: „On human nature‘ und „De corpore politico’’, In die Zeit von 1640 1653, während deren er im Auslande weilte, fallen die Schriften: ,‚De cive”, 1642; „Leviathan sive de materia, forma et potestate civitatis ecelesiasticae et civilis‘‘, 1651 (englifd)), 1670 (fateinifch). Nach feiner Rückkehr erfchienen die beiden Schriften: „De corpore“ (1655) und „De homine” (1658). Der Feviathan iſt jein Hauptwerk. Wir werden unfere Darftelung um fo kürzer fafjen dürfen, als Hobbes jelbft feine MWeitläufigfeit durch die Rückſicht auf be- fangene und vorurtheilsvolle Lefer entjchuldigt (Cap. 47, p. 326; Tat. Ausg., Amfterdam 1670).

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und fi) in Hobbes mit ihrer ganzen Schärfe dergeftalt aus- prägt, daß fie im Unterfchiede von Bacon die Form eines Syſtems annimmt und ausbildet. Nicht aus einer pedan- tiihen Neigung, jondern weil e8 die Aufgabe, die Hobbes ge: feßt war, fo mit fi) brachte; er ſollte die fittliche Welt ihrem ganzen Umfange nad) aus der Natur des Staates ableiten und diefen ſelbſt vein naturaliftifch begründen: daher war ihm die Form der Begründung, dev Weg der Deduction, die „ſynthe— tifche oder compofitive Methode‘, wie er felbft fie nennt, vor: gefchrieben, und indem er diefe Erfenntnißart nad) dem Vor— bilde der Geometrie für die Philofophie in Anfprud nahm, hielt er die Lettere ausdrüdlich dem bloßen Empirismus ent— gegen. Hier ift die Differenz zwifchen Hobbes und Bacon, die, ich wiederhole es, Feineswegs den einen vom andern trennt, fondern in der gemeinfamen von Bacon beherrfchten Sphäre enthalten ift und aus der Aufgabe folgt, die durch Bacon be- jtimmt war.

Ein Syitem von Folgerungen eine Principienlehre, auf die es ſich gründet, eine Art Metaphyſik oder „philosophia prima“, die das Lehrgebäude trägt. Hobbes muß dieſe For— derung an ſich ſelbſt ſtellen und, ſo ſehr ſie dem Empirismus zu widerſtreiten ſcheint, mit den Mitteln deſſelben erfüllen. Das iſt der ihm vorgezeichnete Weg, den er genau einhält. Wie iſt aus dem Erkenntnißſtoff, den der Empirismus als alleinigen zuläßt, eine Erkenntniß aus Principien möglich?

Ein Syſtem iſt ein Inbegriff allgemeiner Wahrheiten, die durch den Zuſammenhang von Grund und Folge, durch Be— weiſe und Schlüſſe verknüpft ſind; die Elemente eines Syſtems ſind daher wahre Sätze, deren Beſitz Wiſſenſchaft und deren umfaſſender Beſitz Weisheit genannt wird; die Elemente der

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Sätze (Urtheile) find Worte, welche ſelbſt nichts anderes find als Zeichen (Noten oder Marken) für Vorſtellungen, gemacht und erfunden, um die legteren ſowohl zu behalten als mitzu- theilen. Entweder laſſen ſich diefe Zeichen miteinander ver- binden oder nicht, entweder find fie vereinbar oder unvereinbar: im erjten Fall ift der Sa, der die Verbindung ausmad)t, wahr, im andern abſurd. Alles Begründen und Folgern ift daher nichts anderes als ein Verbinden und Trennen von Sätzen, die felbjt Lediglich im Verbinden und Trennen von Worten beftehen, im Addiren und Subtrahiren diefer Zeichen oder Marken. Beweifen heißt Schlüffe addiren, fchließen heißt Urtheile addiren, urtheilen Heißt Worte addiren, ‚Die Ver: jtändigen‘, jagt Hobbes, „brauchen die Worte als Rechen: pfennige, die Thoren als wirklihe Münze, deren Bild und Ueberfchrift fie verehren, es fei num dieſes Bild Ariftoteles, Cicero oder der Heilige Thomas.” Daher befteht nad) Hobbes alfer Erfenntnißitoff, den wir vermöge des NRäfonnements ſyſtematiſch ordnen, in Worten, die gleich Rechenpfennigen find, das Räſonnement felbjt im Addiren und Subtrahiven diejer Zeihen d. h. im Rechnen, daher die charakteriftifche Er- Härung: „Denken ift Rechnen.“ Diefes Rechnungsver— mögen, nämlich die Fähigkeit, die Vorftellungszeichen unter- einander zu verbinden, ijt die Vernunft, die den Menfchen vom Thier unterfcheidet; das Thier hat Verftand d. h. die Fähig- feit ein Wort zu verftehen oder mit dem Wort als Zeichen eine Vorjtellung zu verbinden, aber es kann die Vorftellungs- zeichen nicht untereinander verfnüpfen, d. 5. es kann nicht den- fen. Die Wiffenjchaft ift au die Sprade, an die Geltung der Worte gebunden, kraft deren es allein möglich ift, gemeingül- tige Säße zu bilden und daraus ein Syftem von Folgerungen

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zu entwideln, das einer Grundlage bedarf, auf die es ſich ſtützt. Dieſe Grundlage bejteht in den Elementarfägen, das find diejenigen Worterflärungen oder Definitionen, die nad) dem Beifpiele der Geometrie einen bündigen Zujfammenhang von Folgefägen ermöglichen und fordern. Die Einfiht in jene Grundfäge aller Wiffenfhaften giebt die Bundamentalphilo- fophie (philosophia prima), die in Hobbes’ Lehre den meta— phyfifhen Zug ausmacht.

Nicht in ernſthaftem Gegenjag zum Empirismus. Das Material find Worte, die Vorjtellungen bezeichnen und darum vorausfegen. Was durch das Wort zum Ausdrud kommt, find verallgemeinerte Borftellungen, fogenannte Gattungsbegriffe, die auf Feine andere Art fejtgehalten, aufbewahrt, verknüpft werden können, fie leben nur vermöge dev Worte und in ihnen: hier ift Hobbes’ nominaliftifche Denkweife, von der die Art der metaphyſiſchen abhängt.

Berallgemeinerte Vorftellungen fegen Einzelvorftellungen voraus, aus denen fie hervorgehen, fie find nichts anderes als deren MWeberbleibjel, daher ärmer, jchwächer, undeutlicher als diefe und in demfelben Maße einander ähnlicher. Nennen wir die Einzelvorftellung Wahrnehmung und deren zurücgebliebene Spuren oder Nahmwirkungen Erinnerung (Gedächtniß), fo find jene attungsvorftellungen verblaßte Erinnerungsbilder, deren Fortdauer und Mittheilung an die (Erfindung der) Sprade geknüpft ift, und deren Originale unfere Wahrnehmungen oder Sinnesempfindungen find. Diefe Empfindungen find Vorgänge in unſeren körperlichen Drganen, fie find das Product zweier Factoren, hervorgerufen dur den Eindrud von außen und bejtimmt durd) die eigenthümliche Gegenwirfung oder Reaction von innen. Die Urſache des Eindruds ift Bewegung, Die

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Folge der Reaction ift Empfindung; der Eindrud oder die Bewegung wird vermöge unferer Sinnesthätigkeit in Perception oder Empfindung umgewandelt, daher ift die lettere fein Ab- bild der Bewegung, Feine Erfenntniß ihrer Urſache, denn es giebt Feine Achnlichkeit zwifchen unferer Empfindungsart und der Bewegung, die fie verurfadt. _

Es giebt demnach für den gefammten wiffenfchaftlich zu ordnenden Vorjtellungsjtoff Feine andere Duelle als die im Gedächtniß behaltene Wahrnehmung d. h. Erfahrung: Hier ift Hobbes’ Empirismus. Es giebt für die Wahrnehmung feine andere Duelle als unfere Sinnesthätigfeit und Empfindung: hier ift Hobbes’ Senſualismus. Es giebt für die Empfin- dung feine andere äußere Urſache als die Eindrüde der Körper auf unferen Körper d. 5. die Bewegung: Hier üt Hobbes’ Materialismus,. |

Unfer Erfenntnißftoff it gebunden an die Sinneswahr- nehmung als feine Duelle, unfere Erfenntnißweife ift gebunden an die Bedingungen der Sprade und Abftraction (verallge- meinernde Imagination), die zufeßt von allen äußeren Dingen nichts übrig läßt als das abjtracte Außereinander, die Vor- ftellung des Raums, und von allen Bewegungserfcheinungen nichts übrig läßt als das abjtracte Nacheinander, die Vorftel- lung der Succeffion oder Zeit; Raum und Zeit find demnach nicht Dinge oder Eigenſchaften der Dinge, fondern bloße-Bor- jtellungsarten, wie alles Abftracte, Formen unferer Einbildung, der Rahmen unferes Weltbildes. Daher giebt e8 Feine ande- ven Erfenntnißobjecte al8 Dinge im Raum und deren Ber- änderungen d. h. Körper und Bewegungen, und es giebt nur zwei Arten dev Körper: foldhe, die uns gegeben find, und jolche, die wir machen, natürliche.und Fünftliche Körper. Unter

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den Tetteren ift der größte der Menfch im Großen, der gejell- ichaftliche Körper, der Staat. Der Staat ift unfer Werk, wir begründen und machen ihn, daher giebt es vom Staat eine der Geometrie ähnliche demonftrative Wiffenfchaft, die Hobbes in feinen Berfudhen „de corpore politico”“ und „de cive‘ entworfen und in feinem „Leviathan‘ ausgeführt hat.

2. Natur und Staat.

Der Staat ift nichts Urfprüngliches, er ift nicht gegeben, fondern gemadjt; gegeben ift die Natur, der Menſch im Natur: zuftande, aus ihm foll der Staat hervorgehen als ein menſch— (iches Product auf eine nothiwendige und naturgemäße Weiſe, das ift die Aufgabe: der status naturalis als der er- zeugende Grund des status civilis!

Zunächſt find beide Zuftände einander entgegengejeßt, der Staat enthält, was der Naturzuftand vollfommen ausjchließt, das menjchliche Gemeinwejen; er ift politifch, der Naturzujtand atomiftifch, hier begehrt jeder Fraft des Naturtriebes die Er- haltung und Förderung feines Dafeins, feine Macht ijt fein Recht, er braucht und erweitert fie, fo weit er fann, er gilt fich alles, die anderen gelten ihm nichts. Daraus folgt „der Krieg aller gegen alle“, der gefährlichite aller Zuftände, der jeden Einzelnen in den Grundbedingungen feines Dajeins be- droht, denn jeder fieht in dem anderen den Wolf, der ihn frißt, um nicht gefreffen zu werden: „homo homini lupus“. So widerjtreitet aufs äußerſte der Naturzuftand aller dem Naturtriebe jedes Einzelnen: diefer fordert die Selbjterhaltung, die jener bedroht, die Selbjterhaltung verlangt die Sicherung und Sicherheit des Dafeins, die der Naturzuftand aufhebt. Darum fordert das Raturgeſetz ſelbſt, daß der Naturzuftand

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aufhöre, daß er völlig aufhöre, damit jedem das Dafein völlig gefichert werde. Das Naturgebot jagt: „bekämpft euch nicht länger, fondern vertragt euch, jeder mit allen, um feines eige- nen Beten willen, fuche jeder feine Sicherheit!“ Es giebt nur einen einzigen Weg, dieſes Geſetz zu erfüllen: der völlige und freiwillige Austritt aus dem SKriegszuftande, womit jeder Einzelne auf feine bis dahin gültigen Naturrechte verzichtet, womit alle diefe ihre Rechte auf eine dritte Gewalt übertragen. Das einzige Mittel ift eine folche „renuntiatio“, die zugleich „translatio“ ift; fie ift alffeitig, denn fie wird von jedem ge- fordert, fie ift wechfelfeitig, denn jeder begiebt fich aller bis- herigen Rechte nur unter der Bedingung, daß die andern daf- jelbe thun: diefe wechjelfeitige Rechtsübertragung ift dev Ver— trag*), der den Naturzuftand aufhebt und die Gefellichaft gründet, er ift durch das Naturgefe geboten und darum fo nothwendig als diefes. Was aus diefem Grundgeſetz folgt, hat naturgefetlihe Geltung und Kraft, der Inbegriff diefer Folgerungen ift nach Hobbes „die einzig wahre Sittenlehre‘.

3. Die abſolute Stantögewalt.

Der Naturzuftand, der im „bellum omnium contra omnes“ bejtand, ſoll gründlich aufgehoben fein und für im— mer. Daher muß die Nehtsübertragung für unwiderruflich), der Gefellfchaftsvertrag für unumſtößlich gelten, ev bedeutet in der Politik, was die Grundfäge in den Wiffenfchaften; einem Grundſatz zu widerfprechen ift Unfinn, ebenfo ift es Unfinn und Unrecht dazu, jenen Fundamentalvertrag in Frage zu ftel-

*) Translatio juris mutua contractus dieitur. Lev.I, cp. 15, p- 68.

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len, der das Chaos des menſchlichen Naturzuftandes einmal für immer beendet und die menjchliche Gejellichaft einmal für immer begründet Hat. Soll diefer friedlihe und geordnete Zuftand unerjchütterlich feitjtehen, fo muß in Folge des Ver— trages eine Gewalt errichtet werden, die alle Macht und alles Recht in ſich vereinigt, die unbedingt herrſcht, der die Einzel- nen unbedingt gehorchen. Diefe Gewalt ift der Herricher, der Souverän, der Staat, in dem alle vereinigt find, wie vorher im Naturzuftande alle getrennt waren; diefe Vereinigung aller ift die Gefellihaft, das Gemeinwefen, das Volf. Staat, Souverän, Volk find daher nad) Hobbes identiſche Begriffe. Dem Staate gegenüber giebt e8 nur Unterthanen, er allein herrſcht, er allein ift frei, die andern gehorchen, fie müfjen thun, was die Geſetze befehlen, ihre Freiheit, jagt Hobbes, bejteht nur in dem, was die Gefete nicht verbieten. Der An- fang des Staats ift das Ende der Anarchie.

Die Staatsgewalt ift abfolut, fie ift e8 in jeder Form. Dieſe Gewalt theilen oder befchränfen heißt fie in Frage ftel- len oder die Gefahr des Naturzuftandes erneuern. Welches auch die befondere Verfaffung des Staats fein möge, in jeder ift die Möglichkeit, die Grundlage des Staats zu erjchüttern, von Rechtswegen abſolut ausgejchloffen. Es giebt Fein Recht zur Revolution, die Anerkennung eines folchen Rechts wäre die Verneinung des oberjten Grundſatzes aller Politik, ebenfo unfinnig al8 wenn man in der Geometrie den Raum verneinen wollte. Darf aber die Staatsordnung in feiner Weife er- jhüttert oder gar aufgelöft werden, fo folgt, daß die be- Itehende Drdnung der öffentlichen Dinge allemal die vedht- mäßige ift und Hobbes’ abfolutiftiiche Denkweife folgerichtig ebenjo antirevolutionär als confervativ ausfällt.

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Der „status naturalis” und „status eivilis“ verhalten ji), nad) Hobbes, wie Chaos und Welt, jede Anarchie ift Rückfall ins Chaos, jede Revolution ift Sturz in Anardie, darum ift nur die abfolute Staatsgewalt im umeingejchränften Sinne des Worts im Stande, das alte Chaos zu bändigen und feine Rückkehr zu verhüten. Erft kraft diefer Gewalt giebt e8 einen öffentlichen Willen, ein Gefeß; erjt dem Geſetz gegenüber find gejeßwidrige Handlungen oder Verbrechen mög- (ih, erjt im Staat giebt e8 Recht und Unredt.

Je nachdem die Staatsgewalt ausgeübt wird durch Alle (Stimmenmehrheit), Wenige oder Einen, ift die Staatsform demofratifch, ariftofratifch oder monarchiſch. Unter allen Um- ftänden ift der beftehende Staat der rechtmäßige, die abjolute Staatsgewalt die richtige, weil fie allein die‘ Selbjterhaltung de8 Staats verbürgt und fichert; je einiger und centralifirter diefe Gewalt ift, um jo beſſer für den Staatszwed, um fo zwedmäßiger die Staatsform. Darum ijt die monardifche Staatsform die zweckmäßigſte, weil der Staatseinheit am bejten entfpricht die Einheit des Herrichers. So fommt Hobbes dazu, aus dem Naturgefeg das abjolute Königthum zu begründen, das Volk ift die geordnete oder vereinigte Menge, diefe ift das bürgerliche Gemeinwejen oder der Staat, der Staat ift die abfolute Staatsgewalt, der Souverän, der König. Der König ift der Staat, er ift das Volf, er vereinigt in fich alle bürger- lihe Macht, es ift daher logisch unmöglich, daß ſich das Volk gegen den König empöre, da niemand gegen fic) felbjt auf- jtehen fan. In dem Staat, den Hobbes für den normalen erffärt, gilt im buchjtäblichen Sinn das Wort, das der gewal— tigfte Monarch jener Zeit im Munde geführt hat: „der Staat bin ich!“

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Das abjolute KönigtHum auf Grund des Naturgejetes it das Thema und die Summe diefer Staatslehre. Das Naturgefet ift das gegebene, unabänderliche, aller menschlichen Willkür entrücte und darüber erhabene, nad) Hobbes gleid)- bedeutend mit dem göttlichen Geſetz. Diejes Geſetz gelte der religiöfen Borftellung für den Willen Gottes, jo fällt die naturaliftiiche Begründung dev monarchiſchen Staatsgewalt mit der religiöfen zufammen und wir haben „das abjolute König- thum von Gottes Gnaden“ vor uns, die Theorie der Stuarts, der Hobbes das Wort redet. Hier ift die Wendung, mit der Hobbes’ Staatslehre in die Zeitjftrömung eingeht, welche aus den Stürmen der Rebellion die Wiederherjtellung des König- thums ſucht. Diefes praftifhe Ziel feiner Theorie Hatte Hobbes wohl im Auge. Seten wir die abfolute Staatsgewalt al8 die richtige umd die monarchiſche Staatsform als die be- jtehende, deren Umfturz die Anarchie herbeiführt, jo vereinigen fi für Hobbes alle Gründe der Theorie und Erfahrung, um die abjolute Monarchie doctrinär zu begründen.

Jede andere Staatsverfafjung vermindert die Sicherheit des Staats, ebenfo jede andere Staatslehre. Nirgends find die Irrthümer gefährlicher, al8 auf diefem Gebiet, da fie hier die Öffentliche Sicherheit bedrohen und unmittelbar gemein- ſchädlich werden. Der monardifchen Staatsform gegenüber liegt die vepublifanifche, der abjoluten Staatsgewalt gegenüber liegt die befchränfte, fei e8 daß man die Staatsgewalt einem höheren Gefeß unterordnet oder ihr eine andere Gewalt neben- ordnet, daß man ihr Rechte irgendwelcher Art auf Seite der Unterthanen gegenüberftellt oder endlich die Staatsgewalt ſelbſt

theilt umd zerfplittert. Ueber dem Könige giebt es fein Staats— Fiſcher, Bacon, 34

N

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gefeß, denn er ift der Staat; neben oder unabhängig von fei- - mer weltlichen Gewalt oder gar über derjelben feine geiftliche, denn als Staat vereinigt er alle Gewalten in ſich; ihm gegen- über giebt es Feine Rechte der Untertanen, denn in der Staats- gewalt find alle Rechte vereinigt, und in ihr felbft giebt es feine Theilung oder Trennung der Gewalten, denn fie ift einig und untheilbar. Der König ift der Staat, er vepräfentirt das Bolf, er allein; es ift daher Unfinn, daß ihm gegenüber das Bolf repräſentirt fein foll in einer gefeggebenden Verſamm— fung, die eine befondere Gewalt für fi) ausmadt. Von hier aus verwirft Hobbes alle widerftreitenden Borftellungsweifen als gefährliche Irrthümer, insbefondere die republifanifche Staatslehre, die Lehre vom Rechte der Unterthanen, von der Trennung der weltlichen und geiftlichen Gewalt, von Staat und Kirche, von der Trennung der Staatsgewalten felbft, von er vepräfentativen Staatsform oder die conftitutionelle Staats— ehre; er bekämpft die Theorien des Altertfums wie des ittelaltervs und wird befämpft von denen der neuen Zeit. Dem Altertfum gegenüber ift Hobbes Naturalift in der Be- gründung des Staats und abjoluter Monarchiſt in Betreff der Berfaffung, dem Mittelalter gegenüber ift er der entfehiedenfte Hegner der feudalen und hierarchiſchen Ordnung, des Lehns- vejens, der Adels- und Priejterherrfchaft, der neuen Zeit egenüber ift er politifcher Abfolutift. Die -Vertheidiger der Sierarchie, ingbefondere die Zefuiten, bekämpfen in ihm den theiſtiſchen Politiker; die Vertheidiger der repräfentativen taatsform, insbejondere Montesquien und Kant, den abfolu- ftifchen, fie fegen die bürgerliche Freiheit in die Trennung er Stantsgewalten, während Hobbes jede Trennung der Art

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als ftantsgefährlich anfieht, jede Einfchränfung der monardi- ſchen Gewalt als revolutionär. |

Als die Bertreter der republifanifhen Staatslehre, die ji) auf den Sat gründet, da8 Ganze fei früher als die Theile, der Staat ein fittliher Organismus, deffen Glieder die Ein- zelnen find, gelten ihm die Philofophen des Alterthums, die er aus politifchen Gründen noch heftiger Haft, als Bacon aus logiſchen und phyſikaliſchen; wie diefer das ariftoteliihe Or— ganon, fo befämpft Hobbes die ariftotelifche Politik, beide werfen auf Ariftoteles die Schuld der ärgjten Uebel, die fie fennen, Bacon macht ihn verantwortlicd; für das Elend der - Wiffenfchaften umd die unfruchtbare Wortweisheit der englifchen Univerfitäten, Hobbes für das Elend des Staats, den Umfturz der öffentlichen Ordnung, den englifhen Bürgerkrieg und die Hinrihtung des Königs, er will die republifanifchen Schrift: jteller der Griechen und Römer aus der Erziehung verbannt jehen, wie Plato den Homer, denn fie verderben die richtige Denkweiſe und erzeugen „die Krankheit der Tyrannenfchen, die der Waſſerſcheu gleich ſei“.

Was die naturaliftifche Begründung des Staats betrifft, jo giebt e8 nad) Hobbes zwei Philofophen, die ſich in Rück— fiht fowol der Webereinftimmung als der Differenz mit ihm vergleichen: Spinoza und Rouſſeau. Alle drei ftimmen darin überein, daß fie den Staat auf den Vertrag gründen, dem fie aus dem Naturzuftande herleiten, daß fie die Staatsgewalt als eine in fi) einige und untheilbare fafjen, dagegen find fie nicht ebenſo einverftanden in der Art, wie fie die vechtsgültige Staatsform bejtimmen und den Naturzuftand felbjt anfehen.

Während Hobbes den Zwed der abfoluten Staatsgewalt in 34%

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der monardifchen Form am beften, weil am ficheriten, erfüllt findet, erflären fi) Spinoza und Rouſſeau für die republi- fanifche Berfaffung, jener mit Vorliebe für die Ariftofratie, diefer für die Demokratie. Während Hobbes und Spinoza den menjchlichen Naturzuftand als Krieg aller gegen alle be- traten, ift Rouſſeau ganz anderer Meinung; nad) ihm find die Menfchen von Natur nicht Feinde, jondern Brüder, der Naturzuftand nicht ein wildes Chaos jtreitender Kräfte, fon- dern ein Paradies friedliher und glücklicher Geſchöpfe, er ift nicht barbarifch, fondern idyllifch, ein Zuftand, den der bürger- liche Bertrag nicht vernichten, jondern fo viel als möglich erhalten ſoll. „Die Menfchen‘‘, jagt Rouſſeau, „verichenfen , fi) bei Hobbes umfonft und fliehen aus dem Naturzuftande in den Staat, wie die griechifchen Helden in die Höhle des Cyklopen.“ Rouſſeau's Staat verhält fich zu dem von Hobbes, wie die mütterliche Natur zu dem furchtbaren Leviathan. Die Berwandtichaft zwijchen Hobbes und Spinoza ift größer und geht tiefer als die beider mit Nouffeau, und wenn wir die Philofophen, die von Bacon und dem Empirismus herfommen, mit der entgegengefeßten Richtung des Nationalismus, die Descartes einführt, vergleichen, fo ift Feiner, der fich mit Spinoza in eine jo einleuchtende Parallele ftellen läßt, als Hobbes. *)

Die eine Hälfte der Aufgabe ift gelöſt. Im Natur: zuftande bedroht jeder die Sicherheit des anderen, die im bürgerlihen Zuftande jeder dem anderen gewährt; dort heißt

*) ®gl. Rousseau, Contrat social, liv. I, ch. 2—6. Ueber Spi- noza's Staatslehre und deren Berhältniß zu Hobbes vgl. meine „Ge— hichte der neuen Philofophie‘, Bd. 1, Abth. 2, 2. Aufl., Cap. XIV, ©. 392 fig.

tr

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e8: „homo homini lupus‘, hier: „homo homini Deus“, Der Staat ift naturaliftifch begründet, alles andere, was zur fittlihen Menfchenwelt gehört, muß politiſch begründet wer- den. Es Handelt fih um die politifhe Begründung der Moral und Religion: das ift die zweite Hälfte der Auf- gabe.

Drittes Kapitel. B. Das VBerhältniß von Staat und Kirche,

J. Aufgabe.

Die Staatsgewalt iſt abſolut, ſie begreift alle Gewalt in ſich, nicht blos die weltliche, auch die kirchliche, die ſich auf die Religion gründet. Giebt es eine vom Staat unabhängige Gewalt, fo iſt die ganze Staatsgewalt fraglich und die Quelle nicht feſt verjchloffen, aus der die Anarchie Hervorbricht. Nach— dem Hobbes den Staat aus dem Naturgejeg hergeleitet, muß er Kirche und Religion auf den Staat gründen und der poli- tiihen Gewalt völlig unterwerfen. Hier hat es Hobbes mit zwei Gegnern zu thun, die einander felbjt auf das heftigjte widerftreiten, deren jeder auf feine Art die Trennung zwifchen Staat und Religion, alfo die Unabhängigkeit der Letteren zum Ziel hat; die Einen wollen die Unabhängigkeit der veligiöfen Gemeinde, die Anderen (nicht blos die Unabhängigkeit, fondern) die Herrſchaft der Kirche, die abfolute Kirchenherrſchaft in der Form der Hierarchie und des Papftthums, den Firchlichen Staat über dem weltlichen: dort die englifchen Puritaner und In- dependenten, die mit Hülfe der entfeffelten Religion die könig—

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liche Staatsgewalt geftürzt haben, hier die Iefuiten als die Vorkämpfer der römischen Hierardie, insbefondere der Car- dinal Bellarmin, gegen deffen Bücher von dev Vertheidigung der päpftlihen Macht Hobbes einige Abjchnitte feines Leviathan richtet.

Hobbes wird feine Aufgabe jo Löfen, daß die Löſung mit feinen politifchen Grundfägen und Abfichten völlig überein- ftimmt, er wird vom Naturzuftande ausgehen und zu einem Ergebniß kommen, das für die Religion feine andere Form zuläßt, als die einer Staatseinrichtung, einer foldhen, deven muftergültiges Beifpiel fid) in der engliſchen Staatskirche fin- det. Seine Religionslehre ift Hochkirchenpolitik. Wir haben gejehen, auf welchem Wege er von der Natur zum Königthum von Gottes Gnaden gelangt. Welcher Weg führt von der Natur zur englifhen Hochkirche?

Eine Hauptfchwierigfeit ift Schon aus dem Wege geräumt. Iſt überhaupt alle menfchliche Gemeinfhaft als gefemäßige Bereinigung nur möglid) durd) den Staat und in ihn, jo folgt von felbit, daß aud die Religion als gemeinfamer Glaube und gemeinfame Gottesverehrung auf vein politifchem Grunde ruht. Giebt e8 ein Volk nur als Staat, fo gilt daf- jelbe auch von der Volfsreligion. Jede Volksreligion ift eine Staatseimihtung. Die Frage nad) der wahren Religion fällt hier zufammen mit der Frage nach der rechtmäßigen, nach der öffentlich fanctionirten, nad) dev beftehenden, welche die chrift- liche if. Daher zieht fich der Kern der ganzen Aufgabe in die Frage zufammen: in welcher Form paßt die chriftliche Volfsreligion in den Staat, d. h. in diejenige politifche Ord— nung, welche den öffentlichen Frieden fichert? Die religiöfe Trage erjcheint unter dem Standpunkt der Staatsraifon.

1. Löſung.

1. Die natürliche Religion.

Der natürliche Zuſtand der Menſchen ſchließt jede Ge— meinſchaft aus, hier herrſchen ungebunden und vereinzelt die rohen Begierden; was jeder Einzelne für ſich begehrt, das ſcheint ihm gut und das Gegentheil böſe. Gut oder böſe, nützlich oder ſchädlich ſind die Dinge nur, ſofern ſie begehrt oder geflohen werden; an ſich ſind die Dinge, wie Hobbes ſagt, weder gut noch böſe, weder ſchön noch häßlich. Verſteht man unter ſittlich oder moraliſch Werthe von allgemeiner Gel— tung, ſo ſind ſolche im Naturzuſtande nicht möglich, es giebt keine natürliche Moral, keine natürliche Sittenlehre, denn es giebt im Naturzuſtande keine gemeinſame Schätzung, keine ge— meinſamen oder objectiv gültigen Werthe, weil es hier über— haupt keine Gemeinſchaft giebt. Dieſe macht erſt der Staat, erſt ſeine Geſetze beſtimmen, was allen gut oder ſchädlich iſt, erſt jetzt giebt es Gemeinnützliches und Gemeinſchädliches, ge— rechte und ungerechte Handlungen, Gutes und Böſes: der maßgebende Unterſchied iſt geſetzmäßig und geſetzwidrig, es giebt für die ſittliche Werthſchätzung kein anderes Maß als das öffentliche Geſetz, Moralität iſt Legalität. „Das öffentliche Geſetz“, ſagt Hobbes, „iſt das einzige Gewiſſen des Bürgers“. Es wird ſich nach Hobbes mit der Religion ähnlich verhalten als mit der Moral.

Der natürliche Menſch folgt ſeiner Begierde und Ein— ſicht. Zufolge ſeiner Begierde haßt er, was ihm ſchadet, be— kämpft und verfolgt er, was er haßt; was er nicht bekämpfen

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fann, davor fürchtet er fich, er bekämpft die erreichbaren Mächte, die ihn bedrohen, er fürchtet die unerreichbaren, die übermächtigen Naturgewalten, die ihm dämoniſch erfcheinen, als höhere Wefen feiner Art, die jeder nad der Art und Kraft feiner Einbildung phantaftifch geftaltet. So entjteht aus der Furcht, die von der Unwiſſenheit genährt wird, eine Re— ligion in der Form des Götterglaubens, eine natürliche und individuelle Religion, die jo viele Arten Hat, als Einbildungs- fräfte zur Bergötterung der Naturmächte vorhanden find. *) Diefe Naturreligion entjteht aus der Furt, eine andere ent- jteht aus der Einficht, aus dem natürlichen Erfenntnißtricbe, der in den Erſcheinungen Wirkungen fieht, die Urfachen auf: fucht, in der Kette der Urfachen fortfchreitet und zulett eine höchſte Welturjache fordert. So entjteht aus der natürlichen Einfiht und Keflerion der Glaube an ein höchſtes, über alle menschliche Vorftellungskraft erhabenes, darum unerforfchliches Weſen. Beide Religionsarten, die polytheiftiiche und mono- theiftifche, entjtehen aus natürlichen und individuellen Beweg— gründen, jene aus der Furt, diefe aus dem Nachdenken. Da e8 aber von der erjten und ewigen Urſache der Welt eine pofitive Vorſtellung nicht giebt, fo ift ein folder auf Nach— denfen gegründeter Glaube an Gott nur die Grenze des Den- fens, aber nicht der Inhalt einer Religion.

Die pofitive Religion im Naturzuftande it Dämonen- glaube, die Dämonen find die Phantafiegebilde der Furcht, die aus der Unwiffenheit hervorgeht; die Unkenntniß der natür- fihen Urſachen ift die Einbildung übernatürlicher oder dämo- nifher Mächte. Wie bei Epifur die Götter in den Zwifchen-

*) Leviathan, I, cp. 12, p. 56.

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räumen dev Welt, jo exiſtirt bei Hobbes die Keligion in den Zwifchenräumen der Phyſik. Im Naturzuftande Hat jeder feine eigene Religion im Gegenfaß zu den anderen. Was ihm Nuten bringt, ft gut, was dem anderen nüßt, iſt ſchlecht, denn jeder andere ift fein Feind: fo verhielt es fich mit der Moral im Naturzuftande. Ebenfo befämpfen fich die religiöfen Borftellungen: jeder Hält die feinigen für die wahren, feine Dämonen find Götter, die des anderen Gößen, fein Dämonen- glaube ift Religion, der des anderen Aberglaube.*) Im Natur: zuftande giebt es Fein Kennzeichen, weldes die Religion vom Aberglauben unterfcheidet, fowenig e8 ein Kennzeichen giebt zur Unterfheidung von Gut und Böſe. Diefe Unterfcheidung macht der Staat durch das Geſetz: die legale Handlungsweife ift gut, die illegale böfe; Religion ift die legale Gottesver- chrung, die illegale ift Aberglaube. Im Naturzuftande war alles böfe, was mir jchadet, alles Aberglaube, was nicht mein Glaube ijt; dagegen im Staat gilt als Religion die öffent: lihe durch die Geſetzgebung legitimirte Gottesperehrung, jede andere gilt als Aberglaube, den daher Hobbes förmlich definirt als „die Furcht vor ſolchen unfihtbaren Mächten, die Feine öffentliche Geltung haben’. **)

2. Die Stantöreligion oder Kirche.

Im Naturzuftande giebt es Feine gültige Moral und feine gültige Religion, daher weder Sitten- nod Religionslehre,

*) Leviathan, I, cp. 11, p. 54.

**) Metus potentiarum invisibilium, sive fictae illae sint, sive ab historiis acceptae sint publice, religio est; si publice acceptae non sint, superstitio. Lev., I, cp. 6, p. 28.

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beide find erſt im Staat möglid), denn erſt durch die Staate- gejege weiß man, was fittlih und glaubwürdig iſt. Die Ge- meinfchaft der Gläubigen ift Kirche, im Naturzuftande giebt es feine Kirche, e8 giebt Feine Gemeinfchaft außer im Staat; daher ift der Staat Kirche, die hriftliche Kirche ift der Staat, deffen Unterthanen Chriften find, d. i. der Staat, der den hriftlihen Glauben fanctionirt Hat, d. i. der Souverän, welcher befiehlt, den chriftlichen Glauben zu befennen.

Nun könnte es fcheinen, als ob bei Hobbes die Geltung der öffentlichen Religion gänzlich abhinge von der Laune der

ſouveränen Willkür und es dem Fürften ebenfo gut gefallen fönnte, das Chriftenthum zu verbieten, als zu befehlen. Auch hat Hobbes diefen Fall wie ein cafuiftifches Problem aufge- worfen und fid) damit geholfen, daß er die innere Glaubens: überzeugung von dem äußeren Bekeuntniß trennt, jene fei der Staatsgewalt unzugänglid) und darum frei, diefes eine bloße Gefegeserfüllung, die der Unterthan zu leiſten, nicht zu ver- antworten habe.

Indeffen fteht die ganze Frage in der Luft und hat Feine praftiiche Bedeutung. In Wirklichkeit ift das Chriftenthum gefichert, nicht blos weil es die beftehende und anerkannte Religion, fondern weil das wohlverjtandene Chriftenthum un— ter den bejtehenden Religionen die einzige ift, die der Levia— than vertragen kann. Wenn diefer „ſterbliche Gott‘ eine Religion machen follte, die vollfommen für ihn paßt, fo könnte e8 nur eine jolche fein, die ausdrücklich lehrt, daß ihr Reich nicht von diefer Welt ift, daß alle Herrfchaft in diefer Welt dem Staate allein gebührt, e8 müßte dev Glaube an ein künftiges Reich Gottes fein, wozu die Religion die Vor- bereitung trifft und den Weg zeigt. Eben dies war der

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Glaube, den Iefus lehrte. Wir werden das Neid) Gottes nad) dem Tode erwerben, wenn wir im Leben Gottes Gebote erfüllt Haben; Gottes Gebote find die Naturgefeke, aus denen der Staat in feiner abfoluten Machtvollkommenheit hervor- geht und damit die Unterthanenpflicht des unbedingten poli- tifhen Gehorfams. ine Religion, welche das Bürgerthum im fünftigen Reiche Gottes abhängig macht von der Erfüllung der Unterthanenpfliht im gegenwärtigen Staat, iſt für den Leviathan wie beftellt. Dieſer Staat und diefe Religion find für einander, die letztere iſt gejchaffen, die Staatsreligion zu fein, welche der Leviathan braucht; es bleibt daher nur der Beweis übrig, daß das Chriftentfum in Wahrheit diefe Religion ift.

3. Die Hriftlihe Kirche,

Eine öffentliche (organifirte) Religion kann überhaupt nur auf zwei Wegen zu Stande fommen: durch menfchliche oder durch göttliche Gefetgebung, alle menſchliche Gefetgebung iſt politifch, die göttliche ift geoffenbart, jene geht auf den weltlichen oder bürgerlichen Staat, diefe auf das Reich Gottes, dort gilt die Religion al8 Staatsmittel, um den menjchlichen Geſetzen das Anfehen göttlicher Gebote zu verjchaffen, damit fie für heilig gehalten und dejto eifriger befolgt werden; hier gilt die Religion als Gottesherrfchaft oder Theofratie. Im weltlichen oder bürgerlichen Staat bildet die Religion einen Beftandtheil des Staates, in der Theofratie der Staat einen Beitandtheil der Religion, dort ift die Religion dem Staat untergeordnet, hier verhält es fic umgekehrt. Die heidnifchen Religionen waren politifcher Natur, die geoffenbarte Religion, insbefondere die biblifche, ift theokratiſch. Die Träger diefer

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Offenbarung find Abraham, Mofes, Jeſus. Die jüdifche Theofratie ging unter im weltlichen Königthum, fie follte wiederhergeftellt werden durch den Meſſias, fo haben es die Propheten verkündet. Diefer Meffias ift Jeſus, deſſen Werk und Aufgabe die Rejtauration der Theofratie war, die Grün- dung eines meffianifchen Reichs, dejjen Herrlichkeit beginnen wird, wann er wiederfommt, mit dem Tage des Gerichts. Während der Zeit von feiner Himmelfahrt bis zu feiner MWiederkunft, d. h. bis zur allgemeinen Auferjtehung oder bis zum Ende diefer Welt, will er nicht Herrfchen, fondern nur lehren duch den Mund der Apoftel und ihrer Nachfolger (der Biſchöfe), der Inhalt der Lehre ift die Predigt vom fünftigen Reich, von Jeſus als dem gegenwärtigen Erlöfer und Fünftigen König, von Jeſus als dem Meſſias, Furzgejagt von Jeſus Chriftus. Die religiöfe Wirkſamkeit, welche die Lehre bezwedt, ift unfere Wiederverfühnung mit Gott, wo- durch wir vorbereitet werden auf das Fünftige Reich, die Wiederverföhnung ift die „Neftauration des Bundes“, die Borbereitung ift „unfere Regeneration”. Sie bejteht darin, daß wir Gottes Willen thun, feine Gebote Halten, die mit dem Naturgefeß, darum mit dem Staatsgefeß oder dem Wil- len des Königs zufammenfallen, daß wir gute Unterthanen find im politif hen Sinn. So lange diefe Welt jteht, jollen die Könige Herrfchen, dann kommt das Königreich des Meſ— fias; in diefer Welt kann der Glaube an Jeſus Chriftus zum herrſchenden Glauben, d. 5. zur öffentlichen Neligion, zur Glaubensgemeinfchaft oder Kirche nur dadurch werden, daß ihn die Könige fanctioniren, daher kann es in dieſer Welt keine andere chriftliche Kirche geben, als die Staats- oder Landeskirche, deren Oberhaupt der König ift kraft

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göttlichen Rechts (jure divino), deren Bifchöfe Tehren im Auftrage des Königs oder im Namen St. Majeftät (jure eivili). So läßt Hobbes den chriftlihen Glauben in die Form der englifhen Hochkirche eingehen als die einzige, welche in diefer Welt ihm adäquat ift, d. 5. als die einzige, die in die Staatsordnung des Leviathan vollfommen paßt.

Die Kirche im Unterfchiede vom Staat herrfcht nicht, jondern gehorcht: es giebt nad) göttlichem Recht Feine Kirchen- herrſchaft. Die Kirche, die mit dem Staat zuſammenfällt, kann nicht Weltficche fein, fondern nur Staats- oder Landes— fire: e8 giebt nach göttlihem Recht Feine Fatholifche Kirche, fein Pabſtthum. Der Pabft beanfprucht feine Herrichaft als Stellvertreter Chrifti, aber es fehlen alle Bedingungen, um diefem Anſpruch Rechtskraft zu geben: er hat dazu nicht die Vollmacht Ehrifti, und wenn der Pabſt eine ſolche Vollmacht hätte, jo würde fie nicht für diefe Welt gelten, fondern erft für das fünftige Neich, aber im Fünftigen Neid) ift der Stell- vertreter Chrifti nicht der Pabjt, fondern Petrus. Darum Hat der Pabſt gar feine Stelle,

St nun die hriftliche Religion unter denen, welde die Geltung göttlicher Dffenbarung beanfpruchen, die lebte und darum bejtehende, fo ift der dhrijtliche Staat im Sinne von Hobbes der Souverän, der fraft feiner Machtvollkommenheit diefe Religion zur Landeskirche macht und dadurch ihren öffentlichen Beſtand ſichert. Dieſe Kirche könnte nur gefährdet werden durch eine neue Offenbarung Gottes, aber eine ſolche Gefahr iſt nicht zu fürchten, denn jede Offenbarung Gottes iſt ein Wunder, jede neue Offenbarung müßte ein Wunder ſein, welches erlebt wird und der bereits gegebenen Offen— barung d. h. der beſtehenden Religion nicht widerſtreitet.

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Wunder werden nicht mehr erlebt, darum ijt eine neue Offen— barung nicht zu erwarten, fondern es bleibt bei der vorhan- denen, gejchichtlich gegebenen, deren Urkunden die Bibel ent> hält. Die Geltung der geoffenbarten d. 5. der riftlichen Religion fällt daher zufammen mit dem kanoniſchen Anfehen der heiligen Schrift, verordnet durch die Staatsgewalt. Der Wille des Souveräns macht ans der Glaubensregel das Glaubensgeſetz, aus dem kanoniſchen Anfehen die fanonijche Autorität, die Öffentlich gilt und alle zur unbedingten Aner- fennung verpflichtet. So fällt der Glaube zufammen mit den politifhen Gehorfam. Es foll was die Gefege vor- jchreiben geglaubt werden aus Unterthanenpflidt. Es giebt dem Gejet gegenüber Fein Gewiffen, auc Fein religiöfes. Damit wird die Innenſeite des Glaubens tonlos, es fällt gegenüber der Glaubens» und Schriftautorität, welche der Staat madt, gar fein Gewicht auf die Seite der perfünlichen Ueberzengung, die fih auf ihre Heils- oder Vernunftbedürf- niffe beruft. Damit ift auch die Vernunftkritif von dem Ge- biete des autorifirten Glaubens ausgefchlofjen. „Die gött- fihen Geheimniffe”, jagt Hobbes, „find wie die Pillen, die nicht gefaut, fondern ganz heruntergefchlucft werden müſſen“.*) Das Bild ift ſprechend. Bacon verglid die Glaubensjäge mit Spielregeln, Hobbes mit Pillen; die Spielregeln muß man befolgen, wenn man mitjpielen will, und kann fid) derfelben jo geſchickt als möglich bedienen, die Pillen muß man nehmen

*) Mysteria antem, ut pillulae si deglutiantur integrae, sanant; mansae autem plerumque revomuntur. Lev., IV, cp. XXXII, p. 173.

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um der Gefundheit willen, und e8 giebt nur eine Art des Gebrauchs: das einfache Schluden. Beide mediatifiren die Religion durch die Politif; das ift das Thema, das Bacon angedeutet und gelegentlich in feinen Eſſahs behandelt, Hobbes dagegen zu feiner Aufgabe gemacht und ſyſtematiſch durd- geführt hat.

Vierles Kapitel.

Der Senfualismng: John Lode, A. Die Wahrnehmung und deren Objecte. Die Elementarvorftellungen.

I. Locke's Aufgabe und Beitalter.

Daß alle menjhliche Erkenntniß nur durch Erfahrung möglich fei, diefen Sat hatte Bacon zur Grundlage und Richtſchnur feiner Lehren genommen. Wie muß die Erfahrung bejchaffen fein, um durch wirkliche Einfiht in die Vorgänge der Natur zur Erfindung zu führen? Wie fommt die Erfah rung zur Erfindung? Im diefer Frage lag das Thema des neuen Organons, der Kern des baconifchen Problems. Im Hintergrunde erhebt ſich die Frage: wie ift die Erfahrung ſelbſt möglich? Wie fommen wir zur Erfahrung? Bacon hatte in der finnlihen Wahrnehmung und dem natürlichen Verftande ‘die Bedingungen gefehen, aus deren richtiger Function die Erfahrung hervorgeht, diefe Bedingungen felbft Hatte er nicht näher unterfucht. Jetzt muß aus der Leiftung auf die Kraft zurücgefchloffen und diefe aus jener erfannt werden. Wenn

alle Erfenntniß, deren der menfchliche Geift allein fähig ift, Fiſcher, Bacon. 35

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in der Erfahrung bejteht, worin bejteht demgemäß die Fähigkeit oder Natur des menfchlichen Geiftes ?

Diefe FTrageftellung Tiegt, wie man fieht, ganz in der Richtung der baconifchen Lehre und ift durch diefelbe fo be- ftimmt, daß fie in den Vordergrund rüden muß. Sie läßt jih durch baconifche Vorſchriften noch genauer fallen. Der Begründer des Empirismus hatte oft und nachdrücklich erklärt, daß ſich der menſchliche Verftand, um richtig zu denken, aller vorgefaßten Begriffe volllommen entjchlagen müſſe, er hatte von diefen abzulegenden Begriffen nicht einen ausgenommen; aljo giebt es nad) ihm feinen Begriff, deffen der menfchliche Berjtand fih nicht entäußern Fönnte, keinen feitgewurzelten, von der Natur unferes DVerftandes unabtrennbaren, unſerem Geifte angeborenen Begriff. Sollen alle Begriffe erſt durch Erfahrung gewonnen werden, jo ift vor aller Erfahrung der menschliche Geijt ohne alle Begriffe, ohne allen pofitiven In— halt. Diefer Schluß ift durch Bacon's Erklärungen nicht blos gefordert, jondern bereits gemacht, ſogar wörtlid. Nad) Bacon’ eigenen Worten foll fi) der menfchlihe Verſtand alle Begriffe aus dem Kopf fchlagen, er joll ſich vollfommen reinigen, leeren, zurückverſetzen in feine urjprüngliche, natür- liche, Eindliche Berfaffung. Bacon felbjt nennt diefen jo ge- reinigten Verſtand „‚intellectus abrasus“, und vergleicht ihn mit einer Tenne, die gereinigt, geebnet, gefegt werden müffe: in diefer Arbeit beftand die negative Aufgabe feiner Philofophie, das erjte Buch feines Organons befchäftigte fid) ausdrücklich mit der Herftellung diefer „expurgata, abrasa, aequata mentis arena”. Wenn alfo Bacon nichts Unmögliches for- dert, fo ift der menfchliche Geift von Natur gleich einer leeren Tafel, einem unbefchriebenen Blatt.

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Diefer baconifhe Schluffat ift der Punkt, von dem Locke ausgeht; die Bedingung, unter der Bacon’s Forderungen fte- hen, enthält jchon die Aufgabe und Richtſchnur für Locke's Unterfuhung: die Nichteriftenz angeborener Ideen. Er- fahrung ift erworbene Erfenntniß, angeborene Ideen find nicht erworbene, ſondern urfprüngliche oder angeftammte Erfenntniß; daher muß die Erfahrungsphilofophie das Dafein angeborener Ideen völlig verneinen, dies hat fie in Bacon gethan, deffen Lehre von den Idolen fi) in dem Sabe ſummirt: „es giebt feine angeborenen Ideen.” Das ift der Sat, auf den fich Rode gründet. Hier ift der Zufammenhang beider, Locke's Ab- hängigfeit von Bacon. Seine Lehre bildet einen Ring, der in die Kette der baconifhen Grundgedanken eingreift.

Dadurch ift der ganze Charakter der locke'ſchen Unter- fuhungen angelegt und beftimmt. Alle Erkenntniß ift Erfah: rung, dieje felbjt ift nur möglich durch Wahrnehmung: der Empirismus beftimmt fich näher als Senfualismus. Alle Bildung und Erfüllung des Geiftes, da es von Natur feine giebt, muß allmälig entftehen, und da aus der urjprünglichen Leerheit nichts entjtehen kann, fo bildet fich der menjchliche Geift unter äußern Einflüffen, durch fortgefeßten Verkehr mit der Welt; die Erfenntniß entjteht aus Bedingungen, deren Stoff oder Material außer ihr liegt und unabhängig von ihr gegeben ift durch die Natur der Dinge. Sie entjteht aus der Nichterfenntniß. Die Entftehungsweife der menjchlichen Er: fenntniß ift daher bei Yode nicht generatio ab ovo, was fie bei Leibniz fein wollte, jondern generatio aequivoca. Es giebt feine natürliche Erfenntniß im Sinne einer urfprünglich gegebenen, fondern nur eine natürliche Geſchichte der menſch—

fihen Erkenntniß im Sinne einer allmälig gewordenen. 35*

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Diefe darzuthun ift die eigentliche Aufgabe der locke'ſchen Philoſophie: fie befchreibt die Naturgefhichte des menſch— lihen Berftandes, nachdem fie bewiejen, daß die Natur des Berftandes ohne Gefhichte d. H. ohne Verkehr mit der Welt, ohne Erfahrung und Erziehung, vollfommen Leer ift.

In der Faffung diefer Aufgabe erfennen wir nicht blos feine Abfunft von Bacon, jondern aud feine Verwandtichaft mit Hobbes. Diejer lehrt die natürliche Entjtehung des Staats, Locke die der Erfenntniß, beide im Sinne der generatio aequi- voca: Hobbes erklärt den Staat aus Bedingungen, die nicht Staat, nicht einmal dem Staat analog, vielmehr dejjen voll- fommenes Gegentheil find; Locke erklärt die Erkenntniß aus Bedingungen, die nicht Erfenntniß find, auch nicht diejelbe präformiren, fondern fi zu ihr verhalten, wie das Leere zum Bollen. Hobbes nimmt zu feinem Ausgangspunfte den Natur- zuftand des Menſchen, Locke den des menfchlichen Geiftes: diefer status naturalis ift bei beiden, dort verglichen mit dem Staat, hier verglichen mit der Erfenntniß, gleich) einer tabula rasa.

An Locke's Namen knüpft ſich der mwichtigfte Streit, den die neuere Philojophie über die angeborenen Ideen geführt hat: Bacon und Lode haben fie verneint, Descartes und Leibniz haben fie vertheidigt, Xode gegen Descartes, Leibniz gegen Locke, diefer fteht in der Entwidlung der Streitfrage über die angeborenen Ideen zwifchen Descartes und Leibniz, jenen be- fämpfend, von diefem befämpft. Das Studium der Schriften Descartes’ hatte feinen philofophifchen Geift, den der fcholafti- ſche Unterriht in Drford leer gelaffen, geweckt und durch den erregten Gegenſatz in die Richtung Bacon's geführt, in welche feine naturwiffenfchaftlihen und medicinifchen Studien ein-

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ftimmten. Dann gab eine wiederholte Beobadhtung den An— ftoß zu dem Werk, das ihn in der reifften Kraft feiner Jahre dauernd befchäftigte und zum Philofophen feines Zeitalters madte. Er hatte in Oxford öfter ftreitige Erörterungen ges lehrter Freunde mitangehört und dabei erfahren, wie der ganze Streit weniger in den Borjtellungen als in den Worten be- gründet und ſolchen unfruchtbaren Wortjtreitereien, die das Gebiet der Philofophie bevölfern, nur dadurch ein Ende zu fegen fei, daß man den Urſprung der Worte aus den Vor— jtellungen und den Urſprung der Vorftellungen jelbit auf das genauefte unterfuhe. Das Wifjen ift an Urtheile und Sätze, diefe an Worte, diefe an PVorftellungen gebunden. So jah Locke eine analytifche Unterfuhung vor fi), die in eine Reihe von Fragen zerlegt werben mußte, deren erjte und fun— damentale auf den Urſprung unjerer VBorftellungen gerichtet war. Das Werk, das aus diefer Arbeit hervorging, war fein „Verſuch über den menfchlichen Verſtand“ in vier Büchern, von denen die beiden eriten die Natur der Vorjtellungen, das dritte die der Worte, das lebte die der Erkenntniß darthun follte; der erjte Plan des Werks fällt in das Jahr 1670, die Bollendung in das Jahr 1687, die Veröffentlihung in das Jahr 1690, kurz vorher war ein Auszug in franzöfiicher Sprache, überjegt von Le Clerc, in der Bibliotheque uni- verselle erfchienen. Als Lode die Idee zu diefem Werk fahte, war er 38 Jahr alt, er war 57 als er cs veröffentlichte; ebenfo alt war Kant, als er feine Vernunftkritik herausgab. In Locke's Lebenszeit (29. Auguft 1632 bis 28. October 1704) laſſen fih drei Abjchnitte unterfcheiden. Die erjten 32 Jahr (1632—1664) umfaffen feine Kindheit in Wrington, die Schulzeit in Weftminfter, den Studiengang in Oxford, er

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wird Baccalaureus (1651) und Magifter (1658), wendet ſich von den Scholaftifern zu Descartes, dem entgegen er die ba- conifche Richtung ergreift, und von der akademiſchen Gelehr- famfeit zu naturwiffenfchaftlichen und namentlich medicinifchen Studien, die er mit Eifer und Erfolg betreibt. Den folgenden Abſchnitt bilden die funfzehn Jahr von 1664— 1689. Nad) einem kurzen Aufenthalt in Berlin (1664), wohin er den engliichen Gefandten William Swan als Legationsfecretär be- gleitet, Kehrt er nad) Oxford zurüd, lebt feinen phyfifalifchen Studien und macht hier, zunächit als Ärztlicher Rathgeber, die für fein Leben einflußreiche Belanntichaft des Lord Anthony Aſhley (1666). Bald wird er der Freund des Haufes, der vertraute NRathgeber der Familie, der Erzieher des Sohnes, dem er die Gattin wählt, jpäter des Enfels, der als Verfaſſer der „characteristics“ fi) unter den philofophiichen Schön— geiftern Englands berühmt gemacht hat. Durd fein Verhält- niß zu Lord Aſhley kam Rode wiederholt zu jtaatsmännifchen Aufgaben und Aemtern. Bald nad) dem Antritt feiner Re— gierung hatte Karl II. die nordamerifanifche Provinz Karolina acht englifchen Lords gejchenkt, darunter war Afhley. Locke erhielt den Auftrag, die Verfaffung zu entwerfen, er that cs und nahm in feinen Entwurf, den die Lords beftätigten (1669), jolhe Grundfäge religiöfer Toleranz auf, wonad) die Religion nicht eine Sache des Staats, fondern Lediglich der Gemeinden fein follte, deren Bekenntniß und Cultus im weiteften Umfange deiftifcher Vorftellungsweife der Staat zu dulden und anzıt- erfennen die Pflicht habe. Hier wurde jene Trennung von Staat und Kirche grundſätzlich ausgefprochen, die fid) Nord- amerifa zu eigen gemacht Hat. Im Jahr 1672 wurde Afhley Graf Shaftesbury und Grofßfanzler von England, im Jahr

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1679 Premierminifter, beidemal erhielt Locke ein Secretariat, beidemal dauerte feine Amtsführung fo furz als die des Gra- fen, der fehr bald mit der Hofpartei zerfiel und zuleßt nad) einer Berhaftung ji) in England nicht mehr ficher fühlte. Er ging nad) Holland (1682), wohin Locke ihn begleitete; Hier ftarb Shaftesbury ſchon im folgenden Jahre. In diefen zwei— ten Lebensabjchnitt Locke's fallen feine Reifen nach Frankreich, auf der erften begleitete ev den Grafen Northumberland (1668), auf der zweiten, die er um feiner Gefundheit willen ins ſüd— lihe Franfreih unternahm (1675), lernte er in Montpellier Herbert den nachmaligen Grafen Pembrofe fennen, dem er fpäter fein Hauptwerk gewidmet hat. Die letzten funfzehn Lebensjahre (1689 1704) find für feinen philofophifchen Ruhm die wichtigften, es ift die Zeit der Ernte; jet empfängt die völlig gereiften Früchte feiner Arbeiten das durch eine große politische Krifis zur Aufnahme dieſes Philofophen gründ- id) vorbereitete und gereifte England. In den erſten fünf Jahren diefes Letten Abfchnittes veröffentlicht Xode feine Werke, in dem folgenden Luftrum (1695 1700) befleidet er im Minifterium des Handels und der Colonien noch einmal ein Staatsamt, bis feine Schwache Gefundheit das Klima Londons nicht mehr verträgt; die legten fünf Jahre lebt er größtentheils in freier und gaftliher Muße in der Grafichaft Effer zu Dates im Haufe des Ritters Mafham, deſſen Frau, eine Tochter des Philoſophen Eudworth, nach Locke's Grundfägen ihre Kin- der erzog und die Zeugin feines Todes war.

Locke's philofophifche That fällt zufammen mit einer der wichtigjten Epochen Englands, dem Sturze Jakob's II., diefes legten und fchlechteften Königs aus dem Haufe Stuart, das auf dem Throne Englands in keinem feiner Herrfcher eine ein—

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zige wirflihe Regententugend bewiefen; unter Karl II. hatte die Frivolität geherrfcht, unter feinem Bruder Jakob IL, dem noch gefunfenen Enkel Jakob's I. (was viel fagen will), wagte die Bigotterie und der Despotismus in der unfähigiten Form den letzten Verſuch gegen England, der durch die jämmerliche Perfon des Königs und den Widerftand der Nation gänzlic) ſcheiterte. Wilhelm von Dranien im Bunde mit dem eng— liſchen Volk brachte den Sieg der politifhen und religiöfen Freiheit und empfing die Krone, die nad) zweimaliger feiger Flucht des letzten Stuart (December 1688) das Parlament den 22. Januar 1689 für erledigt erklärt hatte. Diefer Act vollzieht die „englifhe Revolution, ein Jahrhundert vor der . franzöfifhen. Ein Jahr vor dem Ausbruch der Krifis hatte Locke fein Hauptwerk vollendet, ein Jahr nach jener Umwand- fung, die in England das conftitutionelle Königthum neu bes gründet und feititellt, wurde e8 veröffentliht. Die Widmung ift vom 24. Mai 1689. Es bildet einen wefentlichen Bejtand- theil der durch den Namen Wilhelm’s III. bezeichneten Epoche, es verhält fich zur englifchen Revolution, wie Kant's Vernunft: fritif zur franzöfifchen. Locke's Perſon und Denkweife jtimmt ganz in das Zeitalter Wilhelm’s III., er Hatte feit 1682 in Holland gelebt, von Jakob II. verfolgt, fälfchlicherweife auf: rührerifher Handlungen verdächtigt, durch die geforderte Aus- lieferung in feiner perfönlichen Sicherheit dergeftalt bedroht, daß er in Holland felbft fi) verbergen mußte; nad) der Ent: thronung Jakob's war er mit dem Gefchwader, das die Prin- zeifin von Dranien nah England führte, in fein Vaterland zurüdgefehrt (Bebruar 1689). Nach der Herausgabe des Hauptwerks folgt in einer Reihe von Schriften die Anwendung feiner Lehre auf Politif, Religion, Erziehung. Seine beiden

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Abhandlungen über Regierung, feine nationalöfonomifchen Be: trachtungen über Münzweſen, den Bedürfniffen und Fragen der Zeit entjprechend, erjchienen 1691, die Gedanken über Erziehung 1693, die Schrift über die VBernunftmäßigfeit des Chriſtenthums 1695; mit diefem Werk und dem Verſuch über den menschlichen Verſtand hängen genau feine Briefe über Toleranz zufammen, von denen der erſte (1685 gefchrieben) 1689 in lateinischer Sprache erfcheint, der zweite 1690, der dritte 1692, der letzte durch feinen Tod unterbrochen wird. Der erſte diefer Briefe war an Limbord, einen Freund Lode’s, Profeffor der Theologie bei den Remonftranten in Amſterdam, gerichtet, den Rode, wie ſich felbjt, auf dem Titel der Schrift durch Initialen bezeichnet Hatte; die des Verfaſſers bedeuten: „Sohn Locke aus England, Freund des Friedens, Feind der Berfolgung. Der Hauptgegner der ZToleranzbriefe, gegen deſſen wiederholte Angriffe Locke die drei letten jchrieb, war Jonas Proaft, ein Theologe in Drford; der andere theologische Gegner, der feine Schrift über das ChriftentHum als einen Stützpunkt des Deismus befämpfte, war Stilfingflect, Biſchof von Worceſter. In Holland hatte Descartes ſeine philoſophi— ſche Einſiedelei gefunden, Spinoza ſeine Heimat gehabt, bevor Locke hier ein Aſyl ſuchte, er war in demſelben Jahr mit Spinoza geboren, er kam fünf Jahr nach deſſen Tode nach Holland und vollendete hier ſein Hauptwerk zehn Jahr nachdem Spinoza's Hauptwerk erſchienen.*)

*) Locke's Werke find: An essay concerning human understanding in foor books. London 16%.

Two treatises on government. Some considerations of the consequences of lowering the interest and raising the value of money, in a letter sent to a member of parliament. 1691.

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II. Löſung der Aufgabe.

1. Urſprung der LVorftellungen.

Daß alle Erfenntniß blos in der Erfahrung bejtehe und aus ihr folge, Hatte der Empirismus in Bacon erklärt und damit jeden Anſpruch auf eine nicht durch Erfahrung erwor- bene, fondern urfprüngliche, der menfchlichen Seele angeftammte Erfenntniß verworfen: die Annahme fogenannter angeborener Ideen oder Grundfäge. In diefem Punkte den baconifchen . Empirismus gegen Descartes zu rechtfertigen ift Locke's erjte Aufgabe. Es giebt Feinerlei angeborene Grundfäge, weder theoretifche, noch praftifche, noch religiöfe, es giebt feine im Urbefig der Seele vorhandene natürliche Erfenntniß, Moral, Religion. „Woher der gefammte Stoff der Vernunft und Er- fenntniß ftammt? Darauf antworte ic) mit einem Worte: aus der Erfahrung; im ihr ift unſere ganze Erfenntniß gegrün- det, aus ihr folgt fie als ihrem letten Grunde. *)

Berfteht man unter angeborenen Wahrheiten die natür- lihe Fähigkeit, ſolche Einfichten zu gewinnen, fo ift darüber fein Streit, aber die Fähigkeit zu erwerben ift nod) nicht der

Some thoughts concerning education. 1693. The reasonableness of christianity, as delivered in the scrip- tures. 1695. -- Epistola de tolerantia ad clarissimum virum T. A. R. P. T. u) L. A. (theologiae apud remonstrantes professorem, tyrannidis osorem, Limburgium Amstelodamensem) scripta a. P. A. P. O. J. L. A. (Pacis amico, persecutionis osore Joanne Lockio Anglo). 1689. Second letter for toleration. 1690. Third letter. 1691. The works of John Locke in three volumes. fol. London 1714. *) Ess. II, ch. 1, $. 2.

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Erwerb, man kann daher unter angeborenen Wahrheiten nur verftehen, daß gewiſſe Süße, feien es Erfenntnißprincipien oder fittlihe Regeln, von Natur dem menſchlichen Verſtande inwohnen. Nun kann „im BVerftande fein‘ nichts anderes bedeuten als „verjtanden fein‘ oder im Lichte des Bewußtſeins liegen, weshalb angeborene Wahrheiten jedem menfchlichen Berftande auf gleiche Weije einleuchtend fein müſſen. Diefe Folgerung wird an der Erfahrung zu Schanden, fie fcheitert an fo vielen negativen Inſtanzen. Was man als angeborene Wahrheiten anzuführen pflegt, wie 3. B. den Sat des Wider: ſpruchs, ift in feiner Allgemeinheit nur den wenigften befannt und einleuchtend. Was alfo macht eine Wahrheit zur ange: borenen? Die allgemeine Zuftimmung! Aber e8 giebt "thatjäd)- (ich feine folche Webereinftimmung, und wenn fie wäre, könnte fie durch allmäligen VBernunftgebraud; zu Stande gefommen fein, alfo auf einem Wege, der nicht für, fondern gegen das Angeborenfein Zeugniß ablegt. Auf diefem Wege werden alle Wahrheiten gefunden. Sollen angeborene Wahrheiten die— jenigen fein, die durch Vernunftgebrauch ſei es mit der Zeit oder fofort entdedt werden, jo müßte es Legionen folcher Wahrheiten geben, was niemand behaupte. Man wird doc) nicht meinen, daß ein Kind zu der Einficht, daß ſüß nicht bit- ter und gelb nicht voth ift, erft dadurch fommt, daß es den Satz des Widerſpruchs auf diefe VBorjtellungen anwendet. Sind alfo die jogenannten angeborenen Wahrheiten nicht vor ihrer Erfenntniß, diefe aber in allen Fällen, wo fie überhaupt ein- tritt, fo viel fpäter als die einzelnen Vorftellungen, fo find entweder alle VBorftellungen angeboren oder Feine.*) Das gilt

*) Ess. I, ch. 2, 8. 1—18.

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von den Grundfägen des Erfennens jo gut als von denen des Handelns. Auch die fittlihen Regeln find Feine angeborenen Normen, jondern Producte der Bildung und Erziehung, wir bringen nicht das Gewiſſen mit auf die Welt und in ihm ausgeprägt die Vorftellungen von Recht und Unrecht, jondern diefe Vorftellungen entftehen und bilden fich, wie alle übrigen, und damit entjteht, was wir Gewifjen nennen. Es iſt nichts anderes, jagt Xode, als ‚„unjere eigene Meinung von der mo— ralifhen Richtigkeit oder Verfehrtheit unjerer Handlungen.“ *)

Wir haben einen Vorrath von Vorjtellungen: das ift die zu erflärende Thatſache. Don diejer Vorjtellungswelt ift uns nichts angeboren, ſondern alles entjtanden und erworben: dieje negative Einficht giebt der Erklärung die Richtſchnur. Wir haben in uns nur die Fähigkeit, Vorftellungen zu empfangen und zu bilden, wir fünnen feine ſchaffen, fondern find in aller Borftellungsbildung angewiejen auf das gegebene (nicht ange- borene, jondern empfangene) Material. Wir verhalten uns zunächſt nur empfangend oder wahrnehmend, in diefer Wahr- nchmung liegt die Duelle aller Erfahrung, aller Erfenntniß. Was wir wahrnehmen ohne irgendwelche willfürliche Zuthat, das bildet die erjten, nicht weiter aufzulöfenden, darum ein= fachſten Beftandtheile oder Elemente unferer Voritellungswelt.

Daß es Feine angeborenen Ideen giebt, die Beweisführung diefes Sates bildet die negative Grundlage der locke'ſchen Lehre; die pofitive Grundlage derfelben ift die Lehre von den Elementarvorjtellungen. Die Seele ift wie ein „weißes un bejchriebenes Blatt“, das die Schriftzeichen nicht in fic trägt, jondern von der Hand des Schreibenden empfängt, „ſie gleicht‘‘,

*) Ess. I, ch. 3, $. 8.

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jagt Lode, „einem dunfeln Raum, der durch einige Oeffnungen Bilder von außen aufnimmt und die Kraft Hat, fie in ſich feftzuhalten.”*) Ohne Bild zu veden: es giebt nur eine Duelle, aus der unfere Vorftellungen kommen, die Wahrneh- mung, deren unmittelbare Objecte in Rückſicht aller übrigen Vorſtellungen die erjten und darum einfadhiten find.

2. Senjation und Neflerion. Die Elementarvoritellungen.

Nun wird unfer Wahrnehmungsvermögen erregt durd) Vorgänge in und außer ung, welche lettere, da fie unjere Sinnesorgane afficiren und durch die Nerven in das Gehirn, „dieſes Audienzzimmer dev Seele“**), geleitet werden, wo fie die Wahrnehmung empfängt, finnliche Vorgänge heißen. Dem— nach unterfcheidet ſich unſere Wahrnehmung in äußere (finn- liche) und innere oder „Senfation und Reflexion“, durch jene nehmen wir wahr, was von außen auf unfere Sinne ein- wirft, durch diefe, was in uns ſelbſt gefchieht. Mit diejer Unterfcheidung wird nichts weiter erklärt, jondern nur die Thatſache, in der unfere Wahrnehmung befteht, ausgedrückt und bejchrieben. Man fieht Leicht, daß wir in uns nur wahr- nehmen können was gefchieht, und daß alles innere Gefchehen durch Empfindungen veranlaßt wird; wir müſſen etwas empfin- den, um etwas zu begehren, um eine Vorſtellung vom Be— gehren ſelbſt zu Haben; ohne die Senfation würde e8 niemals zu Dbjecten kommen, welche die Reflexion vorftellt.

Alle Elementarvorftellungen oder einfache Ideen find dem— nad) die unmittelbaren Objecte entweder blos der Senfation

*) Ess. II, ch. 1, 8. 2 und II, ch. 11, 8. 17. **) Ess, II, ch. 3, $. 1, „the minds presence-room“.

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oder blos der Neflerion oder beider. Da nun die finnlichen Wahrnehmungsobjecte fi an die verjchiedenen Sinne verthei- len, fo müfjen innerhalb der Senfation folche VBorjtellungen, die blos durh einen Sinn wahrgenommen werden können, von folchen unterfchieden werden, die (nicht blos einem, fon- dern) mehreren angehören. Demnach zerfallen ſämmtliche Elementarvorftellungen in folgende vier Klaffen: fie find die unmittelbaren Objecte 1) blos der Senfation vermöge eines Sinnes, 2) blos der Senfation vermöge mehr als eines Sin- nes, 3) blos der Reflexion, 4) fowol der Senfation als der Reflexion. *)

Die Borftellungen des Lichts und der Farben find nur durch das Geficht, die der Laute und Töne nur durch das Gehör, die des Süßen, Bittern, Sauern u. ſ. f. blos durd) den Geſchmack, die der Düfte nur durch den Gerud), die des Kalten, Warmen, Harten, Weichen, Glatten, Rauhen u. ſ. f. blos durch das Gefühl möglich. Das find die Fälle und Bei- jpiele der erjten Art. Unter den Elementarvorftellungen diejer Klaſſe hebt Locke eine befonders hervor: die der Solidität (Undurchdringlichkeit), wahrnehmbar nur durch das Gefühl oder den Taſtſinn; das Object diefer Wahrnehmung ift der Körper, fofern er den Raum erfüllt und jedem Angriff Wider: Itand Teiftet, womit der Unterfchied der körperlichen von der blos räumlichen Ausdehnung einleuchtet, die Descartes verneint hatte. **)

Die Vorftellungen des Raumes, der räumlichen Ausdeh- nung und Veränderung, der Figur, Bewegung und Ruhe find

*) Ess. II, ch. 3, $. 1. **) Ess. II, ch. 4.

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wahrnehmbar ſowol durch den Gejichts- als durch den Taft- finn, daher Fälle und Beifpiele der zweiten Klaſſe. Unſere eigene Thätigkeit ijt vorftellend und begehrend, denfend und verlangend, Berjtand und Wille. Das Behalten, Unterfcheiden, Begründen, Urtheilen, Wiffen, Zweifeln, Glauben find Arten de8 Denkens. Dieje Vorftellungen find unmittelbare Objecte der Neflerion und bezeichnen die dritte Klaſſe der einfachen Ideen. *)

Die Borftellungen der Luft und Unluft, der Eriftenz, Einheit und Kraft find unmittelbare Dbjecte fowol der Sen- jation als Reflerion. Was wir wahrnehmen, fei e8 von außen oder innen, ftellen wir als wirklich vorhanden vor, als Eines, jede Veränderung als Wirkung oder Aeußerung einer Kraft; jede Veränderung, e8 feien die Vorgänge der Bewegung außer ung oder der Vorjtellungen in uns, enthält die Unterfchiede der Succeffion d. h. die Vorftellung der Zeit, die demnad) ein unmittelbares Object (einfache Idee) fowol der äußeren als inneren Wahrnehmung ausmacht, hauptſächlich der inneren, da ja auch die Bewegung oder äußere Veränderung in einer Succeffion von BVorftellungen bejteht.**)

Wir heben aus dem Reich der Elementarvorftellungen drei als befonders wichtig hervor: die Vorftellungen des Körpers, des Naumes, der Zeit; die des Körpers (Solidität) fällt blos in die Senfation, in das Gebiet eines Sinnes, des Taſt— jinns; die des Raumes fällt blos in die Senfation, in das Gebiet mehrerer Sinne, des Geſichts- und Taſtſinns; die der Zeit füllt in das Gebiet der Senfation und Reflexion,

*) Ess. II, ch. 5 und 6. **) Ess. II, ch. 7, 8. 9. Bgl. über die Zeit II, ch. 14, $. 6.

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vornehmlich in das der Teßteren, fofern diefelbe alle Vorjtel- lungen, auch die finnlichen, als innere Vorgänge umfaßt.

Damit hat Locke das Fundament feiner Lehre gelegt. Er hat durch Analyje die Elementarvorjtellungen aufgefunden, die fich zu unferer gefammten Vorftellungswelt und Erkenntniß verhalten, wie das Alphabet zur Sprache, wie die Grundzahlen zum Rechnen und die geometrifchen Elemente zur Mathematik. Man zeige mir, jagt er, ein Borftellungselement, das aus einer anderen Duelle ftammt als der Wahrnehmung, der äußern und innern; man zeige mir unter allen übrigen Bor- jtellungen eine, die nicht aus jenen DVorftellungselementen beiteht.*)

Unfere gefammte Vorftellungswelt zerfällt demnad in zwei große Klaffen: Clementarvorjtellungen und componirte Borftellungen, einfache (simple ideas) und zufammengefeßte (complex ideas). Wir wifjen, welches die einfachen find. Welcher Art find die zufammengefegten? Wie werden fie ge- bildet, da fie durch die bloße Wahrnehmung nicht gebildet werden?

3. Die primären und fecundären Qualitäten.

Indeffen muß zuvor die Geltung oder der Erkenntnißwerth der einfachen Vorftellungen näher beftimmt werden. Wie ver- halten fich unfere unmittelbaren Wahrnehmungsobjecte zu den wirklichen Objecten, zu den unabhängig von unferer Wahr- nehmung eriftivenden Dingen? Da wir ung zu den einfachen Borjtellungen nicht fchaffend, fondern blos empfangend oder paſſiv verhalten, jo hat jede derfelben in unferer Wahrneh-

*) Ess. II, ch. 7,8. 10.

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mung den Charakter des Gegebenen und Bofitiven, gleichviel ob wir Wärme oder Kälte fühlen, Schatten oder Licht fehen, wir jtellen etwas Beftimmtes vor, das die Wirkung einer Thätigfeit, die Aeußerung einer Kraft fein muß. Diefe Kraft gehört den von unferer Wahrnehmung unterfchiedenen und unabhängigen DObjecten, fie ift die Eigenfchaft der Dinge. Alfo wird gefragt: wie verhalten fich unfere einfachen Vorſtel— lungen zu den Eigenfchaften der Dinge? *)

Da innerhalb der Reflerion das unmittelbare Object un- jerer Wahrnehmung wir felbjt find in dem bejtimmten Aus- druck unferer Thätigfeit, fo ift Elar, daß wir hier unfere eige— nen Kraftäußerungen oder Eigenjchaften unmittelbar vorftellen. Die obige Frage betrifft daher näher das Verhältniß unferer einfachen Borjtellungen zu den Dingen außer uns d. h. un- jerer Senfationen zu den Körpern und deren Eigenfchaften, Die Frage ift: ob unſere Senfationen die Eigenfchaften der Körper vorftellen, wie fie find, oder nicht? Anders ausgedrüdt: ob unfere finnlichen Vorftellungen den Eigenfchaften der Kör— per ähnlich, ob fie deren Abbilder find oder nicht?

Unterfcheiden wir mit Locke zwei Arten körperlicher Eigen- jchaften: folhe, die den Körpern unter allen Umftänden zu= kommen und von deren Dafein unabtrennbar find, und ſolche, welche die Körper nur unter gewifjen Umſtänden und bezie- hungsweife haben als Wirkungen, die ein Körper auf einen andern ausübt oder von einem andern empfängt. Jene nennt Locke „primäre Qualitäten“, diefe „jecundäre”. Es liegt in der Natur der Körper, daß fie den Raum erfüllen, alfo Raumgröße und Solidität haben, theilbare und bewegbare

*) Ess. II, ch. 8, 8. 1—5. Fiſcher, Bacon, 36

*

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Maffen find, daher Ausdehnung und Solidität, Bewegung und Ruhe, Figur und Zahl die urfprünglichen oder primären Eigenfchaften der Körper ausmahen. Diefe Eigenjchaften werden von uns vermöge der Senjation entweder blos durch das Gefühl, wie die Solidität, oder durch Gefichts- und Tajt- finn, wie Ausdehnung, Geftalt, Bewegung, vorgeftellt; dieſe Vorstellungen find den wirklichen Eigenſchaften der Körper ähnlich und vermöge derjelben ift uns die Förperliche Natur erfennbar. Dagegen alle übrigen Senfationen, wie Farben und Töne, Geruchs- und Gejchmadsbeichaffenheiten, Wärme und Kälte, Härte und Weichheit u. ſ. f., find Wirkungen der Körper auf die Sinnesorgane unferer Wahrnehmung, fub- jective Empfindungszuftände, die mit der Natur oder Wirfungs- weife der Körper jelbjt feine Aehnlichkeit Haben. Dieſe Wir- fungsweife ift eine Art Bewegung. Welche Aehnlichkeit Hat unfere Licht», Farben-, Tonempfindung u. ſ. f. mit der Be- wegungsart, die fie verurfacdht, ohne daß wir fie wahrnehmen? Dieſe Senfationen find daher fecundäre Qualitäten, die Locke wieder in zwei Arten unterfcheidet, je nachdem die Borjtellung einer ſolchen Eigenschaft unmittelbar oder durch die Einwir- fung eines Körpers auf einen andern bewirkt wird, wie wenn Sonnenliht das Wachs bleicht oder Feuer das Blei flüſſig macht; die erjte der jecundären Qualitäten nennt Locke „un— mittelbar wahrnehmbar‘, die zweite „mittelbar wahrnehn- bar’, *)

Es giebt demnach drei Arten der Vorjtellung Förperlicher Eigenſchaften: 1) die unmittelbare VBorftellung primärer Qua—

*) Ess. II, ch. 8, $. 8—10. $.26, „secondary qualities imme- diately perceivable“ und „sec. qual. mediately perceivable“.

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fitäten, 2) die unmittelbare Vorftellung fecundärer Qualitäten, 3) die mittelbare Vorftellung fecundärer Qualitäten. Vermöge der erjten Art jtellen wir vor, was die Körper in Wahrheit find, gleichviel ob wir fie wahrnehmen oder nicht, vermöge der zweiten, was fie in Rüdficht auf unfere Wahrnehmung find und ohne diefelbe nicht find, vermöge der dritten, wie fie auf- einander wirken. ‘Die primären Qualitäten find die wahren Eigenſchaften der Körper, die fecundären Qualitäten erfter Art find die finnlihen Eigenſchaften, die der zweiten find die Kräfte. Die Vorftellung der wahren Eigenſchaften iſt und gilt als den Körpern ähnlich, die der finnlichen ift den Körpern nicht ähnlich, aber gilt dafür, wir bilden uns ein, die Körper feien gelb, roth, ſüß, fauer, hart, weich u. ſ. f., die der Kraftwirfungen eines Körpers auf den andern ift den betreffenden Körpern weder ähnlich nod gilt fie dafür, denn niemand glaubt, daß flüffiges Blei eine Aehnlichfeit mit dem euer oder gebleichtes Wachs eine Aehnlichfeit mit der Sonne hat. *)

Sind nun alle Qualitäten Wirkungen der Körper, deren Wirkungsweiſe allein in den verfchiedenen Arten der Bewegung bejteht, bedingt durch Geftalt, Maſſe und Maffentheilchen, fo müffen aus diefen primären Qualitäten die fecundären abge- feitet werden, es giebt daher zur Erklärung der Phänomene der Körperwelt feine andere Erflärungsart als die mathema- tifch-mechanifche. **) Hier finden wir Locke in Uebereinftimmung mit Newton, feinem großen Zeitgenofjen und Landsmann.

Wir fünnen ſchon hier aus der locke'ſchen Lehre ein wich—

*) Ess. II, ch. 8, $. 23. 24. **) Ess. II, ch. 8, 8. 18,

36 *

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tiges Ergebniß vorwegnehmen: alle unfere Erfenntnigobjecte find Wahrnehmungsobjecte oder Vorftellungen, deren Elemente die einfachen Vorſtellungen, vücdfichtlih der Körperwelt die Senfationen find; daher giebt es überhaupt eine Erfenntniß nur der Eigenfchaften, nicht der Subjtanz der Dinge, nur ihrer Eridpeinungen, nicht ihres Weſens. Es giebt in diefem Sinn feine Metaphyſik.*)

*) Zur Ueberfiht der locke'ſchen Lehre von den Elementarvorftel- lungen diene folgendes Schema:

1,

Efementarvorftellungen (einfache Ideen)

Wahrnehmung Senjation Reflerion Durch de nn: Durch mehrere Sinne: | Denken und Wollen

Gm Raum

Gerud) Ausdehnung

Geihmad ar —— Solidität Ruhe

Senfation und Reflerion Tu

Luſt und Schmerz, Exiſtenz, Einheit, Kraft, Zeit. 2.

Einfache Voritellungen der Senfation Oualitäten der Körper

primäre fecundäre Solidität unmittelbare mittelbare Ausdehnung ſinnliche Kräfte. She Beichaffenheiten

Bewegung und Rube

Fünfles Kapitel.

B. Der Verſtand und deffen Objecte. Die zufammen: geſetzten Borftellungen.

: Die Stufen der Wahrnehmung.

Wir kennen die Grundvorftellungen, die Elemente aller übrigen Ideen, die Locke zufammengefett oder compler nennt, wie jene einfah. Zu den einfachen Vorftellungen verhalten wir uns blos empfangend oder pafjiv, zu den zufammen- gefetten dagegen bildend oder activ. Wo ift dazu die Bedin- gung? Wo ift das vorftellungbildende oder componirende Ver— mögen, da e8 die bloße Wahrnehmung nicht ift und wir durd) fein anderes Vermögen Vorftellungen erhalten können als blos durd die Wahrnehmung? Was in unjerem Verſtande ift, fommt aus der Wahrnehmung, aber wie fommt die Wahr- nehmung jelbjt zu Verftande? Das ift die Frage, die der Lehre von den zufammengefegten Vorjtellungen nothwendig borausgeht. Es muß gezeigt werden, daß die Bedingungen, die zum Verftehen nöthig find, aus der Wahrnehmung folgen, daß diefe die erjte Stufe des Wilfens bildet, von der Fein

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Sprung, jondern ein naturgemäß abgejtufter Weg weiterführt. Es iſt gewiß, daß in der Wahrnehmung fi) das thierifche Leben von der übrigen Natur unterfcheidet, daß die menjchliche Wahrnehmung in ihrem Fortgange eine Stufe erreicht, wo fie die thierifche Hinter ſich zurückläßt und. deren Horizont über- fchreitet. Locke's Unterfuhung Handelt nur von der menſch— lihen Wahrnehmung. *)

1. Gedächtniß.

Die Wahrnehmung kann ihre Vorjtellungen nicht ſchaffen, darum auch nicht zerftören.**) Die Vorftellungen kommen und gehen, fie vergehen zeitlich, aber fie werden nicht zerjtört im Sinne der Vernichtung, fie dauern in der Wahrnehmung fort d. h. fie werden behalten, ſei es daß der gegenwärtige Eindrud durch Betrachtung feftgehalten oder der vergangene Eindrud durch Gedächtniß wieder vergegenwärtigt wird. Es bedarf außer oder neben der Wahrnehmung feines bejonderen Behaltungsvermögens, die Wahrnehmung felbit ift, da fie Feine der empfangenen Borftellungen zerjtören Tann, erhaltend und darum behaltend. Das Gedächtniß ift nichts anderes als die Wahrnehmung vergangener Vorftellungen, fie ijt deren Wieder- vergegenwärtigung, Wiederholung, Reproduction. Natürlich werden nicht alle Vorftellungen in derjelben Stärke behalten, der im Gedächtniß wiederholte Eindrud ift nie fo ſtark, als der erjte unmittelbar empfangene. Mit den Gradunterfchieden der ſchwächeren und ftärferen Erinnerung find zahllofe Ab- jtufungen gegeben; wir erleben eine Menge Vorftellungen, die

*) Ess. II, ch. 9. **) Ess. II, ch. 12, 8. 1.

567

fi) mit der Zeit völlig verdunfeln und nie wieder hervor: treten, fie find gejtorben und liegen in der Seele begraben. Es geht, jagt Locke finnig, mit den BVBorftellungen unferer Kindheit, wie oft mit unferen Kindern: fie fterben vor une, Die menfhlihe Seele hat aud ihre Gräber, Hier und da jteht noch ein verwittertes Denkmal, aber die Infchrift ift nicht mehr zu lefen. Ye öfter umd bejtändiger diejelben Eindrücke wiederfehren, fei e8 durch Mebung oder Erfahrung, um fo fefter und unvergeklicher werden fie dem Gedächtniß eingeprägt und bleiben in ihm ftetS gegenwärtig. Das ift im eminenten Grade der Fall mit unferer Vorftellung der Körperwelt, die wir ſtets haben, namentlic; was die conjtanten oder primären Eigenfchaften der Körper betrifft.*)

Das Gedächtniß ift die Wahrnehmung gleichjfam als zwei- tes Geficht, „‚zweite Wahrnehmung (secondary perception)‘, wie Lode treffend jagt, weniger paſſiv als die erfte, die un— willkürlich empfängt, während das Gedächtniß ſchon freiwillig handelt, jo oft die Seele fich gewifje Vorftellungen zurückrufen will. Darum ijt im Gedächtniß mehr piychiiche Selbitthätig- feit enthalten und frei geworden, als in der bloßen Wahr: nehmung; es ift. ſchon Geiftesgegenwart, deren höchſter Grad fein Vergeſſen wirklich bewußter Vorftellungen kennt. Pascal fol bis zum Verfall feines Körpers diefe höchſte Gedächtnif- jtärfe gehabt Haben; das äußerſte Gegentheil davon ift die Stupidität, bei der der Gedächtnißproceß fo langſam vor fid) geht, daß es zu einer eigentlichen Wiederbelebung der Vorſtel— lungen nicht fommt. **)

*) Ess, II, ch. 10, 8. 1—6. **) Ess. II, ch, 10, 8. 7—9.

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2. Urtheil.

Vermöge des Gedächtniffes erweitert fi die Wahrneh- mung zu einem Vorrath von Borftellungen, die Leicht inein- ander fließen und fich verwirren, daher nur dann wahrgenom: men werden können, wenn man fie jorgfältig und genau unter: icheide‘. Das einzige Mittel gegen die Verworrenheit ift die Klarheit und Verdeutlihung. Daher führt die Wahrnehmung, nachdem fie zum Gedächtniß erweitert ift, nothwendig zur Unterfheidung und Bergleihung der Vorftellungen. Die ſcharfe Unterfcheidung ift das Urtheil (judgment), die fchnelfe und fpielende Vergleichung ift der Wi (wit), jenes erleuchtet die Unterfchiede, diefer die Aehnlichkeiten, wobei er ſich wenig um die Unterfchiede und die wirklichen Verhältniſſe der Vor: jtellungen d. h. um die Wahrheit des Urtheils Fümmert. „Er beiteht in etwas“, jagt Lode, ‚das ſich mit jener nicht ganz verträgt.“ *)

3. Verſtand.

Die Objecte der Wahrnehmung find jett nicht mehr bloße Borftellungen, fondern BVBorftellungsunterfchiede und Berhält- niffe, verglichene Vorftellungen, die ſich nur feithalten laſſen, wenn man fie bezeichnet d. h. benennt. Die menjchliche Wahr: nehmung, um fi) als Gedächtniß und Urtheil (als bemahrende und vergleichende Wahrnehmung) zu erhalten, bedarf der Er: findung der Zeichen durch articulirte Laute, der Wortzeichen, der Sprade. Dieje Erfindung jelbft fteht unter einer noth- wendigen Bedingung. Es ift unmöglich, für jede einzelne

*) Ess. II, ch. II, 8. 2. 3.

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Vorftellung ein befonderes Wortzeichen zu bilden, es ift daher nothwendig, mit einem Wort viele Vorftellungen zu bezeich- nen, aus vielen Borftellungen eine zu bilden, deren Zeichen das Wort ift; es ift Furzgefagt nothwendig, die Vorftellungen zu verallgemeinern, was nur möglich ift duch Abftraction. Die Worte find Zeichen der abjtrarten Vorftellungen, die, ab- geftuft in Gattungen und Arten, die Vorjtellungsmaffen ordnen und beherrichen. Worte wollen nicht blos gehört und nad)- geahmt, jondern verjtanden werden; ohne das Vermögen der abjtracten Vorftellungen, ohne diefes Denkvermögen im engern Sinn werden fie nicht verftanden: diefes Vermögen ift der Ver— ftand. In ihm wird das Wahrnehmen zum Berftehen und Erfennen und überfchreitet damit die Grenze, welche die menſch— fihe Wahrnehmung von der thierifchen trennt. „Das Ber- mögen der Abftraction und der Begriffe (general ideas)‘, jagt Locke, ‚fett den vollkommenen Unterfchied zwifchen Menſch . und Thier und ift ein Vorzug, den die thierifchen Vermögen auf Feine Weife erreichen.‘ Die Thiere fprechen nicht, es fehlt ihnen nicht an den Drganen, fondern am Verjtande, an dem: jenigen Berftehen, das bedingt ift durch die jelbjtthätige Be— griffsbildung; felbft wenn fie menfchliche Worte nachahmen oder in einem engbegrenzten Fall zu verftehen fcheinen, fehlt diefes durch Begriff und Wort, durch Urtheil und Sat ver- mittelte Verſtändniß. Loce bezeichnet diefen Unterfchied als eine Kluft (vast a distance), wodurd Thier und Menſch gänzlich getrennt find (wholly separated.*)

Wir find bei den zufammengefegten Vorftellungen, die der Verſtand macht, das Vermögen der logiſchen Combination,

*) Ess. II, ch. 11, 8. 6—11.

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dejfen äußerſter Mangel den Charakter des Idioten und dej- jen bleibende Berkehrtheit den des Verrückten ausmacht. *)

II. Die zufammengefchten Vorftellungen.

Die Verbindungsart der Vorjtellungen ift Vereinigung und Beziehung. Da alle einfachen Vorſtellungen Beichaffen- heiten find, jo ift die erjte Vereinigungsform die Vorftellung der Beichaffenheit überhaupt d. h. eines Gegenjtandes, der nicht für fi) bejteht, fondern einem andern zufommt und deſ— jen Erfcheinungsart ausmacht. Locke nennt die Erſcheinungs— arten Modi (modes) und deren nähere Beitimmungen Modi: ficationen. Sobald aber einmal der Begriff der Beichaffenheit (Accidenzen, Affectionen, Attribute) gedacht wird, fo iſt dadurd) auch der Begriff des Dinges und der ‚Wefenheit (Subftanz) gefordert, die VBorjtellung für fich beftehender Dbjecte im Unterjchiede von den nicht für ſich beftehenden, fondern blos anhängenden. Die Bereinigung der Borftellungen Hat daher die beiden Formen der Modi und der Subftanzen.

Es giebt demnad) drei Arten zuſammengeſetzter Vorjtel- lungen: Modi, Subftanzen und Relationen; fie werden nicht duch die Einwirkungen der Dinge auf unfere Wahrneh— mung gegeben, fondern dur den Verſtand aus den einfachen Borjtellungen gemacht, fie find nicht Vorftellungen, fondern Borftellungsarten oder Denkweiſen.

*) Ess. II, ch. 11, 8. 12.

571

1, Die Modi.

Die Modi find zufammengefett aus einfachen Vorſtellun— gen (Beichaffenheiten), in die fie als ihre Elemente müfjen aufgelöft werden können. Entweder jind diefe Elemente gleich- artig oder verfchieden. Die Zufammenjegung gleichartiger Elenentarvorftellungen giebt den Begriff der „einfahen Modi.(simple modes)“, die der verfchiedenen giebt den Be— griff der „gemifchten (mixed modes)“. Wir handeln zu— nächſt von den einfachen.

1. Einfache Senfationsvorftellungen waren die Sinnes- empfindungen, wie Farben, Töne u. ſ. f.; einfache Reflexions— vorftellungen die Phänomene des inneren Gejchehens, unfere Denkthätigfeit; einfache Wahrnehmungsobjecte fowol der Sen- jation als Reflerion waren die Affecte von Luft und Schmer;. Die Compofition der Farben- oder Tonempfindungen ift ein Beijpiel einfaher Modi, ebenfo die verfchiedenen Arten und Grade fowol der Bewegung als des Denkens, ebenfo die ver: fchiedenen Arten der Affecte, die nur das Thema von Luft und Unluft variiven. Die Urfahen von Luft und Unluſt nennen wir Güter und Uebel, die dadurch erregten Affecte Liebe und Haß, Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht u. ſ. f. Wo Lode von den Modificationen des Denkens redet und aus den Zuftänden der VBerdunfelung, in denen wir gar feiner Denkthätigfeit uns bewußt find, den Schluß zieht, daß die Seele nicht immer denfe und ihr Wefen daher nicht im Denken beftehe, bemerfe ich den Gegenfag zwifchen ihm und Leibniz; wo er von den Affecten und Leidenfhaften handelt

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als einfachen Modis von Luft und Unluſt bemerfe ich die Parallele zwifchen ihm und Spinoza.*)

2. Unter den einfachen BVorftellungen wurden befonders hervorgehoben die Raum- und Zeitempfindung, die Vorftellung der Einheit und Kraft; das find aud die Themata derjenigen einfachen Modi, die Locke hauptſächlich ausgeführt hat, am weitläufigjten, aber feineswegs am Harften das der Kraft; er hat in der zweiten Auflage feines Werks diefen wichtigen Ab- Ihnitt in einigen Punkten verändert und berichtigt, ohne die - Klarheit wefentlich zu fördern.

Die einfachen Modi der Raumempfindung find die Modi- ficationen des Raums: Abftand, Dimenfion, Geftalt, Ort, Maßſtab, Erpanfion (fo nennt Locke die Ausdehnung des Raums im Unterjchied von der Ausdehnung des Stoffs, die er Ertenfion nennt). Da fih der Mafftab, gleichviel welche Dimenfion gemeffen wird und von welder Größe das Maß ſelbſt ift, ins Endlofe wiederholen und fortfeßen läßt, jo giebt diefe Art einer Zufammenfegung ohne Ende den Be- griff der Unermeßlichfeit.**) Da Lode im Gegenfat zu Descartes Raum und Körper unterfcheidet und die blofe Raumvorftellung unter den einfachen Modis behandelt, fo ver- theidigt ev gegen Descartes die Möglichkeit des leeren Raums. Wenn diefe Möglichkeit dadurch widerlegt werden foll, daß der leere Raum weder Subftanz noch Accidenz fein könne, jo find das leere Worte. Was ift Subftanz? Dasjenige foll Sub- jtanz fein, wodurch ein anderes getragen wird, d. h. deutlich gejagt: der Elephant, auf dem die Erde ruht, oder die Schild-

*) Ess. II, ch. 18, $. 3. 4; ch. 19 und 20. **) Ess, II, ch. 13, 8. 1—10.

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fröte, die den Elephanten trägt, wie jener Inder fagte. Ueber den Elephanten lacht man, jet man aber ftatt feiner das Wort „Subjtanz“, jo hält man den Ausiprud für ZTieffinn. Und wird das gelehrte lateinische Wort in die vaterländiiche Sprache übertragen, fo erfennt jeder, daß gar nichts gejagt ift.*)

Die einfahen Modi der Zeitempfindung find Folge, Dauer, Augenblid, Zeitmaß, dejjen unerjchöpfliche Wieder- holung die BVorftellung der (zeitlichen Unermeßlichfeit oder ) Ewigfeit giebt. Die Zeitempfindung ift gebunden an das innere Gefchehen, an den Lauf unferer Vorftellungen, wonach allein wir die Zeitfolge empfinden und meſſen. Unſere Vor: ftelflungen wechſeln, die eine fommt, die andere geht, dieje Wahrnehmung giebt uns die Vorjtellung der Folge oder Suc- ceffion; die Theile dieſer Folge find unterfchieden, zwifchen der Vorſtellung A und B ijt eine gewiffe Zeit verfloffen, die Wahrnehmung diefes Zeitabftandes oder einer gewiſſen Zeit- länge giebt die Vorftellung der Dauer, die Fleinfte wahrnehme bare Dauer, die Zeit einer einzigen Vorftellung, giebt die Borftellung des Augenblids; wenn in gewijjen Zeitabjtänden diefelben VBorftellungen regelmäßig wiederfehren, jo gewinnen wir die DVorftellung der regelmäßigen Zeitfolge, des Zeit- abjchnitts oder der Periode, die als Zeitmaß dient. Wenn diefe periodifchen WVorftellungen den Stand der Sonne im Laufe des Tages oder Jahres bezeichnen, jo wird die Zeit durch gewiffe Bewegungserjcheinungen gemefjen, nicht weil fie Be- wegungen, fondern weil fie Vorjtellungen find. Locke dringt wiederholt darauf, daß unjere Vorftellungen und deren Folge

*) Ess. II, ch. 13, 8. 19 und 20.

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das unmittelbare, directe, alleinige Zeitmaß bilden und jedes andere von hier übertragen ijt.*)

Alle Wahrnehmungsobjecte find irgendwo und irgendwann, fie haben ihren Ort und ihre Zeit; in Raum ift alles zugleich, in der Zeit alles juccefjiv. **)

Jede Vorftellung ift eine, daher die Einheit die alfge- meinte aller Borftellungen. Der einfahe Modus diefer Vor: jtellung ift ihre Wiederholung d. h. ihre Vermehrung, die Borftellung der Quantität oder Zahl. Das Zufammen- fegen von Einheiten gefchieht durch Zählen, das in jedem ge- gebenen Fall jo weit reicht, als die Zahlvorftellungen durd) Worte bezeichnet werden können, was mit der Bildungsftufe und den Bedürfniffen zufammenhängt. Alles Meſſen ift ein Zählen von Raum- und Zeiteinheiten, die als Maße dienen. Alles Meſſen ift Zählen. Weil das Zählen ins Endlofe fort- gefett werden fann, darum ift der Raum unermeßlich, die Zeit ewig, jede Größe ins Endlofe theilbar. Die Unbegrenztheit der Zahl giebt die Vorftellung der Unendlichkeit. Im diefer Unendlichkeit liegt der Grund, warum Raum und Zeit grenzen: los jind. Die Unendlichkeit ift eine fortwährend wachjende, nie vollendete, nie zu vollendende Vorftellung, fie ift nicht pofitiv, nicht die Vorftellung eines gegebenen Objects, ſondern einer nie zu erreichenden Grenze. Daher giebt e8 zwar eine Vorſtellung von der Unendlichkeit des Raums, aber feine vom unendlichen Raum, fowenig es eine Vorftellung von der Ewig- feit giebt, denn es giebt Feine unendlich große Zahl.***)

3. Jede Veränderung ift eine Wirkung, die als folde

*) Ess. II, ch. 14. Insbeſondere $. 32, ch. 15, 8. 9. **) Ess. II, ch. 15, $. 5—8. 8. 12. ***) Ess. II, ch. 16. 17.

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Wirkſamkeit, Thätigfeit, Kraft vorausfegt. Es giebt in der Körperwelt Feine Veränderung (Bewegung) ohne die Kraft, Wirkungen auszuüben und zu empfangen, ohne thätige und leidende Kraft, die fich gegenfeitig bedingen. Ohne eine folche wechjelfeitige Beziehung der Körper ift die Kraft nicht vor— zuftellen. Es giebt in der Körperwelt Feine Kraftäußerung ohne Einwirkung von außen, feine Bewegung, die nicht mit- getheilt wäre, feinen Körper als erite bewegende Urfache, Feine Ihlechthin thätige oder hervorbringende Kraft.

Die einfache Vorftellung der Kraft überhaupt ift ein un— mittelbares Wahrnehmungsobject jowol der Senfation als Keflerion. Die Hare BVorftellung der thätigen oder hervor- bringenden Kraft ift ein Object blos der inneren Wahrneh- mung, denn nur in uns erleben wir Vorgänge, die unmittel- bar durch unfere eigene Thätigfeit erzeugt werden. Der Verſtand bildet Vorftellungen, der Wille bewegt den Körper. Daher fällt die Vorftellung der thätigen Kraft zufammen mit der unferer Geiftesfraft, der Kraft unferes Verftandes und Willens. Aber auch der Verſtand thut nichts ohne Willen, er muß zur Bildung und Ordnung feiner Vorftellungen, zur Erfenntnigthätigfeit durch diefen beftimmt und gerichtet werden. Daher ift unfer Wille die einzige thätige Kraft, die wir ken— nen. Es giebt nur zwei uns erkennbare Thätigfeiten; Denfen und Bewegen, die einzige Kraft, die in beiden hervorbringend wirkt, ift der Wille.*)

Hier entfteht num die alte und jchwierige Streitfrage nad) der Freiheit des Willens, auf die man gar nicht eingehen fann, bevor man fie entwirrt und den Knäuel unverträglicher

*) Ess. II, ch. 21, $. 1—5.

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Vorſtellungen, in den fie verwidelt worden ift, aufgelöjt hat. Man kann überhaupt eine Kraft nur erfennen aus ihren Wir- fungen, aus ihrer TIhätigfeit, nicht umgekehrt die Thätigfeit und Wirkungen aus der Kraft, ſonſt überfegt man jede Wir- fung in eine gleichnamige Kraft, wodurd gar nichts erklärt, jondern nur der Name geändert und ein Heer von Kräften als letzte Urſachen oder befondere Wejen aufgeführt und hypo— jtafirt werden. Aus dem Vorgang der Verdauung, der Se: eretion u. f. f. wird eine Verdauungskraft, eine Secretions- fraft, aus den inneren Vorgängen der Erinnerung, Einbildung, Abftraction, Erkenntniß, Begehrung u. ſ. f. werden ebenjo viele gleichnamige Kräfte, die man weiß nicht wo ihre Her: berge haben.*)

Nun bejteht alle Willensthätigkeit im wollen, wählen, vorziehen, und alle dadurch bejtimmten Handlungen find frei- willig; man kann etwas vorziehen, ohne e8 zu wünjchen, man fann freiwillig in einen Zuftand treten, der die Freiheit aus- ihließt, wie 5.3. wenn man gern mit einem Andern die Ge- fangenſchaft theilt, dann ift das Bleiben im Gefängniß frei: willig, aber nicht frei, denn die Möglichkeit des Gegentheils (nämlich des Nichtbleibens oder Fortgehens) ift ausgeichloffen, aber wir können etwas nicht wählen oder vorziehen ohne die Borjtellung des Befferen, d. h. ohne eine Prüfung und Ueber: legung, welche die Denkthätigkeit in fich trägt. Daher ift das Wollen zugleich ein Act und eine Art des Denkens. **)

Die Freiheit dagegen ift eine Machtfrage, fie bezieht ſich nur auf unjer Können, fie betrifft nur die Handlungen, die

*) Ess. II, ch. 21, 8. 17—20. **) Ess. II, ch. 21, $. 10 und 11. $. 27. 30.

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wir ebenfo gut thun als unterlaffen können. „Unſere Vor— ftellung der Freiheit“, jagt Lode, „reiht jo weit als die Macht, nicht weiter.”*) Nun fällt die Macht mit dem In— begriff der Bermögen, mit der Natur eines Wefens zufammen, und die Frage nad) unferer Freiheit muß daher jo gejtellt werden: ob und inwieweit dev Menfc (die menjchliche Natur) frei ift ?**)

Bergleihen wir nun Wille und Freiheit als Kräfte, deren eine auf das Wählen und Vorziehen, deren andere auf das Können und Handeln geht, jo leuchtet ein, daR die gewöhn- liche Frage nach der Willensfreiheit entweder ins Xeere oder ins Ungereimte fällt; fie ift entweder tautologijch oder abjurd. Sofern beide Kräfte find, ift jene Frage gleichbedeutend mit der: ob die Kraft Kraft, die Freiheit frei, der Reihthum reich) iſt? Sofern beide verfchiedene Kräfte find (denn ein anderes ist Wählen, ein anderes Können), ijt jene Frage fo ungereimt, als ob man fragen wollte: ob die Ruhe bewegt, der Schlaf Ichnell, die Tugend vieredig ijt?***)

Die Freiheit ift Feine Eigenfchaft des Wollens, jondern ein Zuftand des Wefens, der menjchlichen Natur, der bejtimm- ten menjchlicen Individuen in Abficht auf gewiffe Handlungen. Sofern nun das Wollen unter die menjchlichen Thätigfeiten gehört, kann gefragt werden, ob die Willensthätigfeit in das Gebiet unferer Freiheit d. h. derjenigen Handlungen fällt, die wir ebenjo gut thun als unterlafjen können? Erſt jest wird die Frage nad) der Willensfreiheit fo geftellt, daß eine Antwort

*) Ess. II, ch. 21, $. 10: „Our idea of liberty reaches as far as that power and no farther.“ **) Ess. II, ch. 21, $. 21. ***) Ess. II, ch. 21, $. 16 und 14. Fiſcher, Bacon, 37

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möglih ift. Sie lautet: können wir ebenfo gut wollen als nicht wollen? Diefe Handlung wird gewollt d. 5. gewählt, jeder anderen vorgezogen, darum gejchieht fie, fie geſchieht alfo nothwendig und kann nicht ebenjo gut unterlaffen werden; fie mußte gefchehen, fie konnte nur dadurch gefchehen, daß fie ge- wollt wurde, daher konnte diefer Willensact nicht ebenfo gut unterbleiben. Die Frage nad) der Willensfreiheit im obigen Sinn ift zu verneinen, nämlich die Frage nad) der Freiheit des Wollens, fofern es im Wählen der Handlungen bejteht. Und worin follte diefe Freiheit fjonjt noch bejtehen? Etwa darin, daß ich mic wählend verhalte nicht zu der Handlung, fondern zu der Wahl, zum Willensact felbit, daß das Wollen zum Gegenjtand des Wollens gemacht wird? Dann brauchen wir einen Willen, um den Willensact zu bejtimmen, der jelbjt die Wahl oder den Willensact bejtimmt, aus dem die Hanb- fung hervorgeht. Diefer Procek fett, fih ins Endloje fort und fommt, wie man fieht, vor lauter Wollen nicht zum Wil- len. Bedeutet der Wille das Wählen der Handlungen, jo muß die Frage nad) der Willensfreiheit verneint werden; ber deutet er das Wählen des Wollens, jo giebt e8 gar feinen Willen, er löſt fi in Nichts auf und ebenfo die Frage nad) feiner Freiheit. *)

Unfer Wille ift beftimmt, unfer Wollen motivirt. Wir wählen diejenige Handlung, die uns befriedigt, die unfer Be- dürfniß jtillt, den Mangel aufhebt, den wir ſchmerzlich empfin- den, der ung quält und peinigt; die Befreiung von dem pein-

*) Ess. II, ch. 21, 8. 23—25: „A question, which, I think, needs no answer, and they who can make a question of it, must suppose one will to determine the acts of another and another to determine that and so on in infinitum.‘“

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lichſten Mangel gewährt die größte Befriedigung, die wir am lebhaftejten begehren und darum jeder anderen vorziehen: das ift die Handlung, die wir wollen. Daher ift der empfundene Mangel, der peinliche, unbehagliche, unbefriedigte Yebenszuftand, das Gefühl, welches Lode mit dem Worte „uneasiness“ be- zeichnet, das durchgängige Motiv unſeres Wollens, Wählens, Handelns. Durd die Natur und Art diefer Empfindung find die Dbjecte beftimmt, die wir begehren, und damit unfere Willensrihtung. Die größten Güter reizen und bewegen uns nicht, wenn der Mangel derjelben uns nicht drüdt, diefer Mangel muß uns quälen, wie Hunger und Durft, bevor wir fie ernthaft begehren und wollen. Erft wenn die Armuth uns Ihmerzt, begehren wir den Reichtum; erjt wenn das Armfein als größtes Elend empfunden wird, jagen wir dem Reichthum nad als dem größten Gut. Solange der Mangel irdifcher Güter unfer Unglück ausmacht und deren Befit unfer höchſtes Glück, mögen ung die Freuden des Himmels nocd jo Herrlic) und deren Schilderung noch jo erbaulich erjcheinen, fie loden ung nicht und laſſen den Willen unergriffen und unberührt. Wer nicht nad) Reichthum Hungert und dürftet, jtrebt nicht nah Reichthum; wer nicht nach Gerechtigkeit Hungert und dürftet, ftrebt nicht nad) Gerechtigkeit. Ob es zeitliche oder ewige Güter, ob es die Fleinften oder erhabenften find, begehrt und ergriffen werden fie nur, wenn uns ihr Mangel elend macht. *)

Nun aber ift das Wählen zugleich ein Brüfen, welches die Folgen der Handlungen abwägt, die Werthe der Güter unterfcheidet, das Dauernde dem Bergänglichen, das Entfernte

*) Ess. II, ch. 21, 8. 28—45. 37 *

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dem Nahen vorzieht, das Beſſere einleuchtend macht, dadurd die Beweggründe Täutert, nicht das Gefühl des Mangels auf- hebt, aber bewirkt, daß uns der Mangel geiftiger Güter umd Befriedigungen peinlicher drückt als die tägliche Feine Yebens- noth. Urtheil und Einſicht ändern die Richtung unjerer Be— gierden, hemmen die leidenfchaftlihe und blinde Jagd nad) den nächſten und gewöhnlichen Lebensgütern, verhüten die voreilige Wahl, brechen die Gewalt der Leidenfchaften, jie machen den Willen einfihtsvoll, vorherjehend, vernünftig und dadurch frei. Dede voreilige Wahl ift Schuld, weil fie ver: hütet werden kann, jede blinde Begierde Knechtichaft, weil fie beherrfcht werden fann. Der Wille ift in der Wahl der Handlungen immer durd Beweggründe beftimmt; er ift frei, wenn diefe Beweggründe erleuchtet find durch die Einficht des Beijeren. „Wenn das Unfreiheit ift“, jagt Locke und eben- dajjelbe Hat Leibniz gefagt, „jo find nur die Narren frei.” Unjere Handlungen folgen unferer Wahl, diefe unferen mäd)- tigften Begierden, e8 kommt alles darauf an, ob die Begierden der Einfiht folgen oder nit, ob die vernünftigen Begierden mächtiger find als die vernunftlofen. „Wenn Ihnen das Trinken lieber ift als das Sehen“, fagte ein Arzt zu einem Augenkranken, „jo ift Wein für Sie das Beſte, im andern Fall ift er das Schlimmſte.“*)

4. Die einfachen VBorftellungen und deren einfache Modi geben unfere Driginalvorftellungen (original ideas), als welche Locke folgende acht bezeichnet:“im Gebiet der Senfation Aus- dehnung (extension), Solidität, Bewegbarfeit (mobility), im Gebiet der Reflexion die Kraft des Vorftellens und Handelns

*) Ess. II, ch. 21, $. 46—71. Insbef. 8. 48 54.

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(perceptivity und motivity), in beiden Gebieten Exiftenz, Dauer, Zahl.*)

5. Durd) die Verbindung verfchiedenartiger einfacher Vor— stellungen entftehen die fog. gemifchten Modi, deren Thema die Grundeigenfchaften oder Thätigkeiten (Denken und Bewegung) in den mannichfaltigften Modificationen find. So ift z. B. das Sprechen eine Thätigfeit, die aus Denken und Bewegung befteht, Furcht und deren Gegentheil find Affecte, Furchtlofes Spreden oder Freimüthigfeit ein gemifchter Modus, in wel- chem verfchiedene VBorftellungen in einen Begriff zufammen- gefaßt find. Alle Thätigkeitsbegriffe find Beiſpiele ſolcher ge- miſchten Modi.**)

2. Die Subftanzen.

In den Modi wird ein Inbegriff von Eigenfchaften vor- geftellt. Eigenſchaften beftehen nicht für fich, fondern in einem Andern, dem fie zufommen, das fie trägt; fie find nicht „sine re substante”, fie bedürfen und fordern daher zu ihrer Er- gänzung den Begriff der Subftanz, den der Verſtand aus den Eigenschaften zufammenfegt, deren Verbindung oder Complex er wahrnimmt. Er macht daraus ein’ Ganzes, ein für fi beftehendes, einzelnes Ding, wie Körper, Pflanze, Thier u. ſ. f., ein Inbegriff folder Einzeldinge "bildet die collective Vorſtel— lung von Sammeldingen (collective ideas), wie Wald, Heerde,

Welt u. J. f.***) Aus den Eigenschaften, die wir vermöge der Senjation vorftellen, bilden wir den Begriff einer körperlichen Sub-

*) Ess. II, ch. 21, 8. 73. **) Ess. II, ch. 22. **) Ess. II, ch. 24.

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Stanz, aus denen, die wir in uns wahrnehmen und aus der förperlichen Natur nicht ableiten können, den einer geiftigen Subjtanz, endlich) aus den Vorftellungen der Kraft und Dauer, des Verftandes und Willens, indem wir fie ins Unendliche jteigern oder mit der Vorftellung der Unendlichkeit verbinden, den Begriff Gottes.

Nun reiht unfere Erfenntniß nur fo weit als unfere Borftellungen, deren unüberſteigliche Grenze die elementaren Wahrnehmungen find. Wahrnehmbar find nur Wirkungen, Kraftäußerungen, Eigenfchaften; die Dinge ſelbſt im Unter- Ichiede von den Eigenfchaften find mithin nicht wahrnehmbar, nicht vorftellbar, nicht erfennbar. Die Subftanz ijt daher ein Begriff ohne BVorftellung, eine Berftandesdichtung, die ein unbefanntes und unerfennbares Etwas bezeichnet, das nicht befannter wird, ob wir es Körper oder Geift nennen. Was den geiftigen Thätigkeiten, den Erfcheinungen in uns, zu Grunde liegt, ift ebenfo dunkel und darum ebenfo klar als das Wefen des Körpers; es ift eine Täuſchung zu meinen, daß die fürper- liche Wirkungsweiſe einleuchtender fei als die geiftige, daß die Bewegung durch den Stoß begreiflicher fei als durch den Willen. *)

Die Subftanz oder das Weſen der Dinge kennen wir nicht, weder der Geifter, noch der Körper, noch Gottes; es giebt feine Metaphyſik weder als Piychologie, noch als Kosmologie, noch al8 Theologie: Hier ift der Berührungspunft zwifchen Lode und Kant, die Differenz zwifchen Lode und Bacon, der die Metaphyſik in Rücficht auf die Zwede hatte gelten laſſen und als Erforfhung der phyſikaliſchen Grundfräfte der Er-

*) Ess. II, ch. 23, 8. 1—37.

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fahrungsphilofophie zum Ziel gefett Hatte.*) Man fieht deut: lich, wie auf dem Wege von Bacon zu Kant Rode einen noth- wendigen Durchgangspunkt bildet. Die fenfualiftifch gerichtete Erfahrungsphilofophie ift ſchon Fritifch geftimmt.

3. Die Relationen,

Unter den zahllojen Beziehungen, welche die mannichfal- tige Natur und Entjtehungsweife der Vorftellungen mit fich bringt, hat Code befonders Hingewiefen auf die Verknüpfung, wodurd wir den nothiwendigen Zufammenhang der Erfcei- nungen vorftellen, und auf die Vergleihung, welche die Ueber— einjtimmung oder Nichtübereinftimmung derfelben erhellt. Ver— gleichen wir das Dbject mit fich felbit, fo giebt die Ueberein- ſtimmung (des Dinges mit fich) die VBorftellung der Identität; vergleichen wir die Dbjecte untereinander, fo eröffnen ſich zahllofe Vergleichungspunkte und Beziehungen. Hier hat Rode eine Bergleihung hauptfächlich hervorgehoben: die der menſch— lihen Handlungen mit ihren Regeln, d. 5. diejenige Ueberein- ftimmung oder Nichtübereinjtimmung, die in der Vorftellung der Geſetzmäßigkeit oder Gejeßwidrigfeit unferer Handlungen bejteht. Die Identität des menfchlihen Bewußtſeins giebt den Begriff der Perfönlichkeit oder des Ich, die Uebereinftimmung der menschlichen Handlungen mit ihren Regeln giebt den Be- griff der Moralität im weitelten Sinn.

Das find die drei von Lode näher betrachteten Fälle der Relation: die VBorftellungen der Caufalität, Identität (Berfönlichkeit), Moralität.

Er felbft nennt die Kaufalität die umfafjendfte Beziehung,

*) ©, oben Bud) II, Cap. II, ©. 180.

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worin alfe wirklichen und möglichen Dinge begriffen find. *) Jede einfache Vorftellung und deren Veränderung erjcheint unmittelbar als eine Wirkung, die auf eine Urſache Hinweift; darum ift die Idee der Caufalität durch die einfachen Vor— jtellungen bedingt und von diefen unabtrennbar. Daß Urfachen wirfen, ift einleuchtend; wie fie wirken, ift dunfel.**) Bon dem Begriff der Caufalität gilt nach Yode, was von dem der Subſtanz nicht gilt: daß ihn die einfachen Vorftellungen ent- halten. Denn die Eigenfchaften find als folche nicht Subjtan- zen, wohl aber Wirkungen.

Jedes Object ift von allen übrigen zu unterfcheiden, es ift im Unterfchiede davon diefes Ding, diejes einzelne indi- viduelle, denn alle Objecte find in Raum und Zeit, es ift aber unmöglich, daß in demjelben Drt zwei verfchiedene Objecte in demfelben Zeitpunkt jind: daher find Raum und Zeit das „principium individuationis“.***) Das Individunm entfteht, vergeht, verändert ſich, es bleibt in der Veränderung diefes von allen anderen verjchiedene, fich felbjt gleiche Individuum, es erhält den Charakter feiner Identität. Was macht mitten in der Veränderung des Körpers, des lebendigen Körpers, der Pflanze, des Thieres, des Menfchen die Identität jedes diefer Dbjecte? Locke durchläuft diefe Fragen und unterfucht befon- ders die Iette, die den Menjchen betrifft. Der Menſch ift vermöge des Selbjtbewußtfeins perfünlic), und die Identität der Perfon ift bedingt durch die Einheit und Kontinuität des Bewußtfeins. Aber aus der Identität des Ich folgt Feines- wegs die Identität oder Einheit (Einfachheit) der Seele als

*) Ess. II, ch. 25, $. 11. **) Ess. II, ch. 26, 8. 2. ***) Ess. II, ch. 27, 8. 3.

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einer Subftanz; das Ich iſt Fein Erfenntnißgrund der pſychi— hen Subjtanz. Die rationale Piychologie gründet fid) auf den Satz, daß die Perfon Subftanz fei; die Widerlegung die- je8 Satzes zerftört die Grundlage der metaphyſiſchen Seelen: lehre und macht fie hinfällig. Wir bemerken, wie weit in diefem wichtigen Punkte Locke der kantiſchen Vernunftkritif borgearbeitet hat. Die Perfon iſt Einheit des Bewußtſeins, welches letztere nicht das Wefen betrifft, fondern blos die Vor— ftellungen. Es wäre denkbar, daß die Vorftellungen verfchie- dener Subftanzen in der Kontinuität eines Bewußtfeins zu— fammengehalten werden, dann bilden diefe verfchiedenen Sub- tanzen eine Perfon; ebenſo ift es denkbar, daß ein und dafjelbe Wefen in verfchiedenen, durch fein Band der Erinne- rung verknüpften, durch Feine Continuität der VBorftellungen vereinigten Stadien des Bewußtſeins erfcheint, dann bildet eine Subftanz mehrere Berfonen, wie e8 in der Lehre von der Präeriftenz der Seele und der Seelenwanderung wirklich der Fall ift. Wenn jener englifche Bürgermeifter, den Rode Tannte, wirklich, wie er fich einbildete, Sofrates war, fo wären ©o- frates und der Mayor von Queenborough ein und dafjelbe Wefen, aber feineswegs eine Perfon.*)

Es giebt drei Gefete, welde die menfhlihen Handlungen reguliven: das göttliche, bürgerliche und fittlihe (im Sinn der Sitte oder öffentlichen Meinung). In Vergleihung mit diejen Regeln find die menfchlichen Handlungen entweder geſetzmäßig oder gejegwidrig, gut oder ſchlecht; in Rückſicht auf das erfte Geſetz find die fchlechten Handlungen fündhaft, in Rückſicht auf das zweite verbrecheriſch, in Rückſicht auf das dritte

*) Ess. II, ch. 27, 8. 1—6; 8. 6—29. Bef. $.14—17; 8. 23.

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tadelnswerth oder ſchändlich, die Vergleihung mit dem, was in der öffentlihen Schätung für gut oder fchlecht gilt, giebt den Begriff des Löblichen und feines Gegentheils, läßt die Handlungen als würdig der Billigung oder Misbilligung, als achtungswerth oder verächtlich, als fittlich oder unfittlich erfcheinen und macht jo den Begriff der Moralität im engeren Sinn aus. Die moralifchen Beichaffenheiten find daher Re— lationsbegriffe, zufammengefegt aus einfachen Vorftellungen, denn fie vergleichen Handlungen, deren Begriff unter die ge- mifchten Modi gehört, mit den Ideen des Guten und Böſen, die unter die einfachen Modi zählen. Gut und Uebel find die Urfachen unferer Luft und Unluft. Eine Handlung ift gejet- mäßig oder gut, wenn fie kraft des Gefeßes unfern Zuftand verbeffert, angenehme Empfindungen verurfaht d. h. belohnt wird; fie ift gejeßwidrig oder fchlecht, wenn fie kraft des Ge- jetges unfern Zuftand verichlimmert, unangenehme Empfindun- gen verurſacht d. h. beftraft wird. Da uns die Gefekwidrig- feit einer Handlung als ein Uebel oder etwas Böſes nur einleuchten kann, fofern fie ftrafwürdig ift, fo folgt, daß jedes Geſetz mit der Vorftellung von Lohn und Strafe verbunden fein muß. Nur dadurd) können Geſetze Motive werden, daß meine Handlungsmweife mein Anfehen und meine Achtung in den Augen der Welt d, H. meinen öffentlichen Werth erhöht oder vermindert, dieſe Vorftellung ift eines der ftärkften und wirkjamften Motive des menfchlichen Willens. In fo vielen Fällen wollen wir uns der Strafe des göttlichen und bürger- lihen Geſetzes lieber ausfegen, als der öffentlichen Verun— glimpfung; mag 3. B. der Zweilampf als gottlos und ver: brecherifch gelten, folange die öffentliche Meinung oder die Standesfitte denfelben als eine tapfere und ehrenhafte That

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anfieht, wird man fortfahren fih um der Ehre willen zu duelliven. *)

Ich faſſe zum Abſchluß diefes Kapitels die Lehre von den zufanmen- gejeßten Borftellungen in folgendes Schema zufammen:

Einfahe Borftellungen

zufammengejette Modi Subftanzen Relationen Einfade emiſchte Geiſt Cauſali— inſti „team, ge übte Körper a en. an auer atı * 1% it A Ort, pe Begeiffe ab I orali> Unermeßlichkeit wie

Zahl unerht feit Kraft ee tbätige Kraft —— En Wille, Freiheit

*) Ess. II, ch. 28, 8. 3— 15.

Sechsles Kapitel, C. Werth und Gebraud der Borftellungen und Worte,

J. Die Geltung der vorſtellungen. 1. Klarheit.

Zum erſten mal hat Locke den durch den Empirismus geforderten Verſuch gemacht, durch eine Analyſe der Wahr- nehmung als der Duelle aller Erfahrung das Alphabet der menſchlichen Vorjtellungen darzuthun, die Elementarvorftellun: gen und die Hauptarten ihrer Verbindung. Erſt nachdem diefer Einblif gewonnen ift, läßt fich die Frage nad dem Umfange und der Art der menfchlichen Erfenntniß ftellen. Nicht unmittelbar. Jede Wahrheit fordert 1) Webereinftimmung der Menfchen in ihren Vorftellungen, einen Vorſtellungsver— fehr, einen Ideenaustauſch, der nur möglich ift durch die Zei- hen der Sprache, 2) Mebereinftimmung der Vorftellungen mit ihren Objecten, fonft haben die Vorjtellungen feinen Erkennt— nißwerth. Die beiden fchon vielfach berührten Vorfragen be- treffen daher die Geltung der Vorftellungen und die der Worte, :

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Damit die Vorftellungen zur Erfenntniß gebraucht werden fünnen, find zwei Bedingungen nöthig: Klarheit und Ob- jectivität.

Zur fihern Ausprägung der Vorftellung gehört Klarheit (im engern Sinn), Deutlichfeit, Bejtimmtheit. Die Vorjtel- lung iſt klar, wenn fie wirklich percipirt und nicht gehindert wird durch einen zu ſchwachen Eindrud oder eine zu geringe Empfänglichfeit, fie ift deutlich, wenn fie von jedem andern Dbjeet unterfchieden werden Tann, fie ift bejtimmt, wenn alle in ihr enthaltenen oder zu ihr erforderlichen Merkmale voll- jtändig vorhanden und wohlgeordnet find. Das Gegentheil der klaren Vorftellung ift die dunkle, das der deutlichen und bejtimmten ijt die verworrene. Wenn wir vom Leoparden nur jo viele Merkmale Ear vorjtellen, als er mit dem Panther gemein hat, fo können wir den Leoparden vom Panther nicht unterfcheiden, unſere Vorftellung ift undeutlich, weil fie nicht vollftändig it; wenn wir vom Tauſendeck zwar die Zahl, aber nicht die Figur deutlich vorftellen, fo ift die VBorftellung theils flar, theil8 verworren. *)

2. Objectivität. Realität, Angemefjenheit, Richtigkeit.

Zur Objectivität der Vorftellung gehört: 1) daß über- haupt etwas Wirfliches vorgeftellt, 2) daß dieſes wirkliche Dbject nicht defect oder mangelhaft, jondern volljtändig und angemefjen vorgejtellt wird, 3) daß die Vorftellung ihrem Driginale (dem Dinge, worauf fie fic) bezieht) entſpricht und mit demfelben übereinftimmt. Die erfte Bedingung giebt den

*) Ess. II, ch. 29.

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Charakter der Realität, die zweite den der Angemefjenheit, die dritte den der Wahrheit oder Nichtigkeit; in der erften Rück— ficht unterfcheiden fi die Vorjtellungen als wirkliche und himärifche (real and fantastical), in der zweiten als ad» äquate und inadäquate (adequate and inadequate), in der dritten al8 wahre und faljche (true and false) oder beffer gefagt als richtige oder unrichtige (right or wrong). Diefe fette Unterfcheidung weift ſchon auf das Gebiet der Erfenntniß, denn Wahrheit und Irrthum find nicht in den Vorftellungen, fondern in den Urtheilen enthalten, die Vorftellungen find nicht als ſolche wahr oder falſch, jondern als Prädicate der Dinge. *)

Aber das Wichtige ift, daß die obigen Unterjcheidungen nicht blos gemacht, jondern auf unjere Vorftellungsarten an- gewendet und deren Charakter und Geltung unter den bezeich- neten Gefichtspumften geprüft werden. Wie verhält es ſich mit der Realität, Angemefjenheit, Wahrheit oder Richtigkeit, mit einem Wort mit der Objectivität unferer einfachen und zuſam— mengejegten Vorftellungen, der Modi, Subftanzen und Rela- tionen?

Was die einfachen Vorftellungen und deren einfache Modi betrifft, jo beantwortet fich die Trage leicht, fie ift dadurch be- antwortet, daß jene bereits als „Driginalvorftellungen“ erfannt find. Die Elementarvorftellungen find als Wahrnehmungs- objecte unmittelbar einleuchtend, fie find klar, reell, adäquat, und eine Täuſchung ift nicht möglich, fobald man den Unter- jchied der primären und fecundären Qualitäten wohl beachtet.**)

Die gemifchten Modi und Relationen find das Werf des

*) Ess. II, ch. 30—32. **) Ess. II, ch. 30, 8.2; ch. 31, $. 2.

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menschlichen Verftandes, in diefer Bildung befteht ihre Realität, fie find Bilder ohne Vorbilder, alfo Driginale oder Urbilder (archetypes), die nur ſich jelbjt vorjtellen und darum reell und adäquat, Kar und gültig find, jobald die Eigenjchaften, aus denen fie zufammengejett werden, fich miteinander ver- tragen. Wie das Dreied, das wir aus räumlichen Elementen conftruiren, fo find die Begriffe des Muthes, der Geredtig- feit u. . f., die wir aus gegebenen Elementarvorjtellungen zufammendenfen, Originale in uns, und es Tann in diejem Fall nicht gefragt werden, ob diefe Vorjtellungen mit irgend- welchen Dingen übereinftimmen, fondern ob der Eine diejelbe Borftellung z. B. von der Gerechtigkeit hat al8 der Andere, ob mein Begriff dem Originale entfpricht, das ich im Andern porausjete?*)

Anders verhält es ſich mit dem Begriff der Subjtanz, durch den ein Ding entweder als Träger oder als Inbegriff zufammenbeftehender Eigenjfchaften vorgejtellt werden ſoll. In beiden Fällen ift di, Subjtanz ein Abbild ohne Vorbild, denn als das, was den Eigenfchaften zu Grunde Liegt, ift das Ding gänzlid) unbekannt und als Totalität ſämmtlicher Eigenfchaften nie völlig befannt, daher die Subftanz entweder als ein Be— griff ohne Vorftellung oder als eine unvollftändige und man- gelhafte Vorftellung eine durchaus inadäquate Idee iſt. Ver— binden wir aber in der Vorftellung eines Dinges Eigenjchaften, die in der Wirklichkeit fi) nie beifammen finden, fo iſt der Begriff der Subftanz chimäriſch, wie 3. B. die Vorftellung eines Centauren. **)

*) Ess. II, ch. 30, $. 4; ch. 31, 8. 3, 5. 14. *#) Ess. II, ch. 31, 8. 6. 8. 13; ch. 32, 8. 18.

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3. Aſſociation.

Es giebt in unferer Vorftellungswelt natürliche Verwandt: ſchaften, vermöge deren fich gewiffe Vorftellungen leicht und unwillkürlich zueinander gefellen. Dieſe Verbindungsart ift die „Affociation“. Nun trifft es fich bei jedem Menfchen, dag unter dem Einfluß der Affecte, Gewohnheiten und Schick— ſale mancherlei höchſt feltfame und natırwidrige Vorftellungs- verwandtichaften geſchloſſen werden, die jo hartnädig zufammen- hängen, daß Vernunft und Urtheil nichts dagegen vermögen. Jedes Individuum, jagt Locke, hat feine Narrheiten, er meint die fogenannten Idioſynkraſien, die in zufällig veranlaften, allmälig befejtigten, unüberwindlich gewordenen Affociationen gewiffer Vorftellungen ihren Grund haben jollen.*)

II. Die Geltung der Worte. 1, Die kritiſche Frage,

Die Mittheilung unferer Vorftellungen gefchieht durch die Sprade, fie fordert die Erfindung vernehmbarer und verjtänd- licher Zeichen (articulirter Laute), ohne welche ein Vorſtellungs— verfehr nicht oder nur in bejchränkteftem Maße ftattfinden fünnte, Die Worte find unmittelbare Zeichen der Vorſtellun— gen, nicht der Dinge, ſonſt müßten befannte Worte auch be fannte Dinge, Wortkenntniß auch Sachkenntniß fein. Jeder— mann erfennt leicht das Gegentheil. Die Worte für Zeichen der Dinge zu halten ift daher einer unferer Grumdirrthümer,

*) Ess. II, ch. 33.

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eine der fchlimmften, der Erfenntnig und ihrem Fortjchritt ſchädlichſten Selbittäufchungen. Sie find, genau zu reden, die Zeichen, womit der Sprechende feine Vorſtellungen ausdrückt. Und da wir die Sprade als eine bereits erfundene und fort- gepflanzte empfangen, diefelbe nicht erſt machen, fondern in fie Hineingeboren werden, fo lernen wir viele Worte früher fennen, als die Vorftellungen, die fie bezeichnen. Daher find befannte Worte nicht auch befannte Vorftellungen.*) So un- entbehrlich der Gebrauch der Worte zur Aufbewahrung, Mit- theilung, Erweiterung unferer Vorftellungen ift**), fo leicht, vielfältig, ja unvermeidlich erfcheint deren misbräuchliche An— wendung; um fo nothwendiger ift die Sichtung, die den rich— tigen vom falfchen Wortgebrauch unterfcheidet und Geltung und Werth der Worte aufflärt, die auf dem geiftigen Markte jo viel bedeuten als das Geld im Handel. Jede herkömmliche und falfche Geltung gehört zu den „idola fori“, die ſchon Bacon erleuchtet hatte. Auch hier finden wir Locke in völliger Uebereinftimmung mit Bacon.

Die Bedeutung der Worte find die Vorjtellungen, ihr Zwed ift die BVerftändlichkeit. Die erjte Bedingung alles gegenfeitigen Verſtehens ift daher, daß man klar und einver- jtanden ift über die Bedeutung der Zeichen; jonjt ftreitet man ins Endlofe mit Worten, bei denen ſich jeder etwas anderes denkt. Diefe Erfahrung Hatte Locke an feinen Freunden in Drford wiederholt gemacht und daraus den Anlaß zu einer Unterfuchung gefchöpft, die ihn bis auf den Urfprung der Vor— ftellungen zurüdführte, Schon die Thatjache, daR die Worte fo viele Uneinigfeit nicht blos möglich machen, fondern ver-

*) Ess. III, ch. 5, $. 15. **) Ess. III, ch. 9, $. 1. Fiſcher, Bacon. 38

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urfachen, beweift, welchen Antheil die Willkür an ihrer Erfin- dung und Geltung hat.

Worte bedeuten Vorftellungen und bedürfen daher der Erffärung oder Definition. Einfache Vorjtellungen oder Sin— nesempfindungen laſſen fich nicht definiven, es können nur ſolche Worte erklärt werden, die zufammengefette VBorftellungen oder Begriffe bezeichnen. Nun war die Mittheilbarfeit der Borftellungen bedingt durch deren Verallgemeinerung bermöge der Abjtraction; es find daher die allgemeinen Begriffe (ab- stract ideas), die durch erflärbare Worte bezeichnet werden.*) Demnad) ift die Fritifche Frage: was gelten die Worte als Zeichen der Gattungen und Arten? Die Bildung folcher abftracter Vorjtellungen und ihrer Wortzeichen ijt nach Locke „ein Runftgriff des Verſtandes (an artifice of understanding)”, wodurd; die Mittheilung außerordentlich erleichtert und die Dbjecte dergeitalt zufammengefaßt werden, daß wir fie wie im Compendium betrachten und von ihnen fprechen können „als wären fie in Bündeln (as it were in bundles‘‘**),

2. Real: und Nominalwejen.

Die Frage nad) der Geltung der Worte, fofern fie Be— griffe (Gattungen und Arten) bezeichnen, betrifft den fachlichen Werth derfelben und muß deshalb aus dem Werth der Be- griffe beurtheilt werden, fofern dieje die Natur oder das Weſen der Dbjecte ausdrüden. Wir verjtehen aber unter dem Wefen der Dbjecte (essence) den Inbegriff und Grund ihrer Eigen- haften, d. i. diejenige. Verfaffung, aus der die Eigenfchaften

*) Ess. III, ch. 4, 8. 7—11; ch. 3, 8. 9—12. **) Ess. III, ch. 3, $. 20; ch. 5, 8. 9.

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folgen. Iſt das Object ein von unſerer Vorſtellung unab- hängiges Ding, ein Werf und eine Bildung der Natur, jo ift jein Wefen „real“; ift es dagegen blos unſere Vorftellung, ein Werf und eine Bildung des Verftandes, jo ift fein Wefen im Begriff volljtändig befaßt, im Wort vollfommen bezeichnet, daher „nominal“ (real essence und nominal essence). Wenn es einen Begriff gäbe, der dem Realweſen der Dinge anf den Grund jehen und dajjelbe vorjtellen könnte, wie es it, jo würde diefer Begriff und fein Zeichen völlig reale Gel: tung haben. Einen ſolchen Begriff giebt e8 nit. Wenn es aber einen Begriff giebt, der diefe Rolle fpielen möchte, der das verborgene Realweſen der Dinge vorzuftellen beansprucht, jo hat ein folcher Begriff gar feine reale, ſondern blos nomi- nale Geltung. So verhält es ſich mit dem Begriff und Wort der Subftanz, das mithin ein bloßes Nominalwejen bezeichnet.

Die Natur bildet ihre Objecte auf eine von unferer Vor- ftellung unabhängige und uns verborgene Weife; darum fälft hier das Realweſen mit dem Begriff davon nicht zufammen, der lettere ijt mithin blos nominal. Unſer Verftand bildet auch Dbjecte, indem er fie vorftellt auf eine willfürliche und ihm erkennbare Weife, bei diefen Verftandesdingen fällt daher das Wefen mit dem Begriff, das Nealwefen mit dem Nomi- nalwefen zufammen; diefe Begriffe und ihre Zeichen haben zugleich reale und nominale Geltung: fo verhält es ſich mit den Modi und Relationen. Wir machen die mathematischen und moraliſchen Vorſtellungen, fie find, was fie find, und nichts weiter; in der Vorftellung des Dreieds, wie in der des Muthes, der Dankbarkeit, der Gerechtigkeit u. f. f. fällt das Weſen mit dem Begriff volljtändig zufammen, und wo es nicht gefchieht, läßt fi der Begriff berichtigen und ausbilden.

38*

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Gewöhnlich lernen wir hier das Wort früher fennen als die Borjtellung, die nachträglich entwicelt wird. *)

3. Gattungen und Arten als Nominalwejen.

Die kritiſche Wortſchätzung unterfcheidet daher genau, un- ter welche Begriffsclaffe die Gattungen und Arten gehören, deren "Zeichen die Worte find: ob fie Modi und Relationen vorstellen oder Subftanzen. Im letztern Falle ift es Feines- wegs die Natur, welche Gattungen und Arten vorbildet, jon- dern es ift lediglich der Verſtand, der diefe Begriffe willfür- fi) bildet und fälſchlich für Abbilder oder Nachbilder hält. Die Natur macht die Achnlichkeit der Dinge**), die dem Ver— jtande einleuchtet und ihn bewegt, Arten zu machen, deren logiſche Ordnung er für die Ordnung der Natur hält. Der logiſche Begriff der Gattung und Art giebt ſich für einen Inbegriff wejentliher Merkmale, aber in der Natur giebt es feine allgemeinen Dinge, fondern nur einzelne, in den einzelnen Dingen giebt es feinen Unterfchied wejentliher und unweſent— licher Merkmale, fie find, was fie find; alles was zu ihrem Beitande gehört, iſt weſentlich.“**) So gut wir uns Arten vorjtellen fönnen ohne alle Wahrnehmung, 3. B. Geifter höherer Ordnung (deren Dafein nad) Locke höchſt wahrſchein— (ih ijt), jo wenig ijt der Artbegriff überhaupt auf irgend- welche Wahrnehmung gegründet.) Er ift, wie die Subjitanz jelbjt, ein Begriff ohne Vorſtellung. Der Verſtand iſt art- bildend, nit die wahrnehmbare Natur. Wenn die Natur

*) Ess. III, ch. 3, $. 14—18; ch. 5, 8. 10—15. *#*) Ess. III, ch. 6, $. 36. ***) Ess. III, ch. 6, $. 4. 7) Ess. III, ch. 6, $. 11 und 12,

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Arten bildete, ſo müßte fie nad) Begriffen und Zweden ver: fahren, was eine grobe Weife iſt, die Natur zu anthropomor- phifiren, fo dürfte fie diefe Zwede nicht durch Misgeburten verfehlen, jo müßten die Misgeburten auch Arten fein, fo fönnte die Fortpflanzung nur innerhalb derfelben Art ftatt- finden und feine Baftardzeugung dürfte der Natur das Con— cept verrüden, jo müßten die Typen fich unveränderlich erhal- ten, die Grenzen jeder Art fejtgehalten werden, während in der Natur die Typen variabel und die Grenzen flüffig find.*) So hat Locke durch feine Unterfuhung des Verſtandes den Artbegriff aus Gründen befämpft, die fein Yandsmann Dar: win, unfer Zeitgenoffe, wiederholt und auf eine ſolche Fülle naturgefchichtliher Thatfachen gejtütt hat, daß diefer Begriff, wie er bisher gegolten, in der Naturwiffenichaft das Feld räumt.

4, Die Partikeln.

Zur angemefjenen Bezeichnung der Gedanken, zum rich: tigen Spreden, zur treffenden Sabbildung und Berkettung der Sätze dienen die fogenannten Formwörter (particles), deren Wichtigkeit Locke in diefer Rückſicht ausdrüdlic und mit feinem Sinne hervorhebt. Ohne ſolche Wörter, wie Prä— pofitionen, Conjunctionen u. ſ. f., ift der Gedanfenausdrud höchſt unvollflommen; jede zu geringe Diftinction ihrer Be— deutung, jede falfche oder auch nur ungenaue Anwendung macht den Gedanfenausdrud fehief oder finnlos. **)

*) Ess. III, ch. 6, $. 14—20; $. 23—27. **) Ess. III, ch. 7.

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II. Der Gebrauch der Worte.

| 1. Die Unvolllommenheit der Sprade.

Die Worte überhaupt haben den Zwed, Vorſtellungen anszudrüden und mitzutheilen, diefe Meittheilung zu erleichtern und zu beſchleunigen, durch diefelbe den menſchlichen Vorſtel— lungskreis zu erweitern d. h. Kenntniffe zu verbreiten.*) Wenn fie diefen Zwed erfüllen, fo werden fie richtig gebraucht, da— gegen faljch, wenn fie ihn verfehlen. It da8 Medium, wo- durch im geiftigen Verkehr die Vorſtellungen aus- und ein— gehen, trüb, ſo trübt ſich der menſchliche Vorſtellungskreis, es iſt daher zur Läuterung unſeres Verſtandes durchaus noth— wendig, daß man den fehlerhaften Gebrauch der Worte be— merkt und verhütet. Die Schuld liegt zum Theil in der Sprache ſelbſt, in der Beſchaffenheit und Unvollkommenheit ihrer Zeichen, zum Theil und zwar zum größten in den Sprechenden, welche die Worte unkritiſch brauchen.

Es iſt natürlich, daß in den Begriffen, die der Verſtand bildet und vorbildet, die Vorſtellungen der Einzelnen ſehr ver— ichieden und die Worte daher fehr vieldeutig find. So hat jeder feine eigene Anfiht von Ehre, Geredtigfeit, Glaube, Religion, Kirche u. ſ. f., die Gefpräche über ſolche Dinge be: weisen, wie ſich jeder in feiner VBorftellung als Hausherr fühlt. Werden Bücher darüber gefchrieben, die öffentliches Anfehen erhalten, fo muß deren Sinn erklärt und die Erflä- rungen müfjen wieder erklärt werden; die Commentare nament-

*) Ess. IU, ch. 10, $. 23— 25.

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ih der Gefetbücher nehmen fein Ende, da die Kommentare jelbft wieder der Commentare bedürfen. Es kann nicht anders fein, denn die Vorjtellungen, welche das Thema bilden, find willfürlihe Producte, und das Band zwifhen Wort und Vor— jtellung ift ebenſo willfürlich. *)

2. Der Misbrand der Sprade.

Diefe Schuld Tiegt in der Sprache, die andere liegt in den Sprechenden, die in ihrer Schäung der Sprade, in ihrem Gebrauch der Worte ſich unkritifch verhalten. In der Schätung der Sprache, wenn fie meinen, daß die Worte Dinge bezeidh- nen oder daß mit dem Wort der Begriff feſtſteht, als ob das Band zwifchen beiden nothwendig wäre. Bezeichnet das Wort „Stoff oder Materie” etwas anderes als eine Vorftellung ? It etwa mit dem Wort „leben der Begriff des Lebens ſchon feſtgeſtellt?**)

Will man verſtändlich ſprechen, ſo verbinde man das Wort mit der klaren und deutlichen Vorſtellung durch ein feſtes und dauernd gültiges Band. Wenn man eine dieſer Bedingungen nicht erfüllt, ſo hat man den Zweck der Sprache durch eigene Schuld verfehlt. Die Folge iſt Verwirrung. Die erſte Bedingung wird in der gröbſten Weiſe verletzt, wenn die Worte nicht blos Vorſtellungen, ſondern Dinge und zwar ſolche Dinge bezeichnen wollen, von denen es keine Vorſtellun— gen giebt: das ſind die völlig ſinnloſen Worte, die in der Philoſophie ihr Weſen treiben, wie die platoniſche Weltſeele, die Kategorien und ſubſtantiellen Formen der Ariſtoteliker, die

*) Ess, III, ch. 9. **) Ess. III, ch. 10, 8. 15—17.

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Atome der Epifurcer, der horror vacui, die Gattungen, Arten, Zwede in der Natur u. |. f.*) Dder man macht Worte ohne beitimmte und klare Vorftellung, Worte, Hinter denen nichts ift, leere Worte; es ijt als ob man den Titel eines Buchs fennt, aber auch blos den Titel, ohme jede Kenntniß des In— halts.**) Oder man giebt ftatt der Begriffe Bilder und macht Nedefünfte täufchender Art (arts of fallace), die den Verſtand leer laſſen und die Phantafie verführen.***) Oder man fpielt mit dunkeln Worten, um den Schein des Tief— jinns zu haben, und jtreitet darüber, um ſich das Anfchen des Scharffinns zu geben, das find die unmügen Subtilitäten, die Bollwerke der Scholaftifer, die das Leben in nichts "gefördert, die Wiffenfchaft verödet, die Religion verdunfelt, den Unfinn befejtigt, den Fortfchritt gehemmt und die Geringſchätzung des natürlichen Verſtandes und der mechanischen Künfte bewirkt haben, durch die doc allein der Fortichritt geſchah. Bier fin- den wir Yode in derjelben polemijchen Haltung gegen das „munus professorium‘” als Bacon.T)

Alle die angeführten Fälle variiven ein Thema: den Mis— brauch der Sprade, wenn Worte in Umlauf gefett werden ohne entſprechende BVorftellungen, leere Worte; der entgegen: geſetzte Misbrauch find Vorſtellungen, denen das entjprechende Wort fehlt, das fie zufammenfaßt und mittheilbar macht, un: bejtimmte und loſe Vorftellungen. Worte ohne Borftellungen gleihen dem Titel ohne Bud, Vorftellungen ohne das bezeid)- nende Wort gleichen den loſen Drudbogen ohne Einband und Titel. Kann man feine Vorjtellungen nicht benennen, jo it

*) Ess. III, ch. 10, 8.14. **) Ess. III, ch. 10, $. 2 und $. 26. ***) Ess. III, ch. 10, 8.34. +) Ess. III, ch. 10, 8. 6—10.

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man genöthigt, endlofe Umfchreibungen zu machen, aus denen niemand Flug wird. *)

Eudlich der dritte Ball: man hat Vorftellungen und Worte, aber ohne feites und fiheres Band, der Gebraud) der Worte ſchwankt, jest hat dafjelbe Wort diefe, jett eine andere Be- deutung, oder diejelbe VBorjtellung wird bald fo bald anders ausgedrüdt; das giebt ein Kauderwälſch (gibberish), das alles verwirrt. Ein ſolches Spreden gleiht einem Handel, wo diejelbe Waare unter verfchiedenen Namen gehen oder daf- jelbe Geldftüd in verfchiedenen Werthen gelten joll, es gleicht einer Rechnung, in der die Ziffer 3 aud) einmal die Zahl 8 bedeutet. **)

Der Misbraud) der Worte ift die Duelle aller Misver- ftändniffe und darımm eine Haupturfache unferer Irrthümer. Die Einfiht in den Werth und richtigen Gebraudh der Worte verhütet den Irrthum und bahıt den Weg zur Wahrheit.

*) Ess. III, ch. 10, $. 27 und 31. **) Ess. III, ch. 10, $. 5 und 31.

Siebentes Kapitel. D. Die menfhlihe Erkenutniß. Vernunft und Glaube,

I. Die Erkenntniß. 1, ten, Grade, Umfang.

Alle Erfenntnigobjecte find VBorftellungen. Was nicht vor- gejtelft werden kann, Tiegt jenjeits der Erfenntnißgrenze; die Erfenntniß ſelbſt ift aber nicht blos Vorftellung, ſondern Ein- fiht in das Verhältniß der VBorftellungen, in deren Ueberein— ftimmung oder Widerftreit (agreement and disagreement or repugnance). Das ift das durchgängige Thema aller Er: fenntniß; daraus folgt die Beſtimmung ihrer Arten, ihrer Grade und ihres Umfangs.

Das Vorftellungsverhältnig hat vier Fälle: Identität und Berjchiedenheit, Beziehung, Coerijtenz oder nothwendige Ver: fnipfung und Realität. Die Unterfcheidung zweier Farben eremplificirt den erſten Fall, die Gleichheit zweier Dreiecke den zweiten, die magnetifche Eigenſchaft des Eifens den dritten, die Realität der Gottesidee den lebten. *)

*) Ess. IV, ch. 1, $. 1—7.

603

Wenn das Verhältnig der Vorftellungen unmittelbar ein- leuchtet (wie z. B. der Unterfchied zwifchen Gelb und Blau), jo ift die Erfenntniß unmittelbar gewiß, anfchaulid oder in- tuitiv; wird das Verhältniß durch Zwifchenvorftellungen oder Mittelglieder erkannt, fo ift die Erfenntniß vermittelt, auf Be- weije gegründet oder demonſtrativ, alle mittelbare Gewißheit hat ihr Princip in einer unmittelbaren, alle Beweife find zu- legt von unmittelbaren Einfichten abhängig, die demonftrative Erfenntniß gründet ſich daher auf intuitive. Alle fichere Er- fenntniß it eines von beiden. Was ſich nicht entweder un— mittelbar anfchauen oder beweifen läßt, wird nicht eigentlich gewußt, fondern geglaubt, und Hat nicht den Charakter der Gewißheit, fondern der Wahrfcheinlichkeit. Jede Erkenntniß, die nicht intuitiv oder demonftrativ ift, fällt in das Gebiet der Meinung oder des Glaubens (faith or opinion). Zwiſchen der ficheren Einfiht und der bloßen Meinung liegt die Er- fenntniß der Dinge außer uns, die fi) auf finnliche Vorftel- [ungen gründet: das fogenannte jenfitive Wiffen. Unſer eige- nes Dafein erkennen wir intuitiv, das Dafein Gottes demon- itrativ, da8 Dafein der Körper jenfitiv.*)

Die Vorftellungsgrenze kann die Erfenntniß in feinem Fall überfchreiten. Die anſchauliche Erfenntniß reiht nur fo weit als die unmittelbare Vergleichung der Vorftellungen, die demonftrative nur fo weit als die verfnüpfende Kette der Mittelglieder. Es giebt Dinge, von denen wir gar feine Vor- ftellungen haben und haben Fünnen, es giebt Objecte, die wir zwar vorftellen, aber jo mangelhaft und beſchränkt, daß fie jo gut als unbekannt bleiben. Unfere Vorftellungswelt veicht

*) Ess. IV, ch. 2, $. 1—14.

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fange nicht fo weit als die wirkliche Welt, das Gebiet unferer Erfenntniß veicht lange nicht fo weit als das unferer Vorſtel— lungen. Daher iſt das Feld unferes Nichtwiffens bei weiten größer als das unferes Wilfens. *)

Es wäre thöricht zu meinen, dag die Welt aufhört, wo unfere Borftellungen oder unjere Beweife am Ende find; cs giebt Objecte, deren Dafein und Befchaffenheit wir nicht faſſen fönnen, zu denen wir ung verhalten, wie der Blinde zur Farbe oder der Blid des Maulwurfs zu dem des Adlers, wir dürfen unfere Geiftesfpanne nicht für den Umfang des Univerfums halten. **) Wovon es Feine Vorjtellungen giebt, davon giebt es auch feine Erfenntniß, Feine Beweife. Keine unjerer Vor— jtellungen trägt bis zur Subftanz oder zum Wejen der Dinge, wir wiffen nicht, was die Dinge, die wir Körper und Seele nennen, an fi find, wir können weder die Denkunfähigfeit der Materie noch die Immaterialität der Seele beweifen. Aber die Beweisbarfeit (Erfennbarkeit) einer Sache verneinen, heißt noch nicht deren Dafein in Abrede ftellen; wenn die Im— materialität der Seele für unbeweisbar erklärt wird, fo gilt fie darum nicht für unmöglich, fo gilt das Gegentheil davon nicht etwa für bewiefen oder beweisbar, vielmehr gilt es für ebenfo unbeweisbar. Die großen Gegenftände der Moral und Religion werden daher nicht erjchüttert, wenn die Unterſuchung des menschlichen Verſtandes die Unzulänglichfeit gewiffer Be— weife jowol für als wider darthut. An diefer Stelle bemerken wir eine faſt wörtlihe Parallele zwifchen Locke und Kant.***)

Aber auch innerhalb der engen Grenzen unferer Vorftel-

*) Ess. IV, ch. 3, 8. 1—6; $. 22. **) Ess. IV, ch. 3, $. 23. ***) Ess. IV, ch. 3, $. 6.

605

(ungswelt find wir auf ein nod) weit geringeres Maß der Erfenntniß beſchränkt, da entweder den Vorjtellungen, die wir haben, theils die Klarheit theils die nöthige Verknüpfung durch Mittelglieder fehlt; oder Vorftellungen, die wir haben fünnten, fich nicht in unferem Beſitz finden, es fehlt nicht an der Fähig— feit, aber am Borrath. Die großen Weltkörper find zu ent- fernt und jene Körpertheilden, von deren Geftalt, Gruppirung, Bewegung die Erjheinungen abhängen, find zu Kein, um deutlihe Wahrnehmungsobjecte zu bilden. Wir find nicht im Stande, die Heinjten Körpertheile zu erkennen, deren Wirkfam- feit und primäre Beichaffenheiten die Urſache aller jecundären Qualitäten ausmachen; wir bleiben über diefe Urſache, über die eigentliche Wirkfamkeit der Körper im Dunkeln. Bon an- dern Geijtern außer ung wiffen wir nichts, von den Körpern wenig. Aber felbjt wenn wir die Einficht hätten, die uns fehlt, wenn wir die förperlichen Urſachen z. B. unferer Licht: und Farbenempfindung aus der Wirkſamkeit der kleinſten Theile zu erkennen vermöchten, fo würde damit die Wirkung felbjt noch lange nicht erklärt fein. Die Urfadhe ift Bewegung, die Wirkung ift Empfindung; die Urfache ift mechanisch, die Wir- fung fenfibel; das Meittelglied, wodurd) Bewegung fi in Wahrnehmung oder Perception ummandelt, fehlt in unferer Borftellung. Hier Liegt der Mangel in der beſchränkten Natur unferer Vorftellungen; ein anderer jelbjtverfchuldeter Mangel liegt in der bejchränften Bildung und Entwidlung derfelben. Da fehlen uns eine Menge VBorjtellungen, die wir haben fönnten, wir haben fie nicht erworben, wir haben uns mit Worten begnügt, mit Rechenpfennigen jtatt baarer Minze, und wenn wir die Marken einlöfen, die Worte mit Vorjtellungen belegen wollen, finden wir den Beutel leer, es fehlt am Baaren.

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Diefer mangelhafte Bildungszuftand trifft ganze Zeitalter, ins— befondere jene Art der ſcholaſtiſchen und gelehrten Weltbildung, welche die Philoſophie feit Bacon mit jo vielem Nachdrude befämpft: jene unfruchtbare und öde Büchergelehrfamkeit, die ji) in dem „dichten Walde der Worte‘ dergeftalt verloren und verirrt hatte, daß fie den Pfad der Erfahrung und Entdedung gar nicht mehr ſah. Hätte man ftatt der wirklichen Beobach— tung des Himmels und der Erforfchung der Erde nur Bücher über Altronomie und Geographie gelefen, nur über Hypotheſen geftritten und felbjt Seereifen nur auf gut Glück unternom- men, fo würde man nie die Wege über den Aequator und um die Erde gefunden haben, und die Vorftellung der Antipoden wäre noch Heute eine Ketzerei. Wir hören Bacon reden! *)

2. Traum und Wirkblichleit.

Aber wie groß oder gering der Umfang unferer Erfennt- niß auch fein möge, jedenfall® haben wir es in derjelben blos mit unferen Borftellungen zu thun. Unfere Erkfenntnißobjecte find Erjcheinungen in uns, Vorftellungen, was unfere Traum: bilder auch find. Wie unterfcheidet fid) nun das Erfenntniß- object vom Traumbild? Jenes habe, fo Heißt es, den Charakter der Wirklichkeit, diefes den der Einbildung! Aber wie unter- iheiden fid) Traum und Wirklichkeit? Hier fteht Locke der- jelben Frage gegenüber, welche Descartes in fo tiefe Zweifel verftridt Hatte.**) Woran erkennen wir, daß wir im Wachen nicht auc träumen, daß die Welt, die wir vorftellen, und das

*) Ess. IV, ch. 3, $. 24—30. Bgl. befonders $. 30, **) Bol, meine Gefchichte der neuen Philofophie, Bd. 1, Abth. I. Zweite Aufl., S. 309 flgd.

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Leben, das wir führen, nicht ebenfalls Traum ift? Das unterfcheidende Kennzeichen Liegt nad) Rode darin, daß den Traumvorftellungen zwei Merkmale fehlen, welche die Welt: vorftellungen haben: die Realität der Empfindung und die Dbjectivität der Vorjtellung d. H. die Mebereinftimmung der Begriffe mit den Objecten, die Uebereinjtimmung, deren Er- fenntniß den Charakter der Wahrheit ausmadt. Es ift ein Unterfchied, ob die Senfationen von außen bewirkt oder von ung geträumt werden, ob wir 3. B. das gebrannt werden träumen oder wirklich erleben, ob wir heile Haut behalten oder Brandwunden haben. Hier macht die Wahrnehmung die Grenze zwifchen Traum und Wirklichkeit. Wir bilden Be— griffe, mathematifche und moralifche, wodurd eine Reihe an- derer Vorftellungen bedingt find, Begriffe, die ſich zu einer Reihe anderer VBorjtellungen verhalten, wie die Urbilder zu den Abbildern, zwijchen denen Webereinftimmung oder Wider: jtreit d. h. dasjenige Verhältniß ftattfindet, in deſſen Einficht Erfenntniß und Wahrheit beſteht. Diefer nothwendige Zu— jammenhang der Borjtellungen, diefe Wahrheit, die überall gilt, wo diejelben PVorjtellungen gebildet werden, dieje ob— jective oder allgemeine Gültigkeit der Vorftellungen fehlt den Zraumbildern. Mathematik und Moral werden nicht erträumt. Hier macht die Erfenntniß die Grenze zwifhen Traum und Wirklichkeit. Wer diefe Grenzen nicht anerkennt, diefe Unter- ihiede zwifhen Traum und Wirklichkeit noch bezweifelt, der muß alles für Traum halten, auch den eigenen Zweifel, der damit aufhört, ein wirklicher Zweifel zu fein. *)

*) Ess. IV, ch. 2, $. 14; ch. 4, 8. 1—9; ch. 11, $. 8.

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3. Wahrheit und Grundſätze.

Der Ausdrud der Vorftellungen find die Worte, der Aus- druck der Uebereinftimmung oder Nichtübereinftimmung der Borftellungen die Süße. Wenn die Worte die Vorſtellungen und die Verbindung der Worte das Verhältniß der Vorftel- (ungen richtig bezeichnen, fo jind die Süße wahr; wenn die Wahrheiten im ganzen Umfang der Vorjtellungen gelten, jo find die Sätze allgemeingültig, wenn die allgemeinen Sätze durch ſich ſelbſt gewiß oder einleuchtend find, jo nennt man fie Grundſätze (Marimen oder Ariome). So wird aus einer gegebenen Vorjtellung A unmittelbar erkannt, daß fie ift, was fie ijt: der Saß der Identität A— A; aus der unmittel- baren Bergleihung zweier verfchiedener VBorftellungen A und B, daß A nicht B ift, daß unmöglich etwas zugleich A und nicht A fein kann: der Sat des Widerfpruchs; aus der Vergleihung der Größen: daß gleiche Größen, um gleihe Größen vermehrt oder vermindert, glei find, daß die ganze Größe gleich ift allen ihren heilen, daß der Theil Eleiner ift als das Ganze u. ſ. f.

Die Schule lehrt, daß es in jeder Wiſſenſchaft einige ſolcher Grundſätze giebt, aus denen alle übrigen Sätze erkannt und abgeleitet werden. Dieſe Schulweisheit iſt falſch und irrt ſich in allen Punkten. Es iſt falſch, daß es nur einige ſolcher Sätze giebt, es giebt deren zahllofe; fo viele Vorſtellungen unmittelbar verglichen werden können, fo viele unmittelbar ein- leuchtende Bergleihungsfäte laſſen fi aufjtellen, jo viele jelbjtverjtändliche Wahrheiten. Niemand hält die Süße, daß drei weniger ijt als fünf, oder der Hügel höher ift als das Thal, für Ariome und doch find fie ebenfo unmittelbar gewiß

609 als der Satz, daß der Theil Kleiner ift als das Ganze, oder daß A=A,.

Es iſt falfch, daß diefe Sätze die erſten und oberiten find, fie find es fowenig als die abjtracten Begriffe früher find als die zufammengefetten und diefe früher als die Elementar- vorftellungen, die Wahrnehmungen und Eindrüde; im Gegen- theil, fie find fpäter, Nachdem man an fo vielen Fällen jene jelbjtverftändlichen Wahrheiten fo oft erfahren hat, bringt man fie auf ganz allgemeine und abjtracte Formeln. Noch nie hat jemand, daß drei weniger ift als fünf oder daß drei Finger feiner Hand nicht alle Finger find, darum eingefehen, weil er zuvor wußte, daß der Theil Kleiner ift als das Ganze.

Es ijt darum falſch, daß diefe Sätze Grundfäte find, denn fie begründen nichts; Feine Wahrheit wird durd fie ge— funden, fie tragen nichts bei weder zur Begründung noch Ver- mehrung der Wiffenfchaften, fie find weder Grundfäße noch Hülfsmittel. Dder meint man, daß Newton vermöge folcher Sätze feine Entdedungen gemacht und das Syſtem feiner Naturphilofophie gefchaffen habe?

Alle diefe Säte find zur Auffindung neuer Wahrheiten unnüg und im Grunde leere Wortjpielereien (trifling pro- positions), denn fie variiven das Thema A = A. Bielmehr find fie wegen ihrer leeren Allgemeinheit ſchädlich und können feicht jophiftifc gebraucht werden, um contradictorifche Sätze zu beweifen. Seht man mit Descartes das Weſen des Kör- pers blos in die Ausdehnung, fo folgt aus dem Ariom der Hentität, daß es (da Körper und Raum identisch find) Feinen [eeren Raum giebt; fett man mit Locke die Grundeigenfchaften des Körpers in Ausdehnung und Solidität, fo folgt aus dem

Ariom des Widerfpruchs, daß es (da Körper und Ausdehnung Fiſcher, Bacon, 29

610

nicht identisch find) eine Ausdehnung ohne Körper oder einen leeren Raum giebt. |

Daher befchränft ſich der ganze Nuten folder Sätze, die zur Erfindung und Entdefung nicht das mindejte beitragen und eher verwirrend als fürdernd wirken, auf die Anordnung gefundener Wahrheiten, auf deren Darfjtellung und Lehrform; man muß Wahrheiten, die man lehren will, in Reih und Glied jtellen, von gewiffen erſten und oberjten Süßen ausgehen und die anderen dergeftalt folgen laſſen, daß fie durd ihre Drd- nung der Berftand leicht faßt und das Gedächtniß Leicht be= hält. Auch mögen fie im Wortftreit dazu dienen, abjurde Behauptungen Handgreiflid zu machen. *)

4, Die Erfenntniß der Dinge,

Unabhängig von unferen Vorftellungen ift das Dajein der Dinge felbjt: der Geijter, Körper, Gottes. Da nun ums jere Erfenntnißobjecte unfere Borftellungen find, die Dinge aber unabhängig von unferen PVorftellungen nicht vorgejtellt werden fünnen, wie fann uns deren Dafein einleuchten?

Bon den Geijtern iſt uns nur das Dafein unferer eigenen denfenden Natur erkennbar, es ijt unmittelbar gewiß, ein Ob— jeet intwitiver Erfenntniß, die jeden Zweifel ausſchließt. In diefer Anerkennung der Selbjtgewißheit nähert fi) Locke dem Grundgedanken Descartes’. **)

Daß Dinge außer ung eriftiven, Ichrt uns die jenfitive Erkenntniß nicht unmittelbar, fondern durd einen Schluß, der

*) Ess. IV, ch. 5—8. gl, damit ch. 12, $. 1—3. **) Ess. IV, ch. 9, 8. 1—3.

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unſere Senſationen begründet. Dieſe letzteren ſind der Er— kenntniß⸗ oder Beweisgrund für das Dafein der Körper. Wir haben finnlihe Borftellungen, Sinnesempfindungen, Farben, Töne u. f. f. Diefe Empfindungen find in uns, aber wir erzeugen fie nicht, der Blindgeborene kann mit allem pſychiſchen Vermögen die Farbenempfindung nicht hervorbringen, weil ihm das Sehorgan fehlt, aber auch das Auge, da es im Dunkeln feine Farbenempfindung hat, ift nicht deren erzeugender Grund. Weder unfere denfende Thätigfeit noch unfere förperlichen Or- gane Können die Empfindungen bewirken, diefe find daher Wir- fungen, deren Urſache wir felbjt auf feine Weife fein fünnen. Was bleibt übrig als die Einfiht, daß diefe Empfindungen Eindrüde find, die von Dingen außer uns herrühren, daß es mithin ſolche Dinge giebt? In diefem Zeugniß unterftüßen fich die Sinne gegenfeitig, das Feuer, das ich ſehe, ift zugleid) das, welches mic) wärmt, wenn ich ihm nah genug bin, das mich brennt, wenn ich e8 berühre u. f. f. Diefes Zeugniß der Sinne wird beftätigt durch das Gedächtniß, durch den Unter— ichied der Sinnesempfindung und der Gedächtnißvorftellung, es ift ein Unterfchied, ob ich Hite und Kälte, Hunger und Durft wirflid empfinde oder mir diefe Empfindungszuftände im Gedächtniß vergegenwärtige; das Gedächtniß giebt die Vor— stellung ohne Eindrud; was aljo den Eindrud giebt, ift nicht die bloße Vorftellung, ſondern etwas von diefer Unabhängiges, die Dinge außer ung. Was diefe Dinge ihrer Subftanz nad) find, wiffen wir nicht, aber daß fie find, wiffen wir ficher vermöge der fenfitiven Erfenntnig. *)

*) Ess. IV, ch. 11, 8. 4— 17. 39 *

612

5. Das Dafein Gottes,

Es ift gewiß, daß wir find, daß wir etwas find, daß wir uns nicht jelbjt erzeugt haben, daß unmöglicd nichts die Urſache von etwas fein kann, daß es eine Urſache der wirf- fihen Dinge geben muß, eine foldhe, die wirklich Urſache ift, nicht jelbjt wieder Wirkung, alfo eine ewige Urſache, die als Duelle aller Dinge aud) Inbegriff aller Macht iſt. Es ift gewiß, daß wir denfender Natur find, daß die Urſache den- fender Naturen Feine blinde, fondern nur eine denfende oder geiftige Macht fein kann, ein ewiges denfendes Weſen (eternal cogitative being), diefes Wefen ift Gott. Daß er ift, erfen- nen wir aus den gegebenen Beweisgründen mit voller Sicher— heit, fogar, meint Rode, mit größerer Sicherheit als das Da- jein der Dinge außer uns. Diefes ift ein Object fenfitiver Erkenntniß, das Daſein Gottes ein Object demonftrativer, die einen höheren Grad der Gewißheit bezeichnet; der Beweis gründet fid) auf die Gewißheit unferes eigenen Dafeins, un- jerer denfenden Natur, auf die intuitive Selbfterfenntniß, die- jen höchſten Grad der Gewißheit. Darum ift aud die Art der Beweisführung, da jie von einer unumftörlichen, unmittel- bar gewiffen Thatſache ausgeht, nicht ontologiſch, und Yode will fie von diefer ausdrüdlich unterfchieden wiffen. Der on- tologische Beweis, den Locke wohl in der cartefianifchen Norm vor fid) hatte, nimmt zu feinem Ausgangspunkt die Vorftel- lung des vollfommenften Wefens, die willkürlich zufammten- gejegte Vorjtellung einer Subjtanz, die ein bloßes Nominal- wejen ausdrüdt.*)

—— 00002

*) Ess. IV, ch. 10, 8. 1—7.

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Locke gründet feinen Beweis auf Anfchauung und Wahr: nehmung, auf deren unmittelbare Thatjachen. Unfere Wahr: nehmungsobjecte machen ung nur zwei Arten wirkſamer Na- turen erkennbar: denkende und bewegte (materielle, nicht den- fende), wir fehen in der Körperwelt nur mitgetheilte Bewegung und haben von einer erjten bewegenden Urjache oder Kraft feine andere Vorſtellung als die unferes Willens, der unfere Glieder bewegt. Da die Materie fich nicht ſelbſt erzeugen fan, fo ift deren erjte Urſache ein fchaffendes Weſen, da die Bewegung der Körper mitgetheilter Art ift, jo muß deren erſte Urſache ein wollendes Wefen fein; da endlich aus nicht den- fenden Naturen niemals denfende hervorgehen können, fo ift die erſte Urſache der Leitern ein denfendes Wefen. So folgt (nicht aus unferer willfürlichen Vorftellung eines vollfommen- jten Wejens, fondern) aus unferer nothiwendigen Weltvoritel- fung das Dafein einer ewigen, fchaffenden, wollenden und den- fenden Urfache, das Dafein Gottes als eines ewigen Geijtes oder als einer ewigen Weisheit.*)

Nun läßt fi der Einwurf machen, daß die Tragweite diefer Demonftration vom Dafein Gottes nur bis zum Dafein einer ewigen Urſache oder eines ewigen Wefens reiche, aber feineswegs ausmache, ob diejes Wejen Materie oder Geift, ob es im erſten Fall denfende oder nichtdenfende Materie, ob endlich das ewige Wefen nicht zweifacher Art fei: Materie und Geift. Es Handelt fi, was die Faffung der erjten Ur- jache betrifft, um Dualismus oder Monismus, e8 handelt fi) im leßteren Fall um Theismus oder Materialismus, cs han- delt fich im letteren Fall um Hylozoismus oder Mechanismus,

*) Ess. IV, ch. 10, 8. 8—12.

614

Nun fucht Locke feinen Theismus dadurch ficher zu ftellen, daß er die Gegentheile des Hylozoismus, Mechanismus, Dualis- mus widerlegt. Der Dualismus fett den ewigen Geift neben den ewigen Stoff, weil er aus dem letteren das Denfen, die Entjtehung geiftiger Naturen nicht erklären kann, er fett den ewigen Stoff neben den ewigen Geift, weil er die Schöpfung aus Nichts unbegreiflich findet, als ob das Hervorbringen denfender Naturen oder willfürlicher Bewegung weniger un— begreifli wäre. Entweder alfo ift die Seßung eines ewigen Stoffs eine überflüffige und zwedlofe Annahme oder eine folche Einſchränkung der fchöpferifchen Geijtesthätigfeit, daß diefe auf: hört zu gelten, Der Mechanismus muß das Denfen und Borftellen entweder gänzlich verneinen, womit er die ficherfte aller Thatſachen umftößt, oder aus der materiellen Bewegung erklären, aus einer gewiffen Drganifation materieller Bewe— gungen oder aus einem gewiljen Syſteme bewegter Materie, was nichts anderes heißt als daß aus einer gewilfen Ordnung oder Gruppirung der Stofftheilden das Denken refultirt. Wie das gejchehen foll, ift durd Feine Thatſache erleuchtet und ſchlechterdings unvorjtellbar. Es ift nicht vorzuftellen, wie durch eine räumliche Anordnung Förperlicher Theilchen jemals Perception zu Stande fommen fol. Endlic der Hylozoismus, die Annahme eines ewig bewegten, lebendigen, denfenden Stoffs gilt entweder für alle Atome oder nur für eins: das erfte heißt den Stoff vergöttern (Rolytheismus), das zweite ein Atom durd eine völlig willfürliche und grundlofe Hypotheſe privilegiren. *)

So gilt der Theismus auf Grund der Beweife und auf

*) Ess. IV, ch. 10, 8. 13— 18.

615

Grund der Widerlegung aller gegentheiligen Borftellungs- weifen. Aus diefer auf unfere Selbiterfenntnig und Welt: vorstellung gegründeten Gotteserfenntniß folgt die Einficht in unfere Abhängigkeit von Gott, in unfere Verpflichtung ihm gegenüber, d. i. die Einficht in unſer rveligiöfes Verhältnif. Diefe Einfiht macht das Thema der „natürlihen Reli— gion“, womit fi) die Frage erhebt nach dem Verhältniß der natürlichen Religion zur geoffenbarten. *)

II. Erkenntniß und Glaube. Vernunft und Offenbarung.

Wir fahen fchon, daß bei Lode das Verhältniß von Philofophie und Neligion eine ganz andere Faſſung annehmen muß als wir bei Bacon gefunden. Diefer ließ zwifchen ge— offenbarter und natürlicher Gotteserfenntniß eine unüberfteig- fihe Kluft, einen unauflöslichen Gegenfat beftehen, er grün- dete die natürliche Theologie auf die äußere Erfahrung und ließ das göttliche Licht blos durch das brechende und trübende Medium der Dinge in die menfchliche Seele fallen; Locke da— gegen gründet die Gottegerfenntniß auf die innere Erfahrung, auf unfere Selbterfenntniß, auf diefe Grundlage einer un— mittelbaren und höchſten Gewißheit. Von Hier aus ändert ficd) die Lage der Religion gegenüber der Philofophie, es entiteht ein Fritifches Verhältniß zwifchen Vernunft und Offenbarung, wodurd fic) der Theismus in Deismus verwandelt. Diefer Punkt ift um feiner Bedeutung und Tragweite willen genau zu erleuchten. Es muß zunächſt der Glaubensort innerhalb

*) Ess. IV, ch. 13, 8. 3.

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der menschlichen Vernunft, alfo dieje felbjt vor allem näher beftimmt werden,

1. Wahrheit und Wahrſcheinlichleit.

Die Wahrheit reicht nur fo weit als die fichere Erfennt- niß, die fich in den drei Graden der intuitiven, demonftrativen, fenfitiven abjtuft und innerhalb unferer Vorftellungswelt nur ein Kleines Gebiet umfaßt. Innerhalb diefes Gebietes ift alles heil erleuchtet; was außerhalb deffelben Liegt, ift darum nicht völlig dunkel, das Licht beginnt zu dämmern und das Zwic- licht (twilight state) ftuft fih ab in einer Neihe von Graden bis zur völligen Nadjt, wo die geiftige Sehkraft nichts mehr fieht, fie durchläuft die Grade der Wahrſcheinlichkeit, von der höchiten bis zur geringjten.

Die Wahrfcheinlichfeit (probability) ift der Schein der Wahrheit, die Wahrheit gleichjam aus der Ferne gefehen, je ferner das Erfenntnißobject, um fo undeutlicher der Schein, um fo leichter die Täuſchung. Wir erkennen aus unmittel- barer Einfiht oder aus Gründen; wenn diefe Gründe, ohne völlig ficher zu fein, unfer Urtheil beſtimmen, jo halten wir etwas für wahr nicht ohne Gründe, aber ohne vollgültige Gründe; fie reihen aus nicht zur vollen fachlichen Begrün— dung, fondern zur fubjectiven Gültigkeit des Urtheils. Diefes Urtheil Hat den Charakter des Fürwahrhaltens (judgment) und feine Erfenntniß den der Wahrfcheinlichkeit. Die Annahme eines folchen Urtheils oder Sates ift nicht Einficht, fondern Glaube oder Meinung (faith or opinion*).

Die nicht völlige Sicherheit befchreibt einen weiten Spiel-

*) Ess. IV, ch. 14 und 15, $. 1—3.

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raum, ſie kann der völligen Sicherheit ſehr nah und ſehr ent— fernt ſein, dieſe ihre Scala ſind die Grade der Wahrſchein— lichkeit. Sie kann ſich auf wahrnehmbare oder nicht wahr— nehmbare Objecte beziehen, auf Erfahrung gründen oder auf Vermuthung, auf eigene Erfahrung oder auf fremde d. h. auf Zeugniffe unmittelbarer oder überlieferter Art. So bin id) überzeugt von der Wahrheit eines mathematifchen Sates, dej- jen Gründe ich einfehe, den ich felbit zu beweijen vermag, aber zu einer mathematifchen Wahrheit, die mir ein Mathematiker mittheilt, verhalte ich mich glaubend, weil der Grund meines Fürwahrhaltens in diefem Fall die Glaubwürdigkeit meines Zeugen iſt. Was ich felbjt erfahre, weiß ich ficher; was mir ein Anderer aus feiner Erfahrung berichtet, glaube ich ficher, wenn es mit meiner Erfahrung übereinftimmt, und bezweifle es, wenn es bderfelben widerftreitet, der König von Siam hielt den holländiſchen Gefandten für einen Lügner, als ihm diefer erzählte, daß in Holland im Winter die Flüffe gefrieren. *) Bon der Gefchichte früherer Zeiten (wie von dem größten Theil der Begebenheiten der Mitwelt) wiffen wir nur durd) fremde Zeugniffe, wir glauben hiftorifche Thatfachen auf Grund der Berichte oder Zeugniffe, die wir auf Grund eigener oder fremder Prüfung für glaubwürdig Halten; je urkundlicher das Zeugniß, um fo größer die Geltung, je weiter e8 durch Ueber: lieferung von der Thatſache ſelbſt oder deren wirklicher Be— urfundung abjteht, um fo vorfichtiger muß die Prüfung ver: fahren. Ohne fremden Zeugniffen zu glauben, wäre das Gebiet unferes Wilfens das allerbefchränftefte, ohne eine Prü— fung der Glaubwürdigkeit jener Zeugniffe wäre das hiftorifche

*) Ess. IV, ch. 15, $. 4 und 5.

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Wiffen leichtgläubig und werthlos. Wenn es fid) aber um Dbjecte handelt, die wir überhaupt nicht wahrnehmen fünnen, fo bietet uns zur Beurtheilung derfelben die Erfahrung Feinerlei Zeugniß, fondern blos eine Richtſchnur; wir erfahren 5. B., daß aus der Reibung Wärme entftceht, und uvtheilen dem— gemäß, daß die Wärme felbjt in einer Bewegung unwahrnehm- barer Theilchen bejtehe, oder wir bemerken in der Natur einen gewiffen Stufengang der Dinge und urtheilen demgemäß, daß fich diefer Stufengang auch jenfeits der menſchlichen Organi— fation fortfege, d. 5. wir urtheilen nad) Analogie, die Locke deshalb im Gebiet der nicht wahrnehmbaren DObjecte „die große Richtſchnur der Wahrfcheinlichkeit (the great rule of probability)“ nennt. *)

Aber es giebt einen Ball, in welchem Thatfachen und Zeugniffe von Thatſachen die höchſte Glaubwürdigfeit mit Recht beanfpruchen, obwohl fie mit unferer vorhandenen Er- fahrung, deren Zeugniffen und Richtſchnur Feineswegs überein- ftimmen. Diefe Thatfachen find die göttlichen Wunder und Dffenbarungen, diefe Zeugniffe die Offenbarungsurfunden, der Glaube daran ift der pofitiv=religiöfe, der die Geltung nicht blos der Wahrjcheinlichkeit, fondern der höchſten Gewiß— heit für fi in Anfprucd nimmt Gilt das Dafein Gottes auf Grund der demonftrativen Erfenntnig, fo kann aud) die Möglichkeit göttliher Wunder und Offenbarungen nicht be- zweifelt werden, fo muß die wirkliche Offenbarung als abjolut wahr und der Glaube daran als völlig ficher und gegründet (a sure principle of assent and assurance) gelten. Diefe Slaubensficherheit fteht unter der einen Vorausfegung: wenn

*) Ess. IV, ch. 16, 8. 1—12.

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etwas göttliche Offenbarung ift! Ob aber die Offenbarung wirklich von Gott kommt, ift die Frage, die den Glauben präjudicirt und darum nicht vom Glauben zu beantworten ift, fondern von der Vernunft. *)

2, Bernunft,

Wäre unfere Erfenntniß nur intuitiv, fo wäre fie einge- ſchränkt auf das Gebiet der felbftverftändlichen Wahrheiten; die Erweiterung derjelben ift bedingt durch Begründung oder Demonftration; wäre diefe bejchränft auf ſolche Gründe, die mit völliger Sicherheit einleuchten, ſodaß fremde Erfahrung und fremde Zeugniffe ganz ausgejchloffen blieben, jo würde unfer Erfenntnißgebiet nicht weit reichen, die große Erweite— rung dejjelben iſt bedingt durch eine auf Wahrjcheinlichkeit gegründete Demonftration. Unfer ficheres Wiffen bedarf der Ergänzung durch das weniger fichere, durch das Fürwahrhalten und Glauben; die Eleine Provinz der Wahrheit adnectirt fich das weite und ausgedehnte Gebiet der Wahrfcheinlichkeit; das Erfenntnißvermögen aber, welches diejes gefammte eich der menſchlichen Erkenntniß im weiteften Sinn umfaßt und be- herrfcht, ift die Vernunft (reason knowledge and opinion **),

Das eigentliche Bernunftgefchäft nach Locke ift daher das Erkennen durh Gründe, insbefondere die Erweiterung der Erfenntniß durch Wahrfcheinlichkeitsgründe. Wenn nun fämmt- liche Erfenntnißgründe auf flacher Hand lägen und gleiche Stärke und Sicherheit hätten, fo wäre die ganze Aufgabe der Bernunft, die Gründe in Reih und Glied zu ftellen und jchluß-

*) Ess. IV, ch. 16, $. 13 und 14. **) Ess. IV, ch. 17, 5. 2.

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gerecht zu ordnen; dann wäre der Sillogismus „das große Inftrument der Vernunft“, wie die Schule lehrt. Freilich) würde auch dann die Art, wie die Schule es nad) dem Vor— bilde des Aristoteles Lehrt, Feineswegs die richtige fein, denn fie jett an die Stelle des natürlichen Schliefens das Fünftliche, fie macht die Richtigkeit und Fertigkeit im Schließen abhängig von gewiffen Regeln und Figuren, von denen das natürliche Denken gar nicht abhängt, die ſelbſt nicht richtig find, die dem natürlichen Schluß die Glieder ausrenken und verfchieben, die natürliche Schlußfette durch einen unnügen Schwall von Säten auseinanderzicehen und verwirren, die fillogiftifchen Irrthümer und Täuſchungen fo wenig aufdeden, daß fie vielmehr diejen ſelbſt ausgefegt find und dienen, und im günftigften Fall fich zu dem natürlichen Denken verhalten wie das Augenglas zum Auge. Die Natur Hat den menfchlichen Berftand fo eingerichtet, daß er zunächſt nur Einzelvorftellungen hat, die er verknüpft, durch die er feine Einfichten begründet. Im Widerſpruch da- mit lehrt die Schule, daß aus Particularfägen nichts folgt, daß in jedem richtigen Schluß wenigftens einer der beiden Borderjfäge die Form der Allgemeinheit haben müſſe. Der natürliche Verſtand fucht zur Verknüpfung zweier Vokſtellungen die dritte, wodurch die Verbindung vermittelt wird, den Mittel begriff, defjen einzig richtige und natürliche Stelle darum in der Mitte jener beiden Vorftellungen iſt; dagegen lehrt die Silfogiftif der Schule folde Schluffiguren, in denen der Mittefbegriff nicht die Mitte bildet, und um die Verwirrung zu vollenden, macht fie aus jedem Schlufgliede einen Sat und betäubt durch den Schwall ihrer Worte, So ift die fünftliche Sillogiftif der Schule nit das Abbild des natürlichen Den-

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fens und Schließens, ſondern deſſen Caricatur, Sie ift Scholaſtik, die jich in leeren Wortgefechten genugthut. *) Selbjt wenn fie fehlerfrei wäre, würde es fich mit der Sillogiftil verhalten, wie mit den Grundfägen, fie würde zur Begründung und Vermehrung des Wiffens nicht das Mindefte beitragen, fondern blos zur Anordnung und Darjtellung der bereits erfannten Gründe nüßlic) fein. Aus der Sillogiftif fällt fein Lichtftrahl in die verborgenen Winkel der Natur. **) Darum ift der Sillogismus nicht ‚das große Inftru- ment der Vernunft“. Die Gründe, durch welde die Erfennt- niß gefchieht, find weder vorräthig nocd von gleichem Gewicht; fie find aufzufinden und zu entdeden, abzuwägen und zu prüs fen. Darin befteht die eigentliche und ſchwierige Aufgabe der Bernunft: fie begründet, indem fie die Gründe auffucht und entdeckt, ihre Sicherheit prüft, die fichern von den nicht fichern, die wahren von den wahrſcheinlichen unterfcheidet und den Grad der Wahrjcheinlichkeit forgfältig bejtimmt. Ihr Geſchäft ift das der Entdedung und Kritik. Es ift ihr um die Begründung der Sade zu thun, nicht um das perjünliche Rechthaben, ihre Gründe gehen auf Ueberzeugung und Urtheil („ad judieium“), nit auf das Verdutzen der Yeute. Es giebt drei Arten ſolcher VBerdutungsgründe, die in den Zän— fereien ihre große Rolle fpielen, wo man gefiegt zu haben glaubt, wenn man den Gegner zum Schweigen bringt, ohne in der Sache felbjt das Mindejte zu beweifen. Man pocht auf eine Autorität, welcher der Gegner kaum wagen wird zu wider- fprechen: „Aristoteles hat c8 gejagt!” (dev Grund „ad vere-

*) Ess. IV, ch. 17, 8. 4 und 8. **) Ess. IV, ch. 17, 8.5 und 6.

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cundiam”), oder man beruft fi auf das Unvermögen des Gegners, befjere Gründe vorzubringen (der Grund „ad igno- rantiam‘), oder endlih man treibt ihn aus feiner eigenen Meinung zu Folgerungen, die er nicht zugeben kann oder will (der Grund „ad hominem“). Al® ob durd den Nefpect, die Unwiffenheit oder den Irrthum des Andern etwas von meiner Behauptung bewiefen werden könnte! *)

3. Glaube und Offenbarung.

Wenn aber die Vernunft die Gründe zu finden und zu prüfen hat, jo hat fie deren Werth und Glaubwürdigkeit zu beurtheilen und entjcheidet damit über die Grundlagen alles Glaubens, auch des religiöfen. Sie verhält fi zum Glauben fritifh. Der Glaube Tiegt nicht außerhalb der Vernunft, fondern innerhalb derjelben, fie umfaßt Erkennen und Glau- ben. Darum erklärt Lode: glaubwürdig ift, was mit der Bernunft übereinstimmt (according to reason), unglaubwürdig, was ihr widerftreitet (contrary to reason); was die Vernunft überfteigt (above reason) ift nicht vernunftwidrig, dahin ge- hört die göttliche Offenbarung, fie ift abjolut glaubwürdig, wenn fie ift, d. 5. wenn ihr gefchichtliches Zeugniß glaub- wirdig ift. Hier find wir art der Fritifchen Stelle, die un- mittelbar die pofitive Religion felbft angeht. Wir erkennen hier den Gegenſatz zwijchen Tode und Bacon, die in den Grundlagen der Erfenntniß einverftanden find, die Ueberein- ftimmung zwifchen Locke und Leibniz, die in den Grundlagen der Erfenntniß fich widerftreiten.**)

*) Ess. IV, ch. 17, 8. 19— 22. **) Ess. IV, ch. 17, $. 23. 24; ch. 18.

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Der geihichtliche Offenbarungsglaube kann die menſchliche Bernunft nicht umgehen und muß daher die Probe ihrer Kri— tif aushalten. Entweder wird die Offenbarung urſprünglich d. h. unmittelbar von Gott felbjt oder durch Ueberlieferung empfangen: im erſten Fall, wenn fie völlig neue Borftellungen eröffnet, Dinge, die nie ein menjchliches Auge gejehen, ein menjchliches Ohr gehört, nod) je eines Menſchen Herz gefaßt hat, ijt fie unmittheilbar und gefchichtlich nicht zu propagiren. Die überlieferte Offenbarung gejchieht durch die Zeichen der Sprade, die Feine andern Vorftellungen ausdrüden können als foldhe, deren Elemente aus der Senfation und Reflexion fom- men, fie kann daher Feine völlig neuen Borftellungen geben und ijt gebunden an die Quellen unferer Erfenntniß, an die Bedingungen unferer Vernunft, an diefes natürliche Licht, welches Rode als „natürliche Offenbarung“ bezeichnet.*)

Der Gegenfaß von Vernunft und Offenbarung ift darum ebenfo ungültig als der von Vernunft und Glaube. Leder Dffenbarungsglaube, der auf feine Vernunftwidrigfeit pocht, beruht auf Irrtum und Täufhung, es fei Selbjtbetrug oder berechnete Abficht, um Andere zu täufchen. Nur aus blinden Slaubenseifer kann der Einfall fommen: „credo quia ab- surdum“; nur aus der berechneten Abficht, den blinden Glau- ben zu pflegen, damit die Menge in blindem Gehorſam be- _ harre, kann gejagt werden: „ihr dürft die Glaubensfäge nicht unterfuchen, fondern müßt fie ungekaut fchluden, wie die Pil- Ten.” Jenes tertullianifche Wort hatte Bacon gebraudt, um das DVerhältniß von Vernunft und Offenbarung bequem aus- einanderzufegen; den Dffenbarungsglauben in der Form der

*) Ess. IV, ch. 18, 8. 3—6; ch. 19, 8. 4.

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Pillen Hatte Hobbes verordnet, um die Religion zu einem Beſtandtheil der blinden Unterthanenpfliht zu madhen. Das „eredo quia absurdum” nimmt Xode wie eine Art Religions— vappel (sally of zeal) und das Pillenrecept als eine Politik, die fi) vor dem Denken fürdtet. Man fühlt ſchon die freiere Luft, die in Religion und Politif Locke's philofophifche Lehre durchweht.*)

Daß num in Wirklichkeit die religiöfen Vorftellungen ohne alle VBernunftprüfung, daß in Glaubensfachen Irrtum und Täuſchung beftehen und fich fortpflanzen, hat in der Natur der menfchlihen Verhältniſſe Gründe genug; die meiften Menschen empfangen ihre Anfichten blos durch Tradition, fie find abhängig von ihrer Familie, ihren Freunden, ihrer Par- tei, und was fie ihren Glauben nennen, ift eine Fahne, unter der fie dienen, wie gemeine Soldaten.**) Um jelbjt zu prü— fen, dazu Haben die einen bei der Unwiſſenheit, in der fie feben, nit die Fähigkeit, die andern bei den Geſchäften und Bergnügungen, in denen ihr Dafein aufgeht, nicht den guten Willen, das find die Weltleute, die Gott einen guten Mann jein Laffen und während fie äußerlich ſich fein und forgfältig nach der neneften Mode Heiden, tragen fie ihren Glauben nad) der alten, in der fadenfcheinigen und geflicten Livree, die der. Landfchneider gemacht hat.***) Finden doc felbjt die Schul- gelehrten die veralteten Irrthümer der Wifjenfchaften, die fie jahraus jahrein Tehren, fo bequem und einträgli, daß fie dem Geifte der Prüfung abgeneigt find.T) Es giebt auch folhe, welde die Vernunftbedürfniffe wohl empfinden, aber

*) Ess. IV, ch. 18, $. 11 und ch. 20, 8. 4.

**) Ess. IV, ch. 20, $. 17 und 18. ***) Ess. IV, ch. 20, $. 6. +) Ess. IV, ch. 20, $. 11.

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um anderer Bortheile willen gewaltfam unterdrüden und nun um fo heftiger gegen alle erboſt find, die fich den gleichen Zwang nicht anthun wollen, weil fie die Wahrheit mehr lieben, als die gewöhnlichen Vortheile. Die Gewaltthat gegen fid) ' ſelbſt ſtimmt fie gewaltſam gegen andere. *)

In allen diefen Fällen find die Intereffen, welche die SGlaubensprüfung verhindern oder befämpfen, nicht religiös, Nun fanın der Fall eintreten, daß aus einem religiöfen Iutereffe, aus einer ernthaft religiöfen Empfindung die Offenbarung gelten joll ohne alle Vernunftprüfung, indem man meint, die fleine Leuchte der menfchlichen Vernunft müſſe von felbft aus- löfchen, wenn die Sonne der göttlihen Offenbarung aufgeht, man müſſe die Augen fchließen, um durc das Fernrohr nad) den Sternen zu fehen: das ift der Zuftand einer religiöfen Ueberfpanntheit oder Verirrung, die Locke mit dem Wort „enthusiasm‘ bezeichnet in jenem übeln Sinn der Schwär- merei, in welchem fpäter fein Schüler der Graf Shaftesbury den Brief über den Enthufiasmus fchrieb und als das befte Heilmittel dagegen den Humor empfahl, der ihn verfpottet. Wenn fi) diefe religidjen Schwärmer für die Begnadigten und von Gott unmittelbar Erleuchteten halten, fo haben fie eine faljche Vorftellung von Gott, der nicht mit Günftlingen verfehrt; wenn fie fid) auf die Stärke ihres Glaubens, auf ihr inneres Licht berufen, jo ift das ein Irrlicht, denn es giebt in uns nur ein wahres Licht: das natürliche der VBernunft.**)

*) Ess. IV, ch. 19, 8.2. **) Ess. IV, ch, 19, 8. 3—18.

Fiſcher, Bacon. 40

Acles Kapitel.

Gejammtrefultat der Iode'fchen Lehre und deren Anwendung auf Wiſſenſchaft, Religion, Staat, Erziehung.

J. Das wiſſenſchaftliche Geſammtreſultat.

1. Eintheilung der Wiſſenſchaften.

Das Gebiet der menſchlichen Erkenntniß iſt ausgemeſſen und das Endergebniß faßt ſich leicht und einfach zuſammen.

In Betreff ihrer Art theilt ſich die Erkenntniß in intui— tive und demonſtrative, welche letztere durch ſichere und wahr— ſcheinliche Gründe geſchieht und alle Grade der mittelbaren Gewißheit durchläuft.

In Betreff ihrer Objecte hat ſie zwei Hauptgebiete: die Vorſtellungen und deren Zeichen; das Gebiet der Vorſtellungen bezieht ſich theils auf die Natur der Dinge, theils auf die menſchlichen Lebenszwecke. Daher unterſcheidet Locke drei Hauptwiſſenſchaften: die der Dinge, die er im weiteſten Sinn des Worts „Phyſik“ nennt, die praktiſche Philoſophie oder Ethik, die Wiſſenſchaft von den Zeichen (Semiotik), wozu die Logik gehört. *)

*) Ess. IV, ch. 21.

627

Bergleichen wir beide Eintheilungen, fo fällt unter die intuitive Erfenntniß die pſychologiſche Selbfterfenntniß, unter die demonftrative, die durch fichere Gründe ftattfindet oder auf Borjtellungen beruht, die wir ſelbſt gemacht haben, die Ma- thematif und Moral, während fih auf unfere unmittelbare Selbjterfenntniß die natürliche Theologie und Religion grün den; unter die demonjtrative Erfenntnig durch Wahrjcheinlich- feitsgründe gehört die fenfitive Erfenntnif, das gefammte Ge- biet der äußern Erfahrung, die Naturwiſſenſchaft oder Phyfif im engern Stan.

2, Wiflenfhaftlihe Aufgaben, Locke und Bacon,

Die Naturwiſſenſchaft ift an die äußern Sinne gewiefen, an die auf Wahrnehmung, Beobadhtung, Experiment gegrün- dete, durch Feine vorgefaßten Hypotheſen und Grundfäße be- irrte Erfahrung. Hier finden wir Locke ftets im Einverftänd- niß mit Bacon; wenn er den inductiven Gang der Erfahrung nicht näher zergliedert, fo hat er es für unnöthig gehalten, weil ev dieſe Arbeit dur) Bacon geleiftet fah. Ganz wie diefer urtheilt Rode, daß die richtig geleitete (rightly directed) Erfahrung auf phyfifalifchem Gebiet nicht zu gelehrter All wiffenheit, fondern zu nüglichen Kenntniffen und Erfindungen führe, daß Erfindungen wie die Buhdruderfunft und der Kompaß (er braucht die conftanten baconifchen Beifpiele und fügt die Entdedung der Chinarinde Hinzu, die Bacon noch nicht Fannte) der Menfchheit größere Dienfte geleiftet Haben, al8 die Werfe der chriftlichen Liebe, die Errichtung der Armen— häufer und Hospitäler. *)

*) Ess, IV, ch. 12, $. 12. 40 *

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Er umterfcheidet fi von Bacon, indem er Mathematik, Moral und natürliche Theologie als demonftrative Erfenntniffe gelten läßt und aus der Natur des menſchlichen Verſtandes als jolche begründet. Was die Mathematif und deren An— wendung auf die Phyfil, die mathematiſche Naturphilo- ſophie, betrifft, jo blidt Lode voller Bewunderung auf Newton. In der Sittenlehre und Theologie (natürlichen Re— ligion) eröffnet er die Aufgaben, welche die englifhe Moral- philofophie und den englifhen Deismus bewegen.

3. Die piycdologiide Frage. Condillac, Berkeley, Hume.

Ueber die Natur der menschlichen Seele finden wir Locke's Anfichten in Schwankungen, die fein Standpunkt mit fich brachte. Die Thatjachen unferes eigenen Denkens und Wol- lens, unjere Vorjtellungen und Begehrungen find unmittelbare Dbjecte der innern Wahrnehmung, das Dafein derjelben ijt intuitiv erkennbar. Nichts ift gewiffer, als daß wir denfender Natur find. Diefer Sat kommt dem cartefianifchen jo nah und grenzt, wie es fcheint, jo dicht an den Sat: „wir find denfende Wefen, denfende Subjtanzen“, daß Locke felbit an manden Stellen von der Immaterialität der Seele und der Unmöglichkeit des Gegentheils mit der größten Sicherheit vedet.*) Aber fein Standpunkt fordert die Unerfennbarkeit der Subjtanz. Was die Seele an fi) ift, bleibt unbekannt. Jetzt erfcheint ihre Immaterialität nicht mehr gewiß, fondern nur noch wahrſcheinlich.“*) Aber die Subjtanz ift völlig un-

*) Ess. II, ch. 28, 8.16. **) Ess. II, ch. 27, $. 3.

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befannt und unerkennbar. Was die Dinge an fi find, fällt darum unter feinen Grad der Wahrfcheinlichkeit. Und felbft die Wahrfcheinlichkeit eingeräumt, fo ift immer das Gegentheil noch möglich. Wir wiffen nicht, was die Dinge, die wir we— gen ihrer Wirfungsart Geifter oder Körper nennen, an fich find; es ift daher möglich, daß durch göttliche Allmacht (was ift bei Gott nicht möglich?) der Materie das Denken beigelegt und die Seele materieller Subjtanz iſt. Sie ift vielleicht materiell.*) So wird die Immtaterialität dev Seele von Locke jetst für gewiß erklärt, jett für unerfennbar, jest für zweifel- haft. Nicht aus Yaune, fein Standpunkt felbit blickt nach allen drei Seiten. Die innere Wahrnehmung fagt: „du biſt den- fend, nichts iſt gewiſſer!“ Die Kritik der Berftandesbegriffe jagt: „die Subjtanz ift ein Begriff ohne BVorftellung, das Wefen der Dinge it unerkennbar, alfo auch das deinige!” Der Senjualismus jagt: „deine Seele ift von Natur leer, wie ein umnbejchriebenes Blatt, ihre Borftellungen find Ein— drüde, Eindrüde von außen!” Was ijt noc für ein Unter- Ichied zwijchen einem eindrudsfähigen, von außen impreffiona> bein Dinge und einem materiellen? Womit Loce die Leere Seele auch vergleichen mag, ob es eine Tafel, Papier, Wachs oder was font ift, die Vergleihung muß materialiftifch ausfallen, Darüber entjtand fein Streit mit dem Biſchof Stillingfleet, der Locke's Seelenlehre als eine grobe Ketzerei angriff, und e8 begreift fi, wie Locke um diefes Punktes willen für einen Materialiften gelten Fonnte jowohl bei einem Gegner wie Stillingfleet, als bei einem Anhänger wie Voltaire. **) Auch

*) Ess. IV, ch. 3, $. 6. **) Voltaire, Lettres philos. Lettre sur M. Locke.

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Samuel Clarke befämpft diefen Materialismus in Rode, deſſen Philoſophie er fonft aufs höchſte anerkennt.

Locke's Theologie gründet fid) auf die Piychologie, unjere demonjtrative Gotteserfenntnig beruht auf unferer intuitiven Selbjterfenntnig. Wenn nun die Grundbejtimmungen über die Natur der Seele zwifhen Spiritualismus, Skepticismus und Materialismus ſchwanken, fo ift zu fürchten, daß der deiftifche Oberbau eihftürzt. Er gründet ſich auf den Sag: „ich denke, ich bin denfend thätig.“ Der Sat kann zwei Arten der Ge wißheit beanspruchen, die metaphyſiſche und empirische, er kann als Ausſpruch der rationalen Piychologie oder blos der innern Wahrnehmung gelten wollen; im erjten Fall bedeutet er: „ich bin eine denfende Subjtanz, die Seele ift an fi) geiftiger Natur”, im zweiten: „ic beſitze die Eigenfchaft oder das Ver— mögen zu denken‘, wobei über die Subftanz, die der Eigen: Ihaft des Denkens zu Grunde Tiegt, gar nichts ausgefagt wird. Bei Locke gilt der Sat nur in der zweiten Bedeutung, die er für ausreichend anfchen kann, um feinen Deismus zu tragen.

Der Sat von unferer denfenden Natur gelte alfo nicht als ein Ausspruch der Metaphyſik oder rationalen Piychologie, die fo ungültig ift als der Begriff der Subjtanz, er gelte nur auf Grund der innern Wahrnehmung. Was gilt diefe felbit? Wenn die Seele Teer ift wie ein unbefchriebenes Blatt, jo empfängt fie die Vorjtellungen ſämmtlich als äußere Eindrüde, d. h. durch Äußere Wahrnehmung oder Senfation, die Reflerion hat das Nachſehen; was in uns geſchieht und von der Reflexion vorgeftellt wird, iſt durch die Senfation verurfaht, daher diefe das einzige Grundvermögen, die alleinige Duelle unferer Borjtellungen. Es ift nit einzufehen, was die Neflerion als ein bejonderes davon unabhängiges Vermögen nod fol. Der

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Senjualismus ift darum gemöthigt, in der baconiſch-locke'ſchen Richtung weiter zu gehen und zu erklären, alle Erkenntniß fei Erfahrung d. h. Wahrnehmung, diefe jei nichts als Senfation d. h. Wahrnehmung durch die Sinnesorgane. Dies der Satz des franzöfifchen Senfualismus, der in Comdillac hervortritt und fi) in feinem weitern Verlauf dem Materialismus zu— wendet.

Sind unfere VBorftellungen nur Senfationen, äußere Ein- drüde, welche die Körper außer ung verurfachen, fo find fie blos Veränderungen unferer Förperlihen Organe d. h. Be— wegungen, von denen nach Locke's eigener Erklärung nie einzufehen ift, wie fie jemals Perceptionen fein oder werden können. Sind aber die Körper nicht die Urfachen unferer Borftellungen, fo find diefe auch nicht die Wirkungen der Kör- per, alfo auc nicht deren Abbilder, auch nicht in Rückſicht der primären Qualitäten, fo find alle (nicht willkürlich gemachte) Vorſtellungen Originale d. h. die wirklichen und alleinigen Erfenntnißobjecte, die Dinge ſelbſt. Der locke'ſche Senfualis- mus widerjtrebt dem Materialismus, er muß in dieſem anti= materialiftifchen Charakter aufgefaßt und folgerichtig entwidelt werden: dies gefchieht durch den englifchen Idealismus, den Berkeley entjcheidet.

Wir finden in Locke's Lehre drei Tendenzen angelegt und vegjam, die auch gelegentlich, wie 3. B. in den Urtheilen über die Natur der menschlichen Seele, alle drei zu Wort fommen, die jämmtlic durch den Senfualismus bedingt find, und deven jede in der Fortbildung des Teßteren ſich Luft gemacht umd ihre eigenen Stimmführer gefunden hat: die materialiftifche Tendenz in Condillac und feinen Nachfolgern, die idealiftifche in Berkeley, die ffeptifche in Hume,

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4, Die metaphyfiihe Frage.

Kant und Herbart.

Vergleichen wir das negative Ergebniß der lode’schen Lehre, den Sat von der Unmöglichkeit einer Erkenntniß des Weſens der Dinge (Metaphyfif) mit den fpäteren Philofophen, fo fpringt die Webereinftimmung zwifchen Locke's Verftandes- fritit und Kant's BVBernunftkritif in die Augen. Xode und Berkeley find die Vorftufen zu Hume; Lode, Berkeley und Hume die Vorftufen zu Kant. |

Die Frage des Senfualismus ging auf den Urfprung der Vorftellungen und führte darum nothwendig zu einer Unter- fuhung über deren Geltung und Erfenntnigwerth, zu einer Kritik der Begriffe, die das gewöhnliche und erfahrungsmäßige Denken fortwährend braucht, wie Ding und Eigenfchaft, Sub- ftanz, Kraft, Urfahe, Ich u. ſ. f. Gerade die Kritik diefer Begriffe ift von Herbart zur Grundfrage aller Philojfophie und darum zur Aufgabe der Metaphyfif gemacht worden; es ift daher nahegelegt und lehrreih, Locke und Herbart zu ver- gleichen und den Verfuch über den menjchlichen Verſtand ans dem Gefichtspunfte der herbart’schen Metaphyfil zu würdigen; dies iſt durch Hartenftein, einen der erften unter den Ver— tretern diefer Metaphyſik, in einer Abhandlung, die Rode und Leibniz zufammenftellt, fo gefchehen, daß er die Lode’fche Lehre treffend in ihren Hauptzügen dargeftellt, aber nicht richtig ge- würdigt hat. Er mißt fie mit herbart'ſchem Maß und findet, daß ihr Schwerpunkt in der Kritik jener Begriffe, darum ihr Hauptverdienft auf dem Gebiet der Metaphyfif zu fuchen fei; die Fritifche Frage nad) der Geltung und dem Erfenntnigwerth der Begriffe fei ganz unabhängig von der Frage nad) ihren:

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Urfprunge, jene fei metaphyſiſch, diefe pfychologifch, und Locke's Bedeutung liege in der metaphhyfiichen Richtung. Daher fieht Hartenftein in Locke lieber einen Vorläufer Herbart's als den Fortbildner Bacon’s und will von einem „befonderen Einfluß‘ des letztern auf Locke überhaupt nichts wiſſen. Er vermißt bei diefem „Erörterungen, die auf einen folhen Einfluß ſchließen laſſen“. Mit Unrecht. Wir find den Spuren diejes mächtigen Einfluffes überall begegnet, die Stellen finden ſich haufenweife, wenn auch nicht ausdrücklich der Name Bacon dabeifteht. Hartenftein bemerkt, „es fei für das Verhältniß beider geradezu entfcheidend“, daR die Imduction bei Bacon zur Wahrheit, bei Locke dagegen nur zur Wahrfcheinlichkeit führe; das ift ein tonlofer Unterfchied, denn Bacon kennt ftveng genommen feine andere Wahrheit als die annähernde der Wahrfcheinlichkeit. Wenn endlich, was die Hauptſache ift, Hartenftein bei Locke die metaphyſiſche Frage von der pſycho— (ogifchen getrennt fehen will, als ob hier unabhängig von der Herkunft der Begriffe etwas über deren Geltung und Werth ausgemacht werde, fo hat er den Standpunkt Locke's damit völlig verjchoben. Denn alles hängt bei Locke an der Frage nach dem Ursprung der Borftellungen, darin liegt bei ihm wie bei Kant der Fritifche Charakter der Unterfuhung, und was er weiter über den Erfenntnißwerth der Begriffe aus- macht, ift völlig bedingt durch die fenfualiftifche Theorie ihres Urfprungse. Die ganze Lehre von dem Begriff der Subftanz und feiner blos nominellen Geltung fteht unter der Einficht, daß diefer Begriff Fein Datum enthält, das aus der Wahr: nehmung entjpringt, und iſt daher eine einfache und directe Folge der Lehre vom Ursprung der VBorftellungen. Weil Hartenftein die Analogie zwifchen Lode und Herbart größer

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fehen wollte als fie ift, darum hat er die wirkliche Berwandt- Schaft zwijchen LXode und Bacon nicht mehr gefehen; er rüdt den englifhen Philofophen jo nahe an den deutjchen Meta— phyfifer, daß er darüber die Herkunft des erften aus dem Ge— ſichte verliert. *)

II. Religionslehre. 1. Gegenfat zwifhen Lode nnd Hobbes. Die Aufklärung.

Wo fi Lode von Bacon unterfcheidet in der Begründung der demonjtrativen Erfenntniß, auf dem Gebiete der Mathe- matif und Moral, in der Anwendung der deductiven Methode auf die moralifhen Wiſſenſchaften im weiteften Sinn, da läßt er fi mit Hobbes vergleichen. Aber in der Art und Weife, wie Lode aus der Natur der menschlichen Erfenntniß den Glauben, die natürliche Religion, das Verhältniß zwifchen Bernunft und Offenbarung begründet, haben wir ſchon feinen Unterfchied erfannt fowol von Bacon als Hobbes. Bei ihm giebt es Feinen blinden Dffenbarungsglauben wie bei Bacon, feinen Glauben als blinden Gehorfam, als Bejtandtheil der Unterthanenpfliht wie bei Hobbes. Der Glaube paffirt die Bernunftkritif: das bedeutet eine wichtige Krifis in der Fort— bildung der Erfahrungsphilofophie, den Durchbruch derjelben zur Aufflärung. Sind aber die religiöfen Ueberzeugungen unabhängig von der Unterthanenpflicht, jo wird auch die letz—

*) Locke's Lehre von der menſchlichen Erkeuntniß in DVergleihung mit Leibniz’ Kritik derfelben, dargeftellt von G. Hartenftein. Abhdlg. der philol,=Hift. Claſſe der königl. ſächſ. Gejellihaft der Wiſſenſchaften, Bd. IV, Nr. U, S. 113— 198. Bol. bei. ©. 145 und 189.

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tere nicht mehr im unbedingten Gehorfam, in der völligen Unterwerfung, in der gänzlichen Nechtsentäußerung beftehen fönnen, wie der „Leviathan’ fie forderte. Mit der Neligions- (ehre ändert fic) die Staatslehre. Hier gewinnen wir die Ausfiht in den Gegenſatz zwifchen Locke und Hobbes, die Lehren beider Philofophen verhalten fich zueinander, wie die englifche Revolution zum Abjolutismus der Stuarts und das freie Chriſtenthum zur engliſchen Hochkirche.

2. Vernunftmäßigkeit des Chriſtenthums.

Locke vergleicht die natürliche Religion mit den Urkunden der chriſtlichen und findet den Kern der letzteren nicht in äuße— ren Begebenheiten, ſondern in der Lehre, er findet den Kern der Lehre in dem Erlöſungsglauben, in dem Glauben an die göttlihe Sendung Jeſu zum Zwed der Erlöfung, in der läu- ternden und vechtfertigenden Macht diefes Glaubens; wenn wir im Guten thun, was wir können, fo wird ung der fortwirkende Geiſt ChHrifti beiftehen zu thun, was wir follen. In diefer Einfachheit ift der chriftliche Glaube der menfchlichen Vernunft einleuchtend und conform, das ijt das Grundthena der Lode’- ihen Schrift „von der Bernunftmäßigfeit des Chriften- thums“.

Die Summe des chriſtlichen Glaubens liegt in dem Satz: „Jeſus iſt Chriſtus“. So wollte auch Hobbes den Glaubens— inhalt gefaßt wiſſen. Aber bei ihm galt Chriſtus als König des künftigen meſſianiſchen Reichs, als ein Herrſcher, deſſen gegenwärtige Stellvertreter die weltlichen Könige ſind; bei Locke dagegen iſt Chriſtus der erlöſende ſittliche Geſetzgeber, der keinen weltlichen Stellvertreter hat, ſondern durch den hei— ligen Geiſt in denen fortwirkt, die an ihn glauben.

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3. Grundfat der Toleranz. Trennung von Kirche und Staat.

So gründet fih bei Locke der chriſtliche DOffenbarungs- glaube auf die Einficht, daß fein Inhalt dem göttlichen Willen entfpricht, wie wir den Teßteren aus Vernunftgründen vorftel- (fen. Damit ift der Glaube auf eine Grundlage geftellt, die jeden Zwang ausſchließt und unmöglich macht. Einfichten und Gründe laſſen fich nicht erzwingen, der religiöfe Glaube ift unerzwingbar, darum frei. Was man vernünftigerweife nicht fann, darf rechtlicherweife aud) nicht gefordert werden, daher giebt e8 Feine Macht, der in Nüdjicht auf den Glauben ein Zwangsrecht zufteht, eine folche Macht hat weder der Staat noch die Kirche. Weil die Intoleranz in Wahrheit eine Un— möglichkeit tft, fo gilt die Toleranz als eine felbjtverftändfiche Pfliht, als ein Ariom, deffen Verlegung aller Vernunft und allem Recht aufs äußerſte widerftreitet: das iſt das Grund: thema der locke'ſchen „Toleranzbriefe“.

Die Staatsgefeße reichen nur fo weit als die Staats: gewalt, welche die Anerkennung und Erfüllung der Gejege zu erzwingen im Stande fein muß; darum dürfen die Glaubens- gebote niemals Staatsgeſetze und der Glaube feine Staals— einrichtung fein. So folgt aus dem Grundfat der Toleranz die Nothwendigfeit einer Trennung von Staat und Kirche, wobei unter Kirche nichts anders verjtanden wird als Religions— genoſſenſchaft; denn ift die Kirche felbit Staat, jo bedeutet die Unabhängigkeit des Firdlichen Staats vom bürgerlichen foviel als die Exiſtenz eines Gegenftaates, der die Sicherheit des politifchen Gemeinwefens bedroht. Die Trennung von Staat und Kirche, wie fie Lode fordert, bedeutet die Freiheit der religiöfen Belenntniffe, deren gegenjeitige Duldung und An—

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erfennung; der Staat fchütst jedes Bekenntniß, das. dent bürger— lihen Eide zur Grundlage dienen kann, und erlaubt Feines, das die bürgerliche Sicherheit gefährdet, indem es z. B. die Nechts- pflichten gegen Andersgläubige aufhebt. Auch die Religions- genoſſenſchaft darf Feinen Neligionszwang ausüben, fie hat Fein Recht zu richten und zu verfolgen, die duldfane Glaubens- gefinnung ift „evangeliſch“, die herrſch- und verfolgungsfüch- tige „papiftifch”. Der Grundfag der Toleranz gilt unbedingt, jowol von Seiten des Staates als der Kirche, er ift eine ebenfo nothwendige politifche Pflicht als religiöfe, denn er be- trifft die Geltung eines unveräußerlichen Rechtes.

In Uebereinftimmung mit Hobbes ift Locke ein Gegner der Kirchenherrfchaft, im Widerftreit mit jenem ift er ein Geg- ner der Staatslirhe. Im Hinblid auf die Firchlichen Zeit- verhältniffe Englands, insbefondere die Zeitfrage der „Com: prehenfion‘,. die das DVerhältniß der bifchöflichen Kirche zu den Difjenters betraf, war Locke „latitudinariſch“ gefinnt und ichrieb ganz im Sinne Wilhelms IIL für die freiere, zur Einigung geneigte kirchliche Richtung. In feinen Verfafjungs- entwurf für Carolina, wo er nicht mit gegebenen Firchlichen Berhältniffen zu rechnen, fondern freie Hand Hatte und das Berhältnig von Neligion und Staat gleichſam von vorn ein- richten fonnte, brachte er den Grundfaß der Toleranz rein und folgerichtig zur Geltung, er machte die Trennung von Staat und Kirche conftitntionell und ließ die Religion unter dem Schute des Staates, aber unabhängig von deſſen Gewalt in der Form freier Belenntniffe und Gemeinden exiftiven.*)

*) Bol. Lechler, Geſchichte des englijchen Deismus, S. 172— 79,

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II. Stantslehre.

1. Naturzuſtand und Vertrag.

Lode’s Staat ift Fein Leviathan. Hobbes mußte für den Staat eine fhranfenlofe Gewalt fordern, weil nur dadurd) jenes Chaos des Krieges aller gegen alle, das hier zufammen=. fällt mit dem menfchlichen Naturzuftande, wirklich beendet und vernichtet werden konnte. Iſt der Naturzuftand ein folcher Krieg, jo giebt e8 Feine andere Rettung, als den Vertrag, der eine abjolute Gewalt errichtet, die alle Einzelrechte völlig auf- hebt. Da nun der lode’fche Staat diefer Leviathan nicht ift, jo wird auch der locke'ſche Naturzuftand nicht jener Krieg fein fünnen. Die Natur Hat die Menfchen gleich gefchaffen als Weſen derfelben Gattung, fie hat, wie verfchieden die Indi— viduen auch fein mögen, feines dem andern unterworfen, aljo einen Zuſtand „der Gleichheit und Freiheit” geſetzt, worin die Menſchen brüderlich miteinander verkehren, während fie im Kriege ich gegenfeitig befämpfen und zeritören. So find Natur- und Kriegszuftand bei Hobbes identifch, bei Xode ent- gegengefetst und nur darin einander gleich), daß in beiden die den Einzelnen übergeordnete und überlegene Macht fehlt, die das Naturgefets gegen gewaltfame Uebertretung und das natür- liche Recht gegen gewaltfame Angriffe ſichert. Diefer Mangel fordert Abhülfe durch die Errichtung einer gemeinfamen Ge— walt, die das Recht unfehlbar zur Geltung bringt, gegründet auf einen Vertrag, der nur durd) die freie Einwilligung der Contrahenten zu Stande fommen und deffen Zwed nicht die

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Aufhebung, fondern nur die Erhaltung und Sicherung der natürlichen Rechte fein kann.

2, Der Staat und die Staatögewalten,

Die jo errichtete gemeinfame Gewalt ift die politifche oder der Staat, durch ihren Urfprung und Zwed von jeder an- dern Gewalt genau unterfchieden. Die väterlihe Macht grün- det fi nicht auf Vertrag, jondern auf ein natürliches DVer- hältniß, die despotifche weder auf Vertrag noch auf Natur, fondern auf gewaltſame Unterwerfung; der väterlichen Gewalt fteht gegenüber der Unmündige, der despotifchen der Sklave, der politifchen der freie Mann (Bürger). Daher ijt die poli- tifche Gewalt weder patriarchaliſch noch despotiih, der Staat ijt weder Familienherrichaft nod) Tyrannenherrichaft. In Ro— bert Filmer befämpft Locke den Vertreter der patriarchalifchen Staatstheorie, in Hobbes den der- despotifchen.

Der Bertrag, auf dem allein die politifche Gewalt ruht, macht aus der Heerde ein Gemeinweſen oder einen Staat (commonwealth civitas); in ihm herrſcht nicht der ein- zelme, fondern der gemeinfane oder öffentliche Wille d. h. das Geſetz. Darum ift die höchſte politifche Gewalt (supream power) die gejetgebende, diefe ift der Souverän, die Art ihrer Berfafjung unterjcheidet die Staatsform in Demokratie, Dli- gardhie, Monarchie; im erften Fall herrſcht das Volk durd die Mehrheit, im zweiten eine Minderzahl, im dritten ein Ein- ziger, beftimmt entweder durch Erbfolge oder durch Wahl.*)

Geſetze werden nicht fortwährend gegeben, wohl aber müſ— fen die gegebenen unausgefegt in Kraft fein und ausgeführt

*) Treatises of civil government. Book II, ch. X.

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werden; daher braucht die gejeßgebende Gewalt nicht fort- während thätig zu fein, wohl aber bedarf der Staat einer ausführenden Gewalt, die ſtets fungirt, einer beftändigen Staatsleitung oder Erecutive, der die Führung der Staats- geihäfte nad) außen umd innen obliegt. Nach innen hat fie die Gefege auszuführen, das Gemeinwefen zu verwalten, gejeß- widrige Handlungen zu richten und zu trafen: das ift die Erecutive im engern Sinn, deren Thätigfeit adminiftrativ umd richterlich ift; nad) augen beforgt fie das Berhältnig zu an- deren Staaten. Da die Staaten gegenfeitig nicht unter ge- meinfamen Geſetzen jtehen, jo befinden ſie fid) im Natur: zuftande und können ſich feindfelig oder friedlich zueinander verhalten, Kriege führen, Verträge eingehen, Bündniſſe ſchließen. Locke nennt die Ereeutive in Rückſicht anf die äußeren Staats— intereffen (jofern fie das Verhältniß zu anderen Staaten regu— livt und ordnet) „füderative Gewalt (federative power)”; und unterjcheidet demnacd) näher drei Staatsgewalten: die legis— lative, executive und füderative,

3. Die Trennung der Stantsgewalten,

Wie weit reicht die Staatsgewalt? Wie verhalten fid) zueinander die beiden Hauptgewalten, die gefeßgebende umd ausführende? Das find die zwei Curdinalfragen, die Lode im Gegenfa zu Hobbes entjcheidet.

1) Die Staatsgewalt ift nicht abjolut. Sie ift nicht Willkürherrſchaft, fondern Gefegesherrfchaft, beſchränkt durd) ihren Urfprung und ihren Zwed; ihr Zwed ift das Gemein- wohl, ihr Urſprung der Vertrag, der die natürlichen Rechte der Perfon, Leben, Eigenthum, Freiheit, nicht aufhebt, fondern fihert. Die Staatsgewalt ift an Geſetze gebunden, die fie

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nicht willfürlich verändern, nicht dictatorifch dur) Ausnahms— gejege ungültig machen, nicht über die durch die unveräußer- (ihen Rechte der Perſon gejette Schranfe ausdehnen kann. Diefe Gewalt hat ihren rechtmäßigen Träger; jede Willkür— herrfchaft ift Tyrannei, jede rechtswidrige Ergreifung der ge- jegmäßigen Gewalt Uſurpatioen.

2) Das Gefet allein herrſcht. Die ausführende Gewalt fann daher der gejetgebenden nie übergeordnet, fondern nur entweder nebengeordnet oder untergeordnet fein; in dieſem Fall ift fie durch die gefetsgebende Gewalt eingefett und deren Be— amter, in jenem iſt ſie an der geſetzgebenden Gewalt betheiligt und bildet einen Factor derſelben, ohne deſſen Mitwirkung kein Geſetz zu Stande kommt, dann iſt ihr perſönlicher Trä— ger nicht die höchſte Gewalt, ſondern nur „die höchſte Per— ſon“ im Staate, das conſtitutionelle Oberhaupt, wie in Eng— land der erbliche König, deſſen Prärogative lediglich darin beſtehen, daß er gewiſſe zum Gemeinwohl nothwendige Hand— lungen vollziehen darf, zu denen keine andere Perſon be— rechtigt iſt.

3) Soll der Misbrauch der Staatsgewalt verhütet und die politiſche Freiheit verbürgt werden, ſo hängt alles davon ab, daß die beiden Hauptgewalten des Staates richtig gegen— einander geſtellt ſind. In derſelben Hand vereinigt, bilden die öffentlichen Gewalten einen Abſolutismus, mit dem ſich die Freiheit nicht verträgt. Daher iſt ihr richtiges Verhält— niß die Trennung. Die königliche Gewalt iſt nicht die ge— ſetzgebende, ſie bildet einen Factor derſelben und iſt ſelbſt ab— hängig von den Geſetzen.

Wenn der König die Geſetze verletzt, ſei es daß er ſich eine Gewalt anmaßt, die er nicht hat, oder die Gewalt, die

Fiſcher, Bacon. 41

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er hat, misbraucht, fo handelt er verfafjungswidrig und zer- jtört die Bedingungen, unter denen allein er das Oberhaupt des Staates ift und als ſolches gilt; dann Hat er nicht als König gehandelt, fondern als Privatperfon und damit das Recht auf den Gehorfam und die Treue der Unterthanen ver- foren; dann find die beiden Gewalten des Staates im Streit, gejetgebende und vegierende, Volk und König, und da es in diefem Streit feinen Richter auf Erden giebt, jo bleibt nichts übrig al8 „der Appell an den Himmel“. Darunter verftcht Lode die Erhebung des Volks zur Wiederherftellung des ge- brochenen Rechts: das Recht der Revolution, die der ver- faſſungsbrüchige König verjchuldet, und Lode findet, daß zur Berhütung folder Verbrechen, die Revolutionen erzeugen, Fein bejjeres Mittel exiftirt, als diejes Recht. Selbſt Barclay, der Abvocat der geheiligten Macht der Könige, Habe einräu- men müfjen, daß es Fälle gebe, in denen das Volk zum Widerſtand berechtigt fei, nur müſſe alles mit der fchuldigen Ehrfurcht gefchehen und dem heiligen Haupte dürfe fein Haar gekrümmt werden. Aber wie folle man ſich, fragt Locke, ein folches Verfahren vorftellen: die Gewalt abwehren ohne Ge- walt, zuschlagen, aber mit Ehrfurdt (strike with reverence) ? Das fei eine Art der Gegenwehr, auf die der Spott Juvenal's paſſe: der eine ſchlägt und der Widerftand des andern befteht darin, daß er gejchlagen wird! Ubi tu pulsas, ego va- pulo tantum!*)

Man erkennt deutlich, welche Beifpiele Lode vor ſich jah, als er jeine Abhandlung von der Staatsgewalt fchrieb: der ver- faſſungsbrüchige Herrfcher, den das Volk vertreibt, ift Jakob II.,

*) Treatises of civil government. Book II, ch. XIX, 235.

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der conjtitutionelle König, den das Volk einſetzt, ift Wil- helm III, und Locke's Staatslehre die Nechtfertigung der eng- liſchen Revolution von 1689.

Bett ift der Gegenſatz zwifchen Hobbes und Lode in allen Punkten entwidelt und einleuchtend: völlig anders als dort verhalten jid) hier Naturzuftand und Kriegszuftand, Staats- reht und Naturrecht, gejeßgebende und ausführende Gewalt, Staat und FKirde.

Was das Verhältnig von Natur und Staat betrifft, ins- bejondere die Faſſung des menschlichen Naturzuftandes, fo ift 3. J. Rouſſeau in feinem „Contrat social“ dem Vor— gange Locke's gefolgt. Was die Staatsverfaffung betrifft, insbejondere das Verhältniß der Staatsgewalten, fo ift die Lehre von deren Trennung, wie fie Locke aufgejtellt und be» gründet hat, durd) Montesquien in feinem Werf „De l’es- prit des lois“ fortgebildet und zum politifchen Freiheitsdogma erhoben worden. Seitdem gilt der engliſche Staat in der Meinung der Welt als ein Mufter verfajjungsmäßiger Freiheit.

IV. Erziehungslehre. 1. Lode und Roſſean.

Schon Bacon hatte wiederholt und nachdrücklich darauf hingewieſen, daß die Erneuerung der Wiſſenſchaft auch die der Erziehung ſein müſſe, daß man das Werk der Jugend— bildung in die Hand nehmen, nicht wie ein herrenloſes Gut

liegen laſſen und den Jeſuiten preisgeben ſolle, die mit ſo 41*

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vielem Erfolge ſich ſchon defjelben bemächtigt hätten; er dachte an den Fortfchritt der Wiffenjchaften im Großen und forderte darum die Organifirung des öffentlichen Unterrichtes durd) den Staat, die Erziehungsfrage lag in feinem Gefidhts- frei, aber die Auflöfung derfelben und die nähere Bejtim- mung der Erziehungsart überließ er der Zufunft.*) Man darf bei den Philofophen der neuen Zeit überhaupt das Be— dürfniß nad) pädagogischen Reformen als eine perfönliche Lebens— erfahrung betrachten, denn fie klagen alle über die Unfrucht- barfeit der Schule, die fie an fich felbjt erlebt haben. In— deſſen läßt fi) die Schule erſt beffern, wenn die Aufgabe der Erziehung und deren Richtſchnur erfannt ift: Und hier ijt Tode der erſte gewefen, der diefer Frage auf den Grund ging.

Wie Lode durch feine Staatslehre Montesquien wegwei- jend vorangefchritten ift, fo verhält er fich ähnlich durch feine Grziehungslehre zu Rouffeau, nur daß die Nachwelt unter dem vorherrſchenden Eindrud der franzöfiichen Schriftiteller die Herkunft derjelben von dem englijchen Philofophen zu lange vergefjen und erjt der hiſtoriſchen Belehrung bedurft hat, um auf Lode zurüczubliden. Das gilt namentlid) von Rouſſeau's pädagogischer Dihtung in Rückſicht auf jene Schrift, die Locke eben fo befcheiden als richtig ‚einige Gedanken über Erziehung‘ nannte. Freilicd liegen zwifchen dem locke'ſchen Berfuh und Rouſſeau's „Emile“ faft fiebenzig Jahre, und nimmt man dazır, wie verjchieden die beiden Schriften find in Compofition und Schreibart, wie verjchieden die beiden Zeitalter in ihrer Empfänglichfeit für den Gedanken einer neuen Erziehung, endlicd) wie Rouſſeau felbjt im Hinblick auf

) ©. oben ©. 304 fig.

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Lode weniger feine Herkunft als feinen Gegenſatz hervorhcbt, jo erklärt fich Leicht, daß man zunächft nicht aufgelegt war zu einer Fritifchen Vergleihung. Lode gab eine Sammlung guter Rathſchläge, gelegentlich niedergefchrieben, wenig ſyſtematiſch geordnet, für den Vater feines Zöglings beſtimmt, für das Haus und den Privatgebraud) berechnet, auf den Wunſch ei— niger Freunde veröffentlicht, in ihrer Wirkung auf die Kreife empfänglicher Familien bejchräntt. Rouſſeau gab einen Ro— man, eine pädagogische Robinſonade, die mitten in einer ver: dorbenen und der eigenen Bildung überfatten Welt den Eins druck einer Rettung des Menfchengefchlechts machen wollte und machte. |

Aber der Grundgedanke der Erziehungsreform gehört Lode und hängt mit den innerften Motiven feiner Lehre auf das genauefte zufammen. Dieſes Zufammenhangs war id) Lode völlig bewußt, und obwol fich in feiner pädagogischen Gelegenheitsfchrift kaum eine Stelle findet, wo er die Ver: bindungslinien mit feinem Hauptwerfe dergeftalt zieht, daß fie in die Augen fallen, bildet feine Erziehungsichre doc ein wohlgefügtes Glied feiner Philofophie. Unfere Aufgabe tft, fie als folches Fenntlich zu machen und zu würdigen.

2. Die Erzichung ald Entwidfung.

In den Grundlagen der Lode’ichen Lehre ift die Richt— Schnur der menſchlichen Bildung vorgezeichnet. Alle Geiftesbil- dung entjteht und reift als cine Frucht der Erfahrung, die nur auf einem einzigen Wege zu Stande kommt, dem der eigenen Wahrnehmung und Anſchauung; unfere Vorftellungs- zuftände Haben ihren normalen Verlauf, worin fie fi) von

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den einfachjten Elementen zu einer geordneten und veihen Vor: jtellungswelt entfalten, mit ihnen wachfen und bilden fich die Borftellungskräfte. Diefer Bildungsgang ift eine völlig natur: gemäße Entwicklung, in der nichts gefchieht, nichts vefultirt, was nicht durch die eigene Erfahrung Hindurchgegangen und in diefem Sinne perfünlich erlebt ift. Daher läßt fi) der Grundgedanke der locke'ſchen Erziehungslehre kurz und treffend jo ausfprechen: die Erziehung werde Erfahrung, die Kunft des Erziehers verwandele ſich in die naturgemäße Entwiclung des Zöglings, fie fei nirgends Dreffur oder Abrichtung, fon- dern durchgängig Leitung, richtig geleitete Entwicklung! In diefem Sate liegt das Grundmotiv zur Reform, der Bruch mit aller fcholaftifchen Erziehung, mit der Abridhtungsanftalt, mit der Schule als Bildungsfabrif; hier ift das Thema ge- geben, das feitden alle Erziehungsiyfteme von Bedeutung nicht verändert, nur interpretirt, ausgeführt und in der Art der Ausführung berihtigt haben.

Durch diefes ihr Thema ift die Aufgabe der Erziehung auf drei Hauptpunkte gerichtet: das Subject, das Ziel und den Gang der Entwidlung.

3. Die Entwidlung der Individualität. Das fociale Ziel.

—Zur Entwicklung gegeben ift ein Individuum in feinem eigenthümlichen, durch Herkunft, Familie, Neigung, Fähigkeit, Gemüthsart bejtimmten Naturell, welches die Erziehung nicht ausrotten, noch ignoriren, fondern forgfältig beachten und durch richtig geleitete Selbftthätigfeit bilden foll. So folgt _ der zweite Satz, wodurd die Leitung einer naturgemäßen Entwicklung näher beftimmt wird: die Erziehung entjpreche

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der Individualität des Zöglings! Das Ziel und die reife Frucht der Entwiclung ift die männliche Wirkfamfeit im Dienft der Geſellſchaft, die praftifche und nützliche Weltbil- dung, durch welche der fociale Werth und die öffentliche Werth: ſchätzung des Individuums bedingt find. Diefes Ziel der Brauchbarkeit und focialen Tüchtigfeit, die mit der Charakter: bildung Hard in Hand geht, foll die Erziehung vor Augen haben, daher Tenfe fie friih das Selbtgefühl des Zöglings in die Richtung des Ehrgefühls ohne dem Findlichen Alter Ab- brud) zu thun, fie ftrafe durch Beſchämung, felten und nur im Fall des hartnädigjten Ungehorfams durch Schläge, fie befohne durch Lob und Anerkennung, die zu verdienen in dem Zöglinge felbjt die unverhohlene Zriebfeder feiner Handlungs: weife fein fol. Man möge in diefem Punkte Rode nicht mis- verjtehen, als ob er aus dem Ehrgefühl des Zöglings nur einen Kumftgriff in der Hand des Erziehers machen wolle; das Spiel ift nicht verdedt, fondern offen und aufrichtig, cs ift fein Spiel, fondern Ernſt. Wer auf dem großen Schau- plate der Welt focialen Werth durch gemeinnügiges Handeln verdienen will, der muß die fociale Werthihätung begehren, der muß als Kind und Zögling das Lob der Eltern und Lehrer ernfthaft und eifrig erjtrebt haben. Ohne diefe Triebfeder ift jenes Ziel weder zu ſetzen noc zu erreichen. Hat die Er— ziehung das Ziel im Sinn, fo darf fie aud) die darauf ge- richteten natürlichen Triebfedern nicht außer Acht und Wirf- famfeit laſſen.“) Gerade in diefem Punkte wendet ſich Rouſ— ſeau mit Heftigfeit gegen Locke; hier Tiegt eine durchgängige Differenz beider. Wer wie Rouſſeau Natur und Cultur in

*) Some thoughts, $. 56—61.

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einen fchneidenden Contraſt ftellt, der wird aus Abſcheu vor der Gefellichaft das fociale Ehrgefühl zu den verdorbenen Nei- gungen zählen und in feinem Zögling nicht zu nähren, ſon— dern vielmehr zu entkräften bejtrebt fein. Anders aus an- dern Geſichtspunkten urtheilte Locke. Da er jenen heillofen Sontraft nicht Fennt, jo mündet bei ihm der Weg der Er- ziehung in die menſchliche Geſellſchaft als das Gebiet des ge— meinnügigen Wirfens, während Rouſſeau feinem Emil die Geſellſchaft und die große Welt zeigt, wie einjt der junge Spartaner trunfene Heloten ſehen follte.

4, Die Privaterzichung und der Erzieher.

Die Erziehung ift grundfalich, wenn fie ſtatt zu leiten dreffirt, ftatt den Individualitäten gerecht zu werden die Zög— linge nad derjelben Schnur zieht, als Dbjecte, die zu der- jelben Drefjur bejtimmt find, wenn fie, ftatt praftifhe Bil- dung zu geben, unfruchtbare Gelehrſamkeit abrichtet. In die- fer grundfalſchen Berfaffung findet fid) der Zuftand dev Schule, der öffentlichen, insbefondere gelehrten Erziehung. Daher for- dert Yode, um jene Uebel zu vermeiden, die von der Schule abgefonderte, häusliche und private Erziehung, die ihre Auf: gabe nur dann Löfen kann, wenn fie mit der menfchenkun: digen Einſicht in die Individualität des Zöglings und. der welterfahrenen Abfiht auf das praftifche Ziel die Weisheit und Gejchiclichkeit einer plans und jtufenmäßigen Leitung ver- bindet. Eine ſolche Erziehung muß in einer Hand Liegen, ſonſt wird fie verpfufht. Daher ift die Individualität und Perfon des Erziehers von der größten Bedeutung, und cs fommt alles darauf an, hier die richtige Wahl zu treffen, den

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Mann zu finden, der dur den Umfang und KReichthum fei- ner Weltbildung, die Feinheit feiner Sitten, die ungefünftelte Beherrſchung aller Leidenfchaften feinem Zöglinge ein beftän- diges Vorbild giebt und was diefer zu erftreben und zu wer: den Hat, ihm nicht blos Ichrt, ſondern in feiner ganzen Per: jönlichkeit gleihfam vorlebt. Solde Erzieher find felten, fie find in der That unbezahlbar und verdienen nicht nur den höchſten Preis, fondern die höchſte und aufrichtigite Achtung der Eltern. *)

5. Die Bedeutung ded Spielend.

Aus diefen Gefichtspunkten folgen Leicht und einfach Locke's Erziehungsgrundfäße im einzelnen. An der Spike feiner Päda- gogik fteht dev Sak: „mens sana in corpore sano.“ Den Zögling körperlich Fräftig und tüchtig zu machen, denfelben in feiner Weife zu verweichlihen und zu verzärteln, ift die erite Bedingung und das Thema, womit Xode beginnt, und das er in einer Menge von Vorſchriften ausführt, deren einige, bejonders was die Nahrungslehre betrifft, den heutigen Ein— ſichten wibderftreiten. **)

Um die Individualität des Zöglings zu erkennen, muß der Erzieher die Bedingungen pflegen, unter denen fi) die Eigenart des Kindes giebt, wie fie if. Das gefchieht in der naidften Weife im Spiel. Es gehört zu den Berdienften und piychologifchen Feinheiten der locke'ſchen Erziehungslehre, daß fie den pädagogiſchen Werth des Spielens erkannt und ge—

*) Some thoughts, 8. 00. **) Ebend. $. 1—50,

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würdigt hat, in Abjicht nicht blos auf den Erzieher, der den Zögling beobadhtet, fondern auf die Bildung des Ietteren felbit. Der Genuß des Spielens Tiegt in der zwanglofen Selbjtthä- tigkeit, daher das felbjtgemachte Spielzeug einen weit größeren Genuß gewährt, als die Fünftlich gefertigte Spielwaare. Hier lerne der Erzieher von der Natur des Kindes, er Taffe den Zögling fein Spielzeug ſelbſt machen und auf diefe Weife fpielend feine Selbftthätigfeit üben und bilden, ev gehe weiter und wende das Spiel an auch auf den Unterricht, er ver: meide den umnatürlihen Zwang, der dem Kinde das Lernen zur Marter macht und dadurch von Grund aus verleidet, oft für das ganze Leben. Der Bücherzwang ift häufig der Tod des Lernens. Das Kind foll lernend fpielen, damit es fpielend lerne, das Lernen ſoll ihm, wie das Spielen, Luft gewähren, auch das ernſte, arbeitsvolle Lernen. Daher wechjele Arbeit und Spiel, und lieber langweile fih das Kind, bis ihm das Lernen wie eine Wohlthat erfcheint, als daß es, an das Buch wie an eine Galeere gefchmiedet, das Lernen als die größte feiner Qualen verwünſcht. Die Pädagogik unferer Zeit ift diefen Weifungen Lode’s gefolgt, und die Erziehung Hat nichts dabei verloren, daß ſich Kinderfchulen in Kindergärten ver: wandelt haben. *)

6. Der Auſchauungsunterricht und der pädagogiſche Realismus.

Je anſchaulicher und brauchbarer die Unterrichtsobjecte find, um jo mehr befchäftigen und feffeln fie die Selbjtthätig- feit des Kindes, um fo lieber wird gelernt. Hier vereinigt

*) Some thoughts, $. 130. |

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ſich die Rüdficht auf den praftifchen Bildungszwed mit der Rückſicht auf die natürlichen Neigungen des Zöglings, um in der locke'ſchen Erziehungsichre die Richtung auszuprägen, die man gewöhnlich) die realiftifhe nennt. Er verwirft den gelehrten Sprachunterricht und fordert den praftifchen, die Spraden follen gelernt werden durd) Sprechen, zuerft fran- zöfifh, dann lateiniſch, das Griechische gehöre nicht in die allgemeine Bildung, fondern in die fpecififch gelehrte, der grammatifche Unterricht werde verbunden mit der Mutter— ſprache. Der Anfchauungsunterriht beginne mit der Geo— graphie, dann folge Größenlehre, Arithmetif, Aftronomie, Geometrie, die Aftronomie führe zu der Chronologie, zur Lehre von der Zeitordnung und Zeitrechnung, woran fi na— turgemäß der Gefchichtsunterricht knüpfe. Object der praftifch- fittlihen Belehrung feien Moral, Naturreht, vaterländifches Recht. Logik und Rhetorik tragen ihren naturgemäßen päda— gogifhen Nuten nicht in der Disputirkunft, womit die ver- altete Gelehrfamfeit Staat machte, fondern in der Darftellungs- funft, in der Ausübung der mündlichen und fchriftlichen Rede, wobei e8 gar nicht auf Schönrednerei anfommt, fondern auf den einfachen, richtigen, gewandten Ausdrud. Bon den Kunft- fertigfeiten find die äfthetifchen, mit Ausnahme des Zeichens, in Locke's Augen pädagogifc werthlos, namentlich das Verſe— machen und die Mufif, dagegen legt er großes Gewicht auf die gymnaſtiſchen und technifchen Künfte und fordert zur praf- tiihen Ausbildung, daß Gartenbau oder fonft ein Handwerf gelernt werde. Was das Reifen betrifft, fo erklärt er feinen Zandsleuten, daß fie diefes Bildungsmittel gewöhnlich falſch anwenden, denn bie englifche Iugend an der Hand des Men: tors reife entweder zu früh oder zu fpät: zu fpät, wenn der

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Bildungszwed im Erlernen fremder Sprachen gefucht werde, zu früh, wenn es fi um wirkliche Welterfahrung und die Einfiht in fremde Bildungszuftände handele.

Locke's Verſuch über Erziehung entfpricht feinem Verſuch über den menfchlichen Verſtand. Diefer lehrt den naturgeſchicht— fihen Gang unferer Verftandesbildung, jener zeigt, wie dieſe naturgemäße eijtesentwidlung zu leiten und durch vichtige Leitung zu befördern ift.

Neunles Kapitel. Die Fortbildung der locke'ſchen Lehre,

I. Die fenfualififchen Hanptprobleme.

Die weitere Entwidlung der Erfahrungsphilofophie ift in der jenfualiftifchen Faſſung angelegt und durch diefelbe be- jtimmt, fie fteht unter Xode, wie der gefammte Empirismus unter Bacon. Daß alle Erfenntniß Erfahrung und zwar näher finnlice Erfahrung oder Wahrnehmung ift, diefe Tode’jche Grundlehre bildet die Vorausſetzung, von der aus die folgen- den Philofophen operiren, fie ijt gleichſam das Schwungbret zum jedesmaligen Anlauf. Auch fehlt es nicht an Aufgaben, welche die Lode’sche Lehre darbietet und in ſich trägt, theils jolhe, die Locke ſelbſt gejtellt und an deren Löfung er fchon die Hand gelegt, theils folhe, die in der Grundlage feiner Philofophie enthalten find und deren Köfung den Standpunft, wie Locke ſelbſt ihn gefaßt hat, verändert. Jene wollen nur ergriffen und bearbeitet fein, denn fie liegen am Tage, diefe dagegen durch Fritifche Beurtheilung gefunden und entdeckt werden, denn fie betreffen die eigenthümliche Art, wie Yode jeine Lehre begründet. Dort handelt es fih um die jchon

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geitellten Fragen der Religion und Moral, hier um das Fun- dament der Erkenntniß ſelbſt; jene richten ſich auf die Aus- bildung der locke'ſchen Lehre, diefe auf deren Fortbildung. Da dig legteren die bewegenden Grundfragen find, fo ftehen fie im Vordergrund unferer Betrachtung.

Es find drei Hauptpunfte, wodurd) die eigenthümliche Faſſung und Lage des Lode’fchen Senfualismus bejtimmt wird: fie. betreffen die Wahrnehmungsvermögen, die Wahrnehmungs- objecte und deren Verhältniß.

1. Die Wahrnehmungsvermögen. Senfation und Reflerion.

Locke unterfchied zwei Wahrnehmungsvermögen, das äußere und innere, Senfation und Neflerion, die er einander neben- ordnete, als ob fie grumdverfchieden und gleich urjprünglic) wären, fie find nad) Locke die beiden Quellen, wodurch wir unmittelbar Wahrnehmungsobjecte, elementare Vorſtellungen oder „einfache Ideen’ percipiven. Setzen wir nun mit Rode, daß unfer Geift urfprünglich Teer ift, wie eine „tabula rasa‘, fo möge ihm wir wollen diefen Punkt, der mit dem Sen: ſualismus jelbjt zufammenfällt, hier nicht unterſuchen eine Empfänglichkeit für äußere Eindrüde zugefehrieben werden, aber in feinem Falle eine davon verjchiedene urjprüngliche und ur— eigene Thätigfeit, die als ſolche wirkſam fein, Wirkungen haben müßte, alſo unmöglid) den Geijt leer laſſen könnte. Den Sat von der leeren Geiftestafel fejtgehalten, fo giebt e8 nur ein Wahrnehmungsvermögen, das äußere, die Senfation, die den Geijt bevölkert und das Material liefert, welches die Re— flerion betrachtet, jo ift was Lode „Reflexion“ nennt, nur eine Entwidlungsforn der Senjation. Laſſen wir dagegen den Geift felbftthätig fein aus ureigener Kraft, fo ift die Re—

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flerion fein von diejer Thätigkeit verfchiedenes Vermögen (was ins Endloje führen würde), jondern fällt mit ihrem Object zufammen und verhält fich deshalb zu ihren Wahrnehmungen ganz anders als die Senfation zu den ihrigen. Was die Reflexion wahrnimmt, thun wir felbjt; was die Senfation wahrnimmt, empfangen wir von außen als etwas Gegebenes und in diefem Sinn Objectives. Berjtehen wir daher mit Lode unter einfachen „Ideen“ die gegebenen Borjtellungs- elemente, jo leuchtet ein, daß die Senfation die einzige Duelle unjerer Ideen iſt. Jedenfalls muß auf Grund diefer Be— urtheilung der lode’jchen Lehre gefragt werden: wie verhal- ten fih Senfation und Reflexion? Iedenfalls muß ge- antwortet werden‘ „die einzige Duelle der Ideen iſt die Sen- jation“, welcher Sat zwei Möglichkeiten offen läßt: entweder die Neflerion befteht als eine Wahrnehmungsart für fi), aber was fie wahrnimmt find nicht been, fondern ihre eigene ZThätigfeit jelbjt, fie ijt die Form unſerer Selbjterfenntniß, oder fie ijt nur eine Entwidlungsform der Senfation und dieje das einzige Grundvermögen des Geijtes. Yedenfalls wird der locke'ſche Standpunkt verändert und vereinfacht. Unterfuchern wir etwas näher die beiden Möglichkeiten, die der vereinfachte Senfualismus offen läßt. Die Senfation fei die einzige Quelle der Ideen, die Reflexion die Form un- ſerer Selbjterfenntnig; wir find nicht Vorftellungen, fondern vorjtellende Wefen, die Vorftellungen find unſere Objecte, fie find nur unfere Objecte, und wir können feine anderen Ob- jecte haben als nur BVBorjtelungen. Wenn wir fie machen, find e8 bloße Ideen, die aud) leere Einbildungen fein können; wenn wir fie haben, ohne fie gemacht zu Haben, find es Eindrücke oder wirkliche Dbjecte, die wir als Dinge bezeichnen,

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Sind wir vorftellende Weſen aus jelbjtthätiger, ureigener Kraft, fo fünnen auch unfere Eindrüde nur Vorftellungen fein, unmill- fürlihe Vorftellungen, die, weil fie unwillfürlich find, nicht wir felbjt erzeugt haben, deren Urfache, weil fie Borftellun- gen find, nicht die Körper fein können, fondern ein geiftiges und fchöpferifch thätiges Wefen fein muß. Wir fehen einen Standpunkt vor uns, der die Senfation als die einzige Duelle der Ideen mit der Reflexion als der Selbftgewißheit vorjtel- lender Wefen dergeftalt verbindet, daß er zu dem Sake führt: alfes objective Sein ift gleid) wahrgenommen worden, die alleinigen Träger der Wahrnehmungen find die Geijter, die alleinige Urſache derfelben Gott. Diefen Standpunkt ent- widelt Berkeley. Hier erjcheint der folgerichtige und ver- einfahte Senjualismus als „Idealismus oder Immateria- lismus“.*)

Die zweite Möglichkeit ſetzt die Senſation nicht blos als die einzige Quelle der Ideen, ſondern als das einzige Geiſtes— vermögen überhaupt; es wird Ernſt gemacht mit der „tabula rasa“, der Geiſt hat kein anderes Vermögen als das der Empfindungsfähigkeit durch die Sinne, die Ideen ſind Ein— drücke und zwar äußere, körperliche Eindrücke, die entweder im Dunkel einer Seelenſubſtanz, die nur noch zu dieſem myſtiſchen Nothbehelf dient, in Perceptionen umgewandelt wer— den, oder körperliche Eindrücke d. h. Bewegungen ſind und blei— ben; daß dieſe Bewegungen Empfindungen ſind oder werden, folgt aus den Eigenſchaften der organiſchen Materie, aus der Structur des Gehirns u. ſ. f. Hier erſcheint der vereinfachte und in ſeiner Art folgerichtige Senſualismus als Materialismus

*) Bgl. die beiden folgenden Capitel.

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im äußerſten Gegenfag zu Berkeley. Diefe Entwidlungs- form des Senfualismus bildet das Thema der franzöfifchen Philojophie des vorigen Jahrhunderts, die in divecter Abfolge von Locke Condillac einführt, indem er die Senfation zur Grundform alles geiftigen Berhaltens madt. Den Stand» punkt des anthropologifchen Materialismus fegt de la Met- trie, den des fosmologifchen das „systeme de la nature‘; der bewegtefte, geiftvolljte und umfaffendfte Kopf diefer Denk— weife, der den Materialismus nicht als Katechismus lehrt, ſondern die Entwidlung dejjelben in fid) erlebt und darftelft, it Diderot. Als populäre Weltbildung ericheint der fran- zöfifhe Senfualismus in der Enchklopädie, die von Diderot und d’Alembert ausgeht.

2, Die Wahrnehmungsobjecte. Primäre und fecundäre Qualitäten,

Unfere Wahrnehmungsobjecte jind Erjcheinungsarten oder Eigenfhaften, deren Träger (die Dinge felbft) wir nicht wahr- nehmen. Dies hatte Locke feitgeftellt und zwei Arten von Eigen- ſchaften unterfchieden, urjprünglice und abgeleitete, primäre und fecundäre; jene follten zugleich ſinnlich und wirklich, zu— gleich Vorſtellungen in ung und Eigenjchaften der Dinge -außer uns, mit einem Worte Abbilder jein, deren Originale die Be— Ichaffenheiten der Körper. find, dieſe dagegen blos _finnliche Qualitäten, nur fubjective Empfindungsmweifen ohne alle Aehn- Lichfeit mit den Dingen. Doc) Hatte Locke die Ableitung der fecundären Qualitäten aus den primären gefordert, was fo viel heißt als Empfindungen aus Bewegungen herleiten, eine Sache, die er ſelbſt für unmöglich erflärte. Aber die Haupt- frage betrifft die Möglichkeit der primären Qualitäten über-

Fiſcher, Bacon, . 42

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haupt, die Wahrnehmbarkfeit jener Grundeigenfchaften der Kör— per, die, weil fie den Körpern als foldhen zufommen, all- gemeine Eigenfhaften und, weil fie den Körpern an fid) zu— fommen, Eigenfchaften der Dinge an fih d. h. unwahr- nehmbare Eigenfchaften find. Wie kann das Allgemeine (Ab- jtracte) vorftellbar, das Vorftellbare allgemein (abjtract) fein? Wie kann wahrgenommen werden, was unabhängig von der Wahrnehmung den Dingen oder Körpern an ſich inwohnt? Iedenfalls muß gefragt werden: wie verhalten ſich die primären und fecundären Qualitäten? Eines ift un- möglich: daß es Wahrnehmungen giebt, die aud) unabhängig von aller Wahrnehmung Eigenfchaften der Dinge an fi) find. Entweder find alle Wahrnehmungen fecundär im Sinne Rode’s, d. h. bloße Vorftellungen in uns, und es giebt überhaupt Feine „primäre Qualitäten“, oder alle Wahrnehmungen find nichts als Bewegungsphänomene der Körper und materielle Effecte. Die erjte diefer Folgerungen aus dem locke'ſchen Senfualis- mus zieht der berfeley’sche Idealismus, die zweite der fran- zöfifche Meaterialismus, nachdem Condillac von einer einzigen Wahrnehmung, der Idee der Solidität, behauptet hatte, daß fie nicht bloße Idee (Tubjectiver Sinneseindrud), fondern Eigen- ſchaft und Wirkung der Körper felbjt fei. (Bon diefem Punkt der Lehre Condillac's aus kann man ſich über die Lage des Senfualismus, Idealismus, Materialismus innerhalb der Er- fahrungsphilojophie leicht orientiven. Was Rode von den pri- mären Qualitäten behauptet, gilt nur von der Solidität: fo lehrt Condillac. Was von allen Wahrnehmungen gilt, daß fie bloße Ideen find, gilt auch von der Solidität: fo Ichrt Ber— feley nad) Locke und vor Condillac. Was von der Solidität gilt, dag fie Eigenfchaft und Wirfung der Körper felbft ift,

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gilt von allen Wahrnehmungen: jo lehrt der franzöfifche Ma— terialismuß, )

3. Subftantialität und Cauſalität der Dinge.

Locke Hatte die Wahrnehmungsobjecte al8 Wirkungen an- gejehen, die wir empfangen, die als folche uns unmittelbar einleuchten und auf Urſachen bezogen werden müſſen, die un- abhängig von unferer Perception eriftiven und wirfen. Da- her gilt bei ihm die Kaufalität der Dinge als die äußere Be- dingung unferer Wahrnehmung und als deren unmittelbares Dbject. Wir erfennen Wirkungen, deren Urfachen wir nie erfennen. Denn diefe Urjachen müßten Dinge oder Subftan- zen fein, die Locke felbjt für unwahrnehmbar, darum für un- erfennbar erklärt, deren Begriff ein bloßes Nominalwefen ift, ein Zeichen für X. So erjdeint bei Locke die Caufalität der Dinge zufanmengefet aus einer befannten Größe (Wirkung) und einer nicht blos unbefannten, fondern unerfennbaren (Ur- jache). Und doc) foll ein ſolches Verhältniß einleuchten. Hier ift im Locke's Lehre eine umfichere, dunkle, widerfpruchsvolfe Stelfe. Es muß gefragt werden: wie verhält fi die Wahrnehmung zur Kaufalität? Jedenfalls ift zu ant- worten, was fid) unmittelbar aus Xode felbit ergiebt: daf von der Gaufalität der Dinge gelten müſſe, was von den Dingen ſelbſt gilt; ijt die Vorjtellung des Dinges oder der Subjtanz feine dee, die wir empfangen, fondern eine folche, die wir maden, jo wird es mit der Vorftellung der Urfache oder Cauſalität offenbar diejelbe Bewandtnig haben. Bft aber in den Dingen oder Wahrnehmungsobjecten ſelbſt fein noth- wendiger Zufammenhang erkennbar, jo muß die jenfualiftifch bedingte Erkenntniß folgerichtig allen Anfprud auf eine noth-

42*

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wendige und objective Geltung aufgeben und fich bejcheiden, nicht weiter zu reichen, als die Gleichförmigkeit der fubjectiven Erfahrung. Damit wendet fi der Senfualisnus zum Skep— ticismus, den Hume entjcheidet.

I. / Der Entwicklungsgang des Senfualismus. 1. Die Standpunkte.

Wir fehen, wie in Locke's Lehre drei Hauptprobleme ent- halten find, wie fie auf jenjualiftifcher Grundlage gelöft und dadurd) die drei Hauptentwiclungsformen des Senfualismus beftimmt werden: Idealismus, Materialismus, Sfep- ticismus.

Die beiden erſten Richtungen bilden eine vollkommene und ausgeſprochene Antitheſe. Was die eine grundſätzlich be— jaht, muß die andere grundſätzlich verneinen: das Daſein der Materie an ſich. Der Idealismus führt zu dem Satz: „es giebt nur Geiſter und Ideen“, der Materialismus zu dem Satz: „es giebt nur Materie und Bewegung“. In dieſen Gegenſatz ſpaltet ſich der ſenſualiſtiſche Grundgedanke, das bei- den gemeinfame Thema, daß die Elemente aller gegebenen Er- fenntnigobjecte Wahrnehmungen, Sinnesempfindungen, Ein- drüde find. Aber die Frage ift: was für Eindrüde? In der Beantwortung entzweit fid) die fenfualiftifche Lehre: ent- weder find die Eindrücde blos geijtig oder blos körperlich, ent- weder nur Vorftellungen oder nur Bewegungen, entweder durch— aus phänomenal oder durchaus materiell.

Es giebt einen Punkt, in dem beide Richtungen unfrei— willig convergiren und in einer Folgerung zufammentreffen,

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der fie gemeinfam unterliegen. Geſetzt daß uns nur Eindrüce oder Impreffionen gegeben find gleihviel durch wen, ob durch Gott oder durd) die Körper fo kann die Caufalität nur eins von beiden fein: entweder gegebene oder gemachte Vorftellung, entweder Eindrud oder Einbildung, entweder Im— prefjion oder Imagination. Wenn fie das erjte nicht ift, fo ift fie das zweite; in diefem Fall wird der Charakter einer nothwendigen Erfenntniß imaginär, d. h. zu einem Schein, den die Einbildung erzeugt, und der Senfualismus, indem er die: jen Schein erkennt, giebt fi) als Skepticismus.*)

2, Die Zeitfolge,

In der Fortbildung der Lode’fchen Lehre war der erite Standpunkt Berfeley’s Idealismus, der fhon im Yahre 1710 (ſechs Dahre nad) Locke's Tode) mit der Abhandlung „von den Principien der menſchlichen Erkenntniß“ öffentlich feſt— ſtand; der zweite war Hume's Skepticismus, der ſich in dem „Verſuch über die menſchliche Natur“ 1739 der Welt mit— theilte, aber faſt unbekannt blieb und neun Jahre ſpäter mit dem „Verſuch über den menſchlichen Verſtand“ ſich populärer zu machen ſuchte. Dann erſt kam das eigentliche Zeitalter des franzöſiſchen Materialismus, der in de la Mettrie mit der Erklärung auftrat, daß der Menſch eine bloße Maſchine ſei (1homme machine 1747) und in dem ſogenannten Syſtem der Natur (1770) mit der mechaniſchen Erklärung des Uni— verſums ſein letztes Wort ſprach. In die Zwiſchenzeit fällt Diderot's philoſophiſche Entwicklung. Das doctrinäre Mit— telglied zwiſchen dem locke'ſchen Senſualismus und dem fran—

*) Bol. damit oben S. 512—514.

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zöfifhen Materialismus bildet Condillac's Tediglih auf Die äußere Empfindung gegründete Erfenntniglehre, die Abhand- Yung von den Senfationen (Traite des sensations), die 1754 erichien.

Wir haben es hier mit denjenigen Hauptformen des Em— pirismus zu thun, welhe den Gang der Philofophie und deren Grundfragen beftimmen. Dies gilt nad) Bacon von Hobbes und Rode, nad) Locke von Berkeley und Hume, deren Unterfuhungen in die fehwierigjten Probleme des Empirismus tief eindringen und das Thema defjelben innerhalb dev Er— kenntnißlehre zu Ende führen. Die englifhe Philojophie von Bacon bis Hume bildet ein Kontinuum, welches das fiebzehnte Jahrhundert und die erfte Hälfte des achtzehnten umfaßt, das der franzöfifhe Senfualismus nicht unterbricht, fondern dem er nachfolgt, indem er auf Xode zurücdgeht und von hier aus, wenig befümmert um Berkeley und Hume, jenen dogmatifchen Materialismus entwidelt, der als Weltaufflärung die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts beherrfcht. Die franzöfifchen Philofophen diefer Zeit haben fi in ihrem Meaterialismus ficher gefühlt gegen Berkeley, deffen Lehre Teicht zu verfpot- ten und mit einem frappanten Wort abzumachen war, fie ſag— ten: „Der berfeley’iche Idealismus it Wahnfinn, aber unter allen Syſtemen am fchweriten zu widerlegen‘, niemand konnte erwarten, daß fie mit der Widerlegung Ernft machten; fie haben fich in ihrem Dogmatismus durch Hume nicht ftören laſſen, deſſen jchwierige und eindringende Unterfuchungen fie kaum Fannten. Bevor wir die Fortbildung des englifchen Sen- jualismus in Berkeley und Hume näher verfolgen, wollen wir in der Kürze den Einfluß bejtimmen, den er auf die fran- zöfifche Philofophie des achtzehnten Jahrhunderts geübt.

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3. Zeitalter und Charakter des Materialismus.

Es ift nicht zu leugnen, daß Condillac's Senfualismus den Materialismus zur nothwendigen Folge hat, daß beide in Locke's Lehre angelegt und dergeftalt begründet find, daß fie ein berechtigtes Thema durchführen. Die lode’fche Lehre mußte vereinfacht werden, zu diefem Fortfchritt boten fi), wie wir gezeigt haben, zwei Wege, der eine von beiden ift offenbar der Materialismus. Aber die Iahreszahlen ſprechen. Das Ziel, in welchen der Materialismus endet und an dem fein dog— matiſcher Charakter fcheitert, ift der Sfepticismus. Lind die- fes Ziel Hatte die englifche Philofophie nad; Locke und Ber- feley ſchon in Hume erreiht, bevor der franzöfiihe Ma— terialismus feine Entwidlung antrat. ondillac’8 Haupt: werk ericheint ein halbes Jahrhundert nach Locke's Tode und fünfzehn Jahre fpäter als Hume's Hauptwerf, Niemals ift ein „post hoc‘ fo wenig ein „propter hoc‘ gewefen, als in dieſer Zeitfolge des franzöfifchen Meaterialismus nad Hume.

Betrachten wir dieſe chronologiſche Ordnung, ſo erſcheint die franzöſiſche Philoſophie des vorigen Jahrhunderts, ver— glichen mit der engliſchen, die ihr vorausgeht, wie verſpätet, wie eine bloße Wiederholung und Vereinfachung der locke'ſchen Lehre, nachdem dieſe ihre Phaſen in England durchlaufen hat. Das würde ſo ſein, wenn der engliſche Senſualismus ihre ein— zige Vorausſetzung wäre. So iſt es nicht, fie hat auch in Frankreich felbft ihre Vorausfegungen, in der franzöfifchen Driginalphilofophie des fiebzehnten Sahrhunderts, in Descartes und Malebrande; Malebranche war Berkeley's älterer Zeitge- noſſe, wir werden jehen, wie nah beide ſich innerlich berührt

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haben*), wie ihre Differenz in cben dem Punkte Tag, den Berkeley an den Materialiften befämpfte, daß die Exiſtenz der Materie an fich gelten joll, unabhängig von uns, den vorjtel- lenden Geiftern. Nicht blos ihre Vorausjegungen, auc ihre Wurzeln haben die franzöfifchen Materialiften in dem carte: fianifhen Dualismus, der das fubitantielle Dafein der Kör— per außerhalb und unabhängig von unfern Borftellungen be: hauptet. Jeder Dualismus ftrebt zum Monismus. Um in diefem Fall den Monismus materialiftifch zu faffen, dazu be- durfte es nur der Erklärung, daß die menſchliche Seele dem menfchlihen Körper inwohnt und mit einem Organe defjelben borzugsweife communicirt, daß fie in diefem Organ ihren Sit Hat. Diefe Wendung nahın Descartes und gab damit feine Lehre der Folgerung preis, daß die Seele, die irgendwo fit, Localer, materieller, körperlicher Natur ift, ein körper— fihes Organ, ein Theil des Gehirns und außerdem nichts, daß ihre Functionen Gehirnacte find und außerdem nichts. Diefe Folgerung zog de la Mettrie. Wir fehen die Philo- fophie, die mit dem „cogito ergo sum“ beginnt, eine Rich— tung nehmen, die mit dem „l'homme machine“ endet. **) Nannte ſich doc de la Mettrie ſelbſt einen artefianer! Die Subftantialität der Materie und Körperwelt vorausgefett, die Descartes lehrte, bedurfte es, um den Materialismus in Fluß zu bringen, nur der Erklärung, daß der Geift von ſich aus leer ift, daß alle Vorftellungen von außen kommen, alfo von unferer Förperlihen Natur abhängig und durd die äußern

*) ©, da8 folgende Kapitel. **) Meine Geſchichte der neuern Philofophie, Bd. 1 (2. Aufl.), ©, 526—28, ©. 541 fig.

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Körper bedingt find. Diefe Wendung nahm der NENNE in 2ode, dem Condillac folgte.

So ijt der franzöfiihe Meaterialismus aus Descartes und Locke hervorgegangen; er ift in Rüdfiht auf beide mo- niftifch, denn jeder von beiden war in feiner Weije ein Dua— lift, Descartes in Betreff der Subftanzen, Lode in Betreff dev Wahrnehmungsvermögen. Es giebt nicht zwei Subjtan- ‚zen, fondern nur eine, diefe eine Subſtanz ift Gott, erklärte Spinoza, indem er den Dualismus der Attribute, der Geifter (Ideen) und Körper noch feithielt. Diefer Gott ift die Materie, fagen die Materialiften, nachdem fie von Descartes gehört, wie die Seele mit dem Körper zufammenhängt, und von Rode gelernt haben, daß die Ideen abhängig find von dem Körpern. Es giebt nicht zwei Wahrnehmungsvermögen, fondern nur eines, diefes eine Vermögen ift die Senjation, erklärte Con— dillac auf Grund der lode’fhen Lehre.

Den cartefianifhen Monismus giebt Spinoza, die Ab- hängigfeit der BVorftellungen von den Körpern fegt der Sen— ſualismus in Lode-Condillac: das find die Factoren, deren Bereinigung das Wejen des franzöfifchen Materialismus aus: madt. Er iſt das Product diefer Factoren: fenfualiftifher Spinozismus oder, was daffelbe heift, materialiftifcher Pantheismus. Daß die franzöfifche Philofophie des vorigen Jahrhunderts diefen Charakter in ſich trägt, erſcheint in gro- Ben und deutlichen Zügen ausgebildet in ihrem bedeutendften Denker, in Diderot, der jene Factoren nicht blos in feiner Anſchauungsweiſe vereinigt, jondern in feinem philofophifchen Entwidlungsgange aud) zeigt, wie er fie vereinigt.

Man wird es jet verftändlich finden, daß die franzöfifche Philofophie, die von Descartes und Malebrande herkommt

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und vermöge dieſer Herkunft auch ihre eigene Aufgabe als Erbtheil mitbringt, nicht plöglich in das entgegengefeßte Nager übergeht, fondern allmälig, unter dem Zufammenwirfen vie fer Motive, fi) dem Einfluffe und der Herrfchaft Locke's er- giebt, daß fie zur Löfung ihrer Aufgabe einen Senfualismus annimmt, der zweierlei ausfchließt: daß die Subitantialität der Materie und die reale Geltung der Caufalität verneint wird. Das erjte gejchieht durch Berkeley, das zweite durch Hume. Beides widerftreitet von Grund aus jener carteftanifchen und rationaliftifhen Denfweife, die der franzöfifchen Philofos phie den erjten Impuls gab, der in ihr fortwirkt und mitbe- ftimmend eingeht in den Materialismus. Wenn ich den let» tern früher „einen Nebenzweig an dem großen Baume des Empivismus, der in Bacon wurzelt“ genannt habe*), fo muß id) jeßt meinen Ausſpruch dahin ergänzen, daß diefer Materialismus aud) von franzöfifcher Familie ift und ein zwar unähnlicher, aber nicht unächter Eohn der franzöfifchen Phi- Iofophie des fiebzehnten Jahrhunderts. Dieſe Genealogie er- Härt mit der Entftehung des Materialismus zugleich feinen Charakter: er ift dasjenige metaphy ſiſche Syſtem, welches Ra— tionalismus und Senſualismus gemeinſam erzeugen. Wenn die dogmatiſche Denkweiſe ihre Grade hat, deren höchſter da erreicht iſt, wo jede Rückſicht auf die Möglichkeit der Erkenntniß voll— fommen verfchwindet, fo fteht das Syſtem der Materialiften auf diefem Gipfel des Dogmatismus. Daher darf man fich nicht wun- dern, warum die Materialiften in ihrem Glauben an das Ding an ji, welches Materie heißt, und an die Realität des mechani- ſchen Saufalzufammenhangs, den fie Weltordnung nennen, uner-

*) ©. oben ©. 514.

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fchütterlich find, unempfindlich gegen die Einwürfe Berkeley's und Hume’s, die fie fo gut als gar nicht beachten.

Anders verhalten fich diefe beiden Männer zu den Ma- terialiften, die Berkeley ausdrüdlich und direct als feine Haupt: gegner bekämpft, deren dogmatiſches Erkenntnißſyſtem Hume widerlegt. Da der franzöfifche Chorus der Materialiften ſpä— ter auftritt, ſo könnte es fcheinen, daß jene beiden Stand— punkte verfrüht find. Aber fie hatten nicht nöthig, auf die Franzofen zu warten. Der Materialismus ift fo alt wie die Philofophie, er lebt in Demokrit, Epikur, Lucrez, die ſchon Bacon allen übrigen Philofophen vorzog, er war in die eng— liſche Philofophie felbft eingetreten mit Hobbes, der ja den Verſuch machte, den Empirismus in ein metaphufifches Sy— ftem zu verwandeln, er fchien dem Senfualismus fo nahe ge- legt, daß man Rode bereits als Materialiften befämpfte, diefe Denkweiſe verbreitete fich in England und durchdrang die phi- loſophiſche Atmofphäre der Zeit.

Behntes Kapitel. Die engliſch-franzöſiſche Aufklärung.

I. Der Deismus. 1. Die englifchen Deiſten.

Wir können die VBerbindungslinien zwifchen dem englifchen und franzöfifhen Senfualismus, zwiſchen Locke und Condillac genau verfolgen und bemerken, wie die engliihe Denkweife allmälig in die franzöfifche übergeht. Sie kommen einander von beiden Seiten fo nah, daß fie zum Verwechſeln ähnlich werben. Ich will hier nicht ins Einzelne gehen, fondern mid) nur gruppivend verhalten und die Standpunkte hervorheben, die den Uebergang vermitteln.

Unter den Aufgaben, die Locke ſich und feiner Lehre ge- ſtellt, erfcheinen im Wordergrunde die Religions- und Sitten— lehre, der Deismus und die Moral, jener durch eine Reihe von Argumenten gefihert und ſchon in ein Fritifches Verhält- niß zur pofitiven Religion gebracht, diefe gefordert und an- gelegt. Die philofophifche Entwicklung in Bacon, Herbert und Hobbes hatte vorgearbeitet, ebenſo die kirchliche Ent— wicklung Englands, die feit der Reformation unter Hein- rich VIII. und der Begründung der Hochkirche unter Elifabeth

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bis zu dem Zeitalter, in welchem Locke Hervortritt, eine Reihe gewaltiger Erfchütterungen erlebt in einer fortjchreitenden Ato- mifirung der national-firhlichen Glaubenseinheit. Das Grund» thema ift der Gegenfag und Kampf zwijchen der bifchöflichen Kirche und den Puritanern. „Kein Biſchof, Fein König!“ hieß das Stichwort der Stuarts; „kein König, Fein Biſchof!“ der Gegenruf der kirchlichen Revolutionäre. Mit dem Könige fielen die Bischöfe, an die Stelle der ariftofratifchen National- firche tritt die demofratifhe mit dem Siege der Presbhteria- ner (1643), aber die Auflöfung fehreitet fort, die Indepen- denten erheben fid unter Crommell, fie wollen überhaupt feine Kirche mehr, fondern die Unabhängigkeit der Gemeinde; die Peveller wollen Feine Gemeinde mehr, welche die Glieder be- herrſcht und ſich unterordnet, fondern die Freiheit des religid- jen Gewifjens, der perfönlichen Erleuchtung, die volle religiöfe Unabhängigkeit des Einzelnen, womit der Stifter der Quäker in der Kirche von Nottingham dem Bibelprediger zurief: „Es ift nicht die Schrift, jondern der Geiſt!“ Die Reftauration, ſelbſt frivol gefinnt, führt die bifchöfliche Kirche zurüd, be- günftigt die Katholifen, verhöhnt und verfolgt die Puritaner und fcheitert zulett mit dem Verſuch einer Wiederheritellung des Katholicismus. Das Zeitalter Wilhelm’s III. bedarf in feiner kirchenpolitiſchen Richtung der grundfägliden To— leranz, und die Zeit ift gelommen, wo die perfünliche, auf Vernunfteinficht gegründete, von allem Fanatismus freie Ueber- zeugung das öffentliche Wort ergreift in den Angelegenheiten der Religion. Es ift die Epoche Xode's*), die Blüthezeit des englifchen Deismus, die mit dem Ende des fiebzehnten Jahr—

*) Bgl. oben Seite 551 flg.

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hunderts beginnt und das erjte Menfchenalter (in ihrer größ- ten Ausdehnung die erfte Hälfte) des achtzehnten umfaßt. *)

Unmittelbar auf Lode folgt der Hauptzug der Deiften von Toland, der ein „Chriſtenthum ohne alle Geheimnifje‘‘ fehrt (1696 **), bis Tindal, deſſen „Chriftenthum jo alt wie die Schöpfung‘ fein will (1730.***) in Jahr vor To- land's Schrift war Locke's „Vernunftmäßigkeit des Chriften- thums“ erjchienen, Toland ſchritt in diefer Richtung weiter und verneinte das Uebervernünftige, er gründete feine Re— (igionslehre ausdrüclic auf Locke's Erfenntnißlehre, und der erbitterte Kampf, den er gegen fich hervorrief, entzündete den Streit des Biſchofs Stillingfleet gegen Locke.

Das Thema des englifchen Deisinus läßt fih kurz fafjen: e8 gilt die vollfommene Gleichmachung der criftlichen und der natürlichen Religion durd die Zerftörung des pofitiven oder hiftorifchen ChriftentHums. Dieſes gründet fid) auf die bibli- jchen Urkunden, auf die Glaubwürdigfeit ihrer Thatfachen, die Urthatſache ift die Meffianität Jeſu, bewiejen durch die Weif- fagungen des alten und die Wunder des neuen ZTejtaments. Hier liegen die Fritifchen Aufgaben des Deismus in Rückſicht auf die Geltung des Firchlichen und biblifchen Glaubens.

Er muß fi erjtens Luft und Raum fchaffen, indem er das Recht der unbeſchränkten Glaubensprüfung, d. i. das Recht der Denffreiheit in feinem vollen Umfange vertheidigt und beansprucht, das ihm entgegenjtehende und vermeintliche Recht

*) Bol, Lechler, Gefchichte des englifchen Deismus (1841), ©. 58 fig. **) John Toland (1676 1722). Christianity not mysterious. London 1696. ***) Matthews Tindal (1656—1733). Christianity as old as the creation. London 1750.

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der Hochkirche, die entjcheidende Glaubensautorität zu fein, als ein ungegründetes und erjchlichenes zurückweiſt; er muß zweitens die Grundlagen des biblifchen ChriftentHums erjchüt- tern: den Weifjagungsbeweis und den Wunderbeweis.

Das erſte gejchieht durch Collins in feiner ,„Abhand- lung von der Denkfreiheit“ (1713*), feitdem heißen die Dei- jten „Freidenker“, in feinem Streit gegen die Glaubensauto- vität der bifchöflichen Kirche, die gerade in diefem Punkte ſich auf einen unächten Zuſatz (wie kritiſch nachgewieſen wird) des zwanzigſten ihrer Artikel beruft.

Den Weiſſagungsbeweis erſchüttert derſelbe Collins in ſeiner „Abhandlung von den Gründen der chriſtlichen Reli— gion“ (1724**), indem er Whiſton widerlegt, der in gutem Glauben die Fiction gemacht hatte, das alte Teſtament ſei in den meſſianiſchen Stellen durch die Juden gefälfcht; wenn wir das unverfälfchte hätten, fo würde ſich zeigen, daß die meffia- nifhen Weifjagungen in der Perſon Jeſu buchjtäblich erfüllt worden und der Weiffagungsbeweis ſelbſt würde mit völliger Genauigkeit einleuchten. Er Tegte fogar Hand an die Sade und wollte das unverfülfchte Tejtament wieder heritellen. Na— türlih mußte eine ſolche Stüße bei der erjten Fritifchen Be— rührung fallen, und wenn der Weiffagungsbeweis Feine bejjere hatte, jo war es übel mit ihm beſtellt. Ließ fi) aus dem

*) Anthony Collins (1676—1729). A discourse of free-thinking. London 1713.

**) Der Streit war 1709 entftanden und wurde von Collins in den Sahren von 1709 13 in Flugfchriften geführt. Seine Tekte Schrift in diefer Frage erfcheint 1724 als „An historical and eritical essay on the 39 articles of the church of England“. Collins war mit Locke in dejjen legten Lebensjahren vertraut befreundet. Vgl. Lech— fer, Gejchichte des englifchen Deismus,'S. 217—30.

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alten Teſtament, wie es ijt, der buchjtäbliche Weiffagungs- beweis nicht führen, jo blieb Feine andere Beweisart übrig als die allegorifhe. Auf diefes gebrechliche Fundament alfe- gorifcher und thpifcher Deutung wurde von Collins der Weij- fagungsbeweis gejtellt, nachdem er Whifton gegenüber mit leichter Mühe Hatte zeigen können, wie nichtig deſſen Fäl— ſchungshypotheſe und wie unmöglich fein Wiederherftellungs- verjuch war. Gollins legte die Kraft der gefammten apolo- getiichen Beweisführung in den Weifjfagungsbeweis, der mit der Geltung der Allegorie fteht und fällt. Ob er fteht oder fällt, ließ Collins unentſchieden, aber die Stellung, die er dem Weiffagungsbeweis gab, war ſchon precär nad) feiner eigenen Erflärung.*)

Wie ſich Collins zu den Weiffagungen des alten Teſta— ments verhält, ähnlich verhält fih Woolfton zu den Wun— dern des neuen. Er geht einen Schritt weiter und einen weniger weit. Die Wunder haben für ihn gar feine apolo- getiſche Beweiskraft, fondern nur die Weiffagungen, es giebt überhaupt feinen Wunderbeweis, fondern nur einen Weij- fagungsbeweis; die Wunder Haben für ihn Feine thatfächliche, fondern blos allegorifhe Geltung, fie find nicht buchjtäblich, fondern nur finnbildli zu verftehen. Er ftimmt mit Collins überein, daß der apologetijche Beweis allein auf den Weif- fagungen beruhe, daß dieſer Beweis durchaus allegoriſch ge—

*) William Whifton (1667 1752). Die oben berührte Schrift erſchien 1722: „An essay towards restoring the true text of the old testament and for vindicating the citations made thence in the N. 1 h

Dagegen jchrieb Collins die dritte feiner Hauptſchriften: „A dis- course of the grounds and reasons of the christian religion.‘ Lon— don 1724.

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führt werden müſſe, aber er ift von der Vollkraft des allegos rifhen Weiffagungsbeweifes, wie von der ſymboliſchen Be— deutung der Wunder. dburchdrungen, während er die Wunder- facta Fritifch zerfegt und in Unmöglichkeiten auflöft. Als Sym- bole haben fie Sinn, als Thatfachen haben fie feinen. Man fieht, wie der englifhe Deismus an einen Punft gefommen war, wo in feinen Augen das ganze Anfehen des Hiftorifchen Chriſtenthums, d. 5. die Frage, ob Yejus in Wahrheit der geweiffagte Meffias ift, an dem dünnen Baden der Allegorie hing, an der allegorifchen Geltung und Tragweite der Weif- fagungen, an dieſem fchon zerriebenen Bande zwifchen dem alten und neuen Teſtament. Whiſton Hatte die factifche Gel- tung der Weiffagungen unter eine Hhpothefe geftellt, die voll- kommen hinfällig war. Diefe Hhpothefe weggeräumt, blieb nur noch der allegorifche Beweis, deffen Geltung Wooljton bejaht und Collins bezweifelt. Diefer bekämpft Whifton’s Hypotheſe von der buchftäblichen Weiffagung, Woolfton be- jtreitet Collin's Zweifel an der Geltung der allegorifchen. Ein folder Zweifel erjcheint ihm als „Unglaube“ und der Buch— ftabenglaube als „Abfall“. Er macht den „Schiedsrichter“ zwijchen beiden. *)

Was bleibt noch von dem Ehriftenthum übrig, wenn durd) Toland, Collins und Woolfton die Myfterien, Weiffagungen

*) Thomas Woolfton (1669—1731). The moderator between an infidel and an apostate etc. London 1725. Seine ſechs Dis- curfe über die Wunder des Erlöfers und die zwei Bertheidigungsjchrif- ten fallen in die Sahre 1727 30. Diefe Flugfchriften erregten unge- heures Auffehen, fie wurden vielfach aufgelegt und mafjenmweife ver- kauft; Voltaire, der gleichzeitig in England war, nennt die Zahl von 30000 Eremplaren. Woolfton wurde zu hoher Geldbuße und Gefangen- haft verurtheilt, er ftarb im Gefängniß. Bol. Lechler, S. 291 308.

Fifher, Bacon. 43

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und Wunder in Abrechnung fommen? Nichts als die rein natürliche Religion, die ungefchriebene im Herzen der Men— ſchen, die jo alt ift wie die Welt, als der Glaube an das fittliche Vorbild und Leben Jeſu, als ein moralifches, hiſto— riſch entwurzeltes Chriftenthum im ausdrüdlichen Gegenfat zum Judenthum, eine Urreligion, von der man fich überreden möchte, daß fie auch das Urchriſtenthum war. Das find die Ausläufer des Deismus in Tindal, Chubb*) und Morgan, **) Das ift der Deismus, der fein Ziel erreicht hat, nämlich den vollen Gegenfag zur pofitiven Religion, zum Hifterifchen Chriſtenthum, zur hriftlichen Kirche.

2, Bolingbrofe,

Jetzt erſcheinen die pofitiven Religionen als Depranatio- nen der natürlichen Religion, die Aberglaube, Priefterbetrug, theologifche Speculation entftellt haben und zu deren Wieder- herjtellung ſich das denfgläubige Zeitalter durch feine geläu- terten Einfihten für berufen hält. Solche Entftellungen find der heidnifche Götterglaube, die ägyptifche und jüdifche Prie- fterreligion, das dogmatifche und hierarchiſche Chriſtenthum. Ueberzeugt von der Vollkommenheit und Höhe der eigenen Aufklärung, fieht die Zeitbildung auf die Dergangenheit von

*) Thomas Chubb (1697 1747). The true gospel of Jesus Christ. Lonbon 1738.

**) Thomas Morgan (+ 1743). The moral philosopher. Vol. I. London 1737, Die Schrift ift als Gejpräd) zwifchen einem chriftlichen Deiften und einem Iudenchriften gehalten und hat den Gegenfat beider zum Thema. Die oben erwähnte Illuſion ift in diefer Schrift jo ftarf, daß ihr zwei Größen, die einer dritten emtgegengefetst find, als gleich erſcheinen, nämlich der Apoftel Paulus als ein Deift, weil er ein Feind des Judenchriſtenthums war,

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oben herab, auf die dogmatifc befangene Reformation, das barbarifhe Mittelalter, das abergläubifche Altertfum, die orientalifchen Priejterreligionen, den theologiſch-metaphyſiſchen Dunst der griehifchen Philofophie u. f. f., fie fühlt fich ala Meiſterſtück und Meifterin der Geſchichte. Wie die vorneh- men Weltleute der Zeit von den niedern Ständen zu denfen und reden gewöhnt find, Ähnlich ſchätzt die fenfualiftifche Auf- klärung die religiöfen Volksgeiſter. Mit dem vornehmen Ge- ſellſchaftsgefühl mifcht fich das vornehme Bildungsgefühl, zum Diftinguirtfein gehört das Aufgeflärtjein, die Weltweisheit jteigt empor in die höheren Schichten, fie wandert aus den Studirzimmern in die Salons und geräth unter die Lords. In dem Weltton des leichten und jpielenden Räfonnements, der geiftreihen Plauderei entwidelt ſich eine gleich gewandte und fpielende, dem Zeitalter gefällige Denkart, die mit dem Pedantismus der Schulgelehrfamfeit alle Syſtemmacherei fo gründlich verachtet, daß fie auch den ftrengen und folgerich- tigen Zufammenhang, der die Lehren verfnüpft, Feineswegs nahahmungswürdig findet. Ihr Grundton ift ſkeptiſch, wie e8 die Neigung der Weltmänner mit fid bringt und das leichte durd Feine Feſſel zu beengende Räſonnement fordert. Diefe Aufklärung fann beides, den Deismus für die fchönfte Sache der Welt und nad) Umftänden für die ſchlimmſte hal- ten, die Volfsreligionen als Wahn und Priejterbetrug anfehen und doc als nothwendige Dinge empfehlen, die man nicht antaften dürfe. Das erjcheint unmöglich, wenn man aus Grund ſätzen urtheilt, aber ſehr einleuchtend und richtig, ſobald die Sntereffen und Nüslichkeitsrüdfihten an die Stelle der Grundfäge treten. Es ift das Intereffe der aufgeflärten Leute,

ih durch Wahnvorftellungen nicht betrügen und benebeln zu 43*

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laffen, lieber gar Feine Religion zu haben als eine abergläu- bifche; es ift das Intereffe der Stantsmänner, eine gehorfame Maſſe zu ziehen, wozu es Fein befferes Mittel giebt, als die blindgläubigen pofitiven Religionen, die im Intereſſe der phi- fofophifchen Aufklärung höchſt verwerflih, dagegen im In— terefje der öffentlichen Ordnung höchſt ſchätzbar und erhaltungs- würdig erfcheinen. Bett werden die grundjäglichen Freiden— fer gelegentlich als gefährliche Leute gejtempelt, die man wie eine Art „Peſt“ zu verabjcheuen habe. So nannte fie Bo- lingbrofe in feinem Brief an Swift (1724). Diefer Mann ift der Typus der Aufflärung, die nicht nad) Grund: fügen geht, fondern nur nad) Intereffen, und er jelbjt war, wie. jeine Philofophie, ein Chamäleon feiner Intereffen: als Philofoph ſkeptiſcher Deift, als Politifer Toryſt, dann Jako— bit, Siegelbewahrer in partibus unter dem Prätendenten in Frankreich, deffen Sache er verläßt, um nad) England zurüd- zufehren und gelegentlich das Zeitalter Georg's II. zu preifen. Er ſelbſt nannte fi „einen Märtyrer der Parteien”. Bon dem Zwecke der Philofophie, die blos auf den Nuten der Menjchheit zu denken und „dem Experiment als ihrer Feuer- ſäule“ zu folgen habe, fpriht er wie Bacon; von den Reli- gionen, als Werfen jtantsfluger Gefeßgebung, wie Hobbes; von der durch Wahrnehmung begründeten Erfenntniß wie Locke; von der durch äußere Sinnesempfindung begründeten Wahr- nehmung jchon wie Condillac. Diefer franzöfirende Lord macht den Uebergang von Locke zu Condillac. Die Metaphyſiker, wie Plato und Leibniz, Malebranche und Berkeley, gelten ihm als Wahn- und Afterphilofophen, als unnüte Syſtem— macher und Gubtilitätenfrämer, als Sophiften, die in der Philofophie Wolfen und Nebel machen, mit einem Wort, als

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das äußerſte Gegentheil der nüßlichen Denker. Wenn man die Nebel zerjtreut, welche Metaphyfif und Theologie um die Religionen der Welt verbreitet haben und in den politifchen Intereffen deren wirkliche Triebfedern erfennt, fo wird man die Weltgefchichte mit neuen Augen und in ihrem wahren Lichte jehen, man wird fie richtig ftudiren und fchreiben, nicht icholaftifch, jondern pragmatifch, nicht blos für Juriften und Theologen, jondern für die gebildete Welt, in Abſicht auf praftiihe und nüßliche Weltfenntnif, ohne allen gelehrten Ballaft. Das war das Thema, das Bolingbrofe in feinen Briefen „über das Studium und den Nuten der Geſchichte“, die er in Frankreich fchrieb, ausführte, womit er der Zeit- aufflärung eine neue Perfpective eröffnete und eine Aufgabe zuführte, die in Frankreich ihren Meifter fand. (Ic) verftehe unter diefer Aufgabe die Einführung der Gejchichtichreibung in die Weltliteratur, unter der Meifterfchaft, die Voltaire aus— übte, noch nicht die Kunft der wiſſenſchaftlichen, ſondern nur der amüſant belehrenden Gefchichtichreibung).

Selten die Intereffen für die Triebfedern des menſch— lihen Lebens, welche die Philofophie zu erfennen und ihnen zu dienen hat, jo meldet fih der menjchliche Egoismus als die Haupttriebfeder, und als Grundmotiv der Moral. Boling- brofe ſprach e8 offen aus und erjcheint auch hier in dem Wende- punkt, der den franzöfifchen Senjualismus vom englifhen un- terfcheidet, auf der Stelle, wo aus diefem jener hervorgeht. *)

*) Henry St. John Lord Viscount Bolingbrofe (1677 1751). Bon 1715 23 lebte er flüchtig in Frankreich auf feinem Landfiß in der Touraine, wo Boltaire ihn fennen lernte. Die acht Briefe Über Geſchichte erfchienen unvollftändig 1738, vollftändig 1752. Seine phi- loſophiſchen Werke erfchienen nad jeinem Tode 1754 (5 Bde), Am

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3. Voltaire,

Bolingbrofe’s Schüler, der feinen Vorgänger an Talent und Bedeutung weit überragt, ift Voltaire, dem die Auf- gabe zufiel, die locke'ſche Lehre in franzöfiiche Zeitbildung und Modephilofophie zu verwandeln. Mit ihm wird Frankreich) die Heimat der europäifchen Aufklärung des 18. Jahr— hunderts. Er ift der umübertroffene Meifter jener vornehm- populären Aufflärungsphilofophie, die Bolingbrofe angab, die dem effectvollen und geijtreichen Räfonnement das jtrenge und folgerichtige opfert und deshalb in allen Farben der Freiden- kerei jchillert: er befennt den Deismus und verwirft den Op— timismus, er vertheidigt den Peſſimismus und zugleich die Theodicee, er bejaht die fittlichen Zwede und verneint die Freiheit, er fordert die Vergeltung und Teugnet die Unjterb- lichkeit. In der Theologie iſt er Dualift, denn die Materie muß eine Urfache, die Majchine einen Baumeifter, die leben— digen Körper einen Schöpfer, die Menfchen einen Gott haben, den fie fürchten; wenn er nicht wäre, jo müßte man ihn er- finden jchon im Interefie des Gemeinwohls; in der Philofo- pbie iſt er Materialift, in der Erkenntnißlehre Senfualift, in der Moral wird er Determinift, denn unjere Vorftellungen find beichränft, und der Wille ift an die Vorftellungen gebunden; er denkt über die menjchliche Erkenntniß und Freiheit wie Rode;

wichtigften find die beiden erften Effays, Briefe an Pope, betreffend 1) „die Natur, Ausdehnung und Realität der menſchlichen Erkenntniß“, 2) „die Thorheiten und Anmaßungen der Metaphyfifer‘‘. Ueber Bo- lingbrofe's Erfenntnißlehre vgl. Ess. J, Sect. II.

Zu vgl. Lechler, Geſchichte des engliichen Deismus, ©. 396—408. Schloſſer, Geſchichte des 18. Jahrhunderts u. ſ. f. (3. Aufl.), Bd. 1, S. 450—76. 2

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jogar jeine Zaire läßt er von der „tabula rasa” fprechem, als ob fie den Verſuch über den menfchlichen Verſtand ftudirt hätte. In einem Punkte durhbricht Voltaire die Schranke und Illuſionen des englifchen Deismus, der auf die Gleich— machung der natürlichen und chriftlichen Religion ausgegan— gen und bei der Gleichung von Urreligion und Urchriſtenthum ftehen geblieben war. PVoltaire’8 Thema ift der Gegenfag zwifchen der natürlichen nnd offenbarungsgläubigen Religion, zwifchen Deismus und Chriftenthum, dem Deismus ohne Unfterblichfeitsglauben und dem pofitiven, biblifchen, Firchlichen Chriſtenthum in jeder Geftalt, der volle, umfaſſende, erbit- terte Gegenſatz. Diefen Kampf hat Voltaire geführt, am eifrigften in feinem Greifenalter, vorfichtig für feine Perfon, Schonungslos in der Sache, feine delenda Carthago mar die Kirche, fein ceterum censeo, womit er gern feine dertrauten Briefe ſchloß: „écrasez l'infame!“ Sein Zweifel, daß bei aller Leichtfertigfeit feiner Denkart Voltaire von dieſem Ge— genfag ernfthaft und Teidenfhaftlich ergriffen war. Er Hatte nicht die Frömmigkeit, aber den Affect des Deismus, der ihn die Kirche in der Welt zerftören und feinem Gott in Ferney eine bauen hieß, als ob er den Herren der Welt mit der In— ſchrift jener Dorffirche: „Deo erexit Voltaire’ hätte ent- ichädigen wollen. Man darf die Ehrlichkeit diefer Affecte, die er der Welt mitzutheilen wußte, nicht bezweifeln, nur darf man bei Voltaire nicht Grundfäte und deren Folgerichtigkeit fuchen, die er fowenig hatte als Bolingbrofe. Sein Haß gegen die hierarchiſche Kirche Hinderte ihn nicht, dem Papft eine Dich— tung zu widmen und mit den Iefuiten ſchön zu thun; feine Ver— achtung der Volksmaſſe, die er als Canaille anfah, und der feine Aufklärung ausdrücklich nichts wollte zu jagen haben, hin—

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derte ihm nicht, die Volfgreligion auf Tod und Leben zu be- fümpfen, obwohl er fand, daß der Maſſe diefe Religion wie angegofjen ſaß. Offenbar find die Leute, welche betrügen, flüger als die betrogenen, und die Hugen Leute den aufge- flärten verwandter als die dummen. So hatte die voltaire’fche Aufklärung eine ftille Sympathie für die Eugen Abbes, mit denen fich behaglich diniren und reden ließ, und die Über das Spiel, das fie trieben, am Ende felbft Tachten. Im Grunde ift Voltaire's Deismus nur die Theodicee feines Mlaterialis- mus, er brauchte einen Gott, der die Körper fo einzurichten wußte, daß jenes befondere Ding, das man Geijt oder Seele nennt, überflüffig war. „Ich habe einen Mann gekannt‘, jo ſchildert ſich der fast Achtzigjährige in einem Briefe an die Marquife du Deffand, „der feit überzeugt war, daß nach dem Tode einer Biene ihr Summen nicht fortdauere. Er meinte mit Epifur und Querez, daß nichts Lächerlicher fei, als ein unausgedehntes Weſen vorauszufegen, das ein ausgedehntes regiere und noch dazu fo ſchlecht. Er fügte Hinzu, es fei äußert ungereimt, Sterbliches mit Unfterblichem zu verbin- den. Er fagte, unſere Empfindungen feien eben fo ſchwer zu begreifen, wie unfere Gedanken, und es fei der Natur oder dem Urheber der Natur nicht ſchwerer, einem zweibeinigen Thiere Borftellungen zu geben als einem Wurm Empfindung. Er fjagte, die Natur habe die Dinge fo eingerichtet, daß wir mit dem Kopfe denfen, wie wir mit den Füßen gehen. Er verglich uns mit einem mufifalifchen Inſtrument, das feinen Ton mehr giebt, wenn es zerbrochen ift. Er behauptete, es jei augenfcheinlih, daß der Menſch, wie alle andern Thiere, wie die Pflanzen und vielleicht alle andern Wefen der Welt überhaupt, gemacht fei, um zu fein und nicht mehr zu fein.

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Seine Meinung war, daß diefe Vorftellungsweife über alle Widerwärtigfeiten des Lebens tröfte, weil diefe vorgeblichen Widerwärtigfeiten unvermeidlich find; auch pflegte diefer Mann, nachdem er jo alt geworden, wie Demofrit, wie diefer über alles zu lachen.” „Das ift“, jagt Strauß treffend, „der ächte uncoftümirte Voltaire, das die Mifchung von Peſſimismus, Stepticismus und Ironie, die das eigenthümliche Gepräge fei- nes Geijtes und Sinnes bildet.“ Im Uebrigen find es die Intereſſen und Nütlichkeitsrücfichten, nad) denen er bejaht und verneint. „Immer wieder diefer verwünjchte Nuten‘, bemerkt Strauß, „um deſſen willen es unferm Philofophen nicht darauf ankommt, allen feinen Vorausfegungen zu widerfpre- hen, jeinen jchönen Ausführungen gegen die Eriftenz eines Seelenwejens, gegen die Zweiheit der Subftanzen im Men— ſchen ins Geficht zu ſchlagen.“*)

Aber es find eben die Intereffen, welche feit Bolingbrofe die Aufklärung treiben, fie find deren Schwäche und Stärke, denn auch die Affecte und Leidenſchaften, der fchlagfertige und glänzende Wit, der gefuchte und erreichte Effect, die Vol—

*) Francois Marie Arouet (21. Nov. 1694 30. Mai 1778), genannt Voltaire (feit 1718), lebt in England 1736 29, am Hofe Friedrich's II. 1750—53, in Ferney 1758—78. Seine philofophifchen Schriften fallen. in die Zeit nad) der Rückkehr aus England, hauptfäd)- ich in die lette Periode von Ferney. Die frühften find die Briefe iiber England oder philoſophiſche Briefe (1734) und der metaphyſiſche Lractat geſchrieben 1735, erfchienen nad) Voltaire's Tode. Zu den fpäteren gehören das philofophifche Wörterbuch (1764), der unwiſſende Philofoph (1766), Alles in Gott, Kommentar zu Malebrande (1770), das Princip der Thätigfeit (1772), das Gaftmahl beim Grafen Bonlainvilliers (1767) und die theologifhe Polemif,

Die befte Darftellung giebt Dav. Age Strauß’ Voltaire, I Vor⸗ träge, 3. Aufl. 1872. Bol. ©. 250, ©. 252 flg.

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taire's Meifterfchaft ausmachen, kommen aus dem lebhaften Gefühl, daß es fich, für oder wider, um die Intereffen der Zeit und des Tages Handelt. Die Witterung Hat fich geändert. Nach der nüchternen und trodenen Klarheit des locke'ſchen Son- nenfcheins jammeln fich in der franzöfifchen Aufklärung die Gemitterwolfen, aus denen Voltaire’8 Funken jprühen und zu- letzt im Weltfturm die Blitze der Nevolution hervorbrechen.

I. Die Moralphilofophie. 1. Die englifhen Moraliften,

In dem englifchen Deismus fällt die Religion, nachdem fie ihre gefchichtlihen Einfleidungen abgelegt, völlig zufam- men mit der Moral, und Hier vereinigen fich die Wege der englifchen Deiften und Moralphilofophen, die beide von Locke ansgehen. Diefer hatte die Aufgabe einer fenfualiftifchen Sit- tenlehre gejtellt und dazu zwei Ausgangspunfte geboten, den einen in feiner Lehre vom menschlichen Verſtand und Willen, von der Erfenntniß und Freiheit, den andern in feiner Auf- faffung von dem rein natürlichen Verhältniß der Menſchen; jener Tiegt innerhalb ber Geiftesentwidlung, diefer in dem menſchlichen Naturzuftande, der ihr vorausgeht; der erſte ent- det fich in unferer Einficht und Erkenntniß d. 5. in gemachten Begriffen, der zweite in unferen Neigungen und Trieben d. 5. in natürlichen Empfindungen, Beide Standpunkte begründen eine rtatürliche Moral, aber der zweite ftimmt mit der fen- jualiftifchen Richtung befjer überein, indem er die Sittenlehre von dem natürlichen Willensvermögen ausgehen läßt, wie Rode die Erfenntniflehre von dem Wahrnehmungspermögen.

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Iſt der Wille determinirt dur die Vorjtellungen, fo folgt das richtige Wollen und Handeln aus dem richtigen Er- fennen, und alle Freiheit befteht darin, daß wir die richtige Einfiht der faljchen, die befjere der jchlechteren vorziehen. Das freie und fittliche Handeln tft das vernunftgemäße, das der richtigen Erkenntniß conforme; gute Handlungen find, praf- tif) genommen, wahre Sätze, fchlechte und verkehrte das Ge: gentheil. Wenn wir Dinge und Menfchen fo behandeln, wie e8 die richtige Einficht in deren Natur und Verhältniß mit fi bringt, fo Handeln wir richtig und gut. So fällt das fitt- fihe Handeln zufammen mit dem vernunft- und naturgemä- Ben. Unſere höchſte Vernunfteinficht ift die Erkenntniß Got— tes, aus der die Einficht in unjere Abhängigkeit von und un— fere Verpflichtung gegen Gott unmittelbar hervorgeht. Wir handeln im höchjten und umfaffendften Sinne gut, wenn wir (diefer Erfenntniß gemäß handeln d. 5.) die religiöfen Pflich- ten erfüllen. So füllt die Moral zufammen mit der natür- fihen Religion und wird als folche behandelt. Das ift der Standpunkt, den Clarke und Wollafton vertreten. *)

Rode Hatte den menfchlichen Naturzuftand in einer Weife beitimmt, die Hobbes entgegengefegt war. Nach Hobbes find die Menſchen von Natur Feinde, beherricht allein dur den Naturtrieb der Selbfterhaltung und Selbftliebe, ohne jedes Gegengewicht von innen heraus; nad Lode find fie von Na- tur Brüder, die mit der Selbftliebe aud) das Gefühl der na-

*) Samuel Elarfe (1675— 1729). A discourse concerning the being and attributes of God, the obligation of natural religion etc. London 1705—6.

William Wollafton (1659—1724). The religion of nature. Lon— bon 1724.

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türlihen Gleichheit und Zufammengehörigfeit Haben. Dort ift die wechjelfeitige Grundneigung Antipathie, hier Sympa— thie; dort giebt e8 nur eigennüßige, bier auch wohlwollende und fociale Neigungen, uns eingeboren, nicht als Marime oder Grundſatz, fondern als Trieb und Inſtinct. Wie es zwei Wahrnehmungsvermögen giebt, Senfation und Reflexion, jo giebt e8 zwei Grundtriebe, Selbjtliebe und Wohlwollen, Egoismus und Sympathie. Yeder ift von Natur ein Indivi— duum für fih und ein Glied der großen Menfchenfamilie, jeder fühlt fich als beides, daher die beiden Grundrichtungen menſchlicher Empfindung. Nichts ijt gut als die Neigung, als die Art unferer Neigung, und da wir zwei verfchieden- artige Grundneigungen haben, welche die Natur in jedem an- gelegt und vereinigt Hat und nur die Unnatur trennt, jo muß, was wir gut umd fittlich nennen, in der Bereinigung beider, in der richtigen Art diefer Vereinigung enthalten fein, nicht in einer Fünftlichen, erjt dur) Bildung erworbenen, fondern in einer unwillfürlichen, welche die menjchlihe Natur ſelbſt for- dert und giebt. Wir haben einen natürlichen Sinn für bie richtige Neigung: das ift der moralifhe Sinn. Unwillkürlich billigen wir die wohlwollenden, edelmüthigen, uneigennüßigen Regungen und verwerfen deren Gegentheil: das ift das mora- liſche Urtheil. Auf diefe der innern Wahrnehmung unmittel- bar einleuchtende Thatſache des moralijchen Gefühls gründet fih der moralifhde Senjualismus in feinen beiden Ent- widlungsformen. Da die Herridaft der Selbſtſucht ausge- ſchloſſen iſt, ſo kann die Vereinigung von Selbjtliebe und Wohlwollen nur jo bejtimmt werden, daß entweder beide har- moniren und unfere Empfindungs- und Handlungsweije gleich- ſam in deren richtiger Mitte fteht, oder das Wohlwollen herricht,

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das uneigennüßige, uninterejfirte Wohlwollen, die aufopferungs- freudige Hingebung. Im erjten Falle ift e8 die richtige Pro- portion unferer Grundtriebe, die das fittlihe Maß ausmacht, das ebenfo unmittelbar gefällt als die ſchönen Verhältniffe der Körper und Töne, die Sittlichfeit wird zur Schönheit des Empfindens und Handelns, zur fittlichen Anmuth und Grazie, der moralifhe Sinn ordnet fid) dem äjthetifchen Gefühl unter, das moralifche Urtheil dem Geſchmack; wogegen im zweiten Falle erflärt wird, daß der natürliche und eigenthüm— liche Charakter menjchliher Tugend nicht äfthetifcher, fondern rein moralifcher Art ift. Beide Standpunkte berufen fich auf unfere elementare Empfindung, auf den angeborenen mora- liſchen Sinn der menfchlichen Natur, auch der zweite will fich jenfualiftifch erproben, durch die Erfahrung, daß von zwei wohlwollenden Handlungen, deren eine nicht ohne Selbitliebe geichieht, während die andere völlig uninterreffirt ift, dieſe lettere dem einfachen und natürlichen Sinn unmittelbar beſſer gefällt. Den Standpunkt der äjfthetifchen Moral entwickelt Shaftesbury und löft daraus jene heitere, in der eigenen Tugend und dem Genuß der Sympathie vollfommen glückliche Gemüthsverfaffung, die feinen Deismus bejtimmt und ihm die Wahrheit der optimiftischen Weltanficht ebenfo einleuchtend darthut, als die Unmwahrheit jeder abergläubifch befangenen, durch Fanatismus und Schwärmerei verdüfterten Religion. *)

*) Anthony Afhley Cooper Lord Shaftesbury (1670 1713). Seine erfte Schrift Über Berdienft und Tugend, die jchon feinen Stand- punft enthält, gab Toland heraus (1699). Die Sammlung feiner Auf- fäße find Die berlihmten Characteristics of men, manners, opinions, times. 3 vol. 1711.

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Die Sittenlehre auf Grund des rein moralifchen Gefühls giebt Hutcheſon.“) Dieje ganze Entwidlung läuft: Hobbes und feinem Materialismus zumider.

2. Mandeville.

Indeffen wirft ſchon das Gegengewicht. Es ift leicht, die focialen Neigungen der Menjchen auf deren Selbftliebe zurückzu— führen, die Wohlfahrt der Gefellihaft auf den Antagonismus der Interefjen, diefen auf den Eigennuß der Individuen. Yet gilt der Egoismus als die einzige Triebfeder der menfchlichen Natur und Gefellichaft, auch ift Fein Grund darüber elegifch zu Klagen, im Gegentheil, es ift gut, daf es fo ift, dieſe Triebfeder ift als die natürlichite auch die wohlthätigjte, denn fie bringt die menjhlichen Kräfte in Bewegung und Wetteifer, während das ungemifchte Wohlwollen, um feinem wehe zu thun, die Hände in den Schooß legt und verhungert. Bolingbrofe nannte die deiftifchen Freidenker eine Peſt der Gefellfchaft. Achnlich ver- hält fih Mandeville zu den Moraliften, er findet fie ge- meinschädfich und fett der Tugendlehre Shaftesbuny’s feine „DBienenfabel“ entgegen, die mit den Laftern der einzelnen das Gemeinweſen floriren und durch die Tugenden aller ver- fümmern läßt. Hier ift der Uebergang zum franzöfifchen Sen— jualismus auf dem Gebiete der Moral. Wenn wir von der englifchen zur franzöfifchen Aufklärung auf dem Wege der Deijten fortjchreiten, fo treffen wir auf der Grenzlinie Bo— lingbrofe, einen Engländer, den fein Exil in Frankreich an-

*) Francis Hutchefon (1694—1747). Inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue, 1720. Essay on the nature of passions and affections, 1728. A system of moral philosophy. 2 vol. (op. post.).

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fiedelt; wenn wir daffelbe Ziel im Wege der Moraliften fuchen, jo erjcheint Mandevilfe auf der Grenze, ein (in Holland) ges borener Franzofe, der fi in England einbürgert. ‘Der nädhjite Schritt über ihn hinaus führt nad) Frankreich. *)

3. Helvetins.

Die Senfation als Princip aller Erfenntniß, der Egois- mus als Princip aller Moral: diefe beiden Süße fordern ſich gegenfeitig und tragen gemeinfam den franzöfifchen Senfua- lismus.

Die Selbſtliebe macht die geſelligen Neigungen, die ſociale Welt und deren Wohlſtand, das völlig uneigennützige Wohl— wollen macht nichts, es iſt der Tod alles Wetteifers und damit der Tod aller Thätigkeit überhaupt, eine Lebensverödung, ebenſo langweilig und unintereſſant als unintereſſirt. Es wird jetzt nicht ſchwer fein zu zeigen, daß die Selbſtliebe auch die Spring- feder des Geiſtes ift; fie ift das rührige und treibende, das immer reizende und wirkſame Brincip, das mit dem gejelligen auch das geiftige Leben und deſſen Wohlftand erzeugt, fie macht nicht blos die Gefellfchaft reich, fondern auch die Indi— piduen geiftreih. Denn was ift der Geift anders als die Geſellſchaft unferer BVorftellungen? Wenn wir nur wenige Ideen und immer diefelben haben, fo ift das geiftige Leben arm, dürftig, langweilig, wir langweilen uns und andere. Das ift ein elender unerträglicher Zuftand, um fo peinlicher,

u

*) Bernard de Mandeville, geb. 1670. The fable of the bees or private vices public benefits with an essay etc. London 1723. Die erfte Ausgabe, die fein Auffehen erregte, erſchien als kleines Ge- dicht auf einem Flugblatt 1714.

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je energifcher ſich das Selbftgefühl regt und die Selbftliebe treibt. Hat diefe Feder ihre Spannkraft verloren, ſo ſteht das Räderwerk des Geiftes ftill. Um fich nicht zu Tangwei- len, ift das einzige Mittel, die Vorftellungen zu vermehren, neue zu erfinden, originelle zu machen, Einfälle zu haben, folhe, die ung und andere intereffiren. Wenn man nicht in- tereffirt ift, fann man nicht intereffant fein. So ijt e8 bie Selbftliebe, die uns nicht blos focial, fondern auch fpirituelf macht, fie erzeugt den Effect, den die Franzojen „esprit“ nennen und den als jolchen Helvetins der Welt erklärt Hat. Er Hatte damit wirklich, wie damals eine Franzöfin von ihm fagte, das Geheimmiß feiner Zeit ausgefprochen. Gleichzeitig mit Helvetius’ Schrift „vom Geift“, erſchien Condillac's „Ab— handlung von den Senfationen”. Wie Voltaire zu Boling- brofe fteht, ähnlich verhält fich Helvetins zu Mandeville.*) Wir ftehen am Ausgangspunfte des franzöfifchen Sen— fualismus, der, wie fehon gezeigt, in die Heerftraße der Ma— terialiften einlentt. Hobbes lebt wieder auf gegen Locke.

III. 3. 3. Ronfean.

Aber auch in der franzöfifchen Aufklärung follte die Ge— genwirfung nicht ausbleiben, die den moralifchen Senfualis- mus wieder erhob und an Voltaire, Helvetius, den En- chflopädiften und Holbachianern rädhte; fie fam von einem Manne, den die Bewegung der Philofophie auf feiner Rebens-

*) Claude Adrien Helvetins (1715— 71). Sein Hauptwerf De Vesprit erſchien zu Paris 1754.

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fahrt ergriffen, die ihn mit Condilfac und Diderot zufammen- geführt, dann ifolirt und vereinfamt Hatte, und dem mitten in dem materialiftifchen Denken und Treiben des Zeitalters wie eine Miffion die Aufgabe zufiel, in Frankreich der Idealiſt des Senfualismus zu werden. Er wurde es dadurch auch für die Welt. Diefer Mann, einzig und umvergleichlich in feiner Art, ift 3. 9. Rouffeau, der geborene Gegner Boltaire’s und der Materialiften. Was Rode von Natur und Staat, von der naturgemäßen Entwicklung und Erziehung des Men- Ihen, was der Deismus von der Religion, fo alt wie die Schöpfung, was die Moralphilofophie von der Tugend der Sympathie als dem Grundzuge des Herzens gelehrt Hatten: das alles geftaltete fich in dem einfiedlerifchen Rouſſeau zu Idealen, denen er träumerifch nachhing, die er ſich ausdichtete in jchneidendem Contrafte zu der verivrten, von der Natur ab» gefallenen, durch Bildung verdorbenen Welt, die er vor fidh ſah und der er feine Naturideale, feine idylliſche Welt ver- fündete wie das verlorene Paradies. Sein Wort, ergriffen und feurig wie feine von der Phantafie infpirirte Empfindung, ſchneidend und ſcharf wie jener Contraft, der ihn verdüfterte und hob, traf die Herzen der Welt und zündete. Es hieße zu wenig fagen, wenn man in Roufjeau nur einen Deiften und Moralphilofophen jehen wollte, der den englifchen Sen— fualismus gerade in den Punkten, worin die franzöfifche Auf- flärung abgewichen war, wieder auffaßte und zur Geltung bradte. Damit würde feine Eigenart, die Neuheit und der Zauber feiner Darftellung, feine Macht über das Zeitalter nicht erflärt fein. Er war ein Naturdichter, den die Phi- loſophie zu ſich rief, nicht einer jener Iehrhaften Poeten, deren es in jenem Zeitalter viele gab, die ein un Thema Fiſcher, Bacon.

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in Verſen vortrugen; er war ein Dichter durch die Gewalt und Leidenfchaft feiner Empfindung, durd) die Art, wie er die Natur genoß und entbehrte, wie er nad) Freundihaft und Liebe dürftete, als ob fie die tiefften Bedürfniffe des menſchlichen Lebens und ihre Befriedigungen die Löfung des Welträthfels, als ob in der Seelenharmonie die Weltharmonie erfüllt wäre. „Zodte Gruppen find wir, wenn wir haffen, Götter, wenn wir Tiebend uns umfaffen, lechzen nad) dem ſüßen Feſſel— zwang”: diefe Worte unferes Schiller (aus feiner von dem Genfer Philofophen ergriffenen Iugendzeit) Jagen, wie Rouſ— fenu empfand und unter feinem Einfluffe die Welt. Es giebt Empfindungen und Gemüthsbewegungen in der menjchlichen Natur, weldhe die Theorie der Materialiften nicht verjtehen kann und darum verneinen oder für illuforifch erklären muß und die doch find und ſich nicht wegreden laſſen; dieſe von der materialiftifchen Aufflärung der damaligen Welt unver- ftandene und verleugnete Menfchennatur brach in Rouffeau durch und machte fi) Luft mit empörter Gewalt wie nad) einer langen Unterdrüdung, fie fam nicht aus dem Studirzim- mer in der Form der Abhandlung und Theorie, die ihre Ar- gumente vorbringt, fondern wie ein neuer Glaube, deffen Teß- tes und unumftößliches Wort heißt: ich bin es ſelbſt! Da- her war auch Rouffeau’s letztes Wort er felbft, feine eigene Perfon, fein Leben, feine Selbitbefenntniffe, deren Glaube und Thema war: „jo wie ich hat noch niemand empfunden!” Ich habe e8 hier nicht mit einer Analyfe feiner Gemüthsverfaf- jung und feines Charakters zu thun, die eine ber lehrreichſten und jchwierigften Aufgaben enthält und, foviel ic) fehe, noch nicht geleiftet ift, fondern blos mit feinem Standpunkte. Es war in dem Manne, den eine elende Erziehung und abentener-

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fihe Schidfale früh in die Irre getrieben hatten, vieles von Grund aus verdorben, e8 war viel Selbittäufhung in jeinem perfönlichen Zugendgefühl, felbit in der Scham, womit 'er feine Sünden befannte. Aber feine Empfindung der morali- ihen Natur war ächt und originell, fonft wäre er auch nie der gewaltige und weltbewegende Schriftfteller geworden. Daß er die Natur Findlich empfindet, wie eine Mutter, an beren Herz er fich flüchtet, unter deren Schuß er fi) wohl fühlt, wie ein Geretteter, wie ein Verfolgter im unnahbaren Afyl, das macht den Grund aud) feines Glaubens, der fih im „Be— fenntniß des ſavoiſchen Geiftlichen”“ Religion nannte und der Zeitaufflärung ebenfo thöricht als der Mutter Kirche frevel- haft und gefährlich erjcheinen mußte. Auch ift dieſes Be— fenntniß gegen die pofitive Religion wirkjamer gewefen, als die ganze materialiftifche Aufklärung, weil es Gläubige machte. Die Kirche verträgt weit eher, daß man Gott Teugnet als daß man an ihn glaubt als den Vater der Welt, aber der Kirche das Mutterreht auf den Menſchen beſtreitet und es überträgt auf die Natur. Dieſer Mutter die abtrünnigen Kin— der zurüczuführen, war der Grundgedanke feiner Erziehungs- lehre, die Rouffeau in feinem „Emile“ wie einen Roman gab*), worin er fid) als Erzieher erlebte, wie er ſich in ber Phantafie das Idyll vom Genfer See fhuf, worin er das Glück der Liebe und Freundichaft genoß, das ihm die Wirk— Tichkeit verfagte. Aus den Menfchenkindern der Mutter Na- tur Bürger eines Staats zu machen, war die Aufgabe und der Grundgedanke feiner Staatslehre. Durch einen neuen Staat und eine neue Erziehung follte.jener Gegenfag von Na-

*) S. oben ©. 648—45. 44*

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tur und Eultur wieder ausgeglichen und gelöft werden, den er auf die Tagesordnung gebracht und mit deffen greller Er- leuchtung er feine Laufbahn begonnen Hatte. Die Intereffen, die in Roufjeau ihren Wortführer gefunden, find erfüllt von Groll über die Welt, und weit mehr als bei den andern Schriftftellern der Zeit, die von den Intereſſen der Auf- Härung bewegt find, fühlt man in der Feuerkraft feiner Worte, was er jelbjt prophetifch vorausjah: daß das große Gewitter der Welt im Anzuge ift und nahe dem Ausbrud.*)

*) Jean Jaques Rouffeau (28. Juni 1712— 4. Juli 1778). Seine öffentliche literariſche Wirkſamkeit fällt in die Jahre von 1750—62, da- von ift die fruchtbarfte Zeit, worin die drei Hauptwerfe verfaßt werden und erjcheinen, Roufjeau’s Aufenthalt in der Hermitage und Montmorench (1756—57—62). Seine glüdlihften Jugendjahre, die auch die philo- ſophiſchen Studien im fich begreifen, verlebt er in Chambiry und dem benachbarten Les Charmettes (1732 40). Die beiden erften Abhand- [ungen waren Gelegenheitsjhriften, veranlaßt durch Preisfragen der _ Akademie non Dijon über den Einfluß der Wiffenichaften und Künfte auf die Veredlung der Sitten und über die Urſachen der menjchlichen Ungleichheit. Die Afademie hatte gefragt, ob die Wiederherftellung der Wiſſenſchaften und Künfte dazır beigetragen habe, die Sitten zu ver- edeln? Rouſſean frug, ob der Fortfchritt der Wiffenfchaften und Künfte dazu beigetragen habe, die Sitten zu veredeln oder zu verderben? Die Schrift wurde mit dem Preiſe gefrönt (1751) und erregte das Auffehen der Welt. Die zweite (micht gefrönte) erſchien 1754. In der Her- mitage jhrieb er „La nouvelle Heloise”, das Bud) erfchien 1761 und machte eine ungeheure Wirkung, dann folgte der „Contrat social‘, zwei Monate fpäter der „Emile“ (1762), nad) der Anficht Rouſſeau's ſein beftes Buch. Die öffentlichen Autoritäten waren anderer Meinung. Das Parlament decretirte einen Verhaftsbefehl gegen den Autor (9. Juni 1762), der Erzbiſchof von Paris jchleuderte dagegen einen Hirten- brief, die Genfer Behörden Tiefen die Schrift verbrennen. Bor feiner fiterarifchen Periode lagen die Wanderjahre des Irrfahrers (1727 40), jet folgten die Wanderjahre des Flüchtlings, verdüftert dur zunehmenden Argwohn, der in allen Berfolgungen Privatcomplote ſah. Er flüchtete aus dem Canton Waadt (Nverdun) nad Neufchatel (Moi-

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Ich habe an diefer Stelle die Gegenden der englifch-fran- zöfifchen Aufklärung, die fi) von Lode bis zu Rouſſeau er- jtreden, nur muftern und den perfpectivifchen Anblick derjel- ben geben wollen und fehre jett in den Entwidlungsgang des englifchen Senjualismus zurüd, um die Standpunkte aus- einanderzufegen, die er noch vor ſich Hat.

tiers-Travers 1762—65), auf die Petersinjel im Bieler See, nad) Biel, zulegt nad England, wo ihm David Hume ein Ajyl bereitete. Hier febt er einige Monate zu Wooton in dev Grafſchaft Derby (1766). Nach weniger Zeit zerfällt er aus ungerechtem Verdacht mit Hume, er fehrt nad) Frankreich zurück (Mai 1767), lebt als Flüchtling unter frem- den Namen im Schloß Trye, einer Beſitzung des Prinzen Conti, jeit 1770 in Paris, die legten Monate in dem Girardin’shen Schloß Er- menonville, wo er den 4, Juli 1778 ftirbt. Im England beginnt er jeine „Confessions“ und vollendet fie vor feiner Rückkehr nad; Paris (1770), fie reihen bis zum Jahre 1765 und fegen fich fort in den „Reveries du promeneur solitaire“ und „Rousseau juge de Jean Jaques“. Sein Gemüth war völlig verbüftert, feine häuslichen Ber=: hältniffe elend zerrüttet, er hatte den Einfall, jein letztes Selbftbefennt- ni auf dem Altar don Notre-Dame niederzulegen. Daß er fish felbft getödtet, ift eine Sage, die Frau von Stall zehn Jahre nad) feinem Tode aufgebradht Hat. (Bgl. I. 3. Rouſſeau's Leben von Theodor Bogt. Wien 1870).

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Elfles Kapitel. George Berfeley.

L Berkeley's Stellung. 1. Verhältniß zu Locke und Malebrauche.

Die Erſcheinung Berkeley's unter den engliſchen Philo— ſophen wird gewöhnlich unrichtig aufgefaßt; man iſt ſo über— raſcht, mitten unter den ausgeprägten Realiſten einen, wie es ſcheint, übertriebenen Idealiſten zu finden, daß man ſich ver- ſucht fühlt, ihm eine ganz andere philofophifche Stellung anzuweijen, als er vermöge feiner geſchichtlichen Herkunft einnimmt. Selbft einer unferer bedeutendften Gejchichtichrei- ber der neuern Philofophie glaubt dem Standpunkte Berfe- ‚ley’8 nur dann gerecht werden zu können, wenn er ihn aus der Reihe der englifchen Philofophen unter die deutjchen Me— taphyfiker verfett und mit Leibniz jo zufammenftellt, als ob er dejjen Vollendung wäre.*) Indeſſen ift Berkeley nicht der

*) 3. €. Erdmann’ Verſuch einer wiſſenſchaftlichen Darftellung der Geſchichte der neuen Philofophie (Bd. 2, 2. Abth., ©. 173 flg.) und

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folgerichtige Leibniz, fondern der folgerichtige Rode; er ift, mit Locke verglichen, nicht weniger, fondern mehr fenfualiftifch. Und gerade darin entdedt ſich der dauernd wichtige und lehr- reiche Charakter derjenigen Philofophie, die man als „berke- ley’ichen Idealismus‘ bezeichnet. Seine geihichtliche Stellung liegt zwifchen Rode und Hume, feine gefchichtlichen Vorbe— dingungen, unter deren Einwirkung fi) Berkeley's Stand- punft ausgebildet hat, find Bacon und Lode, Descartes und Malebranche; die Gegenfäte, die er vorfindet und befäimpft, erftrecfen fi) von dem Deismus der englifchen Freidenfer bis zu jener materialiftifchen und atheiftifchen Richtung, deren An- fat Berkeley vor fih fah, deren Vollendung aber in der franzöfifhen Philofophie des vorigen Sahrhunderts noch nicht in den Horizont feiner Schriften und kaum in den feines Zeitalters fällt.

Ohne Berkeley's Stellung umter den Philofophen, die von Bacon und Rode herkommen, irgendwie zu beeinträchtigen oder zu verrüden, Täßt fich feine Lehre mit Denkweiſen ver- gleichen, die in der entgegengejeßten, durch Descartes beftimm- ten Reihe ihren Pla haben. Nur liegt der nächjte Berglei- chungspunkt nicht zwifchen ihm und Leibniz, fondern zwifchen ihm und Malebrande Nicht blos verhält ſich Berkeley ähnlich zu Locke, wie Malebrandhe zu Descartes, fondern es trifft fi, daß beiden dafjelbe Problem zufällt, daß beide die- jes Problem in einer Weife löfen, bei. welcher der Berührungs- punkt eben fo charakteriftiich ift als der Differenzpunft. Ver—

Grundriß der Gefchichte der Philojophie (Bd. 2, S. 210—18). Die obige Bemerkung bezieht ſich nur auf die Stellung, die im Entwid- lungsgange der neuen Philofophie Erdmann der berfeley’schen Lehre giebt, nicht auf die Art, wie er deren Berhältniß zu Locke erörtert.

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ftehen wir unter Weltanfhauung unfere Sinnenwelt d. h. un- ſere Vorftellung der Körper- oder Außenwelt, eine gemeinjame Borftellung, die wir nicht willfürlich machen, fondern unwill- kürlich haben, fo mußte in der Entwidlung der cartefianifchen Grundgedanken ein Standpunkt kommen, welcher erklärte: „dieſe unfere Weltanfchauung ift nicht durch ung, fondern nur durch und in Gott möglich, wir fehen die Dinge in Gott‘. Dies war der Kern der Lehre von Malebrandhe.*) Zu einem ähnlichen Refultat kommt Berkeley. Hier liegt der Berüh— rungspunft beider. Aber die Art der Begründung ift bei jedem eine ganz andere. Weil die Materie, deren Modifica- tionen die Körperwelt ausmacht, grundverfchieden ift vom menjch- lichen Geift als einer blos denfenden Natur, darum ift die Idee der Materie oder Ausdehnung (auf welche die Vorjtel- lung der Körperwelt d. h. unfere Weltanfchauung fi) gründet) nur in und durch Gott möglih, darum fehen wir die Dinge in Gott. So denkt Malebrandhe, die Art feiner Begründung ift ächt cartefianifch. Weil die Materie eine völlig abftracte und darum unmögliche Vorftellung ift, weil es unabhängig bon unferen wirklichen Borftellungen d. h. Wahrnehmungen feine vorftellbaren, wahrnehmbaren, wirklichen Dinge giebt und geben kann, darum giebt e8 überhaupt Feine Dinge an ſich außer uns, Feine Körper an fich, Feine materiellen Subftan- zen, feine Materie als Ding an fih, darum ift die Materie überhaupt unmöglich, die Körperwelt daher ohne Reſt iden- tifch mit der Weltanfhauung d. h. mit der Vorftellungswelt, die wir nicht gemacht haben, fondern uns eingeprägt finden

*) Bgl. meine Geſchichte der neuen Philofophie, 2. Aufl., Bd. 1., 2. Abth., S. 28-81. Insbeſ. ©. 69-72,

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(nicht durch die Materie, fondern) durd) Gott. So denft Berkeley, er denkt ächt fenfualiftifch unter den Vorausfegun- gen, die Locke begründet Hat. Hier ift der Differenzpunft zwifchen ihm und Malebrande, er verneint, was diefer be- jaht: die Realität dev Materie, unabhängig von unferer VBor- jtellung! Malebranche ift zu diefer Bejahung genöthigt durch die dualiftifchen Grundfäge Descartes’, Berkeley) fieht ſich zu diefer Berneinung genöthigt durch die ſenſualiſtiſchen Grund— füge Locke's. Worin diefe Nöthigung bejteht, das Band zwi— Then diefer DVerneinung und der jenfjualiftifchen Denkweiſe: gerade darin liegt das Thema der berfeley’schen Lehre und deren idealiftifcher Charakter.

2. Vorläufer. Norris nnd Collier,

Aus dem Gefihtspunkt des menjchlichen Geiftes hat Ma— lebranche das Dafein einer äußeren oder materiellen Welt weder verneint noch verneinen können. Stellen wir die Frage dagegen unter feinen theologischen Gefichtspunft, jo verhält fi Gott zur Welt, wie die Idee der Ausdehnung zur wirk— lichen Ausdehnung, welche beide, genau bejehen, fic in nichts unterfcheiden, jo fällt die reale Körperwelt mit der göttlichen Borjtellung der Körperwelt, alfo auch mit der unfrigen (als welche in Gott ift) ohne Reſt zufammen, und es kann daher von Malebrande’s theologiſchem Grundgedanken folgerichtig zu dem „Beweis von der Nichteriftenz oder Unmöglichkeit der äußern Welt“ fortgefchritten werden. Auf diefem Wege ift Berkeley nicht zu feinem Sat gekommen, wohl aber zwei feiner Landsleute und älteren Zeitgenoffen, die als feine Vor— gänger gelten dürfen, nicht als feine Vorbilder oder Führer: Sohn Norris, der fchon im Jahre 1701 den „DVerfuch zu

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einer Theorie der idealen oder intelfigibeln Welt“ gab und dadurh Arthur Collier anregte, der feine auf Malebrande gegründete Lehre von der Unmöglichkeit einer äußern Welt fhon 1703 feftgeftellt Hatte, fünf Jahre fpäter niederfchrieb und nad) fünf Jahren (1713) als „Clavis universalis” oder „Neue Unterfuhung ber Wahrheit” in die Deffentlichkeit brachte.*) In demjelben Iahre erfchien die letzte der grund- legenden Schriften Berkeley’s, deſſen Unabhängigkeit von Col- Vier damit feftfteht. Sein Ausgangspunkt ift Locke, Collier's Ausgangspunkt ift Malebranche.

II.

Kebensumriß.

George Berkeley, aus englifhem Geſchlecht, ift in der irischen Grafſchaft Kilfenny zu Kilerin den 12. März 1684**) geboren und den 14. Januar 1753 zu Drford gejtorben. Seine erjte Periode umfaßt die Jahre von 1684— 1713 und wird durch das Jahr 1700 in zwei Abjchnitte getheilt, der erite enthält die Erziehung im Elternhauſe und die Schuljahre in Kilfenny, der zweite die Studienzeit auf dem Zrinitäts- colfegium zu Dublin als Schüler (1700—1707) und als Ge- nofje (Fellow). Hier lernte Berkeley aus ihren Schriften

) John Norris, Essay towards the theory of the ideal or in- telligible world. 2 vol., 1701.

Arthur Collier, Clavis universalis or a new inquiry after truth, being a demonstration of the non-existence. or impossibility of an external world. 1713.

*#*) Nach Fraſer's Memoir of Berkeley (1864) ift Berkeley's Ge- burtsjahr 1685. |

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Bacon und Locke, Descartes und Malebrandhe kennen und entwicelte die nach ihm genannte Lehre. Sie ftand feit, als er Dublin verließ, um nach London zu gehen (1713). Er hatte bereits die beiden erjten Hauptfchriften feiner Lehre ver- Öffentlicht, den „Verfud zu einer neuen Theorie vom Sehen (1709) und „die Prineipien der menſchlichen Erkenntniß“ (1710); in London ließ er die dritte erfcheinen, feine „Dia— loge zwifchen Hylas und Philonous“*) (1713).

Der zweite Lebensabfchnitt reiht von 1713 34. Im diefe Zeit fallen drei Reifen, die er von London aus unter- nahm, von denen er nach London zurückehrte. Auf der er- ften begleitete er als Secretär und Kaplan den englifchen Ge- fandten Graf Peterborough nad) Frankreich, Italien und Si- cilien (November 1713 —Auguft 1714); nachdem er zu Lon- don eine ſchwere Krankheit überftanden, begleitete er auf ei- ner zweiten Reife (1715—20) den Sohn eines irifchen Bi— ſchofs ebenfalls nach Franfreih, Italien und Sicilien. Im Paris lernte er Malebrande in feiner Letzten Krankheit Ten- nen; die eingehende philofophifche Unterredung, welche beide Männer hatten und die den Differenzpunft ihrer Lehren be- traf, joll den bruftleidenden Malebrandhe zu heftig angeftrengt und feinen Tod (13. October 1715) bejchleunigt haben. Ita— lien und Sicilien feffelten Berkeley's Intereſſe, er Hatte die Abfiht eine Beſchreibung Siciliens zu geben und dazu Ma- terialien gefammelt, die auf der Rückkehr verloren gingen. Seine letzte Reife galt der Ausführung einer civilifatorifchen

*) An essay towards a new theory of vision (1709). A trea- tise concerning the principles of human knowledge (1710). Three dialogues between Hylas and Philonous in opposition to sceptics and atheists (1713).

700

Idee, der Errichtung von Miffions- und Erziehungsanftalten auf den Bermudasinfeln, ein Project, das er lange gehegt und ausführlich entworfen, wofür er Anhänger geworben, die Theilnahme Georg’s II. erregt und von Seiten des Mini- jteriums das Verfprechen einer Geldunterftütung erreicht Hatte. Sp ging er, eben verheirathet, im September 1728 nad Rhode- Island und wartete Hier drei Jahre auf die verſpro⸗ chenen Mittel, bis ihm Walpole ſchrieb, daß er umſonſt warte, die Regierung habe kein Geld. Unverrichteter Sache kehrte er 1732 nach London zurück. In dieſem Jahre erſchienen ſeine Geſpräche gegen die Freidenker (Shaftesbury, Mande— ville, Collins) unter dem Titel: „Alciphron oder ber ſchwache Philofoph “, eine Schrift, die das Intereffe der Königin Ka— roline für Berkeley erneute und fo lebhaft befriedigte, daß dur den Einfluß der Königin dem Verfaſſer das Bisthum Cloyne in Irland zu Theil wurde (März 1734). Bon 1735 bis in den Sommer 1752 lebt er als Bischof zu Eloyne, nicht als üppiger und müßiger Pfründengenießer, fondern als ein treuer und eifriger Verwalter feiner geiftlihen Amtspflichten. In diefe letzte Lebensperiode fallen feine mathematischen Streit⸗ ſchriften „„Der Analyſt“ 1734) und zwei Abhandlungen über die Heilkraft des Theerwafjers (1744 und 1752). Seit dem Juli 1752 Hatte ſich Berkeley nad) Oxford zurücigezogen, wo fein zweiter Sohn ftudirte, und hier ift er in.der Mitte fei- ner Familie den 14. Januar 1753 geftorben.

Die beiden grundlegenden Schriften feiner Lehre find „die Prineipien‘ und „die Dialoge‘, jene ihrer Anlage nad) fyite- matifch, dieſe polemifh, denn es gilt die Widerlegung der Materialiften und Skeptiker,

Unter feinen Freunden waren Swift und Pope, die in

701

Berkeley den originellen Denker und den vortrefflichen Charaf- ter hochſchätzten, ſagte doch Pope von ihm: „Berkeley hatte jede Tugend unter dem Himmel.“ Um von feinen Landsleu— ten einen der jüngften zu nennen, den realiſtiſchen Gejchicht- fchreiber der Civilifation Englands, dem niemand eine Vor- eingenommenheit für idealiftifche Theorien zufchreiben wird, fo bemerkt Buckle gelegentlich, wie er das Zeitalter der Re— ftauration fchildert und auf Hobbes zu fprechen kommt, daß diefer jo ſcharfſinnige Dialektifer, diefer fo ausgezeichnet klare Kopf unter den britifchen Philofophen nur Berkeley untergeord- net war. Die berfeley’sche Lehre hat in ihrer Heimat nod) heute lebhafte Anhänger und Vertheidiger, unter denen ſich mit bejonderem Eifer T. Collyns Simon hervorthut*); fie. ift in der deutſchen Philoſophie feit Kant ein fortwirfendes Element, und die genaue und gründliche Vergleihung zwifchen dem englifchen Sdealiften und dem Begründer des Kriticismus gehört nad) dem Borgange Schopenhauer’8 unter die orienti- renden Aufgaben.

*) On the thinking substance in man (the anthropological Re- wiew for May 1865). Berkeley’s doctrine on the nature of matter (the journal of speculative philosophy. Dec. 1869, p. 336—44).

Zwölftes Kapitel. Berfeley’s Idealismus,

I. Die Grundfrage der Einleitung. 1. Locke's Widerſpruch.

Der Punkt, in welchen Berkeley von Locke ausgeht und abweicht, läßt ſich ſehr genau beſtimmen und macht das eigent— liche Thema der Einleitung zu ſeiner Lehre. Locke hatte alle Erfenntnißobjecte für Wahrnehmungsobjecte, dieſe für Aeuße— rungen oder Eigenſchaften der Dinge erklärt, die letztern in primäre und ſecundäre Qualitäten unterſchieden und unter jenen die allgemeinen oder urſprünglichen Eigenſchaften ver— ſtanden, welche den Körpern an ſich zukommen. Hier liegt der fragliche Punkt. Giebt es unabhängig von unſerer Vor— ſtellung Körper an ſich, unabhängig von unſerer Sinnes- empfindung Eigenſchaften an fih? Die Frage fällt, wie man fieht, zufammen mit der Seßung oder DVerneinung der Materie als eines von aller VBorftellung unabhängigen, außer- halb derjelben befindlichen, mit gewiffen Eigenfchaften begab- ten Stoffs. Die Trage generalifirt fih. Die Vorftellung

7103

einer folchen Materie ift die einer allgemeinen Subftanz und allgemeiner Eigenfhaften, d. i. ein fogenannter Gattungsbe- griff, eine abftracte Vorftellung oder Idee. Wenn es nun überhaupt feine abftracten Ideen giebt, fo ift die Vorſtellung der Materie, die Lehre von den „primären Qualitäten” Hin- fällig, denn fie verhält ſich zu der Geltung abſtracter Ideen überhaupt, wie der beſondere Fall zur Kategorie. Locke hatte die Geltung der Gattungsbegriffe (in der Natur der Dinge) verneint, dagegen die Vorſtellung allgemeiner Eigenſchaften, welche den Körpern an ſich zukommen, bejaht und auf das nachdrücklichſte behauptet, er hatte in die Bildung der abftrac- ten Ideen den ganzen Unterfchied zwifchen Thier und Menfch gefett, die wnüberfteigliche Kluft beider.*) Hier ftreitet die Lehre Locke's mit fich felbit, hier ift der Punkt, in dem Ber- kerley mit der Frage einfeßt: giebt es abftracte Ideen?

2. Berleley's Nominalismus. Die Unmöglichkeit abftracter Ideen.

Der Senfualismus ift nominaliftifch gefinnt, wie der Nominalismus in Rüdfiht auf die natürliche Erkenntniß der Dinge jenfualiftifh. Unter den neuern Philofophen ift die nominaliſtiſche Denkweiſe einheimifch, aber fie ift von feinem fo jehr in den Vordergrund aller philofophiichen Betrachtung gerüct, jo grundfäglich geltend gemacht worden als von Ber- feley. Bei dem geordneten Gedankengange des Philofophirens ift es nicht gleichgültig, an welcher Stelle eine entjcheidende Anficht hervortritt. In Berkeley’ Lehre Hat die Anficht von der Geltung der Gattungsbegriffe, von der Nichtigkeit der abjtrac- ten Ideen die erjte Stelle, fie fteht gefliffentlich an der Spike

*) The Principles of human knowledge. Introduction, XI.

704

der Unterfuhung, fie bejtimmt deren Richtung, fie introducirt die Philofophie. Berkeley fieht in der Geltung der „abjtrac- ten Ideen’ den Grundirrthum aller bisherigen Philofophie, den philofophifchen Aberglauben, die Staubwolfe, den „Duft“, den die Schulen aufgewirbelt und zuletzt jo verdichtet haben, daß er die Dinge verdunfelt, den Vorhang von Worten (cour- tain of words), der uns den Baum der Erfenntniß ver: hüllt. Diefe Wolfe zu lichten, diefen Vorhang wegzunehmen, ift daher die erjte Aufgabe, die er fich jett.*)

Er unterfcheidet genau zwiſchen „abjtracten” und „all gemeinen Ideen‘ (abstract and general ideas) und will mit jenen nicht auch dieje verneinen. Was er verneint, find „die abftracten allgemeinen Ideen (abstract general ideas)‘; uns ter abjtracten Ideen verjteht Berkeley die Vorjtellung allge— meiner Dinge und Eigenjchaften, wie z. B. Menſch, Thier, Körper, Farbe u. ſ. f., die von allen übrigen Merkmalen völlig abgefonderten VBorftellungen. Es ift fowenig möglid), Farbe im Allgemeinen oder Menſch im Allgemeinen d. 5. eine abjtracte Farbe oder einen abjtracten Menſchen vorzujtel- len als ein allgemeines Dreied, abgefehen von den Eigenfchaf- ten, worin ſich die Dreiede unterfcheiden, ein abjtractes Dreied oder ein Dreied, welches weder rechtwinklig noch Ihiefwinklig ift. Eine ſolche Figur ift unvorftellbar, eine jolhe Borftellung rein unmöglid. Dies ‚gilt von allen Ab- jtractionen, von allen abftracten allgemeinen Ideen. Man verjuche ernfthaft, eine Vorftellung der Art zu bilden, und die Unmöglichkeit wird fofort einleuchten. Kein natürlicher Menſch Hat abjtracte Ideen, fie find Fictionen der Schule,

*) Principles. Introduction, III, XXIV.

705

fie find nicht blos Leer, nicht blos Zeichen, fie find nichts und weniger als nichts, denn fie find abjurd und baar unmög- ih. Dies ift, was die gewöhnlichen Idealiſten gar nicht, die gewöhnlichen Materialiften und Senfualiften nicht gründ- fi genug eingefehen Haben. Jene halten die abftracten Be— griffe für Realitäten, diefe für Zeichen. Beides ift grund- falfeh, denn es iſt grundfalfch, das Nichts für etwas, das Un- mögliche für möglich zu halten. In diefem Irrthum war aud) Locke, der die abftracten Vorftellungen für diejenigen anfah, deren Zeichen die Worte find, und ohne welche die fprachliche Bezeihnung der Vorſtellungen nicht auszubilden fei.

3. Die Geltung allgemeiner Ideen. Die Einzelvorſtellungen.

Um diefen folgenfchweren Irrthum Locke's fogleich zu be- richtigen: die Worte find Zeichen (nicht abjtracter, ſondern) allgemeiner Borftellungen, welche felbjt Zeichen find für eine Reihe gleichartiger Vorftellungen oder, was dafjelbe heißt, die eine beſtimmte Claſſe von Borftellungen repräfentiven. Die allgemeinen Ideen find nicht abftract, fondern repräjentativ. Es giebt Fein abftractes Dreieck, fondern nur einzelne Dreiede, die entweder vecht- oder ſchiefwinklig, entweder gleichjeitig oder ungleichfeitig find, deren Seiten und Flädheninhalt ihre be- ftimmte Größe haben u. ſ. f., aber nichts hindert, daß diejes beftimmte fpigwinflige Dreieck mir alle diejenigen Eigenjchaf- ten eines Dreieds erkennbar macht, die von der Größe des einen Winfels, von der Gleichheit oder Ungleichheit der Sei- ten unabhängig find; in diefem Falle vepräfentirt mir die- ſes einzelne Dreied die Claſſe der Dreiede überhaupt, es

wird dadurh „allgemein, aber nicht „abſtract“, denn es Fiſcher, Bacon, 45

706

hört nit auf, diefe einzelne genau beftimmte Figur zu fein. Es ift mir unmöglich, fagt Berkeley, eine Bewegung vorzuftellen ohne einen Körper, der ſich bewegt mit diefer be- ftimmten Gefhwindigfeit, in diefer beftimmten Richtung. Daſ— jelbe gilt von jeder abjtracten Idee. *)

Was man alfo von abftracten Ideen gefabelt, war Duft, der eine ſehr einfache Wahrheit unkenntlich gemacht. Es giebt feine abftracten, wohl aber allgemeine Vorſtellungen: das find Einzelvorftellungen von vepräfentativer Bedeutung, oder Ein- zeloorftellungen, fofern diefelben Zeichen für andere gleichar- tige Vorftellungen find von größerem oder geringerem Umfang. Diefe Zeichen find es, welche die Sprache ausdrüdt. Ab— ftracte Ideen find leere Worte, Worte ohne Vorftellungen; allgemeine Ideen find Zeichen für Vorftellungen und als Worte Zeichen diefer Zeichen.

Es giebt daher im Grunde nur Einzelvorftellungen, d. h. Anfhauungen oder Wahrnehmungen, deren Elemente die einzelnen Sinnesempfindungen find. Diefe Empfindungen find in ung, fie find Vorftellungsarten oder Perceptionen, nichts anderes. So befteht das Dafein von Licht und Farbe in der Liht- und Farbenempfindung d. h. im Gefehenwerden, das Dafein des Tons in der Tonempfindung d. h. im Gehört- werden, das Dafein der Wahrnehmungsobjecte überhaupt im Wahrgenommenwerden, und es muß in diefer Rückſicht der Sat gelten: esse = percipi. Alles objective Sein (Objectfein) geht ohne Reft auf in das Vorgeftelltfein; die Frage ift, ob das Exiſtiren überhaupt d. h. alfe Realität ohne Reſt aufgeht

*) Princ., Introd., X<—XVI.

107

I.

Die Wirklichkeit der Ideen. 1. Die primären Eigenſchaften als Ideen.

Daß die einfachen Wahrnehmungsobjecte blos in ung find, hatte Locde von den „ſecundären Qualitäten” bewiefen, von den „primären“ verneint. Ausdehnung und Figur, Bewegung und Ruhe, Zahl und Solidität ſollen zugleih in uns und außer uns fein: in uns als PBerception, außer uns als Eigen- ihaften der Körper an fi; jene Perceptionen gelten bei Locke als Abbilder, deren Originale diefe Eigenfchaften der Dinge find. Hier liegt zwifchen Locke und Berkeley der zweite Dif- ferenzpunft, der durch den erſten bedingt iſt. Giebt es Feine abfjtracten Ideen, feine Vorftellung allgemeiner Dinge und Eigenfchaften, fo giebt es auch feine primären Qualitäten im Sinne Locke's, es giebt Feine abftracte Ausdehnung, Figur, Bewegung, Solidität u. ſ. f. Wir fünnen die Ausdehnung nicht vorftellen, abgejehen von Figur und Größe, die Be- wegung nicht, abgejehen von der (größeren oder Fleineren) Ge- Ihwindigfeit, die Solidität nicht, abgejehen von Härte und MWeichheit, die Zahl nicht, abgejehen von unferer combiniren- den und zujfammenfajlenden Wahrnehmung. Alle diefe Vor- jtellungen löfen ſich auf in Relationen, die völlig fubjectiver Natur find, daher find die jogenannten primären Qualitäten entweder nichts oder dajjelbe, was Lode „ſecundäre“ genannt hatte. Es giebt nad) Berkeley, um mit Lode zu reden, nur

jecundäre Qualitäten d. h. keinerlei Eigenfchaften, die un- 45*

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abhängig von der Wahrnehmung oder außerhalb derjelben als etwas Neales zu ſetzen find. *)

Einen der ſcheinbarſten Einwürfe gegen diefen Sat Hatte Berkeley gleich in jeiner erjten Schrift, der „neuen Theorie vom Sehen” widerlegt: die Thatfache nämlich, daß wir ent- fernte Dinge jehen, wodurd der augenſcheinliche Beweis ge- fiefert ei, daß es Wahrnehmungsobjecte außerhalb der Wahr: nehmung gebe. Was wir durch die Gefihtswahrnehmung un— mittelbar percipiven, find nicht Entfernungen, jondern Farben, nicht Raumunterſchiede, fondern Lichtunterfchiede, die Unter- ichiede des Helfen und Dunkeln in ihren Abjtufungen; ent- fernte Dbjecte find nichts anderes als Fünftige Tajtempfindun- gen, die wir in Folge beftimmter Handlungen (Bewegungen) nach Ablauf einer gewiſſen längeren oder kürzeren Zeit haben werden; die Gefichtswahrnehmmmgen verhalten fich zu diefen Zaftempfindungen, wie das Zeichen zum Object. Berkeley will damit gezeigt haben: 1) daß entfernte Objecte nicht un— mittelbar in den Bereich der Gefichtswahrnehmung fallen, 2) nicht außerhalb der Wahrnehmung überhaupt liegen, fie fallen in das Gebiet der tajtenden Wahrnehmung. **)

Locke Hatte von den Wahrnehmungsobjecten, die bloße Borftellungen find, die Claſſe der urfprünglichen Eigenfchaften ausgenommen; Berkeley beweift, daß diefe Ausnahme nicht gilt. Condillac, der gleichfalls von Lode ausging und jpäter ald Berkeley kam, um die entgegengefeßte Richtung einzufüh-

*) Three dialogues. I. Phil. Consequently the very same argu- ments, which you admitted as conclusive against the secondary qua- lities, are without any farther application of force against the primary too.

**) New theorie of vision, Sect. CXLVII, Princ. XLII—XLIV.

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ren, wollte von jenen Objecten nur eine einzige Ausnahme machen, die Vorſtellung der Solidität. Berkeley hatte bewie- jen, daß diefe Ausnahme nicht gilt, denn man könne die So— lidität nicht vorjtellen ohne die Unterfchiede des Harten und Weichen, die völlig in den Bereich der Taftempfindung fallen.

Was mithin alle Eigenfhaften ohne Ausnahme betrifft, fo geht ihr Dafein ohne Reſt auf in die Perception, fie find nichts als Wahrnehmungen oder Ideen. Wie verhält es ſich aber mit den Dingen, welche die Träger dieſer Eigenfchaften jein follen? Die Frage geht auf das Dafein der Subftanzen außer uns. Sind fie oder find fie nicht?

2. Die Dinge ald Ideen.

Was von fümmtlichen Eigenfhaften gilt, muß aud von ihrem Complex gelten, von der Zufammenfegung ſowohl gleich- artiger als verfchiedenartiger Qualitäten, die wir als zuſam— menbefindlich wahrnehmen, darum als bejondere Complere d. 5. als Einzeldinge unterfcheiden und ſprachlich als jolche bezeichnen. Daher find die Dinge, fofern fie einen Inbegriff beitimmter Eigenfchaften ausmachen, d. h. die einzelnen Dinge nichts als ein Inbegriff bejtimmter Wahrnehmungen oder Ideen (collection of ideas) und jowenig außerhalb berfelben, als die Farbe außerhalb des Schens, der Ton außerhalb des Hörens u. f. f. ift, e8 müßte denn Farben außerhalb der Farben und Töne außerhalb der Töne geben.

Wenn wir daher die Dinge als folhe von dem Come plex ihrer Eigenfchaften unterfcheiden und von Dingen an ich fprechen, fo kann dies nur zweierlei bedeuten: entweder Dinge im Unterfchiede von den einzelnen Dingen oder einzelne‘ Dinge im Unterſchiede von dem Complex ihrer Eigenſchaften.

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Dinge im Unterfchiede von den einzelnen Dingen wären allgemeine Dinge, die ſowenig eriftiren als allgemeine Dreiede, das find Undinge, abftracte Ideen, deren Nichtigkeit und Un- möglichkeit im Ausgangspunkte der berfeley’jchen Lehre dar- gethan worden. Unter diefe Kategorie und mit ihr fällt auch der Begriff des abftracten Körpers, des Körpers im Allge- meinen d. i. der Begriff der Materie als eines Dinges an fi.

Es giebt nur Einzeldinge. Was find die Einzeldinge un— abhängig von dem Complex ihrer Eigenfchaften? Sie find, was übrigbleibt nad) Abzug diefer Eigenfchaften, was der ei- ferne Ring ift nad) Abzug des Eifens. „Ich ſehe diefe Kirche da’, Sagt im dritten Gefpräh Philonous zu Hylas, „id fühle und fchmede fie, ich bin überzeugt, daß fi ein Nichts weder jehen noch fchmeden noch fühlen läßt, fie ift alſo wirk— lich. Nah Abzug der Empfindungen der Weichheit, Feuchtig- feit, Röthe, Säure mit Süßigfeit vermifht, giebt es Feine Kirſche mehr, denn fie ift fein von diefen Empfindungen ver- ſchiedenes Wefen. Cine Kirfche, ſage ich, ift nichts anderes alg eine Zufammenfeßung von finnfichen Eindrüden oder Ideen, die wir durch unfere verjchiedenen Sinne wahrnehmen.“ Daf- jelbe gilt, ob das Ding Apfel, Stein, Baum, Buch oder wie fonft Heift.*)

Der Schluß leuchtet ein: die Dinge, abgefehen von den einzelnen Dingen, find Undinge, die Einzeldinge, abgefehen von dem Inbegriff ihrer Eigenschaften, find nichts. Nun find die Eigenfchaften Wahrnehmungen oder Berceptionen. Daher geht das Dafein der Dinge und deren Inbegriff als

*) Dial. IH, vgl. Prineiples, Sect. I.

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Außen- oder Körperwelt, das gefammte Weltgebäude, ohne Reit auf in Perception, und der Sat „esse=pereipi” gilt jetst in feinem ganzen Umfange.*)

3. been und Geifter,

Wir können demnach in feinerlei Weife von Dingen an fich fprechen, jondern nur von Dingen, fofern fie Objecte find. Was die Dbjecte betrifft, fo find ſie ſämmtlich und ohne Reft Wahrnehmungen oder Ideen. Im diefer Rüdficht gilt der Sat: „es giebt nur Ideen”. Ideen find Wahrnehmungs- objecte oder Percipirtes (Percipirbares), fie find als folde Lediglich paffiv und daher unmöglich ohne ein actives Wefen, das fie hervorbringt. Das Percipirende nennt Berkeley „‚Geift, Seele, Selbft (mind, spirit, soul or myself)“; der Geift, fofern er pereipirt d. 5. vorftellt und erfennt, ift Verſtand (understanding), er ift Wille, fofern er die BVorftellungen erzeugt.**) Jetzt muß erflärt werden: „es giebt nur wahr- nehmende und wahrgenommene Wefen d. h. nur Geifter und Ideen” Das ift der Satz, der im Mittelpunkt des fogenannten berfeley’ichen Idealismus fteht und deſſen Grund- charafter ausmacht. Was man Ding oder Subjtanz nennt als Träger der Eigenfchaften oder als das denfelben zu Grunde liegende Wefen, ift bei Berkeley ber Träger der Wahrnehmun- gen (Ideen) d. 5. deren Urſache und Subject. Daher jagt Berkeley, daß es Feine anderen Subftanzen giebt als perci- pirende Weſen oder Geifter.***) Negativ ausgedrüdt: es giebt feine geiftlofen, materiellen, nichtdenfenden Subftanzen (un- thinking things.)

*) Principles. III. **) Ebendaf. II, XXVII. ***) Ebendaf, VII. +) Ebendaj. III

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Die Welt ift nach Berkeley Geiftesproduct und Geiftes- object, fie ift durchaus phänomenal, fie ift Vorftellung ohne Reit; er hätte feine Anficht jo gut als Schopenhauer mit dem Worte: „die Welt als Borftellung‘ bezeichnen können.

4. Die Ideen ald vermeintliche Abbilder der Dinge,

Diefe idealiftifche Weltanfchauung erjcheint dem gewöhn- lichen Bewußtſein, als ob fie verfehrte Welt ſpiele. Nichts, meint man, fei augenjcheinlicher und ficherer als der Unter- jchied zwijchen Dingen und Ideen, die ſich zu einander ver- halten, wie die Urfachen zu den Wirkungen, wie die Urbilder zu den Abbildern. Die Weltvorjtellung in uns fei das Bild der wirklichen, diefe außer uns befindliche Welt jei das Ori— ginal. Wenn Berkeley jagt „außer ung”, jo muß man nicht blos an die eigenen werthen Perjonen denken, jondern an vor- ftellende Wefen überhaupt. „Außer uns‘ bedeutet foviel als „unabhängig von aller Vorſtellung“. Der Glaube an Origi- naldinge außer uns (in diefem Sinn) bildet den eigentlichen Kern der gewöhnlichen Weltanfiht, den Berkeley zu zeritören jucht. Geſetzt nämlich, e8 gäbe folche Dinge an fi), außer der Vorftellung und unabhängig von derjelben, jo werden fie eben deßhalb unvorftellbar, alfo auch unvergleichbar fein, denn jede Vergleihung fchließt in fich die Vorftellung des Ver— glihenen. Zwifchen Belanntem und Unbekanntem giebt es feine Vergleihung, es giebt feine zwifchen meiner Vorftellung und dem Dinge außerhalb derfelben, alſo ift es nicht mög- lich, daß mir die Aehnlichkeit beider einleuchtet, mithin Füns- nen jene Dinge außer uns, wenn fie find, nicht die Vorbil- der oder Originale unferer Vorjtellungen fein. Farbe Tann ih nur mit Farbe, Ton mit Ton, Wahrnehmbares mit Wahr-

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uehmbarem vergleichen, niemals das Wahrgenommene mit dem Unmwahrnehmbaren, das Vorgeſtellte mit dem Unvoritell- baren. Nicht blos daß zwifchen diefen beiden Gliedern die Achnlichkeit uns nicht einleuchtet, noch jemals einleuchten fann; es eriftirt feine, vielmehr eriftirt deren Gegentheil, fie find einander vollkommen unähnlih, denn nichts Tann unähn- licher fein, als Wahrgenommenes und Unwahrnehmbares, Sinnlihes und Nichtfinnliches. Geſetzt alfo, e8 gäbe Dinge an fi, jo würde die Vergleihung zwifchen Dingen und Ideen nicht blos unmöglich, ihre Aehnlichkeit nicht blos unerfeunbar, jondern ihre völlige Unähnlichkeit vielmehr vollfommen ge- wiß fein. Entweder hat die Aehnlichkeit zwifchen Ding und Borftellung feinen Sinn oder das Ding an fi hat Feinen.*)

5. Materialismus und Slepticismus.

Es bliebe demnach von den Dingen außer und unab- hängig von aller Vorftellung nichts übrig als etwas allen vor- jtellenden und vorjtellbaren Wejen abjolut Unähnliches, das man mit dem Worte „Materie bezeichnet. Der Glaube an Driginaldinge außer uns wird zum Glauben (da von einer Erfenntniß feine Rede fein kann) an materielle Dinge an fich, an das abfolute Dafein der Materie, zum materialiftifchen Glauben, der ſich für philofophifchen Realismus ausgiebt, die Vorjtellung von dem Dafein der Geijtesfraft volllommen ver- dunfelt und den Atheismus wie Fatalismus zur nothwendigen Folge hat. Der Materialismus ift feine Erfenntniß der Dinge, fondern ein Vorurtheil, das der menſchliche Geiſt hartnädig fefthält und dadurd an den Tag legt, „eine wie

*) Principles, VII.

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große Anhänglichkeit er Hat für das ftupide gedanfenlofe Etwas.” *)

Beharrt man in dem Glauben an das Dafein jener Dinge an ſich mit der Ueberzeugung, daß fie die Originale unferer Vorftellungen nicht fein können und ohne die Vorliebe für „das ftupide gedankenlofe Etwas’, jo bleibt nichts übrig als die Einfiht in die Unmöglichkeit der Erfenntniß überhaupt, oder der ffeptifche Standpunft.**)

Was daher der idealiftifchen Weltanficht entgegenfteht, tft das gewöhnliche Bewußtfein oder der vulgäre Realismus d. i. der Glaube an das Dafein äußerer Dinge, der entweder in Materialismus oder Sfepticismus endet. Und da der Ma- terialismus nur einer jehr geringen Veberlegung bedarf, um einzufehen, daß „Materie“ nichts ift als ein Wort für ein unbefanntes und unerfanntes Etwas, jo ift die Verneinung des Idealismus nothwendig die (indirecte oder directe) Be— jahung des Skepticismus. |

6. Nothwendigkeit ded Idealismus. Die Welt in Gott.

Wir ftehen vor dem Saß: „entweder Idealismus oder Stepticismus”, aber wir find Feineswegs in der Lage, beliebig zu wählen. Der Sfepticismus bejaht das Dafein der äußeren Dinge und verneint deren Borftellbarfeit und Erfennbarfeit.

*) Principles, LXXV. It is a very extraordinary instance of the force of prejudice, and much to be lamented, that the mind of man retains so great a fondness against all the evidence of rea- son for a stupid thoughtless somewhat etc.

**) Principles, LXXXVI— VII. But if they (sensations) are looked on as notes or images referred to things or archetypes existing without the mind, then we are involved all in scepticism.

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Nun tft bereits dargethan, daß die Dinge nach Abzug aller Borftellungen entweder nichts oder weniger als Nichts (ab- ftracte Dinge oder Undinge) find. Daher lautet die Alter- native, wenn man ihr auf den Grund leuchtet: „entweder Idealismus oder Nihilismus” Entweder die Bejahung oder die DVerneinung der wirflihen Dinge Entweder e8 giebt überhaupt feine äußere, objective, wirkliche Welt, oder fie ift im Geift. Genau fo fpricht Berkeley feine Alternative aus, die demnach nicht zwifchen zwei Möglichkeiten fteht, fondern zwifchen der Möglichkeit und ihrem Gegentheil, daher nur einen möglichen Standpunft Täßt, den der idealiftifchen Welt- anficht.*)

Eriftiren heißt vorgeftellt werden d. h. im Geift fein. Borgeftellt werden heißt nicht durch mid, auch nit durch uns vorgejtellt werden, denn wir, die menfchlichen Geifter, gehören auch unter die Dinge, deren Kraft im Vorftellen, deren Dafein im VBorgeftelltwerden befteht. Die Welt wird vorge- jtellt, auch wenn ich fie nicht vorjtelle, fie ift, auc wenn meine Perſon nicht ijt; fie wird vorgeftellt in anderen Gei- jtern, die wie ich unter die Bedingungen des zeitlichen Da- feing fallen. Die Welt ift, auc wenn diefe anderen Geifter nicht find, d. h. fie ift in einem ewigen Geift oder in Gott. Hier ift der Punkt, in welchem Berkeley mit Malebrande übereinftimmt. **)

*) Principles, VI.

**) Es heißt von den Dingen, deren Inbegriff die Welt ift: „They must either have no existence at all, or else subsist in the mind of some eternal spirit. Princ., VI. Bgl. ebenda. LIII (auf Male- brande bezüglich). Ebendaf. XLVIII.

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7. Die Ideen ald Dinge. Berkeley's Realismus.

Hieraus erhellt, daß die berkeley'ſche Lehre ſich nicht etwa zur realiſtiſchen Weltanfiht in Gegenſatz, fondern an deren Stelle jegt; fie gilt fih und will gelten als die wahrhaft realiftifche Weltanfiht, die fogenannten Originaldinge außer den Ideen find nichts, fie find nicht Urbilder, fondern Wahn: bilder, leere Fictionen. Die Ideen find daher nicht Abbilder, ſondern die Originale ſelbſt, überhaupt nicht Bilder, jondern Dinge im Sinne der Wirklichkeit oder Realitäten. Spreden wir von unferen Ideen, jo verjteht fich von felbjt, daß der Charakter der Realität nicht folhen Vorftellungen zukommt, die wir willkürlich machen, ſondern nur denen, die wir un— willfürlih haben, die nicht durch uns, fondern in und pro- ducirt werden, die uns als Weltanfhauung eingeprägt find. Unfere naturgemäßen oder finnlichen Borftellungen find die Driginale, von denen die Bilder im Gedächtniß, der Imtagi- nation, dem Berftande Spuren, Reſte, Nahbilder, Abbilder find. Man hat alfo nicht zu fürditen, daß unter Berfeley’s Gefihtspunft „Realitäten“ und „Chimären“, Dinge und Ideen, welche bloße Phantafiegebilde find, nicht mehr zu un- terſcheiden wären.*)

AS Nominalift jagt Berkeley: „die wirklichen Dinge find die einzelnen”; als Senfualift fagt er: „die wirklichen Einzeldinge find die wahrgenommenen‘”, und da nach Abzug aller Wahrnehmungen die Dinge gleidy nichts find, fo muß er als folgerihtiger Senfualift den idealiſtiſchen Ausſpruch thun: „die Dinge find bloße Vorjtellungen und nichts an—

*) Prineiples, NXIX, XXX, XXXIII, XXXVI, LXXXII.

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deres’, aber fie find nicht bloße Vorftellungen, die in unferer Phantafie wie Seifenblafen entjtehen und vergehen, fondern nothwendige Vorftellungen, an denen unfere Willkür nichts macht und nichts ändert. Daher der realiftifche Sat, der den idealiftifchen erklärt, indem er ihn umwendet: „die Wahr- nehmungen find die wirflihen Dinge”. Was das gemwöhn- liche Bewußtfein „„ Dinge‘ nennt, das nennt Berkeley „Ideen“; er verjteht darunter dem Inhalte nach diefelben Thatfachen, und es ändert an dem natürlichen Thatbeftande unferer Vor— jtellungswelt, an unferer factifhen Weltanſchauung, an der Sinnenwelt oder an dem, was man die Natur der Dinge nennt, gar nichts, ob diefe Thatſachen als Dinge oder als Ideen bezeichnet werden.

Nun könnte man fragen: warum fagt er nicht Tieber „Dinge“ ftatt „Ideen“? Warum braudt er einen Ausdrud, der jo leicht fo vielen und groben Misverftändniffen ausgefett it? Er thut es, um gröbere Misverftändniffe zu verhindern, vielmehr Grundirrthümer aufzuheben, die das Fundament um- ferer Weltanficht verkehren. Verſteht man unter „Dingen etwas außer aller Vorſtellung, jo bezeichnet der Ausdrud das Gegentheil der wirklichen Dinge; verjteht man darunter Subftanzen d. H. felbititändige und thätige Wefen, fo gilt der Ausdrud nur von dem vorjtellenden, nicht von den vorgeftell- ten Dingen, nur von den Geijtern, nicht von den Ideen: verfteht man darunter, was jedes einfache natürliche Bewußtfein in Wahrheit darunter verjteht, die Wahrnehmungsobjecte, fo giebt es feinen Ausdrud, der verjtändlicher und klarer den Charakter derjelben bezeichnet, als das Wort „Vorſtellungen oder Ideen.“*)

*) Principles, XXXIX,

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Diefer Ausdrud in Berkeley's Munde ift feineswegs müßig oder gar eine Spielerei, fondern die Fürzefte und bedeutfame Formel, um zu erflären, daß die Thatfachen der Natur nicht jenfeits der Vorftellung liegen, fondern innerhalb ihres Reichs und ihrer Tragweite, daß es Fein Sein außer der Vorftellung giebt, daß unfere nothwendigen Vorjtellungen nicht ein Schein wirfliher Dinge, fondern diefe felbft find. „Du misverjtehjt mid“, jagt Philonous im dritten Geſpräch zu Hylas, „ic ver- wandle nicht die Dinge in Ideen, fondern vielmehr die Ideen in Dinge. “*)

II. Die Einwürfe und deren Widerlegung.

1. Chimären und Sinnestaufhungen. Berkeley und Copernicus.

Aus diefen Charakterzügen feiner Lehre erklärt fich Leicht fowohl die Reihe der Einwürfe, die Berkeley ſelbſt gegen fid) auftreten läßt, ‘als die Art, wie er diejelben widerlegt. **) Die Hauptpunfte find fchon erörtert. Daß der berfeley’fche Idealismus die Welt in eine Chimäre oder in eine Art Traum verwandle und das Dafein der Dinge abhängig made von unferer Wahrnehmung, alfo von dem Dafein unferer Perſo— nen, ijt das viel variirte Thema der Einwürfe. Daß noth- wendige Vorftellungen Feine Chimären, eine (allen Geiftern) gemeinfame Vorjtellungswelt oder Weltvorftellung Fein Traum,

——

*) J am not for changing things into ideas, but rather ideas into things etc. Dial III. The works etc. London 1820, vol. I, p- 201.

**) Principles, XXXVII—LXXXI—LXXXV.

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daß dieſe von aller menschlichen Willlür unabhängige, nicht dur ung, fondern in uns gegebene Borftellung feineswegs an das flüchtige Dafein der menfchlichen Perfonen gebunden ift und alfo Feineswegs mit ihnen fteht und fällt, ijt das oft widerholte Thema berfeley’scher Widerlegung. Wenn nad Berkeley „‚eriftiren‘ fo viel heißt als „wahrgenommen wer- den“ und alfo „nicht wahrgenommen werden‘ fo viel heißt als „nicht eriftiren‘‘: wie verhält es fich dann, muß man fragen, mit der Sonnenbewegung, die wir fehen, und mit der Erd— bewegung, die wir nicht ſehen? Iene ift nicht, diefe ift. Scheitert alfo nicht in ihren nächſten Folgerungen die berfe- ley’fche Lehre an der copernicanifhen? Folgt nicht aus die— ſem Idealismus, daß jede unferer unwillfürlichen Sinnestäu- ſchungen, deren fo viele find, für wahr und wirklich zu Hal- ten fei? Diefe Einwürfe hat Berkeley nicht überjehen und fonnte fie leicht in Zeugniffe für feine Lehre verwandeln. Daß unferer Wahrnehmung von ihrem Standpunkt aus die Erde als der Gentralförper erjcheint, um den fi) die Sonne bewegt, ift eine wirkliche, unleugbare, wohlbegründete That- fahe. Wenn nun ein aftronomifches Dogma behauptet, daß unabhängig von unferer Wahrnehmung die Erde wirklich die- fer Eentralförper fei, den die Sonne umfreift, fo gilt dabei die Annahme, daß die Wahrnehmungsobjecte unabhängig von der Wahrnehmung eriftiren: eine Annahme, die Berfeley fo wenig beredhtigt, daß er fie vielmehr von Grund aus ver- neint. Und wenn Gopernicus jenes ajtronomifche Dogma ge- vade durch die Annahme widerlegt hat, daß vom Standpunkt der Sonne aus betrachtet, die Erde als Planet erjcheine, fo ift ja feine große Reform der Aftronomie gerade dadurch be— gründet, daß er die Erde zum Wahrnehmungsobject macht

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und als jolches beurtheilt. Vergleichen wir jett die aftrono- miſchen Vorjtellungsweifen mit der Grundlehre Berfeley’s, jo leuchtet ein, daß das alte Syitem ihr widerftreitet und das copernicanijche mit ihr übereinftimmt.*) Unſere Wahrneh- mungen find wahr, jede an ihrem Ort, aber fie find nicht aphoriftifch, jondern bilden einen Zufammenhang, eine Ord— nung, die auch wahrgenommen jein will und ung nöthigt, die- jen Zufammenhang zu ergründen und nicht bei dem einzelnen Eindrud jtehen zu bleiben, fonft hätten wir.feine Vorftellungs- welt, fondern ein Vorftellungshaos. Eben das ift die Auf- gabe der Wifjenfchaft, die Einficht zu gewinnen in den Text unferer Wahrnehmungen.

2. Der Schein des Abfurden.

Die wohlfeilften Einwürfe find auf den gewöhnlichen Menjchenverjtand immer die wirkfamften, und zu Einwürfen diejer Art bot Berkeley felbft durch feine Ausdrudsweife die leichtejte Handhabe, denn e8 war fehr leicht, den Schein des Paradoren, den Berkeley nicht fcheute, in den des Abjurden zu verwandeln, jo gründlih er denjelben aucd abgewehrt hatte. Eigentlich find es nicht Einwürfe zu nennen, fondern Späfe, die man mit feiner Terminologie trieb. Er verftand unter Ideen Wahrnehmungsobjecte oder Dinge, wie vor ihm Locke, nah ihm Kondillac unfere finnlihen Eindrüde „Ideen“ nannte; indejjen lafjen ſich unter Ideen auch allerhand Ein- fälle und Phantafiegebilde verftehen, wie es im gewöhnlichen Sprachgebrauch wirklich gefchieht. Will man nun, daß Ber— feley, wo er „Ideen“ fagt und Wahrnehmungsobjecte oder

*) Principles, LVIII.

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Dinge meint, Einfälle oder Phantafiegebilde gemeint haben fol, fo ift des Spaßes Fein Ende. Das wirkfiche Feuer und die Idee des Feuers! Das eine brennt und das andere brennt nicht! Welcher Unterſchied, den Berkeley überfah, da er das wirkliche Feuer für eine Idee hielt! In der That glaubte Berkeley, daß das wirkliche Feuer jowenig unabhängig von der Wahrnehmung exiſtire, als der wirkliche Schmerz unab- hängig von der Empfindung. Daß Speife und Tranf Wahr- nehmungsobjecte find, ift die jelbftverjtändlichite Sache von der Welt, aber daß wir nad) Berkeley Ideen effen und trin- fen, ift der ergößlichfte Unfinn.*) „Der gute Berkeley“, Icherzte nach deſſen Genefung fein Arzt Arbuthnot, „hat die Idee eines hitigen Tiebers gehabt, und es war fehr fehwer, ihm die Idee der Gefundheit wiederbeizubringen.“ Voltaire verftärfte diefe Sorte von Einwürfen durch das einfache Mit- tel der Multiplication und lieferte in feinem philofophifchen Wörterbuch bei Gelegenheit des Artikels ‚Körper‘ dem ber- feley’schen Idealismus eine kurze und fiegreiche Schlacht. „„Zehn- taufend Kanonenfugeln und zehntaufend getödtete Menfchen find nad Berfeley’s Philofophie zehntaufend Ideen.“ Wozu der Aufwand? Voltaire würde Berkeley vollfommen wider- legt haben, wenn er an einer einzigen Kanonenkugel ge- zeigt hätte, was davon nicht wahrnehmbar oder Ding an fi iſt. Ihm galt Rode als der Philoſoph, dem er folgte, doch hat er ihn im Grunde fehr wenig verjtanden, da er denfelben in Berkeley fowenig wiedererfannt hat. Man darf das Ver— halten zu Berkeley als eine Probe betrachten des richtigen Verhaltens zu Lode. Wer jenen volllommen misverfteht,

*) Principles XXXVII, XLI. Fiſcher, Bacon. 46

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fann dieſen nicht wohl verjtanden haben. Freilih muß man e8 mit Voltaire nicht jo ernſt nehmen, denn wißig und ffeptifch, wie er war, fand er fi immer mehr aufgelegt, etwas lächerlich zu machen, als zu widerlegen.

Berkeley hat den Spaßmachern das Richtige geantwortet. Sowenig feine philofophifche Anficht den Thatbeſtand des ge- wöhnlichen Bewußtſeins verändere, jondern blos erkläre, jo- wenig verändere feine philofophifhe Ausdrudsweife ben ge- wöhnlichen Sprachgebrauch. Man folle mit dem Bhilofophen denken und mit dem Volke reden; die Idealiſten feiner Art dürfen von „Dingen‘ fprechen, ebenfo gut als die Coperni- faner vom Aufgang umd Untergang der Sonne.*)

IV.

Berkeley’s Erkenntnißlehre.

1, Die Erfenntnifobjece. Die Ordnung der Dinge, dad Bud ber Belt.

Aus Berkeley’s Ideenlehre folgt feine Erkenntnißlehre. Die Erfenntnigobjecte find Gott, die Geifter, die Ideen und deren BVerhältniffe; der Inbegriff der Geiſter und Ideen ift die Welt, der Inbegriff der finnlichen Ideen oder Wahrneh- mungsobjecte ift die Natur. Sinnliche Ideen und natürliche Dinge find diefelben Dbjecte, die zwar unabhängig von der Borftellung nichts find, wohl aber eriftiren, aud) wenn ich fie nicht vorjtelfe, denn ihre Vorftellung dauert fort in Geiftern außer mir; in diefer Rückſicht können die finnlichen Ideen auch „äußere Dinge” heißen und die Natur Außenwelt. **)

*) Principles LI, vgl. XL. **) Principles xo.

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Es giebt demnach Erfenntniß Gottes, der Geijter (Selbft- erfenntniß und Erfenntniß der Geifter außer uns), der Na- tur; die Naturwiffenfchaft fällt zufammen mit der Erkenntniß der finnlichen Ideen (Körperwelt) und ift als ſolche Natur- philofophie und Mathematif. Auf diefe leßtere nament- (ich richtet Berkeley kritiſch die Grundfäge feiner Ideenlehre. Man muß fi folgende Hauptpunfte vergegenwärtigen, um Berkeley's Folgerungen an diefer Stelle zu würdigen: 1) die- Natur ift durchaus wahrnehmbar, es giebt in ihr nichts Un— wahrnehmbares, Unvorftellbares, nichts abſolut Verborgenes, daher feine Naturmyſtik, Feine Lehre jogenannter verborgener Qualitäten, 2) e8 giebt fein Ding an fi), feine Materie, feine Körper an ſich, daher verwirft er die Corpuscularphyſik, die materialiftifche Naturerflärung, aus deren Principien, näm— lich) der Annahme einer Materie, in Wahrheit nicht ein ein- ziges Phänomen wirklich erklärt werde, 3) es giebt Feine ab- itracten Ideen, fondern nur Wahrnehmungsobjecte, deren Dafein Lediglich im Vorgeſtelltwerden bejteht, daher find dieje Dbjerte zwar durchaus vorftellbar, aber aud völlig paffiv, weder felbjtändige nod) thätige Wefen, weder Subftanzen noch Urfahen, e8 giebt demnadh in der Natur felbit Feine Caufalität und feinen Caufalzufammenhang Er verwirft daher grundfäßlich wie die materialiftifche, fo die mechaniſche Erklärung der Dinge. Was wir als Naturpro- ducte vorjtellen, jind ihrer wirklichen Urſache nad) göttliche Willensproducte, Wirkungen eines fchöpferifchen, zwecthätigen Willens; was wir als Naturgefege wahrnehmen, find con— jtante und regelmäßige Wirkungen Gottes; der gefammte mecha- nifche Apparat der Dinge ift die Bedingung zu diefer Regel- mäßigfeit und verhält fich zu der gewollten Natur, zu der

46 *

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Weltihöpfung, wie das Mittel zum Zwed. Daher fordert Berkeley als endgültige Richtſchnur zur Naturbetrachtung ftatt des Mechanismus die Teleologie, die Ergründung der Dinge nad) Zweckurſachen oder göttlichen Abfichten. Unfere Wahr- nehmungsobjeete (die natürlichen Dinge) find geordnet, aber fie machen diefe Ordnung nicht felbjt aus eigener Caufalität, fowenig die einzelnen Buchſtaben felbft die Worte und die einzelnen Worte felbft den Tert des Buches machen. Den Text des Buches macht der Schriftfteller, den Text der Welt macht Gott. Wie fi) die Buchftaben zum Wort und bie Worte zum Sinn verhalten, jo verhalten ſich die natürlichen Dinge zu der Ordnung, die fie verfnüpft: nicht wie die Ur- fahe zur Wirkung, fondern wie das Zeichen zum Bezeich— neten. Berkeley liebt diefes Bild, und man fieht, daR es ihm vorjchwebt, auch wo er es nicht ausfpricht. Der Naturfor- fher jtudirt das Bud) der Welt, während die gewöhnliche Er- fahrung fi) die Worte zufammenbuchftabirt, ein paar Süte tieft und, wenn e8 hochkommt, ein paar Seiten. Es find diefel- ben Buchſtaben, diefelben Worte, diefelben Süße, aber wer das Kapitel gelefen Hat, verjteht fie ganz anders als der Buchſtabirer oder des Leſer, der blättert oder der nur eine Seite umfaßt. Man kann auch wiſſenſchaftlich auf verſchie— dene Art den Text der Welt, wie den eines Buches leſen. Der eine lieſt, um den Sinn des Schriftſtellers zu ergrün— den, der andere, um an Worten und Sätzen grammatifche Beobachtungen zu machen. So unterfcheidet fih nad) Ber— teley die Naturphilofophie von der gewöhnlichen Naturwiffen- Ihaft.*)

*) Principles CVII-CIX.

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2. Die mechaniſche Naturerflärung.

Die mechaniſche Naturerflärung erkennt von den eigent- lichen Urſachen der Erfcheinungen nichts, fie erfennt nur die Sleihförmigkeit der Wirkungen. Daß irdifche Körper zur Erde fallen, fieht jeder; der Naturforfcher erklärt die Sache aus der Anziehungskraft der Erde, er fieht weiter und erkennt in Ebbe und Fluth diefelbe Erjcheinung, die ev erflärt aus der Anziehungskraft des Mondes, er ſieht weiter und erfennt- in der Bewegung der Planeten diejelbe Erfcheinung, die er er- Härt aus der Anziehungskraft der Sonne. Jetzt generalifirt er die Attraction und erklärt daraus im weiteiten Umfange eine Reihe verfchiedener und analoger Bewegungserſcheinun— gen; die Gravitation gilt ihm als allgemeines Gefet und follte gelten nur als eine Regel, die jich anf nichts gründet als die Analogie gewiffer Erjcheinungen, und die nichts erklärt als die Gleichförmigfeit gewiffer Wirkungen, fie erklärt nicht die Urfadhe, fie beſchreibt nur den Erfolg. Diejer Körper fällt zur Erde d. 5. er wird von der Erde angezogen d. h. die Erde zieht ihn an. Leiſtet nun die Erflärung aus der Attracs tionsfraft dev Erde etwas anderes oder mehr als daß jie die Thatjache bejchreibt, die im Falle des Körpers vor fid) geht? Und die Theorie der allgemeinen Attraction umfaßt zwar mehr Erjheinungen als die irdiſche Körperwelt, aber dringt in der Erklärung derfelben nicht tiefer. Es ift noch die Frage, ob dDiefelben Wirkungen, welche die Attraction erklären will, nicht beſſer durch den Stoß erklärt werden fünnen; es ijt noch die Frage, ob es nicht Materien giebt, deren Theile eine der

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Attraction entgegengefegte Tendenz haben, für welche daher das fogenannte Geſetz der Attraction nicht gilt.*)

Die mechaniſche Erklärung der Natur erleuchtet die Regel— mäßigfeit der Erſcheinungen, die Gleichförmigkeit der Wir- fungen, die in der That ftattfindet, und fördert dadurd) eine große Wahrheit zu Tage. Diefe Leiftung ift ihr Verdienſt, das an Newton’s berühmten Werke, den „‚mathematifchen Prin- cipien der Naturphilofophie‘ mit Recht bewundert wird. **) Aber die eigentliche Urſache wird dadurch nicht erfannt. New— ton's Grundbegriff eines abfoluten Raumes, einer abjoluten Zeit, einer abjoluten Bewegung widerftreiten Berfeley’s Grund- lehren, erſtens weil fie abjtracte Ideen find, dann weil fie Dinge an fi) unabhängig von der Vorftellung fegen. Daffelbe gilt von den mathematischen Grundbegriffen, den arithmetifchen und geometrifchen Abftractionen, dem abjtracten Begriff der Zahl und dem abftracten Begriff der Ausdehnung, dev nad) Berkeley einen der größten aller Widerfprüche in ſich ſchließt, nämlich das Paradoxon der unendlichen Theilbarfeit d. i. die Borftellung unvorjtellbarer Theile, die Vorftellung des Un- endlichkleinen, das, unendlich vervielfältigt, nicht der kleinſten - gegebenen Ausdehnung gleichlommen foll. Von diefem feinem Standpunkt aus, wonach die BVorftellbarkeit das Maß der Realität ift, befämpfte Berkeley die Infinitefimalrehnung. Er hätte an diefer Stelle fehen follen, daß der Begriff der Größe mit jeinem Begriff der BVorftellbarkeit ftreitet und aljo der fette zu eng gefaßt ift. Hier tritt der fenfualiftifche Urfprung und Charakter des berfeley’schen Idealismus deutlich zu Tage; Vorſtellbarkeit fällt ihm zufammen mit Wahrnehmbarkeit, und

*) Principles CII—CVI. **) Ebendaf. COX—CXIV.

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da die finnlihen Eindrüde einzelne und discrete find, fo ver- neint er die Continuität der Größe. In der Unverträglich- feit feiner Lehre mit der Analyjis des Unendlichen entdeckt fich die Schwäche feines Standpunfts, die nicht in dem Idealis— mus, fondern in der blos fenjualiftifchen Grundlage deffelben enthalten ift, aber freilich macht eben diefe Grundlegung den Charakter des berfeley’ichen Idealismus. *)

3. Geifter und Gott, Die religiofe Philofophie (Theodicee).

Unferer eigenen geijtigen Thätigfeit find wir unmittelbar gewiß durch innere Wahrnehmung (Reflerion), nicht durch Senfation; jowenig der Ton fichtbar und die Farbe hörbar ift, ſowenig ijt der Geift finnlich) wahrnehmbar oder, was dajjelbe Heißt, durdy Ideen erfennbar, wohl aber fünnen wir aus gewifjen Ideen oder Wahrnehmungen auf das Dafein anderer Geijter außer uns fchließen.

Wie wir den Künftler aus feinem Werk erkennen, aber nicht in demjelben als Object vorfinden, fo erkennen wir Gott nicht als ein Wahrnehmungsobject, nicht als eine Idee, deren feine ihn ſelbſt ausdrüdt, jondern aus feinem Werk, Sein Werk ift unfere gefammte Weltanfchauung. Je tiefer und umfaffender wir in das Werk des Künftlers eindringen, um jo erfennbarer wird der Künftler felbit; je mehr wir im Geiſte des Künſtlers leben und denken, um fo tiefer erfaffen wir jein Werk. Aehnlic verhält es ſich mit unferer Gottes- erfenntnig. Je zufammenhängender, geordneter, umfafjfender unfere Weltanfchauung ift, um fo erfennbarer wird ung die

göttliche Wirkfamkeit; je mehr wir in Gott leben und denken

*) Prince. CXIV—CXVI, CXVII—CXXIUI—CXXXIV.

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d. h. je mehr er uns innerlich gegenwärtig ift, um fo deut- licher erkennen wir ihn felbft im Univerſum. Die deutlichite Offenbarung ift der göttliche Weltplan, nur erlennbar einer teleologifchen Betrachtung der Dinge, die in den Mängeln und Unvollfommenheiten der Welt Mittel zum Beſten, Fügun— gen der höchſten Weisheit und Güte, wohlthätige Schatten in dem vollfommenften aller Gemälde erkennt. Die wahre Welt- betradhtung ift die Theodicee. Hier finden wir Berkeley in Uebereinftimmung mit Leibniz. Hier ift diejenige Einheit der Religion und Philofophie, die Berkeley erjtrebt, die er nicht blos den Meaterialiften, Atheiften und Sfeptifern ent- gegenhält, fondern aud) den Deiften, Freidenfern und über- haupt allen Gegnern des pofitiven Chriſtenthums; diefe reli— giöfe Philofophie ift das Ziel feiner Lehre, das Berkeley ver- theidigt nicht blos mit religiöfem, auch mit bifchöflichem Eifer. Es ijt nicht zu verkennen, daß auf diefer letzten Strede des Weges, der in die Religion und Kirche einmündet, der frommte Mann fchneller läuft als der Philofoph; er eilt, feinen Idea— lismus, der auf den Senfualismus vuht, unter da8 Dad) der Kirche zu bringen; feine nominaliftifche Denkweiſe jucht durch den Senſualismus hindurch auf dem Wege des Idealis— mus den altgläubigen Supranaturalismus und nähert fich ge- rade in diefem Ziel den fcholaftiichen Nominaliften. Man kann unter dem Eindrude der berfeley’schen Bhilofophie die VBorftel- (ung haben, als ob ein fcharfjinniger Denker ausgehe von Scotus und Decam, die Straße von Bacon und Rode durchwandern und auf einem originellen, felbitgefundenen Wege, der ſich mit Male- branche Freuzt, in die Nähe feiner Ausgangspunkte zuritcffehre.*) -

*) Prince. CXLVI—CLVI.

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4, Das fleptifhe Reſultat.

Es iſt Leicht zu fehen, daß fich diefe jenfualiftifche Grund— legung und dieſe jupranaturaliftifche Vollendung der berfeley- jhen Lehre nicht miteinander vertragen, daß der unergründs liche Wille Gottes, als die alleinige Urfache alles Erfennbaren, unfere Erfenntniß unſicher (fogar den conftanten Ordnungen der Natur gegenüber) und im letten Grunde unmöglich mad)t. Dies hat auch Berkeley felbit ſich nicht verborgen, er hat ausdrücklich erklärt, daß wir wohl im Stande find, gewiſſe allgemeine Naturgejege oder Regeln des natürlichen Gefchehens zu erfennen und daraus gewiſſe Erjcheinungen Hevzuleiten, daß wir aber feine derjelben „demonſtriren“ oder als noth- wendig erweifen können. „Denn alle Deductionen diefer Art hängen ab von der Annahme, daß der Urheber der Natur ſtets gleichförmig handle, unter bejtändiger Beobadhtung der Regeln, die wir für Prineipien nehmen, und das Fünnen wir niemals einleuchtend erkennen.“*)

Wir werden daher auf dem Punkte, wo Berkeley die Philoſophie ftehen Täpt, entweder dem Unvermögen unjerer Erfenntniß aus dem Inhalte des Glaubens und der religiöfen Erleudtung zu Hülfe kommen oder, wenn weiter philojophirt werden ſoll ohne Rückkehr in das Aſyl des Glaubens, er- flären müſſen, daß eine wahre und nothwendige Erkenntniß der Dinge aus fenfwaliftifchen Mitteln nicht beftritten werden fünne. Das ift der Schritt vom Senfualismus zum Sfep- ticismus.

*) Princ. CVII.

Dreigehnles Kapitel, David Hnme,

I. hume's Anfgabe und Standpunkt. 1. Die Vorgänger.

Der Fortgang, den die Erfahrungsphilofophie nehmen mußte, war durch Bacon's Lehre vorgezeichnet, durch Hobbes eingehalten, durch Locke entjchieden; fie hatte nicht blos, wie e8 bei Bacon hier und da fcheinen kann und wie nod) heut- zutage viele den Empirismus verftehen, der Naturwifjenichaft, nämlich der phyfifalifchen Erforfhung der Dinge nah em— pirifher Methode, einfad) das Feld zu räumen, fondern fie behielt die. ihr eigenthümliche Aufgabe, die Erfahrung und deren Bedingungen in der menfchlichen Natur zu unterjuchen. Jener baconifche Grundfag, daß alle Erfenntniß in der Er- fahrung beftehe, mußte fi in die Frage umwandeln: worin beiteht die Erfahrung und Wahrnehmung felbit? In der Stellung diefer Trage lag jhon die Nothwendigfeit, die Un— terfuhung auf das ganze Gebiet der innern Menfchennatur auszudehnen und die erperimentelle Methode, wie Bacon ge— fordert und Hobbes verfucht hatte, in die geiftigen Materien,

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in die moralifhen Wiffenfchaften einzuführen, mit einem Worte die Erfenntniß der menschlichen Natur zur eigentlichen Aufgabe der Philofophie zu machen. Mit völliger Klarheit über diejes Thema hatten bereits Locke und Berkeley ihre Aufgaben gefaßt. In diefe Richtung ſah fih Hume geftellt und erkannte im Hinblid auf feine Vorgänger ſehr wohl, wie weit jie ihm vorgearbeitet hatten; er nahm die Erforſchung der menfchlihen Natur nad) experimenteller Methode, wie er es gleich in der Bezeichnung feines eriten und wichtigften Wer- kes ausſprach, zur Hauptaufgabe feines Lebens; er wollte unfere geiftige Handlungsweife im Erfennen und Wollen aus ihren vein natürlichen Triebfedern erklären, nicht unfer Thun ändern, jondern e8 durchichauen und darüber Rechenſchaft geben, jo unverblendet und nüchtern als möglid. Dazu trieb ihn, wie er ſelbſt befennt, ſowohl das perſönlich tiefe Be— dürfniß, ſich über das eigene Leben und Verhalten aufzuklären, als der Ehrgeiz die Welt zu belehren. Wie Bacon in Rück— fiht auf die Erfenntniß der äußern Natur den Flug des Denkens widerrathen und der Philoſophie ftatt der Tittiche Dlei und Gewicht angelegt Hatte, fo wollte Hume die Er- fenntniß der innern Natur betrieben fehen. Die Philofophen, meinte er, follen es nicht machen wie die Engel, die mit ihren Flügeln ihre Augen bededen. Dem Spiritus der neuern fpeculativen Denker, wie Descartes, Malebrande und Leibniz, wollte Hume etwas vom englifhen Phlegma beimifchen, und davon Hatte er ein gutes Theil mehr als Bacon in feinem eigenen Naturelf.

Wir haben fchon gezeigt, wohin der Weg der Erfahrungs: philofophie gerichtet ift. Unter dem Gefichtspunft einer rein fenfualiftifchen Erfenntniftheorie, wie fie Locke gegeben, müſſen

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die Dinge an ſich (Subftanzen) für unerfennbar gelten, ebenfo die Eigenschaften, welche Dingen an fi zufommen, ebenfo jede Art eines in der Natur der Objecte begründeten Zuſam— menhangs. Auch wiffen wir, wie Lode in allen diefen Punk— ten die Bedenken, welche jein Standpunkt fordert, zwar em— pfunden, aber denjelben Feineswegs volle Rechnung getragen hatte; er hatte die Subjtanz der Dinge für unerfennbar, aber das Dafein Gottes für demonftrabel, das Weſen der Körper für unbegreiflih, aber deren Cauſalität und Grundeigenjchaf- ten für unmittelbar einleuchtend gehalten. Der Widerftreit, in den feine Lehre mit fich ſelbſt gerathen war, lag offen vor Augen. Berkeley erkannte die Mängel, befreite den Senfua- lismus von diefen Lode’ichen Halbheiten und kam zu der Fol— gerung, daß die Dinge an fi wie deren Eigenjchaften nicht blos unerkennbar, fondern ganz und gar nichtig, und die wirk- lichen Dbjecte bloße Vorjtellungen ohne alle eigene Caufalität jeien. Was wir den natürlichen Zufammenhang der Dinge nennen, diefe Ordnung unferer Erfenntnißobjecte, ift nad) Berkeley Schöpfung, göttliche Willensthat, alfo die Wirkſam— feit einer unergründlichen Urſache. Daher muß die ſenſua— liftifche Erfahrungsphilofophie jede wirkliche Erkenntniß aus natürlihen Mitteln für unmöglicd erklären, d. h. fie muß jfeptifch werden, wenn fie entfchloffen ift, blos mit natür- lichen Mitteln zu vechnen.

Diefe Rechnung unternimmt Hume und zieht das Facit. Er knüpft fein Reſultat unmittelbar an Locke und Berkeley, insbefondere an den letter, defjen Idealismus, wie Hume meint, nur Sfepticismus bewirken könne; ex nennt Berkeley's Lehre „die beſte Anweifung zum Sfepticismus”’ und jenen Sundamentaljag, von dem fie ausging, daß alle abjtracten

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Feen ungereimt und nichtig feien, „eine der größten und wichtigsten Entdedungen, welche die Philofophie der jüngften Zeit gemacht habe“.

2. Erjahrungsphilofophie und Erfahrung.

Ich will den Charakter des hume’fchen Sfepticismus gleich hier in feinen Grundzügen feftftellen. Es giebt gewiffe natür- liche Ueberzeugungen, die das gemeine Leben auf Schritt und Tritt begleiten, die deshalb der philofophifche Zweifel wohl in einigen Köpfen momentan wanfend machen und erfchüttern, aber feinem auf die Dauer ausreden kann. Die Ueberzengung von dem Dafein der Dinge außer uns, von einem nothwen- digen Zufammenhang, welcher die Dinge, die Borftellungen, die Dinge und Borftellungen verknüpft, ift in dem natürlichen und einfachen Menfchenverftande unvertilgbav. Seen wir nun einen Sfepticismus, der mit allem Scarfjinne beweift, daß jene Ueberzeugungen nicht blos unbegründet, jondern widerlegbar und vernunftwidrig find, fo ift die Folge einer folhen ffeptifchen Anficht der ſtärkſte Gegenfat zwifchen dem natürlichen Leben und der Vernumfteinficht, ein Heillofer Riß, wie es fcheint, zwifchen Leben und Denken. Einen folchen MWiderftreit Hat auch Hume in fich erlebt und empfunden, er hat am Ende feiner philofophifchen Betrachtungen, als er die Grundfeften der menjchlichen Lebensanfiht vom Zweifel hin- weggerafft fah, ähnliche Anwandlungen gehabt als Descartes im Anfange der feinigen, und man kann in dem Hauptwerfe des englifhen Philofophen die Schlußabhandlung des erjten Buchs nicht Tefen, ohne an die erften Meditationen Descartes’ auch in der Art des Selbftgefprächs erinnert zu werden. Hume

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endet die Unterfuhung über die menjchliche-Erfenntnig ähnlich, wie Descartes die jeinige beginnt. -

Indefjen ift Hume fein Mann der philofophifchen. Me— lancholie. Der Riß ift da und muß geheilt werden. Wenn es die Vernunft nicht vermag, muß die Natur helfen. Man unterwerfe fich alfo den natürlichen Weberzeugungen mit der Einfiht, daß fie grundfalich find. Da ihnen gehorcht werden muß und aus DBernunftgründen nicht gehorcht werden kann, jo gehordje man blind. Gerade diefe blinde Unterthänigkeit will als der vollkommenſte Ausdruck der ffeptifchen Denkart gelten, denn fie folgt aus der Einfiht in die Vernunftwidrig- feit jener natürlichen Grundfäße. Ein merfwürdiger Zug die- ſes Stepticismus! David Hume will zu dem Glauben, den die Natur uns aufnöthigt, fi) genau fo verhalten, wie Pierre Bayle zur kirchlichen Glaubenslehre, er will unfere natürlichen und gleihjam inftinetiven Weberzeugungen gelten faffen nad) den Sabe: credo quia absurdum!

Allein diefe Wendung, die bei Bayle den Schlußpunft des Zweifels ausmacht, bildet bei Hume nur einen Durd)- gangspunft. Es foll bei jenem Widerftreit zwifchen Leben und Denken nicht fein Bewenden haben, die philofophifche Einfiht foll uns weder dent Leben entfremden, noch im ge- wöhnlichen Schlendrian vergefjen oder im Genuß betäubt wer- den, jondern mit unferm natürlichen Berhalten völlig über- einftimmen. Das praftifche Leben äußert in der englischen Philofophie überall feine Anziehungskraft und beftimmt deren Neigung; war doch das Einverftändniß mit dem gewöhnlichen Bewußtſein in der Bejahung der thatfächlichen Wirklichkeit jelbjt bei dem berfeley’schen Idealismus die Probe der Red: nung! So behält Hume’s Sfepticismus das praftifche Men—

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fchenleben in feinen gewohnten Lauf fortwährend in Sicht und nähert fich demfelben bis auf einen Punkt, wo beide zu— fammentreffen. Wenn unfere natürlichen Ueberzeugungen phi- Lofophifche Wahrheiten fein wollen von abjoluter Geltung, fo find fie nichts als Wahn und Trug; wenn fie dagegen nur fein wollen, was fie in Wirklichkeit find, menfchliches Für- wahrhalten, menjchlicher Glaube, wie ihn der natürliche Gang unferer Vorſtellungen unwillfürlich erzeugt, jo Haben fie die relativ größte Geltung und find Grund und Stütze aller un- ferer Meberzeugungen. Die Bhilofophie hat feinen andern Wahr- heitsgrund als die gewöhnliche Lebensanſicht: Hier iſt der Punkt, in dem beide eins find. Die Philofophie durchſchaut diefen Wahrheitsgrund, fie erklärt die Entftehung jenes natür- lichen Glaubens, der alle menſchliche Weberzeugung trägt: hier ift die eigenthümliche Aufgabe der Philofophie, die daher in ihrem Ergebniffe jo ausfällt, daß fie nach der einen Seite der gewöhnlichen Weltanficht jede philofophifche Einbildung nimmt, nad) der andern die ſtärkſte natürliche Berechtigung giebt, beides, indem fie darthut, wie aus den Bedingungen der menfchlihen Natur ein unwillfürliher Glaube hervor- geht, ohne jede Tragkraft für eine abfolute oder endgültige Wahrheit, fähig dagegen und allein fähig, die menjchlichen Lebensanfichten zur begründen und zır leiten.

Man erkennt in diefem Doppelgefiht der Hume’schen Lehre auf der einen Seite die ffeptifchen Züge, die jeden phi- loſophiſchen Dogmatismus verneinen, auf der andern die naiven, welche die einfache und naturgemäße Lebensanſicht be— jahen. Bei dem Anblid diefer Tetsteren bemerken wir eine gewiffe aud) gegenfeitig empfundene Verwandtſchaft zwiſchen

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Hume und Rouffean, deren perfünliche Charaktere ſonſt völlig entgegengefegt waren.

Um Hume’8 Aufgabe und Thema in die einfachfte For- mel zu faffen, fo will er den natürlichen oder unwillkürlichen Glauben, der aus dem Gange und Charakter unferer Borftel- [ungen nothwendig folgt, erflärt und darin das Ziel erreicht haben, das der Empirismus erftrebt: ich meine den Punkt, in welchem die Erfahrungsphilofophie zufammengeht mit der wirk- lihen Lebenserfahrung und fich zu diefer verhält, wie das Abbild zum Original,

II. Leben und Scriften.*)

David Hume (Home) wurde als der zweite Sohn einer altſchottiſchen Familie gräflicher Herkunft den 26. April 1711 zu Edinburgh geboren und von väterliher Seite früh ver: waiſt. Seine phlegmatifche und indolente Gemüthsart ließ feine Begabung während der Unterrichtsjahre nicht bemerkbar hervortreten, und da er auf ein geringes Vermögen angewie- fen war, follte er durch einen praftifchen Beruf gewöhnlicher Art feinen Lebensunterhalt verdienen. Er verfuchte zuerft die juriftiiche, dann die kaufmänniſche Laufbahn, beides im Wider: ftreit mit feiner Neigung, die das Studium der Dichter umd Philojophen allen übrigen Beichäftigungen vorzog. Um fid diefen geijtigen Bedürfniffen in voller Muße und Unabhängig-

——

*) Life and correspondence of David Hume. By J. H. Bur- ton. 2 vol. Edinburgh, 1846.

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feit (nad) dem Maße feines Vermögens) widmen zu können, ging er von Briftol nad Frankreich (1734) und lebte hier drei Jahre, eine Furze Zeit in Paris, dann in Rheims, die beiden Tetten Jahre zu La Fleche in Anjou, An diefem Ort, wo Descartes einjt feine Schulbildung empfangen, fjchrieb Hume fein Hauptwerk: „Tractat über die menfchlide Na- tur”, als „Verſuch, die Methode der Erfahrungsphilo- fophie in die moralifchen Meaterien einzuführen” Mit die- jem Zeitpunkt endet fein erfter Lebensabſchnitt (1711 37).

Nah der Rückkehr in fein Vaterland ließ er das um— fajjende und jchwierige Werk (London, 1739 und 1740) erjchei- nen mit der ausgefprochenen Erwartung, daß es großes Auf- jehen machen und die heftigiten Angriffe hervorrufen werde, Er täufchte fich vollfommen, das Bud) blieb faſt unbeachtet, und Hume felbjt erklärt in feiner Autobiographie, daß fein erites Werk todtgeboren und nicht einmal von theologischen Eiferern befämpft worden ſei. Es umfaßte in drei Büchern die Lehre von dem menfchlichen Verſtande, von den Leiden- ihaften und von der Moral. *)

Ein folder Miserfolg war einem Manne feiner Gemüths- art und Geiftesfraft wohl unangenehm, aber nicht nieder- fchlagend. Er beſchloß nach einiger Zeit, das Werf umzuar- beiten und feine Gedanken in der leichteren und gefälligeren Form der Eſſays von neuem in die Deffentlichkeit zu bringen. Diefe Umarbeitung fällt in die mittlere Lebensperiode (1737 52), in der die Ejjays mit Ausnahme des letzten und fünf- ten erfchienen. **)

*) A treatise of human nature being an attempt to introduce

the experimental method of reasoning into moral subject. 3 vol.

**) Der erfte Band erfchien 1741 unter dem Titel „Essays moral Fiſcher, Bacon. 47

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Im Frühjahr 1745 Hatte Hume umfonjt gewünfcht, die Brofeffur der Moralphilofophie in feiner Baterjtadt zu erhal- ten, e8 traten Hinderniffe in den Weg, die, wie es fcheint, von kirchlicher Seite famen. Unmittelbar darauf übernahm er eine Brivatftellung der mislichjten Art, unter den wider- wärtigften Umftänden, er ging nad England, um (in Welde- halt bei St. Albans) bei einem verrüdten Lord, dem jungen Marquis von Anandale, dem letten feines Geſchlechts, eine Art Gefellfchafter abzugeben. Diejes traurige Verhältniß, noch dazu dur allerhand Chicanen verleidet, dauerte ein Jahr (April 1745—46). Nach einer Furzen Zurücgezogenheit trat er für die nächſten Jahre als Secretär in die Dienfte des Generals James St. Clair, den er zuerft auf einer militäri- ſchen Expedition, die gegen Die franzöfifchen Befitungen in Canada bejtimmt war, aber mit einer Landung an der Küſte der Bretagne unverrichteter Sache ausging (September 1746), dann auf einer diplomatifchen Reife nad Wien und Turin begleitete. In Turin fchrieb er, zehn Jahre nad) dem Haupt- werk, den zweiten Theil feiner Efjays, „Verſuche über den menfchlichen Verſtand“, die im folgenden Jahre erfchienen. Der dritte Efjay, nad) Hume's Erffärung unter allen feinen Schrif- ten ohne Vergleich die bejte, enthielt die „Principien der Sit- tenlehre” (1751). Erft mit den „politifchen Discurfen“, die er als den vierten Theil der Effays im folgenden Jahre herausgab, hob ſich fein literarifches Anfehen. Es war nad) Hume's Zeugniß die einzige feiner Schriften, die gleich, wie

and political‘, der fünfte 1757 unter dem Titel „Four dissertations (the natural history of religion, of the passions, of tragedy, of the standard of taste)“,

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fie erſchien, die Welt von fich reden machte. Schon das nächſte Jahr brachte eine franzöfifche Ueberjegung. *)

Unter diefen glüdlihen Vorzeichen beginnt der lebte Lebensabſchnitt (1752— 76), in dem Hume eine amtliche Lauf— bahn gewinnt, feine fchriftftellerifche Thätigfeit auf neue Ge- biete ausdehnt und den literarifchen Ruhm erntet, den er fo eifrig gefucht und jo lange entbehrt Hatte. Noch gegen Ende des Jahres 1751 wäre er gern als Profeſſor der Logik in Glasgow der Nachfolger feines Freundes Adam Smith ge- worden, aber c8 war gut, daß die Sade fehlfchlug und aud) diefe zweite Bewerbung um ein afademifches Lehramt auf ähnliche Hinderniffe ftieß als die erfte. Denn die neue Lauf: bahn, die er als Schriftjteller betreten follte, wurde ihm da— durch eröffnet, daß ihn die Yuriftenfacultät von Edinburgh zu ihrem Bibliothefar wählte. Die Wahl war nicht ohne Schwierigkeiten gewefen, da felbjt bei diefer Gelegenheit die Stichworte: „Deift, Skeptiker, Atheift!‘ gegen ihn geltend gemacht wurden. So gering das Amt durd feine Einkünfte war, jo wurde es für Hume ungemein bedeutend und frucht- bar durch den Nußen, den er daraus zog. Er fah eine der größten Bibliothefen Schottlands, einzig im juriftifchen Fach, ausgezeichnet und reichhaltig im Hiftorifchen, zur Verwaltung und zum freieften Gebrauh in feine Hand gegeben. Das

*) Der zweite Band heift: „Philosophical essays concerning human understanding‘' (1748). Der jpätere Titel: „Aninquiry con- cerning h. u.“ Die franzöfifche Ueberfegung von Merian erfcheint zehn Fahre fpäter. Der dritte Band: „An inquiry concerning the prin- ciples of morals (1751). Der vierte: „Political discourses (Edinb. 1752, Lond. 1753).

47*

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Studium der vaterländifhen Gefhichte aus dem Duellenma- terial, das er vorfand, brachte ihn dazu, die Gefchichte Eng— lands zu jchreiben. Zunächſt in Abſicht auf die Gegenwart, die man nicht befjer belehren könne, als wenn man zeige, aus welchen hiſtoriſchen Bedingungen fie gefolgt fei. In diefer Rückſicht mußte ihm, wie er an Adam Smith fehrieb*), die Zeit der parlamentarijchen Kämpfe unter Jakob I. als die wichtigste, intereffantejte und Lehrreichjte der englifchen Ge— ſchichte erſcheinen. So nahm Hume das Zeitalter, welches Bacon erlebt hatte, zum nächjten Object feiner Gefchichtsichrei- bung: er fchrieb die Gefchichte der Stuarts und ergänzte fein Werk allmälig zur Gefhichte Englands, die in den Jahren 1754—62 in vier Abtheilungen erjchien.**) Auch hier kam der Erfolg allmälig und war bei dem erjten Bande, der die Geſchichte Jacob's I. und Karls I. enthielt, fo gering, daß von dem Buch nur 45 Exemplare verfauft wurden. Mit dem Werfe wuchs die Verbreitung und der Name des Autors, zugleich mit ihm vollendete ſich Hume's Literarifche Celebrität. Als er im Detober 1763 mit dem englifchen Gejandten Lord Hert— ford, den er als Secretär begleitete, nad) Paris fam, Fonnte er jehen, daß er als einer der erſten Schriftiteller Englands und der Welt galt, denn der Empfang, den er in allen ton- angebenden Kreifen fand, übertraf felbjt feine kühnſten Er— wartungen. Die Marquije Pompadour und die Herzogin von

*) Brief vom 24. September 1752,

**) Der erfte Band brachte die Geſchichte der beiden erften Stuarts (1754), der zweite die der beiden letzten (1756), die folgenden zwei Bände enthielten die Geſchichte des Haufes Tudor (1759), die beiden legten die ältefte Gefchichte von Cäfar bis Heinrih VII. (1762).

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Choiſeul bewiefen ihm die größte Auszeichnung, die geijtreic)- iten Frauen von Paris, wie die Geoffrin und du Deffand, bewarben ſich um feine Freundſchaft, „die Damen riffen fich förmlich) um den ungeſchlachten Schotten”, wie Grimm mit Berwunderung und nicht ohne Neid berichtet, und Hume jelbft jchrieb bald nad) feiner Ankunft an Adam Smith, daß feine Gegenwart in den parifer Salons die der Herzöge, Marjchälle und Gefandten verdunkle. Er lebte im Verkehr mit Buffon, Mealesherbes, Diderot, d'Alembert, Helvetius, Holbach; fein vertrautefter Freund wurde d’Alembert, nächſt diefem Zurgot. Kein Wunder, daß er fih von allen Orten der Welt in Paris am wohlften fühlte und ungern nad England zurückkehrte (Januar 1766). Er war furz vorher (Juli 1765) wirklicher Geſandtſchaftsſecretär geworden, und Lord Hertford hätte als Statthalter von Irland Hume gern mit fid) nad) Dublin ge- nommen. Indeſſen blieb diefer in London und wurde im Jahre 1767 Unterftaatsfecretär für die Angelegenheiten Schott- lands. Nach zwei Fahren kehrte er in feine Vaterjtadt zurück (1769) und erfreute ſich jett al8 wohlhabender Mann noch jehs Jahre in ungefhwächter Kraft einer völlig ungeftörten Muße.

Als Hume Frankreich verließ, führte er den verfolgten und verdüfterten Rouffeau, der ihm fchon feit Jahren durch die Gräfin Boufflers und den Marjchall Keith, feinen Lands— mann, warm empfohlen war, mit fid) nad) England und ver- Schaffte ihm hier eine Fönigliche Penfion und eine gaftliche, den Wünſchen und der Phantafie Rouffeau’s willkommene Zu- Flucht zu Wooton in Derbyſhire. Damals empfand diejer eine ſchwärmeriſche Freundfchaft und Dankbarkeit für Hume und nannte ihn nicht anders als „cher patron“. Da er-

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ſchien in einer englifchen Zeitung ein Brief an Rouſſeau in Gejtalt einer Einladung Friedrich’8 des Großen, der in wenig Zeilen mit der malitiöfeften Satyre die Eitelfeiten Rouſſeau's dem Gelächter der Welt preisgab. Es war ein boshafter Scherz, den Walpole gemacht, aber nicht für die Deffentlid)- feit beftimmt Hatte, und der, folange der verfolgte Mann unter Englands gaftlihem Schuß lebte, am wenigiten in Eng- land hätte gedruckt werden follen. Rouſſeau's argwöhniſche Phantafie fah ein Complot, angezettelt durch die parijer Phi- loſophen, die feine Feinde waren, d’Alembert und Voltaire an der Spite. Wie hätte Hume, der Freund d’Alembert’s, nicht mitſchuldig fein follen? Bett erfchien ihm der „cher pa- tron” als das heimtüdishe Werkzeug feiner jchlimmften Feinde; er Habe ihn nah England geführt, blos um ihn in England zu ruiniren. Ohne feinen Verdacht zu begründen, ohne ihn aud nur auf bejtimmte Art zu äußern, fchrieb er an Hume die fürmlichite Abfage (23. Juni 1766). So ent- ftand zwifchen beiden Männern jener häßliche Handel, der für einige Zeit das Intereſſe der ganzen Fiterarifchen Welt erregte und mit einer völligen Entfremdung auf beiden Seiten ab- ſchloß. Das lette Wort, das Hume an Rouffeau fchrieb, ent- hielt eine bittere Wahrheit: ‚Da Sie der fchlimmfte Feind Ihrer eigenen Ruhe, Ihres Glückes und Ihrer Ehre find, To kann ich nicht überrafcht fein, daß Sie der meinige geworden.” Man kann es Hume nicht verdenfen, wenn er zuerſt feine ge- wohnte Kaltblütigfeit verlor und in den empörteften Aus- drüden von Rouſſeau ſprach; als die erbitterten Affecte fich gelegt. Hatten, jchrieb er an A. Smith ebenfo witig als tref- fend: „Man kann Rouffeau für ein ens imaginationis hal- ten, aber ficherlich nicht für ein ens rationis.”

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Ein Jahr vor Hume's Tode Tamen die erften Anfälle dufenterifcher Uebel, die feinen Geift frei ließen, aber feinen Körper mehr und mehr ſchwächten, deren tödtlichen Ausgang er gleich vorausjah und mit der ungetrübteften Seelenruhe er- wartete. „Ich möchte”, fagte er, „ſo ſchnell fterben, als meine Feinde begehren, und fo janft, als meine Freunde wünſchen.“ Diefer Wunſch erfüllte fi) den 25. Auguft 1416, *)

Nach feinem Tode erfchien feine Selbftbiographie und „die Gefpräce über die natürliche Religion“ (1779), außer: dem eine Schrift von fraglicher Aechtheit über den Selbjtmord und die Unsterblichkeit der Seele (1783). Die Titerarifche Frucht der erjten Periode ift fein philofophifches Hauptwerf, die der zweiten die Eſſahs, die der Tetten das große Ge—

ſchichtswerk. .

III. Das Hauptwerk und die Eſſays.

Bergleiht man den „Tractat über die menfchliche Na- tur“ mit den „philoſophiſchen Eſſays“, fo laſſen ſich die Differenzen, die nicht blos den Umfang, auch die Tiefe der Unterfuhung und deren Objecte ſelbſt betreffen, aus dem Cha- rafter beider Schriften erklären: die erfte ift das Werk des fpeculativen Forſchers, die zweite das des populären Schrift- ftellers. Was dort gründlich auseinandergefegt ift, davon

*) Bericht des Dr. Blaf und Dr. Cullen (f. Burton, Bd. 2, ©. 515 flg.).

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findet fich Hier das Reſultat mehr erzählt als begründet, wie die Lehre von Raum und Zeit; was dort in einigen für den Standpunkt Hume’s höchſt Ichrreihen und charakteriftifchen Abſchnitten ausführlich entwicelt wird, findet ſich hier über- gangen, wie die Unterfuchungen über den Urſprung unferer Borftellungen von der Subftanz, der Seele, dem Ih. Dies find Handgreiflihe Mängel, die den Efjays zur Laſt fallen, und die Hume dur die Abjicht auf den populären Erfolg verjchuldet hat.

Indeffen war diefe Abficht nicht das einzige Motiv der Umarbeitung, und man darf die Differenzen nicht überfehen, die zu Gunften der zweiten Schrift ausfallen. In einer ge- wiffen Rücficht verhält ſich Hume's Verſuch über den menſch— lichen Berftand zu feinem Hauptwerk ähnlih, wie Kant’s „Prolegomena“ zur „Kritik der reinen Vernunft“. Das grundlegende Werk bedurfte einer Verdeutlichung nicht blos durch) Verkürzung, auch durd) die Art und den Gang der Un— terfuhung. Als Hume’s Hauptwerk erfchien, war er fieben- undzwanzig, Kant war dreißig Jahre älter, als er das fei- nige herausgab, das in einem weit höheren Grade aus— gereift war als das feines Vorgängers. Denn unbefchadet der Gründlichkeit, macht fi) bei Hume in der umftändlichen, oft weitfchweifigen Breite, in der Wiederholung, die immer wieder von born anfängt, eine gewiſſe Unreife nicht des Den- fens, aber der Darftellung fühlbar, die dem Erftlingswerf anhaftet und den Lejer ohne Nuten ermüde. Darum mußte Hume als der bedeutende Schriftiteller, der er war, das Be- dürfniß einer Umarbeitung empfinden, aud ohne Sucht nad) Popularität.

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Bergleiht man die Efjays mit dem Tractat in den Ab- Ihnitten, wo fie einander parallel laufen, jo wird man in der fpäteren Schrift eine wohlthuende Vereinfachung bemer- fen, zu der ſich der Aufwand der erften wie eine Vor⸗ übung verhält. Da wir es hier hauptfählich mit der Er- fenntnißlehre zu thun Haben, fo gilt die Vergleichung von dem erſten Buche des Hauptwerks und dem zweiten Bande der Eſſays.

Vierzehntes Kapitel. Hume's Skepticismus. A. Stellung der Probleme.

I. Die Vorftellungen und deren Urfprung.

1. Impreffionen und Ideen.

Die Grundfrage der Erfenntnißlehre betrifft nach Locke den Urfprung unferer Vorftellungen, und es jteht nad) Ber— feley feit, daß unfere urſprünglichen Vorftellungen ſämmtlich Wahrnehmungen oder Einzelvorftellungen find. In diefem Punkte ift Hume mit feinen Vorgängern vollfommen einver- ftanden und bejtimmt von hier aus die Faſſung feines Problems, So verjhieden und mannichfaltig unfere Vorftellungen fein mögen, e8 giebt zwifchen den urfprünglichen und abgeleiteten, den einzelnen und allgemeinen, feinen anderen Unterſchied als den des Grades, der größeren und geringeren Intenfität oder Stärke. Die lebhafteſten Vorftellungen find die Eindrüde; alle übrigen, wie Bilder und Gedanken, find weniger lebhaft: jene nennt Hume „Impreffionen“, diefe „Ideen“ (im engeren Sinne), die Ideen verhalten fich zu den Imprefjionen, wie das Abgeleitete zum Urfprünglichen, wie die Abbilder zu den Urbildern, wie die Copie zum Original. Diefer Sat iſt für Hume’s ganze Lehre ebenfo fundamental, als für Berkeley der

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Sat von der Nichtigkeit nnd Abjurdität der abjtracten Ideen. Eindrüde find gegeben, Ideen abgeleitet. Eine Idee, welche es auch fei, erklären, heißt daher, den Eindruck darthun, von dem fie herrührt; wenn diefer Eindruck fehlt, fo ift diefe Idee unmöglich oder beruht, wenn wir fie haben, auf einer nach— zuweifenden Täuſchung: diefer Sat bejtimmt Hume’s Richt— ſchnur und entfcheidet in den wejentlichjten Punkten die Stellung und Löfung der Frage.

2. Glaube und Einbildung.

Die Eindrüde find unter allen Vorſtellungen die lebhaf- tejten und ftärfften, die ſich unwillfürlih in uns ausprägen und darım eine Macht über uns haben, die wir ebenfo un- willfürlic anerkennen und fühlen. Diefes Gefühl nennt Hume Glauben. Es ift daher nicht die Leberlegung, welche den Glauben macht, fondern das Gefühl, nicht der Inhalt oder Gegenjtand der VBorftellung, fondern die Borjtellungsart, d. 5. der Grad ihrer Stärke, die Gewalt, mit der fie wirft. Diefe Gewalt allein macht eine VBorftellung zum Glaubensobject. Iſt fie nit von Natur finnlih, fo muß fie verfinnlicht oder bis zu einem Grade der Lebhaftigfeit verſtärkt werden, der für das Gemüth dem natürlichen Eindrude gleihfommt. Das ift das Geheimniß alles Glaubens, auch des veligiöfen, der in feinem Cultus zeigt, wie gut er fi) auf diefes Geheimniß verfteht.*) Ein Slaubensobject erklären, wird daher bei Hume jo viel heißen als die Vorftellung darthun, die durch ihre Stärke das Gefühl bemeiftert und die unwillfürliche Anerkennung erzwingt. Sollte Hume finden, daß alles menschliche Fürwahrhalten auf

*) Treat. B.I. P, 3, Sect.8, Bgl. Phil. Ess. Sect. V. P.2.

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Glauben beruht, fo wird es die Aufgabe feiner Erkenntnißlehre fein, den Glauben darzuthun, der fi) zur Erfenntniß verhält, wie der Eindrud zur Idee, wie das Original zur Eopie, Der Glaube trägt die Erkenntniß. Daher wird Hume’s Erfenntniß- (ehre in ihrem Grunde Glaubenslehre fein.

Es kann Vorftellungen geben, die nur auf Grund ge— wiffer eingelebter Bildungszuftände mit einer folchen Unwider- jtehlichfeit wirfen, daß fie geglaubt werden; Vorſtellungen diefer Art kommen nicht auf Rechnung der menfchlichen Natur als folcher und ſind daher nicht das unmittelbare Object der Hume’schen Unterfuhung, deren ganzes Thema ſich in die Trage faffen läßt: welches find die Vorftellungen, die vermöge der menschlichen Natur als ſolcher Glaubensobjecte werden?

Da fih nun die Erfenntniß zum Glauben verhält, wie das Abbild zum Original, diefes Verhältniß aber in der Aehnlichkeit befteht, jo läßt fich vorausfehen, welches Ge- wicht Hume zur Erffärung der Erfenntniß auf die Aehnlichkeit der BVorftellungen legen wird,

Ye größer diefe Nehnlichkeit ift, um fo näher fommt das Bild dem Driginal, um fo mehr wirft die Vorftellung mit der Macht des Eindruds, um fo ftärfer ift ihre Wirkung, um fo glaubhafter fie ſelbſt. Man fieht ſogleich, daß Feine Ver— itandesthätigfeit, Feine Logifche Zergliederung, fondern allein die Einbildungsfraft im Stande fein wird, einer Idee diefen Grad der Stärke und Lebhaftigfeit zu geben: daher läßt Hume den Glauben, der die Erfenntniß trägt, in der Ein- bildungskraft wurzeln.

Ich habe dieſe Sätze vorausgeſchickt, um auf die ein— fachſte Weiſe die Cardinalpunkte zu zeigen, worin ſich die Unter— ſuchung unſeres Philoſophen bewegt. Wir werden ſehen, wie

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bei ihn alle Erfenntniß auf einem Glauben beruht, den die Einbildung macht, die in ihrer Thätigfeit felbft unterhalten und geleitet wird durch die Aehnlichkeit der Vorftellungen.

3. Senfation und Neflerion. Gedächtniß und Einbildung.

Die Impreffionen unterfcheidet Hume, indem er die locke'ſche Ausdrucksweiſe braucht, in äußere und innere, Sen- fationen und Reflexionen, Sinneseindrüde und Gemüthsein- drüde, welde letteren nichts anderes find, als die Fortdauer der Senfationen in der Gemüthsbewegung nad) den Affecten der Luft oder Unluft, die fie erregt haben.

Die Senfationen nimmt er als elementare, der philo- fophifchen Unterfuchung gegebene, von der Phyſik und Anatomie näher aufzulöfende Thatfachen, fie gelten ihm als ‚angeborene Vorſtellungen“, ein Punkt, worüber Tode nicht präcis genug gehandelt habe. Alle natürlichen Eindrücde feien angeborene; da wir aber von unferen Eindrüden feine Vorbegriffe haben, fo gebe es zwar angeborene Vorſtellungen, aber nicht angeborene Ideen.“) Hume's Thema befhränft ſich daher auf die inneren Eindrüde oder Reflexionen, die Bilder der Sinneseindrüde, die um jo lebhafter find, je näher fie den finnlichen Originalen ftehen und im derfelben Verbindung aufbewahrt bleiben, in der fie erlebt wurden. Diefe Aufbewahrung ift das Ge- dächtnig, wogegen die Einbildungsfraft jene finnliche Ver- bindung, die das Gedächtniß feſthält, auflöft und die Ordnung der Borjtellungen verändert. Das nächſte und darum ähnlichite Abbild der Senfation ift dev Gedächtnißeindrud, das entferntere, darum weniger Ähnliche und Tebhafte, ift die Imagination, die

*) Treat. I. P.1. Sect.1. Vgl. Ess. Sect. II.

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ſich zum Gedächtniß verhält, wie diefes zur Senfation: fie ift ein Abbild des Abbildes.

Die Einbildungskraft ändert die Ordnung der Bilder, jie jtiftet neue Verbindungen, fie componirt. Sie kann Bor- jtellungen bilden, die fich in der Wirklichkeit nie finden, aber fie kann nichts erfinnen, wozu die Theile oder Elemente nicht in Sinneseindrüden enthalten wären, fie kann goldene Berge machen, aber nur aus Gold und Bergen. Ie willfürlicher die Verbindung ift, welde die Einbildungskraft jtiftet, um jo entfernter find ihre Compofitionen von der Stärfe des Ein- druds, fie find um fo lebhafter und wirffamer, je unwillfür- licher und geſetzmäßiger fie ftattfinden, d. h. je natürlicher die Zufammengehörigkeit oder Verwandtſchaft der DVorftellungen ift, welche die Einbildungsfraft verknüpft. Diefe Art einer gejegmäßigen Berfnüpfung, welche die Vorftellungen gleichfam gejellichaftlic) ordnet, nennt Hume die „Aſſociation der Ideen” Auf diefes Werk der unwillkürlich componirenden Einbildungskraft gründet fi) nad) Hume Glaube und Erfennt- niß, auf die Einficht in die Gefeße der Affociation gründet jid) daher feine ganze Erfenntnißlehre. Es giebt in unferen Borftellungen eine natürliche Verwandtichaft oder Zufammen- gehörigfeit, Fraft deren fich diefelben mit größerer oder ge- ringerer Stärke gegenfeitig anziehen, und es ift zur Erklärung der Erkenntniß ebenfo wichtig, diefe pſychiſchen Attractions- geſetze zu entdeden, als zur Erklärung der Körperwelt die phy— ſikaliſchen. Wir ftehen vor dem Kern des hume'ſchen Problems.

4. Die Geſetze der Ideenaſſociation.

Ale Beziehungen, nad) denen Vorftellungen fi) unwill- kürlich zu einander gefellen, will Hume auf drei Grund»

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beftimmungen zurüdführen, wodurch jie erſchöpft und. die Regeln gegeben fein follen, wonad die Einbildungsfraft ihre Dbjecte verfnüpft. Es befteht eine natürliche Anziehungskraft zwifchen Vorſtellungen, die zu einander gehören, wie Portrait und Original; die räumlich und zeitlich zufammenhängen, durd) Lage und Folge, wie Zimmer und Haus, wie Tag und Nadt; die in einer nothwendigen Ordnung verknüpft find, wie Wunde und Schmerz, Vorfahren und Nachkommen, Regierung und Unterthanen u. |. w. Das erjte Verhältniß ift Aehnlichfeit, das zweite Contiguität, das dritte Caufalität. Das find nach Hume die einzigen allgemeinen Geſetze der Ideenaffociation oder der Attraction auf pſychiſchem Gebiet. *)

Unter diefen drei Verhältniffen beanſprucht die Caufalität allein den Charakter der Nothwendigkeit. Es ift möglich, daf Vorſtellungen zufällig einander ähnlich find, zufällig in Raum und Zeit zufammentreffen; wenn fie ſich aber verhalten, wie Driginal und Gemälde, wie Haus und Zimmer, wie früher und fpäter, jo erjcheint das erſte Object als die Bedingung des zweiten, und ſowohl die Aehnlichkeit als die Contiguität falfen unter den Charakter der Cauſalverknüpfung. Es giebt daher nur ein Geſetz nothwendiger Ideenafjociation: das der Saufalität. Wo Canjalzufammenhang ift, da ift Kette, in der fi die Glieder berühren und einander folgen, da ift Conti— guität und Priorität (Succeffion).**)

Da num alle wirkliche Erfenntniß eine nothwendige Ver— bindung von Vorftellungen fein will, fo bejteht fie in deren Caufalverfnüpfung und gründet fid) auf deren Caufalverhältniß.

*) Treat. I. P. 1. Sect.4. Vgl. Ess. Sect. II. **) Treat. I. P. 3. Sect. 2.

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Das Grundproblem der Erfenntnißlehre Tiegt demnach in der Trage: worauf gründet fich diefes Verhältnig? Wie entjteht die Vorftellung der Caufalität? Wie fommt die Einbildungs- fraft zu einer ſolchen Ideenaſſociation, die den Charakter der Nothwendigkeit beanfprucht? aufalität ift nothiwendige Con- tiguität, nothwendige Suecceffion. Contiguität und Succeffion find wahrnehmbar. Iſt ihre Nothwendigkeit aud wahr: nehmbar? Wenn fie e8 nicht ift, wie kann fie erkennbar fein? Wie ift Erfenntnif möglih? Das ift der eigentliche Zielpunft der hume'ſchen Unterfuhung, und die Auflöfung diefer jo geftellten Frage das Centrum feiner Lehre.

Il. | Erkenntnißobjecte und Erkenntnißproblem. 1. Dinge und Vorftelfungen.

Wir haben bisher nur von unferen Vorftellungen und deren Berhältniffen geredet, nicht von den Dingen als Vor— jtellungsobjecten, nicht von dem Verhältniß zwifchen Object und Borftellung. Die Erfenntniß beanſprucht nicht bloß den Charakter der Nothwendigfeit in Rückſicht auf die Verbindung ihrer Objecte, jondern auch den der Realität in Rüdjicht auf deren Exiſtenz. Da nun alle Ideen Abbilder unferer Ein- drüde find und die Gemüthseindrüde auf der inneren Fort— dauer der Sinneseindrüde beruhen, fo heißt die Frage: wie verhalten jid) die Senfationen zu den Dingen, die Wahr: nehmmmgen zu den DObjecten außerhalb und unabhängig von der Wahrnehmung? Diefe Frage fällt zufammen mit der nad dem jelbjtändigen Dafein oder der Subftantialität der Objecte.

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Wollte man mit dem gewöhnlichen Bewußtfein jagen, das Dbject verhalte fih zum Sinneseindrud, wie das Urbild zum Abbild, wie die Urfache zur Wirkung, fo würde man zwifchen Ding und Vorftellung ein Caufalverhältnig annehmen, um die Aehnlichkeit beider zu erflären. Man würde dann eritens die Frage der Kaufalität präjudiciren und ein völlig dunkles und unerflärtes Verhältniß vorausfegen, als ob es die ausgemachtefte Sache der Welt wäre, und man würde zweitens eine Aehnlichkeit annehmen, ohne die Möglichkeit einer Dergleihung. Wir fünnen Borftellung mit Borftellung ver- gleichen, aber nicht die Vorjtellung mit einem Dinge außer: halb und unabhängig von der Borftellung, mit einem Dinge, das wir nicht vorftellen; das hieße, wie jchon Berkeley ge- zeigt hat, das Wahrnehmbare vergleichen mit dem Unwahr- nehmbaren, die Vorjtellung mit dem Dinge an id.

Es giebt von Dingen an fih, von ſolchen Dingen, die unabhängig von aller Wahrnehmung exijtiren und die ver— borgenen Träger der Erjcheinungen ausmadhen, feinen Ein- drud, alſo auch feine Idee. Daher ift die Vorftellung der Subſtanz, der materiellen jo gut als der immateriellen, un- möglich, und wenn fie ift, fo befteht fie nicht kraft des Ein- drucks, fjondern Fraft der Einbildung, und beruht auf einer unmwillfürlichen Blendung, die wir durchſchauen werden, fobald uns die Vorftellung der Cauſalität volllommen einleuchtet.

Unfere Eindrüde, urtheilt Hume, find dreifacher Art: primäre Dualitäten, fecundäre, und Affecte der Luft und Unluft. Daß die letteren blos in uns ftattfinden, wiffe jeder und beftreite niemand; daß die feceundären Qualitäten, wie Yarben und Töne, Geruh und Gefhmad, Wärme und Kälte, bloße Wahrnehmungen feien, lafjen die Philofophen wenigftens der

Fiſcher, Bacon. 48

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neuen Zeit gelten und feien nur darüber uneins, ob die pris mären Qualitäten, nämlich Figur, Größe, Bewegung und Solidität, bloße Eindrüde oder auch Eigenfchaften der Körper außer uns feien. Dieſer Punkt allein fei fraglih, Berkeley habe verneint, was Rode bejahte, er habe es mit Recht ver- neint. Die Vorftellung der Bewegung fei die eines bewegten Körpers, der bewegte Körper jei etwas Ausgedehntes und Solides, die Ausdehnung nicht vorftellbar ohne Farbe, die Solidität nicht ohne Undurchdringlichkeit, d. 5. ohne unfere Fühlung des Widerftandes: daher bleibe von den fogenannten primären Qualitäten nichts übrig, das nicht ohne Reſt in den Charakter der ſecundären oder der bloßen Wahrnehmung auf- gehe. Aus unferen Eindrüden folge demnach gar nichts. über das Dafein äußerer Dinge. Unfere Sinneseindrüde machen uns die Eriftenz einer Körperwelt außer uns feineswegs ein- leuchtend, die Vernunft kann fie nie demonftriven; wenn wir dennoch dieſe Vorjtellung haben und feit daran glauben, jo kann es nur die Einbildungsfraft fein, die einen folchen. Glauben zu Stande bringt. Eriftiren heißt wahrgenommen werden, fagt Hume mit Berkeley. Ob ein Object eriftirt oder nicht, fann nie aus dem Inhalt der Vorftellung, fondern nur aus der Vorjtellungsart ausgemacht werden, denn die Erijtenz ift fein Merkmal eines Begriffs, fondern ein Object, das wir wahrnehmen. So lehrt Hume vor Kant. *)

2, Raum und Zeit.

Aus den Eindrüden folgt unmittelbar unfere Raum- und Zeitvorjtellung, aus den Senfationen des Gefihts und Gefühle

*) Treat. I. P.4. Sect.2 u. 4,

erw

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die Vorftellung de8 Raums, aus Senjation und Reflerion, d. h. aus den Wahrnehmungen dev äußeren und inneren DVer- änderungen, die der Zeit. So urtheilt Humte mit Rode,

Da exiftiren fo viel heißt al8- wahrgenommen werben, fo ift das Unwahrnehmbare nicht eriftent, und da es eine Vor- jtellung Eleinfter Theile giebt, jo ift die unendliche Theilbar- feit von Raum und Zeit eine leere Fiction, die zu der hand» greiflichen Ungereimtheit führt, daß eine emdliche Größe un— endlich theilbar oder das Begrenzte unbegrenzt fein fol. Die Annahme der unendlichen Theilbarfeit ift die einer unvorftell- baren oder abftracten Größe und füllt unter die Fiction der Gattungsbegriffe. So urtheilt Hume mit Berkeley.

In ihrer Anfchanlichkeit Tiegt die Evidenz der Größen- lehre, die um fo vollfommener ift, je weniger die Größen- ihätung und Bergleihung von der äußeren Sinneswahrneh- mung abhängt; daher ift die Erkenntniß der Zahlen einleud)- tender als die der Figuren und die Arithmetif und Algebra vollfommener als die Geometrie. Diefen Unterfchied zwifchen den mathematischen Wiffenfchaften, den Hume in feinem Haupt- wert hervorhob, hat er in den Effays nicht weiter beachtet. *)

3. Die Vorftellungsverhäftnifie,

Die erkennbaren Gegenftände find demnach die in unferem Gemüth gegenwärtigen Objecte (Borftellungen), und unfere Erfenntniß bejteht in deren Verbindung; diefe lettere ift ent- weder Vereinigung oder Beziehung, Zufammenfegung oder Verhältniß, Compofition oder Relation. Die Zujammen-

*) Treat. I. P. 2. Sect. 1 u. 2. Vgl. ebendaſ. I. P. 3, Sect. 1. Ess. Sect. IV. 48 *

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fegung vieler Vorftellungen giebt einen Sammel- oder Colleckiv⸗ begriff, und wenn fie bis zur Einheit fortichreitet umd die vielen Boritellungen als ein einziges Object erfcheinen läßt, fo entjteht der Begriff eines Dinges und feiner Eigenfchaften, einer Subftanz und ihrer Modi. Wir find diefem Begriff ichon begegnet und werden auf ihn zurüdkommen. Vorläufig gilt er als leer.

Es handelt ſich zunächſt um die Vorftellungsverhältnifie und zwar um alle möglichen. Zu den drei befannten Grund: verhältniffen der Aehnlichkeit, Kontiguität und Caufalität fügt Hume noch vier andere: verfchiedene Vorftellungen erjcheinen als diejelbe oder als entgegengefeßt, fie verhalten fich im erjten Fall, wie verichiedene Formen von A, im zweiten wie A und Nicht A, jenes ift „Identität“, diefes „Widerſtreit“; dazu kommen das mathematische Verhältniß der Größen und Zahlen und die Verjchiedenheit bei gleicher Qualität, d. h. das Ber: hältniß der Grade. *)

Nun ift die Frage, in welde das ganze Gewicht der hume’fchen Unterfuchung fällt: ob aus gegebenen VBorftellungen die obigen Verhältniffe unmittelbar einleuchten oder nicht? Im erjten Fall ift die Erkenntniß felbjtverftändlich und bedarf feiner weiteren Trage, im zweiten ift fie es nicht umd die eigentliche Aufgabe beginnt.

4. Das Erfenntnißproblent.

Db zwei gegebene Borftellungen ähnlich oder nicht ähnlich find, ob die eine ift, was die andere nicht ift, ob A diejelbe Eigenschaft al8 B in höherem oder geringerem Grade Hat, ob

*) Treat. I. P. 1. Sect. 5.

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ihre Größen gleich oder ungleich, ihre Anzahl mehr oder weniger ift, läßt fih aus dem gegebenen BVorftellungsma- terial erkennen, ohne irgend etwas hinzuzufügen, ohne irgend wie über den Inhalt diefer Dbjecte Hinauszugehen. Die Berhältniffe der Aehnlichkeit und des Widerftreits, der Grade und Größen find mit den Vorftellungen felbjt gegeben und aus deren bloßer Vergleichung erkennbar. Mit der Möglich- feit einer folchen Erkenntniß hat es daher feine Schwierigkeit. Sind die Vorftellungen da, jo bedarf e8 nur der vergleichenden Unterfuchung zur Einficht in ihre Verhältniffe; es bedarf nur der Analyfe des gegebenen Vorftellungsinhalts, um jene Vor: jtellungsverhältniffe Logifch und mathematifch zu erkennen.

Anders dagegen fteht e8 in den drei übrigen Fällen, Ob Borftellungen, die als verfchiedene gegeben find, in Wahrheit ein und daſſelbe Object ausmachen, läßt ſich durch Feine Ver— gleihung erkennen, denn ihre Identität ift eben nicht gegeben. Db A und B im Raum einander nah oder fern, im der Zeit früher oder fpäter find, ift durch Feine VBergleichung erkennbar, denn diefe Vorftellungen können diejelben bleiben, während ihre Raum- und Zeitverhältniffe fih ändern. Und ebenfo wenig läßt fich durch eine noc fo genaue DVergleihung von A und B ausmaden, daß B nur ift, wenn A vorausgeht. Kurz gefagt: mit den Objecten, die wir vorjtellen, iſt auch deren Aehnlichkeit und Widerftreit, deren Grad- und Größen verhältnig gegeben, dagegen ihre Identität, Contiguität und Gaufalität feineswegs gegeben. Alfo muß gefragt werden: wie entjteht die Vorftellung diefer Verhältniſſe?

Die Frage läßt fic) vereinfachen. Wenn aus verjchiedenen Borftellungen, die ung gegeben find, ihre Identität nicht un- mittelbar einleuchtet oder folgt, jo muß etwas hinzukommen,

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woraus fie folgt. Daffelbe gilt von der Contiguität. Diejes Etwas enthält die Bedingung oder Urſache der fraglichen Vor— ſtellung. So führen jene beiden Berhältniffe uns zurüd auf die Caufalität, denn fie gründen ſich auf die Vorftellung der Urſache. Es wird gefragt: wie entjteht dieſe Vorftellung? Wir ftehen wieder vor Hume's Grundfrage: wie fommen wir zur Vorjtellung der Caufalität?

Die Philofophen haben ſich die Antwort leicht gemacht und den Sat der Caufalität mit ein paar Worten bewiejen. Der Sat heißt: „jedes Ding muß feine Urfache haben”. Der Beweis heißt: „das Gegentheil ift unmöglich, denn fonft müßte das Ding entweder aus nichts oder durch fich ſelbſt fein“. Ein ſchöner Beweis! Wenn das Ding feine Urfache hätte, jo müßte entweder nichts oder es felbjt feine Urfache fein! Das heißt vorausfegen, daß überhaupt eine Urfache jein müjfe, und das eben ift, wonad gefragt wird. Wäre der Sat der Cauſalität jo widerfpruchslos wie der Sa A=A, fo müßte er durch die Unmöglichkeit des Gegentheils erklärt, logiſch be- weisbar, a priori einleuchtend fein. Er iſt e8 nit. Er ift fein logifcher Sak und muß daher aus anderen als logifchen Gründen feine Geltung rechtfertigen. *)

*) Treat. I. P. 3. Sect. 3.

Id bemerfe, daß hier in den Efjays die Unterfuchung nicht bios einfacher gehalten ift, fondern von dem Hauptwerk auffallend abweicht. Statt der fieben BVorftellungsverhältniffe, auf welche das Hauptwerk übergeht, bleiben die Eſſays bei den drei urſprünglich feftgeftellten (Aehn— lichkeit, Contiguität, Caufalität); fie behalten diefe Faffung bei, wogegen in dem Hauptwerk an die Stelle der Aehnlichfeit fpäter das Verhältniß der Identität gefett wird. Diefe Differenz ift charakteriſtiſch. Denn mit der Frage der Identität hängt die nad) der Subftanz, der Seele, dem Ic (perfönliche Identität) genau zufammen, eine Frage, die in dem

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Hauptwerk gründlich unterfucht und zu der gleichen Löfung als das Cau— falitätsproblen geführt wird, dagegen in den Efjays unberührt bleibt.

Damit Hume's Unterfuchungsfeld Üüberfichtlich erfcheine, gebe ich in bem folgenden Schema eine „Topographie des inneren Sinns“, um einen Ausdrud des Philofophen ſelbſt aus dem I. Abjchnitt feiner Efjays zu braudıen.

Borftellungen. Impreffionen Ideen

Senfationen | Reflerionen | in gegebener in veränderter Ordnung Ordnung

Raum Gedüchtniß Einbildung Zeit Compoſition, Relation (Verhältniß)

Subſtanz unmittelbar |nidyt unmittelbar und einleuchtenb: einleuchtend: Modi Aehnlichkeit, Wis | Identität, Con» derftreit, Größe, | tiguität, Cau— Grabe. falität.

Affociation,

Funfjehnles Kapitel. Hume’3 Skepticismus. B. Löſung der Probleme.

L: Die Idee der Lanfalität. 1. Die Canfalität als Grund der Erfahrung.

Das durchgängige Thema aller Erfenntniß ift die Ueber- einftimmung oder Nichtübereinftimmung unferer Vorftellungen; jede Erfenntniß, die fich aus der bloßen Vergleihung der Vor- jtellungen ergiebt, ijt jelbjtverftändlic und gewiß; aus diejer Vergleichung ergiebt ſich, ob Vorftellungen gleid) oder un— gleich find, fowohl in qualitativer als quantitativer Hinſicht. Erfenntniffe diefer Art find die Einfichten der Logik und Ma— thematif, die e8 mit der Vergleihung der Begriffe und Grö- Ben zu thun Haben und unter dem Satze A = A jtehen. Dagegen ift jede Erfenntniß, die aus der bloßen VBergleichung der Borftellungen nicht unmittelbar einleuchtet, ungewiß und fragli; das Thema der fraglichen Erfenntniß ift daher die Verbindung verfchiedener Vorftellungen, deren nothwendige Ver- bindung. Die logifche Vergleihung befteht in der Zerglie- derung und Sichtung eines gegebenen Vorftellungsinhalts, alle auf eine folche Vergleihung gegründeten Stüte find analytifch,

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wie die Urtheile der Logif und Mathematif. Diejenigen Vor— jtellungen, deren Verbindung durch Feine logiſche Vergleichung zu Stande kommt, find die Thatfachen unferer Wahrneh— mung; der fie verfnüpfende Satz ift ſynthetiſch und, da jeine Dbjecte dur die Wahrnehmung gegeben find, empi- riſch. Die empirifchen Sätze find das Thema der fraglichen Grfenntniß, die Erfahrung ſelbſt ift der Inhalt des eigent- lihen Erfenntnißproblems, fie ift unter allen Einfichten am wenigiten felbftverftändlich, am fchwierigften zu erklären: fo verhält fi in Hume die Erfahrungsphilofophie zur Er— fahrung.

Die Erfahrungserfenntniß bejteht in der nothwendigen Verknüpfung der Thatfachen, ihre Formel Heißt: A ift die Urfahe von B. Wirkfame Urfadhe ift Kraft. Wo Caufalität ift, muß Kraft fein. Keine Logifche Vergleichung, Feine Be— griffsanalyfe erleuchtet diefen Begriff. Ich kann von einem Wahrnehmungsobjeet, 3. B. dem Feuer, die deutlichfte Vor— ſtellung haben, die genaueſte Einficht in alle jeine Merkmale; wenn ich nichts weiter habe als diefe Borftellung, jo weiß und erfahre ich nie, welche Wirkung das Feuer auf Holz oder andere Dinge ausübt, welche Kraft das Feuer ift oder hat. Aus der bloßen VBorftellung einer Kugel, fie fei noch jo deutlih, erhellt nie, welche Bewegung diefe Kugel einer anderen mittheilen wird, mit der fie zufammenftößt. Co ift es in allen Fällen. Es giebt von der Urfadhe A auf die Wirkung B, oder von der PVorftellung A auf die Kraft A feinen logiſchen Schluß. Schlüffe find nur möglid) durd) Mittelbegriffe. Wo ift der Mittelbegriff zwifchen Urſache und Wirkung, zwifchen der Vorftellung eines Objects und deſſen Kraft? Sowenig als die Eriftenz ift die Kraft (Wirkſamkeit)

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ein; Begriffsmerkmal, fowenig als die Exiſtenz ift daher die Kraft logiſch oder a priori erfennbar.,

Nun gründet fih auf die Vorftellung der Cauſalität oder Kraft unfere gefammte Erfahrungserfenntnif. Worauf gründet fi) diefe Vorſtellung? Die Duelle aller DVorftellungen find die Eindrüde. Welcher Eindrud ift die Duelle diefer Vor— ſtellung? Welcher Eindrud ift das Driginal, deſſen Abbild die Idee der Kraft it?

2. Die Quelle des Kraftbegriffs.

Ein äußerer Eindrud kann diefes Original nit fein, fonjt wäre die Kraft das Merkmal oder die Eigenfchaft einer ſinnlichen Vorſtellung, was fie nicht if. Wir ſehen Blitz und hören Donner, den Zufammenhang beider Erjcheinungen ſehen und hören wir nicht. Vielleicht, daß ein innerer Ein- drud die fragliche Vorftellung erklärt, daß fie entjpringt aus dem Gefühl unjerer eigenen Kraft, unferes Willens, der Or- gane bewegt, Vorftellungen weckt, Leidenfchaften bemeiftert. Jetzt fühlen wir uns aufgelegt zu diefer Handlung, zu diefer Vorſtellung, auf dieſe Abſicht folgt die Vorftellung in unferer Seele, die Bewegung in unferm Körper. Aber es verhält fih mit den inneren Eindrüden ebenfo wie mit den äußeren. Der Erfolg erfcheint in unferer Vorftellung, nicht die Kraft, die ihn hervorruft; wir erfahren die Wirkung, nicht das Wir- fen, nicht die Urfache oder Kraft. So ift die Kraft weder durch den Verftand nod durch die Wahrnehmung erfennbar, fie erjcheint vollfommen unbegreiflih. Darin hatte der Dcca- fionalismus Recht, der die Umnbegreiflichfeit des Cauſalzuſam— menhangs zwifhen Seele und Körper einfah; dieſe Ein- fiht ift zu erweitern: die Caufalität überhaupt ift unbegreif-

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ih.*) Es findet fic Feine Vorftellung, deren Merkmal die- fer Begriff wäre; es findet fi Fein Eindrud, weder ein äußerer noch ein innerer, von dem diefer Begriff herrühren fönnte: er ift nicht a priori erkennbar, ebenfo wenig, wie es fcheint, a pofteriori. Woher ift er?

3. Die Erfahrung als Grund der Kanfalität.

Wir ftehen in einem Dilemma. Da die Caufalität weder Dernunftbegriff noch Erfahrungsbegriff ift, jo erjcheint dieſe Idee überhaupt unmöglich und mit ihr alle Erfahrung. Es giebt zur Löfung nur einen einzigen Weg: die Vorftellung der Urſache muß, wie alle Vorftellungen, von einem Eindrude herrühren; da diefer Eindrud nicht gegeben ift, jo muß er geworden d. h. aus gegebenen Eindrüden allmälig entſtan— den jein. Wie ift das möglich)?

Dem Eindrude A folgt in unferer Wahrnehmung der Gindrud B, in diefer einmaligen Aufeinanderfolge find zwei Thatſachen verbunden, aber nicht verknüpft, verknüpft wären fie, wenn B dergeftalt an A gebunden wäre, daß es untrenn- bar mit ihm zufammenhinge. Noch nie hat ein Menfch ge- Tchlofjen, daß immer gefchehen wird, was einmal gejchehen ift. Aber fegen wir, daß jene Folge ſich wiederholt, daß dem Eindrude A, fo oft wir ihn haben, B folgt, jo wird aus der einmaligen Verbindung eine beharrlide; wir gemöh- nen uns allmälig daran, von dem Eindrude A zu B über- zugehen, wenn der erjte ftattfindet, den anderen zu erwarten, unwillfürlich zu erwarten, daß B auf A folgen wird, weil es ihm jo oft, bis jett immer gefolgt ift. Aus dem Uebergang

*) Ess. Sect. VII, P. 1.

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von einer Vorftellung zur andern wird durd) fortgejeßte Wieder- holung derjelben Aufeinanderfolge ein gewohnter Mebergang. Was in einem Falle nur verbunden erfchien, erfcheint in vielen ähnlichen Fällen verfuüpft, deshalb verknüpft, weil wir uns an die Verbindung gewöhnt haben. Diefe Gewohnheit be- fteht, wie alle Gewohnheit, in einer oft wiederholten Erfahrung, wir haben die Aufeinanderfolge zweier Eindrüde oder That— ſachen fo oft erlebt, daß ſich unfere Einbildungstraft zulett unwillkürlich bejtimmt findet, unter dem einen Eindrud den anderen zu erwarten, von A zu B überzugehen. Wir finden uns unwillfürlih (zu etwas) bejtimmt, d. h. wir fühlen, jede Gewohnheit beruht auf einem Gefühl, diefes Gefühl it aud Eindruck, fein urſprünglich gegebener, fondern ein all mälig gewordener: dieſer Eindrud, diejes Gefühl bil- det das Driginal, deſſen Eopie die Idee der Cau— jalität ift. Kraft diefes Gefühls kann ich nie beweifen, daf zwei Thatjachen an ſich verknüpft find, fondern nur an ihren Zujammenhang glauben, ich erwarte durd ein unwillkürliches Gefühl, gleichfam inftinetmäßig, daß wenn die eine Thatjache fommt, die andere nicht ausbleiben wird: ich glaube an dieje Folge. Diefer Glaube ift nicht demonftrativ, wie ein Ver— nunftfchluß, aber er bewirkt unjere Erfahrungsichlüffe und bildet den Grund aller empirischen Sicherheit. *)

So löſt Hume fein Problem: alle menſchliche Erkenntniß ift entweder demonftrativ (wie die Mathematif) oder empiriſch, alle empiriſche Erkenntniß befteht in der Caufalverfnüpfung von Thatſachen, der Begriff der Caufalität gründet fid) auf einen Glauben, diefer Glaube auf ein Gefühl, diejes Gefühl

*) Ess. Sect. VII, P. 2. Bgl. Sect. V, P. 1, 2.

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auf eine Gewohnheit, welche ſelbſt in nichts anderem bejteht als in einer oft wiederholten Erfahrung. Unfere Wahrneh- mung giebt das Urtheil: erft A, dann B, die Sueceffion der Eindrüde, das post hoc, fie giebt nur diefes. Die Erfah- rungserfenntniß behauptet: erſt A, darum B; fie macht aus dem „dann“ ein „darum“, aus dem „post hoc“ ein „propter hoc“, aus der Succeffion Caufalität. Das Mittel- glied zwifchen dem post hoc und propter hoc ijt die Wieder- holung defjelben post hoc, derjelben Succeffion, d. h. der Kern der Kaufalität ift eine gewohnte Succeffion, es ift alſo die Gewohnheit und der darauf gegründete Glaube, welcher das „post hoc’ in ein „propter hoc“ verwandelt.

Es giebt daher Feine Erkenntniß, die objectiv und noth- wendig wäre: fie ijt nicht objectiv, denn die Gegenftände un— ferer Erfenntniß find lediglich unſere Vorftellungen; fie iſt nicht nothwendig, denn der Grund unjerer Erfenntniß ift fein Ariom, fondern ein Glaube. Damit ijt der Sfepticismus voll- ftändig ausgefprochen, der Zweifel an der Erfenntniß folgt aus der Einficht, daß der Grund aller Erkenntniß blos im Slauben befteht. Diefen Wendepunkt nennt Hume ſelbſt „gemäßigten Skepticismus“, weil ev am Thatbejtande der menfchlihen Erkenntniß, ſoweit fie Erfahrung ift, nichts ändern, fondern nur die Anficht darüber aufklären will, er will nur die Richtſchnur zeigen, der wir factifch in allen un— feren Einfihten folgen; er weiß fehr wohl, daß die Natur mächtiger ift als der Zweifel, daß die Menfchen niemals auf- hören werden Erfahrungen zu machen, Erfenntniffe darauf zu gründen und dieſe Erfenntniffe für feſte Wahrheiten zu hal— ten, für Ueberzeugungen, nad) denen fie handeln; er will den ächten Schat der menfchlihen Erfenntniß um nichts ärmer

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und werthlofer machen, jondern ung nur über die Mittel be- lehren, womit wir den Schaß erworben haben unb den er— worbenen allein vermehren können.“) Er beleuchtet den wah- ren Grund unferer Erfenntniß und zerftört den eingebildeten; jenfeit8 der Erfahrung giebt e8 überhaupt feine Erfenntniß, dieffeit8 derfelben reicht unfere Erfenntnig nur fo weit als die Gewohnheit, innerhalb der Gewohnheit giebt es Feine Letzte und vollfommene, jondern nur annähernde und jubjective Ge- wißheit, d. h. Wahrſcheinlichkeit. Die Gewohnheit beweift nichts, fie glaubt nur, das Außergewöhnliche ift immer ein Mögliches, das Gewohnte nie ein Bewiefenes, denn es ift nie dergeftalt nothwendig, daß fein Gegentheil unmöglich wäre. **)

Giebt es Feine Erfenntniß jenfeits der Erfahrung, fo giebt es Feine Theologie, außer eine folche, die fich auf über- natürliche Offenbarung gründet. Hume iſt mit Bacon und Bahle derjelben Meinung, daß der religiöfe Glaube und die menjchliche Vernunft einander ausſchließen. Es giebt über- haupt Feine andere rationale oder demonftrative Wiſſenſchaft als die Mathematik, e8 giebt außer der Mathematik Feine an- dere menjchliche Erfenntniß als die gewohnheitsmäßige Erfah— rung. „Wenn wir“, fo ſchließt Hume feine philofophijchen Verſuche, „überzeugt von dieſen Grundfäten, Bibliotheken durchfuchen wollten, welche Zerftörung müßten wir da nicht anrichten? Wenn wir 3. DB. ein Buch aus der Theologie oder Metaphyſik in die Hand nehmen, jo müßten wir fragen : enthält da8 Buch abftracte Unterfuhungen über Größe und Zahl? Nein! Dder Unterfuchungen der empirifchen Vernunft über Facta und eriftivende Dinge? Nein! Nun fo werft das

*) Ess. Sect. XII, P. 2 (Schluß), P. 3. **) Ess. Sect. VI.

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Buch ins Feuer, denn es kann nichts als Sophiftereien und Täuſchungen enthalten! *)

II. Die Idee der Subſtanz. 1. Nichtigleit der bisherigen Lehre. Das Problem.

Mit der Idee der Urſache oder Kraft, die in der Natur der Dinge wirken ſoll, unabhängig von unſeren Vorſtellun— gen, hängt die Idee des Trägers einer ſolchen Kraft oder Wirkſamkeit genau zuſammen, der Begriff eines Dinges, dem die Kraft inwohnt: dieſen Begriff bezeichnen wir mit dem Worte Subſtanz und verſtehen darunter das ſelbſtändige, von unſeren Vorſtellungen unabhängige Daſein, das den Erſchei— nungen zu Grunde liegt. Wir wiſſen, wie in Anſehung die— ſes Begriffs Locke zwiſchen Skepticismus, Materialismus und Deismus geſchwankt, wie Berkeley die Subſtantialität der Dinge außer ung völlig verneint, dagegen die der Geifter ebenfo nahdrüdlich behauptet Hatte; wir find dem fraglichen Punkte bei Hume jchon wiederholt begegnet und haben be- merkt, daß er für gut gefunden, die ganze darauf bezügliche Unterfuhung in feinen Effays zu übergehen. Db ihm für die populäre Schrift diefe Materie zu fchwierig oder wegen ihres Zufammenhangs mit den Glaubensfragen in Betreff Gottes und der menſchlichen Seele zu mislich erfchien, Yaffen wir dahingeftellt. In feinem Hauptwerk hat er die Frage nad) der Subjtantialität der Dinge für den ‚‚tiefften Punkt der Metaphufif‘ und zugleich für den gelegenjten erklärt, um.

*) Ess. Sect. XII, P. 3.

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an diefer Stelle feine Grundanjchauung auseinanderzufeten und einen Abriß feines Syſtems zu geben.*)

Zu der Frage nad) der Subitantialität der Dinge über- haupt verhält fi) die nad dem felbjtändigen Daſein der Körper und Geifter, wie der befondere Fall zur Kategorie, und von dem Dafein einer immateriellen Subjtanz oder Seele hängt es ab, ob von dem menjchlichen Selbjtbewußtfein die „perfünliche Identität”, von dem menfchlichen Dafein Per- ſönlichkeit gelten joll oder nicht.

Die Entſcheidung aller diefer Fragen hat den Philofo- phen bisher wenig Mühe verurſacht, fie haben die Hauptfrage mit einer Definition, die befonderen Fragen über die Sub» jtantialität der Körper und Geifter mit einigen leichtfertigen Beweifen für abgemadht gehalten. Die Definition war nichts- jagend, die Beweife falſch. Wenn die Metaphyſiker jagen, die Subjtanz jei dasjenige, was durch ſich ſelbſt ift, jo geben fie eine leere Worterflärung, die auf alles paßt. Keine Defi- nition enthält das Merkmal der Erxiftenz; die Subftanz ift fo- wenig als die Gaufalität ein Bernunftbegriff. Wenn die Materialiften behaupten, alle VBorftellungen müſſen räumlich, local, körperlich fein, fo haben fie Unrecht; es giebt pfychifche Borgänge, die nicht local find, die Leidenfchaften, jagt Hume, find weder rechts nod links. Wenn ihre Gegner behaupten, feine Vorſtellung könne ausgedehnt oder räumlich fein, fo Haben fie Unrecht, denn Ausdehnung und Raum find felbft Borftellungen. Wenn diefe Gegner fagen, e8 müſſe eine den— fende oder immaterielle Subftanz geben, denn es fei unbegreif- fi, wie die Materie jemals Urſache des Denkens fein Fünne,

*) Treat. I. P. 4. Sect. 2.

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fo ift diefer Beweis völlig verfehlt, denn es ijt ebenfo unbe— greiflih, wie die Materie jemals Urfache der Bewegung fein fann, denn es ift unbegreiflih, wie überhaupt etwas Urſache fein kann. Wenn diefe Spiritualiften alle Vorftellungen aus einer vorftellenden Subftanz herleiten wollen, fo erflären fie ja die BVorjtellungswelt fir Modificationen einer Subjtanz; folgerichtiger Weife müßten fie auch die ganze Erſcheinungs— welt für Modificationen einer Subjtanz erflären und dem Spinozismus in die Arme fallen, während fie mit der Theo— logie ſchönthun.*)

Jede Idee ftammt von einem Eindrud, Da num die Idee der Subjtanz ein Weſen bezeichnet, das, unabhängig von unferen Borftellungen, den veränderlichen Erfcheinungen zu Grunde liegt, alfo ſelbſt beharrlich und unveränderlich ift, fo müßte es zur Erklärung diefer Idee einen Eindrucd geben (unabhängig von allen Eindrüden), der beftändig derfelbe bleibt, Es giebt feinen ſolchen Eindrud; es giebt fein Original, deſſen Abbild die Idee der Subftanz fein könnte. Daher befteht diefe Vorjtellung, da wir fie Haben, in einer unwillkürlichen Täuſchung. Diefe Täufchung ift zu erklären.

2. Anflöfung. Die Illuſion der Einbildung.

Die Frage Heißt: wie fommen wir zu der Vorftellung eines Objects, das in allen Beränderungen als daſſelbe er- Scheint, zu diefer Vorftellung der Identität eines Objects, die wir auf Grund unferer Eindrüde nie haben und haben fönnen? Die Eindrüde find verfchieden, das Object erjcheint im Wechjel beharrlih. Wie kann fid) aus dem Material fol-

*) Treat. I. P. 4. Sect. 5. Fiſcher, Bacon, 49

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her Eindrüde eine ſolche Vorſtellung bilden? Offenbar nur dadurch, daß wir für ein und daſſelbe nehmen, was in der That verjchieden ift, daß wir Einheit und Verſchiedenheit, Identität und Succeffion verwechfeln: durch eine folche „Illuſion“, die fih unwillkürlich vollzieht und darum der Lebhaftigfeit und Stärke eines Eindruds gleihfommt. Die Sinne fünnen es nicht fein, welde diefe Illuſion bewirken, denn fie geben uns die Folge verſchiedener Eindrüde; die Ber- nunft kann es auc nicht fein, denn fie erkennt jene Verſchie— denheit: e8 wird daher die Einbildungsfraft fein müfjen, aus der die Täufchung hervorgeht, und die Affociation der Vor— ftellungen, wodurd) fie zu Stande fommt.

Je unähnlicher die Vorftellungen find, um fo willfür- licher ift die VBerfnüpfung, um jo weniger wird ſich die Ein- bildungsfraft verjucht fühlen, fie für ein und daſſelbe Object zu nehmen. Seßen wir aber, die Vorftellungen feien einander fo ähnlich wie Aı, Aa, As u. ſ. f., fo wird nad) ben ung be- fannten Attractionsgefegen eine unmwillfürlihe Verknüpfung ftattfinden und eine natürliche Vorftellungsreihe entftehen; doc; wird bei unterbrochenem Fortgange von einem Gliede zum andern fich die Einbildungskraft nicht einen Augenblid über die Berjchiedenheit ihrer Vorjtellungen täufchen. Ges Ihieht dagegen die Verknüpfung nicht blos unwillfürlich, fon- dern auch ohne jede Unterbrechung, ohne allen Anftoß, alfo auf die Leichtefte Weife, fo merkt die Einbildungsfraft nicht mehr, daß fie von einer Vorftellung zu einer andern übergeht, fie wird die Verſchiedenheit der Vorftellungen nicht mehr ge- wahr und bildet fich daher ein oder glaubt, daß fie fort- während mit einem und demfelben Dbjecte zu thun Hat. Sie nimmt ihr eigenes Thun, weil fie es nicht merkt, für die

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Natur der Vorftellung, fie nimmt den jtetigen Fortgang, den fie ſelbſt madht von zu Aa, Aa u. ſ. f., für das ftetige oder bejtändige Dafein von A und kommt jo zu der Vorftel- lung eines continuirlichen Objects. Auf diefe Art verwechfelt die Einbildung ſich mit dem Gegenjtande: das ift und fo ent- fteht die Illuſion, um die es fich handelt. *)

3. Identität und Subjtantialität des Id.

Vermöge diefer Illufion fieht die Einbildungskraft in verjchiedenen Vorſtellungen ein und daffelbe Object und glaubt daher an deffen Identität und Beftändigfeit. Je weniger bie Berjchiedenheit der Borftellungen und deren Succeffion ge- merkt wird, um fo mehr wird die Identität und Beftändigfeit des DbjectS gemerkt, um fo Iebhafter und ftärfer wird diefe Vorſtellung, d. h. fie wird geglaubt. Aus der erſten Illuſion folgt notäwendig die zweite. Erfcheint das Object als identisch oder beftändig im Wechfel der Vorftellungen, fo muß es auch gelten als unabhängig vom Wechfel der Vorſtellungen, aljo von den Borftellungen überhaupt. Glaube ich an die Beftän- digkeit eines Objects, fo kann ich nicht glauben, daß diejes Dbject erſt entfteht, wenn es in meinem Gemüth gegenwärtig ift, und vernichtet wird, wenn es aus meinem Gemüth ver- fhwindet; ic) muß glauben, daß es unabhängig von meinen Vorſtellungen und außer mir eriftirt: der Glaube an die Iden- tität der Dbjecte fordert den Glauben an deren Subjtan- tialität. **)

Wenn die Einbildung nicht merkt, daß fie affociirt, d. 5.

*) Treat. I. P. 4. Sect. 2 und Sect. 6. **) Treat. I. P. 4.

Sect. 2. 49*

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von einer Vorjtellung zur andern fortgeht, fo erfcheinen die vielen Borftellungen als ein (identifches) Object; wenn fie nicht merkt, daß fie verknüpft oder componirt, daß jenes Ob— ject ihr eigenes Werk ift oder ſich durch ihre Thätigfeit bildet, jo erjcheint e8 als von außen gegeben: die. Borjtel- fung erſcheint als Ding, das Object als Subftanz. Je gewohnter eine Thätigkeit ift, um fo weniger wird fie gemerkt. Ye gewöhnlicher nnd eingelebter daher die Vorftellungen find, deren Verknüpfung unfere Einbildungsfraft fortwährend be= ſchäftigt, um jo weniger merkt diefe ihr Gefchäft, um fo mehr verftärft fi) der Eindrud der Identität und Subftantialität der vorgeitellten Dbjecte, und es entjteht Kraft eines ſolchen Eindruds, der nicht ftärker fein kann, der unerfchütterliche Glaube an das Dafein der äußeren Körperwelt und des eigenen Id. Kein Wunder alfo, daß das gewöhnliche Bewußtfein diefen Glauben hat, da er in buchjtäblichem Sinn auf dem gewöhn- lichen Bewußtſein beruht. Es ift wiederum die Gewohn- “heit, welche den Eindrud macht, dejjen Folge und Abbild die Idee der Subſtanz ift.

Wenn phyſiſche Körper in ihren Mafjen fich unmerklich verändern, jo merkt die Einbildungskraft nur die Identität, und die Körper erjcheinen ihr als diefelben Dbjecte. So ver: hält es ſich mit den Weltkörpern. Selbft wenn ſich ein Körper in furzer Zeit total verändert, aber diefe Veränderung eine völlig gewohnte und darum erwartete ijt, fo fieht die Ein- bildungskraft immer denjelben Körper. So verhält es fi) 5. B. mit den Flüffen.

Wenn ein technifcher Körper immer demfelben Zweck dient, unter dem die Einbildungskraft ihn zu betrachten gewöhnt ift, fo bleibt der Eindruck defjelben Objects, fo ſehr auch die Theile

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dejfelben verändert werden, wie z. B. bei einem ausgebefferten Schiff oder einer umgebauten Kirche. Wenn die Theile eines Körpers immer diefelben Functionen haben, die fich wechjelfeitig erhalten, jo wird die Veränderung der Theile nicht hindern, daß fie als diefelben Dbjecte erfcheinen, wie e8 der Fall ift mit den organifchen Körpern. Und wie mit der Identität der Körper, ebenfo verhält es ſich mit der perſönlichen Iden— tität, Ddiefer großen Frage, von der Hume die Philojophie feines Zeitalters bewegt findet. *)

Die Vorjtellung eines bejtändigen Objects iſt nicht mög— lich ohne die eines beſtändigen Subjects. Dem Glauben an das felbjtändige Dafein einer Außenwelt, an eine Subjtanz als Träger der äußeren Veränderungen correjpondirt der Glaube an eine Subjtanz als Träger der inneren, an eine vorftellende Subftanz, an das Dafein der Seele oder des Ich.“*) Es giebt von dem Ic feinen Eindrud, alſo aud) feine natürliche oder gegebene Vorſtellung; die Vorftellung, die wir von dem eigenen Ich haben, ift daher eine gemachte. Nun gilt die Seele als immaterielle oder denfende Subjtanz, als Urſache der Borftellungen, daher hat die Idee der Seele denjelben Urfprung als die Idee der Subjtanz und Caufali- tät, fie ift dur) die Einbildungsfraft gemacht d. h. erdichtet. In Wahrheit find wir eine Collection von Vorſtellungen. Wäre diefe Collection ein ungeordneter Haufen, jo wäre die Vorftellung von einem Weſen (Ich), das fie in fic) begreift, umfaßt, vereinigt, vollfommen unmöglid), diefe Idee ift alfo dadurd) bedingt, daß die Collection der Vorftellungen in ung eine Ordnung, eine Kette, einen Zufammenhang bildet, den

*) Treat. I. P.4. Sect. 6. **) Ebendaj. I. P. 4, Sect, 2.

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die Einbildungskraft nach den uns befannten Geſetzen voll- zieht. Die Einbildungskraft (Affociation) ift das Band der Ideen; dieſes Band, als Object vorgeftellt (perfonificirt), Heißt Geele oder Ih. ES verhält fi) daher mit dem Ich oder der Identität der Perfon, wie mit der Identität eines Staa- tes, der in Wahrheit eine Gefellfchaft wechfelnder Individuen ausmacht, die nach derfelben Drdnung regiert werden. Die Idee des Ich ift bedingt durch die Ordnung oder Kette der Borftellungen, in welcher die gegenwärtigen Glieder abhängen bon den vergangenen oder im Gedächtnig aufbewahrten. Da- her nennt Hume das Gedächtniß „die Hauptquelle der per- ſönlichen Identität“. Sowenig das Band unferer Vorſtel— lungen ein reales, für ſich beftehendes Wefen (Subftanz) ift, jowenig ift e8 die Seele; fie ift, wie jenes imaginär d. h. ein Product der Einbildung. Die perjönliche Identität ift eine geglaubte Vorſtellung, die fo weit reicht, als fich der Faden des Gedächtniſſes ausdehnen und in feinen Lücken er- gänzen läßt.*)

4. Einbildung und Vernunft,

Die Einbildung kommt zu der Vorftellung, daß es Ob- jecte außer den Borftellungen giebt, Dinge an fi), die durch einen nothwendigen Zufammenhang verknüpft find; die Ver- nunft durchſchaut das Thun der Einbildung und erklärt: es giebt als erkennbare Dbjecte nur Vorftellungen und deren Affociation. Hier ift ein Widerftreit zwifchen Einbildung und Dernunft. Die falfhe Art der Löfung ift die dogmatifche Philofophie, die es mit beiden Parteien hält, beiden gleich

*) Treat. I. P, 4. Sect. 6.

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Recht giebt und eine Misgeburt aus beiden bildet: es giebt alfo Dinge und Borftellungen, die fich verhalten, wie Urfache und Wirkung, wie Urbild und Abbild, und darans erklärt fih) die Erfenntniß der Dinge. Sehen nun die Leute ein, daß ſich daraus die Erfenntniß nicht erklärt, fo juchen fie nad) dem Unerkennbaren und wälzen den Stein des Sifyphus oder beruhigen fich bei den „verborgenen Eigenfchaften der Dinge‘, wie der Pöbel bei feiner Dummheit. Die richtige Art der Löfung ift die Vermunfteinfiht, daß es eine reale und nothwendige Erfenntniß der Dinge nicht giebt, fondern an da8 Dafein und den mothwendigen Zufammenhang der Dinge nur geglaubt wird vermöge der Einbildung: das ift der Sfepticismus, der das gewöhnliche Bewußtſein erflärt und damit rechtfertigt. *)

II. Gewohnheit und Geſchichte.

Die Gewohnheit ift bei Hume nicht blos der Erflärungs- grund unferer empirischen Erkenntniß, jondern die große Füh- rerin des menjchlichen Lebens überhaupt.**) Unſer Leben wie unjere Bildung find Refultate unferer Gewöhnungen, die all- mälig entjtehen und nur allmälig verändert werben können. Die menjhliden Gewohnheiten und Sitten in ihren all- mäligen und langſamen Metamorphofen find die gejchicht- lichen Bildungsprozeffe. Wer daher die Macht der Gewohn- heit und der Habituell gewordenen Sitte nicht verjteht, wird auch nicht im Stande fein, den gefchihtlihen Gang menjc-

*) Treat. I. P. 4. Sect. 2 und 3. **) Phil. Ess. Sect. V.P. 1.

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liſcher Dinge zu erklären. Jede plöglide Aufklärung, jede plößliche Staatsveränderung ift durchaus gejhichtswidrig; ſo— wenig Glaube und Staat mit einem Schlage gemacht wer- den, fowenig laſſen fich beide plöglic verändern. Unter den Philofophen der englifch-franzöfifchen Aufflärungszeit ift Da— vid Hume der einzige, der nicht gefchichtswidrig dachte, weil er einfah, daß nicht Grundfäge und Theorien, fondern Ge— wohnheiten das menjchliche Leben und deffen Glauben beherr- Then. Diefelbe Anfhauungsweije, die ihn in dev Philofophie zum Sfeptifer werden Tief, machte ihn zu einem menſchen— und ftaatsfundigen Gefhichtsichreiber. Will man den Unter- jchied deutlich vor Augen haben, der in diefem Punkte zwijchen unjerem Sfeptifer und der Aufflärungsmode des Zeitalters beiteht, jo vergleiche man Hume's Gefhichtsjchreibung mit der Voltaire's. Nirgends aber tritt feine gejchichtlihe Denkart bemerfenswerther hervor, als gerade an der Stelle, wo in der Zeitphilofophie ein vollfommen gejchichtswidriges Dogma herrſchte. Hume ift der ausgeſprochene Gegner der Ver— tragstheorie und befämpft diefe Lehre in Rode und Rouſ— feau, er fieht, wie eine jolhe Theorie mit aller gefhichtlichen Erfahrung und Möglichkeit ftreitet und einem philofophiichen Hirngefpinft gleihfommt. Che die Menſchen ein fürmlicher Vertrag vereinigen fonnte, Hatte fie ſchon die Noth vereinigt, die Noth bewirkte ohne Vertrag, daß einer befahl und die an— dern gehorchten. „Jede Ausübung der Gewalt eines Ober- hauptes“, jagt Hume, „konnte zunächft nur particular und dur) die gegenwärtigen Bedürfniffe der Lage gefordert fein, aber der Nuten machte die Ausübung häufiger, und durch die Öftere Wiederholung entftand allmälig eine auf Gewohnheit gegründete Beiftimmung des Volkes.” So fest Hume an die

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Stelle des Vertrags die Gewohnheit und erflärt den Staat genau fo als die Erfenntniß; diefe gründet fih auf gewohnte Erfahrung, jener auf gewohnten Gehorfam, die Gewohnheit bindet die Menſchen an die eingelebte Staatsordnung und fihert deren Beitand gegen jeden gewaltfamen Angriff. Was Schiller feinen Wallenftein jagen läßt, ift aus Hume’s Seele geſprochen: „Das ganz Gemeine ift’S, das ewig Geftrige, was morgen gilt, weil’s heute hat gegolten, denn aus Gemeinem ift dev Menfch gemacht, und die Gewohnheit nennt ev feine Amme.“

Die Erfahrungsphiloſophen ſollten die geſchichtliche Er— fahrung am wenigſten verkürzen und gerathen mit ihr in einigen Hauptpunkten ihrer Lehre in den offenften Widerftreit. Jene tabula rasa, von der fie reden, erijtirt nicht, weder in noch außer uns. Ihre Staatstheorie fett Menfchen voraus, die fi) in der Lage befinden, erjt einen Staat zu machen, die unmittelbar als eine ganz neue und völlig fertige Generation aus der Hand der Natur fommen. Solde Menſchen exiftiren nicht; wenn fie wären, gäbe es Feine Geſchichte. Wie klar hat Hume diefen Widerftreit zwifchen der gefchichtlichen Er- fahrung und der herkömmlichen Erfahrungsphilofophie durch— Schaut! „Wenn eine Menfchengeneration auf einmal vom Schauplate ab und eine andere aufträte, wie e8 mit Geiden- würmern und Schmetterlingen der Fall ift, fo könnte das neue Geſchlecht durd) Vertrag eine neue Staatsform einführen, ohne Rückſicht auf die Geſetze und Sitten, die bei ihren Bor- fahren galten. Da aber das menfhlihe Geſchlecht in einer beftändigen Flut ift, in jedem Augenblid einer die Welt ver- läßt und ein anderer geboren wird, fo ift e8 nothiwendig zur Feftigfeit der öffentlichen Zuftände, daß ſich die junge Nad)-

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kommenſchaft der eingeführten Berfaffung anſchmiegt und dem Pfade folgt, den die Väter anbahnten. Einige Neuerungen müffen nothwendig in jeder menfchlichen Einrichtung ftattfin- den, und es ijt glüclich, wenn fie der erleuchtete Genius des Zeitalters auf die Seite der Vernunft, Freiheit und Gered- tigfeit leitet.”

Der geihichtswidrige Grundfat führte zu geſchichts— widrigen Folgerungen. Wenn es feſtſtand, daß einft der Staat durd; Vertrag aus einer tabula rasa entftanden war, jo durfte ein neuer Vertrag mit dem gegebenen Staat wieder tabula rasa machen. Die Bertragstheorie eines Hobbes wurde in Rouſſeau zur Nevolutionstheorie, und der Zeitpunkt fam, wo mit dem gegebenen Staat wirklich tabula rasa ge- macht wurde. Mit der Vertragstheorie bekämpft Hume zu- glei die Revolutionstheorie in völligem Gegenſatz zu Nouf- ſeau. „Wollten diefe Sophiften fich in der Welt umfehen“, fagt der erfahrene Skeptiker, „ſo würden fie nichts finden, daß im geringften ihren Ideen entfpricht; in der That giebt e8 Fein fürchterlicheres Ereigniß als die gänzliche Auflöfung einer Berfaffung, die den großen Haufen entfefjelt und die Beitimmung einer neuen Staatsordnung von einer Menge abhängig macht, die fih an Zahl dem ganzen Bolfskörper nähert, denn das ganze Volk entfcheidet eigentlich nie. Jeder vernünftige Mann wünſcht in einem folchen Fall eine ftarfe Armee und an deren Spite einen Führer, der ſchnell den Preis ergreifen und dem Volke einen Herren geben kann, den jelbft zu wählen die Menge ganz unfähig if. So wenig entfpricht der wirkliche Lauf der Dinge den philojophifchen Begriffen jener Leute.” Wenn alſo der Fall eintreten follte, der die Revolution zur Thatſache maht und einen Rouſſeau

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in einen Aobespierre verwandelt, fo weiß Hume im voraus, was er zu wünfchen hat: er hofft auf einen Napoleon!

Wir haben gefehen, wie Hume und Rouſſeau ſich per- fünlich berührt und einander entfremdet Hatten, Beide jtehen vor der Schwelle der franzöfifchen Nevolution, beide ſuchen das menfchliche Wiffen auf einen natürlichen Glauben zurüd- zuführen, Hume als nüchterner Skeptiker, Rouffeau als gläu- biger Naturalift. Im dem Zeitalter der Revolution, die fie nicht mehr erlebten, konnten ihre Geifter durch Feine größere Kluft getrennt fein: Nobespierre vertieft in Rouſſeau's Staats- lehre und Ludwig XVI. in Hume's Geſchichte der Stuarts!

Schluß.

J. Erfahrungsphiloſophie und Glaubensphiloſophie.

Hamann und Jacobi,

Wir find am Ziel. Die Erfahrungsphilofophie hat in Hume den Lauf vollendet, den fie mit Bacon begonnen hatte. Ihre Richtungen waren durch zwei Aufgaben bejtimmt. Zus erft mußte die Erfahrung als das einzige Mittel und Werk— zeug fruchtbarer Welterfenntniß gefordert werden in Abficht auf die großen Bildungszwede der Menjchheit. Diefe For- derung erhob Bacon mit der Macht und Geltung eines neuen Eulturprincips. Ihm galt die Welt als Object, die geforderte Erfahrung als deſſen Abbild, Die zweite Aufgabe will, daß die Erfahrung erflärt wird. Seht gilt die Erfahrung als Dbject, die Erfahrungsphilofophie als deſſen Abbild; jett ſoll fi) diefe zu jener verhalten, wie die Theorie zum Vorgang, die Erklärung zur Thatfache, die Eopie zum Original. Mit diefer Wendung wird die Erfahrungsphilofophie zur Erfennt- nißtheorie und damit ihrem ganzen Umfange nach zur menjc- lichen Geifteslehre.

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Bergleihen wir die fenfualiftifhe Erfenntnißtheorie feit Locke mit der natürlichen Erfahrung felbjt, wie fie geht und fteht, als ob diefe der Lebendige Menſch, jene die Büſten wären, die fie abformen, jo erjcheint uns Hume's Lehre als das ähnlichſte Abbild, denn fie erklärt das gewöhnliche Be— wußtjein, wie es leibt und lebt, und zeigt, wie daraus die ſo— genannte Erfenntniß hervorgeht.

Der Glaube ift nad) Hume die Wurzel alles Erfennens. E8 giebt von dem Dafein der Dinge feine andere Gewißheit, als diefen Glauben, der eines ift mit der lebendigiten Vor: ſtellung. Hier ift der Punkt, in dem die deutfchen Glaubens— philofjophen Hamann und Fr. H. Jacobi auf Hume hin- weifen und mit ihm gemeinfchaftlihe Sache machen gegen alle dogmatifchen Erkenntnißſyſteme, gleichviel aus welchem Stoff fie fabricirt find, ob aus dem der Wahrnehmungen oder der Berftandesbegriffe. Nur dag Hume’s Glaube das Werk un- jerer Einbildung ift, der hamann-jacobi'ſche dagegen das gött- tiher Offenbarung.

II. Erfahrungsphilofophie und natürliche Erfahrung. Die ſchottiſche Schule,

Bergleihen wir Hume’s Glaubenslehre mit dem gewöhn— fihen Bewußtſein jelbjt, deſſen Conterfei fie fein will, fo ſpringt eine Differenz hervor, eine Unähnlichkeit in den Grund- zügen. Dort gilt als Täufhung, was hier als die ficherfte Gewißheit feftfteht: die Weberzeugung von dem Dafein der Geifter und Körper, der PVerfonen und Dinge. Sowenig diefe Ueberzeugung bewiefen werden kann, fowenig foll fie

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bezweifelt werben dürfen, oder die Erfahrungsphilofophie ge- räth in Zwiejpalt mit den Grundlagen der natürlichen Er- fahrung. Daher nehme fie das natürliche Bewußtfein mit feineım- Örundüberzeugungen nicht blos zum Object, weldes fie erklärt, fondern zur alleinigen und unwiderſprechlichen Richt⸗ Schnur ihres Verfahrens; nicht Vorftellungen oder Ideen, jon- dern UWeberzeugungen find die Urthatjachen des menjchlichen Geiftes, ohne welche der Verſtand ins Bodenloſe finft, und die fein Skepticismus dem menſchlichen Bewußtjein ausrebet. Werden jene Leberzeugungen erſt abgeleitet aus Ideen, jo ift die nothwendige Folge, daß fie als Producte der Einbildung erfheinen und dem Sfepticismus verfallen. Das einfache, natürlihe Bemwußtfein glaubt an die Natur, an die Erijtenz der Dinge, der geiftigen und förperlidhen, an das Borhanden- fein jowohl der wahrnehmenden Subjecte als der Empfin- dungsobjecte, und es wird dem Sfepticismus nie glauben, daß diefer Glaube Täuſchung fei, wenn aud) eine noch jo um- willfürlihe. Hat nun die Erfahrungsphilofophie Feine andere Aufgabe, als diefes natürliche Bewußtſein zu erklären, und foll die Probe ihrer Rechnung darin beftehen, daß ihr Re fultat dem Inhalte des natürlichen Bewußtfeins gleichfommt, fo wird man finden, daß Hume's Rechnung nicht ftimmt, daß fi) diefer Skepticismus irgendwo verrechnet Haben müſſe, daß fein folgenfhwerer Irrtum gejchehen jei, jobald die natür- liche Weltanfiht für ein Machwerk der Einbildung gelte, daß diefer Irrthum gefchehen müffe, fobald in der Unterfuhung des menschlichen Geiftes ausgegangen werde von unverbundenen Borftellungen als dem urfprünglic; Gegebenen. Darin liege das roörov deidog, das Berkeley und Hume in die Irre ge- führt habe! Die Grundlagen unferer natürlichen Weltanficht,

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diefe Urthatfachen des menfchlichen Geiftes, gelten für unfere Compofitionen, für Machwerke der Einbildung, und was erjt durch Fünftliche Analyfe und Abfonderung gefunden werde, die Einzelvorftellungen, nehme man für das urfprünglich Gegebene, Als ob die natürliche Körperwelt im Laboratorium des Che- mifers und die natürliche Vorjtellungswelt vom Drganon der Logik gemacht wäre! Berkeley und Hume haben die natür- lihen Berhältniffe des menfchlichen Geiſtes umgekehrt, die Wiederumkehrung diefer Lehren ftellt das richtige Verhältniß wieder her und giebt ſich als folide Erfahrungsphilofophie, die das gewöhnliche Bewußtfein, die natürliche und gemein- gültige Weltanficht zu ihrer Richtſchnur nimmt und unter die- fer Borausfegung den menjchlichen Geift unterſucht. Es ift die Philofophie des gemeingültigen Berftandes, „common sense”, die in Abhängigkeit von Hume und im Widerftreit mit ihm feine Landsleute eingeführt haben: die ſchottiſche Schule von Th. Reid bis W. Hamilton, die durd) Th. Neid und D. Stewart, ihre beiden Hauptvertreter, auf die fran- zöfifche Philofophie diefes Jahrhunderts gewirkt und hier be- fonders in Royer Collard und TH. Youffroy eifrige Nach— folger gefunden hat. Es iſt die Schule der empirischen Piy- hologen im Gegenfaß zu den Materialiften.

Als fundamentale Gewißheit galt bei Descartes die Rea— lität des denkenden Subjects, bei Bacon die der Erfahrungs- objecte; Hume verhält fich zu beiden Ausnahmen gleihmäßig verneinend, die ſchottiſche Schule verhält fich zu beiden gleidj- mäßig bejahend, denn fie gelten ihr als Urthatfachen des natürlichen Bewußtfeins. Deshalb neutralifiren ſich Hier, in diefer Erfahrungsphilojophie mit abgeftumpftem Sfepticismus, die beiden großen Gegenfäte des Nationalismus und Empiris-

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mus, und e8 entjteht eine efleftifche Richtung, die fich befon- ders in Franfreih durh V. Couſin hervorgethan hat.

II.

Erfahrungsphilofophie und kritifche Philofophie. Hume und Kant.

Die ſchottiſche Schule tadelt an Hume, daß er die That- ſache der natürlihen Erfahrung ftatt vorauszufeten ableite und dadurch zu einem Ergebniffe geführt werde, welches die Dbjectivität und Nothwendigfeit der Erfenntniß beftreite; fie will die Anfechtungen des Sfepticismus loswerden, indem fie die Grundlagen der menfchlichen Erfenntniß außer Frage fekt. Wenn man fie zum Probleme mache, fo werden fie problema- tiſch. Das aber Heißt das Erfenntnißproblem nicht Löfen, ſon— dern verneinen und das Kind mit dem Bade ausfchütten; auf diefe Weife fommt man nicht über Hume hinaus, fondern fehrt auf einen Standpunkt zurüd, der aller erfenntnißtheo- retifchen Unterfuhung vorausgeht.

Das Problem fteht feſt. Die Thatſache der Erfahrung will erklärt d. 5. abgeleitet werden; man will wiffen, wie fie entjteht. Daß Hume diefer Entftehung nachging und die pfy- hologifche Werkftätte zu erleuchten fuchte, in der fie entjteht, giebt feinen Unterfuchungen ihren dauernden Werth und er- hebt fie unter die verdienftvolliten Leitungen in der Gefchichte der Erfenntnißtheorie. Die Frage ift nur, ob feine Erklärung richtig war? Daß fie ffeptifch ausfällt, ijt allerdings ein Zei- hen der Nichtübereinftimmung mit der Thatſache der natür- lihen Erfahrung, welches die Schotten mit Recht bedenklic) gemacht Hat.

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Hume erklärt die Erfahrungserfenntnig aus jenem Glauben an die nothwendige Verknüpfung der Borftellungen, den die Einbildung macht vermöge der Gewohnheit, die felbft nichts anderes ijt als eine oft wiederholte Erfahrung. So iſt es die Erfahrung, welche die Erfahrung madt; jo wird voraus- gefegt, was erklärt werden foll, und die hume'ſche Erklärung bewegt fi in jenen augenſcheinlichen Cirkel, den jchon die alten Sfeptifer bemerkt und unter den Tropen, die fie den dogmatifchen Philoſophen entgegenhielten, al8 den „Diallelos“ bezeichnet haben. Wenn die Schotten die Thatfache der Er- fahrung als etwas urſprünglich Gegebenes ſetzen, jo thun fie mit Bewußtfein, was Hume that, ohne e8 zu wollen, und im Grunde wiederholen fie Hume, ohne e8 zu wiffen.

Hume Hat aljo die Erfahrung nicht erklärt, er Hat diejes Problem nicht gelöjt, fondern nur verdeutlicht, aber jo verdeutliht, daß nah ihm fein felbjtändiger Denfer da- gegen blind fein Fonnte; er mußte jehen, daß diefes Problem im Bordergrunde aller übrigen jtand, und daß auf dem Wege, den Hume gegangen war, und den die Erfahrungsphilofophie ihm vorgefchrieben hatte, das Ziel der Löfung verfehlt wurde. Die Erfahrung, die Bacon zum Inftrument der Philofophie gemacht hatte, war feit Locke deren Object, deſſen Erklärung in erjte Frage fam, aber immer wurde die Erfahrung fo er- flärt, daß fie im Grunde fhon feſtſtand. Denn der Caufal- zufammenhang der Erjcheinungen galt bei Rode als eine That- fahe der Wahrnehmung, bei Berkeley als eine Thatfache göttliher Wirkfamkeit, bei Hume als eine oft wiederholte Er- fahrung. Locke wollte Senfualift fein; fein Fehler war, daf er e8 nicht genug war: dieſen Fehler entdecte Berkeley. Ber- feley wollte Idealift fein; fein Fehler war, daß er es nicht

Fiſcher, Bacon, 50

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vollftändig war, fondern die Borjtellungswelt mit einem Schlage realifiren wollte durch die unergründliche Wirkſamkeit Gottes: dieſen Fehler ſah Hume. Hume wollte Sfeptifer fein, aber er war nicht ffeptifch genug, denn in der gewohn- ten Suceeffion der Wahrnehmungen, die er unbefehen an- nahm, lag ſchon die ganze Erfahrung und die Cauſalität.

Wer diefen Fehler Hume’s entdedt und das Problem fefthält, muß einen andern Weg fuchen, einen neuen Aus- gangspunkt nehmen, der nicht mehr innerhalb der Erfahrungs: philofophie Liegt, und eine jener Wendungen machen, die Epochen find. Diefe Epoche macht ein deutjcher Philofoph, J. Kant, in feinen VBoreltern ein Landsmann Hume’s. Zum eritenmal in der Philofophie wird ohne jedes Vorurtheil die Frage gejtellt: wie entjteht die Erfahrung? Die Factoren, die fie bilden, können nicht ſelbſt Schon Erfahrung fein. Woher die Succejfion der Wahrnehmungen?

Die Wendung Kant’s ift im Grunde eine fehr einfache: er verhält fi zur Erfahrung genau fo, wie fid) Bacon zur Natur verhalten hatte, er will die Thatjache der Erfahrung fo erklären, wie Bacon die Thatjachen der Natur erklärt wiffen wollte. Eine Thatjache erklären heißt unter allen Umständen, die Bedingungen darthun, unter denen fie jtattfindet, aus denen jie folgt; diefe Bedingungen müfjen unter allen Umftänden dev Thatfache vorausgehen und vor derjelben ge- fucht werden. Kant fucht die Bedingungen unferer empirifchen Erfenntniß nit über derfelben, wie die deutſchen Metaphy- fifer, nit in ihr, wie die englischen Senfualiften, jondern vor ihr; weder fegt er mit jenen die Erfenntniß in augebore— nen Ideen voraus, noch mit diefen die Erfahrung in finnlichen Eindrüden und deren Verfnüpfung. Er analyfirt die That-

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ſache der Erfahrung, wie Bacon die Erfcheinungen der Natur; wie diefer die Naturfräfte juchte, welche die Dinge bewirken, jo ſucht Kant die Bernunftkräfte, welche die Erfahrung machen. Den Inbegriff diefer Bedingungen, die der Erfahrung als „fons emanationis‘ vorausgehen, nannte er „reine Ver: nunft“. ine Thatjache als gegeben annehmen, diejelbe em— pfangen und betrachten als fertiges Object, ſich das Object als ſolches befchreiben oder erzählen laffen, ohne fich um fei- nen Urfprung zu fümmern, heißt in allen Fällen, ſich dog- matiſch verhalten, gleichviel was die Thatſache ift, ob ein Werk der Natur oder des menfchlichen Geiftes. Die Frage nach dem Urjprung der Thatjachen, nach der Entjtehung des Werkes it Eritifch, ob diefes Werk ein organischer Körper, ein Buch oder fonft ein Gebilde der Kunſt ift. Dieſe Trage, gerichtet auf die Thatjache der Erfahrung und der Erfenntniß überhaupt, diefes Werk der menſchlichen Vernunft, ijt das Problem der. kritifchen Philofophie, die Kant begründet. Ba— con frug: wie und wodurd find die Naturerfheinungen möglich? Er erwartet die Antwort von der Phyfif nad empiriiher Methode. Kant frägt: wie und wodurd) ift Phy- ſik möglih, Mathematif und Erfahrung? Er giebt die Ant- wort in der „Kritil der reinen Vernunft“, dem Drganon einer neuen Philofophie.

Als er das fchwierige Werk, das dem erften Beurtheiler als eine Erneuerung des berfeley’ichen Idealismus erichienen war, in den „Prolegomena zu einer jeden Fünftigen Metaphy- ſik“ erläuterte, fagte Kant, daß vielmehr David Hume der- jenige geweſen jei, der ihn vor vielen Jahren zuerft aus dem dogmatischen Schlummer' erwedt und feinen Unterfuchungen

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im Felde der fpeculativen Philofophie eine ganz andere Richtung gegeben Habe. |

Eingedent des Mannes, der die Erfahrungsphilofophie begründet hatte, und von dem auch Hume herfam, fette Kant ein Wort Bacon’8 aus der Borrede zum neuen Organon über den Eingang feines Hauptwerfs: „Wir fchweigen von uns jelbjt. Aber von der Sache, um die e8 ſich Handelt, verlangen wir, daß fie die Menjchen nicht für eine bloße Meinung, jon- dern für ein nothwendiges Werf anjehen und überzeugt fein mögen, daß wir nicht für irgendeine Schule oder eine be- liebige Anficht, jondern für den Nuten und die Größe der Menfchheit neue Grundlagen fuhen. So mögen fie um ihres eigenen Nutzens willen das Beſte aller bedenken und felbit daran theilnehmen. Sie mögen voller Hoffnung in die Zu- funft bliden und nicht fürchten, daß die Erneuerung, die wir unternehmen, grenzenlos und übermenfchlich ſei. Sie jollen dDiefes Werk begreifen, denn es ijt in Wahrheit das Ende und die rechtmäßige Grenze unendlichen Irrthums.

Drud von F. U. Brodhaus in Leipzig.

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